1485: Zagreb, Kroatien
Zum ersten Mal in seinen einhundertvier Lebensjahren glaubte Ladislaus Rosiç nicht daran, dass die Unsterblichkeit wirklich jedem Unsterblichen vorbestimmt war.
Geschwächt saß er auf dem breiten Stuhl und blickte an sich herunter. Normalerweise erfüllte es ihn mit Stolz, die saphirblaue Uniform zu sehen; es verlieh ihm ein Gefühl der Selbstsicherheit, der Selbstzufriedenheit. An diesem Tag konnte sie ihm kein Lächeln entlocken.
»Entschuldigt, Herr!«, wurde er von seinem Berater aus seinen Gedanken gerissen. »Der junge Ausländer, den Ihr sprechen wolltet, wartet in der Eingangshalle. Soll ich ihn hereinbitten?« Seine Stimme war kräftig, wenn auch mit einem so krächzenden Klang, dass es ihm kalt über den Rücken laufen ließ.
Ladislaus nickte Frano, der seit mehr als dreißig Jahren in seinen Diensten stand, knapp zu und setzte sich aufrecht hin.
Wenige Augenblicke später stand an Franos Stelle ein junger Mann vor ihm. Schon immer hatte Ladislaus ein Auge dafür gehabt, das wahre Alter eines Mannes zu erkennen – dieser hier war in seinen frühen Zwanzigern.
»Ihr wolltet mich sprechen, moj gospodar?«, begann der Fremde die Unterhaltung scheinbar unterwürfig, auch wenn er keine Anstalten machte, sich zu verbeugen. Seinem Akzent nach war er noch nicht lange in Kroatien. Er musste aus dem Westen gekommen sein.
Ladislaus nickte erneut. »Ich bevorzuge es allerdings, den Namen meines Gesprächspartners zu kennen.«
Ein kleines, freudloses Lächeln stahl sich auf die Lippen des jungen Mannes. Er trat vor an das Fenster, sodass das hereinfallende Sonnenlicht seinen olivfarbenen Teint betonte. »Dante Occiano.«
Ladislaus sagte dieser Name nichts. Auch wenn allein sein Wams vornehm und teuer wirkte, verlieh es ihm nur ein edles Auftreten. Für einen Adligen hielt Ladislaus ihn dennoch nicht.
»Nun, Signore Occiano, ich nehme an, Ihr wisst, weshalb ich Euch sehen wollte. In den vergangenen Tagen teilte man mir vermehrt mit, Ihr würdet damit prahlen, gewisse heilende Mittel zu besitzen …«
»Das ist richtig. Auf meinen Reisen gelangte ich an das Wissen, verschiedene Mittel herzustellen. Darunter eines, das Eurer Frau helfen könnte.«
Der Ältere konnte nicht verhindern, dass seine Hände sich in die Armlehnen des thronähnlichen Stuhles krallten.
»Wer hat Euch davon erzählt?«, verlangte er zu wissen.
»Es sind nicht mehr als hartnäckige Gerüchte. Man redet über Euch in der ganzen Stadt. Ihr scheint durchaus beliebt zu sein, aber offenbar kann keiner vergessen, dass Eure Frau eine Formwandlerin ist ...«
Diese Mitteilung überraschte ihn nicht. »Und was macht Euch so sicher, dass ausgerechnet Ihr ein Heilmittel habt? Bisher konnte mir niemand auch nur einen Hinweis auf eines bringen.«
»Eure Männer haben sich auch hauptsächlich auf dieses Land konzentriert, ich hingegen habe viele Orte bereist, wodurch mir mehr Möglichkeiten geboten wurden.«
»Angenommen, ich glaube Euch …«
»Verzeiht!« Für gewöhnlich wagte es Niemand, der bei Verstand war, ihn zu unterbrechen. Signore Occiano ging sich durch das tintenschwarze Haar. »Aber Ihr braucht nicht so zu tun als würdet Ihr mein Angebot lediglich in Erwägung ziehen. Allein, dass Ihr mich privat empfangt, zeigt, wie verzweifelt ihr seid.«
Ladislaus kräuselte die Stirn, verzichtete jedoch darauf, ihn zu tadeln. Er hatte etwas an sich, das ihn Vorsicht walten ließ. Seit er von dem Heilmittel begonnen hatte, waren seine markanten Züge verhärtet. Seine Augen hatten etwas Animalisches angenommen. Wie ein Raubtier, das seine Beute erspähte und darauf wartete, zuzuschnappen.
»Ich nehme an«, sagte er nun diplomatisch. »Ihr möchtet dafür eine angemessene Gegenleistung sehen, Signore Occiano. Was ist es? Gold?«
Dieses Mal reagierte der Italiener deutlicher. Tief aus seiner Kehle stieß er ein kurzes Lachen hervor. »Gold interessiert mich nicht. Ich bin auf etwas anderes aus.«
»Was kann ein Mann wie Ihr dann wollen?«
Signore Occianos onyxfarbene Augen blitzten auf. »Macht!«, erwiderte er schlicht. Im Gegensatz zu seiner Stimme verriet sein Blick die Gier, die in ihm brodelte.
»Und wie stellt Ihr euch das vor? Ich bin kein Mitglied des Rates.«
»Euer Bruder gehört dem Rat an, doch hat er keine Kinder. Das verschafft Euch ein Nachfolgerecht – Euch und Euren Erben …«
»Meine einzige Erbin ist meine Tochter. Nie wird man es erlauben, eine Frau im Rat sitzen zu haben.«
Das Lächeln des Mannes wurde breiter, ohne an Wärme zu beginnen. »Dann fiele es Eurem Schwiegersohn zu. Deshalb dachte ich als Gegenleistung für meine Hilfe an … die Hand Eurer Tochter.«
Ladislaus hatte das Gefühl, alle Luft würde aus seinen Lungen weichen. »Ihr dürftet während Eures Aufenthaltes mitbekommen haben, dass meine Tochter bereist verlobt ist.«
»Verlobungen werden häufig aufgelöst. Aus den unterschiedlichsten Gründen …«
Abrupt erhob sich Ladislaus und baute sich zu seiner vollen Größe von annähernd zwei Meter auf. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich zu kontrollieren. »Ihr kommt hierher in mein Haus und glaubt, Ihr könntet von mir verlangen, dass ich Euch meine Tochter gebe? Für diese Anmaßung allein sollte ich euch dem Rat melden!« Seine Stimme bebte vor unterdrückter Wut.
