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Leseprobe

 

 

 

 

 

 

 

Winterblues mit Zuckerguss

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Birgit Gruber

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1

 

 

»Nun fahr schon!«, zischte Maja und schlug leicht mit der Hand aufs Lenkrad. »Wieder so einer, der keine Winterreifen draufhat.«

Es war Anfang Dezember, und – Überraschung! – es schneite. Jedenfalls wenn man das, was da aus dem Himmel kam, als Schnee bezeichnen konnte. Maja fand, dass es sich vielmehr um Schneeregen handelte. Aber für den Autofahrer vor ihr reichte es offenbar aus, um im Schneckentempo die Straße entlangzukriechen. Dabei hatte sich lediglich ein kleiner Film auf dem Asphalt gebildet. Warum konnten die Leute nicht einfach ihre Winterreifen aufziehen lassen, wie es verlangt wurde? ›Von O bis O‹ lautete die Regel: Oktober bis Ostern. Dann gäbe es keine Probleme, wenn es – oh Wunder! – doch schneite. Schließlich lebten sie hier nicht auf einer Südseeinsel, sondern in München.

Kopfschüttelnd tuckerte sie mit ihrem Taxi dem übervorsichtigen Verkehrsteilnehmer hinterher. Genaugenommen war es gar nicht ihr Wagen, sondern der ihres Vaters. Aber seitdem er krank geworden war, fuhr sie das Taxi. Anfangs war Maja nur eingesprungen, wenn es ihrem Paps nicht gutging und sie gerade Zeit hatte, doch über die Monate hinweg war das immer öfter der Fall gewesen, bis sie vor knapp einem Jahr ihren Job gekündigt hatte und nun hauptberuflich das Taxi übernahm.

Sie sah auf die Uhr im Cockpitdisplay ihres Audis. Hoffentlich wartete der Fahrgast noch auf sie und nahm sich nicht ein anderes Taxi. Die Ampel vor ihnen wurde rot. Maja seufzte. Bis sie an der Kreuzung angelangten – bei dem Tempo! –, war es hoffentlich wieder grün. Ob sie die Zeit nutzen und ihren Vater anrufen sollte? Wie es ihm heute ging?

Nach dem letzten Krankheitsschub hatte er beschlossen, in ein kleines Appartement im ›betreuten Wohnen‹ umzuziehen. Auf diese Weise war ihm bei Bedarf die notwendige Pflege sicher. Er wollte weder Maja noch ihrer Schwester Isabell zur Last fallen. Seine Töchter hätten ihr eigenes Leben, meinte er immer wieder. Und was ihre Schwester betraf, stimmte das auch. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte Isa geglaubt, so schnell wie möglich eine eigene Familie gründen zu müssen. Bereits mit Anfang zwanzig war sie vor den Traualtar getreten, ein Jahr später war das erste Baby gekommen. Inzwischen war Nummer drei unterwegs.

Aber Maja war Single. Sie hatte gerade deshalb das Taxi übernommen, damit sie flexibel bleiben und sich um ihren Vater kümmern konnte, wenn nötig. Doch Frank verhielt sich in diesem Punkt unnachgiebig.

Endlich schaltete die Ampel um, und der ›Schleicher‹ vor ihr bog rechts ab. Halleluja! Sie trat aufs Gaspedal. Fünf Minuten später hielt das Taxi an der Zieladresse. Eine ältere Frau, dick eingehüllt im schwarzen Wintermantel, stand bereits am Straßenrand und wartete. Sofort riss sie die Tür auf und schob sich auf den Rücksitz.

»Das hat ja gedauert!«

»Tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten. Das Wetter ...«

Bemüht fröhlich drehte Maja sich zu der alten Dame um. Krause graue Locken umspielten ihr rundes Gesicht. Der rote Lippenstift stach Maja – durch die Kombination mit ihrer blassen Gesichtsfarbe und dem Schwarz ihres Mantels – sofort ins Auge. An ihren Ohren baumelten edle kleine Ohrringe.

»Das Wetter? So ein Quatsch! Wie lange haben Sie denn schon Ihren Führerschein? Für meinen Geschmack sehen Sie noch ziemlich jung aus. Dürfen Sie überhaupt Taxi fahren?«

Maja runzelte für eine Sekunde die Stirn, entschied sich dann aber es als Kompliment anzunehmen. »Ich fahre seit über zehn Jahren Auto. Sie können sich bequem zurücklehnen. Wo soll es denn hingehen?«

»Dann mal los. Zum Christkindlmarkt! Meine Freundinnen warten bestimmt schon!«

Drei Touren später beschloss Maja, dass sie für heute genug hatte. Zwar waren die beiden Fahrgäste, die sie nach der hochnäsigen alten Dame noch kutschiert hatte, um einiges freundlicher gewesen, aber die wiederholten Fahrten zum Flughafen hatten sich in die Länge gezogen. Der Schneeregen ging allmählich in weiße Flöckchen über, hinzu kam der einsetzende Feierabendverkehr. Majas Magen knurrte, als sie ihr Taxi nach Hause lenkte.

Das hellerleuchtete Apothekenschild hob sich vom bereits dunklen Nachthimmel ab. Ihr fiel ein, dass sie Isa ein paar dieser Kügelchen besorgen wollte, die ihrer Schwester recht gut gegen die permanente Schwangerschaftsübelkeit halfen. Nicht jede Apotheke war mit Globuli ausgestattet, diese hier schon. Also schlüpfte sie in den nahegelegenen freien Parkplatz, kramte in ihrer Tasche nach dem Zettel, auf dem sie sich den genauen Namen notiert hatte, und kam gerade noch rechtzeitig, um als letzte Kundin des Tages bedient zu werden.

Zufrieden schlenderte sie zum Auto zurück und schwenkte die kleine Papiertüte in der Hand. Sie war kaum eingestiegen, als die Beifahrertür aufflog und ein Mann auf dem Sitz neben ihr Platz nahm.

