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Eine unheimliche Taxifahrt

Nach einer wilden und ausgelassenen Partynacht verspürten Sandra und Milli nichts sehnlicher als den Wunsch, endlich nach Hause zu kommen und sich auszuruhen. Die beiden Freundinnen streckten ihre Daumen am Rand einer stark befahrenen Straße aus, im Hoffen auf eine rettende Fahrt. Kaum verging eine Minute, da fing ein Taxi ihre Aufmerksamkeit ein. Es drosselte die Geschwindigkeit, zog näher zum Gehsteig heran und kam zum Stehen. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte sie, als sie die Türen öffneten und sich auf die bequemen Polster fallen ließen.

»Guten Abend, die Damen. Wohin soll die Reise denn gehen?«, erkundigte sich der Taxifahrer, ohne sich ihnen direkt zuzuwenden. Stattdessen spiegelte sich nur ein Lächeln auf seinen Lippen im Rückspiegel, als er sie ansah.

»Bitte fahren Sie mich zur 530 Westminster Road in Brooklyn«, erklärte Milli.

Der Fahrer nickte und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Während der Fahrt tuschelten die beiden Freundinnen miteinander, voller guter Laune, möglicherweise auch aufgrund des Restalkohols in ihren Adern. Ihr ansteckendes Lachen erfüllte das Taxi, sogar der Fahrer konnte ein Schmunzeln nicht verbergen.

»Wir sind angekommen«, verkündete der Fahrer durch den Rückspiegel und lenkte den Wagen an den Bürgersteig.

»Das ging ja wirklich fix«, bemerkte Milli und wischte sich eine Lachträne aus dem Auge.

»Wenn man so wie wir die ganze Zeit plaudert, geht die Zeit eben schnell vorbei", erwiderte Sandra schmunzelnd, während Milli die Tür öffnete, um auszusteigen.

»Also Süße, wir sehen uns, bis bald!«, verabschiedete sich Milli von ihrer Freundin und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Erneut spiegelten sich die Augen des Taxifahrers im Rückspiegel wider. »Und wohin darf ich Sie bringen, junge Dame?«, fragte er.

»Bitte fahren Sie zur 19-18 Grove Street in Queens«, antwortete sie.

Sandra war vertieft in ihr Handy und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ihre Freundin hatte ihr ein Bild geschickt, auf dem sie in eine Decke gehüllt auf der Couch saß. In einigen Meilen konnte auch Sandra ihre Couch mit offenen Armen empfangen, sich die High Heels von den Füßen streifen und genüsslich einen ganzen Eisbecher verputzen.

»Übrigens, haben Sie schon davon gehört? Jemand ist aus der Klapse ausgebrochen«, platzte der Taxifahrer scheinbar aus dem Nichts heraus, nachdem sie einige Meilen zurückgelegt hatten.

»Psychiatrie, nicht Klapse«, korrigierte Sandra ihn ruhig und senkte ihr Handy.

»Natürlich, sorry. Haben Sie auch gehört, dass er sich hier in der Gegend rumtreiben soll?« Seine Augen waren wieder im Rückspiegel zu sehen, als er mit seinem einzigen Fahrgast sprach.

»Nein, tatsächlich nicht... Ich war mit meiner Freundin feiern«, bemerkte sie kurz und eine Gänsehaut überkam sie.

»Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Abend?«, erkundigte sich der Taxifahrer mit dem lächelnden Mund im Rückspiegel.

»Den hatte ich, er war wunderbar«, kichert sie und die Gänsehaut war wie verflogen. »War Ihrer auch angenehm? Wie viele Fahrgäste haben Sie im Schnitt in einer Nacht?«, fragte Sandra neugierig. Etwa Smalltalk sollte ja nicht schaden.

»Mal sehen...«, begann er, konnte seinen Satz jedoch nicht beenden, da seine und die Aufmerksamkeit seines Fahrgastes plötzlich von einer Radiodurchsage abgelenkt wurden. Er drehte das Radio lauter.

»Der geflohene Insasse aus der Psychiatrie wird als äußerst gefährlich eingestuft. Er hat ein Taxi zur Flucht benutzt. Bitte seien Sie vorsichtig, wenn Sie in ein Taxi einsteigen«, meldete ein Polizeisprecher.

Sandra spürte, wie ihr Herz auf Grundeis ging.

»Tzz, ein Taxi als Fluchtfahrzeug, das ist ja wohl lächerlich«, schnaubte der Taxifahrer verächtlich und drehte den Radiosender wieder leiser.

»Könnten Sie mir nochmal Ihren Namen nennen?«, erkundigte sich Sandra vorsichtig. Ihre Hände zitterten leicht, wurden feucht.

»Joe.«

»Joe... Könnte ich vielleicht Ihre Lizenz sehen?«

»Selbstverständlich.« Seine Hand glitt in die Jackentasche und er reichte ihr die angefragte Lizenz.

Sorgfältig las Sandra die Informationen auf dem Ausweis durch. »Tatsächlich, Joe. Seit zwei Jahrzehnten im Taxi-Geschäft, nicht wahr?« Sie reichte ihm die Lizenz zurück.

»Mit Hingabe und Leidenschaft, junge Dame«, erwiderte er stolz, sein Lächeln im Rückspiegel widerspiegelnd.

Sandra lehnte sich entspannt im Sitz zurück. Die Straßen waren immer noch belebt, besonders an dem Wochenende. Ihre Augen verfolgten die vorbeiziehenden Autos. Plötzlich erklang ein dumpfes Geräusch aus dem Bereich des Kofferraums, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

»Was war das?«, fragte sie aufgeregt und blickte sich um.