»Ich verlange lediglich einen angemessenen Preis dafür, dass ich das Leben Eurer Frau rette. Eure Tochter ist jung, sie ist schön, sie ist von adligem Blut und damit eine angemessene Gegenleistung.«
Der Blick des Alten wanderte zu seiner Hand, wo neben dem prunkvollen, mit Edelsteinen besetzten Familienring der dezentere, goldene Ehering prangte. Fünfzig Jahre war es her, seit er sich gegen den Rat gestellt und geheiratet hatte. Ein Leben ohne sie konnte er sich nicht vorstellen.
»Ihr zögert, weil Eure Tochter Ihren Verlobten nicht nur Euretwegen heiraten möchte, habe ich Recht? Man erzählt sich, sie sei verliebt. Das ist lobenswert. Aber wollt Ihr den Willen Eurer Tochter tatsächlich über das Leben Eurer Frau stellen?«
Rastlos fuhr sich der Erpresste durch sein stoppeliges graues Haar. Seine Augen fixierten den Mann vor ihm, der nicht einmal mit der Wimper zuckte.
»Ich möchte darüber nachdenken«, sagte er schließlich matt. »Ich werde Euch meine Entscheidung morgen mitteilen.«
Teil 1: Die Spielfiguren
2013: Watford, England
»Das wird ganz übel enden!«
Kassia amüsierte es zu spüren, wie Diana Thornton die Augen verdrehte. Es war einer dieser Tage, an denen sie jeden Zentimeter ihrer Hülle spürte als sei es ihr eigener. Dabei hatte sie diesen vor so vielen Jahrhunderten hinter sich gelassen, dass sie sich nur noch schwerlich daran erinnern konnte.
Sie fragte sich, weshalb ihre Sensibilität ausgerechnet an diesem Tag zugenommen hatte, während Diana sich in dem dunklen Raum vortastete.
Die einzigen Lichtquellen, die ihr dabei dienten, waren der Mondschein, der durch das beschmutzte Glasdach fiel, und der Schein ihrer Taschenlampe. Sie zeigten ihr kaum mehr als Umrisse von mit Laken überzogenen Möbelstücken.
»Wenn uns jemand erwischt, bringe ich dich um! Das kann mich im schlimmsten Fall den Job kosten …« Hinter Diana stolperte die vor sich hin fluchende Jessica über ihre eigenen Füße.
Ihre beste Freundin war von Anfang an nicht begeistert von ihrer Idee gewesen. Jessica hatte sie am Nachmittag für verrückt erklärt und ihr den Vogel gezeigt. »Niemals, nicht in einer Million Jahre!« Deshalb war es sowohl Kassia als auch Diana selbst ein Rätsel, wie es ihr gelungen war, sie letztendlich doch zu überreden.
Erst nach weiteren Flüchen drehte sie sich zu ihr um. Diana war noch belustigt über ihr Verhalten, Kassia hingegen genervt.
Ein Lichtstrahl fiel auf Jessicas Gesicht und ließ ihre Haut gespenstisch aufleuchten.
»Wer sollte uns denn erwischen?«, flüsterte Diana grinsend. »Schon seit einer Ewigkeit interessiert sich niemand mehr für das Theater. Uns wird höchstens ein Geist beobachten.« Sie verkniff sich das Lachen, während sie mit den Händen fuchtelte und Geräusche von sich gab, die man nur mit viel Fantasie einem Wesen aus dem Jenseits zuordnen würde.
Kassia hatte bisher zwar nie einen Geist gesehen, wusste jedoch, dass es sie von Zeit zu Zeit an bestimmten Orten gab.
Unwirsch erwiderte Jessica: »Mag sein, dass sich niemand dafür interessiert – außer dir natürlich. Die verhalten sich alle als würden sie darauf warten, dass sich das Gebäude spontan in Luft auflöst. Aber bestimmt interessieren sich viele für zwei Einbrecherinnen. Was willst du überhaupt hier?«
Diana ignorierte ihre Missmutigkeit, ein Verhalten, zu dem Kassia nicht in der Lage gewesen wäre. Sie war nicht der Typ für Zurückhaltung. »In diesem Moment würde ich sagen: Es reizt mich einfach, dass wir etwas Verbotenes tun.«
Sie ging weiter und ließ dabei das Licht durch den Raum wandern. Auch wenn sie sich nicht lange an den Treppengeländern, der mit Teppich überzogenen Wendeltreppe oder der Bar aufhielt.
Nichts davon bot mehr den prunkvollen Glanz, indem es einmal aufgebaut worden war. Stattdessen gab es nur noch Staub, die Hinterlassenschaften von Ungeziefer, Spinnweben und Glasscherben von Jugendlichen, die die Räume für Partys nutzten. Nichts anderes als das, was man in jeder Gasse fand.
