Draußen polterte es lautstark und ich wurde unsanft aus meinem Traum gerissen. Schlaftrunken rieb ich mir die Augen und setzte mich auf. Die Dunkelheit lag schwer im Zimmer. Man konnte kaum etwas sehen. Wie spät es wohl war? Als ich auf die Wanduhr schaute und feststellte, dass es noch mitten in der Nacht war, ließ ich mich zurück auf das Bett plumpsen. Für einen Moment schloss ich die Augen und dämmerte wieder weg.
Es rumste erneut, dieses Mal lauter und ich riss erschrocken die Augen auf. Was war da los? Ich schaute zu meinem Bruder George, der aber noch zu schlafen schien. Ihn bekam nichts so schnell wach, das war schon immer so. Es polterte wieder und wieder in unregelmäßigen Abständen vor der Tür und ich zwang mich schließlich aufzustehen um nach dem Rechte zu sehen.
Ich schlüpfte in meine Schuhe, zog mir meine Jacke über und ging zur Tür. Doch mit einem Mal hörten die Geräusche auf. Verwirrt öffnete ich die Tür und blickte in die in von Mondschein überflutete Halle. Es war rein gar nichts zu sehen außer einem vorbeiziehenden Schatten an der Wand links von mir. Mir lief es eiskalt den Rücken runter.
Irgendwer war in der Halle. Ich merkte wie mir das Herz bis zum Hals schlug und meine Hände zu zittern begannen. Wieso hatte ich solch eine Angst? Bestimmt war jemand von den East River noch spät auf.
»Hallo?«, hauchte ich in die kalte Luft. Ich tat ein Schritt vor den anderen und ging weiter in die Halle, um mich besser umschauen zu können. Nirgends konnte ich eine Silhouette wahrnehmen und fragte etwas mutiger geworden, »ist da wer?« Was tat ich da überhaupt? Klar war da jemand! Den großen Schatten hatte ich mir doch nicht eingebildet.
Plötzlich ging alles ganz schnell. Mir wurde ein Sack über den Kopf gezogen und es wurde schlagartig pechschwarz vor meinen Augen. Sofort fing ich an zu schreien und schlug wildgeworden um mich. Jedoch traf ich nur ins Leere.
»Bitte lass mich los! Ich sage auch niemanden etwas! Bitte!«
Doch mir wurde nicht geantwortet, stattdessen wurden mir die Beine und die Arme hinter meinem Rücken verbunden. Ich zog scharf Luft ein, als ich den Boden unter den Füßen verlor und ich über eine Schulter gelegt wurde. Ich war zu nichts mehr in der Lage und ließ es einfach geschehen.
Die Person, welche mich auf der Schulter trug, fühlte sich sehr stark an und als er sich dann in Bewegung setzte kam es mir so vor, als ob ihm mein Gewicht überhaupt nichts ausmachte.
»Wohin bringst du mich?« Natürlich erhielt ich erneut keine Antwort. Welcher Entführer würde seinem Opfer sagen wohin es gehen würde? Die Eingangstür wurde geöffnet und der Mann trat mit mir ins Freie. Die Kälte der Nacht ummantelte mich und ließ mich erzittern. Obwohl ich mir nicht ganz sicher war, ob ich aus Angst zitterte oder mir doch einfach nur kalt war.
Vor meinen Augen versucht ich mir auszumalen, wo lang er ging um in einem günstigen Moment die Flucht ergreifen zu können. Doch ehe ich es richtig einsortieren konnte, ging eine Autotür auf und ich wurde vorsichtig hineingelegt. Nachdem die Tür geschlossen wurde gab es einen Moment der Stille, in der ich versuchte die Fesseln irgendwie lockerer zu bekommen. Doch es half nicht, sie saßen bomben fest.
Es wurden mehrere Türen des Wagens geöffnet und mir wurde schlagartig klar, er war nicht allein und ich würde niemals entkommen können. Zwei meiner Geiselnehmer zogen mich an meinen Armen hoch auf einen Sitz.
»Bitte«, wisperte ich voller Hoffnung endlich eine Antwort zu bekommen. Ich versuchte ein Schluchzen zu unterdrücken und schloss die tränengefüllten Augen.
Es glitt eine Hand neben mich und schnallte mich wortlos an. Der Wagen wurde gestartet und setzte sich in Bewegung.
