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1

 

 

Die Regentropfen prasselten mit einem regelmäßigen Klopfen gegen das Fenster. Es war erst fünf Uhr nachmittags und schon relativ dunkel. Dabei war dick auf dem Kalender vermerkt, dass heute Frühlingsanfang war. Aber das Wetter scherte sich nicht darum.

Seufzend legte Doro ihren Koffer aufs Bett, klappte ihn auf und begann im Kleiderschrank zu wühlen. Die wahrscheinlich beste Beschäftigung für diesen wolkenverhangenen Tag. Aber so recht kam sie nicht in Urlaubsstimmung. Ob das mit dieser Aktiv-Woche wirklich so eine gute Idee gewesen war?

Genau genommen war es nicht einmal ihre eigene Idee gewesen, sondern die ihrer Mutter. ›Das wird dir guttun. Du wirst schon sehen. Und wann kommst du für diesen Preis schon in ein Viersternehotel? Also überleg nicht lange.‹ Ihre Mutter war nicht zu bremsen gewesen, und ehe sich Doro versah, war auch schon die Anmeldebestätigung per E-Mail eingetrudelt.

Und nun stand sie da, vor ihrem Kleiderschrank, und hatte keine Ahnung, was sie überhaupt einpacken sollte. Nicht, dass es übermäßig viel Auswahl gegeben hätte. Aktiv-Woche! Soviel sie verstanden hatte, war das ein Programm, das von der Krankenkasse gesponsert wurde. Eine Möglichkeit für Leute, die im Alltag keine Gelegenheit hatten, Rückengymnastik, Yoga oder sonstigen Sport zu machen. Zwei oder drei solcher Kurse wurden deshalb in ein Wochenprogramm gepackt, versüßt mit Halbpension in einem Viersternehotel, zum unschlagbaren Preis von etwa vierzig Euro pro Übernachtung. Den Rest zahlte die Krankenkasse. Zumindest wenn man zu achtzig Prozent am Kurs teilnahm. Schön und gut. Doch bei der Vorstellung, eine ganze Woche zusammen mit ihrer Mutter verbringen zu müssen, hielt sich ihre Begeisterung in Grenzen. Ihre Mutter war schrill und exzentrisch und fiel überall auf. Doro hatte damit schon ausreichend Erfahrung.

Schließlich hatte ihre Mutter Gundula sie allein großgezogen. Ihren Vater hatte Dorothe nie kennengelernt. Und Gundula brauchte ständig Aufregung. Vielleicht erklärte das, warum sie als Immobilienmaklerin so erfolgreich war. Nachdem Doro mit kaum zwanzig auf eigenen Beinen gestanden hatte, hatte ihre Mutter alle paar Jahre ihren Wohnort sowie ihre Männer gewechselt.

 

Inzwischen ging Doro auf die magische Vierzig zu, arbeitete in der Buchhaltung eines örtlichen Autohauses und war seit einiger Zeit wieder Single. Genau genommen seit vier Monaten und drei Tagen.

Doro seufzte, drehte dem Kleiderschrank unverrichteter Dinge den Rücken zu und marschierte in die Küche zum Kühlschrank. Irgendwo dadrin müsste noch ein Stück Erdbeerkuchen sein.

Es war inzwischen regelrecht zu einem Reflex geworden, sich etwas Essbares zu suchen, sobald sie sich an ihr Single-Dasein erinnerte. Eigentlich sollte sie jetzt verheiratet und glücklich sein. Doch nach zehn gemeinsamen Jahren, genau zwei Wochen vor der geplanten Hochzeit, war ihr ganz persönlicher Alptraum geschehen: Matthias, ihr Zukünftiger, war zum Optiker gegangen. Dort hatte man festgestellt, dass er eine Sehschwäche hatte. Die nette schwarzhaarige Optikerin hatte die Sehstärke getestet und mithilfe eines dieser unförmigen Brillengestelle angepasst, bis Matthias endlich wieder alles ganz genau sah.

Und das Erste, was er glasklar erkennen konnte, war das liebreizende Gesicht der schwarzhaarigen Optikerin. »Was soll ich sagen, Doro«, hatte er später geknickt beteuert. »Ich sah sie an, sie sah mich an, und ich wusste, das ist die Frau fürs Leben.«

So viel also zu den gemeinsamen Zukunftsplänen. Was waren schon zehn Jahre, verglichen mit dem Augenblick der Erkenntnis?

Teils betrübt, teils immer noch wütend, schob sich Doro ein großes Stück Kuchen in den Mund.

War es wirklich möglich, dass Matthias sie die ganzen Jahre gar nicht mehr richtig gesehen hatte? So als Mensch, innerlich wie optisch? War sie derart hässlich? Sie vertilgte einen weiteren Bissen.

Es stimmte schon, ein Supermodel war Doro nicht gerade. Sie war mittelgroß und hatte langweilige kurze braune Haare, die in der Regel verstrubbelt nach allen Seiten standen. Ihr Körpergewicht lag fünf Kilo über dem für sie idealen BMI, und ihr Sinn für Klamotten war einfallslos. Andere mochten ihn vielleicht auch als unmöglich bezeichnen. Doch Äußerlichkeiten waren ihr nie besonders wichtig gewesen. Viel wichtiger war für sie, dass sie ein fröhlicher und ausgeglichener Mensch war. Also was sollten die paar Gramm zu viel auf den Rippen?

Okay, seit dieser Geschichte mit ihrem Ex-Verlobten und der Brillenschlange waren wohl noch einige mehr dazugekommen. Aber wer zählte das schon. Jedenfalls war Doro seither brillengeschädigt. Menschen mit Brillen betrachtete sie nun mit äußerstem Argwohn. Dass das völliger Quatsch war, wusste sie natürlich. Aber wenn die Psyche nun mal verrücktspielte, kam man schwer dagegen an. Und das mit der Fröhlichkeit war seit Matthias’ Geständnis auch nicht mehr so selbstverständlich.

Vor einer Woche war dann plötzlich ihre Mutter vor der Tür gestanden. Wie ein Orkan war sie hereingeweht.

»Dotty, mein Liebling. Wie geht es dir?«, hatte sie gerufen und sie in einer stürmischen Umarmung fest gegen ihren nicht unbeträchtlichen Busen gedrückt. Doro hatte einige Mühe aufbringen müssen, um sich aus ihrer Umklammerung zu befreien. Dotty! Wie sie diesen Spitznamen hasste. Ihre Mutter war die Einzige, die sie so nannte. Doch egal wie viel Überzeugungskraft Doro an den Tag legte, es gelang ihr nicht, ihre Mutter davon abzubringen, sie wie alle anderen ›Doro‹ zu nennen. Bevor sie hatte antworten können, hatte Gundula auch schon weitergeplappert.