»Außerdem«, fuhr sie fort. »finde ich es spannend zu sehen, was einmal war. Ich werde wehmütig und nostalgisch – jetzt, wo ich bald meine Zelte abreiße und zu Chris ziehe. Immerhin habe ich mein Leben in dieser Stadt verbracht.«
»Mein Bruder wohnt in London, nicht in Sydney.« Jessica zog die Augenbrauen hoch. »Das ist keine Stunde entfernt. Abgesehen davon, dass ihr euch Zeit lassen wolltet. Erst die Hochzeit und den Verwaltungskram über die Bühne bringen. Oder habe ich was verpasst?«
Kassia verspürte einen Stich in der Brust, ließ sich jedoch im Innern des Menschenmädchens nichts anmerken. So war es Diana, die unbeeinflusst von ihr erwiderte: »Nein, nein, es hat sich nicht geändert. Wahrscheinlich benehme ich mich albern. Es ist ja nicht so, dass ich das nicht freiwillig tue. Trotzdem. Bitte verdirb es mir nicht. Sieh es einfach als … Junggesellinnenabschied.«
»Wow, danke, jetzt fühle ich mich nicht nur mies, weil wir eine Straftat begehe, sondern weil du mich zur schlechtesten Trauzeugin der Welt machst. Die Guten schenken der Braut nämlich einen Stripper, besorgen Unmengen an Alkohol, mit dem wir uns bis zum Gedächtnisverlust betrinken, und blamieren dich dann in der Öffentlichkeit.«
»Also bist du nicht dazu da, das zu tun, was ich mir wünsche?«
»Natürlich nicht! Das mache ich an deinem Hochzeitstag oder wenn mein Bruder dir blöd kommt. So leicht kommst du mir nicht davon!«
Diana regierte nicht.
Während sie Jessica weiter vor sich hinmurmeln hörte, erreichten sie eine Flügeltüre. Als sie sich mit voller Kraft dagegen drückten, gab sie mit einem schabenden Geräusch nach.
Vor den Frauen erhob sich der fensterlose Hauptsaal des Theaters, das bereits vor Jahren aus Geldmangel geschlossen worden war. Reihen gepolsterter Stühle und zwei Logen über ihren Köpfen waren auf die Bühne ausgerichtet. Kassia dachte an die vielen Theater, die sie in der Vergangenheit besucht hatte. Zu seiner Glanzzeit mochte es schön gewesen sein, wenn auch weniger beeindruckend als die Kulissen in Rom oder Athen. Dennoch empfand sie nahezu Trauer darüber, dass man es derart hatte verfallen lassen.
Im Gegensatz zur Eingangshalle roch es in diesem Raum nicht nach Alkohol oder Zigaretten. Allerdings befürchteten sowohl Kassia als auch Diana, dass das weder Spinnen noch Motten davon abgehalten hatte, sich ihren Weg hinein zu suchen.
»Zusammengefasst: Du brichst in ein Gebäude ein, nur um den Muff der letzten Jahre zu riechen. Fantastisch! Du bist mir ein Vorbild!«, bemerkte Jessica.
Im Dunkeln tastete Diana nach ihr und stieß ihr in die Seite. Kassia hätte Beifall geklatscht, wenn sie gekonnt hätte. Wie so oft, seit sie in ihren Körper eingedrungen war, schnappte sie auf, was Diana dachte:
Früher, noch in ihrer Schulzeit, war Jessica diejenige von ihnen gewesen, die auf solche Ideen gekommen war. Sie hatte Diana zu den verrücktesten Aktionen angestiftet, bei denen sie regelmäßig in Schwierigkeiten geraten waren. Nur eine Portion Glück sowie die Hilfe von Jessicas Bruder hatten sie dann vor Schlimmerem retten können. Heutzutage ging Jessica keine Risiken ein, wenn es nicht nötig war. Was nur der Fall war, wenn es um die Familie oder den Job ging. Sie blieb sogar beim Autofahren unter dem angegebenen Tempolimit.
Sie hätte erwartet, dass Jessica nun noch am ehesten Verständnis zeigen würde. Schließlich war sie es gewesen, die ihr Interesse am Theater geweckt hatte. Sie hatte ihr Stücke in die Hand gedrückt und gedrängt, sie zu lesen. Sie hatte sie dazu aufgefordert, mit ihr zu üben, wenn sie sich für eine Rolle bewarb. Sie hatte ihr mit diesem Ort und allem, was er einmal verkörpert hatte, eine Schönheit gezeigt, die sie nicht beschreiben konnte. Vorher hatte sie sich nur mit dem Thema beschäftigt, wenn sie von ihrer Lehrerin gezwungen worden war, ein Märchen aufzuführen. Wie konnte Jessica da nicht den Reiz verstehen, der sie gepackt hatte?
Ein weiterer Grund, weshalb Jessica Kassia unsympathisch war. Das Mädchen, deren Haarfarbe lediglich in einer Dunkelheit wie dieser annehmbar war, nörgelte ständig, war unkreativ und eine Spaßbremse. Wenn sie in der Nähe war, bereute Kassia es fast, sich Diana ausgesucht zu haben. Doch ihre Wahl hatte ihre Gründe gehabt.
»Sag mal«, begann Diana dann freundlicher. »Die sollen doch bei der Schließung das halbe Inventar zurückgelassen haben … Meinst du, du kannst mit der Lichttechnik umgehen und es uns gemütlicher machen?« Während sie sprach, gingen sie die Stufen zur Bühne hinab.
Zum ersten Mal an diesem Abend klang Jessica amüsiert: »Willst du mich beleidigen? Ich kann dir innerhalb einer Minute eine Lichtshow bieten, vor der Pink Floyd den Hut ziehen würden.« Sie nahm Diana die Taschenlampe aus der Hand und kletterte auf die Bühne.
Einige Minuten standen sie in völliger Dunkelheit. Durch Dianas Ohren hörte Kassia, wie die Schwester ihres Verlobten am Vorhang raschelte, Gegenstände beiseite schob und an Hebeln hantierte. Nach einem letzten Rattern warfen vier Scheinwerfer Licht durch den Raum.
»Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, wie man solche Schätzchen zurücklassen kann!« Jessica kehrte zurück. Auf ihrem Gesicht breitete sich der Anflug eines Lächelns aus. Technische Spielereien jeglicher Art lenkten die Licht- und Tontechnikerin von allem anderen ab. Auf diese Eigenschaft hatte Diana gesetzt. »Sonst noch Wünsche, Miss Thornton?«
»So ist es super.« Begeistert setzte sie sich in die erste Reihe.