Verloren, das war ich. Verloren zwischen fremden Menschen die mich gekidnappt hatten. Doch was für ein Motiv hatten sie? War ich einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort? Fragen über Fragen plagten mich. Ich versuchte den Kopf freizubekommen, um mich auf das wesentliche zu konzentrieren. Doch die Stille im Wagen macht es nicht besser. Keiner sprach ein Wort oder machte ein Laut. Unerträgliche Still. Ich versuchte mir auch nur jedes kleineste Geräusch einzuprägen, umso herauszufinden, wo wir uns gerade befanden. Ich hörte den Stadtverkehr, schreiende Menschen und bellende Hunde. Und in der Ferne die bekannten Schüsse von Pistolen und den hinterherjagenden Polizeiwagen mit ohrenbetäubender Sirene, welche in dieser Region schon zum Alltag geworden waren.
Nach einer Weile wurde es stiller und der muffige Stadtgeruch verflog. Wir verließen die Stadt. Die Straße entwickelte sich zu einem Holperweg und jeder kleiner Hügel tat mir am Hintern weh. Ich hatte keinen blassen Schimmer wo wir waren oder wohin sie mich bringen wollten. Die bessere Frage war jedoch, ob es die anderen auch erwischt hatte. Vielleicht war ich gar nicht als einzige entführt wurden. Traf ich dort sogar auf sie? Fragen auf die ich hoffte eine Antwort zu bekommen. Mir würde es das Herz brechen, wenn den anderen etwas zugestoßen wäre.
Der Wagen wurde langsamer und hielt schließlich mit einem rumpeln an. Wieder wurde ich an den Armen gepackt, abgeschnallt, hoch gezogen und aus den Wagen gehievt.
»Was…«, doch mehr konnte ich nicht sagen, denn ich wurde wieder über die Schulter des muskulösen Mannes gelegt.
Die Luft hier roch sauber, sehr ländlich. In Gedanken klapperte ich ab, wo wir uns vielleicht befinden konnten. Es könnte eine Farm sein oder aber auch der Schlund der Hölle der auf mich wartete. Nach ein paar Metern wurde ich zurück auf die Erde gestellt und der Geruch seines Parfums stieg mir in die Nase. Er kam mir bekannt vor, doch bevor ich den Geruch richtig einordnen konnte, legte mir jemand sanft eine Hand auf meinen Rücken und deutete mir an, dass ich vorwärts gehen sollte.
Abrupt blieb ich stehen, denn ich wusste wer meine Entführer waren. »Kelvin! George!«, rief ich mit fester Stimme. »Ich weiß dass ihr es seid.«
Hinter mir hörte ich das vertraute Lachen meines Bruder. »Du bist einfach zu schlau«, prustete er los.
Mir wurde der Sack von Kopf gezogen und ich drehte mich blinzelt zu ihnen um.
Es waren alle da: Janette, Zack, Lala, Bobby, Kelvin und George.
Ich wusste nicht so recht was ich sagen sollte. »Was soll das?«, fragte ich schließlich und wischte mir ärgerlich die letzten Tränen von den Wangen.
»Nun, das wird ein Aufnahmeritual, Tascha«, sagte Bobby und trat als Anführer der East River hinter den anderen hervor.
Ein Aufnahmeritual? Doch bevor ich darauf irgendetwas erwiderte, schaute ich mich um. Ich stellte fest, dass wir uns tatsächlich auf einer Farm befanden. Aber welche wusste ich nicht. Als Kinder waren wir nicht oft außerhalb der Stadt gewesen. Um uns herum waren Felder, weite und direkt vor uns ein großes, altes Farmerhaus. Hinter dem Dach des Farmerhauses ragte ein riesiger Wasserturm in den Himmel. Wo und was genau sollte dieses Aufnahmeritual sein? Ich drehte mich langsam zu den anderen um und sah in jedes Gesicht der Bandenmiglieder. Sie hatten alle ein schelmisches Grinsen aufgesetzt, nur George nicht, der wirkte alles andere als begeistert.
»Soll sie das wirklich machen?«, fragte George Bobby vorsichtig.
»Oh ja, das wird sie machen müssen«, erwiderte dieser.
»Und was ist es wenn ich mal so fragen darf?«, kam es etwas zittrig aus meinem Mund.
Janette ergriff das Wort und kam auf mich zu. »Das hier hat mit deiner Aufgabe zu tun«, und reichte mir einen kleinen Umschlag.
»Der wird erst aufgemacht, wenn du oben bist. Näheres erfährst du gleich«, sagte Lala hinter Janette. Die beiden Freundinnen sahen sich an und nickten mir entschlossen zu.
»Bevor wir starten, dürfte ich erfahren was uns enttarnt hat?«, fragte Bobby mich mit schief gelegten Kopf.