»In die Innenstadt bitte.«

Verdutzt sah Maja ihn an. Hatte er nicht bemerkt, dass das Taxischild nicht leuchtete? Sie wollte ihm schon mitteilen, dass sie heute nicht mehr im Einsatz war, überlegte es sich jedoch anders. Die Innenstadt in München war zwar groß, aber sie musste auf ihrem Nachhauseweg sowieso mehr oder weniger daran vorbei. Warum sollte sie ihn also nicht mitnehmen? Es war schnell verdientes Geld. Sie schaltete das Taxameter ein und startete den Motor. »Und wohin genau?«

Der Mann antwortete nicht und schnaufte nur tief. Nachdem Maja sich in den Verkehr eingefädelt hatte, warf sie ihm einen Seitenblick zu. Er stierte durch die Windschutzscheibe nach draußen. Ob ins Dunkel der Nacht, auf die gelb-roten Rücklichter der Autos vor ihnen oder in die tanzenden Flocken, die aus dem Himmel fielen, wusste Maja nicht.

»Keine Ahnung«, sagte er dann, ohne den Blick abzuwenden.

»Soll ich Sie einfach irgendwo absetzen? Oder wie soll ich das verstehen?«

Er straffte die Schultern und sah sie direkt an. Sein Gesicht erschien freundlich, auch wenn der Ausdruck in seinen Augen etwas müde war. Maja schätzte ihn auf Anfang bis Mitte dreißig, in jedem Fall ein bisschen älter als sie selbst. Die dunklen Haare waren adrett kurz geschnitten und passten zu seinem ovalen Gesicht. Viel mehr konnte Maja auf die Schnelle nicht erkennen, zumal der unterste Teil seines Kopfes mit einem karierten Schal vermummt war.

 

 

Oliver Brunels Kopf war wie leergefegt. Die süße Taxifahrerin neben ihm war der erste Lichtblick des Tages, obwohl dieser sich bereits dem Ende neigte. Es war kurz vor 19.00 Uhr, und in einer halben Stunde sollte das jährliche Familienessen anlässlich seines Geburtstags stattfinden. Wenn er nur daran dachte, verging ihm der Appetit. Es gab Zeiten, da war dies etwas Besonderes für ihn gewesen. Jahre, in denen er sich bei seinem Geburtstagsessen richtig wohlgefühlt hatte.

Er konnte sich noch gut erinnern, wie stolz sein Vater gewesen war, als er sein Jurastudium erfolgreich abgeschlossen und seinen Platz in einer Kanzlei gefunden hatte, die auf Medienrecht spezialisiert war – dafür hatte er sich schon immer interessiert. Damals hatte er die Zukunft noch vor sich, und die Welt stand ihm offen. Nun, zumindest beruflich hatte sich daran kaum etwas geändert – er war gut in seinem Job. Familiär hingegen war seither viel geschehen.

Zum ersten Mal wohnte er in einem Hotel, wenn er in München war. Dabei gehörte ihm inzwischen sogar die Villa, die sich seit Jahrzehnten im Familienbesitz befand. Automatisch erschienen Tante Cecilie und Onkel Lennert vor seinem inneren Auge. Nein, an die beiden wollte er gegenwärtig überhaupt nicht denken! Und trotzdem blieb ihm keine Wahl. Unwillkürlich blinzelte er, bis die roten Rücklichter des Wagens vor ihnen wieder klar und deutlich zu erkennen waren. Durch die Schneenässe und die Dunkelheit sah es aus, als würde sich um die Lichter ein Strahlenkranz befinden, der sich auf dem nassen Asphalt bruchteilhaft widerspiegelte. Ein Anblick, der Oliver seltsamerweise ein anheimelndes Gefühl vermittelte. Aber vermutlich war das auf die Vertrautheit zurückzuführen, immerhin verbrachte er so manche Stunde auf der Straße, wenn er von einem seiner unzähligen Termine zum anderen fuhr.

»Soll ich Sie einfach irgendwo absetzen? Oder wie soll ich das verstehen?« Die Taxifahrerin riss ihn aus seiner Lethargie. Er löste sich von der Straßenromantik vor ihm und sah zu ihr hinüber. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke.

Sie war jünger und etwas kleiner als er. Ihr langes, glattes hellbraunes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie besaß hohe Wangenknochen, eine süße Stupsnase, die ihrem Aussehen etwas Freches verlieh, und auffallend große Augen, in denen ein Blitzen lag, das sein Interesse weckte.

»Also, wohin denn nun?« Sie hörte sich weder genervt noch kratzbürstig an, wie Oliver bemerkte. Dabei wäre es ihr nicht zu verübeln gewesen, schließlich stellte er ihre Geduld mit seinem Verhalten gewiss auf die Probe. Doch zu seiner Überraschung schwang in ihrer Stimme etwas Warmes, Herzliches mit.

»Eigentlich in die Schübelstraße ...«

»Die Schübelstraße? Aber die liegt doch ...« Sie vollführte eine rasche Handbewegung, und ihr Daumen deutete durch das Fenster irgendwohin, nur nicht in Fahrtrichtung.

Oliver kannte sich aus. Er war in München großgeworden und wusste, was sie damit sagen wollte. »Alles bestens. Die Innenstadt ist gut. Perfekt.«

 

 

Maja schielte zu ihrem Fahrgast hinüber. Wie sollte sie jemanden zum gewünschten Ziel bringen, wenn derjenige selbst nicht zu wissen schien, wohin er wollte? Die Schübelstraße lag in einer gutbetuchten Wohngegend Münchens. Hierfür müsste sie allerdings scharf links abbiegen – sofern sich die Gelegenheit denn bot. Momentan hatte sie ihren Wagen auf der rechten Fahrbahn eingeordnet, die geradewegs in das Herz der Großstadt führte. Ein Spurwechsel war ohnehin unmöglich. Etwas weiter vorn befand sich eine Baustelle, die den Verkehr fast zum Erliegen brachte.

