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Untouched

Seit ich denken kann halten mich die meisten Menschen für verrückt. Die anderen zumindest für seltsam. Das liegt vielleicht auch ein Stück weit daran, dass ich eine Außenseiterin bin und dass ich mich nicht gerne anfassen lasse. Noch nie habe ich eine Person umarmt, mit Ausnahme von meiner Mutter, aber das auch nur als ich noch ein Kleinkind war. Selbst eine kurze Berührung, ja sogar ein Streifen ist für mich beinahe unerträglich. Ich kann nicht einmal genau sagen woran das liegt. Sobald ich spüre, dass mich jemand berührt kriecht ein ziemlich ungutes Gefühl in mir hoch, zusammen mit Panik und Angst. Das macht größere Menschenmassen für mich unmöglich. Früher, in der Grundschule bin ich zu einem Therapeuten gegangen, weil meine damalige Lehrerin dachte ich hätte irgendeine Art von Trauma. Das dachten eigentlich alle. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass ich keine Störung habe, ich lasse mich nur einfach nicht gerne anfassen. Zwei Jahre lang habe ich jede Woche eine Therapiestunde besucht, doch Herr Dr. Lange hat einfach nie auch nur ein Wort aus mir herausbekommen. Ich rede nämlich auch nicht gerne, na ja, eigentlich schon, aber nur mit Menschen, mit denen ich reden möchte und bei denen ich das Gefühl habe, sie würden mich verstehen oder nicht irgendein gestörtes Menschenexemplar sehen. Leider gibt es keinen solchen Menschen. Das erklärt warum ich nicht viel rede, denken tue ich viel, ich spreche es nur nicht aus. Diese Tatsache trägt natürlich nicht dazu bei mich etwas normaler wirken zu lassen. Ganz im Gegenteil, dadurch wirke ich nur noch merkwürdiger.

Heute ist der Tag der Veränderung. So nenne ich ihn einfach. Denn wir - meine Mutter, mein Vater und ich - sind umgezogen. In den Sommerferien schon, aber heute ist der erste Schultag an meiner neuen Schule. Ich werde in die 10. Klasse der Städtischen Realschule gehen. Lieber hätte ich schon gearbeitet, irgendwo, wo ich nicht reden und niemanden berühren muss, aber da gibt es keine Diskussion. Meine Eltern bestehen nämlich darauf, dass ich zumindest die Mittlere Reife bestehe. Ein neues Jahr der Qualen konnte also beginnen, super. Ich habe schon viele Erfahrungen mit dem Thema Mobbing gesammelt – und das nicht nur als Zuschauer. Dieses Jahr würde ich viel früher aufstehen müssen, denn unser Haus ist eher ländlich gelegen und Busfahren kommt für mich nicht in Frage. Ich werde den ganzen Weg mit meinem Fahrrad bestreiten. Letzte Woche habe ich schon einmal eine Testfahrt gemacht. Ich brauchte ungefähr 35-40 Minuten.

Ohhh mannn, inzwischen klingelt mein Wecker schon das dritte Mal, langsam sollte ich wohl die Beine in die Hand nehmen. Ich hüpfe aus meinem Doppelbett und laufe in mein Badezimmer. Ja, das ist der Vorteil wenn man Einzelkind ist, ich habe eine eigene Etage in unserem Haus. Ein Schlafzimmer, ein Badezimmer, ein Ankleidezimmer und ein kleines Wohnzimmer. Ich springe im Eiltempo unter die Dusche, föhne danach meine Haare, putze meine Zähne und erledige das ganze Zeugs was man morgens halt so tut um sich gut zu fühlen. Im Ankleidezimmer hole ich noch schnell eine blaue Röhrenjeans und eine rote Bluse. Zurück in meinem Zimmer ziehe ich meine Klamotten an, tusche meine Wimpern notdürftig und binde meine langen blonden Haare zu einem Knoten. Nur noch meine Tasche fehlt, aber die steht unten vor der Haustüre schon bereit. Ich gehe die Treppe hinunter in die Küche. Meine Eltern sind noch nicht wach. Es ist schließlich auch erst 7 Uhr, wahrscheinlich bin ich wie immer überpünktlich am Schulgebäude, nur mit dem 'Zimmer finden' habe ich immer Probleme gehabt. Ich schultere meine Tasche, nehme zuletzt noch meinen Schlüssel und verlasse das Haus.

Draußen schwinge ich mich über mein Bike, es ist ein schwarz-goldenes Fahrrad von Bulls. Langsam radle ich los und genieße die frische Morgenluft. In der Nähe ist ein Bäcker, ich halte kurz und kaufe mir einen Latte Macchiato und ein belegtes Brötchen für später. Um 7.45 Uhr bin ich schließlich vor der Schule angekommen. Sie ist groß und hässlich. Wie ein Klotz steht sie da, vollkommen mit Graffiti besprüht. Ich öffne die Türe und betrete das Innere. Gar nicht sooo schlecht – von Innen. Gleich fallen mir die riesigen Infobretter auf, die überall verteilt stehen. Ich weis, dass ich in die Klasse 10d gehen werde. Ich suche einen Zettel, der mir irgendwie weiterhilft. Na toll! Das kann ja spaßig werden, bei solchen Sachen stelle ich mich immer an wie sonst was. Na ja, nicht wie 'sonst was' sondern eher wie eine Blindschleiche.

"Ähhhmm, tschuldigung?"

Ich höre ein räuspern hinter mir, bewege mich jedoch nicht, die Stimme hört sich irgendwie männlich an, ich glaube nicht, dass ich gemeint bin. Verzweifelt suche ich weiter.

"Sorry, bist du taub oder so?! Du stehst auf meiner Tasche."

Oh verdammt, nein oder? Langsam drehe ich mich um....und sehe eine Brust, eine Brust in einem schwarzen Shirt. Ich hebe den Kopf, definitiv männlich.

"Mhh, was? Tasche?"

Ich schaue nach unten. Tatsächlich, ich stehe auf dem Träger einer Tasche. Ich war so vertieft darin meine Klassenliste mit der Zimmernummer zu finden, dass ich alles andere um mich herum ausgeblendet habe. Und dieser Typ sieht gar nicht schlecht aus, peinlich, am liebsten würde ich jetzt im Erdboden versinken. Warum immer ich? Schnell gehe ich ein Stück zur Seite und schweige.

"Bist wohl neu hier, was? In welche Klasse gehst du denn?"

Vielleicht kann er mir ja sagen wo lang ich gehen muss. Ich spüre wie ich knallrot werde, solche Situationen hasse ich. Generell weis ich meistens nie was ich sagen soll.

"Ja. 10d."

"Du bist aber wortkarg." Er lacht.....mich ..aus?

"Ja, manchmal"

Reis dich gefälligst zusammen und frag ihn einfach, mehr wie eine blöde Antwort kann er dir ja schließlich nicht geben. Ich nehme meinen Mut zusammen.

"Könnest du mir sagen in welches Zimmer ich muss, bitte?"

Der Junge grinst, wenn er das tut bilden sich in seinen Wangen Grübchen, das sieht irgendwie niedlich aus, obwohl er sonst ziemlich gut gebaut ist, bestimmt hat er ein Sixpack. Er ist vielleicht so 1,85m groß und hat braune Augen und mittelbraune Haare.

"Nichts leichter als das Blondie, ich geh nämlich auch in die 10d."

Verführerisch zwinkert er mir zu. Wie soll ich damit bloß umgehen? Es einfach ignorieren? Was soll ich denn jetzt nur erwidern? Besonders schlagfertig bin ich nicht.

"Ja, das wäre toll, danke."

Ich senke den Kopf, oh man, was besseres ist dir nicht eingefallen? Bestimmt denkt der jetzt, dass du eine richtige Langweilerin bist. Das denkt er nicht nur, das ist auch so, giftet meine innere Stimme zurück.

"Ok. Na dann folge mir mal."

Immerhin scheint er zu verstehen, dass ich keine Lust habe zu sprechen. Mit schnellen Schritten geht er voran, sodass ich fast hinterher joggen muss um mit ihm mitzuhalten. Kein Wunder es ist mittlerweile fünf Minuten vor 8 Uhr.

"Sag mal, wie heißt du eigentlich?"

Der Junge dreht seinen Kopf zu mir um und schaut mich fragend und ein bisschen eindringlich an.

"Lucia. Und du?"

Na super, Smalltalk!

"Hallo nochmal. Die Begrüßung haben wir ja vorhin verpasst. Ich bin Noah."

Schon wieder dieses Grinsen. Er bleibt vor einer Türe stehen, anscheinend ist das unser Klassenraum. Wenigstens kenne ich jetzt schon jemanden, der gar nicht so übel wirkt. Ich bin mir nur noch nicht so sicher, was er eigentlich genau von mir erwartet oder was er von mir will. Vielleicht nerve ich ihn ja auch und er ist froh wenn er mich endlich los hat. Noah öffnet die Türe und betritt das Zimmer. Noch kann ich nicht viel ausmachen, da er mir die Sicht versperrt, dann sehe ich, dass der Raum größer ist als ich gedacht habe. Wie viele Mitschüler ich wohl habe? Es sitzen jedoch relativ wenige Schüler an ihren Plätzen, nur ungefähr 17 Stück. Ich frage mich wo der Rest bleibt. Noah geht zielsicher auf ein Grüppchen Jungs zu, die er mit Handschlag begrüßt. Ich stehe immer noch im Türrahmen. Langsam setzte ich mich in Bewegung, steuere auf eine leere Ecke zu und setze mich dort auf einen freien Platz. Wenig später gongt es. Ich hole einen Block und einen Kugelschreiber aus meiner Tasche. Als ich die Begegnung mit Noah Revue passieren lasse, fällt mir auf, dass ich ein riesengroßes Glück gehabt habe. Er hatte keinerlei Anstalten gemacht mich anzufassen. Nicht einmal zur Begrüßung. Ein normales Händeschütteln ist für mich einfach schrecklich. In manchen Situationen lässt sich das leider nicht vermeiden, aber da muss ich dann immer durch. Trotzdem weiche ich, soweit das möglich ist, jeglichem Körperkontakt aus. Die Tür geht auf und eine Frau kommt herein. Sie scheint noch recht jung zu sein, aber sie wirkt irgendwie reifer und erwachsener als meine Mitschülerinnen, die im übrigen bis zur jetzigen Minute durchgehend gekichert und getuschelt haben. Wie nervtötend! Jedenfalls muss das dann wohl meine Klassenlehrerin sein. Alle stehen auf, als die Lehrerin vor dem Pult zum stehen kommt.

"Guten Morgen 10d!"

Was eigentlich im Chor geantwortet werden sollte, wird gemurmelt. Aus verschiedenen Richtungen höre ich ein gestöhntes "Morgen, Frau Winter."

Sie lacht, redet irgendwas von, dass sie die Klasse ja so vermisst hätte in den Sommerferien... . Kann ich mir irgendwie nicht vorstellen. Nicht nachdem, welche Klassen ich schon gesehen habe. Welcher Lehrer vermisst den anstrengenden Unterricht und die frechen, respektlosen Schüler in den Ferien? Ein vorlautes Mädchen ruft einfach dazwischen und fragt was sie denn so in den Ferien gemacht habe.

"Uff. Ich war daheim und Shoppen. Ein Wochenende bin ich in Bamberg bei Bekannten gewesen. Außerdem habe ich extra für euch......" sie lässt eine Pause,
".....schöne Reportagen abgezogen, zu denen ihr gleich einen Aufsatz als Hausaufgabe schreiben dürft."

Frau Winter lacht, hebt die Kopien hoch und klimpert mit den Wimpern, dann lässt sie die Blätter durchgeben. Erneutes Gestöhne. Sie lacht schon wieder. Eine andere Schülerin quengelt:

"Frau Winter Sie sind ja so gemein. Heute ist unser erster Tag!"

Die Schülerin verzieht den Mund zu einer Schnute und schaut Frau Winter herausfordernd an. Diese lässt das Getue jedoch kalt. Sie schmunzelt, tut dann so als wäre sie geschockt und geht zu einem anderen Thema über. Nämlich zu mir. Na super.

"Wie ich sehe haben wir eine neue Mitschülerin, möchtest du kurz nach vorne kommen und dich vorstellen?"

Sie lächelt mir aufmunternd zu, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ich bin nämlich wirklich nicht begeistert davon mich vorzustellen. Schon gar nicht vor der ganzen Klasse. Obwohl, es scheinen immer noch Welche zu fehlen. Ich erhebe mich und gehe zum Pult. Na das kann ja was werden.

 

"Guten Morgen. Ähhm, ich heiße Lucia, bin 16 Jahre alt und komme aus Augsburg."

Ich blicke zu meiner neuen Lehrerin, reicht das? Was soll ich denn noch erzählen? Hilfe!?

"Willkommen in der Klasse. Ich bin sicher du wirst dich ganz schnell einleben. Machen wir es doch einfach so, wer noch eine Frage hat kann sich melden und Lucia fragen."

Das wird ja immer besser. Ich kann es gar nicht gebrauchen, dass mich 17 Schüler und Schülerinnen mit Fragen löchern. Mehrere melden sich daraufhin, klasse! Ich bemerke wie ich nervös meine eigenen Hände knete. Immerhin schreien nicht alle wild durcheinander, sondern scheinen noch einen Rest von Anstand zu besitzen. Frau Winter ruft ein wirklich sehr dünnes Mädchen auf.

"Hast du Hobbys, wenn ja welche?"

Die Frage geht ja noch, was solls. Dann halten mich halt alle für eine Streberin/Zicke.

"Ja, ich lese sehr gerne und reite auch. Generell liebe ich Tiere."

In dem Punkt bin ich halt ein richtiges Mädchen, Pferde sind einfach mein ein und alles. Mir hat es das Herz gebrochen, als ich mein geliebtes Pflegepony verlassen musste. Dass ich außerdem auch Karate beherrsche behalte ich lieber noch für mich, man weis ja nie, wann man das mal gebrauchen kann. Das Mädchen kreischt:

"Ohh ja, Pferde sind soo toll, leider habe ich kein eigenes, aber vielleicht bekomme ich eins und dann frisiere ich es. Und pflege es, kämme seine Haare und lackiere seine Füße."

Das arme Pferd, fällt mir da nur ein. Ich bezweifle, dass dieses Mädchen ein wirkliches Interesse, an diesen Tieren besitzt, geschweige denn, dass sie sich auch nur ein Stück weit mit ihnen auskennt. Bitte lieber Gott, lass dieses Mädchen kein eigenes Pferd bekommen! Mein Blick schweift zu Frau Winter, ich sehe gerade noch wie sie die Augen verdreht, ich glaube sie wird mir immer sympathischer. Es folgten noch weitere Fragen, in denen ich von verschiedenen Typen nach meiner BH-Größe und meiner Naturhaarfarbe, die wirklich blond ist, und anderen peinlichen Dingen ausgefragt werde, ich habe natürlich nicht geantwortet, was hätte ich denn auch sagen sollen? Stattdessen bin ich mal wider rot geworden und habe auf den Boden geblickt. Gott sei Dank hat Frau Winter die Fragen geschickt abgeblockt und ich durfte mich wieder auf meinen Platz setzten. Der richtige Unterricht geht jetzt wohl los. Wenigstens besser als ein Vortrag über meine Persönlichkeit, okay, das war jetzt vielleicht übertrieben ausgedrückt, aber so kam ich mir dabei vor. Ich bin eigentlich noch recht glimpflich davon gekommen, denn nach den äußerst peinlichen Fragen wurde die Inquisition abgebrochen.

Frau Winter holt weitere Unterlagen aus ihrer Handtasche heraus. Dann schreibt sie etwas an die Tafel, nach einer Zeit merke ich, dass das dann wohl der Stundenplan ist. Ich schreibe ihn auf meinen Block, wir haben zwei mal die Woche sieben Stunden, sonst immer um 13 Uhr aus. Ich bin zufrieden, da bleibt mir ja noch genügend Zeit zum lesen und lernen. Jetzt habe ich ja auch kein Pflegepony mehr. Momo war ein sehr süßes kleines Islandpony, am liebsten hätte ich ihn mitgenommen. Ich bin fast jeden Tag gleich nach der Schule zu ihm gefahren und habe meinen Nachmittag mit ihm verbracht. Ich liebe Tiere einfach, sie werden nicht zu aufdringlich und stellen keine peinlichen Fragen, auf die ich antworten muss. Sie verstehen einen und akzeptieren einen so wie man ist. Momo war der einzige richtige Freund den ich hatte. Er hat mir immer zugehört, wenn ich nach der Schule Sorgen hatte oder traurig war. Die meisten Kinder waren nicht nett zu mir gewesen und das ist noch freundlich ausgedrückt. Bis zur siebten Klasse musste ich eine Brille tragen, ich denke ich sah aus wie ein Clown damals. Meine Haare hatten, wenn man genau hingesehen hat einen leicht rötlichen Touch. Mit den Jahren ist dieser immer weniger geworden, bis zu meinem hellen Blond, das ich nun habe. Ich weiß das es selten ist, fast niemand hat diesen Blondton von Natur aus, aber ich bin nicht glücklich darüber. Lieber wäre ich so wie die anderen. Mit normalen Haaren, mittelmäßigen Noten, mit dem gleichen kindischen Humor und der gleichen liebe für Make-up und Nagellack und sonstigem Schnickschnack. Ich bin außerdem ziemlich klein, mit Turnschuhen bin ich genau 1,60 m groß. Also zusammenfassend musste ich wohl früher auf alle wie die Zwergform von Pippi Langstrumpf, aber mit Brille und überdurchschnittlichen Noten, außerdem wortkarg und in gestörter Form, gewirkt haben. Nicht besonders attraktiv, ich weis. Wer ist schon gerne mit so jemandem befreundet? Und das haben sie mich spüren lassen. Ich war unerwünscht und fühlte mich stets fehl am Platz. Damals. Früher. Einerseits hoffe ich, dass mir dieser Neuanfang hilft und ich Anschluss finde, andererseits habe ich wahnsinnige Angst, dasselbe noch einmal durchzumachen. Ich weiß einfach nicht wie ich mit solchen Situationen umgehen soll, ich bin alles andere als cool oder gelassen. Ich bin verdammt unsicher, leider merken das die anderen auch, so mache ich mich zu dem perfekten Mobbing-Opfer.

Ich bin die erste, die den Stundenplan vollständig abgeschrieben hatte. Kein Wunder, die anderen reden mit ihren Sitznachbarn über ihren Urlaub in sonstwo, anstatt sich zu konzentrieren.
Ich hebe meinen Kopf und merke wie ich von meiner Lehrerin beobachtet werde. Sie hat stechend blaue Augen, sie taxiert mich beinahe und irgendwie fühle ich mich nackt unter ihrem Blick. So hilflos. So klein. Und so unscheinbar. Ich kann ihrem Blick nicht lange standhalten und schaue fort. Gedankenverloren kritzle ich mit meinem Kulli irgendwelche Muster auf das Papier. Als ich wenig später nochmals hoch sehe sitzt Fr. Winter hinter ihrem Pult und schreibt irgendwas auf ein Blatt. Wie heißt sie eigentlich mit Vornamen? Egal. Kann ich auch im Internet nachlesen. Mir ist langweilig. Die anderen sind noch lange nicht fertig, das sehe ich, als ich über meine Schulter nach hinten schaue, sie sind genaugenommen noch nicht mal bei der Hälfe. Wie kann man nur so langsam schreiben? Eine Schnecke wäre ja schnell dagegen. Na ja.

Plötzlich klopft es. Wer das wohl ist? Alle im Zimmer, ich ausgenommen, rufen automatisch 'Herein'.

Die Türe wird geöffnet, dahinter acht Schülerinnen, die nun in den Raum stürmen und dabei eine Entschuldigung nuscheln. Anscheinend hatte irgendeine S-Bahn Verspätung. Komisch nur, dass alle acht, ihrer Aussage nach, in der gleichen Bahn gewesen sein sollten, obwohl sie alle aus verschiedenen Richtungen kommen. Unlogisch! Das ist einfach nicht einleuchtend. Die Ausrede ist wirklich nicht gerade die Beste. Das bemerkte wohl auch Frau Winter, die daraufhin trocken feststellte:

"Immerhin ist das euer erstes Mal, an dem ihr in diesem Jahr zu spät kommt!"

Hallo? Es war ja schließlich auch der erste Tag des Schuljahres, an dem dies möglich war! Diese Art von Humor ist einfach köstlich. Ein Grinsen kann ich mir einfach nicht verkneifen, am liebsten hätte ich laut losgelacht, aber dann hätte ich mich sehr wahrscheinlich sehr unbeliebt gemacht. Das kann ich einfach nicht riskieren. Aber Frau Winter erhielt auf meiner Skala der Liste der „coolsten Lehrer ever" immer mehr Pluspunkte.

Die Anderen sind nun auch mit dem Abschreiben fertig. Frau Winter gibt eine Liste durch, auf der alle Lehrer, die wir in diesem Jahr haben werden, notiert sind. Natürlich ist mir jeder Name fremd. Ganz unten steht Winter. Simara Winter. Schöner Name! Ich habe ihn noch nie gehört. Das mit dem Internet erübrigt sich jetzt wohl. Inzwischen ist es fast 10.30 Uhr. Wie schnell die Zeit vergangen ist. Jedenfalls entlässt uns Simara, ich nenne sie jetzt einfach mal so, mit der Bitte, wir sollen doch morgen alle pünktlich zum Unterricht erscheinen.

Der Weg nach Hause ist ziemlich langatmig. Als ich endlich daheim ankomme bin ich geschafft, obwohl es erst 11 Uhr ist. Ich habe Hunger und stelle fest, dass ich das gekaufte Brötchen nicht gegessen habe. In der Küche schenke ich mir ein Glas Wasser ein und esse es. Lecker. Jetzt weis ich schon wo ich in Zukunft meine Vesper kaufe. Meine Eltern sind nicht daheim, eigentlich nie. Früh schlafen sie lange und kommen abends immer erst spät nach Hause. Was soll ich nur mit dem restlichen Tag anfangen? Ich gehe in mein Zimmer und ziehe mich um: eine Jogginghose und ein Shirt. Ich gehe laufen. Ein bisschen zusätzlicher Sport kann ja nicht schaden. Außerdem sehe ich so noch mehr von der Kleinstadt.