»Schlaglöcher, sie sind überall«, erwiderte Joe und sah sie durch den Rückspiegel an.

Eine Weile verging in Stille. Seine Blicke ruhten immer wieder auf ihr. Sandra wurde immer leiser, sie war verunsichert, zunehmend unwohl.

»Weshalb so schweigsam? Denken Sie, ich bin der Psycho?«

»Patient. Sie sind Patienten«, entgegnete Sandra ihm knapp. Ihre Hände waren feucht, ein Kloß saß ihr im Hals.

Und wieder ein Poltern aus der Kofferraumgegend.

»Was für ein Idiot legt denn Steine auf die Straße?«, fragte Joe, seine Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Haben Sie nicht gerade von Schlaglöchern gesprochen?«

»Äh ja... Schlaglöcher, genau«, räusperte er sich. Wieder spiegelten sich seine Augen im Rückspiegel, die sie ansahen.

Ein Zittern überlief Sandra und sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe. »Ist es noch weit?«

»Noch ungefähr zwei Meilen. Freuen Sie sich darauf, nach Hause zu kommen?«, fragte er.

»Ja«, erwiderte Sandra und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln.

»Mein Freund erwartet mich schon ungeduldig. Er fragt schon die ganze Zeit, wo ich bleibe«, sagte sie etwas nervös. Es war eine kleine Notlüge, denn Sandra war tatsächlich Single. Sie fühlte sich, als könnte sie sich hinter dieser Lüge verstecken, als ob sie ihr eine gewisse Sicherheit bot.

»Aber Sie haben kaum auf Ihr Smartphone geschaut«, bemerkte Joe und zog eine Augenbraue hoch.

Sandra schwieg. Sie starrte auf ihre schweißnassen Hände, während Hitze und Kälte sie gleichermaßen durchströmten.

»Ah«, schnalzte Joe, »diese modernen Uhren, die Nachrichten anzeigen können. Das habe ich vergessen.«

»Ja, genau!«, antwortete Sandra nervös und nickte hastig. Sie versteckte ihr Handgelenk, da sie nur eine normale Quarz-Armbanduhr trug, keine Smartwatch.

Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Immer wieder warf Sandra einen Blick auf ihr Smartphone, in der Hoffnung, eine Nachricht von ihrer Freundin zu sehen. Doch sie erhielt keine Antwort mehr, vermutlich schlief ihre Freundin bereits. Vor Nervosität hatte sie ihren Fingernagel am Daumen kurz abgekaut.

Joes Augen waren erneut im Rückspiegel zu sehen, sie fixierten sie. »Wir sind angekommen«, verkündete er, lenkte den Wagen an den Straßenrand und schaltete den Motor ab.

Sandra fuhr erschrocken auf. Von all den rasenden Gedanken abgelenkt, hatte sie nicht einmal bemerkt, dass sie bereits in ihre Straße eingebogen waren. Plötzlich hörte sie erneut ein Poltern aus der Nähe des Kofferraums.

»Was war das? Ist da jemand drin?«, fragte Sandra panisch, ihre Pupillen erweiterten sich vor Angst. Sie öffnete die Tür und stieg hastig aus.

Die Fensterscheiben senkten sich und Joe sah sie empört an. »Da habe ich mich aber verhört! Denken Sie etwa, ich bin dieser Psycho?«

Sandra rieb sich aufgebracht die Stirn, schloss die Augen. »Entschuldigung... Meine Fantasie spielt mir wohl einen Streich...« Sie öffnete ihre Augenlider wieder und sah Joe direkt an. Seine Augen waren von dunklen Ringen umgeben, sein Kiefer war von grauen Bartstoppeln bedeckt. Im dunklen Auto hatte sie sein Gesicht im Rückspiegel kaum erkennen können. »Wie viel schulde ich Ihnen?«

Sein zusammengepresster Kiefer entspannte sich und ein Lächeln huschte über seine schmalen Lippen. »Für Sie und Ihre Freundin heute kostenlos, junge Dame.«

Seine Augen trafen Sandras Blick ein letztes Mal, bevor er den Motor startete und davonfuhr.

Mit offenem Mund beobachtete Sandra das Taxi, das sich entfernte. Plötzlich hörte sie ein eigenartiges, schrilles Geräusch. »War das etwa... ein Schrei?«, fragte sie sich.

Ihr Smartphone klingelte, der Name ihrer Freundin erschien auf dem Display und sie ging ran.

»Sandra? Geht es dir gut? Um Himmelswillen, ich habe mir solche Sorgen gemacht!« Millis Stimme überschlug sich. »Ein Insasse aus der Psychiatrie ist ausgebüxt und...«

Sandra unterbrach sie, »ich weiß. Ich glaube, der...«

»Sein Name ist Joe«, unterbrach Milli sie nun. »Man nennt ihn auch 'Joe, der Brünettenverschlinger' und...«

Sandra ließ das Smartphone sinken, hörte ihrer aufgeregten Freundin nicht weiter zu. Sie starrte geradeaus, wo das Taxi kurz zuvor gefahren war. »Ich saß mit ihm im Auto...«, flüsterte Sandra fassungslos. Sie hatte es geahnt, aber wer hätte gedacht, dass es sich bewahrheiten würde. Ihr Blick wanderte langsam zu ihren roten, langen Haaren. Auch Milli war vielleicht mit ihren blonden Haaren einem Verbrechen entkommen. »Wir passten nicht in sein Beuteschema...«, murmelte sie vor sich hin. »Heilige Scheiße!«

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Tag der Veröffentlichung: 15.11.2022

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