»Papa, ich hab' Angst«, sagte das Mädchen und schaute verunsichert zu ihrem Vater auf.
»Das musst du aber nicht, ich bin ja bei dir«, erwiderte der Vater. »Schau, dahinten steht Mama und schaut dir zu.«
Das Mädchen drehte ihren Kopf nach links und winkte ihrer Mutter zu.
»Aber was ist, wenn ich falle?«, fragte sie schließlich und schaute betrübt zum Vater zurück.
»Das wirst du schon nicht«, versicherte er ihr. »Komm, nimm meine Hand.«
»Aber lass nicht los«, sagte das Kind sichtlich nervös.
»Keine Angst, das werde ich nicht. Ich schwöre es«, erwiderte der Vater und hob die rechte Hand zum Schwur.
Das Kind nickte und nahm die linke Hand seines Vaters in ihre, ganz fest. Sie vertraute ihm und schloss für einen kurzen Moment die Augen.
»Die letzten Fahrgäste, bitte!«, rief ein Stimme laut aus.
Sofort öffnete das Mädchen die Augen und die Panik ergriff sie. »Papa...«, wisperte sie fast tonlos und Tränen bildeten sich in ihren Augen. Nun wurde es brenzlich, sie würden gleich abheben.
»Ich bin doch da, hab keine Angst. Du wirst schon sehen, wenn wir uns erst einmal drehen, wird das ganz toll werden.«
»Wirklich?«, fragte das Kind ungläubig. Das konnte sie sich nur schwer vorstellen.
»Ja, wirklich«, versicherte ihr Vater abermals.
Und dann setzte sich das Kettenkarussell in Bewegung. Das Kind drückte die Hand ihres Vaters noch fester und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Was hatte sie sich dabei nur gedacht? Wieso musste sie unbedingt in so ein Fahrgeschäft steigen? Wieso konnte sie nicht einfach weiter mit ihrem geliebten Kinderkarussell fahren? Doch dieses Jahr wollte sie auf der jährlichen Kirmes etwas Neues ausprobieren. Sie war schließlich schon 11 Jahre alt und wollte mit den Fahrgeschäften für Erwachsene fahren.
»Hey, schau mal dort«, sagte der Vater und lenkte die Aufmerksamkeit seiner nervösen Tochter auf den Himmel.
»Was ist da?«, wollte sie wissen.
»Sieht die Wolke nicht wie ein Elefant aus?«
Tatsächlich! Das Kind bestaunte die elefantenähnliche Wolkenform. »Wow!«
Das Kettenkarussell hatte nun seine maximale Geschwindigkeit erreicht und der Drehkranz war gekippt, sodass eine Auf- und Ab-Bewegung entstand.
»Papa, halt meine Hand fester!«, sagte das Kind panisch, als es immer schwerer wurde, sich an ihr festhalten.
»Weißt du, wieso wir nach außen gedrückt werden?«, fragte der Vater sie.
Doch das Kind schüttelte nur mit dem Kopf. »Wieso?«
»Je schneller sich das Karussell dreht, desto stärker schwenken die Sitze durch die Fliehkraft radial zur Seite aus.«
Doch das Kind verstand die Erklärung ihres Vaters nicht und schaute ihn fragend an.
»Weißt du noch, wenn wir Auto gefahren sind, wie du in den Kurven in deinem Kindersitz zur Seite gedrückt wurdest?«
»Ja«, erwiderte das Kind und nickte. »Das ist also diese Fliehkraft?«
»Du hast es erfasst, mein Äffchen«, schmunzelte der Vater.
Bei ihrem Kosenamen musste das Kind bis über beide Ohren grinsen und alle angestauten Tränen versiegten augenblicklich. Stattdessen hob es die Arme, ohne dabei die Hand ihres Vaters loszulassen und fing langsam an, die Drehungen des Karussells zu genießen.
»Hui!«, jubelte das Mädchen und ein Glitzern lag nunmehr in ihren Augen.
»Das macht Spaß, was?«, lächelte der Vater und beobachtete seine begeisterte Tochter. »Doch gar nicht so schlimm, hm?«
»Ja, das macht ja doch Spaß!«, kicherte sie. »Schau mal Mama an, sie ist so klein!«
»Ja, so klein wie eine Ameise«, spaßte der Vater und konnte kaum die Augen von seinem kleinen Äffchen lassen.
»Oh Papa, schau mal! Die Wolke sieht wie ein Schmetterling aus!«, sagte das Kind und zeigte mit dem Finger auf die vorbeiziehende Wolke. »Und schau mal diese Wolke. Sie sieht wie ein Teddy aus!«
»Sieht wie dein Teddy aus«, stellte der Vater fest.
»Ja, der den du mir zu meinem fünften Geburtstag geschenkt hattest.«
Das Mädchen kicherte, freute sich, mit ihrem Vater zusammen in dem Karussell zu sitzen und keine Angst mehr zu verspüren. Wann hatte sie zuletzt solch einen Spaß mit ihrem Papa gehabt? Sie konnte sich gar nicht mehr genau daran erinnern.
»Was? Schon vorbei?«, fragte das Kind ungläubig, als die Drehungen immer langsamer wurden und der Drehkranz wieder in die waagerechte kam.
»Ja, leider schon vorbei. Aber hat doch viel Spaß gemacht. Du hast deine erste Fahrt mit einem Kettenkarussell mit Bravour gemeistert, Äffchen. Ich bin stolz auf dich«, lobte der Vater sie und schenkte ihr ein herzerwärmendes Lächeln.
Das Kind befreite sich aus dem Bügel und rannte zur wartenden Mutter.
»Na mein Schatz, wie war es?«, begrüßte sie ihre Tochter.
»Mama, es war unfassbar! Ich hatte so viel Spaß! Das glaubst du mir gar nicht«, erwiderte das Kind völlig außer sich vor Freude.
»Das sehe ich, mein Schatz. Aber mit wem hast du die ganze Zeit geredet?«, wollte ihr Mutter wissen und schaute sich um.
Doch das Kind lächelte nur. »Ein Geheimnis«, und legte einen Finger an den Mund.
Während ihre Mutter die Jacke ihrer Tochterzuzog, schaute das Mädchen über ihre Schulter zu ihrem Vater. Mit einem Lächeln auf den Lippen wurde seine Gestalt immer transparenter und der Platz, auf welchem er gestanden hatte, war wenige Augenblicke später leer. Ihr geliebter Papa hatte sich in Luft aufgelöst. Sie hatte ein letztes, aufregendes Abenteuer mit ihrem Vater erlebt, der vor drei Jahren bei einem Unfall das Leben verloren hatte.
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2022
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