Nach einer Weile merke ich, dass die Umgebung immer ländlicher wird und ein paar Meter vor mir ist ein großer Stall. Bitte lass dort Pferde sein! Mein Leben wäre gerettet, wenn hier ein Reitstall ist. Ich biege an der Straße ab und laufe auf das Gebäude zu. Hufgeklapper. Wiehern. Ich bin in meiner Welt. Der Geruch schlägt mir entgegen. Tief atme ich ein. Ich würde töten für diesen einmaligen Geruch.

Jetzt vernehme ich Geschrei, ein Pferd trabt auf mich zu. Es ist wunderschön. Was anderes fällt mir dazu nicht ein.

"Gitanes, bleib gefälligst stehen! Verdammter Mist, jetzt kann ich den Gaul wieder einfangen!"

Ich schnalze mit der Zunge, der 'Gaul' (dieser Begriff ist einfach unzutreffend, ich habe selten ein so schönes Pferd gesehen) wird auf mich aufmerksam, spitzt die Ohren, wird immer langsamer und bleibt schließlich vor mir stehen. Gitanes ist ein richtiger Prachtkerl, er muss einfach ein Hengst sein. Glänzend schwarzes Fell, ausdrucksstarke Augen, wellige Mähne.
Außerdem trägt er ein ledernes Halfter, vermutlich ist er entwischt, was auch das hysterische Geschrei erklären würde.

Ich strecke meine Hand aus und lasse ihn schnuppern. Dann schleckt er mir die Hand ab, ich muss lachen. Wohl eher ein 'Köter' als ein 'Gaul'. Lucia, diese Witze sind einfach nicht lustig. Innerlich schüttele ich meinen Kopf und grinse. Gitanes sieht sehr temperamentvoll aus, wirkt aber zugleich auch niedlich. Ich muss ihn einfach streicheln. Sein schwarzes Fell schimmert in der Sonne und fühlt sich angenehm warm und weich an. Ich hätte Stunden so weitermachen können.

"Da steckt er ja, der Ausreißer!"

Ein Mädchen in meinem Alter kommt auf uns zumarschiert, eines von der 'Ich bin die Schönste im ganzen Land' Sorte: Lange geflochtene Haare, perfekt geschminktes Gesicht, angezogen als würde sie auf eine Modenschau gehen und natürlich einwandfrei manikürte Fingernägel. Ach ja, die hohe Stimmlage nicht zu vergessen.

"Danke, dass du Gitanes aufgehalten hast, dieses Vieh haut ständig ab, wenn man nicht aufpasst. Es taugt sowieso nichts. Nicht mal gescheit galoppieren kann er.... . Jedenfalls danke. Hey, bist du die neue Stallhilfe? Dann würde es dir ja bestimmt nichts ausmachen ihn für mich fertigzumachen, in einer halben Stunde bin ich wieder da."

Kaum hatte sie geendet setzte sie ihren Weg fort ohne dass ich etwas hätte erwidern können. Ziemlich unverschämt, ein Wunder, dass überhaupt das Wort 'danke' in ihrem Vokabular vorkommt, allerdings hat es sich bei ihr auch nicht nach einem ernstgemeinten Wort angehört, sondern eher nach einer reinen Floskel, die man an das Ende eines Satzes hinzufügt, weil man das so tut.

Ich führe Gitanes am Halfter in die Richtung aus der mir das Mädchen entgegengekommen ist und sehe eine Art Putzplatz, der aber sehr verlassen wirkt. Als ich dort ankomme sind an bestimmten Anbinderingen schon Stricke befestigt, sodass ich sie nur noch am Halfter anbringen muss. Dann schaue ich mich nach einer Sattelkammer um. Hier muss es schließlich irgendwas brauchbares zum Putzen geben. Nach kurzem Herumgeirre habe ich den richtigen Raum gefunden und dort befindet sich sogar ein Schrank auf dem 'Gitanes' steht. Ich öffne ihn – Gott sei dank ist er nicht abgeschlossen – hole einen silbernen Putzkasten heraus und schleppe diesen zurück zu 'meinem' Pferd.
Gitanes ist super lieb, es scheint als habe er keinerlei Fehlverhalten. Manchmal knabbert er an meiner Hosentasche herum und sabbert mich voll.

Exakt eine halbe Stunde später steht Gitanes zum Reiten bereit auf dem Putzplatz. Mit dunkelblauen Bandagen, Hufglocken, dazu passender Schabracke und Fliegenhaube. Gesattelt und Getrenst. Es ist ein Wunder, dass ich das mit der Zeit so gut hinbekommen habe, obwohl ich mich im Stall nicht auskenne. Aber in seinem Schrank habe ich alles Notwendige gefunden und hoffe die unsympathische Besitzerin findet nichts zum Meckern.
Fünf Minuten später kommt sie auch schon an stolziert betrachtet ihr Pferd und meint:

"Die Dreieckszügel fehlen und warum hast du diese scheußliche Decke bitteschön genommen, ist dir nicht aufgefallen, dass die pinke Satteldecke nicht hundertmal besser zu meinem heutigen Outfit gepasst hätte?"

Als ob ich mir bis ins kleinste Detail gemerkt hätte welches Outfit sie angehabt hatte und als ob ich nicht andere Probleme hätte, als die Schabracke, die Fliegenhaube und die Bandagen farblich auf sie abzustimmen. Innerlich stöhne ich. Meine Güte. Und woher soll ich wissen, dass sie noch mit Dreieckszügeln reitet? Nirgendwoher! Das hätte sie schon früher sagen müssen.

Nochmals fünf Minuten später, als alles zufriedenstellend erledigt ist - die dunkelblaue Schabracke habe ich nicht ausgetauscht, damit musste sich dieses Modepüppchen abfinden – durfte ich Gitanes zum Dressurviereck führen. Welch eine Ehre!

"Also eigentlich lasse ich mein Pferd für gewöhnlich warm reiten.."

Sie betrachtet mich mit gerunzelter Stirn.

"....aber anscheinend bist du dafür nicht passend bekleidet!"

Ihr Blick wird skeptischer.

"Bist du überhaupt eine professionelle Arbeitskraft? Oder nur so eine 0815 Tussi?"

Ich frage mich, wer denn hier die Tussi ist. Egal. Ich sage nichts. Sie wird schon noch merken, dass ich hier gar nicht angestellt bin. Sie betrachtet meine Jogginghose, die nun von Schlammspritzern bedeckt ist, und mein Top, das einige Sabberflecken aufweist.

"Du hast gar kein Gefühl für Mode. Wenn ich das so sagen darf."

Ihre etwas zu hohe Stimme, die übrigens echt anstrengend zu hören ist, quasselt ohne Punkt und Komma. Ich habe schon Kopfschmerzen, reibe mir meine Schläfen und brumme neutral vor mich hin.

Was ist bitte an Jogginghosen falsch wenn man Sport macht? Oder erwartet sie, dass ich in einer Designerhose in einem Reitstall antanze? Vermutlich ja. Verrückt. Nichts gegen gut gekleidete Personen und nichts gegen Mode und Trend und Schminke und so ein Zeug. Aber übertreiben muss man ja auch nicht.

Beinahe hätte ich gelacht. Die ganze Situation ist einfach zu verwirrend. Das Mädchen sitzt auf Gitanes auf und reitet los. Ich drehe mich um und trete meinen Rückweg an. Vielleicht schaue ich irgendwann in den nächsten Tagen mal vorbei. Gitanes tut mir leid, aber wenigstens scheint diese Tussi etwas von Pferden zu verstehen, wenn sie auch die Schwerpunkte ein wenig ungewöhnlich setzt. Die Farbe von Bandagen etc. ist doch eher nebensächlich. Ich finde es zwar auch schön, wenn alles farblich harmoniert, würde deswegen aber längst keinen Aufstand anzetteln. Gerne wäre ich Gitanes geritten, aber leider bin ich wirklich nicht ganz passend angezogen.

Auf dem Weg nach hause beginnt es gewaltig zu regnen, innerhalb kürzester Zeit bin ich völlig durchnässt. Vor der Haustüre angekommen wringe ich meine Haare aus und entledige mich meiner Schuhe mitsamt der Socken. Dann klingel ich, habe nämlich keinen Schlüssel mit genommen, meine Mutter ist vielleicht schon daheim. Glücklicherweise wird mir die Tür geöffnet, sofort renne ich ins Bad und nehme eine heiße Dusche. Kurz darauf sitze ich mit einer Tasse Kakao – ja, ich mag Kaffee nicht so besonders - und meiner Mutter am Esstisch, während ich ihr von meinem ersten Schultag berichte. Natürlich lasse ich einiges aus – wer erzählt seinen Eltern schon alles haargenau? - Fasse lediglich die wichtigsten Punkte zusammen und gebe ihr den Stundenplan.

Müde liege ich im Bett, es ist 9 Uhr abends, ich weiß: streberhaft früh.
Ich brauche immer eine gewisse Zeit um einschlafen zu können. Außerdem muss es bei mir stockdunkel sein, damit ich überhaupt ein Auge zubekomme. Ich weiß, das hört sich jetzt vermutlich seltsam an, aber den ganzen Tag über sammle ich in Tagträumen Geschichten mit Handlungen und Personen, von denen ich beim Einschlafen träume. Wenn ich aber nun den Tag über nichts passendes erfunden habe, muss ich dies abends nachholen, damit ich einschlafen kann. Das dauert seine Zeit. So entstehen dann die wildesten Stories mit den verrücktesten Charakteren, in deren Welten ich eintauche oder entfliehe.

In dieser Nacht träume ich das erste Mal von unheimlich blauen Gletschern, die eine Eislandschaft darstellen, in der ich mich verliere. Wenig später verkleinern sie sich immer weiter zu zwei ovalen Kreisen, bis ich erkennen kann, dass es sich hier um die schönsten Augen handelt, die ich je gesehen habe. Ich starre ihnen entgegen, bewusst, dass mein Grün dieser Farbe nichts entgegensetzten kann. Schließlich ertrinke ich in diesen Gletscheraugen, es ist aber kein qualvolles Ertrinken, eher friedlich, ja sogar geborgen fühlt es sich an. Wie eine Umarmung, die bis in den Tod reicht.
Alles um mich herum ist plötzlich Blau, ich rieche frische Winterluft. Sehe Schnee und Wasser. Werde vom Weiß geblendet, doch das ist nicht schlimm. Ich halte mich an diesen wundervollen Augen fest.
Ich spüre die Kälte, seltsamerweise ist mir trotzdem warm, fast heiß. Ich scheine zu glühen, verbrenne schier. Nur dieses Blau kann mein Inneres Feuer löschen. Ich werfe mich in den Schnee, merke wie er unter mir schmilzt, doch diese unerträgliche Hitze ist nun fort. Endlich. Doch mit ihr sind auch die Augen verschwunden.
Erst ist es angenehm von dieser inneren Wärme befreit zu sein, doch nach einigen Momenten beginne ich zu frieren, zittere schließlich am ganzen Körper. Fühle mich allein und zurückgelassen.
Langsam und mit steifen Gliedern stehe ich auf. Blicke mich um, in jede Richtung nur weißer Schnee. Ich stehe im Nichts, im Weiß. Der Himmel unterscheidet sich kaum von meinem Untergrund. Angst breitet sich in mir aus. Ohne diese blauen Gletscher kommt mir alles so verlassen vor. Ich beginne zu laufen, renne so schnell ich kann. Doch alles ist weiß, nichts ändert sich.
Bewege ich mich überhaupt vorwärts? Ich habe keine Orientierung, mir kommt es so vor als würde ich immer auf der gleichen Stelle bleiben. Die Luft ist nicht mehr frisch, sondern erstickend. Ich beginne zu verzweifeln, sehe keinen Ausweg.
Die ersten Tränen rollen über meine Wangen. Ich spüre meine Füße und Hände nicht mehr. Die Kälte frisst sich durch mich hindurch. Ich habe gar kein Gefühl mehr. Erschöpft lasse ich mich in den Schnee fallen und beginne zu schreien.....


Pünktlich zur ersten Stunde – Englisch bei einer gewissen Fr. Schmidt – sitze ich auf meinem Platz. Ich muss wirklich schrecklich aussehen, habe tiefe Augenringe und von meinen Haaren will ich gar nicht erst sprechen. Viel schlimmer sind jedoch die dröhnenden Kopfschmerzen die ich verspüre. Ich bin um 4 Uhr morgens aufgewacht. In meinem Zimmer ist es eiskalt gewesen, dann habe ich bemerkt, dass mein Fenster die ganze Nacht offen gestanden hat. So lag ich bibbernd im Bett - die Decke befand sich am anderen Ende - und konnte nicht mehr einschlafen.
Passend zu meiner Laune trage ich einen bequemen Hoodie in XL, meine hellblaue Lieblingsjeans und Turnschuhe.
Zu meinem erstaunen scheint die ganze Klasse anwesend zu sein, als eine Minute später Fr. Schmidt das Zimmer betritt. Sie ist recht groß - obwohl im Verhältnis zu mir jeder relativ groß ausfällt - und sie ist schlank, hat dunkelblonde Haare und braune Augen. Sie ist, genau wie Fr. Winter sehr jung, strahlt aber im Gegensatz zu ihr eine kindliche Naivität aus. Schon jetzt stelle ich fest, dass sie keine Respektsperson darstellt.
Als ich zum ersten Mal ihre Stimme vernehme - ein leises, dünnes Piepsen – bestätigt sich meine Vermutung. Alle lachen los. Mir tut sie einfach nur leid.

"Guten Morgen 10d. Ich bin eure neue Englischlehrerin. Moment, ich schreibe euch mal meinen Namen an die Tafel, damit ihr in euch besser merken könnt."

Ein gekünsteltes Kichern ihrerseits folgt. Oh Mann! Sind wir hier im Kindergarten? Jedenfalls dreht sie sich um und schreibt in einer krakeligen Schrift 'Diana Schmidt' an die Tafel.

Da die Klasse immer noch lacht und tuschelt - ich vermute sie lästern über Fr. Schmidt, oder über ihre Stimme – wird unsere Lehrerin immer nervöser, man hört förmlich, wie es in ihrem Kopf rattert.

"Was ist denn jetzt so lustig?"

Allgemeine Antwort: "Nichts."

"Aber warum lacht ihr denn dann? Ist das nicht ein bisschen kindisch für eine 10. Klasse? Das will ich jetzt schon gerne wissen!"

Bei diesen Sätzen muss sogar ich – trotz Mitleid – beinahe lachen. Ich finde, sie hört sich in bisschen so an, wie ein Kind, dem seine Süßigkeiten weggenommen wurden. Wieso ist diese Frau nur Lehrerin geworden? Und das frage ich mich eher in ihrem Interesse, aber mal ehrlich, sie hat sich damit echt keinen Gefallen getan. Na ja, für ihre Tonlage kann sie ja nichts.

Bis jetzt merkt man nicht, dass es sich eigentlich um einen Englischunterricht handelt.
Fr. Schmidt teilt Blätter aus: 'Revision: The Tenses'. Auf dem Arbeitsblatt ist ein scheinbar endlos langer Lückentext, darüber steht: 'Use the correct form of the words in brackets and find words of your own to replace the question marks.'
Jeder beginnt zu schreiben und zu grübeln. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie schon alleine zehn Minuten bräuchten um die Aufgabenstellung zu verstehen.
In Sprachen war ich schon immer besser als in Mathe. Ich stand in der Grundschule sogar unter verdacht unter einer Mathe-schwäche zu leiden – ich habe beim Addieren und Subtrahieren immer eine Stichliste gemacht, das war dann ungefähr so: wenn die Zahl zum Beispiel 22 war, habe ich 22 Striche auf ein Papier gemalt, wenn man dann 13 abziehen sollte, habe ich von meinen 22 Strichen 13 durchgestrichen und dann habe ich den Rest der Striche, die nicht durchgestrichen waren noch einmal gezählt und so kam ich auf mein Ergebnis, ziemlich langatmig, vor allem weil ich das auch mit noch höheren Zahlen so gemacht habe und dann mein ganzes Blatt voller Striche war –
Nach fünf Minuten bin ich bereits fertig, was Fr. Schmidt leider sofort bemerkt.

"Ach ja...schön, dass schon jemand fertig ist. Wärst du so nett und würdest mir einen Sitzplan anfertigen, während deine Mitschüler noch schreiben?"

Sehr toll, ich kenne selbst fast keinen Namen. So etwas wie eine Vorstellungsrunde haben wir schließlich nicht gemacht. Nur die Inquisition. Bei dem Gedanken werde ich schon wieder rot. Wie peinlich, peinlich, peinlich!

"Pah, die ist doch selbst neu, die Kleine! Wie soll die dann bitte einen Plan schreiben!", ruft ein Kerl dazwischen.

"Nicht in diesem Ton! Du solltest dich lieber mit deinem Blatt beschäftigen, damit du fertig wirst, dann kannst du ja den Sitzplan machen."

"Hehe, nur über meine Leiche, dann werde ich lieber nie mit diesem Scheißblatt fertig!"

Schulterzuckend lümmelt sich der Junge wieder auf seinen Stuhl und schaut auf seinen Tisch.

"Wie heißt du? Denn das kann ich so nicht auf mir beruhen lassen....so geht das einfach nicht. Sag mal, hat dir niemand Manieren beigebracht?"

Schweigen.

"Ich rede mit dir!"

Schweigen.

Der Junge blickt nicht mal mehr auf, reagiert einfach nicht mehr, was schlimmer ist als jede Beleidigung.

Ich glaube jeder in diesem Raum merkt, wie hilflos Fr. Schmidt ist. Niemand sagt etwas, alle schauen betreten auf ihre Unterlagen. Schließlich setzt sich die Englischlehrerin auf das Pult und wartet bis die Stunde vorbei ist.

Kaum ist die Stunde vorbei stürmen alle aus unserem Zimmer in Richtung Chemiesaal - wo auch immer dieser ist - ich bezweifle, dass sie die Anschrift: 'HA: vocabulary p.128' überhaupt gesehen haben. Ich verlasse als Letzte das Zimmer und lächle Fr. Schmidt freundlich zu. Sie erwidert diese Geste etwas gequält. Lehrer haben es schon schwer.

Der Rest des Tages vergeht mehr oder weniger ereignislos und ehe ich mich versehe sitze ich auch schon an meinem Schreibtisch in meinem Zimmer über der Deutschhausaufgabe von gestern, dem TGA. Die Inhaltszusammenfassung geht ja noch, aber Sprachanalyse, Charakterisierung und Absicht des Autors sind wirklich nicht meine Stärken. Drei Stunden später, als ich endlich fertig bin (die Sprachanalyse ist lückenhaft....ich habe einfach keine rhetorischen Mittel mehr gefunden) gehe ich runter in die Küche und gönne mir ein paar Kekse, die ich mir in eine Schale schütte und mit nach oben nehme.
Vokabeln für morgen lernen steht auf dem Programm.


 

"Lucia, würdest du deine Inhaltsangabe einmal vorlesen?"

Meine Hoffnungen verfliegen mit einem Mal. Wozu ist Gott eigentlich gut? Ich habe die letzten fünf Minuten damit verbracht zu beten, dass ich meinen TGA nicht laut vorlesen muss. Hat anscheinend nichts gebracht. Innerlich verfluche ich Gott, aber weil sich kurz darauf ein schlechtes Gewissen regt, entschuldige ich mich umgehend bei ihm. Man weiß ja nie, wann man mal auf ihn angewiesen ist. Meine Gedanken strotzen nur so vor Ironie. Ein bisschen ernst in meinem Leben würde ja auch nicht schaden. Obwohl, meine jetzige Situation ist ja ziemlich, ziemlich ernst.

"Ähm, okay. Sie ist aber nicht so gut geworden."
Lieber warne ich meine Lehrerin im Voraus, als dass sie an einem Herzinfarkt stirbt, den ich auch noch ausgelöst hätte.

Ich beginne zu lesen.
Fr. Winter setzt sich vor mich, seitlich auf meinen Tisch und hört mir zu. Irgendwie fühlt es sich so an, als ob sie nicht nur meinen Worten lauscht, sondern mir, wirklich mir, zuhört.....fast sogar in mich hinein hört. Schwer zu beschreiben. Aber, obwohl es nur eine Inhaltszusammenfassung ist, fühle ich mich das erste Mal in meinem Leben verstanden. Absurd! Doch am Ende bin ich schneller fertig als mir lieb ist und habe es auch noch genossen. Meine Mitschüler konnte ich komplett ausblenden. Nur sie und ich waren da.

"Sehr, sehr gut Lucia! Da hättest du mich echt nicht vorwarnen brauchen."

Fr. Winter lächelt schief.

"Ich würde sogar sagen besser als die Musterlösung in eurem Buch! Dürfte ich deinen Text vielleicht in der Pause kopieren gehen?"

Das hätte ich echt nicht erwartet. Aber wahrscheinlich sagt sie das auch nur, weil alle anderen sooooo schlecht sind, dass mein 'schlecht' schon wieder sehr gut ist.

"Echt?", frage ich. Ungläubig blicke ich meine Lehrerin an.

"Ja. Wenn ich so etwas sage, kannst du mir das schon glauben, Lucia."

Sie spricht 'Lucia' anders aus als alle Anderen. Viel melodischer. Aus ihrem Mund hört es sich wie Musik an.

Ihre Augen treffen meine. Ich erstarre. Dieses Blau kommt mir so bekannt vor. Alles in mir beginnt zu kribbeln. Mein Traum! Das sind die Augen aus meinem Traum. Und genau wie in ihm wunderschön.
Nach ein paar Sekunden schweigen hauche ich "Okay. Danke!"