»Sind Sie sicher?« Sie fühlte sich genötigt, nochmals nachzufragen. Seine Antwort hatte sich für ihren Geschmack etwas halbherzig angehört. »Ich kann Sie gerne in die Schübelstraße bringen. Das ist jetzt zwar ein Umweg, den wir dann fahren müssen ...«

Sie schaute auf die Uhr und überschlug gedanklich die Strecke. Es würde wohl über eine Stunde dauern, bis sie endlich in ihre heimischen Gefilde vordrang. Aber sie hatte sich – trotz Feierabend – entschieden den Mann mitzunehmen. Da nützte es nichts, jetzt mit sich selbst zu hadern. Egal wie sehr ihr Magen auch knurrte.

»War das Ihrer?«, fragte er prompt. Er musste das Grummeln, das ihr Bauch von sich gegeben hatte, gehört haben.

Maja war das ein wenig peinlich. Schnell drehte sie die Lautstärke des Radios, das leise im Hintergrund dudelte, minimal höher, um eine mögliche Wiederholung des Geräuschs vorsorglich zu übertönen.

»Ähm, ja. Ich versuche mich im Bauchreden.« Sie wusste selbst nicht, warum sie das gesagt hatte.

Ihr Beifahrer grinste schief. »Entschuldigung, dann müssen Sie noch ein bisschen üben. Ich habe es leider nicht verstanden.«

Sie lachten beide. Der Wagen stand nun endgültig. »Sie haben recht. Ein Naturtalent bin ich – was das betrifft – wohl nicht.«

»Warum möchten Sie denn Bauchrednerin werden?« Seine Brauen wanderten ein wenig nach oben. Das Grinsen in seinem Gesicht stand ihm gut. Der müde Ausdruck in seinen Augen war verschwunden.

»Ach, manchmal wäre es ganz nett, wenn man sich mit sich selbst unterhalten könnte. Finden Sie nicht?« Was war denn das für ein Stuss, den sie da redete? Aber sie hatte schließlich damit angefangen. Und es gab schlimmere Gespräche, wie sie im Laufe ihrer Taxikarriere schon festgestellt hatte.

»Haben Sie in Ihrem Job nicht genug Ansprache?«

Sie dachte an die permanenten Meckerer, die lallenden Betrunkenen und die Leute, die sie als fahrende Psychocouch benutzten. »Doch. Aber es ist nicht immer das, was ich hören möchte. Themen, über die ich vielleicht gerne reden würde ...«

»Verstehe, der Gast bestimmt.« Maja nickte. »Aber, möchten Sie auch hören, was Sie sich selbst zu sagen haben? Bei mir bin ich mir da nicht so sicher.«

»Werden wir jetzt selbstkritisch?«, fragte sie lachend.

 

 

Olivers erster Eindruck bestätigte sich. Die Taxifahrerin war eine erfrischende Abwechslung. Wie lange war es her, dass er einfach mal über etwas gesprochen hatte, ohne dazu Daten und Fakten im Kopf haben zu müssen? Sich in die Arbeit zu vergraben war sicherlich nicht verkehrt, aber hatte er darüber vergessen zu leben? Heute war sein Geburtstag. Er wurde gerade mal vierunddreißig. Definitiv kein Alter, um das Leben an sich vorbeiziehen zu lassen. Das Gespräch brachte ihn tatsächlich zum Nachdenken.

»Womöglich. Aber ich möchte Sie in den Abendstunden nicht mit scheußlichen Tiefgründigkeiten belästigen.«

»So schlimm? Was wollen Sie verheimlichen? Lassen Sie mich raten: Sie sind ein Psychopath und überlegen sich gerade, was Sie mit mir anstellen wollen?«

»Sie kommen ja auf Ideen. Würde Ihnen das denn gefallen?«

»Klar. Und wovon träumen Sie nachts?«

Ihre kecke Art gefiel ihm, außerdem hatte sie, ohne es zu beabsichtigen, seine Fantasie auf reizvolle Weise angeregt. Natürlich war er kein Psychopath! Aber die Aussicht, ›etwas mit ihr anstellen‹ zu können, übte durchaus eine gewisse Faszination auf ihn aus. Es war schon ziemlich lange her, dass er mit einer Frau im Bett gewesen war, und er konnte nicht leugnen, dass ihn diejenige neben ihm auf eine gewisse Weise anzog. Er erlaubte sich einen ausgedehnten Blick auf ihre geschwungenen Lippen. Wie es wohl wäre, sie zu küssen?

Das Auto setzte sich wieder in Bewegung. Sie betätigte den Blinker und wechselte die Fahrspur.

 

 

Ein seltsames Kribbeln durchfuhr Maja, als sie bemerkte, dass er sie aufmerksam musterte. Warum hatte sie auch diese blödsinnige Bemerkung von sich gegeben? Wie kam sie nur darauf, ihn mit einem Psychopathen zu vergleichen? War sie plötzlich übergeschnappt? Sie kannte den Mann nicht, und er wirkte völlig normal.

Wenn sie in den letzten Monaten Erfahrungen gesammelt hatte, dann in puncto Menschenkenntnis. Ihr Fahrgast war ein absoluter Durchschnittsanzugträger – abgesehen davon, dass er keinen anhatte. Er steckte in dunklen Jeans und hellgrauem Wollmantel. Aber Maja hätte wetten können, dass er beruflich einen trug. Und ein Durchschnittstyp war er auch nicht. Er war weder langweilig, noch dozierte er ausufernd über irgendwelches Zeugs. Ganz im Gegenteil. Maja fühlte sich wohl in seiner Gegenwart und ausgezeichnet unterhalten. Dass er attraktiv war, kam noch obendrauf.

Er verströmte einen extravaganten Duft – teuer und erregend. Vielleicht war das der Grund für ihr dummes Geplapper – ihr Gehirn war benebelt. Möglicherweise lag es auch einfach daran, dass es ein langer Tag für sie gewesen war. Trotzdem kam sie nicht umhin, diese spezielle Atmosphäre zu spüren, die im Taxi herrschte, seitdem er eingestiegen war. Immerhin schien er ihr ihre kuriose Anschuldigung nicht übel zu nehmen.

