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1. Am Sterbebett

»Schatz, du musst jetzt stark sein«, richtete sich Mama flüsternd an mich. Ihre Stimme brach und sie musste nach Luft ringen. Mein Bruder und ich saßen zu Hause am Bett unserer Mutter – das letzte Mal. Sie lag im Sterben. »Du wirst jetzt große Verantwortung tragen müssen«, versuchte sie mir zu erklären, einem Mädchen, das gerade einmal zur Grundschule ging. »Du und dein Bruder müsst jetzt aufeinander aufpassen und zusammenhalten.« Sie musste erneut nach Luft ringen, was mir abermals die Tränen in die Augen trieb. Ich vergrub mein Gesicht in ihrer Bettdecke und weinte bitterlich los. »Hey, mein Schatz«, begann sie und streichelte mir liebevoll über den Kopf. »Du wirst ein großes und starkes Mädchen werden und zu einer wunderschönen und selbstbewussten Frau heranwachsen. Mit deinen zarten 8 Jahren stehen dir noch alle Türen offen. Du musst nur den Mut haben sie zu durchqueren, aber ich weiß, dass du auch das meistern wirst.« Mit großen, verquollenen Augen schaute ich Mama ins Gesicht. Ich konnte mir kaum vorstellen, ohne sie weiterzuleben. Mein Blick fuhr über ihr Gesicht, um es mir bis ins kleinste Detail einzuprägen.

Es wurde ruhig im Zimmer. Die Sekunden wurden zu Minuten und Minuten zu Stunden. Draußen schien die Sonne, doch im Zimmer war es düster und kalt. Von der Wärme hinter den Fenstern war in dem Zimmer nichts zu spüren. Zuvor war der Raum mit Freude und Spaß gefüllt. Nun aber spiegelte er Traurigkeit und Schmerz wider. Die Stille wurde erst durch das Schniefen meines Bruders durchschnitten, der auf der anderen Seite des Bettes saß und geistesabwesend aus dem Fenster starrte.

Mama formte ihre blassen Lippen zu einem schwachen Lächeln. »Hey«, kam es leise aus ihrem Mund. Nach einer Weile des Schweigens, drehte mein Bruder unserer Mutter den Kopf zu und schaute sie mit glasigen Augen an. »Mein lieber und guter Sohn. Ich hab’ dich sehr lieb, vergiss das niemals! Auch wenn ich bald nicht mehr da sein werde, versprich mir, dass du nun auf deine kleine Schwester aufpasst. Seid nicht immer so gemein zueinander. Ihr müsst jetzt umso mehr zusammenhalten.« Mama legte ihre Hand auf die Wange meines Bruders und streichelte sie liebevoll. Ich konnte sehen, dass sich Tränen in seinen Augen bildeten, die er aber sofort wieder wegblinzelte. »Es ist okay, wenn du sie laufen lässt. Du wirst immer mein großer Junge sein«, wisperte Mama. Wie auf Knopfdruck liefen ihm die Tränen über das Gesicht. Er umklammerte die Hand unserer Mama noch mehr, fast so, als wolle er sie im wahrsten Sinn am Leben halten. »Sagt eurem Vater, dass ich ihn liebe. Ich hätte mir gewünscht, ihn genau wie euch ein letztes Mal an meiner Seite gehabt zu haben«, richtete sie sich an uns. Papa war auf der Arbeit und hatte keine Ahnung, dass es heute so weit sein sollte. Mein Bruder begann zu schluchzen und drückte seine Wange an die von Mama. »Ich werde ein guter großer Bruder sein und auf meine kleine Schwester aufpassen«, sagte er jammernd und gab ihr einen Kuss auf die fahle Wange. »Ich hab’ euch sehr lieb, vergesst das niemals, George und Natascha«, sagte sie mit allerletzter Kraft und drückte unsere Hände fester.

Ein Schütteln erfasste sie und unsere Mama tat ihren letzten Atemzug. Nach einem langen Kampf hatte der Krebs in ihr schließlich gesiegt.