"Obwohl es nichts zu Danken gibt: gern geschehen. Was ist nun?"

Frau Winter schmunzelt.

"Wie 'was ist nun'?"

Ich komme mir unglaublich blöd vor. Frau Winters Schmunzeln wird ein belustigtes Grinsen - sofern ich mir das nicht einbilde.

"Na, ob ich deinen Aufsatz kopieren darf."

"Ja klar, öhm.. sicher. Ich meine, natürlich!"

Ich räuspere mich und schlage die Augen nieder. Wieso zum Teufel bringe ich mich immer wieder in solche mega peinlichen Situationen?

"Schön. Du kannst mich ja dann begleiten. So siehst du dann noch ein bisschen vom Schulhaus."

Sie wendet sich ab und endlich traue ich mich den Blick wieder zu heben.

Mehrere Wochen verstreichen, doch kein einziger Tag vergeht, ohne dass ich an die blauen Augen denke, an Simara Winters Augen. Es hat mich einfach erwischt. Langsam beginne ich mir ernsthafte Sorgen zu machen, so etwas ist mir noch nie passiert und ich habe keine Ahnung wie ich mit meinen Gefühlen umgehen soll.

Erst habe ich es gar nicht wahrgenommen, wollte es auch nicht wahrhaben. Dachte es ist Zufall, dachte es bedeutet nichts. Aber ich kann einfach nicht aufhören an meine Klassenlehrerin zu denken und ich weiß mir nicht zu helfen. Ist das normal? Reicht es nicht schon aus, dass ich wegen meiner Berührungsangst als Psycho abgestempelt werde und dass ich furchtbar unbeliebt bin und als Streberin gelte?

Jeden Tag werde ich nachdenklicher, ziehe mich zurück.
Wenn ich Frau Winter in der Schule sehe beginnt es in mir zu flattern und mein Herz klopft so laut, dass ich fast befürchte sie könnte es hören. Wenn sie mir dann zulächelt und mir einen 'Guten Morgen' wünscht, verstärkt sich alles noch. Wie bekloppt grinse ich dann zurück. Was muss sie nur von mir denken?
Und wenn ich sie im Unterricht habe und ganze 45 Minuten in ihre Augen blicke, fühle ich mich danach wie betäubt, wie gut betäubt. Ich liebe den Unterricht bei ihr, dass sind die schönsten Minuten des Tages für mich. Doch ich sitze wie eine graue Maus auf meinem Platz, wie ein unsichtbarer Beobachter. Dadurch, dass ich mich nie melde oder sonst etwas zu sagen habe, werde ich leicht vergessen, gar nicht mehr wahrgenommen. Und wenn ich sehe, dass Fr. Winter mit ein paar Quatschköpfen aus meiner neuen Klasse scherzt und lacht, fühle ich mich schlecht. Will an deren ihrer Stelle sein, will, dass Frau Winter nur mit mir lacht und scherzt.
Ist das etwa Eifersucht? Neid? Ich bin völlig übergeschnappt. Seit überschlagenen 2 Monaten bin ich nun an dieser Schule, und dann passiert mir das? Das, dass ich mich in eine Lehrerin verliebt habe? Verliebt? Trifft das zu?
Ich muss gestehen, dass ich im Internet schon Tests gemacht habe: 'Bist du verliebt?'. Es kam nie etwas Eindeutiges heraus.

Ich bin zu dem Schluss gekommen meine Gefühle so gut wie möglich zu verdrängen, klein zu halten. Das fällt mir nur so schrecklich schwer.
Jeden Morgen denke ich meine Gefühle für diese Frau könnten nicht stärker sein. Mein Inneres fühlt sich jedes mal, wenn ich ihr begegne an, als ob ich platzen würde vor Emotionen. Doch jeden Morgen werde ich eines bessern belehrt. Jeden Morgen steigern sich die Gefühle noch. Wenn sich unsere Blicke treffen fühle ich mich einfach großartig, schwebend, sorgenlos.

Doch genauso keimt mit der Zeit eine unendliche Traurigkeit auf. Ich beginne mir die Frage zu stellen: 'Was bin ich für sie?'

Nichts. Rein gar nichts. Während sie mir mit jedem Moment ein bisschen mehr ans Herz wächst, stelle ich für sie lediglich eine mickrige Schülerin dar. Eine von Hunderten, nicht mehr und nicht weniger.

Ich bin relativ realistisch eingestellt und weiß, dass es keine Chance für uns gibt. Das sie wahrscheinlich gar kein 'uns' wahrnimmt. Ich bin unbedeutend für sie. Ein Nichts. Ihr Job. Sie hat vermutlich ein vollkommenes, privates Leben außerhalb der Schule, von dem ich keine Ahnung habe. Vielleicht sogar schon einen Ehemann oder zumindest einen Freund. Dieser Gedanke schmerzt mich. Aber ich gönne ihr Glück und Erfüllung.
Es ist so schwer. Ich liebe einfach alles an ihr. Ihre schweren, dunklen Locken, die Augen, der Mund, einfach alles an ihr scheint perfekt zu sein. Und was ich am meisten schätze ist ihr Charakter, ihre leichte, beschwingte Art. Ihre Schlagfertigkeit, wenn sie Schüler maßregeln muss. Oder ihr Lachen, wenn sie völlig verzweifelt ist, weil niemand in der Klasse ihre Fragen beantworten kann.
Andererseits sind da diese Hoffnungen. In manchen Situationen meine ich zu glauben, dass auch sie diese Verbundenheit spürt. Wenn sie mir heimlich zuzwinkert, weil niemand in der Klasse -außer mir- ihre ironischen Sprüche kapiert, und ihre Augen dann vor Schalk zu funkeln beginnen.

Dieser stetige innerliche Konflikt droht mich zu zerreißen. Ich werde fast depressiv. Bin oft ohne Grund gereizt und habe heftige Heulkrämpfe.
Am Ende beschließe ich, dass es am besten ist, die gemeinsame Zeit so gut wie möglich zu genießen. Mir nichts anmerken zu lassen und einfach so weiter zu machen wie bisher.

Ich sitze wie immer brav auf meinem Platz und verbringe die Zeit damit Frau Winter anzuhimmeln. Eigentlich bin ich heute sehr schlecht gelaunt, aber die Deutschstunde reißt das eindeutig heraus. Simara Winter reißt das heraus, Lucia! Verträumt starre ich vor mich hin. Als ich von meiner Lehrerin aufgerufen werde. Mensch, hätte ich doch lieber aufgepasst, wie peinlich und das auch noch bei Fr. Winter. Da ich überhaupt keinen Plan habe wo wir uns gerade befinden muss ich fragen:

"Was war die Frage, bitte?"

Auf Frau Winters Gesicht erscheint wieder ihr so typisches Grinsen. Oh oh, was habe ich nur wieder falsch gemacht?

"Das war keine Frage, Lucia. Ich wollte nur testen, ob du überhaupt noch ansprechbar bist, so viel wie du aus dem Fenster guckst und vor dich hin starrst."

Haha, sehr witzig Fr. Winter.
Aber das tut weh. Ich weiß, dass das von ihr nicht böse gemeint ist, sondern nur ein Scherz sein soll, aber trotzdem schäme ich mich. Fühle mich ertappt. Schlecht.

Ich murmle: "Tschuldigung." und traue mich gar nicht mehr hoch zu schauen.

Ich merke am Rande, dass Simara ihren Unterricht fortsetzt, kann mich aber nicht mehr konzentrieren. Die Gefühle werden zu stark. Das ist albern, ich weiß. Aber ich hätte aufpassen müssen. Ich fühle mich, als hätte ich Simara enttäuscht. Obwohl das Schwachsinn ist.
Es ist ein Drängen, ein Strom, der mit jeder Sekunde stärker wird bis er explodiert. Es ist kein gutes Gefühl, sondern ein erdrückendes, verzweifeltes. Ich schlucke hart. Versuche es zu unterdrücken, es zu beherrschen. Doch wie an so vielen anderen Tagen beherrscht es stattdessen mich. Wie ein wildes Tier tobt es in mir. Ich darf nicht lockerlassen, nicht jetzt. Muss kämpfen. Wenn ich aufgebe wird es mich besiegen. Das darf ich einfach nicht zulassen. Ich weiß was dann passieren wird. Ich weiß es wird mich überschwemmen. Mein Inneres würde ein weiteres Mal zerbrechen. Und das alles ausgelöst, allein von dieser Frage, von diesem Aufruf. Von dieser einen Person. Nein, ich muss mich korrigieren, nicht einfach eine Person, von der Person. Der Einen. Der mit den Gletscheraugen.

Die Emotionen werden zu stark, das Tier bricht aus. Meine Sicht verschwimmt. Als die erste Träne auf meinen Tisch tropft springe ich auf und verlasse fluchtartig den Klassenraum. Ich renne und renne und renne. Ziellos. In einem Gebäude, in dem ich mich nicht auskenne. Die Tränen strömen weiter über mein Gesicht. Ich erblicke ein Toilettenschild und stürme geradewegs darauf zu. Mein Zufluchtsort.

Ich lasse kaltes Wasser über mein Gesicht laufen, das von meinem Zusammenbruch ganz rot und angeschwollen ist. Hässlich! Jetzt im Nachhinein komme ich mir richtig dämlich vor. Welchen Grund hatte ich schon, so heftig zu reagieren? Keinen. Mir wird klar, dass mich allein Simaras Aufruf so dermaßen aus der Fassung gebracht hat. Na ja, nicht direkt der Aufruf, sondern eher, dass ich die Antwort nicht gewusst habe. Wie soll ich ihr nur je wieder unter die Augen treten? Oder gar meiner Klasse? Sie werden mich alle für eine Heulsuse halten. Ich weiß nicht ob ich zurück gehen soll, allerdings werden ich den Weg vermutlich eh nicht finden. Also kauere ich mich in die hinterste Ecke einer Kabine und warte einfach ab. Wahrscheinlich das dümmste was man nur tun kann. Doch ich traue mich nicht zurück, zu groß ist die Scham. Ich würde diese Blicke nicht ertragen.
In genau fünf Minuten wird es zur Pause läuten. Vielleicht kann ich dann unbemerkt die Toilette verlassen und unser Zimmer suchen.

Die Türe geht plötzlich auf, ich halte die Luft an und zwänge mich so weit es geht in die Ecke. Ich komme mir selbst wie eine Grundschülerin vor, total unreif und kindlich ist mein Verhalten. Die Luft wird langsam knapp, ich versuche so leiste wie möglich Luft zu holen und so flach wie möglich zu atmen. Ich vernehme Schritte. Dann ein Seufzen.

"Lucia? Bist du das?"

Oh mein Gott! Ich werde in einen Schockzustand versetzt. Was will denn Frau Winter hier? Woher weiß sie wo ich bin? Warum ist sie gekommen? Kann ihr das nicht total egal sein ob eine ihrer Schülerinnen geweint hat?
Ich antworte nicht. Kann in solchen Situationen einfach nicht sprechen, abgesehen davon will ich mich mit meiner weinerlichen Stimme nicht noch mehr blamieren.

"Hör zu Lucia. Ich weiß nicht warum du so außer dir warst... und falls du dir sorgen um deine Mitarbeitsnote machst...."

Die ist mir doch scheiß egal!

"...dann will ich dir nur sagen, dass du dir deswegen keine Gedanken machen brauchst. Und das vorhin war nur ein Scherz, ich hoffe das weißt du und wenn ich dich damit verletzt habe, dann tut es mir leid!"

Noch immer traue ich mich nicht etwas zu erwidern. Ich verstehe nicht, warum sie sich wegen mir so eine Mühe macht. Ihre Entschuldigung berührt mich. Eine innere Stimme flüstert von irgendwoher 'Du bist ihr wichtig Lucia! Wichtiger als andere!'
In mir beginnt es zu jubeln und mein Insektenvolk, das sich, seit ich Simara kenne, in meinem Bauch angesiedelt hat, beginnt zu tanzen.
Ich finde es richtig süß von ihr, dass sie das tut. Weswegen auch immer....
Mein Herz ist zugeschüttet mit Liebe und in meinem Inneren tobt ein Chaos an Gefühlen.

"Offensichtlich möchtest du nicht mit mir reden....."

Ist das etwa Enttäuschung in ihrer Stimme? Oh nein! Ich wollte nicht, dass sie glaubt ich würde nicht mit ihr reden wollen, denn dem ist nicht so, ich weiß nur nicht was ich sagen soll. Schon wieder keimt ein ungutes Gefühl in mir auf, ich will Fr. Winter einfach nicht enttäuschen.

"Ich wollte nur, wie gesagt, dass du das verstehst. Und mache dir bitte nicht immer so viele Gedanken. Du bist gut so wie du bist."

Jetzt bin ich richtig baff. So etwas gefühlvolles hat noch nie jemand (meine Eltern ausgeschlossen) zu mir gesagt. Und ich spüre, dass sie es ernst meint.
Sekunden verstreichen, dann höre ich erneut Schritte und die Türe, die zufällt.
Wenig später gongt es. Ich stehe auf, fühle mich benebelt und verlasse schließlich ebenfalls die Toilette.

Erschöpft komme ich zu Hause an und lege meine Tasche auf dem Küchentisch ab. Ich will mir gerade ein Glas Wasser einschenken, als plötzlich meine Eltern in die Küche springen und ein 'Überraschung' rufen. Ich bin völlig sprachlos. Was sollte das denn? Sie halten ein riesiges Bild hoch. Ich erkenne ein schwarzes, schönes Pferd. Immer mehr Fragezeichen bilden sich in meinem Gehirn. Habe ich irgendetwas verpasst?

"Man habt ihr mich erschreckt, was mach ihr hier?"
Meine Eltern blicken sich glücklich an.

"Dann ist uns also die Überraschung gelungen!", freut sich meine Mutter und ich habe immer noch keine Ahnung um was es hier eigentlich geht.

"Mama!"

"Okay, okay. Schon gut. Michael, willst du es ihr sagen?"

Mein Vater zuckt mit den Schultern.

"Lucia mein Schatz, wir dachten, weil du ja Momo zurücklassen musstest. Und du sonst noch keine Freunde gefunden hast."

"Mensch Papa.", rufe ich dazwischen.

Dann füge ich hinzu "Ist das so offensichtlich?".
Meine Eltern blicken sich wieder an und nicken gleichzeitig. Müssen sie sich immer so einig sein? Das ist ja grauenvoll.

"Es gibt in der Nähe einen kleinen Reitstall, weißt du."

Diesmal nicke ich. Kann sie es einfach nicht gleich ausspucken?

"Kernsatz bitte.", fordere ich ein.

Manchmal verstehe ich Menschen nicht, die in einer Tour reden, ohne etwas gesagt zu haben.

"Seit zwei Wochen steht dort ein Pferd zum Verkauf. Wir haben uns gemeldet und du kannst heute Probereiten. Wenn es klappt gehört er dir. Er heißt Gitanes."

Ich reiße die Augen auf. Früher, als ich stundenlang um ein eigenes Pferd gebettelt habe, war die Antwort immer ein Nein. Und jetzt war ich meinem Traum so nahe und dann auch noch Gitanes! Besser konnte es gar nicht werden. Ich bin total aus dem Häuschen und quietsche unkontrolliert auf.

"Wann fahren wir los?"

"Nicht so eilig, junges Fräulein. Jetzt essen wir erst mal Mittag."

Meine Eltern blicken sich schon wieder so einvernehmlich an, das nervt langsam echt. Aber ich freue mich für sie. Und für mich. Und für Gitanes, der vielleicht bald schon seine tussihafte Besitzerin loswird.

 

Das Probereiten ist ein voller Erfolg gewesen und es hat riesig Spaß gemacht. Die Chemie zwischen Gitanes und mir stimmt einfach, es ist so als ob ich ihn schon ewig kennen würde. Er ist wahnsinnig ruhig und geduldig, andererseits hat er auch seine frechen Seiten und alles in einem ist Gitanes für mich einfach perfekt, genau das was ich brauche. Er hat zwar leichte Probleme beim Galopp, aber ich werde mit ihm daran arbeiten.
Ab nächster Woche gehört der Kerl mir. Mein erstes eigenes Pferd! Kaum zu glauben. Ich freue mich auf die gemeinsame Zeit mit ihm. Und kann es nicht erwarten ihn heute Nachmittag wieder zu sehen.

Nun sitze ich schon wieder im Klassenzimmer. Der gestrige Vorfall ist mir immer noch äußerst unangenehm, aber in Deutschland ist nun mal Schulpflicht - leider. Ich verfluche das Gesetz in diesem Moment.
Jetzt erste Stunde: Geschichte bei niemand geringerem als Simara Winter.
Egal wie sehr ich sie vergöttere, heute möchte ich ihr am liebsten nicht begegnen. Zu meinem Pech sind wir nicht bei 'wünsch dir was'. Da muss ich dann wohl durch.

Strahlend schön wie immer betritt Fr. Winter das Zimmer und lächelt in die Runde. Mir kommt es so vor, als ob ihr Blick an mir einige Sekunden länger hängen bleibt, bevor er schließlich weiter schweift.

Sie geht nach vorne und beginnt in ihren Unterlagen herumzukramen, als sie von einer Schülerin unterbrochen wird.

"Fr. Winter darf ich aufs Klo?"

Simara hebt ihren Kopf und blickt in die Richtung der Schülerin, namens Nina.

"Nein."

"Warum nicht?"

"Weil der Unterricht gerade begonnen hat und du davor genug Zeit hattest!"

"Da musste ich noch nicht. Bitte!"

"Nein, Nina..."

Fr. Winter schaut in die ganze Klasse.
".....Leute, wir sind in der 10. Klasse, da solltet ihr langsam mal die Bedürfnisse eures Körpers unter Kontrolle haben!"

Dann widmet sie sich wieder ihren Unterlagen und zieht nach einer gewissen Zeit, die mir wie Stunden vorkommt, einige Blätter heraus.

"Na toll, in der ganzen Zeit hätte ich längst aufs Klo gehen können!", motzt Nina.

Fr. Winter zieht eine Augenbraue nach oben und starrt in Ninas Richtung. Wenn Simaras Blick jetzt so ist, wie ich ihn mir vorstelle – und ich weiß, dass diese eisblauen Augen es fertig bringen, einen mit Leichtigkeit niederzuringen - dann möchte ich nicht in Ninas Haut stecken.

"Was genau möchtest du damit sagen?"

Fr. Winters Stimme klingt zur einen Hälfte bedrohlich und zur Anderen belustigt.
Ich muss wohl mit meiner Vermutung recht gehabt haben, denn Nina ist es, die sich schließlich geschlagen geben muss.

"Nichts."

Der Unterricht ist spitze. Gebannt höre ich ihren Erzählungen zu, sie hat dieses besondere Talent andere mit ihrer Stimme und ihrer lebhaften Erzählweise völlig in den Bann zu ziehen und zu begeistern. Die Zeit vergeht wie im Flug und ehe ich mich versehe springen alle von ihren Plätzen auf und packen zusammen. Ich bin die Letzte, die aufsteht und bin total benommen, vielleicht liegt das an Simara. Die Minuten mit ihr sind einfach unbeschreiblich schön, selbst wenn es 'nur' Unterricht ist. Ich lasse mir also Zeit, in Gedanken immer noch bei Fr. Winter und packe nun auch meine Sachen ein, dann trete ich meinen Weg zur Zimmertüre an, aus meinen Augenwinkeln sehe ich, wie Fr. Winter sich ebenfalls bückt und ihre Tasche vom Boden aufhebt, schultert und zur selben Zeit wie ich losläuft.

Ich hätte nicht gedacht, dass auf einer Strecke von ca. 6 Metern solche Missgeschicke passieren können und hätte es mir jemand erzählt, hätte ich vermutlich gelacht. Doch ich bin der lebende Beweis, dass nichts unmöglich ist und Dummheit einfach keine Grenzen kennt.
Ich schlendere also die geschätzten 6 Meter zur Türe, als ich unerwartet ausrutsche und zwar so richtig! Auaaa. Ich lande auf der Seite, sofort sehe ich, dass mein Ellenbogen und mein Handgelenk etwas aufgeschürft sind und leicht bluten. Trotzdem sticht der Schmerz unfassbar stark durch meinen Arm.

Noch immer liege ich auf dem Boden als ich plötzlich eine warme Hand auf meinem Rücken spüre. Eine Zweite legt sich auf meinen Oberarm. Ich zucke zusammen, mein ganzer Körper versteift sich, der Schmerz ist vergessen.

Simara Winter berührt mich! Sie berührt mich tatsächlich! Ist das zu glauben? Und schlimm ist es gar nicht. Im Gegenteil. Ich fühle mich wie auf Wolke sieben.
Ein Prickeln breitet sich in meinem ganzen Körper aus, so etwas habe ich noch nie gespürt, überraschenderweise fühlt es sich nicht nur richtig gut an, sondern einfach fantastisch, am liebsten würde ich ihre Hand auf meinem Rücken festbinden, damit sie sie ja nicht wegnimmt. OK Lucia, laber nicht so einen Scheiß, das sind definitiv Schäden von deinem Sturz, genau, so muss es sein. Sonst würde ich niemals so einen Mist fabrizieren.
Da bin ich mir jetzt aber nicht so sicher, meldet sich eine andere Stimme in meinen Gedanken. Gut, ich bleibe einfach objektiv bei den Tatsachen, und Tatsache ist, dass die Berührung ganz und gar nicht so ist, wie ich sie mir ausgemalt habe.

"Oh Gott, Lucia. Hast du mir einen Schrecken eingejagt!"

Ich drehe mich zu meiner Lehrerin um und sehe, dass sie neben mir auf dem Boden kniet. Ich verliere mich in ihren Augen, die mich besorgt mustern.