»Ganz einfach«, begann ich und machte eine wegwerfende Handbewegung, »kein Entführer geht so behutsam und vorsichtig mit seiner Geisel um.«
Alle Augenpaare richteten sich auf George. »Entschuldige das ich nicht ruppig mit meiner Schwester umgehen wollte«, und zog den Kopf unter den vielen strafenden Blicken ein.
»Das andere was euch auffliegen lassen hat, war Kelvin.« Mir stieg die Röte ins Gesicht, als ich auf ihn zeigte.
»Wieso?«, fragte mich Bobby mit zusammen gezogenen Augenbrauen. Auch Kelvins Blick verriet, dass er auf eine Antwort brannte.
»Sein Parfum ist ziemlich markant.«
Jetzt richteten sich alles Augenpaare auf Kelvin. Doch anders als George gestand sich Kelvin seinen Fehler nicht ein.
»Und die Muskeln«, gab ich kleinlaut bei.
»Daran hast du mich erkannt?«, fragte er mich mit hoch gezogenen Augenbrauen.
Auch wenn ich Kelvin nur flüchtig kennen gelernt hatte, hatte ich mir bereits viel von ihm und dem Rest der Bande einprägen können. In dem war ich gut – Menschen analysieren und Details merken.
Verlegen nickte ich und schaute überall hin, nur nicht in sein Gesicht. Es war komisch mit Kelvin zu reden, da er mir immer noch ein wenig Angst einjagte.
»Ja schön«, fing Bobby an und klatschte zwei Mal in die Hände, »dann wollen wir mal los legen. Übrigens, das hier ist die Allys Farm. Vielleicht hast du schon mal von ihr gehört.«
Ich überlegte kurz, bevor der Groschen fiel und mir kalt und heiß zur gleichen Zeit wurde.
Vor ein paar Jahren ist auf der Allys Farm ein großes Unglück passiert. Im Fernseher kam eine LIVE Übertragung von dem Geschehen. Damals war der hintere Teil des Farmerhauses und der Stall samt den Schweinen abgebrannt. Es war eine schreckliche Tragödie. Ich konnte damals nur die Augen verschließen und die Ohren zuhalten, als man das Geschrei der armen, gefangenen und brennenden Schweine hörte. Nach diesem Vorfall, wovon man auch nicht wusste, ob es Brandstiftung oder tatsächlich ein Unfall war, gab die Allys Familie ihren Besitz schweren Herzens auf und zog weg.
In meiner Hand und auf meiner Stirn bildeten sich Schweißperlen, die ich mir schweratmend wegwischte. Bobby ging voraus und der Rest folgte ihm gehorsam. Wie ein Rudel Wölfe die dem Alpha folgten. Langsam trottete auch ich hinterher. Jeder Schritt war schwerer zu gehen als der vorherige. Als die Meute stehen blieb und zu etwas aufsah, wusste ich sofort was meine Aufgabe war.
»Also, Tascha, deine Aufgabe wird es sein diesen Wasserturm rauf zu klettern und dann das zu rufen, was auf dem Zettel in deiner Hand steht.«
Meine Hand schloss sich fester um den Umschlag und ich versuchte die Nerven zu behalten. »Bekomme ich keine Absicherung oder derartiges?«, fragte ich mit angst belegter Stimme. George schaute schnell auf den Boden als ich ihn ansah.
»Nein, die bekommst du nicht«, erwiderte Bobby. »Aber um dich vielleicht ein bisschen zu beruhigen«, er ging ein Stück um den Wasserspeicher rum und deutete auf etwas.
Mein Blick fiel auf eine Leiter, welche an den großen Turm angebracht war. Trotz dessen wurde meine Anspannung nicht weniger und ich schluckte schwer. Schließlich musste ich doch nur eine einfache Leiter hochsteigen, nicht besonders, oder doch? Als ich endlich meinen Blick lösen konnte, sah ich hinter mich. Die anderen hatten sich hinter Bobby gestellt und schauten mich an. Ich merkte sofort wie mir die Röte ins Gesicht schoss und mir Schweiß auf der Stirn stand.
»Bitte fang an wenn du bereit bist«, sagte Bobby und schaute mir tief in die Augen.
Leichter gesagt als getan, ich würde niemals dazu bereit sein.
»Viel Glück, Tascha. Ich hoffe du schaffst es«, ergänzte er und zog die Augenbrauen zusammen.
Ich murmelte ein leises danke und schaute wieder zur Leiter auf. Die Leiter befand sich zwar am Wasserturm, aber der untere Teil fehlte und ich musste um die drei Meter hoch klettern. Ich spürte die Blicke der Bande auf meinem Rücken und mir wurde heiß. Für einen Moment schloss ich die Augen und bereitete mich innerlich vor. Entschlossen öffnete ich sie wieder und ging auf den Wasserturm zu. Aus der Ferne sah er recht klein aus, aber je näher ich kam desto größer wurde er. Ich schätze den Wasserspeicher auf eine Höhe von 15 bis 20 Meter.
