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Das Ableben einer liebenden Mutter

Regina hustete und hielt sich stöhnend vor Schmerzen die Hand vor den Mund. Bei ihr am Bett saß ihre bitterlich weinende Tochter und am Bettende ihr Sohn, der aus dem Fenster zu seiner Rechten hinaussah. Nach einem Zusammenbruch vor einigen Wochen war sie an das Bett in ihrem Zuhause gefesselt. Die Krankheit hatte ihren Höhepunkt erreicht und Regina musste sich schmerzlich eingestehen, dass es kein Entrinnen mehr gab und sie dem Tod in die Augen blicken musste.

»Schatz, du musst jetzt stark sein«, sprach Regina mit schwacher Stimme ihre Tochter an. »Du musst mir jetzt gut zuhören, verstehst du?«

Mit schluchzender Stimme setzte sich ihre Tochter auf und schaute ihre Mutter mit verweinten Augen an.

»Du wirst jetzt eine große Verantwortung tragen müssen und Entscheidungen treffen, die nicht leicht sein werden. Mit deinen zarten 10 Jahren stehen dir noch alle Türen offen und so wie ich dich kenne, wirst du die anstehenden Hürden auch meistern. Doch du musst nicht alleine damit fertig werden, denn dein Bruder und dein Vater sind an deiner Seite.«

Reginas Tochter nickte unmerklich und vergrub ihr Gesicht in der Bettdecke ihrer Mutter.

»Du und dein Bruder, ihr müsst jetzt zusammenhalten und aufeinander aufpassen«, fügte sie hinzu und streichelte den Kopf ihrer Tochter beruhigend.

Erneut musste Regina husten und krümmte sich vor Schmerz. Nachdem ihre Hustenanfälle überwunden waren, entspannte sie sich wieder.

Ihre Tochter richtete sich auf und schaute Regina mit Tränen gefüllte Augen an. Sie ließ ihren Blick über jedes Detail in ihrem Gesicht wandern, versuchte sich alles einzuprägen was sie ausmachte. Ob es die tiefen Falten um ihre Augen waren oder das kleinste Muttermal auf ihrer Wange, sie
schaute sich alles gründlich an und prägte es sich ein.

»Du wirst eine wunderschöne Frau werden«, stellte Regina lächelnd fest und legte eine Hand an die Wange ihrer Tochter.

Ein Lächeln, welches Reginas Tochter nie wieder sehen würde und sie nur umso mehr zum Weinen brachte. Wie sollte sie ohne ihre geliebte Mutter weiterleben? Sie verstand einfach nicht, wie ihre Mutter in dieser Situation zu einem Lächeln imstande war.

Die Stille, die sich im Raum ausgebreitet hatte, wurde durch das Schniefen ihres Sohnes durchbrochen. Nach wie vor war sein Blick zum Fenster gerichtet. Draußen schien die Sonne, doch
im Zimmer war es düster und kalt. Auch die hell gestrichenen Wände vermittelten an diesem Tag keine angenehme Atmosphäre und die Kinder wussten, dass das Zimmer nicht mehr das gleiche sein würde wie zuvor. Ein Zimmer das vorher mit Lachen und Fröhlichkeit gefüllt war, veränderte sich zu einem Zimmer voller Traurigkeit.

Wie sehr hatte sich Regina gewünscht hätte ihre Kinder aufwachsen zu sehen, mit ihnen Höhen und Tiefe zu teilen. Dieser Wunsch, so wusste sie, würde niemals in Erfüllung gehen.

Seit mehr als fünf Stunden waren die Geschwister bereits an der Seite ihrer Mutter und würden auch noch, sofern es Reginas Zustand zuließ, weitere endlose Stunden bei ihr bleiben. Ihr Mann war nicht da und würde es vermutlich nicht schaffen seine Frau ein letztes Mal lebendig zu sehen. Er war
nur selten zuhause, da seine Arbeit ihm einiges abverlangte; so auch heute.

»Hey«, sagte Regina heiser in die Richtung ihres Sohnes und kräuselte ihre blassen Lippen zu einem Lächeln.

Nach einer Weile drehte er ihr den Kopf zu und schaute sie mit trüben Augen an.

»Setzt dich zu mir. Ich möchte euch beide gerne in meiner Nähe haben.«

Einen Moment zögerte er, stand schließlich vom Stuhl auf und setzte sich an den Bettrand.

»Hör mal, du weißt das ich dich sehr lieb habe, oder?«

Ihr Sohn nickte und drückte liebevoll die freie Hand seiner Mutter.

»Es tut mir leid, dass ich dir in Zukunft nicht mehr bei deinen Hausaufgaben helfen kann oder dich mal wieder aus dem Büro des Rektors befreien muss, weil du Blödsinn angestellt hast. Doch egal was passiert, erinnere dich daran, dass ich immer in deinem und deiner Schwester Herzen bin.« Regina zeigte auf die Brust, wo das Herz ihres Sohnes saß und lächelte. »Versprich mir, dass du auf deine kleine Schwester aufpasst. Seid nicht immer so gemein zueinander. Ihr müsst zusammenhalten, denn nur der Zusammenhalt macht einen stark«, richtete sich Regina an ihren Sohn, der zu seiner kleinen Schwester rüber schaute.

Man konnte sehen, wie sich Tränen in seinen Augen bildeten, die er aber sofort wieder wegblinzelte.

»Es ist in Ordnung, wenn du sie laufen lässt. Es muss dir nicht peinlich sein, denn du wirst immer mein großer und starker Junge sein.«

Wie auf Knopfdruck liefen ihm die Tränen über das Gesicht. »Ich werde dich nicht enttäuschen, Mum. Ich werde ein guter großer Bruder sein und meine kleine Schwester beschützen«, sagte er mit weinerlicher Stimme und gab seiner Mutter einen Kuss auf die fahle Wange.

»Ich hab euch zwei sehr lieb, George und Natascha.«

Reginas Atemzüge wurden langsamer, ihr Herzschlag ungleichmäßig und sie sank erschöpft ins Bett zurück. Das Letzte was sie vernahm waren die Rufe ihrer Tochter.

 

Geh nicht! Lass uns nicht alleine! Mum, bitte! Nein!

 

Sie tat ihren letzten Atemzug und ihr Geist befreite sich
aus der menschlichen Hülle. Sie war endlich frei, frei von
Schmerzen und monatelangen Qualen. Der Krebs, der in ihr wü-
tete, hatte gewonnen. Keine Schmerzen mehr, nie wieder.


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Tag der Veröffentlichung: 23.10.2019

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