"Tschuldigung, Fr. Winter.",  bringe ich leicht gequält heraus, denn langsam wird der Schmerz wieder gegenwärtig. Ich würde am liebsten im Erdboden versinken, mal wider so peinlich! Wieso hab ich meine Sachen nur nicht schneller eingepackt? Und wieso muss ICH eigentlich überhaupt ausrutschen? Das passiert doch nur Kleinkindern. Mensch, mensch, mensch, okay Lucia, steigere dich nicht in was hinein! Beruhig dich! Tief durchatmen, ist ja nichts passiert.

Nun richte ich mich auf, sodass ich genau wie Fr. Winter auf dem Boden knie.
"Das sieht echt schmerzhaft aus."

"Na ja, es geht...hab schon schlimmeres überlebt."

Aber ich muss die Zähne zusammenbeißen um nicht schmerzerfüllt aufzukeuchen.

Argwöhnisch beobachte ich meine Lehrerin, denn sie streckt ihre Hand aus, bis sie sich immer mehr meinem verletzten Arm nähert, als nur noch fünf Zentimeter zwischen Hand und Arm liegen zucke ich doch zurück. Auch Simara bewegt ihre Hand wieder etwas weg und legt sie stattdessen.........

........auf meinen Oberschenkel. Will sie etwa, dass ich meinen Verstand komplett verliere? Ihre Hand brennt sich in mein Fleisch, ich kann mich zwischen Panik und Wohlbefinden nicht entscheiden, ich bin total verwirrt, eigentlich sollte ich so etwas überhaupt nicht dulden, eigentlich sollte ich schon längst die Flucht ergreifen. Mein Kopf dreht sich ruckartig in Simaras Richtung. Ich starre ihr entgegen, dann blicke ich auf die Hand auf meinem Bein. Ich bin sprachlos, warum zur Hölle tut sie das? Es ist eine Qual, aber wie es sich herausstellt eine äußerst angenehme Qual. Nach einigen Sekunden des schweigens ist es Simara, die – wenn mich nicht alles täuscht - verlegen eine Entschuldigung haucht. Dann hebt sie erneut ihre Hand, schaut mich davor sehr eindringlich an und fragt:

"Darf ich?"

Ich bin mir nicht sicher, was genau sie damit meint, aber ich nicke.
Ihre Hand nähert sich nun meinem verletzten Arm, doch jetzt bin ich vorbereitet und entschlossen die kommende Berührung zuzulassen. Gegen ein erneutes anspannen meines Körper kann ich allerdings nichts machen, dass ist einfach ein Reflex, doch ich lasse mich auf ihre Berührung ein.

Ihre Fingerkuppen streichen sanft über meinen Unterarm und ziehen mehrere Linien bis zu meinem Ellenbogen hoch, der immer noch ein bisschen blutet. Als Fr. Winter die verletzte Stelle leicht berührt keuche ich kurz auf, dann bewegen sich ihre Finger wieder zurück zu meinem Handgelenk. Ohne dass ich es will bekomme ich eine Gänsehaut. Fasziniert beobachte ich ihre Bewegungen, ich kann gerade noch ein aufkommendes Seufzen verhindern.

Simaras Finger ruhen noch einige Momente auf meiner Hand. Auch sie betrachtet unsere Hände, meine etwas kleinere blasse Hand unter ihrer schlanken Gebräunten. Und ich bin total gebannt von der Sache, die sich hier gerade abspielt, und immer noch vollkommen verwirrt, dass ich mich wirklich anfassen lasse – freiwillig.

Auf einmal springt Fr. Winter auf, reißt ihre Tasche hoch und flüchtet aus dem Raum. Ich hätte nicht gedacht, dass am Ende sie es ist, die das tut.
Im Türrahmen angekommen bleibt sie noch einmal kurz stehen und dreht sich zu mir um – ich sitze ja noch immer auf der gleichen Stelle - und flüstert:

"Es tut mir leid, Lucia."

Also jetzt bin ich noch verwirrter, für was entschuldigt sie sich denn bitte? Ich schweige.

"Du solltest die Aufschürfungen unbedingt ordentlich reinigen!"

Und dann ist sie auch schon verschwunden.

Am nächsten Morgen betrete ich gut gelaunt den Klassenraum. Noch in Gedanken versunken – die sich natürlich alle um Fr Winter drehen – gehe ich die Reihen nach vorne, geradewegs auf meinen Sitzplatz zu. Ich betrachte die Stelle, auf der ich den vergangenen Tag ausgerutscht bin, ich lasse die Situation Revue passieren, ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, aber gleichzeitig auch ein bisschen Schamröte.
Mein Blick wandert weiter, über die Tafel, auf der ein rotes Herz aufgemalt ist, dann sehe ich ein paar Klassenkameradinnen neben der Tafel tuscheln und kichern. Ich inspiziere das riesige Kreideherz genauer. Unten im Eck befindet sich tatsächlich eine Inschrift, ich kneife meine Augen zusammen und meine ein „W + B" entziffern zu können.
Was zur Hölle sollte das? Keine Ahnung wer damit gemeint sein soll und wer sich diesen Spaß überhaupt erlaubt hat. Na ja, vermutlich die Mädchen neben der Tafel. Egal. So was interessiert mich nicht. Ich halte nämlich nicht viel Klatsch und Tratsch. Ich klopfe mir geistig auf die Schulter.

Dann setzte ich meinen Weg fort, bin fast an meinem Platz angelangt, als etwas an meine Ohren dringt, dass mir so gar nicht gefällt und ich muss wirklich ungern zugeben, dass ich mich in diesem Fall – und zu meiner Verteidigung: ausschließlich in diesem – doch für Klatsch und Tratsch interessiere, sehr sogar. Lucia, schäm dich!

".....Und dann hat er sie umarmt und....."

Ein Gruppen-Seufzen folgte. Während Julia heftig gestikuliert.

"Ach, dass ist ja so goldig von ihm! Und stellt euch vor, er hat ihr dann sogar noch einen Kuss auf die Wange gegeben!"

"Ja stimmt, Fr Winter und Hr. Berger sind sooooo süß zusammen."

Dann sackt das Ganze richtig. Frau Winter. Simara Winter? Natürlich du Dummerchen, wer denn sonst Lucia! Oder gibt es an dieser Schule noch eine Frau Winter?!
Was dachte ich mir überhaupt dabei, zu hoffen Frau Winter hätte keinen Freund oder Mann. Natürlich hat sie das, oder ist zumindest verliebt. Und nicht in dich, Lucia! Akzeptiers endlich. Du bist nur eine verdammte Schülerin von ihr. Wie sehr ich mein Leben in dem Moment hasse und wie eifersüchtig ich auf diesen Herrn Berger bin! Schon jetzt ist klar, für ihn werde ich keine Sympathie übrig haben.

"Hey, übertreibt mal net! Der Berger könnte doch jede haben, was will der dann mit der? Frau Winter ist ja nicht mal blond!

"Na danke!", erwidert die braunhaarige Julia entrüstet.

Dann gongt es zur ersten Stunde.
Frau Winter kommt ins Zimmer gehetzt, sie scheint gestresst zu sein. Einen Tick zu laut wird ihre Tasche auf das Pult geknallt. Schließlich streicht sie sich ein paar wirre Strähnen aus der Stirn.
Dabei ist sie unglaublich sexy. Wie gerne ich doch durch ihre glänzenden Locken streichen würde! Lucia, was denkst du da schon wieder?! Ehrlich, dass muss aufhören.

Keiner sagt etwas, Fr. Winter starrt aus dem Fenster und seufzt tief. Dann suchen ihre Augen meine. Unsere Blicke kreuzen sich. Ich sehe, wie leben in ihre Augen kommt, dann grinst sie mir zu.
Doch dieser innige Moment wird jäh unterbrochen.

"Träumen Sie wohl von wem Bestimmten?"

Simara dreht den Kopf ruckartig weg und schaut in Julias Richtung, während sich ihre Wangen leicht rot färben.

"Jemandem mit schwarzen Haaren?", fährt Julia fort.

Alle kichern und amüsieren sich. Frau Winter scheint die Anspielung nicht zu verstehen, sie runzelt die Stirn.

"Mhhh?"

"Wir wissen, dass Sie Herrn Berger daten! Ihnen muss vor uns nichts peinlich sein."

"Da muss ich euch enttäuschen!"
Ein kurzes Lachen ihrerseits unterstreicht Simaras Unsicherheit.

"Bei eurem sogenannten 'daten' haben wir den Ablauf der Abschlussfahrt besprochen, wenn ihr das meint. Herr Berger wird als zweite Lehrkraft mitfahren."

Lautes Pfeifen meiner weiblichen Mitschüler folgte.
Und Frau Winter ist eindeutig wieder die Alte, total gefasst mit einem sarkastischen Unterton. Trotzdem würde ich gerne wissen, weswegen sie vorhin so zerstreut gewesen ist.

Ach ja, die Abschlussfahrt, ich will gar nicht daran denken. Ich bin im Allgemeinen nicht so der Typ für Klassenfahrten. Erst recht nicht, wenn Herr Berger mitfährt!

"Und, was ist dabei herausgekommen?"
Fragen mindestens fünf Schülerinnen neugierig.

"Ich dachte mir schon, dass das jetzt kommt."
Frau Winter zwinkert mir zu. Dann holt sie weit aus.

"Also.... als allererstes, was bekannt sein dürfte, wir fahren nach Berlin. In zwei Wochen. Und bevor jetzt jemand rein spricht, lasst mich bitte erst ausreden."
Böse Blicke werden von Fr. Winter durch das Klassenzimmer geschleudert.

"Hier hab ich einen Zettel für euch, auf dem genau drauf steht, was wir die Tage geplant haben und was ihr unbedingt mitnehmen müsst. Die Fahrt dauert ungefähr acht Stunden und wir fahren mit dem Bus. So, das wärs erst mal noch Fragen?"

"Was ist mit der Zimmereinteilung?"

"Ja stimmt. Julia, dich hätte ich gerne neben meinem Zimmer."

"Hähhh? Nee, das können Sie nicht einfach so beschließen, das ist nicht fair!"

"Oh, wie du siehst, kann ich das schon. Und werde ich auch. Die Idee kam mir gerade eher spontan, aber je mehr ich darüber nachdenke, umso besser finde ich sie."
Simara grinst leicht fies in Julias Richtung.

"Ich glaube das verkraftest du. Im Allgemeinen sind die Mädchenzimmer auf einer anderen Etage, als die der Jungs. Es gibt 2er, 3er und 4er Zimmer. Ach ja und das Zimmer neben meinem, ist ein 2er Zimmer. Wer möchte mit Julia in dieses Zimmer?"

Keiner meldet sich, niemand hat Lust, den ganzen Aufenthalt im Zimmer neben einer Lehrkraft zu verbringen. Aber wenn ich ehrlich bin, ich schon. Da ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass ich ihr zufällig über den Weg laufe. Zufällig? Ist klar Lucia.

"Wie wäre es mit dir, Lucia?"

"Was ist mit mir?"
Frau Winters Augenbrauen schießen in die Höhe. Alarmstufe rot.
"Ähm, ob ich mit Julia in ein Zimmer möchte?", frage ich wackelig.

"Ne, mit Julian!", kommt ihre Antwort.

"Echt?"
Ich bin verwirrt. Ist das überhaupt erlaubt? Sagte Frau Winter nicht, die Geschlechter seien durch verschiedene Etagen getrennt?

"Lucia, das war ein Scherz. Natürlich mit Julia. Also?"

Ich bin hin und hergerissen, ob ich sauer oder beleidigt sein soll. Aber eigentlich hab ich mir das selbst eingebrockt. Ich darf einfach nicht mehr so viel träumen.
Die Klasse findet es zumindest amüsant. Ha ha.

"Na gut."

"Schön. Dann wäre das geklärt. Ich habe hier noch eine Liste mit den möglichen Zimmern, ihr könnt euch dann ja selbst eintragen."

Mit einem Blick auf die Uhr sehe ich, dass die Stunde schon wieder zu Ende ist.

 

Zu Hause nehme ich den Wisch von Fr. Winter zum ersten Mal richtig in Augenschein.
Wir werden gleich am Montagabend in das Musical 'Gefährten' gehen. Das finde ich richtig cool. Ob Fr. Winter Pferde mag? Ob sie tierlieb ist? Vielleicht reitet sie sogar. Oder hat ein eigenes Pferd? Lucia, das geht jetzt eindeutig zu weit! Interpretier nicht immer so einen Mist in total einfache Dinge hinein. Bestimmt steckt da nichts weiter dahinter.
Die anderen Tage werden wir diverse Museen anschauen und auch eine Stadtrundfahrt ist geplant.
Der letzte Abend schockiert mich allerdings. Ein Discobesuch. Na super. Ich selbst finde, dass mein Tanzen ein einziger Graus ist. Richtig freuen kann ich mich darauf also nicht.



2 Wochen später, Montag Morgen

Mist, Mist, Mist! Ich bin zu spät, viel zu spät. Vor ungefähr 15 Minuten hätten wir uns vor der Schule treffen sollen. Aber mein dummer Wecker hat gestern ganz zufällig beschlossen kaputt zu gehen, dafür kann ich ja wirklich nichts. Dementsprechend bin ich auch zugerichtet (hergerichtet kann man das nicht mehr nennen). Meine Haare sind zu einem wirren Zopf gebunden. Ich trage einen roten Kapuzenpulli mit meinem schwarzen Anorak und eine grauen Jogginghose. Bequem aber leider in keinster Weise attraktiv, sofern ich das beurteilen kann. Mit meinem Koffer hetzte ich also die Straße entlang, in der Hoffnung, dass der Bus noch nicht ohne mich losgefahren ist. Dann sehe ich ihn und Gott sei dank ist er noch nicht in Bewegung. Der Busfahrer steigt aus und nimmt mir den Koffer ab, sehr zuvorkommend. Er gibt mir zu verstehen, dass ich nun einsteigen kann. Während ich die paar Stufen hochgehe hoffe ich inständig, dass Frau Winter nicht allzu böse mit mir ist. Dann empfängt mich auch schon ihr Blick. Es ist ein tadelnder Blick, unter dem ich sofort rot anlaufe. Hilfesuchend schaue ich mich im Bus nach einem Sitzplatz um, doch irgendwie scheinen alle belegt zu sein.

„Ähm", räuspere ich mich. Wie peinlich. Mein Blick kreuzt den von Frau Winter. Sie zieht wieder einmal ihre Augenbrauen hoch und deutet dann auf den Platz neben sich selbst. Peinlich berührt setzte ich mich neben sie und starre vor mich hin.

„Lucia?"

„Was?"

„Also erst mal meinst du vermutlich 'Wie bitte'. Und zweitens erwarte ich eine Erklärung."

„Tschuldigung", ich verdrehe genervt die Augen. „Aber mein Wecker ist kaputt gegangen."

Frau Winter lacht auf einmal schallend los. Ich gucke sie verwirrt an. Diese Frau bleibt mir einfach ein Rätsel.
Dann meint sie: „Das glaubst du doch selber nicht. Und das Augenverdrehen ist mir übrigens nicht entgangen, ich erwarte also eine ernstgemeinte Entschuldigung."

„Die war ernstgemeint. Und mein Wecker ist wirklich kaputt gegangen.", antworte ich etwas patzig. Ich bin entrüstet. Denkt sie, dass ich lüge? Ich werfe Frau Winter einen aufgebrachten Blick zu.

„Schon gut, ich glaube dir."

„Warum auf einmal?"

„Lucia, ich habe dir schon die ganze Zeit geglaubt, ich wollte lediglich mal sehen, wie du bist, wenn du dich aufregst."

Na danke! Was für eine Frechheit und ich bin drauf reingefallen.

„Aha, und wie bin ich dann?" will ich schließlich neugierig wissen.

„Süß."
Frau Winter zwinkert mir zu, dann wendet sie sich ab und schaut aus dem Fenster.
Ich schüttele den Kopf und frage mich ernsthaft, was das jetzt schon wieder sollte.

Der Bus setzt sich endlich in Bewegung und ich schalte mein Handy, das ich in der großen Tasche meiner Jogginghose verstaut habe, ein, um ein bisschen Musik zu hören. Ich stecke mir nur den einen Stöpsel ins Ohr und schließe meine Augen um ein bisschen zu relaxen. Ich werde immer schläfriger.

Leises Kichern dringt an meine Ohren, ich öffne die Augen und bemerke, dass mein Kopf sehr weich gebettet ist, verwirrt hebe ich ihn, nur um festzustellen, dass ich eingeschlafen bin und dabei zur Seite, direkt auf Simara Winter gekippt bin, die sich anscheinend gerade prächtig über mich amüsiert.
Noch immer in dieser – unglaublich angenehmen.... Lucia stopp! - Position blicke ich nach oben.

Fr. Winter lächelt mir entgegen. „Gut geschlafen?"

Wie peinlich. Voll ins Fettnäpfchen getreten. Kann ich nicht mal anständig schlafen? Hoffentlich habe ich nicht geschnarcht. Oder im Schlaf geredet! Das wäre wirklich, ich meine wirklich peinlich.

„Ja, passt schon. Danke der Nachfrage.", versuche ich möglichst lässig zu erwidern. Langsam richte ich mich auf und streiche meinen Pulli glatt.
Frau Winters Lächeln wird jede Sekunde breiter. Wissend schaut sie mich an.

„Wie lange habe ich denn geschlafen?"

„Etwa zwei Stunden."

„Und wo ist eigentlich Herr Berger?" diese Frage drängt sich spontan in meinen Kopf.

Frau Winter hebt eine Augenbraue,
„Er sitzt ganz hinten, um zu verhindern, dass die da ja keinen Mist anrichten."

„Oh"

Ein kurzes Schweigen folgt. „So, jetzt bin ich dran."

„Mit was?"

„Na, mit schlafen."

„Mhhh ähhh..."

will sie etwa......? Sie grinst mir zu,
„Nein, das wird nicht nötig sein.", nickt in meine Richtung und zaubert ein kleines Schlafkissen aus ihrer Umhängetasche, das sie zwischen ihren Kopf und die Fensterscheibe legt. Dann schließen sich auch schon ihre wundervollen blauen Augen.

Mir ist schrecklich langweilig. Seit einer halben Stunde scheint Simara Winter zu schlafen, ich habe sie die ganze Zeit beobachtet. Sie hat ein so hübsches Gesicht, dass ich einfach nicht wegschauen konnte.
Um mich abzulenken schaue ich an Frau Winter vorbei, durch das Fenster und betrachte die Landschaft. Nachdenkliche schweift mein Blick erneut über meine Lehrerin. Ich bemerke, dass sie längst wach ist und mich ausgiebig mustert.

„Mit deinem Outfit hast du dir echt mühe gegeben.", meint sie dann ironisch.

Ja, sorry, dass ich verschlafen habe.
„Ich denke Ihre Schönheit reicht für uns beide."

Sprachlos starrt mich Simara Winter an, mit so einer Antwort hat sie wohl nicht gerechnet. Und ich frage mich ob ich das gerade wirklich von mir gegeben habe. Forschend schaut mich Frau Winter an, wahrscheinlich weiß sie nicht wie sie meine Äußerung verstehen soll. Endlich bin ich mal Diejenige, die die Andere in Verlegenheit bringt.
Dann lümmle ich mich tief in meinen Sitz und atme tief durch.

Ich muss wohl erneut eingeschlafen sein, denn ich werde von Frau Winters Lachen geweckt, die aufgedreht mit dem Busfahrer herum albert. Der Bus ist leer und steht auf einem Parkplatz, anscheinend eine Pause. Eigentlich sollte man meinen, dass ich langsam genug Schlaf bekommen habe, aber ich bin trotzdem schrecklich müde. Meine Laune ist am Tiefpunkt. Und dann flirtet Fr. Winter auch noch mit dem Busfahrer, der eigentlich ganz akzeptabel aussieht, was mir ganz und gar nicht in den Kram passt. Und reißt mich mit ihrem berauschendem Lachen aus dem Schlaf. Wenn es mir gegolten hätte, wäre ich etwas freundlicher gesinnt, aber so....?

Anscheinend habe ich etwas böse vor mich hingeguckt.
„Was?" spricht mich Frau Winter an.

„Ich dachte das heißt 'Wie bitte'"? Erinnere ich sie an den Beginn der Busfahrt.

Sie ignoriert meinen trotzigen Unterton und lacht einfach laut weiter. Oh man habe ich Kopfschmerzen!
„Müssen Sie immer so laut lachen?", rutscht mir heraus, beschämt betrachte ich meine Fingernägel ausgiebig um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen.

Die Bermerkung tut mir selber sofort leid, denn ich finde ihr Lachen einfach umwerfend, aber irgendwie bin ich total auf diesen bescheuerten und (leider) gut aussehenden Busfahrer eifersüchtig.

„Tschuldigung, hab ich nicht so gemeint."

„Und wie dann?" Sie runzelt die Stirn, während sie mich weiter anschaut.

Sie können ruhig so laut lachen wie Sie wollen, wenn Sie es mit mir tun und nicht mit irgendwem anderen! Will ich ihr entgegen schreien.
Ich versuche mich irgendwie aus der Situation zu retten.

„Na ja, wenigstens haben Sie ein schönes, klares Lachen, nicht so ein Gekünsteltes."

Und schon das nächste Fettnäpfchen. Na bravo!

„So? Findest du?"

„Mhhhh. Jedenfalls schneidet Ihr Lachen auf einer Skala von 1-10 nicht sehr schlecht ab."

Um Himmels Willen Lucia! Was redest du da? Es schneidet nicht schlecht ab? Gott, es schneidet sogar sehr sehr gut ab, da reicht eine Skala bis 100 nicht einmal.
Ich bemerke, wie Frau Winter in sich hinein schmunzelt. Wahrscheinlich unterdrückt sie ihr 'lautes Lachen'.

„Lassen Sies ruhig raus. Ich weiß ich rede nur wirres Zeug."

„Gott Lucia!"

Frau Winter streicht mir nachdenklich eine Strähne, die sich aus meinem Zopf gelöst hat aus dem Gesicht. Ihre Hand ruht noch eine Weile auf meiner Wange. Ich erlaube es ihr, ohne mich zu entziehen. Ihre Berührungen genieße ich. Nur ihre. Es fühlt sich so verdammt gut an.

