Was ist meine Geschichte? Was hat der alte, verrostete Schlüssel in meiner Hand mit meiner Situation zu tun?
Ich sage nur so viel: Ich habe ausgezeichnete Schulnoten, liebevolle Eltern, großartige Freundschaften und muss nie den echten Schmerz der Traurigkeit erleben. Mein Leben ist einfach nur wunderbar.
Allerdings muss ich nun ein Verb in meinem Kopf flektieren: Mein Leben war einfach nur wunderbar.
Und hier beginnt mein abgefucktes Leben.
Mein Bruder und ich mussten uns schon früh von unserer Mutter verabschieden. Ihr Körper hatte viele Jahre lang mit dem Krebs gekämpft, der letztendlich auch ihr Leben einforderte. An ihrem Sterbebett hielten wir ihre Hand ganz fest, so, als ob wir sie mit unserer Willenskraft weiter am Leben hätte halten können. Mit ihrem letzten Atemzug änderte sich schließlich alles für uns.
Mein Vater verkraftete die herzzerreißende Tragödie nur sehr schwer. Er versank in seiner Arbeit und ließ sich kaum noch zu Hause blicken, schottete uns und somit seine verbliebene Familie von sich ab. Auch mein Bruder hielt es für angebracht, sich immer öfters verdrücken zu müssen. Er verbrachte stattdessen lieber seine Tage bei seinen neuen Freunden. Schule? Nein, die schwänzte er. Er war bereits 16 Jahre alt und somit nicht mehr Schulpflichtig, ihm konnte keiner mehr etwas.
Ich hingegen wollte mir nichts anmerken lassen. Nur, weil meine Mutter nicht mehr da war, wollte ich mein aufgebautes Leben nicht wie mein Bruder über den Haufen schmeißen. Irgendwann kam er jedoch auf die glorreiche Idee mich zu seiner neuen Clique mitnehmen zu müssen. Ich gefiel ihm so nicht, er sagte, ich lebe nur noch vor mich hin, würde wie ein Zombie dahinvegetieren. Mein Bruder meinte, dass die Clique auch meine neue Familie werden könne, sofern ich mich darauf natürlich nur einließe. So schwer es mir auch fiel, versuchte ich tatsächlich mich darauf einzulassen. Er war schließlich mein Bruder, der mir nichts Böses wollte, er versuchte mir auf seine Art zu helfen – oder?
Doch sein neuer Lifestyle, den die Clique auf ihn ausübte, überforderte mich zunächst. Er nahm Drogen, wurde sogar kleinkriminell. Ich erkannte meinen Bruder kaum noch wieder. Er sagte, ich solle doch auch mal einen Zug vom Joint nehmen, es würde mich locker machen. Natürlich vertraute eine 13-Jährige Schwester dem großen Bruder und ich nahm somit den ersten, tiefen Zug. Schnell verfiel auch ich den Drogen, probierte mehr halluzinogene Rauschmittel aus, hatte das erste Mal Sex mit unserem Anführer und bekam von unseren adrenalingeladenen Einbrüchen kaum noch genug. Wir erbeuteten so viel Geld – das war für jeden einzelnen unserer achtköpfigen Clique surreal, kaum händelbar. Natürlich mussten wir immer aufpassen nicht ertappt zu werden, daher blieben wir meistens bei Tankstelleneinbrüchen, bei welchen die Inhaber kaum Sicherheitsvorkehrungen getroffen hatten. Gelegentlich stiegen wir auch mal in ein Einfamilienhaus ein, wenn die Besitzer verreist waren. Ich geriet in eine prekäre Situation, aus der es kein Entkommen mehr gab. Alle schulischen Leistungen fuhr ich gegen die Wand, sogar meine Freunde schirmte ich von mir ab. Ich und meine neue Familie – das war alles, was ich noch wollte.
Selbst unserem Vater fiel unsere Abwesenheit kaum auf. Gelegentlich hinterließen wir ihm eine Alibinotiz am Kühlschrank, in der stand, dass wir auswärts essen gegangen wären oder bei Freunden übernachten würden. Er bekam nichts mit, er war ein toller und fürsorglicher Vater – ironisch gesprochen.
Leider blieb es nicht lange so idyllisch, unser eingespieltes Konzept bröckelte.
Wir waren mit unseren Drogendelikten und Einbrüchen nie aufgeflogen, weshalb unser Anführer mehr für uns wollte – wir alle wollten nach mittlerweile etwa drei Jahren mehr. Wir planten einen größeren Einbruch, bei welchem wir am Ende noch mehr Geld erbeuteten, als wir zählen konnten. Doch leider waren wir unvorsichtig, hinterließen Spuren, erregten Aufsehen. Nicht bei der Polizei, sondern bei anderen Cliquen, die neidisch wurden und uns als den Feind betrachteten.