»Okay. Sie haben jetzt die Gelegenheit, Ihr Fahrziel zu korrigieren! Nach links oder geradeaus?«

 

 

Ein tiefer Seufzer entschwand seiner Kehle. Er hätte das Geplänkel mit der Fahrerin nicht so genießen sollen. Eben hatte er sich richtig jung gefühlt, jetzt aber, beim Gedanken an seine ›liebe‹ Verwandtschaft, verschwand die gute Laune schlagartig wieder, und er war gespürte hundert. Sollte er sich den Fauxpas erlauben und nicht zu seiner Feier erscheinen? So zumindest war sein Plan gewesen, als er ins Taxi gestiegen war. Er hatte kurzerhand beschlossen, nicht dort aufzutauchen. Warum auch? Sicherlich würden sie ohne ihn einen netteren Abend verbringen als mit ihm. Und ihm selbst erging es nicht anders. Dieses Dinner war sowieso eine einzige Farce.

Andererseits war er ein durch und durch korrekter Mensch. Auf sein Wort war Verlass, und Termine hielt er konsequent ein. Konnte er es mit sich selbst vereinbaren, wenn er einfach nicht erschien? Und dann wäre da die große Frage: Was sollte er sonst mit diesem Abend anfangen? Allein seinen Geburtstag verbringen – war das nicht mehr als traurig?

Plötzlich fühlte er sich einsam. Die Familie, die er einmal geliebt hatte, gab es so nicht mehr. Zwar hatte er Freunde, aber ein Teil davon lebte in Berlin – wie er selbst seit ein paar Jahren. Freilich gab es auch einige, die hier in München wohnten, wo er aufgewachsen war. Doch zu den meisten war der Kontakt nur noch sporadisch oder hatte sich mit der Zeit ganz verloren. Manche waren durch ihre berufliche Laufbahn ebenfalls weggezogen.

Er könnte Sven anrufen, seinen alten Schulfreund aus Kindertagen. Aber wollte er sich wirklich die Blöße geben und gestehen, dass er an seinem Geburtstag allein war und niemanden hatte, mit dem er feiern konnte? Abgesehen davon war es Freitagabend. Bestimmt hatte sein alter Kumpel schon etwas vor.

»Hallo? Erde an ...«, rief die Taxifahrerin und riss ihn aus seinem Gedankenstrudel. Als er zu ihr hinüberblickte, vollführte sie justament eine unwirsche Bewegung, die halb aus Kopfschütteln, halb aus Schulterzucken bestand, und die Bedeutung war ihm sofort klar.

»Oliver. Mein Name ist Oliver. Freut mich Sie kennenzulernen«, half er ihr grinsend.

»Okay, Oliver. Sie machen es mir wirklich nicht leicht. Links oder geradeaus? Die Zeit drängt, wir müssten jetzt abbiegen, wenn Sie zur Schübelstraße wollen. Aber wenn Sie noch eine weitere Stunde Bedenkzeit brauchen, kann ich derweil auch gern am Ring im Kreis fahren.« Sie schenkte ihm ein verschmitztes Grinsen, bevor sie sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht blies, was dem Ganzen zusätzlich eine schelmische Note verlieh.

Er lachte laut auf. Mit dieser Frau konnte man gewiss Pferde stehlen. Und auf einmal wusste er, wie er den Abend gerne verbringen wollte.

 

 

 

2

 

 

»Was halten Sie davon, mit mir über den Weihnachtsmarkt zu schlendern?«

»Ich? Mit Ihnen?«

»Genau.«

»Sie machen Scherze.«

»Nicht im Geringsten.«

Maja war baff, fuhr aber an der Abzweigung instinktiv in die angegebene Richtung.

»Heißt das Ja?« Oliver war nicht entgangen, wohin sie das Taxi lenkte. Obwohl München eine Metropole war, kannte er sich in der Großstadt bestens aus. Überschwänglich rieb er sich die Hände. Je länger er darüber nachdachte, desto grandioser fand er seine Idee.

»Nein.«

»Wie: Nein?«

»Nein, ich bummle nicht mit Ihnen über den Weihnachtsmarkt. Aber ich setze Sie gerne dort ab.«

»Sie haben keine Lust auf ein wenig Weihnachtsstimmung? Denken Sie an Glühwein und den Duft frisch gebrannter Mandeln. Ich kann es schon förmlich riechen.«

»Das freut mich für Sie. In etwa einer Viertel- bis halben Stunde können Sie sich das alles gönnen.«

»Allein macht es aber keinen Spaß. Ich würde das Vergnügen gerne mit Ihnen teilen. Schauen Sie nur, es schneit sogar! Der heilige Petrus sorgt obendrein für das perfekte Ambiente.«

»Sie meinen das wirklich ernst?«

»Absolut. Ja.«

»Warum? Ich meine ...«

»Ich finde Sie nett. Sie sind heute mein Lichtstreif am Horizont. Es ist so unkompliziert, mit Ihnen zu reden –«

»Sie meinen die paar Sätze, die wir miteinander gewechselt haben?«

»Ich weiß, es klingt verrückt, aber es scheint mir Jahre her zu sein, dass ich mich einmal unterhalten habe, ohne nachdenken zu müssen, was ich sage. Ich finde Sie bezaubernd, und Sie haben Humor. Bitte, tun Sie mir den Gefallen und begleiten mich.«

»Trotzdem. Sie kennen mich doch kaum.«

»Manchmal reichen ein paar Minuten aus. Hatten Sie nie das Gefühl, jemanden schon viel länger zu kennen, als es der Fall ist? Außerdem haben wir so die Gelegenheit, das nachzuholen.«

 

 

Noch vor wenigen Minuten hatte Maja geglaubt, er wollte sie veräppeln. Aber ihr wurde allmählich klar, dass er tatsächlich mit ihr – ja, was? – bummeln gehen, den Abend verbringen wollte. Müsste sie sich nicht auf den Verkehr konzentrieren, hätte sie ihn vermutlich sprachlos angestarrt. So aber schielte sie nur wiederholt zu ihm hinüber, ohne das Verkehrsgeschehen aus den Augen zu verlieren. Er war wirklich ein Hingucker, und in seinem Blick lag eine erwartungsvolle Euphorie.