2. Ausflucht

Wieder einmal war die Stimmung am gemeinsamen abendlichen Esstisch erdrückend, wenn nicht sogar schon feindselig. Vater bestrafte George mit missbilligenden Blicken und das nur, weil er ihn für den Versager der Familie hielt. Während ich die besten Schulnoten nach Hause gebracht hatte, brachte George – wenn er überhaupt mal anwesend war – nur Ärger mit sich. Er verkehrte mit Menschen, die mein Vater als kleingeistig und asozial bezeichnete, und es blieb fraglich, was sie trieben. Aber Vater war selber schuld an dieser Situation. Er war fast genauso wenig zu Hause und schenkte uns kaum noch Aufmerksamkeit. Die Arbeit war alles, was für ihn zählte. Nach Mamas Tod flüchtete sich unser Vater William in die Arbeit und bemerkte lange Zeit nicht, wie oft sein Sohn nachts abwesend war oder wie häufig er Frauenbesuch mit nach Hause schleppte. Ich jedoch war wohl das Gegenteil meines Bruders. Die Worte meiner Mutter hallten in meinem Kopf wider, als sie in im Sterben lag und sagte, dass sie mich zu einer wunderschönen und selbstbewussten Frau heranwachsen sah. Ich war fest entschlossen, ihren Erwartungen gerecht zu werden, auch wenn ihr Tod bereits fast 10 Jahre zurücklag. Williams Verhalten machte es mir jedoch immer schwerer, das brave Mädchen zu sein, das ich für meine Mutter sein wollte.

Irgendwann drückte William George einen fiesen Spruch, weshalb mein Bruder wütend den Stuhl nach hinten stieß, sich seine Jacke von der Garderobe im Flur schnappte und die Haustür beim Verlassen so heftig zuschlug, dass selbst das Wasser in den Gläsern auf dem Tisch zu vibrieren begann. William atmete scharf aus und rollte mit den Augen, ehe er schweigend weiter aß. Wie konnte er nur? Ich schaute schockiert zwischen meinem Vater und dem leeren Platz, wo George bis vor kurzem noch gesessen hatte, hin und her, bis ich mir einen letzten Bissen der mittlerweile kalten Nudeln in den Mund lud und vom Stuhl aufstand. Ich schnappte mir ebenfalls meine Jacke vom Haken und zog die Haustür auf, zuckte aber kurz zusammen, als ein Löffel an der Wand neben der Tür abprallte.

»Wenn du jetzt gehst, brauchst du heute Nacht auch nicht wieder angekrochen kommen, Natascha!«, schrie er mir vom Esszimmer aus erzürnt hinterher. Es war keine leere Drohung; er würde sie gnadenlos umsetzen. Doch es war mir egal. Also schlug ich genauso heftig wie mein Bruder zuvor die Tür hinter mir zu und eilte ihm hinterher. George war ziemlich schnell zu Fuß und ich musste um Atem ringen, als ich ihn eingeholt hatte und neben ihm zum Stehen kam.

»Was machst du hier, Tascha?«, fragte er mich verdutzt. »Geh wieder nach Hause!« Mein Bruder packte mich an den Schultern, drehte mich um und stieß mich in die Richtung, aus der ich gekommen war. »Nein, ich kann nicht. William hat gesagt, dass ich heute nicht mehr Heim kommen soll, er lässt mich nicht rein«, sagte ich, immer noch außer Atem. Stöhnend ließ mein Bruder seinen Kopf in den Nacken fallen und nickte grimmig. »Dann musst du wohl oder übel mit mir kommen.« George setzte seinen Weg fort und ich trottete hinter ihm her. Zwei Blocks später begann ich mich zu fragen, wohin es überhaupt ging. »Wohin gehen wir?«, fragte ich. Ohne sich zu mir umzudrehen, antwortete er: »Zu meiner neuen Familie.«

3. East River

Ein paar Blocks weiter erreichten wir einen mir unbekannten Bezirk. »Ist nicht mehr weit zu den East Rivern. Dort ist es warm«, beteuerte er. Doch diese Äußerung rief noch mehr Fragen in mir auf. »East River? Wir gehen zu einem Fluss?«, fragte ich ihn verwirrt. »Fast. So heißt die Gang, zu der wir gehen. Wir heißen so, weil unser Quartier am East River liegt.« Als wir das Quartier erreichten, blieb mir der Mund offen stehen und ich schaute den heruntergekommenen Betonklotz an. Die Glasscheiben waren gesprungen und mit Graffiti besprüht. »Hab dich nicht so! Es mag vielleicht von außen nicht sonderlich vertrauenswürdig aussehen, aber drin ist es wenigstens warm«, sagte mein Bruder mit einem Schmunzeln.