»Also, wenn ich mir dich so ansehe«, sie hatte Dorothe einer genauen Musterung von Kopf bis Fuß unterzogen, »hast du schon besser ausgesehen. Bist du in die Breite gegangen?« Ihre linke Augenbraue war missbilligend in die Höhe geschossen.

Doro hatte nur die Augen verdreht und war in die Küche marschiert. Sie hatte erst mal einen Kaffee gebraucht – und ein großes Stück Erdbeerkuchen!

»Ich habe schon gehört, dass du dich gehen lässt«, hatte ihre Mutter unterdessen weiterkommentiert.

Doro hatte genickt. »Klar. Soll ich raten? Du hast mit Simone gesprochen.«

Simone war Doros Tante und mit Gundulas Bruder Gerhard verheiratet. Aber da sie Doro noch nie besonders sympathisch gewesen war und ihre Mutter nicht darauf bestanden hatte, ließ Doro die Anrede ›Tante‹ einfach unter den Tisch fallen. Simone wohnte nur ein paar Häuser weiter und wusste immer alles über jeden. Bestimmt hatte sie mithilfe ihres Fernglases Doros Hüftumfang geschätzt. Das würde zu ihr passen, dachte Doro grimmig.

»Genau. Und wie ich feststellen muss, scheint sie recht zu haben.« Ihre Mutter hatte sich gegen den Küchentresen gelehnt. Natürlich hatte sie wie immer perfekt ausgesehen. Die Haare und das Make-up waren präzise angeordnet, und auch die modische Jeans mit dem legeren und doch stylishen burgunderroten Pulli hatte einen adretten Eindruck vermittelt.

Dagegen war sich Doro in ihrem verwaschenen Trainingsanzug etwas blass vorgekommen. Sie hatte mit den Achseln gezuckt. »Ich weiß gar nicht, was du willst.«

Doch ihre Mutter hatte sich nicht aufhalten lassen. »Dotty, es ist sicherlich nicht schön, was dir mit Matthias passiert ist. Aber das ist doch kein Grund, dich gehen zu lassen. Hör mal, ich habe da kürzlich ein Angebot von meiner Krankenkasse bekommen …«

Doro wandte sich wieder ihrem Kleiderschrank zu und packte wahllos ein. Morgen früh um sieben sollte es losgehen, in den Bayerischen Wald. Ob sie in dem Viersternehotel überhaupt ankamen? Sicherlich würden sie und ihre Mutter sich bereits während der dreistündigen Autofahrt an die Gurgel gehen. Was für Aussichten.

 

Der nächste Tag begann trocken und klar. Mit etwas Glück würde sich später sogar die Sonne zeigen. Gestärkt mit zwei Tassen Kaffee fügte Doro sich ihrem Schicksal. Ihre Mutter war trotz des frühen Morgens bester Laune. Drei Pinkelpausen und gut zwei Stunden Autofahrt später kam Doro zu der Erkenntnis, dass sie das Geschnatter ihrer Mutter keine ganze Woche am Stück aushalten würde. Sie kniff angespannt die Augen zusammen und umklammerte, um Ruhe bemüht, das Lenkrad ihres schwarzen Golfs, während sie das Ortsschild passierten.

»Ach, ich finde es ja so schön, dass wir endlich einmal richtig Zeit füreinander haben.« Gundula tätschelte vertraut Doros rechten Oberschenkel.

Dorothe biss die Zähne fest zusammen, um nicht loszuschnauben. Als ob es an ihr gelegen hätte, dass sie sich in den letzten Jahren so selten gesehen hatten. Schließlich war es doch ihre Mutter, die ständig ›keine Zeit‹ hatte. Aber gerechterweise musste sie zugeben, dass ihr das nicht ungelegen kam. Die beiden Frauen waren eine explosive Mischung. Sicher würde es auch jetzt nicht lange dauern, bis es zum ersten großen Knall kam.

»An der nächsten Kreuzung rechts abbiegen«, teilte das Navi mit, und die Ampel vor ihnen schaltete auf Rot um.

»Ach, sind wir schon da?«, fragte Gundula überrascht. Sie schaute genauer durch die Windschutzscheibe. »Das ging ja schneller als gedacht. Toll, dann können wir uns gleich noch ein schönes zweites Frühstück genehmigen.«

 

 

Felix rieb sich müde über die Augen, während er darauf wartete, dass die Ampel grün wurde. Fast vier Stunden Fahrt lagen nun hinter ihm. Aber das war nicht allein der Grund, warum er erschöpft war. Die ständigen Zeitverschiebungen, die mit seinen Geschäftsterminen einhergingen, machten ihm neuerdings mehr zu schaffen als früher. Wurde er tatsächlich alt? Er war Mitte vierzig, und wenn man den Medien Glauben schenkte, war das doch das neue Dreißig, oder? Aber offenbar war das seinem Biorhythmus egal.

Er lachte für einen kurzen verächtlichen Moment. Bis vor ein paar Wochen hatte er sich nie auch nur im Ansatz solche Gedanken gemacht. Er war Maschinenbauingenieur im Bereich Gasfedern und im Auftrag seiner Firma immer unterwegs, um maßgeschneiderte Lösungen für die Probleme und Anforderungen ihrer Kunden zu entwickeln. Er liebte seinen Job. Er verdiente gut, kam herum und sah viel von der Welt. Des Öfteren machte er dabei auch die Bekanntschaft einer netten Frau, ohne sich festlegen zu müssen. Sein Leben als Single gefiel ihm. Er war rundum zufrieden – eigentlich. Wären da nicht seit einigen Monaten diese vermaledeiten Rückenschmerzen!

Angefangen hatte es vor etwa einem Jahr. Der Arzt hatte ihm bereits damals geraten, dringend Rückengymnastik zu machen, wenn er einen Bandscheibenvorfall vermeiden wolle. Alles Quatsch, hatte Felix gedacht und die Schmerzen auf das Kistenschleppen bei seinem letzten Umzug geschoben.