Jessica tat es ihr gleich und blickte auf die Schnitzereien und Verzierungen, die die Bühne wie einen Bogen umgaben. Durch den Scheinwerfer, der von hinten auf sie fiel, sahen die Figuren und Blumen beinahe lebendig aus. Sie bewunderte den Effekt derart enthusiastisch als hätte sie nicht einfach nur einen Schalter umgelegt, sondern ihre Arbeit der letzten Jahre auf diesen Moment ausgerichtet.
»Wie beeindruckend muss es gewesen sein, dort oben zu spielen, während ein bis auf den letzten Platz gefüllter Saal an deinen Lippen hängt«, sagte Diana nach einer Weile, den Blick auf die Bühne gerichtet. Kassia wusste, wie es war. Sie war auf weitaus größeren und bekannteren Bühnen gewesen, konnte es jedoch nicht mitteilen. »Stell dir vor, wir hätten Hamlet hier aufgeführt.«
»Hätte mit Sicherheit besser ausgesehen als in der Stadthalle.« Jessica wickelte eine Strähne um den Finger. »Ich beneide die, die gespielt haben, als das Theater noch geöffnet war. Hier hatte man noch die Chance auf eine Rolle. Versuch dich mal in London gegen all die anderen Bewerber durchzusetzen … Unmöglich! Nicht einmal als Technikerin bin ich da rein gekommen. Und niemand kann behaupten, ich hätte in dem Bereich nichts drauf.«
»Du hast wenigstens die Möglichkeit, bei der Theatergruppe zu bleiben. Ich weiß nicht, ob ich Zeit haben werde für die nächste Saison. Mit der Arbeit, der Hochzeit, deiner Nichte et cetera.«
Jessica verzog das hagere Gesicht. »Das kannst du mir nicht antun. Wie soll ich es ohne dich aushalten? Von denen Neuen bekomme ich Kopfschmerzen.«
»Du redest wie eine alte Frau«, zog Diana sie auf.
»Was denn? Ich bin sechsundzwanzig. Die sind mittlerweile halb so alt wie ich.« Sie schien amüsierter als sie zugeben wollte. Kassia lachte in sich hinein. »Außerdem leide ich schon an Gedächtnisschwund: Ich habe vergessen, bei welchem Stück du mich vermutlich allein lassen wirst.«
»Eine göttliche Komödie von Dante Alighieri.« Es war nicht das erste Mal, dass Diana ein seltsames Gefühl bei diesem Namen verspürte. Als wenn sie im Flugzeug durch ein Luftloch geflogen wäre – nur dass dieses Gefühl länger anhielt und sich über ihren gesamten Körper erstreckte. Kassia spürte es und wusste, dass es ihrer Anwesenheit zu verdanken war. Sie hasste kaum etwas mehr.
Sie war bemüht, es zu ignorieren.
»Auch gut. Ist nicht ganz so ausgelutscht wie Shakespeare oder die Weihnachtsgeschichte – wenn ich noch einmal den Geist der vergangenen Weihnacht spielen muss, schreie ich. Und wo wir schon mal bei dem Thema Aufführung sind: Da du dich ja direkt danach in den Urlaub verzogen hast, hast du mir immer noch nicht erzählst, was bei der Aufführung mit dir los war.«
Kassias inneres Lächeln verzog sich zu einem Grinsen. Diana zuckte mit den Schultern. »Da gibt es nichts zu erzählen. Kate war nun mal verhindert und ich konnte ihren Text …«
»Jaja, ich weiß, dass unsere Ophelia sich ihre Nervosität auskotzen musste, aber es hätten Andere einspringen können. Die Zweitbesetzung hätte innerhalb einer Viertelstunde da sein können.« Jessica änderte ihre Sitzhaltung, sodass sie Diana ins Gesicht sah. »Klar, du hast das Stück förmlich inhaliert und kannst es auswendig aufsagen. Das ist deine Art. Was nicht zu deiner Art gehört, ist rauszugehen und alle anderen in Grund und Boden zu spielen. Ey, ich hatte Tränen in den Augen, als Ophelia sich umgebracht hat – und eigentlich hasse ich diese Szene!«
»Ich kann dir nicht sagen, weshalb ich das getan habe, das muss total unglaubhaft klingen. In diesem Augenblick, als alle begannen, Panik zu schieben, wollte ich es einfach; mit einem Mal gefiel mir die Vorstellung, einmal nicht nur Statistin zu sein oder die mit der kleinsten Rolle. Und nein, ich habe das nicht von vornherein geplant und Kate auf der Toilette eingeschlossen haben, wie sie behauptet«, fügte Diana hinzu.
Über ihnen, von einer der Logen ertönte ein Lachen, das Diana einen Schauer über den Rücken jagte. Das Gefühl, das sie bei der Erwähnung des Stücks überkommen hatte, kehrte zurück.
Jessicas Gelassenheit verschwand. Sie sprang auf und blickte sich panisch um. Niemand war zu sehen und niemand gab einen weiteren Laut von sich.
»Verdammt!«, brachte Jessica hervor. »Lass uns verschwinden, bevor man uns …!« Sie führte den Satz nicht zu Ende.
Auch Diana stand auf. »Vergiss nicht, die Scheinwerfer auszumachen! Ich warte auf dich.«
Jessica war kaum hinter dem Vorhang verschwunden, als die Lichter begannen zu flackern. Diana folgte ihnen mit den Augen, wie sie nach und nach erloschen, bis nur noch ein einziger Scheinwerfer die Bühne erhellte.
Ihre Muskeln verkrampften sich. Die erste starke Reaktion, die Kassia geschuldet war. Eine unangenehme Ahnung breitete sich in der Frau, die den Körper besetzt hatte, aus.
Von der Bühne her ertönten Geräusche:
»‚Es war in unsres Lebensweges Mitte, als ich mich fand in einem dunklen Walde, denn abgeirrt war ich vom rechten Wege.’«
Kassia spürte, dass Diana sich der Stimme zuwenden wollte, doch sie hielt sie davon ab. Als könnte sie das Unheil dadurch abwenden. Und doch war da der Teil in ihr, der sich nicht beherrschen konnte. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in England benutzte sie Diana, um zu sprechen: »Vom rechten Weg abgekommen, warst du schon lange vor unserer Lebensmitte.« Tief verborgen spürte sie Dianas Verwirrung.