Es war schon länger her, dass Maja ein Date hatte. Eigentlich nicht mehr, seitdem sie in Vollzeit Taxi fuhr. Sie fand keine Gelegenheit dazu. Entweder war sie den ganzen Tag im Auto unterwegs, bei ihrem Vater, oder sie versuchte ihre Schwester mit den Kindern zu unterstützen, bevor sie irgendwann in den wohlverdienten Schlaf fiel. Freizeit stand selten auf ihrem Programm und Männer noch viel seltener.

Oliver hatte es fertiggebracht, ihr Interesse zu wecken. Es war durchaus schon passiert, dass einer ihrer Fahrgäste mit ihr geflirtet hatte. Aber dass einer sie auf der Stelle ausführen wollte, das war ihr noch nicht untergekommen. Und dann mit einer derartigen Hartnäckigkeit! Dabei wirkte er nicht bestimmend, herrisch oder so. Solche Typen konnte sie schon mal gar nicht abhaben. So wie er ihr zuredete, glaubte sie mehr, dass er sich einfach freuen würde. Es war die Art und Weise, wie er mit ihr sprach – der Tonfall und diese samtige Stimme.

Dachte sie darüber nach, auf seinen Vorschlag einzugehen und mit ihm über den Weihnachtsmarkt zu bummeln? Was, wenn er doch nicht so unschuldig war, wie er den Eindruck vermittelte? Wenn sie mit ihrer flapsigen Bemerkung vorhin gar nicht so falschlag? Er musste ja nicht gleich ein Psychopath sein, es reichte schon aus, wenn er zudringlich werden würde.

»Oliver –«

»Sehen Sie, Sie wissen immerhin meinen Namen«, jubelte er und erinnerte Maja dabei ein wenig an einen Jungen, der merkte, dass seine Überredungskünste auf fruchtbaren Boden fielen.

»Stimmt. Allerdings ...«, sie legte eine kleine Kunstpause ein, bevor sie weitersprach, »wissen Sie auch meinen?«

Damit hatte sie ihn. Grübelnd beugte er sich vor und begutachtete sie soweit möglich von vorn. Doch als Taxifahrerin trug sie kein Namensschild, das ihm weiterhelfen konnte.

»Eins zu null für Sie.«

Maja grinste unwillkürlich.

»Und? Verraten Sie mir, wie Sie heißen?«

Unbeabsichtigt schnalzte sie mit der Zunge, während sie mit sich rang. »Maja.«

»Maja! Ein schöner Name –«

»Die Witze über die flotte kleine Biene können Sie sich sparen. Nur ein Wort in dieser Art, und Sie dürfen den Rest der Strecke zu Fuß gehen«, warnte sie ihn.

»Ich hatte nichts dergleichen vor, aber gut zu wissen. Ich werde mich hüten, schließlich hoffe ich weiterhin, dass Sie mit mir einen Glühwein trinken werden.« Er schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln.

»Sie lassen nicht locker, was?«, meinte sie amüsiert.

»Ich denke, jetzt, da wir uns einander namentlich vorgestellt haben, steht dem doch nichts mehr im Weg. Oder, Maja?«

»Sie meinen, bis auf die Kleinigkeit, dass ich mit einem wildfremden Mann durch die Stadt ziehen soll?«

»Auf den Weihnachtsmarkt! Dorthin, wo sich auch hunderte andere Menschen aufhalten«, korrigierte er. »Sie haben doch nicht etwa Angst, ich würde Sie in eine dreckige, dunkle Gasse zerren?«

Nein, das glaubte sie nicht wirklich. Aber da er es schon ansprach ... Schweigend zuckte sie mit den Schultern. Es war durchaus interessant, was er dazu zu sagen hatte.

»Okay. Verständlich. Machen wir es richtig.« Er räusperte sich. »Mein Name ist Oliver Brunel. Ich bin Anwalt, aktuell wohnhaft in Berlin, wo sich auch die Kanzlei befindet, bei der ich arbeite. Ich bin beruflich engagiert, habe keine Vorstrafen und keine physischen oder psychischen Probleme.«

»Kurz, Sie sind der nette Junge von nebenan.«

»Ganz genau. Sie haben es erfasst.«

»Eines haben Sie aber vergessen.«

»Was?«

»Dass Sie leicht zu haben sind.« Maja kicherte.

Oliver schnappte gespielt empört nach Luft. »Was man von Ihnen schon einmal nicht behaupten kann. Also, liebste Maja, nachdem Sie meinen groben Lebenslauf jetzt erfahren haben, würden Sie mir die Ehre erweisen und mich auf den Münchner Weihnachtsmarkt begleiten?«

Schmunzelnd biss sich Maja auf die Lippe. Er machte es ihr echt schwer, abzulehnen. Sollte sie zustimmen? Immerhin hatte er in einer Sache recht: Sie würden sich unter sehr, sehr vielen Menschen aufhalten. An und für sich wollte sie Isa die gekauften Globuli bringen, aber das könnte sie auch morgen tun. Strenggenommen hatte sie nichts vor. Es war einer von vielen Freitagabenden, den sie allein zu Hause vor dem Fernseher verbringen würde.

»Oliver, wie stellen Sie sich das vor? Ich muss arbeiten und Geld verdienen«, startete sie einen letzten kläglichen Versuch, die Einladung auszuschlagen. Dass sie bereits Feierabend hatte, wusste er schließlich nicht.