Aber sie hörten nicht auf, sondern wurden immer stärker. Es half nichts. Er musste sich mit dem Problem auseinandersetzen. Die Worte des Arztes hallten in seinen Gedanken wider. ›Wenn Sie eine Operation vermeiden wollen, ist es jetzt fünf vor zwölf‹, hatte dieser mit Blick auf die MRT-Aufnahme gemahnt. ›Ich rate Ihnen dringend, Ihre Muskulatur im Lendenwirbelbereich zu kräftigen!‹

Felix hatte sich plötzlich uralt gefühlt. Nichts war von dem dynamischen, weltgewandten Mann übrig. Rückengymnastik, das machten Rentner! Aber die Schmerzen gaben keine Ruhe und brachten ihn kurz darauf dazu, auf der Suche nach einem passenden Kurs das Internet zu durchforsten und schließlich zum Telefon zu greifen. Das Ergebnis war fatal. Alle Kurse in seiner Nähe waren belegt, neue starteten erst in ein paar Wochen wieder. Gerade als er sich frustriert in eine Warteliste eintragen wollte, stolperte er auf der Internetseite seiner Krankenkasse über ein Programm, das sich ›fit for health‹ nannte und sogenannte Aktiv-Wochen anbot. Eine halbe Stunde später hatte er sich für eine Woche im Bayerischen Wald eingebucht.

 

 

2



»Ach du großer Gott«, tönte Gundulas Stimme schrill in Doros Ohren. Sie fuhr erschrocken zusammen. Wären sie nicht an der Ampel gestanden, hätte sie garantiert vor Schreck das Lenkrad verrissen. Sie blickte alarmiert zu ihrer Mutter, die ihre Hände gestenreich über ihren Busen gelegt hatte.

»Was ist denn los?«

»Ich glaube, ich habe vergessen meine wasserfeste Wimperntusche einzupacken«, quietschte ihre Mutter, schnappte nach Luft und klappte rigoros die Blende des Beifahrersitzes herunter, um sich im Spiegel zu betrachten. »Wie soll ich nur ohne wasserfeste Wimperntusche das Schwimmbad besuchen? Da verschmiert doch alles ratzfatz.«

Doros Augäpfel traten vor Empörung unschön hervor. Wie oberflächlich war diese Frau eigentlich? Die Ampel schaltete endlich auf Grün um, und Doros aufwallender Zorn entlud sich am Gaspedal. Sie schossen regelrecht um die Kurve.



Felix schüttelte den Kopf. Was war das denn für ein Verrückter? Mit quietschenden Reifen preschte der schwarze Golf vor ihm nach vorne und schnellte um die Kurve. Hatte der seinen Führerschein im Lotto gewonnen? In gebührendem Abstand fuhr er hinterher. Bei genauerem Hinsehen konnte er erkennen, dass der Fahrer eine Fahrerin war. Bruchteile ihres Gesichts waren im Rückspiegel des Golfs flüchtig zu sehen.

Die ersten Sonnenstrahlen des Tages bahnten sich ihren Weg durch die weißliche Wolkenschicht und ließen den schwarzen Lack des Golfs aufleuchten. BTB DD 123 stand auf dem Nummernschild. Der Golf verlangsamte sein Tempo, blinkte und bog in die nächste Straße ein. Was für ein Zufall. Felix musste auch links abbiegen.



Die schmale Straße führte ein Stück den Berg hinauf. Um ein Haar hätte Doro die unscheinbare Abzweigung zum Hotel übersehen. Und das sollte die Zufahrt zu einem Viersternehotel sein?

Sie hatten nun die letzten Häuser hinter sich gelassen. Bäume und Wiesen säumten die Straßenränder. Kurz darauf erhoben sich linker Hand einige Gebäude, die wohl schon zur Hotelanlage gehörten. Dann war das Haupthaus zu sehen. Es war um einiges größer als die Nebengebäude. Der Putz leuchtete weiß, und die Holzbalkone, die sich um das gesamte Konstrukt zogen, verliehen dem Hotel den typisch bayerischen Charme. Ein großer Wendeplatz mit schön angelegten Ziersträuchern, einige Parkplätze und ein rustikaler Holztisch samt Bänken rahmten den Eingang zum Haupthaus ein. Sie hatten ihr Ziel erreicht.

»Das sieht ja schön aus hier«, meinte Doro und duckte sich, um besser durch die Windschutzscheibe sehen zu können, während sie eine der gekennzeichneten Parkflächen ansteuerte.

»Hm, warten wir es erst mal ab«, antwortete Gundula kritisch.

Doro stellte den Motor ab, stieg aus, sog erst einmal tief Luft ein und streckte sich. Direkt neben ihr kam ein weiteres Auto zum Stehen.



Kaum war Felix aus seinem Wagen gestiegen, warf er neugierig einen Blick über sein Autodach zu der rasanten Golffahrerin. Unwillkürlich musste er lachen. Ob das Doppel-D des Kennzeichens wohl ein Hinweis auf ihre Oberweite sein sollte? Die Fahrerin streckte sich gerade. Sie hatte die Augen geschlossen, was Felix die Gelegenheit gab, sie etwas genauer zu betrachten.

Die Frau war ein wenig kleiner als er selbst. Ihre Figur konnte er, abgesehen von ihrer üppigen Oberweite, durch die weiten Klamotten nur erahnen. Aber diese Farbe! Beiger Schlabberpulli und schlammfarbene Hose. Ziemlich unscheinbar. Dennoch kam ihm irgendetwas an ihr bekannt vor.

Sein Blick wanderte weiter. Ihre Kurzhaarfrisur erinnerte ihn ein bisschen an einen Clown. Vielleicht war es das. Es fehlten nur noch die knallrote Haarfarbe und die obligatorische rote Nase.

Felix kniff die Augen zusammen. Hatte er nicht noch die rote Schaumstoffnase im Auto, die er einmal bei einem der Auftritte von Dr. Hirschhausen erhalten hatte? Vielleicht sollte er sie an die Dame neben sich weiterreichen.

Während er zu dem Schluss kam, dass die Golffahrerin wenig mit den Frauen gemeinsam hatte, die er sonst kennenlernte, er aber mit seinen Rückenproblemen sowieso andere Prioritäten setzen sollte, schwang die Beifahrertür des Nachbarautos auf, und der Kopf einer gänzlich anderen Frau erschien in seinem Blickfeld.

Sie war älter als die Golffahrerin, aber deutlich auffallender. Ihre Haare waren adrett kurz geschnitten und schimmerten rötlich. Im Gegensatz zur Fahrerin trug diese Frau auffälliges Make-up, Lippenstift und große Ohrringe. Als sie vor dem Kofferraum stehen blieb, sah er, dass sie in einer dunkelblauen Jeans steckte und eine schicke dunkelgrüne Bluse anhatte. Dazu lugte eine lange Kette unter einem Schaltuch hervor. Die beiden Frauen konnten optisch nicht unterschiedlicher sein.

»Dotty, Liebling. Was stehst du da so lange rum?« Die Stimme der älteren Dame tönte durchdringend an Felix’ Ohr. Sie war grundsätzlich nicht unangenehm, aber für seinen Geschmack eine Spur zu befehlshaberisch. Es handelte sich hier unverkennbar um eine Frau, die gewohnt war, das zu bekommen, was sie wollte.