Als Kassia es war, die sich umdrehte, überkam sie ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Sie hob den Kopf, ohne die Geste zu spüren.
Ein Mann, kaum älter als sie selbst, war auf der Bühne ins Licht getreten. Er trug ausschließlich schwarz: Das längärmlige Hemd, die Jeans, die Boots und selbst das nach hinten gekämmte Haar war schwarz.
Sie verzog das Gesicht zu einem gekünstelten Lächeln.
Er machte eine spöttische Verbeugung. »Kassia.« Seine Stimme klang rauchig. »Es ist jedes Mal wie neu, wenn wir uns sehen.«
Ein Ruck ging durch ihren Körper. »Es wäre bei weitem interessanter, wenn unsere Treffen Zufälle wären und du es nicht darauf anlegen würdest, mich zu finden.« Alles was sie wollte, war, dass er wieder verschwand. »Was willst du hier? Wozu dieser Auftritt? Außer um vorzutäuschen, du würdest dich mit Literatur auskennen.«
Kassia spürte, wie sie mehr und mehr die Kontrolle übernahm. Bis zu einem gewissen Punkt war es eine Erleichterung. Bei jedem neuen Körper fiel es ihr schwer, sich bedeckt zu halten.
»Nach all der Zeit unterschätzt du mich noch immer, das ist enttäuschend«, erwiderte er. »Ich wollte dir damit einen Gefallen tun. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, ich wollte mich dir anpassen.«
Ihre Beine setzten sich in Bewegung. Den Blick auf ihn gerichtet, kam sie zu ihm hinauf.
Als sie vor ihm stand, überragte er sie um mehr als einen Kopf. Sie war das, was man Durchschnittsgröße nannte, er war ein Riese. Ein schlanker, dunkel gekleideter Riese, mit kantigen Gesichtszügen und einem Lächeln als würde er nur aus Spaß Dinge anzünden.
»Seit wann willst du mir einen Gefallen tun? Du tust nur etwas für Andere, wenn dein eigener Nutzen mindestens genauso groß ist«, hörte Diana sich sagen.
»Ach, es hat mich einfach fasziniert, dass du dich wieder mit dem Theater und der Schauspielerei beschäftigst. Das hat so etwas … Vertrautes, meinst du nicht auch?«
Sie schüttelte den Kopf. »Woher weißt du davon?«
Er zog lediglich die Augenbrauen hoch.
»Natürlich, du warst da! Davon hat sie vorhin gesprochen. Bei der Aufführung von Hamlet saßest du im Publikum. Wie ich dich kenne sogar in der ersten Reihe. Das erklärt Einiges. Wieso habe ich dich nicht bemerkt?«
»Verletzt dich das in deinem Stolz? Das wollte ich nicht.« Er log. »Ich kann es mir einfach nicht entgehen lassen zu sehen, wie es dir wieder einmal gelingt, in eine komplett andere Rolle zu schlüpfen. Das letzte Mal ist schon so lange her …«
Ihr Kopf neigte sich zu einem Nicken. »Annähernd neunzig Jahre.«
Unmöglich!, hörte sie, wie es Diana durch den Kopf schoss.
»Neunzig Jahre. Und dennoch haben wir uns wiedererkannt …« Ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen, als hätte er einen Witz gemacht, den nur er verstand.
»Es ist nicht schwer, einen Mann wie dich zu erkennen.«
»Wegen meines einzigartigen Aussehens? Oh, du schmeichelst mir.«
»Es ist eher der Geruch von Falschheit und Arroganz. Er verpestet die Luft, sobald du in der Nähe bist.«
»… beleidigte mich die Königin der falschen Auftritte. Wirklich, Kassia. Aus deinem Mund ist das kaum ernst zu nehmen. Deine wievielte Gestalt hast du damit …« Er machte eine Geste in ihre Richtung. »wohl angenommen? Die vierhundertfünfzigste?«
»Es müsste die vierhundertachtundsiebzigste sein, wenn du es genau wissen möchtest. Ich bin bekannt für meine Vielseitigkeit.«
»Tatsächlich siehst du anders aus als sonst, mi carissima principessa«, bemerkte er. Ihre Augen funkelten böse. Die Reaktion, die er sich erhofft haben musste. »Wieder einmal werde ich den Verdacht nicht los, dass du das meinetwegen tust. Vielleicht, damit ich dich nicht mehr finde. Oder denkst du, du könntest mich mit einem neuen Look beeindrucken?«
Wie in einem Western begannen sie sich zu umkreisen.
»Ich denke, dir sollte jemand sagen, dass du dich lächerlich machst – wie so oft. Du musst dir eine ernsthafte Kopfverletzung zugezogen haben, wenn du glaubst, dass ich das nötig hätte. Dennoch steht es dir natürlich frei, dich zu meinem Aussehen zu äußern. Sieh es dir ruhig genau an! Präg es dir ein! Immerhin wirst du eine Weile davon träumen, deine Hände hier zu haben.« Sie wollte nicht, dass er sie anfasste, egal wo. Sie wollte nicht einmal, dass er sie weiterhin so intensiv ansah. Dennoch konnte sie sich nicht stoppen. Würde sich das jemals ändern?
Währenddessen runzelte ihr Gegenüber die Stirn die Stirn.