»Das ist ein Argument«, räumte er ein, und Maja war sich selbst nicht schlüssig, ob sie jetzt erleichtert war. »Allerdings könnten Sie das Taxameter weiterlaufen lassen, während wir beide zu Fuß unterwegs sind.« Die Ampel direkt vor ihnen schaltete auf Rot, und Maja bremste etwas schärfer als nötig, gleichzeitig schnellte ihr Kopf zu ihm herum. »Bevor Sie jetzt wieder fragen: Ja, es ist mein Ernst. Und mal ehrlich, ich glaube, ein wenig abschalten würde Ihnen ganz guttun. Sie fahren sehr ... spritzig.«

Maja schwankte zwischen Belustigung und Verärgerung. Daran, dass sie das Bremspedal derart heftig durchgedrückt hatte, war doch er schuld! Welcher Mensch, der seine sieben Sinne bei sich hatte, machte denn bitte schön so ein Angebot? Sie musterte ihn eingehend, konnte aber nichts an ihm erkennen, was sie in Alarmbereitschaft versetzte. Ihre Blicke trafen sich, und ein leichter wohliger Schauer durchlief sie. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf die Straße.

 

 

Oliver fühlte sich mit einem Mal blendend. Die Aussicht auf einen schönen Abend mit Maja beflügelte ihn geradezu. Vergessen waren die bucklige Verwandtschaft und das Gefühl der Einsamkeit. Selbstmitleid stand ihm seit jeher nicht. Warum sollte er also mit vierunddreißig damit anfangen? Da war es doch viel angenehmer, sich mit Maja in ein Abenteuer zu stürzen.

Er wusste nicht genau, wie er sich den Abend vorstellte, aber das war ja der Reiz. Keine Pläne, sondern einfach alles auf sich zukommen lassen. Bummeln, vielleicht Essen gehen ... Er würde sie zu nichts überreden, was sie nicht wollte. Abgesehen natürlich von der Kleinigkeit, sie zu überzeugen, den Abend überhaupt mit ihm zu verbringen.

»Kommen Sie schon, Maja. Seien Sie spontan«, forderte er sie auf, als die Ampel wieder umsprang. Er merkte, dass sie kurz davor war, Ja zu sagen, und er wusste auch, dass sie nur noch eine Straßenlänge vom Weihnachtsmarkt entfernt waren. Also spielte er seinen letzten Trumpf aus und hoffte, sie damit endlich restlos überzeugen zu können.

»Sie haben recht, wir kennen uns nicht näher. Denn wenn Sie mich besser kennen würden, wüssten Sie, dass heute mein Geburtstag ist. Das ist die Wahrheit. Ich möchte diesen Abend nicht allein sein und würde mich über Ihre Gesellschaft freuen. Keine Hintergedanken! Nur ein paar schöne Stunden. Versprochen! Sehen Sie mich an, können diese Augen lügen?«

 

 

Der Münchner Christkindlmarkt zog sich vom Marienplatz bis hin zum Turm des alten Rathauses. Wie zu erwarten war er ziemlich gut besucht, um nicht zu sagen brechend voll! Es war Freitagabend, und Touristen sowie Einheimische stimmten sich mit einer Tasse Glühwein auf das Wochenende ein. Der Weihnachtsmarkt war bis 21 Uhr geöffnet, sodass Oliver und Maja knapp zwei Stunden blieben, um zu bummeln und einen Blick in die unterschiedlichen Buden zu werfen.

Vom nachtschwarzen Himmel fielen kleine, feine Flöckchen, Menschen lachten, ein Chor sang Weihnachtslieder, und der unverkennbare Duft von gerösteten Mandeln hing in der Luft. Die Stimmung war ansteckend, und in Maja breitete sich allmählich ein wohliges Gefühl aus. Sie schob den letzten Rest ihrer Bedenken beiseite und beschloss das Hier und Jetzt zu genießen. Oliver lief neben ihr und reckte den Hals.

»Da vorne gibt es Glühwein«, teilte er ihr mit.

Sie schoben sich durch das Gedränge. Eine Menschentraube hatte sich vor einem der Stände angesammelt. Offenbar musste es dort etwas Besonderes geben, aber bei derart vielen Leuten wurde ihnen ein Blick in das Budenhäuschen verwehrt. Maja war neugierig und blieb stehen. Sie schaffte es, sich an zwei Personen vor ihr vorbeizudrängeln, erkannte aber trotzdem nichts. Mit ihren eins achtundsechzig war sie zwar nicht klein, aber auch nicht lang genug, um über die Köpfe vor sich hinwegsehen zu können.

Eine beleibte Frau neben ihr versuchte sich besser zu positionieren und rammte ihr den Ellenbogen in die Rippen. Auch wenn Maja davon ausging, dass es unbeabsichtigt geschehen war, tat es dennoch weh. Sie rieb sich mit der Hand über die Stelle und gab es auf, herausfinden zu wollen, was hier Tolles angepriesen wurde.

Während sie den Rückzug antrat, hörte sie Oliver nach ihr rufen. Eine kleine Ewigkeit später fand sie ihn in einiger Entfernung, wie er sich suchend nach ihr umschaute. Mit einem großen Schritt trat sie hinter ihn und klopfte ihm auf die Schulter. Er zuckte kurz zusammen, drehte sich zu ihr um und strahlte sie an.

»Maja! Da bin ich aber froh! Ich dachte schon, Sie hätten es sich anders überlegt und sich verdrückt.«

»Sie glauben, ich schleiche mich davon, sobald ich die Gelegenheit bekomme?«

Er zuckte unwissend mit den Schultern und schenkte ihr einen Bernhardinerblick. Maja grinste verlegen.