»Darf man nicht mal kurz verschnaufen?« Die Jüngere warf ihrer Mitfahrerin einen mürrischen Blick zu.

»Oh, hallo!« Jetzt hatte die schicke Dame ihn entdeckt. Ihr Gesicht begann zu leuchten. Lächelnd klimperte sie mit den Wimpern.

Felix nickte. »Hallo.«

»Sind Sie auch gerade angekommen?«, fragte sie mit sonorer Stimme.

»Äh, ja. Genau.« Felix fuhr sich mit der Hand übers Kinn.

»Ich bin Gundula, und das ist meine Tochter Dotty.« Sie zwinkerte ihm keck zu.



Doro stöhnte – schon wieder dieser blöde Kosename –, zwang sich jedoch, dem Mann in die Augen zu schauen. Das Lächeln gefror ihr im Gesicht. Ihr Herz schlug plötzlich doppelt so schnell. Nur ein paar Meter von ihr entfernt stand niemand anderes als Felix Langner! Sie war sich zu neunundneunzig Prozent sicher.

»Felix«, stellte er sich auch schon vor und unterdrückte ein Grinsen. Welche Frau in diesem Alter hieß schon Dotty?

»Dorothe«, presste sie nun zwischen den Lippen hervor und wandte schnell den Blick ab. Das konnte ja eine Woche werden.


Gundula Daubner marschierte wie immer zielstrebig voraus. Die zwei gläsernen Schiebetüren öffneten sich automatisch und gaben das großzügige Foyer preis. Doro überlegte, ob sie noch die Möglichkeit hatte, das gebuchte Doppelzimmer gegen zwei Einzelzimmer einzutauschen. Welcher Teufel hatte sie nur geritten, sich auf diese Woche einzulassen? Die Anwesenheit von Felix, der ihnen in einigem Abstand folgte, verbesserte ihre Laune auch nicht gerade. Er hatte sie anscheinend nicht erkannt. Noch nicht!

Sie schielte unauffällig zu ihm hinüber. Er war groß und relativ schlank, ganz so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sein dichtes, dunkles Haar hatte an den Schläfen im Laufe der Jahre nicht unattraktive graue Ansätze bekommen. Sein Gesicht war markanter geworden, und um seine Augen lagen nun kleine Lachfältchen.

Für den Bruchteil einer Sekunde zog sich ihr Magen seltsam zusammen. Warum musste sie hier ausgerechnet den Mann wiedertreffen, in den sie vor Ewigkeiten als Teenie so unglücklich verliebt gewesen war? Sie waren ein Jahr gemeinsam in eine Klasse der Berufsschule gegangen. Doro erinnerte sich noch, als wäre es gestern gewesen. Der Moment, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Sie hatte sich sofort in ihn verliebt. Leider war Doro recht schüchtern gewesen, und Felix hatte seinerseits keine Annäherungsversuche unternommen. Ob er es damals überhaupt gewusst hatte? Sie war sich nicht einmal sicher, ob Felix zu dieser Zeit wirklich Notiz von ihr genommen hatte. Obwohl … Was für eine Frage! Sie hatte schon damals eine beachtliche Oberweite besessen, und damit war ihr in der Regel die Aufmerksamkeit der Jungs sicher gewesen. Ein Umstand, der sie jedoch eher verunsichert hatte – sie war nicht so selbstbewusst wie ihre Mutter. Und so war es rückblickend nicht verwunderlich, dass sie Felix lediglich mit einigen peinlichen Missgeschicken auf sich aufmerksam gemacht hatte. Sie schüttelte unmerklich den Kopf, um die Erinnerungen an diverse Peinlichkeiten zu verscheuchen.

Das Grinsen, mit dem er sie seinerzeit immer bedacht hatte, fiel ihr wieder ein. Als ob er Interesse an einer unscheinbaren Zahnspangenträgerin gehabt hätte! Aber Doro war Meisterin in der Kunst der Schönrederei gewesen und hatte sich lange Zeit immer alles so zurechtgelegt, dass es schon noch werden würde. Es wurde nicht.

Im zweiten Lehrjahr war Felix auf einmal nicht mehr da gewesen. Er hatte seine Ausbildung abgebrochen und war auf die Fachoberschule gewechselt, um zu studieren. Etwas in der Art war ihr damals jedenfalls zu Ohren gekommen. Doro war am Boden zerstört gewesen. Etliche Monate später jedoch hatte sie begriffen, dass es für sie die beste Lösung war. Wer weiß, wie lächerlich sie sich sonst noch gemacht hätte. Ihre Wege hatten sich seither nie mehr gekreuzt. Bis jetzt.

Unwillkürlich dachte sie an Matthias. Ihr Ex-Verlobter war das genaue Gegenteil von Felix. Schmale Statur. Helles Haar. Etwas unscheinbar, aber nett und freundlich. Eben die Art Mann, die besser zu ihr zu passen schien. Doch auch da hatte sie sich getäuscht.

Doro warf Felix nochmals einen Blick zu. Dieser Kerl war ein Draufgänger, damals wie heute. Wahrscheinlich eingefleischter Single und Herzensbrecher. Sie hatte genau gesehen, wie er sie und ihre Mutter gemustert hatte. Nicht, dass sie ihn interessieren würden, da machte Doro sich nichts vor. Im Grunde konnte sie froh darüber sein.

Ihre Mutter lief geradewegs zur Rezeption. Der lange Holztresen auf der rechten Seite des Raumes war glänzend poliert. Eine junge Frau mit blonden Haaren und Pferdeschwanz hielt dahinter die Stellung und begrüßte die Neuankömmlinge. Wie in Hotels oft üblich, befanden sich an der Wand hinter ihr Fächer für die Schlüssel der einzelnen Zimmer.

Das Foyer selbst war riesig. Alles wirkte hell und freundlich. Der Boden bestand aus hellem Marmor. Die Wände waren weiß gestrichen und hier und da mit Eichenholzfurnieren verziert. Links, gleich neben dem Eingang, war ein kleiner Souvenirladen untergebracht worden. Sie überflog das Schaufenster und erkannte T-Shirts mit verschiedenen Aufdrucken und Bierkrüge. Gleich daneben grenzten unzählige große Holzfenster an, die das Foyer mit Tageslicht erhellten. Davor standen drei gemütliche rote Sofas mit Holztischchen auf einem rot gemusterten Teppich. Eine Glastür führte nach draußen auf eine große Terrasse. Geradeaus erkannte Doro eine ausladende Treppe, die nach unten führte. Sie war so breit, dass mühelos sechs Personen nebeneinander hinauf- oder hinunterlaufen konnten. Daneben befand sich ein Aufzug, der passend zur Einrichtung mit Holz vertäfelt war, und ein Stück weiter links führten zwei oder drei breite Stufen in einen geräumigen Hotelgang. Die an der Wand angebrachten Schilder verrieten, dass sich dort Tagungsräume befanden.