„Ja?", antworte ich heißer und ein bisschen hoffnungsvoll.
„Ach nichts. Es ist nichts. Vergiss es.", sagt sie schließlich.

Das Zimmer ist schöner als ich gedacht hätte. Da hat Frau Winter wirklich ein nettes Hotel ausgesucht. Es hat zwei Einzelbetten und genug Platz außen herum frei. Jedes Bett hat einen Nachttisch mit Lampe. Außerdem stehen zwei riesige Schränke zur Verfügung. Das angrenzende Bad ist zwar klein aber modisch. Alles in einem bin ich also sehr zufrieden.

Mittlerweile ist es 18:30 Uhr. Die Koffer sind längst ausgepackt. Ich liege auf meinem Bett und lese ein wenig. Bis jetzt ist es ganz entspannt, denn Julia ist gleich nach der Ankunft und dem Einräumen der Schränke, mit ihren Schminkutensilien und weiteren Dingen in das Zimmer ihrer Freundinnen verschwunden. Mir solls recht sein. Schnell schweife ich mit meinen Gedanken ab zu Simara. Was sie wohl gerade macht? Nur diese eine Zimmerwand trennt uns. Ich berühre bedächtig die kalte Wand hinter meinem Kopf. Ich denke über ihre Bemerkung im Bus nach. Was wollte sie mit 'Gott Lucia!' sagen? Und, oh man, ihre Hand hat sich so weich und sanft auf meiner Haut angefühlt. Ich stelle mir vor, wie sie mit ihren Händen weitere Stellen meines Körpers berührt. Alleine bei dieser Vorstellung bekomme ich Gänsehaut.
Mein Kopfkino wird durch ein jähes Klopfen unterbrochen. Sauer, in meinen 'Simara-Fantasien' gestört worden zu sein, stampfe ich zur Türe und reiße sie mit Schwung auf.

Niemand geringeres als Simara Winter steht davor, die mir freundlich entgegenblickt. Schlagartig bin ich nicht mehr sauer – Frau Winter in real ist tausendmal besser als nur in meinem Kopf – sondern geschockt. Wie kann eine Person nur so perfekt sein? So ein Aussehen müsste definitiv verboten gehören. Dann erst merke ich, dass ich meine Lehrerin die ganze Zeit mit offenem Mund angestarrt habe. Kein Wunder. Sie trägt ein sehr figurbetontes, blaues Top, das ihre Augen hervorragend zur Geltung bringt – nicht nur ihre Augen – ich ertappe mich dabei, wie ich an ihrem Körper zu ihren Brüsten über ihre schmale Taille zu ihren wundervoll geformten Hüften herunter schiele und seufze innerlich. Meine Güte! Ich kann mich kaum zusammennehmen, am liebsten hätte ich sie einfach an mich gerissen und stürmisch geküsst.

„Zimmerkontrolle.", flötet Frau Winter mir fröhlich zu. Bevor ich etwas erwidern kann, schiebt sie sich auch schon an mir vorbei ins Zimmer. Unsere Hände streifen sich dabei kurz, Millionen kleine Stromstöße schießen durch mich hindurch. Ob sie dieses Knistern zwischen uns auch wahrnimmt?
Frau Winter steuert geradewegs auf die Schränke zu. Gott sei Dank habe ich alles ordentlich eingeräumt.

Julias Schrank wird zuerst inspiziert. Jedes ihrer Teile ist äußerst aufreizend, erst recht ihre Unterwäsche, obwohl das schon eher in eine andere Richtung geht.

„Ist das dein Schrank?"

Ich betrachte Julias Unordnung stirnrunzelnd und kann es kaum fassen, dass sie mich das gerade wirklich gefragt hat. Ist das denn nicht offensichtlich, dass das gar nicht mein Schrank sein kann?

„Sehe ich so aus?"

Frau Winters Augen taxieren meinen Schlabberlook eingehend und auch ein bisschen missbilligend.

„Nein tust du nicht.", stellt sie dann trocken fest. Ist das Enttäuschung in ihrer Stimme? Will sie etwa, dass ich mich billiger anziehe?

Dann geht Frau Winter zu meinem Schrank hinüber und öffnet diesen ebenfalls. Sie betrachtet meine ordentlich zusammengelegten Stapel genau und ich sehe genug tuend, dass ihr Blick etwas länger als nötig an meiner Spitzenunterwäsche hängen bleibt.

„Also, bei euch scheint alles in Ordnung zu sein."

Was soll den auch nicht in Ordnung sein? Stumm blickt sie sich im Rest des Zimmer um.

„Ach, und um 19:30 Uhr treffen wir uns vor dem Hotel zum Abendessen. Anschließend fahren wir gleich mit der U-Bahn weiter zum Musical."

Ich nicke zustimmend, bis dahin habe ich noch eine gute halbe Stunde Zeit.

„Und....." meine Lehrerin mustert erneut kritisch mein Outfit.
„...... zieh dir bitte was Schönes an!"

Bin ich ihr so nicht schön genug? Was für eine Gemeinheit. Okay, es ist ja auch schwer mit so einem Traum wie ihr mitzuhalten. Und, dass ich mit der Jogginghose nicht in ein Musical gehen würde, ist klar.

„Was bekomme ich denn dafür?", entgegne ich ihr frech.

Ich sehe, wie sich ein eindeutiges 'Simara Winter-Grinsen' auf ihr Gesicht stiehlt.

„Keine Strafarbeit!"
Damit verlässt sie das Zimmer. Haha, sehr lustig.

Mit meinem Outfit gebe ich mir diesmal richtig Mühe. Ich möchte meiner Lehrerin wirklich gefallen. Ich benutze mehr Wimperntusche als sonst und ziehe mir zusätzlich einen katzenhaften Lidstrich auf meine Augen. Meine blonden, langen Haare lasse ich offen über meinen Rücken fallen. Ich springe in meine schwarze, hautenge Röhrenjeans und ziehe dazu eine olivgrüne Bluse an, die zu meinen liebsten Oberteilen gehört. Schnell schnappe ich mir meine Lederjacke und einen Schal. Zuletzt ziehe ich mir meine Bikerboots an.

Als ich mich um kurz vor halb acht im Spiegel betrachte, gefällt mir das Endprodukt relativ gut. Das Mädchen im Spiegel blickt mir selbstsicher entgegen.
Julia hat sich nicht mehr blicken lassen. Wahrscheinlich hat sie sich eh bei ihren Freundinnen aufgebrezelt.

Ich bin so ziemlich die Letzte, die sich der Truppe anschließt.

„Ich hoffe, dass wird bei dir nicht zur Gewohnheit!"

Frau Winter bedenkt mich mit einem strengen Blick, doch als er an meinem Körper herabgleitet, bemerke ich zufrieden, dass ihre Miene um einiges weicher wird.
Und sie ihre Augen für ein paar Sekunden nicht von meinem Körper lösen kann. Ist das etwa Verlangen in ihrem Blick? In mir beginnt es fürchterlich zu kribbeln als ich direkten Augenkontakt zu Simara finde und tief in das wunderschönste Blau auf Erden blicke. Die Hose war ihr Geld also wert.

„Und? Gefalle ich Ihnen?"

„Du gefällst mir immer, Lucia.", haucht sie ganz leise, dann wendet sich meine Lehrerin abrupt ab.
Wie kann sie nur so was sagen und dann erwarten, dass es einen kalt lässt?

„Abmarsch.", ertönt die dunkle Stimme eines sehr sehr gut aussehenden Mannes. Wenn das Herr Berger ist fresse ich einen Besen! Jetzt kann ich verstehen, dass er der Mädchenschwarm unserer Schule ist. Obwohl ich persönlich Simara immer noch um vieles anziehender finde. Sie ist einfach die schönste Frau der Welt für mich.

Die Klasse setzt sich in Bewegung, neidisch beobachte ich, wie Herr Berger meine Simara an sich zieht und mit ihr Quatsch macht. Damit ich diesen Anblick nicht ertragen muss – ich hätte die beiden am liebsten gewaltvoll voneinander getrennt – lasse ich mich ganz ans Ende zurückfallen uns setze einfach immer einen Fuß vor den Anderen. Die bloße Existenz von Herrn Berger macht mich wütend, weil ich weiß, dass dieser attraktive Mann sich sehr gut mit Simara versteht und weil ich Angst habe, dass sie vielleicht mehr für ihn empfindet. Weil ich das Gefühl habe, dass er sie mir wegnimmt. Und ich, die mickrige Schülerin auf der Strecke bleibt.
Alle unterhalten sich laut oder singen im Chor irgendwelche Lieder aus den Charts, jedenfalls ist die Stimmung unter ihnen ausgelassen. Nur ich, das kleine Schlusslicht, grübelt leise vor sich hin.

Wir erreichen ein hübsches italienisches Restaurant und suchen uns eine leere Ecke, wo wir als Klasse ungestört sind. Und wie es mal wieder kommen musste, sitze ich genau gegenüber von Frau Winter und Herrn Berger. Ganz toll. Dann kann ich ihnen das ganze Abendessen beim Flirten zu hören. Verdammt tut das weh, sie gemeinsam mit ihm zu sehen. Diese Ungewissheit, ob da vielleicht doch mehr zwischen den beiden ist, bringt mich beinahe um. Und natürlich diese brennende Eifersucht. Da würde ich sogar lieber bei den doofen Jungs aus unserer Klasse sitzen, als das mit ansehen zu müssen.
Alle ziehen ihre Jacken aus.....und Wow! Simara Winter hat sich wirklich zurecht gemacht. Mehr als das! Sie trägt ein zart rosafarbenes Oberteil, dessen Ärmel ausschließlich aus Spitze bestehen, auch das gesamte Dekolleté ist mit Spitze versehen. Einfach zum anbeißen. Wie kann man da nur widerstehen? Wie kann man sich nicht in diese unglaubliche Frau verlieben?

Nach einer Weile kommt eine Kellnerin, die unsere Bestellung aufnimmt. Ich habe mich für einen Salat entschieden, da ich nicht wirklich Hunger habe. Außerdem bezweifle ich, dass sich beim Anblick meiner Gegenüber auch nur einen Bissen herunterbringe.

Das Essen verläuft überraschenderweise gut. Frau Winter und Herr Berger haben sich – wie angenommen – sehr amüsiert und viel gelacht. Den Rest habe ich aus Selbstschutz erfolgreich ausgeblendet. Vor meinem inneren Auge habe ich stets Simaras Augen und volle Lippen gesehen, also war ich ausreichend abgelenkt um mich mit Herrn Berger auseinanderzusetzen. Niemand hat sich um mich gekümmert, gut so, denn ich konnte die ganze Zeit mit meinen Träumereien verbringen, ohne gestört zu werden.

 

Frau Winter eröffnet uns, dass die Jungs mit Herrn Berger in einer ganz anderen Reihe als die Mädchen mit ihr sitzen würden. Gott sei gesegnet! Endlich ist man den Mal los. Simara zeigt uns die Reihe, in der wir sitzen. Alle nehmen Platz und legen ihre Jacken sowie Taschen ab, ich ganz am Ende der Kolonne. Jetzt ist nur noch ein Platz rechts neben mir frei. Mhhhh. Wo wird dann wohl Frau Winter sitzen? Richtig, neben mir! Dann habe ich sie mehr wie eine Stunde nur für mich.

Im Gang besprechen die Lehrkräfte noch irgendwas, bis sie sich endlich trennen und Frau Winter durch die Reihen auf den Sitzplatz neben mir zugeht. Es ist ziemlich eng und ein bisschen schummrig hier im Saal. Frau Winter lächelt mir entgegen, als sie fast bei mir angekommen ist. Ich zwinkere ihr verschwörerisch zu, fragt mich bitte nicht wieso. Doch dadurch ist sie einen Augenblick abgelenkt und stolpert kurz vor mir über eine Tasche, die auf dem Boden liegt. Frau Winter fällt praktisch mit ihrem ganzen Gewicht auf mich drauf.

Ich spüre ihren Körper an Meinem. Mit meinen Händen halte ich sie automatisch an den Oberarmen fest und lasse sie nicht mehr los. Sie atmet hektisch an meinem Hals und ihr Oberkörper hebt und senkt sich sehr schnell. Wahrscheinlich vom Schock. Ihre offenen Haare kitzeln mein Gesicht. Ich atme tief ein. Oh mein Gott, riecht diese Frau gut. Gleich nehme ich noch einen Atemzug. Ich kann diesen Duft nicht beschreiben. Einfach himmlisch! Frau Winter räuspert sich dezent und macht anstalten sich aufzurichten. Ich lasse sie widerwillig los, damit ist der intime Moment zwischen uns zerstört.

„Geht's?", frage ich mit einer ziemlich rauen Stimme.

Sie nickt und setzt sich auf ihren Platz, legt ihre Tasche vorsichtig hin und schält sich anschließend ebenfalls aus ihrer Jacke.

Wir haben noch fünf Minuten bevor das Stück beginnt. Simara sitzt abweisend und verschlossen auf ihrem Platz. Entweder ist ihr der Vorfall so peinlich oder sie hat einfach nur eine ziemlich schlechte Laune oder beides.
Mein Blick fällt erneut auf ihr Outfit, sie trägt zu diesem Traum aus Spitze zarte Ohrringe und ein feingliedriges Armband.

„Sie haben sich ja richtig zurechtgemacht.", versuche ich ein Gespräch zu beginnen.

Und Simara Winter wird rot! Seit wann wird Simara Winter bitteschön rot? Was geht nur in ihrem Kopf vor?

„Du ja auch.", bemerkt sie ausweichend. Ich schmunzle.

„Weil Sie mich indirekt dazu gezwungen haben. Es war praktisch eine Anweisung."

„Und du hast sie ausgeführt.", stellt sie nüchtern fest.

„Natürlich."

„Sogar richtig gut.", fügt sie dann noch sanft hinzu.

In diesem Moment bin ich einfach nur glücklich. Und hätte sie so gerne umarmt.

„Danke.", sage ich nach einigen Sekunden und lege meine Hand auf ihre.

Ich bin richtig stolz auf mich. Das ist glaube ich das erste Mal seit Jahren, dass ich von meiner Seite ausgehend freiwillig eine Berührung suche.
Simara betrachtet unsere Hände und scheint genauso zufrieden zu sein wie ich.
Doch dann zieht sie plötzlich ihre Hand fort und blickt sich nach allen Seiten um.

„Das war kein Kompliment!", knallt sie mir anschließend hin.

Es ist als hätte sie mir mit einer unsichtbaren Faust direkt in den Magen geschlagen. Meine Glückshülle, die sich um mich, während unserer Unterhaltung gebildet hat, zerbricht in tausend Teile, in Scherben, die sich in mein Herz bohren. Das tut weh.
Warum ist sie nur so wechselhaft? Das macht mich verrückt. Die eine Sekunde denke ich, da ist etwas zwischen uns, und die Nächste stößt sie mich mit aller Kraft von sich.
Das Licht geht plötzlich aus. Die Vorstellung beginnt jetzt also.

'Gefährten' ist echt schön gewesen. Zwar war ich etwas abgelenkt, weil ich gefühlt jede fünf Minuten zu Simara Winter geschielt habe. Und die Minuten dazwischen damit verbracht habe über Selbige nachzudenken. Man sollte mich also lieber nicht über den Inhalt des Musicals fragen.
Simara ist die ganze Zeit stocksteif dagesessen und hat stur geradeaus geblickt. Ihre Miene ist wie eingefroren. Das beherrscht sie wirklich gut. Ich habe nämlich wirklich keine Ahnung was sie denkt oder fühlt. Lässt sie das echt so kalt? Spätestens jetzt hält sie mich für eine Verrückte.

Auf dem kurzen Weg zur U-Bahn Station halte ich so viel Abstand von Frau Winter wie ich nur kann. Ich laufe wieder ganz am Ende. Ich sehe aber, dass meine Lehrerin ebenfalls Abstand von allen Andern hält. Sogar Herrn Berger blockt sie ab, der sich daraufhin zu einem Grüppchen Jungs gesellt.

Es ist nicht so, dass ich Frau Winter jetzt nicht mehr so gut leiden kann - ich bin immer noch total krank vor Liebe - aber ich würde sie so gerne verstehen oder wissen was sie denkt. Ihre Handlungen nachvollziehen.

Wir sind an der Station angekommen. Es sind kaum andere Leute hier, was mich beruhigt.
Meine Klassenkameraden unterhalten sich in Gruppen angeregt über irgendwelche Dinge. Ich stehe etwas abseits. Genauso wie Frau Winter. Wir schauen uns an. Ich kann ein bisschen Reue in ihrem Blick sehen. Die Frage ist nur, was genau bereut sie? Ich lächle ihr aufmunternd zu. Keinesfalls möchte ich, dass sie sich in irgendeiner Art unwohl fühlt. Und sie lächelt sogar zurück. Alles ist wieder gut. Zumindest von meiner Seite aus.

Die Bahn fährt ein. Quietschend kommt sie zum Stehen.

Und alles was ich sehen kann sind Leute.

Mehr als Leute.

Massen.

Gedrängt in dieser einen Bahn.

Das kann ich nicht.

Unmöglich kann ich in diese U-Bahn steigen.

Panik kriecht in mir hoch.

Ich kann nicht.

Das geht nicht.

Die Türen öffnen sich, ein paar Menschen steigen zwar aus, aber es ist einfach viel zu voll. Schon jetzt meine ich stickige Luft zu spüren, die ganzen Menschen zu sehen, an die ich gedrückt werden würde.

Alle aus meiner Klasse steigen ein, dann Herr Berger, dann Frau Winter. Ich, als Letzte bleibe wie erstarrt stehen. Nie im Leben setzte ich da einen Fuß hinein.
Wie in Trance höre ich, dass mich Frau Winter dazu auffordert auch einzusteigen. Heftig schüttele ich den Kopf. Kann nicht sprechen. Bin wie blockiert.

Das Signal zum schließen der Türen ertönt. Ich werde alleine zurück bleiben. Ich kenne mich hier nicht aus. Es ist fast 23:00 Uhr. Dunkel. Und Berlin.

Dann beginnen sich die Türen zu schließen. Erschrocken starre ich Frau Winter an, die meinen Blick erwidert. Im letzten Moment springt sie aus der Bahn auf mich zu.
Dann sind die Türen zu und die U-Bahn fährt vom Gleis ab. Zu zweit stehen wir Nachts an einem vollkommen verlassenen Bahnsteig. Keiner sagt etwas. Ich zittere am ganzen Körper. Aber ich bin erleichtert. Sie hat mich nicht zurückgelassen. Sie ist bei mir geblieben.

„Mensch Lucia! Was hast du dir nur dabei gedacht?"

Okay, ich kann verstehen, dass sie wütend ist. Für jeden anderen Menschen ist es überhaupt kein Problem in eine etwas vollere Bahn zu steigen. Und jetzt sind wir in Berlin, in der Kälte, an einem verlassenen Gleis. An ihrer Stelle wäre ich auch nicht gerade begeistert.

„Es tut mir leid, wirklich. Das müssen Sie mir glauben."

Sogar meine Stimme zittert. Man bin ich jämmerlich!

„Mein Gott. Du zitterst ja."

Auch schon gemerkt. Sie zieht mich in eine feste Umarmung.
Dann deutet sie auf eine Bank am anderen Ende des Bahnsteigs. Wir setzten uns dicht nebeneinander, denn es ist richtig kalt geworden. Unsere Knie berühren sich, genau wie unsere Arme.

„Jetzt müssen wir halt auf die nächste Bahn warten..."

„Das kann ich nicht. Ich kann da nicht einsteigen."

Sie schaut mich verständnislos an. „Warum?"

Auf gar keinen Fall werde ich ihr sagen, dass ich komplett Psycho bin. Sie würde mich wahrscheinlich hassen oder - wie alle anderen - nur als gestörte Person sehen.

„Es geht einfach nicht. Bitte."

Ich schaue ihr tief in die Augen und hoffe, dass sie mich, ohne eine vernünftige Erklärung, davonkommen lässt. Mein Blick muss wohl recht eindringlich gewesen sein, denn Frau Winter seufzt niedergeschlagen.

„Na dann schätze ich, müssen wir eben laufen."

„Wirklich? Danke, danke, danke."

Frau Winter zieht einen Mundwinkel nach oben.

„Freu dich nicht zu früh......."
„......jetzt bist du mir nämlich was schuldig."

Diese Frau ist einfach zu ausgefuchst. Aber da ich für Simara Winter sowieso alles tun würde, fällt mir die Zustimmung sehr leicht.

„Alles was Sie wollen.", erwidere ich.

Sie steht auf, streckt mir ihre Hand hin. Ohne zu überlegen ergreife ich sie, dann zieht sie mich auch schon auf die Füße.

Hand in Hand schlendern wir über den Bahnsteig und fahren mit der Rolltreppe an die Oberfläche.
Der Himmel ist schwarz und voller heller Punkte - die Sterne. Irgendwie romantisch so mit Frau Winter - Hand in Hand! - durch Berlin zu spazieren. Es fühlt sich nicht nur schön, sondern auch richtig an. Als wären wir für einander bestimmt.

Schweigend laufen wir die Straßen entlang und genießen unsere gemeinsame Zeit.

„Hast du eigentlich einen Freund?", reißt mich Simara aus meinen Gedanken.

Was? Warum will sie das wissen? Würde ich mit ihr Hand in Hand gehen, wenn das so wäre?

„Warum wollen Sie das wissen?"

Sie zuckt mit den Schultern. „Nur so. Du kannst mich übrigens duzen, wenn wir alleine sind. Ich bin Simara."

Aha. 'Nur so' also. Aber Ich darf sie duzen! Das ist einfach unglaublich.

„Darf ich dich auch Simi nennen?", schlage ich ihr lachend vor.

„Ich glaube ich ziehe das Angebot zurück.", lacht sie ebenfalls. Dann boxt sie mir spielerisch gegen den Arm.