»Sie haben mich zwar aus meinem Taxi entführt, aber bisher fühle ich mich dabei gar nicht sooo schlecht.«

»Ehrlich? Das ist toll. Besonders, weil ... Können Sie ein Geheimnis für sich behalten?« Sie nickte, und er beugte sich zu ihr. Die ungewohnte Nähe löste ein Prickeln in ihr aus. Da war er wieder, der erregende Geruch seines Aftershaves. Er hob die Hand und hielt sie vor seinen Mund, ehe er ihr in halblautem Ton ins Ohr flüsterte: »Ich muss gestehen, Sie sind mein allererstes Entführungsopfer.«

Es dauerte einen winzigen Moment, bis sie verstand, was er von sich gegeben hatte. Dann riss sie entsetzt die Augen auf. »Nein!«

»Doch.«

»Oh!«

»Tja, was soll ich sagen? Es ist so. Mit Entführungen bin ich bisher nicht vertraut.«

»Sie Armer! Eine Runde Mitleid.«

Er presste die Lippen aufeinander. »Jetzt verstehen Sie bestimmt auch, warum ich so erleichtert bin, dass Sie mir nicht entwischt sind.«

»Natürlich. Absolut. Wenn ich Ihnen vielleicht einen Tipp geben darf: Es ist immer vorteilhaft, das Entführungsopfer bei Laune zu halten. Ich schlage Glühwein vor.« Beide prusteten los.

Kurz darauf lehnten sie an einem hölzernen Stehtisch, den sie sich erkämpft hatten, und jeder hielt eine dampfende Tasse in der Hand. Der Glühweinstand hinter ihnen war am Dach mit einer Lichterkette versehen, ebenso wie der große Baum gegenüber, sodass sie ein stimmungsvoller, warmer Kegel umgab. Einige Menschen liefen an ihnen vorbei, manche schneller, andere im Schlenderschritt.

»Mal ehrlich. Warum treiben Sie sich an Ihrem Geburtstag allein in München herum, wenn Sie doch in Berlin wohnen? Sind Sie beruflich hier?«, fragte Maja und spielte mit der Tasse in ihrer Hand.

»Sie haben aufgepasst.«

»Das gehört zum Job.«

»Schaltet man da nicht oftmals auf Durchzug? Ich kann mir vorstellen, dass vieles von dem, was einem die Leute so während der Fahrt erzählen, nicht überaus wissenswert ist. So ähnlich haben Sie es vorhin jedenfalls ausgedrückt.«

»Sie hören scheinbar auch gut zu. Ja, das mag schon stimmen. Aber ich bin nun einmal eine aufmerksame Zuhörerin. Das liegt in meiner Natur.«

»Sie haben also eine ausgeprägte soziale Ader.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

»Es sind ja nicht alle, die mir ihr Herz ausschütten. Aber es kommt immer wieder mal vor. Da gibt es die, die sich gerade so richtig ärgern und sich bei mir dann Luft darüber machen. Oder die, die einen stressigen Beruf haben und unter Zeitdruck stehen. Liebeskummer, Sorgen, die ganze Palette eben.«

»Und ich dachte immer, Barista wäre der typische Beruf, bei dem psychologische Kenntnisse vonnöten sind. Aber kein Wunder, dass die Menschen sich Ihnen anvertrauen. Sie sind sehr nett, und ich könnte wetten, dass Sie immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen haben, wenn ein neuer Fahrgast zu Ihnen ins Auto steigt.« Maja errötete leicht. Es war schon ziemlich lange her, dass ihr jemand ein Kompliment gemacht hatte. In der Regel drehten sich Gespräche meist um die anderen. »Sie sollten Psychologie studieren. Oder haben Sie das zufällig schon?«

Sie lachte. »Nein.«

»Überlegen Sie mal. Das könnte ein erfolgreiches Geschäftsmodell werden. ›Die fahrende Psychocouch‹!« Hatte sie vorhin in Gedanken nicht die gleiche Bezeichnung für diesen Teil ihres Jobs verwendet? »Stellen Sie sich das nur mal vor. Bei einem Psychologen muss man in der Regel ein halbes Jahr Wartezeit in Kauf nehmen, bevor man einen Termin bekommt. Bei Ihnen könnten die Leute einfach einsteigen und sich sofort ihren Kummer von der Seele reden.«

»Und dabei fahren wir eine Runde durch die Gegend?«

»Genau. Und wenn es länger dauert, drehen Sie bequem eine weitere.«

»Ich könnte damit bestimmt einiges mehr verdienen. Sagten Sie nicht, Sie wären Anwalt? Ich habe eher das Gefühl, Sie sind Berufs- oder Unternehmensberater.«

Oliver grinste. »Ich bin vielschichtig und einfallsreich.«

»Scheint mir auch so.«

Ihre Blicke trafen sich. Oliver besaß lavendelblaue Augen. War das möglich? Maja konnte sich nicht erinnern, eine solche Farbe schon einmal gesehen zu haben. Der Mann sah nicht nur gut aus und war charmant, ihn umgab zudem etwas Geheimnisvolles. Ihr fiel auf, dass er ihre Frage geschickt umgangen hatte.

»Aber jetzt weiß ich immer noch nicht, wie es gekommen ist, dass Sie an Ihrem Geburtstag allein in der bayerischen Hauptstadt gestrandet sind.«

»Geburtstag! Stimmt!«, rief er, als hätte er dieses kleine Detail vergessen. »Darauf sollten wir jetzt mal anstoßen.« Er hob ihr seine Tasse auffordernd entgegen.

Sie tat es ihm gleich. »Alles Gute zum Geburtstag! Wie alt sind Sie denn geworden?«

Oliver seufzte. »Vierunddreißig.«

»Oh weh!«

»Ich weiß. Sie dagegen sind ein junger Hüpfer.«

»Woher wollen Sie das denn wissen?«

»Sie haben sich verraten, als Sie mir soeben diesen mitleidsvollen Blick geschenkt haben. Ich hab es genau gesehen.« Seine linke Augenbraue wanderte neckisch nach oben, sodass Maja gluckste.