Eines nachts, als wir schliefen, griff diese Clique von 16 Jugendlichen unser Quartier an. Sie behaupteten, wir hätten auf ihrem Territorium geplündert, sie in ihren Machenschaften gestört und die Bullen auf sie gelenkt. Sie waren außer Rand und Band, zerstörten unser Heim. Doch war das noch nicht genug: Die Jugendlichen hatten Schusswaffen – weiß der Geier woher. Einige von uns sahen den monströsen Läufen ins Gesicht, von Panik ergriffen. Einer von uns überlebte den Angriff nicht und die verfeindete Clique flüchtete umgehend.
Der letzte Schrei meines Bruders hallte an den Betonwänden unseres Quartiers wider. Als ich seinen leblosen Körper auf den Boden liegen sah, veränderte sich meine ganze Person. Alles, was mich ausmachte – Spaß, Güte, Freude, sogar Angst und Wut – verflüchtigte sich. Ich wurde zu einer kalten und leeren Hülle, der alles egal zu seien schien. In uns allen flammte nur das Eine auf: Rache. Wir wollten unseren Bruder rächen, wollten die Jugendlichen für ihre brutale Tat büßen lassen, wollten Vergeltung der feinsten Art.
Auch wir besorgten uns auf illegalem Weg Schusswaffen und begaben uns wochenlang auf die Suche nach diesen Missgeburten. Als wir sie fanden, brach ein Bandenkrieg aus, welcher Schwerverletzte und Tote nach sich zog. Wir mussten fliehen, da einer der Scheißkerle die Bullen gerufen hatte und uns damit in die Knie zwingen wollte. Einige Meilen weiter wurden wir jedoch gefasst. Unter Geschrei und Gebrüll wurden wir verhaftet und abgeführt. Die Polizei teilte uns auf, trennte uns voneinander, damit sie uns durch das Auseinanderreißen brechen konnten. Ich sah niemanden meiner Familie wieder.
Später, vor einem Gericht, legte man mir die volle Schuld auf und ich wurde zum Tode verurteilt. Nun saß ich im Todestrakt ein, hatte mir den Tod durch den elektrischen Stuhl wünschen dürfen. Die Todesspritze wollte ich nicht, habe gehört, dass da echt viel schiefgehen konnte und man Höllenqualen durchleben würde. Den alten, verrosteten Schlüssel unseres Quartiers hielt ich fest umklammert. Er war mein Anker in dieser verschissenen Welt.
Wenige Wochen später war es so weit. Das Ganze ging mir am Arsch vorbei. Der Priester fragte mich, ob ich meine Tat bereuen würde, doch ich lachte ihn aus. Seine letzte Lesung nahm ich nicht wahr. Dann führten mich zwei Polizisten ab, brachten mich zu dem elektrischen Stuhl, der mein Leben beenden sollte. Man fragte mich, was meine letzten Worte wären, doch ich hatte keine. Selbst mein Vater war nicht da. Ob er überhaupt wusste, das ich einsaß und nun den Tod finden sollte?
Ich schloss die Augenlider, als man mich am Stuhl festgeschnallt hatte. Das Bild meines grinsenden Bruders kam mir in den Sinn. Tränen sammelten sich in meinen Augen. Das wars.
»Hey«, sagt eine Männerstimme und reißt mich aus den Gedanken. »Ich habe dich etwas gefragt.«
»Entschuldigung, ich habe Sie nicht gehört«, erwidere ich und schaue ihm in die Augen.
Sein Atem kommt schwer, genervt, da er abermals seine Fragen an mich wiederholen muss.
»Du wurdest in letzter Sekunde vor dem elektrischen Stuhl gerettet. Das Gericht hat festgestellt, dass deine psychische Erkrankung deine Schuldfähigkeit beeinträchtigt, weshalb du in die forensisch-psychiatrische Klinik überwiesen wurdest. Und jetzt sitzen wir hier. Deshalb stelle ich dir die Frage erneut: Wie siehst du dein Leben vor dir?Ich habe gefragt, welche Bedeutung der Schlüssel an deiner Halskette für dich hat.«
Ich zucke mit den Achseln. »Er ist der Schlüssel zu meiner völligen Zerstörung, Sir.«
Der Mann, mein Psychiater, nickt. »Und wie geht es dir? Wie stellst du dir dein Leben vor? Du wurdest in letzter Sekunde vor dem elektrischen Stuhl gerettet. Das Gericht hat festgestellt, dass deine psychische Erkrankung deine Schuldfähigkeit beeinträchtigt, weshalb du in die forensisch-psychiatrische Klinik überwiesen wurdest. Und jetzt sitzen wir hier.«
Abermals zucke ich mit den Achseln. »Ich sage nur so viel: Ich habe ausgezeichnete Schulnoten, liebevolle Eltern, großartige Freundschaften und muss nie den echten Schmerz der Traurigkeit erleben. Mein Leben ist einfach nur wunderbar.« Allerdings muss ich nun ein Verb in meinem Kopf flektieren: Mein Leben war einfach nur wunderbar. »Und hier beginnt mein abgefucktes Leben.«
Texte: Kira BellaVii
Tag der Veröffentlichung: 09.11.2022
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