Als er nicht antwortete, begann sie zu lachen: »Was ist los mit dir, Dante?«
»Ich wundere mich, wie naiv du noch immer sein kannst. Nicht einmal eine Sekunde lang würde ich auch nur darüber nachdenken, dich anzufassen. Es sei denn, um dich von der nächsten Klippe zu stoßen.«
Sie stieß erneut ein Lachen aus. »Du hast schon überzeugender gekontert. Willst du mir diesen Sieg etwa so leicht überlassen? Du wirst alt, Occiano! Als ob dich jemals auch nur eine meiner Gestalten gänzlich kalt gelassen hätte.« Sie überbrückte die letzten Meter zwischen ihnen. »Wir machen das schon zu lange, als dass du dich so leicht verstellen könntest.«
»Das Einzige, was du zu lange machst, ist träumen. Aber bleib ruhig bei dieser Vorstellung, ich würde dir eines Tages noch verfallen. Die darauffolgende Enttäuschung in deinem Blick ist jedes Mal befriedigend.«
Ihr Arm schnellte vor. Er umfasste ihr Handgelenk als befürchtete er, sie könnte ihn schlagen.
Einen panischen Moment lang war sie der Überzeugung, er würde sie küssen. Auf einer Ebene, die sie nicht näher erkunden und anderen gegenüber nie erwähnen würde, wartete sie darauf. Die Luft um sie herum schien sich aufzuheizen. Sie glaubte zu sehen, wie seine Lippen zuckten. Sie durfte nicht zulassen, dass das passierte:
»Das muss es wohl für jemanden sein, der sonst durch nichts oder niemanden befriedigt wird«, zischte sie ungehalten. Sie schüttelte ihn ab und brachte wieder Distanz zwischen sie.
Erneut kehrte Stille zwischen ihnen ein.
»Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum du dich wieder auf die Suche gemacht hast. Was willst du dieses Mal? Und sag mir bitte nicht, dass du mich vermisst hast.«
Dante bewahrte die Distanz zwischen ihnen. »Dosada«, erwiderte er.
Ihr Körper zuckte zusammen, als sie die fremde und dennoch so vertraute Sprache hörte. »Langeweile.« Weshalb fing er nun damit an? »Ich kann dir ansehen, dass du lügst. Soll das ein Ratespielchen werden?«
Er zuckte lediglich mit den Schultern.
Just in diesem Augenblick hörte sie Geräusche von hinter den Vorhängen. Die gemurmelten Flüche erinnerten sie daran, dass sie nicht alleine gekommen war.
Dante entging der Lärm ebenfalls nicht. Er trat zurück. »Du kannst dir die ganze Nacht den Kopf darüber zerbrechen, wenn du möchtest. Es wird dir nichts bringen. Du errätst es nie, also kannst du auch einfach abwarten. Bis ich es dich wissen lassen möchte.«
Mit diesen Worten verschwand er.
Aus reiner Höflichkeit beschloss Nike, mit ihrem Gespräch bis zum Morgen zu warten.
Ursprünglich hatte sie geplant, sich die Frauen zu schnappen, kaum dass sie das Theater so überstürzt verlassen hatten. Sie konnte sich vorstellen, was sie dort erlebt hatten.
Genau aus diesem Grund wartete sie. Sie wollte ihnen wenigstens ein paar Stunden Ruhe gönnen.
Deshalb stand sie um Punkt elf Uhr vor dem Mehrfamilienhaus, vor dem sie die beiden das letzte Mal gesehen hatte. Es war Samstagmorgen, auf der Straße hinter herrschte kaum Verkehr.
Wahllos begann sie, auf die Klingeln zu drücken, wobei sie meist keine Antwort erhielt. Jedes Mal trommelte sie mit ihren langen Fingernägeln auf das Gemäuer.
Schließlich ertönte eine müde Frauenstimme, deren Klang Nike in der Nacht aufgeschnappt hatte.
»Ich muss mit euch reden«, sagte sie. Die Höflichkeiten ließ sie außen vor.
»Ich weiß ja nicht einmal, wer da ist«, erwiderte die Stimme unfreundlich.
Nike seufzte. »Das erkläre ich euch noch. Viel wichtiger sollte allerdings sein, dass ich weiß, wem ihr gestern Nacht begegnet seid. Und warum.«
Es gab ein unangenehmes Knacken in der Leitung, dann ein schrilles Geräusch. Sie durfte rein!
Von innen wirkte das Haus heruntergekommen. Die einst weißen Wände stierten vor Dreck und von Treppengeländer blätterte die Farbe ab. Unter der Treppe hatte jemand ein in die Länge gezogenes Graffiti gesprüht. Die Beleidigung war falsch geschrieben; statt einem u war ein a benutzt worden und das k fehlte gänzlich. Eine andere Person hatte versucht, den neongrünen Schriftzug zu entfernen; man sah eine Wirkung nur bei genauem Hinsehen.
Nike störte sich nicht an diesem Verfall. Sie war daran gewöhnt. Sie hatte dabei zugesehen, wie ihr Geburtsort mehr und mehr verfallen und dann endgültig von der Landkarte verschwunden war. Sie hatte erlebt, wie die Liebe gekommen und genauso schnell wieder gegangen war. Sie hatte mit ansehen müssen, wie Freunden und Bekannten gegangen waren. Es gehörte zum Leben, nicht nur zum menschlichem, sondern zu jedem Wesen, das auf der Erde wanderte.
Es faszinierte sie, dass Menschen so oft den Verfall ignorierten, bis er sie einholte. Als hätten sie ewig Zeit. Im Gegensatz zu ihnen hatte Nike diese Zeit. Sie brauchte sich keine Gedanken darüber zu machen und tat es dennoch häufiger als ihr lieb war.
Erst als sie den dritten Stock erreichte, konzentrierte sie sich wieder auf das, was sie vorhatte.
Die Frau, die sie an der Tür erwartete, war kleiner als sie, unabhängig von den High Heels, die Nike trug. Ihr Gesicht war blass und wirkte durch die Augenringe kränklich. Sie trug nicht mehr als einen lila Morgenmantel und Pantoffeln in derselben Farbe. Das was ihr am deutlichsten auffiel war jedoch das hellbraune, von grünlichen Strähnen durchzogene Haar, das in alle Richtungen von ihrem Kopf abstand.
Bemüht freundlich begrüßte Nike sie.
Die Frau erwiderte nichts.