»Du kannst abbrechen wenn du willst!«, rief mir George mit besorgter Stimme zu.
Doch ich schüttelte fest den Kopf, ich wollte es durch ziehen. Das musste ich mir selber und den anderen beweisen. Also setzte ich einen Fuß auf den ersten Felsbrocken und fing an langsam bis zur Leiter hochzuklettern. Es dauerte ein bisschen bis ich bei der Leiter angekommen war, da ich nicht wusste wohin ich treten konnte ohne abzurutschen. Etwas außer Atem kam ich bei der Leiter an und umfasste die erste Sprosse. Es tat an den Händen weh, als ich sie umschloss. Der Rost drückte mir in die Handfläche aber ich ignorierte den dumpfen Schmerz. Die Sprossen waren weiter auseinander als bei einer üblichen Leiter und ich hatte Mühe hoch zu kommen. Schon nach der Hälfte fing ich stark an zu schnauben. Mir tränten die Augen von dem Rost der runter rieselte immer, wenn ich eine neue Sprosse umfasste und mich hochzog. Doch ich gab nicht auf, ich wollte nicht aufgeben. Also wischte ich mir mit dem Handrücken über die Augen und kletterte angespannt weiter. Der Weg kam mir unnatürlich lang vor. Ich hatte das Gefühl mich gar nicht von der Stelle zu bewegen. Also schaute ich nach unten. Sofort bereute ich es; es war verdammt hoch.
»Du schaffst das!«, rief mir Janette zu.
Sie hatten sich alle zum Wasserturm gestellt und schauten gebannt zu mir auf. Und wieder versuchte ich die Angst zu unterdrücken und schloss kurz die Augen um tief durch zu atmen.
Los.
Mit entschlossenen Blick schaute ich an der Leiter auf und stellte fest, dass ich es fast geschafft hatte. Mich packte der Ehrgeiz und ich nahm meinen Weg wieder auf. Als ich dann die letzte Sprosse erreichte und sie packte, knackte es unter meinem Fuß. Scheiße! Sofort nahm ich ihn weg und verlagerte mein Gewicht. Die Sprosse, auf dem mein Fuß gerade noch gestanden hatte, brach ab und fiel runter. Erschrocken sah ich zu und die anderen starrten angespannt zu mir auf.
Das ist nochmal gut gegangen. Ich zog mich auf das Stahldach des Wasserspeichers und atmete erleichtert tief durch. Ich hatte es geschafft. Nachdem ich mir sicher war auf dem Dach stehen zu können, nahm ich den Umschlag mit dem Zettel heraus. Neugierig öffnete ich ihn und las leise den Spruch durch, den ich rufen sollte. Ich stellte mich an den Rand des Daches und sah in die ameisengroßen Gesichter der Bande. Mich überkam ein Grinsen und ich spie die Worte mit aller Kraft die ich aufbringen konnte aus mir heraus.
»ICH BIN EIN EAST RIVER!«
Die Bandenmitglieder zündeten sich römische Lichter an und rief mir Glückwunsche zu. Die Lichtkugeln flogen in den unterschiedlichsten Farben in die Luft. Es sah einfach wunderschön aus und für einen Moment schaute ich den bunten Lichtern zu, wie sie in der Luft zerplatzten und verglühten. Aufnahmeprobe überstanden. Jetzt musste ich nur noch heile unten ankommen.
Der Abstieg war leichter als der Aufstieg, da ich nun wusste wohin ich treten konnte und wohin nicht. Als ich unten angekommen war, fiel mir George in die Arme. »Scheiße, ich hatte Angst, aber ich wusste dass du es schaffst.« Mit einem breiten Grinsen ließ er mich los und stellte sich neben Bobby, der nur wenige Schritte von mir entfernt stand.
»Dann sag ich mal eines«, grinste Bobby und schaute mir in die Augen, »willkommen bei den East Rivers!«
Es brach ein Jubelgeschrei aus und es nahmen mich alle in die Arme, sogar Kelvin, auch wenn man sofort spürte, dass es sich komisch anfühlte.
»Dann lasst uns mal wieder aufbrechen«, sagte Bobby und gähnte dabei.
Wie spät es wohl war? Es kam mir vor, als ob ich schon Stunden auf den Beinen war.
Auf dem Weg zum Van musste ich ganze Zeit grinsen. Ich war nun ein waschechter East River. War nun Teil einer neuen Familie.
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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