»Hallo. Gundula Daubner. Wir haben ein Doppelzimmer reserviert«, hörte Doro ihre Mutter bereits kundtun. Die blonde Dame lächelte ihr freundliches Gästelächeln und tippte etwas in ihren Computer. Doro stellte sich neben ihre Mutter.

»Ihr Zimmer befindet sich im vordersten Gebäude. Sie können mit dem Auto gerne vorfahren. Es ist das erste Gebäude rechts, gleich neben der Driving Range. Dort finden Sie auch genügend Parkmöglichkeiten.« Die Rezeptionistin legte einen Schlüssel auf den Tresen und deutete lächelnd in die angegebene Richtung.

Gundula schaute pikiert. »Wie? Wir sind nicht hier untergebracht? Ich laufe doch nicht immer mehrere hundert Meter oder fahre gar mit dem Auto, um hier zu essen oder mir eine Wellnessanwendung zu Gemüte zu führen.«

»Nein, nein. Das müssen Sie auch nicht. Die Häuser sind alle miteinander verbunden. Sie können über die Flure alles erreichen, ohne nach draußen zu müssen. Aber mit Ihrem Gepäck ist es angenehmer, wenn Sie direkt vor Ihrem Gebäude parken.«

Doro nickte, während ihre Mutter noch immer misstrauisch dreinblickte.

Nachdem die Rezeptionistin ihnen ausführlich erklärt hatte, wo sich der Speisesaal, der Hotelpool, die Wellnessräume sowie die Minigolfanlage, der Tennisplatz und der Golfplatz befanden, reichte sie ihnen noch einen Hinweiszettel mit den Angaben und dem Treffpunkt für die Gesundheitskurse, an denen sie teilnehmen würden, und ein Prospekt mit verschiedenen Wellnessanwendungen, die das Hotel anbot. Diese waren jedoch auf eigene Kosten zusätzlich zu bezahlen.

Als sie sich mit allen Informationen und Schlüsseln ausgestattet abwandten, sah Doro Felix im Loungebereich vor der Glastür stehen und auf die Terrasse blicken. Er hatte bestimmt absichtlich einen Sicherheitsabstand zu den beiden Frauen gewahrt.


»Das Gebäude hier ist nicht annähernd mit dem Haupthaus vergleichbar«, beschwerte Gundula sich, während Doro mit den Augen die Zimmernummern überflog, um ihr Zimmer ausfindig zu machen. Die Frauen liefen einen langen Gang entlang und zogen jeweils einen Trolley hinter sich her. Doro hatte damit keine Probleme, ihre Mutter jedoch sehr wohl. Hatte sie doch neben ihrer Handtasche vier Jacken und dazu noch einen ausgefallenen Hut dabei.

»Ich weiß nicht, was du hast. Es ist alles sauber. Der weiße Anstrich ist weder abgeschmiert, noch ist der Bodenbelag dreckig. Macht doch einen vernünftigen Eindruck.«

»Vernünftig. Pffft.« Doro hätte wetten können, dass ihre Mutter den Kopf schüttelte. Da sie jedoch vorausging, konnte sie das nur vermuten. »Wir sind hier in einem Viersternehotel. Da will ich nichts Vernünftiges! Ich will ein angenehmes Ambiente und Luxus. Dieses Gebäude ist eindeutig älter als das Haupthaus, oder zumindest nicht entsprechend renoviert.«

Doro verdrehte die Augen.

»Jetzt lass uns doch erst mal unser Zimmer anschauen. Das wird bestimmt deinen Ansprüchen gerecht«, versuchte sie ihre Mutter zu besänftigen.

»Und wo ist es nun?« Gundula schnaufte.

Doro kniff die Augen zusammen. »Hier nicht. Wir müssen bestimmt in den oberen Stock.«

»Auch das noch!«

»Sieh mal. Da ist ein Aufzug.«

Doro blieb stehen und drückte auf den Knopf. Gundula bugsierte ihren Trolley neben Doros. Da er völlig überladen war, prallten die beiden Koffer aneinander. Die Jacken und der Hut, die obenauf lagen, rutschten zu Boden. Die Handtasche konnte Gundula gerade noch auffangen. Lediglich eine Jacke blieb auf dem Trolley liegen. Gundula schnaufte.

»Jetzt hilf mir doch mal. Was bist du nur für eine Tochter. Du könntest ruhig mal mit hinlangen. Ich schleppe mir hier einen ab!« Sie blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn, und ihre Ohrringe klimperten.

»Was hast du überhaupt alles eingepackt? Wir sind nur eine Woche hier. Wenn man dein Gepäck sieht, könnte man meinen, du quartierst dich hier für einen Monat ein.«

»Ach!« Ihre Mutter machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich weiß nicht, was ich bei deiner Erziehung falsch gemacht habe. Eine Frau braucht nun mal Garderobe!«

»Und ich bin demnach keine Frau?« Doro runzelte die Stirn. Aber das kannte sie ja bereits. Dieses Gespräch hatten sie schon öfters geführt. »Frau kommt auch mit weniger zurecht. Stell dir vor.«

»Also, ich habe festgestellt, dass ich schneller jemanden kennenlerne, wenn ich auf mein Äußeres achte. Könntest du vielleicht auch mal probieren.« Gundula bückte sich, um ihren Hut aufzulesen. Doro hob indessen die verschiedenen Jacken auf.

»Taktgefühl war noch nie deine Stärke«, murmelte sie.

Die Türen des Aufzugs glitten auseinander. Gundula schob mit Wucht ihren Trolley hinein. Dann drehte sie sich zu ihrer Tochter um.

»Gib schon her«, brummte sie und griff nach den Jacken. Im gleichen Moment schlossen sich die Türen wieder, und der Aufzug fuhr davon. Allein mit Gundulas Gepäck. Für eine Sekunde war Doros Mutter tatsächlich sprachlos.

»Mein Gepäck!«, jaulte sie dann.

Doro schaute auf die Stockwerkanzeige. »Es gibt nur zwei Etagen. Es kommt bestimmt gleich wieder herunter.«

»Und wenn es inzwischen jemand klaut?«

»Glaub ich nicht.« Doro stützte sich auf den Ausziehgriff ihres Trolleys und wartete. Erschöpft lehnte sich Gundula gegen die Wand, ohne die Stockwerkanzeige aus den Augen zu lassen. In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Außengelände, und Felix betrat das Gebäude.