»Ich bin Nike«, stellte sie sich freundlich vor. Es war eine alte Angewohnheit von ihr, nicht ihren vollständigen Namen zu nennen.
»Jessica.« Ihr Gegenüber lehnte sich in den Türrahmen. »Du willst also wissen, was gestern Abend bei uns vorgegangen ist. Woher?«
»Ich denke, das ist ein Thema, worüber man nicht im Flur reden sollte.«
Jessica blieb, wo sie war.
Nike blies gegen eine Strähne, die ihr im Gesicht hing. »Ich weiß, was vorgefallen ist, weil es nicht das erste Mal war. Mir war bewusst, dass es so kommen würde, nur nicht wann. Ich weiß, wer bei euch war, weil ich diesen Mann schon hundert Mal häufiger gesehen habe als ich wollte. Ich möchte dir keine Angst einjagen. Ich will dich und deine Freundin warnen. Es liegt an dir. Du kannst mir die Tür vor der Nase zuschlagen und darauf warten, dass er wiederkommt – und das wird er. Oder du lässt mich herein und hörst mich an. Rausschmeißen kannst du mich danach sogar immer noch, wenn du willst.«
Jessica ließ sie ein.
Nike blieb keine Zeit sich in der Zwei- Zimmer- Wohnung umzusehen. Bis auf eine Garderobe und Fotos an der Wand erhaschte sie nichts, bevor sie von ihrer Gastgeberin in das nächstliegende Zimmer geführt wurde.
In dem kleinen Schlafzimmer saß, das mit Sommersprossen übersäte Gesicht auf die Knie gestützt, die andere Frau, mit der Nike sprechen wollte.
Jessica setzte sich zu ihrer Freundin aufs Bett. »Diana, das ist Nike«, erklärte sie. »Sie möchte mit uns reden … wegen dieses freundlichen Gentleman, der dich gestern angesprochen hat.«
Erst später erfuhr Nike, dass nicht nur sie die Unterhaltung zwischen ihnen beobachtet hatte. Jessica war hinter den Vorhängen gewesen. Sie hatte sich nicht getraut, etwas zu tun.
Nickend zog Nike Mantel und die Mütze aus und setzte sich auf den Schreibtischstuhl zu ihrer Linken. Ihre langen Seidenhandschuhe behielt sie an. »Sein Name ist Dante. Dante Occiano, falls ihr das nicht wisst. Ich beobachte ihn seit einigen Wochen – wenn auch mit unfreiwilligen Pausen. Leider weiß der Kerl, wie man sich bedeckt hält. Na ja, jedenfalls weiß ich daher, dass ihr im selben Gebäude wart. Ich bezweifle, dass er da war, um Staubkörner zu zählen, also …«
»Weshalb interessierst du dich für ihn? Ist er dein Ex und du musst dich vergewissern, dass er keine andere hat?« Den schnippischen Unterton kannte Nike nur zu gut. Die Frau mit der missratenen Kurzhaarfrisur war verunsichert. Ihr wäre es nicht anders ergangen.
»Das sagte ich schon. Ich bin nett, ich bin nahezu die Einzige, die euch mit Dante helfen kann, ich kann ihn nicht ausstehen und ich war definitiv niemals mit ihm zusammen. Ich tue das für eine Freundin. Um sie vor ihm und sich selbst zu schützen.«
»Kassia«, ergänzte Diana leise. Sie richtete den Kopf auf und schlang die Arme um ihre angezogenen Beine. »Dieser Dante hat mich gestern mehrmals so genannt.«
Überrascht runzelte Nike die Stirn. »Du kannst dich an eure Unterhaltung erinnern?«
Bisher war das nur wenige Male vorgekommen. Die Meisten hatten Gedächtnislücken und konnten nicht sagen, wo sie ihm schon einmal begegnet waren. Nike wusste nicht, woher das kam. Ob es ihrem Selbstschutz oder Kassia zu verdanken war.
»Ich erinnere mich, aber es fühlt sich nicht so an als hätte ich diese Unterhaltung geführt.« In wenigen Sätzen versuchte sie zu beschreiben, was gestern mit ihr passiert war. Das Gefühl, als sei sie nur eine Zuschauerin gewesen, die durch ihre eigenen Augen beobachtet hätte.
»Wusstest du auf einmal Dinge, die du gar nicht kennen kannst? Hattest du Erinnerungen oder sogar Gefühle, die nicht deine sind?« fragte Nike. Sie verspürte Aufregung. Zum ersten Mal konnte eine von ihnen ihr möglicherweise helfen.
Diana nickte. »Nicht nur dort, sondern auch in meinem Traum diese Nacht, glaube ich. Dort war ich mit einigen Mädchen reiten. Alles um uns herum wirkte wie aus einem anderen Jahrhundert. Dann war ER da. Er ritt einige Meter von mir entfernt in entgegengesetzte Richtung. Es war nur ein Moment, er warf mir einen Blick zu, der …« Diana schüttelte den Kopf als wolle sie die Erinnerung vertreiben.
Jessica protestierte. »Das hat nichts zu bedeuten. Du bist verwirrt, der Abend beschäftigt dich und geht dir nicht mehr aus dem Kopf. Da passiert es leicht, dass du ihn in deine Träume einbaust.«
»Nein. Es fühlte sich so echt an. Als wäre es eine vergrabene Erinnerung. Als wäre es wirklich passiert. Ich kann es nicht genauer beschreiben.«
»Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!«
Diana funkelte sie an. »Genauso wenig wie die Tatsache, dass Dante mich Kassia nannte und ich ihn angeblich das letzte Mal vor neunzig Jahren gesehen haben soll … Nur jetzt, wo ich darüber nachdenke, sehe ich wieder diese Bilder vor mir – von einer rauschenden Party mit wahnsinnig vielen Menschen. Ich meine sogar jemanden zu sehen, der dir nicht unähnlich sieht, Nike. Es ist keine gewöhnliche Party, eher so wie bei The Great Gatsby.«
»New Orleans, 1926, wenn ich mich recht erinnere«, murmelte Nike vor sich hin. »Mardi Gras. Bis Dante auftauchte, war es eine wirklich fantastische Party. Eigentlich nicht verwunderlich. Es war immer besser, wenn er nicht dabei war – egal, wo.«
Jessica lehnte sich vor. »Jetzt unterstützt du auch noch diese Hirngespinste? Wenn du nur gekommen bist, um uns zu verarschen, weißt du ja, wo die Tür ist. Es ist vollkommen unmöglich, dass eine von euch die Nacht auf irgendeiner Party vor dem zweiten Weltkrieg durchgemacht hat!«
»In diesem speziellen Fall ist das durchaus möglich.« Nikes Stimme war ruhig. Sie versuchte, verständnisvoll zu sein.