Doch schnell wird sie wieder ernst.
„Also?"

Ah ja. Die Frage mit dem Freund. Anscheinend will sie das unbedingt erfahren.

„Nein, ich habe keinen Freund."

Erstaunt schießen Simaras Augenbrauen in die Höhe. Ist sie wirklich so überrascht?

„Warum? Ich meine, wie kann das sein?"

Nun zucke ich mit den Schultern. „Hat sich bisher nicht ergeben. Was ist mit dir?"

Sie zögert. „Ich auch nicht."

In diesem Moment fällt mir so ein großer Stein vom Herzen. Ich bin so erleichtert, dass sie keinen Freund oder Ehemann hat.


Mittlerweile sind wir vor dem Hotel angekommen. So weit ist die Strecke gar nicht gewesen. Allerdings hat mir Simara zum Ende hin sehr leid getan, sie hat vor Kälte sogar schon gezittert und ihre Nase, sowie ihre Wangen sind rot angelaufen. Irgendwie süß.

Hintereinander betreten wir die Eingangshalle.

„Simara! Endlich, ich habe mir schon solche Sorgen gemacht."

Herr Berger kommt mit langen Schritten fast auf uns zu gerannt. Hat er etwa die ganze Zeit im Eingangsbereich auf uns gewartet? Wahrscheinlich eher nur auf Simara.

„Alles gut.", beschwichtigt Simara ihn.

„Nichts ist gut! Wie kannst du nur so etwas sagen? Es hätte sonst was passieren können."

Herr Berger wird immer lauter und gestikuliert heftig.

Irgendwie scheint Simara die ganze Situation unangenehm zu sein. Genau wie mir.
Herr Berger behandelt Simara wie ein Kind. Oder so, als wäre sie seine Freundin, als wäre sie sein Eigentum. Ist sie aber nicht! Das weiß ich jetzt.

Die beiden Blicken sich finster an.
„Ich weiß. Ist es aber nicht."

Selbstsicher und herausfordernd blickt sie Herrn Berger an.

Stille. Erdrückende Stille.

„Sim... ähhh Frau Winter ist nur mir zu Liebe gelaufen. Ich bin also Schuld. Sonst wären wir schon längst da.", werfe ich leise ein.

Die beiden ignorieren mich vollkommen. Na danke. Ich bin auch noch anwesend! Unruhig trete ich von einem Fuß auf den Anderen.

„Lass uns die Sache einfach abschließen.", schlägt Frau Winter schließlich so ruhig wie möglich vor.
Und noch immer werde ich keines Blickes gewürdigt.

„Das kannst du nicht einfach so stehen lassen.", erwidert Herr Berger bestimmend, besitzergreifend.

Langsam verwandelt sich Frau Winter Miene zu Stein. Fühlt sie sich etwa von Herrn Berger angegriffen? Sie sagt jedoch nichts, aber ich spüre, wie es in ihr brodelt.

Mehrere Blickgefechte später widmet sich Herr Berger mir. Ich glaube das „Ignoriert-werden" ist gar nicht schlecht. So im Nachhinein betrachtet.

„Und das Ganze, mein Fräulein, wird noch ein übles Nachspiel für dich haben!"
Ich schaue von Frau Winter zu Herrn Berger und wieder zurück. Oh oh. Was kommt denn jetzt? Und dann ist mit der vorgetäuschten Ruhe vorbei.

„Das ist meine Schülerin und ich handhabe diese Sache so wie ich es für richtig halte!"
Simaras Augen stechen geradewegs durch Herrn Berger durch. Dieser Ausdruck verleiht Frau Winter oder ihren Augen, eine gewisse Härte.
Sie duldet keine Wiederworte, das höre ich an ihrer scharfen Stimme.

Ich denke, dass Simara im Grunde sehr gutmütig ist, aber wenn die Grenze bei ihr überschritten ist oder sie sich eingeengt fühlt, macht sie innerlich dicht und lässt nichts mehr an sich heran. Das gelingt ihr sehr gut. Niemand würde sich jetzt trauen ihr zu widersprechen. Sie wirkt fast schon gefährlich.

„Also gut. Aber ich hoffe angemessen!", fügt Herr Berger resigniert hinzu, anscheinend hat er die Veränderung in Simara gespürt.

„Du kannst mir nichts vorschreiben, Chris."

Energisch geht Frau Winter in die Richtung unserer Zimmer. Ich will ihr folgen, doch Herr Berger hält mich am Arm fest.

„Bilde dir da bloß nichts drauf ein. Nur weil sie versucht dich zu beschützten, heißt das noch lange nicht, dass da mehr ist."

Er wirft mir vernichtende Blicke zu.

„Glaub mir, ich kenne sie schon sehr lange..... und sie treibt gerne Spielchen mit kleinen Mädchen."

Will er etwa mit Absicht meine Einstellung zu Simara manipulieren?

„Da haben Sie recht, vielleicht ist da nicht „mehr". Aber nur weil sie Frau Winter schon lange kennen, heißt das nicht, dass Sie auch wirklich wissen, was in ihr vorgeht und wie sie denkt. Oder was sie für eine Person ist und welche Absichten sie verfolgt, schon allein, dass Sie sie so in die Enge getrieben haben beweist doch, dass Sie keine Ahnung von ihr haben, denn dann wüssten Sie, dass das alles nur verschlimmert."

Ich frage mich dennoch, was an seinen Worten dran ist.
Ich weiß, dass Simara verdammt wechselhaft und ironisch ist. Sie liebt es ihre Schüler mit irgendwelchen Kommentaren zu ärgern. Aber ich traue ihr nicht zu, ein so falsches, künstliches Spiel zu treiben. Täuscht sie die Freundlichkeiten nur vor? Fädelt sie alles im Hintergrund ein? Wenn ja, mit welchen Interessen? Gibt es die Simara, die ich kennengelernt habe, vielleicht so gar nicht. Vielleicht ist alles geplant, von vorne bis hinten. Sie müsste eine verdammt gute Schauspielerin sein.

Wenn es Herrn Bergers Ziel gewesen ist mich zu verwirren und sogar misstrauisch werden zu lassen, dann ist es ihm hiermit gelungen. Aber ich verlasse mich immer noch mehr auf meine eigene Wahrnehmung. Von nun an bin ich zwar etwas vorsichtiger, meine Gedanken bezüglich meiner Lehrerin werde ich mir schon noch selbst bilden.

Ich straffe meine Schultern und versuche mich etwas größer zu machen, als ich wirklich bin. Ein bisschen lächerlich. Im Vergleich zu Herrn Berger wirke ich wie eine Grundschülerin.
Dann reiße ich mich los und laufe Frau Winter hinterher.

Wir sind vor Frau Winters Zimmer angekommen, sie hat sich auf dem Weg kein einziges Mal umgedreht oder irgendetwas gesagt.

„Tut mir leid.", flüstere ich ihr schließlich zu, ich bin mir nicht sicher, ob sie sauer auf mich ist.

„Für was entschuldigst du dich schon wider?!", wirft mir Frau Winter gereizt vor. Ihre Augen bohren sich in Meine.

„Na, ja...ich weiß nicht... Herr Berger und so? Sind Sie jetzt sehr wütend?", kleinlaut bringe ich die Worte hervor. So habe ich Frau Winter noch nie erlebt. Richtig kalt, hart.

„Nein.", sie holt Luft und atmet sie dann stoßweise wieder aus.

„Gott nein! Ich mag es nur überhaupt nicht, wenn man mich zu etwas drängen will und über meinen Kopf hinweg entscheidet, was ich hätte tun sollen oder was das Beste für mich ist.", gibt sie leise zu.

Das klingt ehrlich und bestätigt meine Auffassung ihres Verhaltens. Ich liebe sie noch ein Stück mehr, wenn das überhaupt möglich ist. Ich erkenne zum Ersten mal richtig deutlich, dass Frau Winter auch Ecken und Kanten hat. Dass sie doch nicht so einwandfrei ist, wie ich immer geglaubt habe. Aber genau das macht sie eigentlich noch perfekter in meinen Augen.

„Mhhh." Ich nicke.
„Und was jetzt? Ich meine, wegen der Sache.", füge ich dann noch schnell hinzu.

Frau Winter ist schnell wieder die Alte. Sie kann regelrecht von einer Laune auf die andere switchen, wie in einem Fernsehprogramm. Aber dafür feiere ich diese kleinen Momente, in denen sie mir ihre echten Gefühle und Gedanken preis gibt, umso mehr.

Falls das je ihre echten Gefühle und Gedanken gewesen sind und sie dich nicht mit Absicht von vornherein hinters Licht geführt hat, wispert mir eine innere Stimme von irgendwoher leise zu. Ich unterdrücke selbige. Nein. Das kann ich nicht glauben.

Du meinst wohl eher 'das will ich nicht glauben' schleicht sich dieses Stimmchen erneut in meinen Kopf.

„Wir reden morgen, nach dem Frühstück, noch einmal darüber. Komm dann einfach vorbei."
Mit diesen Worten verabschiedet sich Simara von mir. Müde reibt sie sich über die Augen.

„Schlaf gut.", hauche ich ihr zu. Sie lächelt warm.

„Du auch. Und träum süß!"

Oh ja. Das werde ich. Von ihr. Wenn sie nur wüsste.... . Ich lächle zurück. Dann verschwindet sie hinter der einen Tür, während ich auf die Andere, nebenan, zugehe.

Zum Millionsten Mal überlege ich, warum diese umwerfende Frau so ist, wie sie ist.

 

Julia ist nicht im Zimmer. Was für eine Überraschung! Sie schläft bestimmt heimlich bei ihren Mädels. Ich ziehe mir mein Schlafshirt an und krieche unter die Bettdecke, dann stelle ich meinen Handywecker auf 7:00 Uhr und hoffe, dass er laut genug ist, mich aufzuwecken. Blöderweise ist mein – übrigens extrem lauter (ich wache sonst nicht auf) – Wecker nach wie vor kaputt.
In Gedanken bei der wunderschönen Simara schlafe ich ein.

Von Sonnenstrahlen, die mich blenden, werde ich geweckt. Zufrieden strecke ich mich und gähne genießerisch, fehlt nur noch eine Person, dann wäre der Moment perfekt. Wundervolle Nacht und noch wundervollere Simara. Und der Tag gestern war einfach toll, also besser gesagt der gemeinsame Rückweg. Einzig der Vorfall mit Herrn Berger trübt das Ganze und ich bin wirklich gespannt was für Simara eine 'angemessene Strafe' ist oder was sie später zu mir sagen wird. Außerdem bin ich ihr etwas schuldig!

Ein breites Grinsen stiehlt sich auf mein Gesicht. Mensch, Lucia. Sei mal nicht so bekloppt!

Ich liege noch ein paar Sekunden entspannt da, als mir schlagartig einfällt, dass der Wecker nicht geklingelt hat.

Möglichkeit eins: Ich bin viel früher aufgewacht (was sehr sehr unwahrscheinlich ist) und Möglichkeit zwei: Ich habe mal wieder verschlafen.

N e i n.
Das darf nicht wahr sein. Mit meiner rechten Hand taste ich nach meinem Handy, diesem Verräter. Genau 7:40 Uhr.
Noch 20 Minuten bis wir uns beim Frühstück treffen wollen. Eigentlich nochmal Glück gehabt. Trotzdem ein Spaß wird das jetzt nicht. Aber ich darf nicht zu spät kommen. Simara wird mich umbringen. Qualvoll.
Lucia, jetzt übertreib mal nicht!

Schneller als schnell springe ich unter die Dusche, in Rekordzeit bin ich fertig, verschwende aber keine Zeit mit dem Föhnen meiner Haare, sondern binde sie einfach zu einem lockeren Knoten zusammen.
Dann schminke ich mich dezent, für mehr ist auch keine Zeit. Hüpfe in eine bequeme Bluejeans und ein bauchfreies schwarzes Top, das ich mit einer dunkelbraunen Sweatshirtjacke kombiniere. Dazu noch meine schwarzen Converse Chucks, die ich vermutlich bald wegschmeißen kann, so alt wie die sind (sie mussten auch schon viel mitmachen in ihrem kurzen Leben).

Um genau 8:00 Uhr betrete ich den Frühstücksbereich. Alle sitzen schon an irgendwelchen Plätzen. Herr Berger bei Frau Winter, die gekünstelt in seine Richtung lächelt und einen Kaffee trinkt. Anscheinend ist es zwischen den beiden sehr angespannt, versuchen aber diese Tatsache nach außen hin zu verstecken.

Jedoch habe ich Simaras Gesichtszüge schon so viele Stunden genau inspiziert, dass ich ein ehrliches Lächeln, von einem Unechten unterscheiden kann. Hoffe ich zumindestens. Sie kann mir das einfach nicht vorspielen. So gut ist niemand.

Als sie mich erblickt, hellt sich ihr Gesicht auf, sehr zu Herrn Bergers missfallen, denn seine Augen werden finsterer.
Ich schlendere wie beiläufig an den Zweien vorbei. Von diesem Berger lasse ich mich nicht einschüchtern, nicht wenn es um Simara geht.

„Sehr zeitig, wie immer Lucia."

Das musste jetzt einfach von ihr kommen.

„Ich gebe mein Bestes, wie immer Frau Winter.", erwidere ich etwas frech.

Sie grinst und meine gute Tat für heute ist vollbracht, außerdem mein Tag gerettet.
Dann bin ich auch schon an ihnen vorbei und suche mir ein Tablett, auf das ich mein Frühstück lade.

Alle sind inzwischen schon mit dem Essen fertig nur ich kaue noch.

„Hört mal alle her!", schallt die kräftige Stimme von Herrn Berger durch den Abteil unserer Klasse.
„Jetzt ist es 8:15 Uhr und um 10 holt uns der Bus ab, dann fahren wir in ein DDR-Museum. Seid bitte alle pünktlich....."

Sein Blick trifft wie zufällig mich.

„Und nehmt euch was zu trinken mit. Essen könnt ihr eventuell auch dort kaufen und zieht euch feste Schuhe an. Bis dahin habt ihr Freizeit."

Alle schwärmen aus. Ich als einzige bringe noch mein Tablett weg. Ob ich jetzt schon zu Simara gehen soll? Sie meinte ja, dass ich nach dem Frühstück mal bei ihr vorbeischauen solle. Ich beschließe es so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Ich bin nämlich wahnsinnig aufgeregt.

Wenig später klopfe ich unsicher an Simaras Tür.

„Hereinspaziert.", lautet ihr Kommentar, nachdem sie mir geöffnet hat.

Ich betrete das Zimmer, es ist identisch zu Julias und meinem.
Unschlüssig bleibe ich in der Mitte des Raumes stehen.

Simara lacht.
„Nur keine Scheu, setz dich ruhig auf das Bett."

Was ich dann auch tue. Irgendwie riecht hier alles nach Simara. Ich bin in einer himmlischen Duftwolke gefangen. Einfach berauschend. Benebelnd.
Sie setzt sich neben mich.

„Wegen gestern.....", greife ich das Thema auf „....was erwartet mich jetzt?"

„Schwer zu sagen, Herr Berger ist da einer anderen Ansicht als ich, wie du bemerkt haben dürftest. Es ist schwierig, weil ich nicht weiß, warum du nicht einsteigen wolltest. Ich meine, auf der Hinfahrt gab es ja auch kein Problem."

„Das ist kompliziert. Ich habe nicht mehr daran gedacht. Auf der Hinfahrt war es wesentlich leerer .......
und dann habe ich diese vielen Menschen gesehen und Panik bekommen. Ich war komplett blockiert. Ich hasse Berührungen. Ich lasse mich normalerweise auch von Niemandem anfassen."

Irgendwie ist alles einfach so aus mir herausgebrochen. Ich konnte nicht anders. Frau Winter ist eine verdammt gute Zuhörerin.
Schweigen.

„Normalerweise?", hackt sie trotzdem nach.

„Ja."

„Wer ist die Ausnahme?"

„Du."

Sie hebt eine Augenbraue, so wie sie das immer tut.

„Was ist an mir so anders?"

„Alles. Du bist perfekt."

Simara lacht erneut.
„Wenn es jemanden gibt, der nicht perfekt ist, dann bin das ich."

„Für mich bist du es."

Ihr Lachen verstummt. Ihre Augen verdunkeln sich. Verlangen lodert in ihnen auf.

„Sag sowas nicht. Jemand der perfekt ist, würde so etwas nicht tun."

Gerade als ich darüber nachdenken will, was zum Teufel sie schon wieder damit gemeint hat, treffen mich ihre Lippen.

Im ersten Moment bin ich wie erstarrt. Moment, passiert das hier gerade wirklich?

Simara küsst mich. Und wie.
Nicht das ich einen Vergleich hätte. Aber dieses Gefühl ist einfach unglaublich, Simaras Nähe so berauschend.
Alles in mir beginnt zu kribbeln, wie in Trance spüre ich, dass Simara ihre Hände in meine Haare gräbt und leicht an ihnen zieht. Ich seufze genießerisch. Wie von selbst legen sich meine Arme um ihren Nacken und drücken sie noch näher an mich heran. Ich nehme ein gedämpftes Stöhnen von Simara war.

Dann verschwimmt alles um mich herum. Nur noch sie. Ihr Duft. Ihre Lippen. Weich und sanft. So Nahe. So gut. Ich bin einfach überwältigt. Komplett sprachlos. Atemlos.
Vorsichtig beginne ich den Druck ihres Mundes zu erwidern. Meine Gefühle steigern sich ins Unermessliche. Es fühlt sich einfach unbeschreiblich gut an. Der Kuss vertieft sich noch, wird leidenschaftlicher.

Nach einigen Sekunden löst sich Simara keuchend von mir. Sie atmet heftig, genau wie ich.
Irgendwie wissen wir beide nicht so recht, wie wir mit der Situation umgehen sollen. Für mich ist klar, dass ich sie liebe. Aber was genau empfindet sie? Was genau hat sie zu diesem Kuss verleitet?
Betreten blicken wir beide auf den Boden.

„Es tut mir leid, ich wollte nicht....", zögernd versucht Simara Winter sich zu erklären.
Und ich glaube es einfach nicht. Sie entschuldigt sich bei mir. Für sowas!

„Entschuldigen Sie sich nicht, nicht dafür."

„Und schon sind wir wieder förmlich.", stellt sie schließlich fest und lächelt traurig.

Aber was erwartet sie von mir?

„Entschuldige dich nicht bei mir. Erkläre es mir lieber.", versuche ich es erneut.

„Lucia, das eben, das war ein Fehler. Das hätte nicht passieren dürfen. Und wird es auch nicht mehr.", erwidert Simara schwach.

Ganz so überzeugend klingt das jetzt aber nicht.

„Aber das war.....", mir fehlen einfach die Worte dafür. Ich liebe sie so. Und ich will dieses Gefühl nicht länger missen, ich will ihre Nähe nicht missen. Will bei ihr sein, immer.

„Nichts."

„Bitte?"

„Das war nichts. Der Moment war toll, aber wie alles andere vergänglich und er wird auch nicht wiederkommen. Ich schlage vor, dass wir beide das ganze einfach vergessen werden.."

Ich merke, wie ich langsam wütend werde, immerhin hat sie mich geküsst, nicht andersherum. Egal wie sehr ich es genossen habe und wie sehr ich mir diesen Kuss herbei gewünscht habe, trage ich keine Schuld an ihm.

„Das ist also deine perfekte Lösung dafür? Einfach alles vergessen, als wäre nie etwas passiert? Ist es aber. Und verdammt nochmal vielleicht war es auch ein Fehler, aber ich habe mich nicht dafür entschieden dich zu küssen. Darf ich dich daran erinnern, das immer noch du mich geküsst hast?! Weißt du eigentlich wie ich mich dabei fühle? Dieses ständige hin und her macht mich fertig. Erst küsst du mich, dann entschuldigst du dich bei mir und erklärst mir, dass es falsch gewesen ist. Ich habe keine Ahnung was ich denken oder wie ich mich verhalten soll."

Simaras Augenbrauen ziehen sich zusammen. Ihr Gesicht ist wieder zur Maske geworden. Scheinbar teilnahmslos blickt sie auf ihre Armbanduhr.

„Es ist zehn nach neun, ich muss mich jetzt fertig machen. Du gehst jetzt besser.", ist das einzige was Frau Winter daraufhin kühl erwidert.

Wars das jetzt etwa? Mehr hat sie dazu nicht zu sagen? Ich bin enttäuscht. Wütend und sauer. Böse blicke ich sie an. Ich gestehe ihr indirekt meine ganzen Gefühle und sie weist mich einfach ab, sagt nicht mal was dazu, geht nicht darauf ein und ignoriert meine Aussage.
Ich stehe auf, streiche meine Jacke glatt und verlasse ihr Zimmer. Zum allerersten Mal hasse ich es, dass ich sie so sehr liebe.

Mittlerweile ist es bereits fünf Minuten nach zehn Uhr. Meine Klasse steht versammelt vor dem Hotel, der Bus ist auch schon da. Nur die beiden Lehrkräfte fehlen noch. Wo doch Frau Winter so viel Wert auf Pünktlichkeit legt. Ein bitteres Lächeln kann ich einfach nicht verkneifen. Noch immer bin ich zutiefst enttäuscht. Immerhin ist Simara eine erwachsene Frau, die zu ihren Taten stehen sollte.

Die Eingangstüren öffnen sich und ich erkenne Herrn Berger, der schnellen Schrittes auf uns zukommt. Ohne Simara Winter.
Die Anderen werden nun auch auf unseren Lehrer aufmerksam.

„Wo isn Fr. Winter?", rufen ihm ein paar Schüler entgegen.

„Ihr geht es heute nicht so gut, sie hat entschieden im Hotel zu bleiben und sich auszuruhen."

Ich glaubs einfach nicht! Das kann sie doch nicht machen! Als ich bei ihr gewesen bin war sie noch topfit. Sie drückt sich einfach vor einer weiteren Auseinandersetzung.