George stellte mich seiner Gang vor. Ihr Anführer Bobby strahlte eine Aura der Entschlossenheit aus, gepaart mit Durchsetzungsvermögen und Ehrgeiz. Als nächstes lernte ich das freundliche und offene Pärchen Janette und Zack kennen, gefolgt von Lala. Als sie mir die Hand reichte und ihr Blick über meinen Körper glitt, als würde sie mich abchecken, musste ich schwer schlucken und mein Gesicht wurde rot. Sie zog eine Augenbraue hoch und warf George einen bedeutsamen Blick zu, doch er schüttelte nur den Kopf und formte mit den Lippen ein stummes »Nein«. Bei der Vorstellung des letzten Mitglieds durchfuhr mich eine Gänsehaut. Kelvin, in den eigenen Reihen als Killer-Kevin bekannt, strahlte eine Präsenz aus, die Ehrfurcht und Einschüchterung vermittelte. Sie waren alle etwa im Alter von George, also mindestens fünf Jahre älter als ich.

Das Paar führte mich durch ihre Behausung und zeigte mir die beiden halbwegs funktionsfähigen Bäder, ihre zusammengeschusterte Küche und den Schlafraum. Bei letzterem handelte es sich um einen gemeinsamen Schlafraum, in dem alle gemeinsam schliefen – bis auf Bobby, der am anderen Ende der Halle sein eigenes Zimmer hatte. Konnte ich wirklich mit so vielen Unbekannten an einem fremden Ort schlafen? Ich musste es schaffen, versuchte ich mir zuzureden, während Janette und Zack mich weiterführten.

Als wir zurück in der großen Halle waren, beobachtete ich Kelvin dabei, wie er sich etwas Weißes in die Nase zog. Man erklärte mir, dass es sich um Mokk handelte, eine halluzinogene Droge. Auch Bobby zog sich das Zeug mit einem zusammengerollten Papier in die Nase und ließ sich anschließend stöhnend auf dem Stuhl zurückfallen. Egal was Mokk war, ich hatte keine Absicht, es auszuprobieren, auch wenn es schien, als würde fast jeder hier davon Gebrauch machen.

Stunden vergingen und ich erfuhr schockierende Dinge. East River war in kleinkriminelle Aktivitäten verwickelt. Die Gang brach in Tankstellen ein und gelegentlich auch in Wohnhäuser, deren Besitzer verreist waren. Ihr fragwürdiger Lifestyle rief in mir ein Unwohlsein hervor. Ich hörte ihnen aufmerksam zu, während sie offen über ihre Methoden sprachen, die sie ihrer eigenen Aussage nach nur anwandten, um Geld für ihren Lebensunterhalt zu beschaffen. Keiner von ihnen hatte einen Job. Irgendwann in der Nacht gingen wir in den Schlafraum und ich ließ mich auf eine Liege sinken. »Gute Nacht, George«, flüsterte ich müde. »Das wünsche ich dir auch«, antwortete er von der Liege neben mir und ich schlief ein.

 

--LESEPROBE ENDE--

Impressum

Texte: Kira BellaVii
Cover: Midjourney
Lektorat: Phoe B.
Korrektorat: Phoe B.
Tag der Veröffentlichung: 06.08.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
All jenen sei diese Geschichte gewidmet, die sich auf düsteren Pfad verirrt haben und in den Abgründen ihrer selbst nach Antworten suchen. Möge sie auch wie ein schräg-hängender Spiegel dienen, der die Realität auf unkonventionelle Weise enthüllt.

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