»Inwiefern?«, wollte Diana wissen.
»Das ist …« Nike zögerte. »Schwierig zu erklären. Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll.«
»Normalerweise ist der Anfang gut.«
Nike warf Jessica einen bösen Blick zu. Sie war hier, um zu helfen. Doch der lila Farbklecks mit der Hautfarbe einer Leiche strapazierte ihre Nerven. Sie räusperte sich. »Ich war auf dieser Party in den Zwanzigern. Ich konnte dort sein, weil Dante und ich zu einer Spezies gehören, die sich Unsterbliche nennt«, sagte sie schließlich. Ohne eine Reaktion abzuwarten, fuhr sie fort. »Eigentlich unterscheiden wir uns nicht sehr von den Menschen. Wir sehen aus wie ihr, haben keine überflüssigen Körperteile oder Verformungen und wir sprechen dieselben Sprachen. Wir brauchen Nahrung - damit meine ich Brot, Spaghetti, Schokolade und was sonst noch in eurem Kühlschrank liegt – Wasser und ein wenig Schlaf. Allerdings haben wir bei der Evolution ein paar Updates abbekommen. Zum Beispiel sind wir eben, wie der Name schon sagt, unsterblich.«
»Ihr könnt … nicht sterben?«, fragte Diana langsam, den Augen weit aufgerissen. Anders als Jessica schien sie geneigt, ihr zu glauben.
»Zumindest nicht auf natürliche Weise, nein. Wenn wir erwachsen sind, werden unsere Körper in der Regel widerstandsfähiger. Krankheiten können uns nur selten etwas anhaben, egal ob wir von einer Erkältung oder Krebs reden. Leider gilt das nicht für alle Krankheiten. In den Achtzigern starb ein Bekannter von mir, ebenfalls unsterblich, an Aids.«
Jessica hob die Hand. »Müsste es dann nicht so viele von euch geben, dass die Menschen davon Wind bekommen?«
»Schön wär’s. An der Überbevölkerung sind wir nicht mehr Schuld als ihr. Weil wir getötet werden können. Ein Messer ins Herz kann mich genauso umbringen wie euch. Keiner von uns ist unverwundbar.«
Unweigerlich musste Nike an die denken, die sie in ihrem Leben verloren hatte. Jeder von ihnen war ein Unsterblicher gewesen. Von Freundschaften mit Menschen hatte sie sich meist ferngehalten – sie hätte es nicht ertragen können, sie alle gehen zu sehen.
»Dass das mit den Krankheiten praktisch ist, verstehe ich«, sagte Diana. »Ein Grund, weshalb eure Art durchkommt. Allerdings frage ich mich, was so toll daran ist, die Ewigkeit als Seniorin zu verbringen.«
Nike konnte ein knappes Lachen nicht unterdrücken. »Wer hat was von Senioren gesagt?«
»Das ist meine logische Schlussfolgerung. Ihr werdet erwachsen, das hast du selbst gesagt, also müsst ihr altern.«
»Also ich weiß ja nicht, wie du das handhaben würdest, aber ich werde einen Teufel tun und mir ansehen lassen, dass ich über fünfhundert Jahre alt bin. Niemand von uns, der bei Verstand ist, würde das tun. Wir sähen aus wie lebende Tote.«
»Über 500?« keuchte Jessica
»Im Sommer sind es 531 geworden, um genau zu sein. Aber ich sehe keinen Tag älter aus als vierundzwanzig, oder? Das gehört zu den Eigenschaften, die ich am meisten an meiner Art liebe: Ab dem Tag, an dem wir volljährig werden, können wir unser Alter beliebig verändern und unser Aussehen dementsprechend anpassen.«
»Beweis es!«, verlangte Jessica.
Nike hatte damit gerechnet.
Sie erhob sich, wobei ihre hohen Absätze ein klackendes Geräusch auf dem Boden machten. Sich auf eine Frau Mitte fünfzig konzentrierend, schloss sie die Augen. Bald spürte sie, wie ihr Körper zu kribbeln begann. Ihre Haare zogen sich in ihre Kopfhaut zurück, bis sie nicht einmal mehr ihre Schultern berührten. Das Blond wurde von grauen Strähnen durchzogen. Ihre Haut fühlte sich schlaffer an; an den Beinen legte sie zu. Tiefe Falten erschienen auf ihren Wangen, der Stirn und dem Hals. Die Lippen wurden schmaler und trockneten aus. Nur ihre Kleidung blieb dieselbe.
Als Nike die Augen wieder öffnete, wurde sie von zwei fassungslosen Gesichtern empfangen.
»Heilige Scheiße!«, brachten sie gleichzeitig hervor.
Nike schmunzelte. »So schlimm sehe ich jetzt nun auch nicht aus.«
»Wie zur Hölle ist das möglich? Du hast dich … du bist …«, stammelte Jessica.«
»Wie ich es berichtet habe. Dank meiner Gene, meiner Art eben. Kann ich jetzt wieder jung und hübsch werden oder muss ich noch zur Rentnerin werden?« Ohne auf Zustimmung zu warten, verwandelte sie sich zurück und setzte sich. Zufrieden schlug sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Christin C. Mittler
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Tag der Veröffentlichung: 11.02.2015
ISBN: 978-3-7368-9629-1
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