„Nichtsdestotrotz werden wir ganz viel Spaß haben. Ab in den Bus."

Alle steigen hintereinander ein. Und ich fasse einen Entschluss. Was Frau Winter kann, kann ich auch. Ich lasse mich ganz ans Ende zu Herrn Berger zurückfallen.

„Ähm, Entschuldigung Herr Berger?"

Mit einer gespielt schwächlichen Stimme spreche ich meinen Lehrer an.

„Was gibt's?", erwidert dieser schroff.

„Auf einmal ist mir total schwindelig und schlecht, ich glaube nicht, dass ich mitfahren kann."

„Da bin ich anderer Meinung, rein mit dir."

Nein, nein, nein. Streng dich mehr an Lucia! Ich schiele zum Busfahrer.

„Mir ist aber wirklich schlecht, ich kann für nichts garantieren."

Ich schaue erneut zum Busfahrer.

„Ich hoffe doch sehr, dass mir dieses Mädchen meinen Bus nicht dreckig macht.", mischt sich dieser prompt ein.

Jaaaaaaaa, geschafft! Kreischt meine innere Stimme.
Herr Berger ringt mit sich, er will mich nicht zurück lassen andererseits aber auch keine 'kranke' Schülerin mitschleifen, die Probleme bereiten kann.

„Also gut, dann bleibst du eben im Hotel."

Fast schon hätte ich vor Freude einen Luftsprung gemacht, aber dann wäre ich wahrscheinlich nicht länger glaubwürdig gewesen.

„Danke, Herr Berger.", ich versuche ein möglichst freundliches Lächeln aufzusetzten.

Gerade will ich zurück zum Hotel laufen, als er mich zurückhält.
Er beugt sich weit zu mir herunter. Sein Atem streift mein Gesicht, am liebsten wäre ich geflohen.
Ein paar Momente vertreichen.

„Dann bist du jetzt also endgültig auf sie hereingefallen.", flüstert er mir anschließend ins Ohr.

Bei seinen Worten bekomme ich eine Gänsehaut. Diese Andeutungen sind mir langsam echt unheimlich.

„Ich weiß nicht was Sie meinen. Mir geht es nicht gut, ich werde mich gleich hinlegen."

„Natürlich weißt du das. Richte Frau Winter schöne Grüße von mir aus."

Er richtet sich auf und steigt in den Bus.

Nachdenklich blicke ich ihm hinterher.
Dann beeile ich mich wieder in mein Zimmer zu kommen. Was sollen nur diese verdammt komischen Bemerkungen? Was will Herr Berger damit bezwecken?
Ich habe schon selbst herausgefunden, dass Simara Winter unberechenbar ist, aber sie gleich so einzuordnen? Ich denke, da steckt mehr dahinter. Muss es einfach. Und ich werde alles dafür tun, die harte Nuss Frau Winter zu knacken.

 

Mit gesenktem Kopf laufe ich den scheinbar endlos langen Gang zu meinem Zimmer entlang. Dabei komme ich an Frau Winters Zimmer vorbei und bleibe unwillkürlich vor ihrer Tür stehen. Wie ferngesteuert hebt sich meine rechte Hand um anzuklopfen.

Lucia, geht's dir noch gut?  Flüstert mir meine innere Stimme zu.
Diese Frau hat dir vorhin eine Abfuhr erteilt und nun willst du schon wieder angekrochen kommen? Das wirst du nicht tun!

„Du hast ja recht..", seufze ich leise vor mich hin.

Seit wann rede ich eigentlich mit mir selbst? Ob das schon zu einer psychischen Verhaltensstörung zählt?

„Das ist eine gute Frage.", antworte ich meinen Gedanken.

„Was ist eine gute Frage, Lucia?"

„Na, ob ich eine psychische Störung habe.", sage ich automatisch.

Moment.... stopp.... nein. Oh Gott nein! Vor mir steht Fr. Winter mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

„Eigentlich habe ich das nicht gedacht, aber jetzt bin ich mir da irgendwie nicht mehr so sicher. Stalking ist strafbar."

„Stalking?"

„Na ja, du stehst immerhin direkt vor meiner Tür. Wer weiß wie lange schon."
Ihr Grinsen wird noch breiter, wenn das überhaupt möglich ist. Sie nutzt eindeutig diese Situation aus.

„Können wir bitte ein paar Sekunden zurückspulen?"

„Ach.. warum denn? Jetzt wo's gerade lustig wird."

Simara lacht. Erst starre ich ihr finster entgegen. Warum nur, und verdammt nochmal wie bringt sie es nur jedes mal fertig, dass ich ihr verzeihe, ohne, dass sie etwas dazu tut? Ich kann ihr einfach nicht länger böse sein. Das muss definitiv aufhören.
Schließlich muss auch ich lachen.

„Aber jetzt mal im ernst, was machst du eigentlich hier?"

„Ach, wissen Sie, mir geht's nicht so gut. Ich muss mich dringend ausruhen.", wiederhole ich das, was zuvor Herr Berger zu uns über Frau Winter gesagt hat.

„Davon merkt man aber nix.", sie runzelt die Stirn.

„Na und? Bei Ihnen ja auch nicht. Ich leide eben innerlich still vor mich hin."
Ich ziehe eine Grimasse. „Was ist Ihre Entschuldigung?"

„Oh, wie überaus tapfer von dir. ICH  brauche keine Entschuldigung."

„Tschuldigung. Ich vergaß. Sie sind ja die 'allmächtige Frau Lehrerin Simara Winter'."

„Wie konntest du das nur vergessen? Und im Übrigen reicht 'Frau Winter' vollkommen."

„Oder 'Simi'.", füge ich lachend hinzu.

„Untersteh dich!", Simara schaut gespielt böse und hebt ihren Zeigefinger.
„Ich dachte, das hätten wir bereits geklärt.", nun schmunzelt sie.

„Was haben Sie nur gegen 'Simi'? Das klingt doch total niedlich."

„Eben. Du willst bestimmt auch nicht 'Lulu' genannt werden."

„Das kann man so ja gar nicht vergleichen. 'Lulu' ist nicht niedlich, sondern eher kindisch."

„Und 'Simi' nicht? Einigen wir uns einfach auf 'Lucia' und 'Simara'."

„Okay...bis auf Ausnahmefälle.", muss ich trotzdem einwenden, es macht einfach so viel Spaß sie zu provozieren und mit ihr Quatsch zu machen. Jetzt verstehe ich auch all die Männer, die sie nicht nur anstarren wegen ihres Aussehens, sondern sich auch mit ihr unterhalten wollen. Mit ihr ist es einfach nie langweilig.

Simara zieht eine Augenbraue hoch. „Die da wären?"

„Zum Beispiel wenn du es verdient hast geärgert zu werden." Ohne, dass ich es verhindern konnte bin ich wieder ins 'du' gerutscht.

„Gott sei Dank kommt das bei mir nie vor.... jetzt dachte ich schon."

„Haben Sie eigentlich einen richtigen Spitznamen, ich meine, wie ihre Freunde Sie nennen."

„Hast DU eigentlich einen richtigen Spitznamen, wie DEINE Freunde DICH nennen.", korrigiert mich Simara.
Ich muss lächeln.

„Nun?", frage ich erneut nach.

„Meine Freunde nennen mich meistens nur Mara und meine Eltern – wehe du lachst jetzt – nennen mich noch heute 'Sisi'."

„Mhhh, irgendwie gefällt mir 'Sisi', das ist ja fast noch süßer als 'Simi'.", ich setzte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf, um Simara noch mehr zu ärgern.

„Ich hoffe sehr für dich, dass du jetzt nicht das denkst, von dem ich ausgehe."

„Oh, die Frau Lehrerin beginnt mir zu drohen, wie unprofessionell ist das denn.", wie ein richtiger Teenager beginne ich vor mich hinzukichern. Oh mein Gott bin ich peinlich.

Mit ihr ist es so unbeschwert. Na ja, nicht immer. Ich denke an ihre unvorhersehbaren Stimmungsschwankungen. Mich wundert es, dass sie das Gespräch bis jetzt nicht nur geduldet, sondern auch darauf eingegangen ist. Das ist nämlich wirklich unprofessionell, mit einer Schülerin so umzugehen, das ist mir klar. Aber küssen ist erlaubt, oder was? Mischt sich ein Teil von mir ein. Nein, natürlich nicht Lucia! Wenn ich ehrlich bin, kann ich gar nicht verstehen, warum Simara so etwas überhaupt riskiert. Und dann noch ausgerechnet bei mir, sie kann doch fast alle haben.

„Im Gegensatz zu deinem Kichern ist 'Sisi' nicht nur nicht süß, sondern unbedeutend. Ach ja, und darf ich dich darauf hinweisen, dass du mir noch etwas schuldig bist, ich muss dir also gar nicht drohen.", unschuldig blicken mich diese blauen Augen ein.

Niemand, einfach niemand könnte ihr widerstehen. Sie ist einfach der Wahnsinn. Wortwörtlich.

Was sie nur von mir will?

„1:0 für Sie....dich. Und was hast du da im Sinn?"

„Es müsste eigentlich mindestens 10:0 für mich stehen, aber ich weiß ja, dass Mathe nicht zu deinen Stärken gehört. Für's erste reicht mir ein ordentlicher Kaffee. Wir könnten ja einen trinken gehen?"

Für's erste?  Diese Frau macht mich wirklich fertig.

„Meinetwegen.", wir lächeln uns gegenseitig an.

„Dann treffen wir uns in ca. 15 Minuten wieder hier und gehen in ein Cafe in der Nähe?", schlägt sie vor.

„Klar. Bis dann."

Ich drehe mich um und gehe in mein Zimmer. Dort setzte ich mich erstmal aufs Bett und schließe die Augen. Simara Winter. Ich seufze. Geistig zähle ich schon die Minuten, bis irgendwas sie wieder dazu verleitet so kalt und abweisend zu werden. Jedesmal trifft mich das nämlich mehr, weil ich ihr immer näher komme.


Wir sitzen uns gegenüber. Im Café. Ich mit einer heißen Schokolade, sie mit einer Tasse Kaffee. Als ich vor wenigen Minuten meine Schokolade bestellt hatte, bedachte mich Simara wieder mit jenem typischen Blick und ihrem ironischen Grinsen.

„Heiße Schokolade?"

Hat sie mit einer hochgezogenen Augenbraue gefragt.

Ich weiß, viele Teenager trinken heutzutage alle Varianten von koffeinhaltigen Getränken, aber ich habe den Geschmack einfach nie besonders gemocht. Auch nicht um 'cool' zu sein.
Errötend habe ich genickt. Dann war es still. Jeder hat gedankenverloren auf seine Tasse gestarrt.

„Erzähl mir was von dir.", durchbricht Simara das Schweigen.
Ach, so etwas liebe ich ja abgöttisch. Bei so einer Art von Aufforderung kann man so wunderbar ausschweifend über seine überragende Vergangenheit und sogar Gegenwart berichten.

„Das ist ja noch wesentlich schlimmer als die geniale Inquisition am Anfang des Schuljahres!", trotzig blicke ich sie an und sie erwidert entgeistert den Augenkontakt.

„Ach komm, so schrecklich ist das doch gar nicht gewesen."

„Na ja. Du musst schon zugeben, dass manche Fragen sehr peinlich gewesen sind."
Ich spiele speziell auf die BH-Größen-Frage an.

Nun grinst Simara anzüglich.
„Also ich hätte die Antwort gerne gewusst. Aber du hast dort vorne so verloren gewirkt, da dachte ich, ich spiele mal den heldenhaften Ritter und rette dich."

„Wie großzügig von dir. Dabei darf man nur nicht vergessen, dass du es warst, die mich überhaupt erst in diese Situation gebracht hat.", entgegne ich lächelnd.

Unschuldig schaut mich Simara mit ihren großen blauen Augen an.
„Trotzdem würde ich gerne mehr über dich erfahren."

„Da gibt es nur nicht viel zu erzählen. Und alles andere weist du doch eh schon."

„Mhhh... lass mich nachdenken..... ich weiß, dass du der pünktlichste Mensch bist, der mir je untergekommen ist. Wie du das immer hinbekommst, das ist einfach der Wahnsinn!"
Sie grinst verschwörerisch.

„Sehr witzig. Dich will ich mit kaputtem Wecker sehen!"

„Es mag dich überraschen, aber ich besitze gar keinen. Ich bin Frühaufsteherin und wache meistens von selbst auf."

Ich seufze.
„Ich wünschte das würde auch bei mir funktionieren."

„Du brauchst vielleicht nur jemanden, der dir auf die Sprünge hilft."

Was zur Hölle soll das schon wieder? Jedes normale Gespräch mit ihr läuft irgendwann in eine solche Richtung.

„Du hast recht. Hast du jemanden bestimmten im Sinn? Vielleicht eine unglaublich attraktive Lehrerin, die gerade in einem Café sitzt und Kaffee trinkt?"

„Ja, so ähnlich habe ich mir das vorgestellt. Nur, dass diese unglaublich attraktive Lehrerin...."
Simara grinst mir frech entgegen.
„.... einer unglaublich attraktiven Schülerin gegenüber sitzt."

Errötend blicke ich auf meine Hände. Dann spüre ich Simaras angenehm kühle Finger an meinem Kinn. Sachte hebt sie meinen Kopf an, sodass ich ihr direkt in die Augen schauen muss.

In diesem Moment wollte ich es einfach wissen. Die Gelegenheit wäre einfach perfekt. Sie und ich alleine im Café. Niemand da, der uns kennen könnte. Der uns hören könnte.
Andererseits würde ich mit dieser Frage die lockere Stimmung mit einer hundertprozentigen Wahrscheinlichkeit zerstören.
Ich räuspere mich, denn mit einem mal ist meine Kehle staubtrocken.

„Warum?", bringe ich krächzend hervor, während wir uns immer noch tief in die Augen blicken.

Verständnislos starrt mir Simara entgegen. Ich sehe, wie sich ihre Stirn in Falten legt.
„Warum was?"

„Warum hast du mich geküsst, Simara?"

Sie zuckt mit den Schultern.
Schon allein diese Geste bringt mich auf 180. Aber ich zwinge mich ruhig auf meinem Platz sitzen zu bleiben. Ich will mich einfach nicht länger so von ihr herumschubsen lassen. Langsam komme ich mir wirklich wie ein Spielzeug vor. Wie Katz und Maus. Unwillkürlich muss ich an Herrn Berger und seine komischen Aussagen denken. Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken herunter. Ob da doch was dran ist?

Dann lässt sie die Bombe endgültig platzen.
„Ich schätze, ich konnte da nicht widerstehen..", mit einer wegwerfenden Handbewegung tut sie alles einfach so ab.

Unheimlich verletzt und enttäuscht starre ich wieder auf meine Hände.

„Ich gehe jetzt.", beschließe ich mit einer monotonen, aber zittrigen Stimme. Leider klinge ich nur halb so selbstsicher wie ich das gerne gehabt hätte.

Wenn es immer nur das Gleiche mit ihr ist, muss ich sie ebenfalls auf Distanz halten, damit sie mich nicht jedes Mal so sehr treffen kann.
Hektisch springe ich vom Stuhl auf und knalle fünf Euro auf den Tisch.

Erstaunt und ein wenig erschrocken schaut Simara zu mir auf. Ein Anflug von Angst spiegelt sich in ihren Augen wieder.

„Bitte nicht.", flüstert sie so leise, dass ich es kaum verstehen kann und mit einem Mal sehe ich, wie zerbrechlich sie wirklich unter ihrer perfekten Maske ist.

Resigniert seufze ich.
„Also gut, aber dann möchte ich eine ernsthafte Erklärung.", angespannt lasse ich mich wieder auf dem Stuhl nieder.

„Du bist etwas besonderes für mich, Lucia.", gesteht sie mir schließlich.
„Und ich konnte dir wirklich nicht widerstehen."
Sie grinst verschmitzt.

Ich lächle zurück und ein unglaubliches Glücksgefühl durchströmt mich dabei. Ich bin ihr nicht egal. Für jetzt ist das mehr als ich zu hoffen gewagt habe.

Wortlos widmet sich jeder wieder seinem Getränk.


Ich liege im Bett und versuche die Ereignisse des Abends zu verarbeiten. Wir sind einen Schritt weitergekommen. Hoffe ich zumindest.

Wie berauscht starte ich in den nächsten Tag. Pfeifend hüpfe ich durch mein Zimmer und suche mir meine einzelnen Kleidungsstücke zusammen, die verteilt im ganzen Zimmer liegen. Wenn das Simara sehen würde... ich glaube sie würde überschnappen. Aber die Zimmerkontrolle habe ich ja Gott sei Dank schon hinter mir, also nichts zu befürchten.

Ich greife gerade nach meinem bequemen Kapuzenpulli als es an meiner Zimmertür klopft. Na toll. Wenn das jetzt Julia ist und meine innere Ausgeglichenheit zerstört, fresse ich einen Besen. Sorry.... ESSE ich einen Besen. Gerade jetzt wo ich so fröhlich bin und meine Ruhe genieße. Mein Oberteil anziehend laufe ich ans andere Ende des Raums, um die Tür zu öffnen.

Und tatsächlich: Julia steht davor.

Fast - okay, nicht nur fast - hätte ich mir gewünscht Simara stünde vor dieser Tür. Letztendlich muss ich jedoch vernünftig bleiben. Welchen Grund hätte sie schon zu mir zu kommen? Lucia, diese ganze Sache bringt dich irgendwann noch in enorme Schwierigkeiten. Und Simara erst! Immerhin ist sie die Volljährige - und natürlich die Lehrerin, die Verantwortungsperson. Mal wieder kriecht ein ungutes Gefühl in mir hoch. Warum zum Teufel tut sie all das? Warum lässt sie das zu? Warum nur? Sie bringt sich damit doch nur selbst in Gefahr. Wofür das ganze? Und verdammt, ist es nicht meine Pflicht mich von ihr fern zu halten? Auch um ihretwegen?

„Also, kannst du das jetzt für mich tun?"

„Ähh.. bitte was?", stottere ich.
Muss Julia immer alles so schnell erzählen?! Da ist es ja kein Wunder, dass man mit den Gedanken abschweift.

„Jaa, weil du doch sooo einen guten Draht zu Frau Winter hast."

Ich und einen guten Draht zu Simara... ist klar! Ich verstehe immer noch nicht was Julia von mir will.

„Was hat das jetzt mit Sima... ähm Frau Winter zu tun?"

Mist, ich darf sie einfach nicht mehr duzen, sonst passieren mir noch ständig solche Fehler!

„Das habe ich dir doch gerade erklärt!! Mensch Lucia, wo hast du nur deinen Kopf, zhhhh."

„Entschuldigung.", betreten blicke ich zu Boden. Aber immerhin will sie ja was von mir und nicht umgekehrt.

„Ob ich die Matratze von diesem Zimmer in das von meinen Mädels legen darf. Und wenn ich Frau Winter frage, sagt sie garantiert 'nein'.. während bei dir..."

Also an ihrer Stelle wäre ich da nicht so sicher ob das einen Unterschied macht, wenn ich Simara frage.
„Warum sollte ich das eigentlich für dich machen?"

„Na ja. Du hättest den Rest des Aufenthalts ein Zimmer ganz für dich alleine und deine Ruhe."

Mhhh.. das ist allerdings ein berechtigtes Argument.

„Was sagst du?"

„Also gut, ich machs. Bei Gelegenheit werde ich sie mal darauf ansprechen.", stimme ich schließlich zu.

„Super, du bist ein Engel!", über das ganze Gesicht strahlend verschwindet Julia.

Was habe ich mir da schon wieder eingebrockt?! Simara wird mich töten oder schlimmer.. eine Gegenleistung verlangen oder mich einfach auslachen... oder... oder... oder.

Obwohl ich dieses Mal pünktlich aufgestanden bin, muss ich mich jetzt ganz schön beeilen, Julia hat mich doch ganz schön aufgehalten.
Ich betrete das Badezimmer und kämme meine Haare. In den letzten Wochen sind sie richtig viel gewachsen. Sie reichen mir schon bis zur Taille. Gedankenverloren binde ich meine Haare zu einem hohen Zopf zusammen und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, nachdem ich Zähne geputzt habe. Ein bisschen Wimperntusche, ein bisschen Labello und schon bin ich für den Tag raus geputzt. Ich mache mich auf den Weg zum Frühstück. Das ist das erste Mal, dass ich wirklich rechtzeitig eintreffe.
Als ich wenig später an einem Tisch sitze und mein Brötchen hungrig verschlinge, lasse ich meinen Blick unauffällig durch den Saal schweifen. Nun, vielleicht doch nicht ganz so unauffällig wie gedacht, denn als ich Simara endlich erblicke grinst sie mir schon wissend entgegen und zwinkert mir verschwörerisch zu.
Schüchtern zwinkere ich schnell zurück und beschäftige mich daraufhin ziemlich ausführlich mit meinem Essen. Mir ist das so peinlich. Bei Simara wirkt einfach alles was sie macht verführerisch und sexy. Sie ist wahnsinnig selbstbewusst und das zu Recht. Ich hingegen muss wirklich sehr unbeholfen und lächerlich ausgesehen haben, denn als ich für ein paar Sekunden meinen Kopf hebe, sehe ich aus den Augenwinkeln, dass sich Simaras Grinsen noch verstärkt hat. Meine Güte, die Frau macht mich verrückt. Sie ist so sexy. Ich sehe ihre wundervollen Lippen vor mir. Als sich unsere Blicke zufällig wieder treffen, hypnotisiert sie mich mit ihren eisblauen Augen und ich muss hilflos mitansehen, wie sie aufreizend von ihrem Brot abbeißt und dann mit ihrer Zunge langsam über ihre Lippen fährt. Mir wird auf einmal ganz heiß und unzählige kleine Schauer jagen über meinen Rücken. Verflucht, das macht sie doch mit Absicht! Diese Teufelin! Ich hoffe inständig, dass mir mein Gesichtsausdruck nicht zu auffällig entgleist ist. Dabei starre ich immer noch Simara an, die unschuldig ihre Augenbraue hochzieht. Ich bemerke, dass sie fertig mit essen ist und gerade mit ihrem leeren Tablett aufsteht und in meine Richtung geht. Sie muss an mir vorbei, um ihr Tablett aufzuräumen.
An meinem Tisch angekommen, bleibt sie kurz stehen und beugt sich zu mir herunter.

