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Virtuelle Schatten

Wie gefährlich die verschiedenen Social-Media-Plattformen sein konnten, wurde mir erst bewusst, als ich mich mitten in einem Strudel aus geteilten Videos und Foto und deren Kommentaren wiederfand. Es ging dabei nicht nur um die unzähligen Stunden, die ich auf diesen Plattformen verbrachte, sondern um die Themen, die mich zuvor nie interessiert hatten oder mir schier unbekannt waren. Nun jedoch verlor ich mich mehr und mehr darin.

In einer Minute wurde über Suizid in großem Maße debattiert, während bereits in der nächsten Minute Anleitungen für glamouröses Make-up und die beworbenen Produkte im Fokus standen. Ein Fingerwisch weiter fand ich mich vor leicht bekleideten Damen wieder, die vor laufender Kamera sinnliche Posen einnahmen. An anderer Stelle wurden die düsteren Geschichten von Mördern vergangener Tage detailliert enthüllt – wie sie ihre Opfer fanden und auf grausame Weise getötet hatten. Genau hier erwachte meine Neugier. Ein Interesse für das Dunkle, für das, was die sozialen Medien noch zu bieten hatten. Ich tauchte immer tiefer ein, verlangte nach mehr Wissen. Rasch wurde mir bewusst: Mein Leben spielte sich nun online ab, weitab von der Realität.

Kompromisse schienen notwendig zu sein, wenn man mehr Wissen erlangen wollte, oder? Während andere in Stadtbibliotheken lernten, tauchte ich online ein, nicht, um für irgendwelche Prüfungen zu lernen, sondern Informationen darüber zu sammeln, wie man zum Beispiel den Blutadler richtig ausführte oder auf welche Weise man am beste bei einem Mord vorging, ohne Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Ich geriet immer tiefer, verlor mich in Posts, in denen Menschen sich von Tieren besteigen ließen oder wie sie sich Trinkgläser in den Anus einführten, ohne dass sie zerplatzten. Personen wurden aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes schikaniert, da viele Nutzer der Plattformen dies als nicht normal empfanden. Hättest du Bulimie oder wärst adipös, wärst du ebenfalls Ziel von Mobbing geworden. Viele User schlossen sich einfach an, wenn andere über diese Menschen herzogen. Einige der Gemobbten wählten sogar den Tod, um dem Druck zu entkommen, doch ihre Tode wurden sogar von manchen noch verhöhnt.

Diese verstörenden Bilder und Themen hätten mich abschrecken sollen, aber sie taten es nicht. Zu Beginn empfand ich Mitgefühl für sie, doch je tiefer ich eintauchte, desto gleichgültiger wurde es mir. Die Identität hinter diesen Geschichten interessierte mich nicht, genauso wenig wie die Art und Weise, wie man sie mit Worten verletzen konnte. Es handelte sich hierbei um mir keine vertrauten Personen, nur um anonyme Figuren, die ihre Handlungen filmten und als Content veröffentlichten. Einige Posts zeigten verstörende Szenen, wie eine Mutprobe einer Bandenaufnahme, die tragisch endete, als der Prüfling sich mit einer Schrotflinte den Kopf wegschoss, während die Bandenmitglieder lachten und die blutige Szene filmten. Doch im Sog der sozialen Medien wollte ich noch mehr.

Unbemerkt von mir hatte ich mich bereits ein halbes Jahr lang weitestgehend aus der realen Welt zurückgezogen. Die Anrufe und Nachrichten meiner Freunde und Familie ignorierte ich. Ich empfand es eher als störend, denn sie rissen mich aus meiner Social-Media-Welt und hinderten mich daran, mehr Shit meinem Gehirn zu Fressen zu geben. Sogar der Gang zum Supermarkt erschien lästig. Zurück zuhause kam mir nicht einmal die Idee, den Einkauf ordentlich zu verstauen, denn die Social-Media-Plattformen riefen bereits nach mir, sie weiter zu erkunden.

Mein Alltag existierte hauptsächlich im Online-Universum, wo täglich Abermillionen Beiträge verschiedenster Genres auftauchten. Themen wie LGBTQIA+-Feindlichkeit, rechtsradikale Ansichten oder Tiermisshandlung gehörten zur Tagesordnung. Ich konnte keine Rücksicht auf Mahnungen nehmen, die meinen Briefkasten fast platzen ließen, und das nur, weil ich kein Einkommen mehr hatte. Doch dann stand eine Frau vor meiner Haustür, sprach von Zahlungsrückständen und möglichen Schuldregulierungen, um eine Zwangsräumung zu verhindern. Das rüttelte mich halb aus meinem Social-Media-Tunnel. Ohne Internet und Strom schien meine Existenz bedroht.

Inspiriert von einem Post über Geldsklaven wagte ich den Versuch, mich im Internet zu verkaufen. Es war anfangs schwierig, Anschluss zu finden, aber bald konnte ich erste Geldbeträge auf meinem Bankkonto verbuchen und begann, meine Schulden abzubauen. Einige meiner Geldsklaven waren ehemalige Mitschüler, deren Identität ich nur anhand ihrer Daten im Live-Chat erkannte. Sie blieben sonst anonym, aus Sorge um ihre Familien oder Jobs. Zwischen meinen Online-Diensten und dem durchforsten täglicher Posts, verlor ich mich selbst und bemerkte es kaum. Plötzlich waren zwei Jahre vergangen, ohne Kontakt zur Außenwelt außerhalb der Social-Media-Plattformen. Meine Sozial-Media-Abhängigkeit hatte ihren Höhepunkt erreicht. Was hätte jetzt noch schieflaufen können?

Die Antwort kam, als meine Wohnungstür aus den Angeln gerissen wurde und ich dutzenden Waffenmündungen ins Auge sehen musste. Warum, fragst du dich? Das war auch mein erster Gedanke. Ich wurde abgeführt und beschuldigt, mit Sprengstoff und Waffen gehandelt zu haben, Frauen aus dem Ausland eingeführt und als Sexsklavinnen gehalten zu haben. Chatverläufe und Videos mit meinem Benutzernamen wurden mir präsentiert, die schienen, meine Identität zu bestätigen. Mir wurde immer bewusster, dass ich mich auf den falschen Plattformen rumgetrieben hatte. Mein Gesicht und meine Stimme wurden für kriminelle Machenschaften missbraucht, ein Deepfake meiner selbst kursierte durch das Netz, und ich hatte es nicht einmal mitbekommen.

Während ich in Untersuchungshaft saß, reflektierte ich darüber, wie ich vor zwei Jahren überhaupt dazu kam, mich bei Social-Media-Plattformen anzumelden. Da wurde mir klar: Mein damaliges Interesse galt den Gefahren der Abhängigkeit von sozialen Medien. Ich erkannte, dass die größte Bedrohung von keinem Außenstehenden kam, sondern durch meine eigene Social-Media-Sucht entstand. Der Strudel, den ich selbst geschaffen hatte, lockte mich in eine Falle und verschlang mich gierig wie ein ausgehungertes Tier.

Impressum

Texte: Kira BellaVii
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2024

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