Auch das noch. Wohnt der auch hier? Das Hotel besteht aus drei oder vier Häusern. Muss er unbedingt hier sein Zimmer haben?, überlegte Doro finster.

Entspannt schlenderte Felix auf die beiden Frauen zu. Doro tat, als bemerkte sie ihn nicht.

»Hallo die Damen«, sagte er auch schon und war nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt.

»Ah, Felix. Richtig?« Von Gundulas missmutiger Stimmung war plötzlich nichts mehr zu merken.

Doro schaute auf und blickte ihm ungewollt direkt in die Augen. Sie hatten einen grünen Schimmer.

»Hallo nochmal«, sagte sie.

Im selben Moment fuhr der Haltegriff des Trolleys in das Scharnier ein. Sie hatte es wohl nicht richtig gesichert. Sie rutschte mit ihrem Oberkörper wie ein nasser Sack nach unten und konnte sich gerade noch abfangen. Ihre Mutter schüttelte über ihr tollpatschiges Verhalten nur den Kopf. Felix grinste, als Doro aufsah. Sie kam sich wie eine Zehnjährige vor und wurde rot.

Endlich öffneten sich die Türen des Aufzugs – zum zweiten Mal. Ein Zimmermädchen trat mit einer großen, blauen Mülltüte heraus. Gundulas Gepäck stand unberührt in der Kabine.

»Mein Koffer! Gott sei Dank!«, verkündete Gundula erleichtert. Ihre Ohrringe hüpften vor Freude.


Das Zimmer war geräumig und freundlich, die Wände hellbeige gestrichen. Das Doppelbett und die Kommode, auf der sich ein großer Flachbildfernseher befand, waren aus Holz. Ein Tisch und zwei Sessel in kariertem Bordeauxstoff standen vor den großen Balkonfenstern, die mit einem hauchdünnen weißen Store und zwei schweren beigen Verdunklungsvorhängen versehen waren.

»Na, siehst du«, sagte Doro. Sie ließ ihren Trolley stehen und zog die Vorhänge zur Seite. »Ist doch wirklich schön.«

»M-hm.« Die Stimme ihrer Mutter hallte dumpf. Sie hatte gerade ihren Kopf ins Badezimmer gesteckt. Dieses war ganz in Weiß gefliest und bestand wie üblich aus einer Dusche, einem WC und einem Waschbecken.

»Sieht sauber aus«, befand Gundula, als sie wieder zum Vorschein kam und ihre Jacken samt Hut aufs Bett warf. Doro öffnete inzwischen die Balkontür und trat hinaus.

Der Panoramablick auf den Bayerischen Wald war wunderschön. Sie sah Wiesen, die mit dem ersten jungen Grün des Jahres durchzogen waren, ganz viel Wald und mehrere Berggipfel. Dazu der blaue Himmel. Der Ausblick hatte etwas Entspannendes. Sie atmete tief ein.

»Sieh mal. Ist das der Große Arber?«, fragte sie dann an ihre Mutter gewandt und deutete auf den größten der Berge.

»Ich denke doch.« Die Stimme war tief und keinesfalls die ihrer Mutter.

Doro zuckte zusammen. Sie war nicht darauf vorbereitet, dass jemand anders antwortete. Jetzt erschien Felix’ Kopf neben der Trennwand zum Nachbarbalkon. Er grinste.

»Hast du was gesagt?« Gundula kam ebenfalls nach draußen. »Oh. Felix. Sie schon wieder. Verfolgen Sie uns etwa?« Ihre Augen blitzten, und sie wackelte keck mit dem Zeigefinger.

Doro lächelte verlegen, und ihr wurde flau im Bauch.

Felix blickte von einer zu anderen. »Ich doch nicht. Da müssen Sie sich schon beim Hotelmanagement beschweren, wenn es Ihnen nicht gefällt, dass ich neben Ihnen wohne.«

»Überhaupt nicht! Schön, Sie als Nachbarn zu haben«, gurrte Gundula.

»Na dann …« Er nickte ihnen freundlich zu und trat den Rückzug an.

Kaum war er von der Bildfläche verschwunden, stieß Gundula ihren Ellenbogen in Doros Seite. »Und? Ein netter Mann. Findest du nicht? Wäre das nicht was für dich, Dottylein?«

»Mutter!« Doro schüttelte den Kopf und betrachtete angestrengt den Großen Arber. Die Stimme ihrer Mutter war, wie so oft, viel zu laut für ihren Geschmack. Nicht auszudenken, wenn Felix Gundulas Geplapper hörte! Ob er inzwischen wusste, wer sie war? Ihre Mutter hatte zum Glück keinen blassen Schimmer. Weder davon, dass sie Felix kannte, noch davon, dass sie einmal unsterblich in ihn verliebt gewesen war.

»Also, mir gefällt er. Hast du die tolle graue Strähne bemerkt? Sexy!«

Dorothe verdrehte die Augen und flüchtete sich ins Zimmer.



Dass die beiden Frauen vom Parkplatz nun auch noch das Zimmer neben ihm bekommen hatten, begeisterte Felix nicht gerade. Sicherlich, die zwei schienen nett. Und er war schließlich hier, um sich seiner Gesundheit zu widmen. Die Jüngere, Dorothe, schien abgesehen von ihrem Erscheinungsbild auch etwas tollpatschig zu sein, wenn er daran dachte, wie sie fast auf ihren Koffer geplumpst war. Aber so wie er das sah, hatte die Tochter nicht gerade viel zu melden bei der überdrehten Mutter. Er beneidete sie nicht.

Immerhin wusste er nun, dass die Buchstaben DD in ihrem Kennzeichen nicht auf ihren Busen, sondern auf ihren Namen hindeuteten. Dorothe Daubner oder irgendwas. Das hatte er beim Einchecken an der Rezeption aufgeschnappt.

Ob sie sich der Zweideutigkeit ihres Autokennzeichens überhaupt bewusst war? Felix grinste. Sicher nicht. Aber lustig fand er es schon.


3



»Nun komm schon. Dass du nicht einmal pünktlich sein kannst!«, schimpfte Doro, während sie mit den Augen die Türschilder scannte. Die beiden Frauen liefen den Gang entlang, in dem sich die Tagungsräume befanden. Außer ihnen war keine Menschenseele hier unterwegs. Doros Kiefermuskeln waren angespannt. Bestimmt waren alle Teilnehmer des Gesundheitsprogramms bereits versammelt. Somit würden Gundula und sie wieder einmal einen Sonderauftritt hinlegen. Wie sie das hasste!

»Ich weiß gar nicht, was du schon wieder meckerst. Werd mal locker! Die laufen uns bestimmt nicht davon.« Gundula fuhr sich mit der Hand durchs Haar und richtete einige Strähnen.

