Die Nacht legte sich wie ein dunkler Schleier über den Wald und verschluckte das helle Vogelgezwitscher eben so wie das Sonnenlicht. Nichts rührte sich nun noch und sie wusste, dass ihre Zeit gekommen war. Wie ein Wächter saß sie im Gipfel der Tanne und beobachtete durch ihre blitzenden Augen den Wald um sie herum.
Majestätisch breitete sie ihre Flügel aus und schwang sich in die frostige Luft. Die Dunkelheit schmiegte sich wie ein Umhang in ihr weiches Gefieder und sie durchschnitt so lautlos den Himmel, dass nicht einmal die Sterne ihr Dasein verrieten. Einzig und Allein der Vollmond ließ sein milchiges Licht auf ihr Antlitz strahlen und verlieh ihr die Schöhnheit, die der Tag ihr nicht geben konnte.
Die Eule drehte ihre Kreise und ihr Schatten tanzte durch das Unterholz als wolle er sich in den Zweigen verbergen und nie wieder hervor kommen.
Eine Fledermaus huschte durch die Finsternis, doch die Eule hatte keinen Blick für sie übrig. Ihre Aufmerksamkeit schenkte sie allein dem Wald, dem Nebel und den Frostkristallen, die die klirrende Kälte in die Luft gemalt hatte. Wenn das Mondlicht die Kristalle streifte, funkelten sie wie Diamanten, doch genau so schnell erloschen sie auch wieder.
Die Eule sah all das und spürte mit jeder einzelnen Faser ihres Körpers die Freiheit, nach der sich ihr Herz so sehr sehnte.
Als der kalte Wind ihr Gesicht streichelte, schloss sie für ein paar Sekunden die Augen und genoss die undurchdringbare Stille der Winternacht, bevor sie sich wieder auf einem Ast niederließ.
Wassertröpfchen perlten auf ihren Flügeln ab und funkelten wie Sterne auf ihrem schneeweißen Gefieder. Nichts teilte die Stille mit ihr, nur der Mond, die Sterne und die Nacht.
Sie sog die süße Witterung der Waldes auf und ließ ihren Ruf durch die Nacht hallen, von Baum zu Baum, alleine für den Mond.
Doch die Eule wusste, dass auch diese Zeit enden würde, genau so wie alles Andere geendet war, dass ihr Hoffnung gegeben hatte. Sie wollte ewig hier sitzen und einfach nur spüren, dass sie da war und dass der Wald da war und dass die Nacht da war. Aber stattdessen nistete bereits die Angst vor dem Erwachen in ihrer Brust. Sie wollte nicht zurück, sie wollte für immer hier sitzen und frei sein. Aber sie spürte bereits, wie sich der Ast unter ihren Krallen auflöste und sich in harten Beton verwandelte. Sie kreischte verzweifelt, aber der süße Geruch des Waldes hatte sich bereits in den klebrigen Staub des Körnerfutters umgewandelt und anstatt den kalten Nachtwind in ihren Federn zu spüren, roch sie nur wieder ihren eigenen Kot.
Das Einzig tröstliche war die Dunkelheit, die sie immer noch vor dem grellen Licht und den kreischenden Stimmen beschützte, die ihr die Ohren abstumpften. Doch auch das verschwand, als sie den Kopf unter dem verstümmelten Flügel hervor zog. Noch bevor sie die Augen öffnete, spürte sie bereits wieder das Gewitter der unzähligen Blicke auf sich einschlagen, spitz, durchdringend und stechend. Blinzelnd öffnete sie die Augen und sah sich um. Was hatte sie erwartet? Wieso war die Hoffnung auf Freiheit nicht genau so gestorben wie ihr Lebenswille? Aber sie ließ ihr kleinen, schlagendes Herz nicht los. Die Eule setzte sich auf und ab da sah sie alles wieder durch die Gitterstäbe, die sie vor der Welt versteckten.
Gefangen.
"Um ein anderes Wesen zu verstehen,
musst du in ihm leben,
bis in seine Träume hinein."
Indianische Weisheit
"Ich war im Garten,
wo sie all die Tiere gefangen halten.
Glücklich schienen viele,
in heitern Zwingern treibend muntre Spiele.
Doch andre hatten Augen, tote, stiere !
Ein Silberfuchs ein wunderzierlich Wesen,
besah mich unentwegt mit stillen Blicken.
Er schien so klug, sich in sein Los zu schicken,
doch konnte ich in seinem Innern lesen.
Und andre sah ich mit verwandten Mienen
und andre rastlos hinter starren Gittern.....
Von wunder Liebe fühlt ich mich erzittern
und meine Seele wurde eins mit ihnen."
Christian Morgenstern
Texte: Gedicht: Christian Morgenstern
Bildmaterialien: Torsten Edelmann
Tag der Veröffentlichung: 08.10.2012
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