»Sie haben mich erwischt. Ich gestehe, ich bin neunundzwanzig und habe die magische Dreißig noch vor mir.«

»Also hübsch und jung dazu.«

Maja merkte, wie sie schon wieder errötete. Normalerweise flirtete sie mit Leichtigkeit. Aber das hier mit Oliver war anders. Diese Mischung aus Unbekanntem, Wortspielerei und seinem erfrischenden Charme löste ein lang verschollenes Gefühl in ihr aus. Schnell hob sie die Tasse an ihre Lippen. »Auf das Geburtstagskind.«

Nachdem jeder einen Schluck der dampfenden roten Flüssigkeit getrunken hatte, stellte Oliver seine Tasse auf dem Tisch ab und rückte zu ihr auf.

»Ich finde, wir sollten endlich das blöde Sie weglassen. Da wir jetzt wissen, dass ich der Ältere bin, biete ich dir ganz offiziell das Du an.«

Er war nun ziemlich nahe, und Maja konnte seinen Atem auf ihrer Haut spüren.

»Alte Schule, was?«, brachte sie gerade noch heraus, bevor schon sein Mund auf ihren traf. Er zog sie leicht an sich. Seine Lippen waren warm und weich und verursachten auf ihren ein verheißungsvolles Prickeln. Obwohl er eine Sekunde länger auf ihrem Mund verharrte als nötig, ging alles recht schnell. Ehe Maja richtig wusste, wie ihr geschah, löste er sich schon wieder von ihr. Es war ein Brüderschaftskuss gewesen und doch irgendwie viel mehr.

Verstohlen fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte Gewürze und Rotwein. Sie hatte das Gefühl, beschwipst zu sein, auch wenn sie bisher nur ein Schlückchen getrunken hatte.

 

 

Oliver war verwirrt. Das ›Bussi‹, wie es im Volksmund hieß und Teil des Verbrüderungsrituals war, fühlte sich anders und besonders an. Nicht, dass er ein Verfechter solcher Rituale war oder großen Wert darauf legte. Der Kuss – oder das Bussi – war eine spontane Aktion gewesen. Er hatte es einfach gemacht, aus einem Impuls heraus, ohne nachzudenken. Das zeigte sich schon daran, dass er den Brauch etwas abgekürzt und Maja damit vermutlich überrumpelt hatte. In der korrekten Form des Brüderschaftstrinkens hielten die beiden Beteiligten ihr Getränk in der Hand, führten es durch die Armbeuge des Gegenübers zum Mund, tranken einen Schluck und gaben sich im Anschluss ein Küsschen auf Wange oder Mund.

Er trat einen kleinen Schritt zur Seite und beobachtete sie. War es nur ihm so ergangen oder hatte sie dieses ›gewisse Etwas‹ auch gespürt? Das war doch verrückt! Sie kannten sich höchstens eine Stunde. Und dabei konnte man von ›kennen‹ ja noch nicht einmal sprechen. Was wusste er denn über sie? Name, Alter und dass sie Taxi fuhr. Und trotzdem ...

Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Bis er es aus der Manteltasche gezogen hatte, war bereits die Mailbox drangegangen. Auch gut. Noch besser, dachte er sich, als er den Anrufer auf dem Display erkannte: Tante Cecilie. Er warf einen Blick auf die Uhr. Wahrscheinlich warteten sie auf seine Ankunft, um endlich gemeinsam essen zu können. Das schlechte Gewissen machte sich in ihm breit. Manchmal konnte einem die gute Erziehung den Spaß verderben.

Doch dann dachte er daran, was in den letzten vierzehn Monaten alles geschehen war. Ein Blick auf Maja, die lächelnd am Tisch lehnte und die Passanten beobachtete, nahm ihm den letzten Rest seines Schuldbewusstseins. Es war die richtige Entscheidung gewesen! Außerdem war es sein Tag! Den wollte und konnte er verbringen, wie es ihm am besten gefiel.

Er tippte eine Kurznachricht, in der er sich für diesen Abend entschuldigte. Ihm sei ein dringender Termin dazwischengekommen. So viel Anstand musste sein. Die gierige Verwandtschaft konnte sich jetzt den Bauch vollschlagen, zum Diskutieren war morgen immer noch Zeit.

 


3

 

 

»Ist das nicht der Stand, an dem vorhin so ein Gedränge war?« Maja drehte sich zu Oliver um. Jeder von ihnen hielt ein Fladenbrot, belegt mit Bärlauch-Pesto, Lauchzwiebeln und kleinen Speckwürfeln, in der Hand. Während er kauend zu ihr aufsah, genehmigte sie sich gleich einen weiteren Happen von ihrem Stück. Ausgehungert wie sie war, verschlang sie das Teilchen regelrecht. Es schmeckte köstlich, und ihr knurrender Magen dankte es ihr.

Dabei hatte sie ihren Hunger zuletzt gar nicht mehr bemerkt. Sie war viel zu sehr durch Oliver abgelenkt. Sie genoss seine Gesellschaft, aber das Zusammensein mit ihm brachte sie auch ein wenig aus dem Gleichgewicht. Oder aber der Glühwein war daran schuld. Eine ganze Tasse auf fast nüchternen Magen ... Ihre letzte Mahlzeit war am frühen Mittag gewesen.

»Schon möglich. Ich bin mir nicht sicher. Was gibt es denn jetzt da?«, fragte er und ging zielstrebig zu der Bude.

Majas Augen wurden größer, je näher sie den Auslagen kamen. »Sind das Essiggurken?«

Die rundliche Marktfrau nickte lachend. »Ganz richtig. Natürlich nicht zum Verzehr geeignet. Aber wie ich sehe, sind Sie ja bereits versorgt.«

»Die sehen total echt aus«, stellte Oliver fest und schob sich den letzten Bissen in den Mund.

»Wer hängt sich denn Essiggürkchen

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Birgit Gruber
Bildmaterialien: Shutterstock.com (Kichigin, Ryan DeBerardinis)
Cover: Wolkenart.com – Marie-Katharina Wölk, www.wolkenart.com
Lektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2019
ISBN: 978-3-96714-030-9

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