Als ob das wichtig wäre. Doro verkniff sich jedoch einen Kommentar. Für ihre Mutter war es wichtig: Gut auszusehen machte einen bedeutenden Teil ihres Lebens aus. Doro konnte das nicht nachvollziehen. Es musste schon einen besonderen Anlass geben, damit sie sich in Schale warf.

»Hier!« Gundula deutete mit ihrem lackierten Zeigefinger auf die kleine Tafel vor dem Raum am Ende des Flurs.

Als die Frauen das Zimmer betraten, saßen alle Teilnehmer bereits wie erwartet auf ihren Stühlen, die kreisrund angeordnet waren. Lediglich drei Plätze waren noch unbesetzt. Alle Augenpaare blickten zu Doro und Gundula.

Der Stuhlkreis umfasste einen weißen Schreibtisch, auf dessen Kante ein junger Mann im sportlichen Dress saß. Die freien Plätze waren natürlich ganz vorne. Doro und Gundula blieb nichts anderes übrig, als sich mitten durch den Kreis zu drängen und ihre Plätze einzunehmen.

»Oh, hallo Felix! Sie sind also auch mit von der Partie«, stellte Gundula im Vorbeigehen entzückt fest, während Doros Freude sich in Grenzen hielt.

»Schön, dann sind wir fast vollzählig.« Der Kursleiter übernahm das Wort, bevor Felix antworten konnte, und schenkte ihnen ein Lächeln. »Hatten Sie Schwierigkeiten, den Raum zu finden?«

Nein, meine Mutter musste nur noch ihren Cappuccino schlürfen und mit dem Kellner flirten, dachte Doro, sagte aber nichts dergleichen. Stattdessen schoss ihr die Röte ins Gesicht. Sie stand äußerst ungern im Mittelpunkt.

»Na, junger Mann. So unbedarft sind wir nun auch nicht«, kommentierte hingegen Gundula und setzte sich hoheitsvoll. Ihr Auftritt wurde durch das tiefe Schnaufen einer anderen Frau jäh unterbrochen.

»Hach. Ich bin wieder mal zu spät! Tut mir leid. Hallo alle zusammen.«

Die Tür schloss sich geräuschvoll, und eine dürre Frau um die siebzig in einem grasgrünen Sportdress, der gut und gerne noch aus den Achtzigerjahren stammen konnte, grinste wie ein Honigkuchenpferd und winkte in die Runde. Sofort war aller Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Doro entspannte sich ein wenig.

Die Frau eilte zum letzten freien Platz und ließ sich mit einem Wums neben Doro auf den Stuhl fallen. Ihre glatten, silbergrauen Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, verfehlten nur knapp Doros Gesicht.

»Ich bin übrigens Hanne.« Die Frau strahlte in die Runde.

»Äh, ja. Hallo. Zur Vorstellung kommen wir gleich.« Der Kursleiter kratzte sich etwas verdattert aufgrund dieser Überschwänglichkeit hinter dem Ohr, fasste sich aber sofort wieder. »Nachdem wir jetzt komplett sind, möchte ich Sie alle nochmals herzlich begrüßen. Sie haben sich entschlossen, eine Woche lang Ihrer Gesundheit etwas Gutes zu tun. Ich bin Julian, Ihr Kursleiter in diesen Tagen, und werde Ihnen mit Progressiver Muskelentspannung zeigen, wie Sie Ihren Körper vom Stress befreien können. Außerdem werden wir zusammen Ihren Rücken trainieren, damit er künftig im Alltag besser entlastet wird. Und beim Power-Walking werden wir gemeinsam die schöne Umgebung erkunden …«

Alle Anwesenden hörten aufmerksam zu. Einige nickten. Dann folgte die allgemeine Vorstellungsrunde. Unter den einundzwanzig Teilnehmern waren einige Paare, außerdem gab es eine Dreiergruppe Frauen und zwei einzelne Teilnehmer. Eine davon war Hanne, die andere Person Felix. Doros Blick blieb kurz an ihm hängen. Er saß schräg gegenüber von ihr und betrachtete angestrengt seine Hände. Wieder überlegte sie, ob er sie erkannt hatte. Bisher verhielt er sich neutral. Entweder erinnerte er sich nicht an sie, oder er tat so, als wüsste er nicht, wer sie war. Sie war sich nicht sicher, was ihr lieber war. Aber ihr fiel auf, dass er noch immer eine sportliche Figur hatte. Mit der drahtigen Statur ihres Trainers Julian konnte er nicht mithalten.

Sie schaute wieder zu Julian, der soeben dabei war, einen Stapel Zettel hervorzuziehen.

»Das ist Ihr Kursplan.« Er hielt die Blätter in die Höhe. »Da es in kleineren Gruppen angenehmer ist und jeder von Ihnen dann auch bei der Gymnastik mehr Platz hat, habe ich Sie in zwei Gruppen aufgeteilt. Zu welcher Gruppe Sie gehören, steht oben auf Ihrem Plan.« Er begann alle namentlich aufzurufen und übergab jedem seinen Zettel.

Doro musterte den jungen Mann. Er war mit Sicherheit noch keine dreißig, blond und hatte einen verschmitzten Gesichtsausdruck. Neben Hanne war er der Einzige, der Sportkleidung trug. Alle anderen waren ebenso wie Gundula und sie selbst in ihrem normalen Alltagsoutfit erschienen.

»Dorothe Daubner?«, fragte er nun und sah sich suchend um. Gundula boxte Doro den Ellenbogen in die Rippen.

»Aua!«, protestierte sie und rieb sich die Stelle.

»Träumst du?«, fragte ihre Mutter. Dann schnellte ihr Arm nach oben, und das Klappern ihrer Armreife ließ Julian sofort in ihre Richtung blicken. Er kam auf sie zu.

»Nicht ich. Sie«, teilte Gundula hilfreich mit und deutete mit dem Daumen auf ihre Tochter. »Ich bin Gundula. Meinen Plan dürfen Sie mir auch gleich geben. Ich bin doch in derselben Gruppe wie meine Tochter, oder?«

In Doro glimmte Hoffnung auf. Die Aussicht, dass ihre Mutter im anderen Kurs sein könnte, beflügelte sie.

»Ich bin in Gruppe B«, sagte Gundula, kaum dass sie ihr Blatt in Händen hielt. »Und du?« Sie beugte sich zu Doro herüber, um besser sehen zu können. »Auch.« Sie nickte zufrieden. »Perfekt.«

Es wäre ja auch zu schön gewesen, dachte Doro.

»Ich auch«, jubilierte Hanne währenddessen und strahlte die Daubner-Frauen an. »Mädels, wir werden bestimmt viel Spaß zusammen haben.«


Hanne plapperte wie ein Wasserfall, während sich die Frauen auf dem Rückweg zu ihrem Zimmer befanden.

»Ach, da wohnen wir im gleichen Gebäude! Wie schön. Mein Zimmer ist im Erdgeschoss. Vielleicht wohnt ihr sogar über mir. Dann können wir uns vom Balkon aus zuwinken.«

Doro hörte geduldig zu, Gundula jedoch erwiderte betont trocken: »Das wäre tatsächlich unglaublich!«

»Ach, ich freu mich ja so. Die Woche wird bestimmt toll. Wisst ihr, in meinem Alter sind die Leute leider oft nicht mehr so sportbegeistert. Aber wer sich nicht bewegt, darf sich auch nicht beschweren, wenn die Taille an Umfang zunimmt.« Zur Bekräftigung ihrer Worte strich sich Hanne mit den Händen über Bauch und Hüften. Gundula zog eine Augenbraue nach oben und begutachtete die Figur ihrer neuen Bekanntschaft.

»Nicht schlecht. Muss ich zugeben«, meinte sie dann und an ihre Tochter gewandt: »Wann hattest du eigentlich zum letzten Mal so eine Taille, Dottylein?«

Doro schluckte verärgert.

»Noch nie«, presste sie zwischen den Zähnen hervor.

»Na, macht doch nichts. Jedem das Seine, sag ich immer.« Hanne zwinkerte Doro aufmunternd zu. »Gundula, richtig?«, fragte sie dann und wandte sich wieder ihrer Mutter zu. »Was treiben Sie denn für Sport? Ein wenig mehr könnte bestimmt nicht schaden. Wir werden schließlich nicht jünger, und die Schwerkraft nagt unaufhaltsam besonders an uns Frauen.«

»Also …« Gundula schnappte sichtlich nach Luft. Doro kicherte leise. Indessen redete Hanne bereits weiter.

»Ich zum Beispiel fahre Rad. So oft es geht. Außerdem klettere ich mit Leidenschaft. Bei mir gibt es eine Kletterhalle gleich in der Nähe. Da wird jeder Muskel aktiviert. Das kann ich Ihnen nur empfehlen!«

»Sagen Sie mal, reden Sie immer so viel? Oder haben Sie sonst keine Ansprache?«, knurrte Gundula. »Ich meine, vielleicht machen sich Ihre Freunde auch allmählich aus dem Staub?«

»Wie meinen Sie das jetzt?« Hannes offener, unschuldiger Blick erstaunte Doro. Scheinbar hatte sie die Spitze ihrer Mutter überhaupt nicht wahrgenommen.

»Nun, wie ich es sagte. Reden Sie immer so viel? Entweder sind Ihre Freunde dann taub oder tot. Das kann doch keiner über längere Zeit ertragen.«

Doro klappte der Kiefer nach unten.

»Mutter!«, schalt sie und schüttelte dabei missbilligend den Kopf.

Doch Hanne zuckte nur mit den Schultern und meinte: »Na, so viel jünger als ich sind Sie aber auch nicht, Werteste.«

Die Frauen bogen von dem langen Gang, der die drei Häuser miteinander verband, in den Flur ihres Zimmers ab. Doro hielt die Glastür auf, und die beiden älteren Damen marschierten wortlos an ihr vorbei.

»Fast geschafft«, schnaufte Gundula. Ob sich diese Bemerkung auf den Weg oder auf Hannes Gesellschaft bezog, blieb unklar.

»Na, dann sehen wir uns auch gleich schon wieder. Ihr müsst euch ja noch umziehen. Mal überlegen, was ich in der Zeit machen kann. Ich bin doch schon startklar.« Hanne blickte an sich hinunter. »Eigentlich hätte ich gleich dortbleiben können«, stellte sie fest.

»Warum ist Ihnen das nur nicht früher eingefallen?«, murmelte Gundula.

»Aber«, Hanne stieß Gundula freundschaftlich in die Seite, »dann hätten wir uns nicht ein wenig kennenlernen können.«

Gundula verzog keine Miene. Doro ließ das gläserne Türblatt hinter sich zufallen.

»Ich hab’s. Ich schau mal, ob ich euren Balkon entdecken kann.« Hanne strahlte zufrieden über ihre Idee, wie sie die Zeit nutzen konnte. Gundula rollte mit den Augen. »Könntet ihr mal winken? Damit ich weiß, welcher Balkon zu eurem Zimmer gehört.«

Gundula bremste scharf ab und blieb sprachlos stehen. Doro lief ihr direkt hinten rein. Als sie zusammenstießen, machte es »Pling«, und die Türen des Aufzugs öffneten sich.

»Oh, hallo schon wieder.« Felix nickte und erfasste mit staunendem Blick die Situation.

Prompt wurde Doro rot. Der Anblick, der sich Felix bot, war sicherlich seltsam. Wie sie da so hinten an ihrer Mutter klebte. Das Kinderspiel Töff, töff, töff, die Eisenbahn blitzte in ihrem Kopf auf. Abrupt machte sie einen Schritt rückwärts und hätte aufgrund der schnellen Bewegung um ein Haar das Gleichgewicht verloren.

»Ah. Mein Aufzug! Dann fahr ich mal nach unten«, sagte Hanne indes, als ob sie ein Taxi bestellt hätte. »Bis gleich. Denkt dran, in einer guten halben Stunde geht’s schon los. Ich freu mich.«

Ohne Vorwarnung drückte sie erst Gundula, dann Doro herzlich, sprang in die Kabine des Fahrstuhls, und gleich darauf schlossen sich die Türen.

Die beiden Frauen blieben etwas baff zurück. Felix, dem der Weg durch Gundula und Doro versperrt war, wartete geduldig darauf, dass die Frauen weitergingen.

Schließlich straffte Doro die Schultern.

»In welcher Gruppe sind Sie eigentlich?«, fragte sie Felix, um die plötzliche Stille zu durchbrechen, aber auch mit dem Hintergedanken, herauszufinden, ob er sie wiedererkannt hatte.

»B«, lautete die knappe Antwort.

»Na, wenn das kein Zufall ist.« Gundula lächelte.



Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Birgit Gruber
Bildmaterialien: ©Shutterstock (Falsh Vector, LedyX, Chinch, scvrtsv)
Cover: Wolkenart.com - Marie-Katharina Becker, www.wolkenart.com
Korrektorat: Korrektorat: Dr. Andreas Fischer. - Die Origianlausgabe erschien 2018 unter dem Titel
Tag der Veröffentlichung: 06.04.2021
ISBN: 978-3-7487-7951-3

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