„Ist dir nicht gut? Du bist irgendwie so rot im Gesicht..."
Ihre Augen blitzen und bevor ich etwas erwidern kann stolziert sie auch schon weiter.

Wir sitzen alle in unserem Reisebus auf dem Weg zur Gedenkstätte Hohenschönhausen. Ich mal wieder dazu verdonnert worden neben Simara vorne zu sitzen, doch wenn ich ehrlich bin stört mich das überhaupt nicht. Ich habe eher Angst davor, dass die Stimmung nach gestern Abend zu angespannt sein wird. Ich habe auch keine Ahnung was ich sagen soll. Also schließe ich erst Mal die Augen und ignoriere sie so gut wie möglich. Was sich als sehr schwierig herausstellt, denn ihr süßer Duft ist überall um mich herum und lullt mich ein. Simaras Maske ist so perfekt wie eh und je. Sie scheint auch nicht in der gesprächigsten Laune zu sein. Nach ihrem Geständnis weiß ich nicht wie ich mit ihr umgehen soll. Allerdings weiß ich immer noch nicht was das zu bedeuten hatte.

'Du bist etwas besonderes' wow, den Frosch, den ich mit 10 Jahren gerettet habe war auch besonders. Toller Vergleich, Lucia!

Daher bin ich ganz froh, dass auch sie nicht in der Stimmung zum Unterhalten ist.

Die Führung in der Gedenkstätte war wirklich sehr interessant. Ich konnte mich ausnahmsweise richtig auf unseren Leiter konzentrieren, da wir zu Anfang in zwei gleich große Gruppen aufgeteilt wurden. Ich war nicht in Simaras. Das erklärt warum ich der Führung meine komplette Aufmerksamkeit widmen konnte.

Ich laufe allein durch irgendwelche Straßen in Berlin. Da die Mehrheit meiner Klasse unbedingt noch Shoppen gehen wollte, hat uns der Busfahrer mitten in der Stadt raus gelassen. Der Beweis dafür, dass ich keinen Anschluss in der Klassengemeinschaft gefunden habe ist wohl, dass ich als einzige plötzlich ganz allein dagestanden habe. Simara ist lachend mit Herrn Berger abgehauen, als wären sie seit jeher die besten Freunde überhaupt. Ich bin so unendlich frustriert. So wie ich Simara kenne wird sie ihm gehörig Honig ums Maul schmieren. Baaah.
Ich schaue auf die Uhr, noch 20 Minuten bis wir uns wieder beim Bus treffen würden. Ich blicke mich um und stelle fest, dass ich direkt vor einem Schmuckladen stehe. Schulterzuckend betrete ich ihn. Ich habe ja sowieso nichts besseres zu tun. Gelangweilt schlendere ich durch die Gänge, bis ich abrupt stehen bleibe. Wie festgefroren starre ich auf dieses eine Schmuckstück. Es ist eine lange silberne Kette mit einem eisblauen Anhänger. Dieses Blau ist ist exakt die Farbe von Simaras Augen. Und genau wie in ihnen versinke ich und kann mich einfach nicht losreißen.

„Sie scheinen ja großes Interesse an dieser Kette zu haben.", spricht mich ein schmieriger Verkäufer an.

„Ich ...ja.", bringe ich hervor.

Ein Geschäft witternd beginnt der Verkäufer mir verschiedene Details über die Kette zu erzählen. Ich erfahre, dass es sich um einen Aquamarin handelt. Und diese Edelsteinart als ein Symbol für Liebe und Glück angesehen wird. In mir setzt sich mit jeder verstreichenden Sekunde der Entschluss fest, genau dieses Schmuckstück zu kaufen. Das mag vielleicht kitschig oder total verrückt sein, aber ich brauche diese Kette, ich muss sie besitzen.
Wenig später verlasse ich das Geschäft mit meiner neuen Errungenschaft in der Handtasche.
Und muss leider feststellen, dass von den ursprünglichen 20 Minuten, genau eine verblieben ist. Verfluchter Mist. Hoffentlich ist Simara friedlich gestimmt.

Außer Atem erreiche ich den Bus. Alle sitzen natürlich schon. Wie peinlich. Schwer atmend lasse ich mich auf den Platz neben meiner Lehrerin fallen.

„Na, wir werden doch wohl nicht in alte Muster zurückfallen?!", werde ich von ihr begrüßt.
OK, keine friedliche Stimmung.

„Tschuldigung.", nuschle ich leise.

„Bitte? Ich kann dich leider nicht verstehen.", funkelt mich Simara böse an.

Was hat sie jetzt eigentlich schon wieder für ein Problem, dass sie mich so bloßstellen muss? Und warum muss sie immer ihre schlechte Laune an mir auslassen?
Ich presse meine Kiefer so fest aufeinander, dass sie knacken. Ich werde mich hier nicht zu ihrem Idioten machen!

„Haben Sie Tomaten auf den Ohren oder warum verstehen Sie mich nicht?", erwidere ich so kalt wie möglich. Sehr gut Lucia! Ich bin stolz auf mich. Das kam richtig gemein rüber.

Verdutzt muss ich jedoch feststellen, dass Simara alles andere als beeindruckt ist. Mehr noch, sie grinst schon wieder so dämlich. Dann kann sie ihr Lachen nicht mehr zurück halten.

„Lucia, das heißt 'Tomaten auf den Augen'.", prustet sie.

Eigentlich müsste ich jetzt extrem beleidigt sein, aber für den Moment bin ich einfach nur froh, dass die gut gelaunte Simara zurück ist. Doch warum kann sie mich nie ernst nehmen? Vielleicht, weil du einfach nur Mist von dir gibst?
Trotzdem tue ich ihr nicht den Gefallen in das Lachen mit einzustimmen.

Irgendwann hat sie sich einigermaßen beruhigt. Nach einer Ewigkeit. Also, ganz so lustig war das jetzt auch wieder nicht! Trotzig und beschämt schiebe ich meine Unterlippe vor.

„Hör auf so zu schauen!", weißt mich Simara schon nach kurzer Zeit an.

Ich glaub jetzt geht's los. Sie kann mir doch nicht vorschreiben wie ich zu schauen habe!
Ich will schon zu einer giftigen Antwort ansetzen, die wahrscheinlich eh in die Hose gegangen wäre, als sich Simara weit zu mir herüber lehnt.

„Sonst fühle ich mich gezwungen dich so lange zu küssen, bis du aus ganz anderen Gründen beschämt schaust.", haucht sie in mein Ohr.

Ihr warmer Atem streift meinen Hals. Sofort bekomme ich eine Gänsehaut. Zufrieden lächelt Simara, dann streicht sie mit ihrem Zeigefinger die Linie meiner Halsbeuge entlang. Alles kribbelt in mir, ich kann es einfach nicht abschalten. Ich schnappe nach Luft.

„Oh.", entkommt mir.

„Ja. Oh.", selbstsicher blickt mir Simara entgegen, als würde sie die Situation völlig kalt lassen. Sie ist Meisterin im verbergen ihrer Gefühle, doch ich kenne sie mittlerweile so gut, dass ich für einen klitzekleinen Augenblick merke, wie erregt auch sie ist.

Plötzlich fällt mir Julias Bitte wieder ein. Ich sollte lieber jetzt gleich fragen. Gerade ist Simara einigermaßen gut auf mich zu sprechen.

„Was ich noch fragen wollte..", beginne ich heiser und sehr sehr vorsichtig. Okay Lucia, Augen zu und durch.
„...dürfte Julia ihre Matratze in das Zimmer ihrer Freundinnen legen?"
Schnell habe ich den Satz herausgepresst. Mir ist es einfach unangenehm etwas von Simara zu wollen. Da komme ich mir so klein vor. Als wäre ich von ihrem Wohlwollen abhängig, was zum Teil ja auch zutrifft. Unsicher und mit zusammengekniffenen Augen blicke ich in Simaras Gesicht, versuche eine Gefühlsregung zu erkennen. Diese schaut mir streng entgegen. Oh nein. Ich ziehe meinen Kopf ein.
Dann, auf einmal, lacht sie schallend los. Meine Güte, diese Frau ist einfach Horror!

„Schätzchen, hast du etwa Angst vor mir?"

Simaras Augen funkeln verführerisch und ein teuflisches Grinsen stiehlt sich auf ihr Gesicht. Wusste ich es doch! Ihr gefällt das! Sie genießt es die Macht über die Situation zu haben. Die Fäden zu ziehen und mich einzuschüchtern, nur dann fühlt sie sich stark. Ich frage mich wie kaputt jemand sein muss, wenn er dieses ganze Theater braucht, um sich sicher zu fühlen. Wie ängstlich ist Simara hinter ihrer Maske? Und weshalb? Was geht in ihr vor? Sie ist eine klasse Frau, so etwas hat sie nicht nötig finde ich. Oder schätze ich sie falsch ein und es macht ihr wirklich einfach nur Spaß andere in Verlegenheit zu bringen? Vielleicht ist sie auch so eine Verrückte, die so einen Kick braucht, um sich wohl zu fühlen. Menschen.... Schüler einzuschüchtern und dadurch das eigene Selbstwertgefühl aufzupolieren. Oder, das nicht vorhandene Selbstwertgefühl zu überspielen? Das wird wohl erst einmal ein Geheimnis bleiben. Zumindest bis ich mir sicher sein kann, immerzu offen mit Simara sprechen zu können. Wenn das jemals der Fall sein wird, Lucia! Mach dir lieber nicht so große Hoffnungen!

'Bilde dir da bloß nichts drauf ein.

Sie treibt gerne Spielchen mit kleinen Mädchen!

Dann bist du jetzt also endgültig auf sie hereingefallen.'

Die Worte klingen in meinen Ohren. Herrn Bergers Worte. Und obwohl ich diesen Mann von Grund auf nicht leiden kann, verunsichern mich seine Worte sehr. Selbst wenn da auch nur die Hälfte dran wäre... was bedeutet das für Simara? Für mich? Für Simara und mich? Für uns?

„Sollte ich denn Angst haben?", frage ich nach kurzer Überlegung.

„Ach was. Höchstens ein wenig Ehrfurcht. Mehr verlange ich gar nicht. Na ja, Bewunderung wäre auch nicht schlecht.", entschärft Simara die Situation.

Das glaube ich ihr gern. Und ich bewundere sie...so sehr....für alles. So schlimm hat es dich also erwischt Lucia! Du bewunderst eine Frau, die dir eindeutig nicht gut tut.
Doch die Stimmung wird wieder entspannter und ich traue mich auf ihr Geplänkel mit einzusteigen.

„Das hätte die große, böse Lehrerin wohl gerne.", provoziere ich mit Absicht.

„Also hör mal! Ich und böse? Das sind ja zwei grundverschiedene Begriffe, man dürfte die kaum in ein und demselben Satz verwenden!"

„Entschuldigen Sie, wie konnte mir das nur passieren. Ich meinte natürlich die große, liebreizende, wunderschöne, intelligente, großherzige, attraktive und wahnsinnig heiße Lehrerin."

Ich verdrehe die Augen und lache Simara an, die mich irgendwie viel zu ernst anschaut.
Das einzige was mich gerade beängstigt ist die Tatsache, dass ich meine Lehrerin wirklich für sehr intelligent und attraktiv halte. Und sie so unendlich schön und sexy finde.

„Du findest mich also 'wahnsinnig heiß'?", kommt prompt die Frage, die ich eigentlich vermeiden wollte.

„Schon in gewisser Weise.", antworte ich ihr widerwillig.
Ich möchte nicht, dass Simaras Gesicht schon wieder so einen überlegenen, kalten und kontrollierten Ausdruck annimmt, wenn sie bestätigt bekommt, dass sie mich völlig in der Hand hat. Und das hat sie definitiv.

Mein Ausweichmanöver scheitert leider kläglich. Wer hätte das gedacht.
„Und auf was beziehst du 'in gewisser Weise' genau?"

„Kein Anschluss unter dieser Nummer.", versuche ich mich aus der unangenehmen Lage herauszuwinden und starte damit meinen zweiten Versuch sie abzulenken.
Simara lacht.
„Dir scheint die wahre Antwort ja recht peinlich zu sein.", trifft sie den Kern der Sache und zieht eine Augenbraue amüsiert nach oben.

„Antwort gegen Antwort.", schlage ich vor, um dann dabei wenigstens auch etwas für mich herauszuschlagen.

Zögernd stimmt Simara zu.
„Also gut, aber du beantwortest erst meine Frage. Und zwar ehrlich!"
Sie schaut mir eindringlich in die Augen. Meine Güte, ihr muss wirklich etwas an meiner Antwort liegen. Stichwort 'Selbstwertgefühl aufpolieren', Lucia erinnerst du dich noch?

„Simara, du bist eine wirklich sehr attraktive Frau, und ähm ja...Also so ziemlich alles an dir ist sexy...."

Ernst blickt sie mir entgegen, als wollte sie noch etwas anders hören. Etwas tieferes, bedeutungsvolleres.
„War das alles?"

„Nein...Ja.. . Ich meine nein. Jein."

Sie runzelt die Stirn. Kein Wunder bei dem Mist, den ich schon wieder von mir gebe.

„Alles was ich gesagt habe stimmt.", beeile ich mich zu sagen.
„Wirklich! Aber, ich weiß auch nicht... heute morgen, als zu von diesem Brot abgebissen hast und du dir so über deine Lippen geleckt hast...da.... ist etwas mit mir passiert. Ich kann es nicht in Worte fassen. Es ist so ein überwältigendes Gefühl. Genau wie eben im Bus, als ich deinen warmen Atem und deine Berührung auf meiner Haut gespürt habe. Alles in mir ist so flattrig. Was ist das nur?"

Es ist mir so unendlich peinlich meine geheimen Gedanken an sie weiterzugeben. Ich traue mich nicht ihr ins Gesicht zu sehen.

Endlich schaue ich hoch. In ein sehr amüsiertes Augenpaar. Bitte nicht! Nicht schon wieder! Sie hat mich nur vorgeführt und macht sich jetzt über meine Dämlichkeit lustig. Lucia, warum bist du nur so naiv? Denkst du wirklich, Simara meint es ernst mit dir? Dass sie sich geändert hat? Dass sie sich ändern wird?
Vor Frustration und Wut, aber hauptsächlich vor Scham, treten mir Tränen in die Augen. Simara hat sie doch nicht mehr alle beisammen! So kann man nicht mit Menschen umspringen!
Leider befinden wir uns in einem Bus, so muss ich wohl gezwungenermaßen neben ihr sitzen bleiben und ihre Anwesenheit ertragen.
Sie riecht so verführerisch. Lucia, du wirst jetzt doch nicht etwa schwach?!
Ich drehe meinen Kopf in die entgegengesetzte Richtung.

Dann spüre ich eine Berührung an meinem Haar. Federleicht, als hätte es sie nie gegeben. Nach kurzer Zeit erneut, etwas bestimmter. Simara streicht mir ganz sanft und behutsam über die Haare.
Will sie mich wieder einlullen? Gefügig machen?

„Nicht doch. Nicht weinen."
Ich spüre, wie sie wieder näher an mich heranrückt. Ich kann ihren Atem wieder an meiner Wange spüren.
„Lucia, deine Worte waren sehr schön, aber warum um Himmels Willen weinst du denn?"

Ich kann es nicht fassen. Das hat sie nicht gerade gefragt! Ist sie so ignorant?
Wütend funkle ich sie an.

„Das fragst du noch? Das du dich das überhaupt traust! Ich gestehe dir meine Gefühle, Dinge, die ich selbst nicht begreifen kann, mit denen ich nicht umgehen kann. Gefühle, die ich noch nie in meinem ganzen Leben gespürt habe. Sachen zu verraten, die ich sonst nie so einfach aussprechen würde.... Nur um dann herauszufinden, dass es dich belustigt!"

Geschockt starren mich zwei blaue Ozeane an.
„Ich wollte dich doch nicht kränken. Und ja, ich war belustigt. Weil du einfach so jung und unerfahren bist. Du bist einfach du. Und du verstellst dich nicht. Ich glaube nicht, dass du fähig wärst zu lügen. Du bist viel zu gut zu durchschauen und eben gerade deine Unerfahrenheit, deine Naivität lässt mich schmunzeln."

Trotzig starre ich in die tiefen der Ozeane, bis ich immer weiter versinke und versinke...

„Lucia, hast du mir zugehört?"

„Mhh, ich .... Ja. Aber merkst du denn nicht, wie du Menschen um dich herum mit deiner groben, rücksichtslosen Art verletzt? Wie du mich verletzt?"

Sie schließt betroffen die Augen und ich wende mich erneut von ihr ab.

Plötzlich ist der Atem wieder an meiner Wange.
„Du bedeutest mir sehr viel. Glaub mir, ich mach das nicht mit Absicht! Bei dir zumindest nicht!"

Bei dir zumindest nicht. Aber bei anderen schon oder was? Wieso muss sie mich mit allem was sie sagt so dermaßen verwirren?

Sachte küsst sie mich auf die Wange und mit einem Mal erwachen alle Schmetterlinge in mir drinnen und schwirren wild auf und ab.
Diesmal bin ich es die, die die Augen schließen muss. Ein wohliges Seufzen entkommt mir.

„Und ich finde es unheimlich süß von dir, dass du mich attraktiv findest. Aber das sollest du eigentlich nicht. Ich bin deine Lehrerin und werde nie etwas anders für dich sein!"

Peng! Der nächste unsichtbare Fausthieb direkt in meine Magengrube. Mir wird schwindelig. Und mein Herz fühlt sich so schwer wie nie an.

„Es ist egal ob mit Absicht oder nicht. Du tust es Simara! Du verletzt Menschen!", kreische ich hysterisch.

Entsetzt starrt sie mich wieder an.

„Und es ist egal ob es dir hinterher leid tut. Das macht es nicht weniger schlimm! Ich halte das nicht mehr aus verdammt! Du hast mich gerade geküsst, okay 'nur' auf die Wange, aber mit jeder Zärtlichkeit schürst du meine Hoffnungen. Und jedes mal lässt du mich danach noch tiefer fallen. Das ist reiner Psycho-Terror!"

Schweigen.

Nichts als Schweigen.

Simara scheint ins Nichts zu blicken, in weite Ferne. Total abwesend.

Dann passiert es. Ganz unerwartet.

Eine einzelne Träne rollt über ihre Wange. Und sie schaut mich so unendlich traurig an. Es ist als könnte ich ihr für diesen einen Augenblick in die Seele schauen, keine Maske, keine Schutzmauern. Nur Simara, ganz pur... ihr wahres Ich.
Dass sie mir so offen ihre Gefühle zeigt, lässt mich fast selbst wieder weinen.
Ich strecke meine Hand vorsichtig aus und fange die Träne sachte mit meinem Zeigefinger auf. Etwas sanfter fahre ich fort...

„Und es wird wieder passieren. Egal was du tust, früher oder später verletzt du mich."

Es tut so gut endlich mal alle Bedenken loszuwerden. Eine schwere Last löst sich von meinen Schultern. Ich hätte es schon viel früher aussprechen sollen.
Ein Teil von mir hofft, sie würde alles abstreiten und mir versichern sie werde mir nie wieder wehtun. Doch wir beide wissen in unserem Inneren, dass das gelogen wäre.

„Es tut mir so unendlich leid. Aber das ist was ich bin, ich kann es nicht ändern. Ich wollte dich nie verletzen, niemals. Deshalb ist es besser mehr Abstand voneinander zu bekommen. Deshalb würdest du nie glücklich mit mir werden. So ist es besser."

Traurig schauen mich jene Ozeane an, die ich so sehr liebe.

„Meinst du du kannst dich von mir fernhalten? Meinst du wir bekommen das hin? Denn obwohl mir dein wechselhaftes Verhalten wehtut und mich unheimlich verunsichert, kann ich es noch weniger ertragen nicht in deiner Nähe zu sein, nicht mit dir zu sprechen, dich nicht anfassen zu dürfen.", ich lege meine Hand auf ihre Wange.

„Oh, hast du eine Ahnung! Aber uns bleibt leider keine Wahl, schon aus gesetzlicher Sicht! Und dann der Altersunterschied.. . Mein Gott Lucia, du bist noch nicht einmal 18 Jahre alt."
Sie nimmt meine Hand von ihrem Gesicht und hält mit ihren Händen nun meine kleineren fest.

Diese Berührung erinnert mich irgendwie an damals, als ich in der Schule ausgerutscht bin und sie mich zum ersten Mal angefasst hat. Als ich zum ersten Mal dieses göttliche Gefühl spüren durfte. Dieses Kribbeln und das Feuer, das sich durch meinen ganzen Körper frisst. Schon damals habe ich sie angehimmelt, obwohl ich sie noch gar nicht so lange kannte. Und schon damals habe ich so vertieft unsere Hände betrachtet.

„Wie alt bist du eigentlich genau?", frage ich sie gedankenverloren.

„Na also.. das fragt man doch keine Lady!", schon ist ihr ironisches 'Ich' zurück.
Irgendwie muss ich schmunzeln.

„Antwort gegen Antwort", pfeife ich vergnügt. Sie schuldet mir immerhin noch eine!

„Hmpf... wenn du es unbedingt wissen willst... 31. Man fühle ich mich jetzt alt."

„Wahnsinn, jetzt wo du es sagst fällt mir erst auf wie viele Falten du schon hast..."

Sie boxt mir gegen den Arm. „So spricht man doch nicht mit einer Dame. Außerdem allerhöchstens Fältchen!"

„Simara, du bist viel zu unanständig für eine Dame. Viel zu heiß.", ich kichere vergnügt vor mich hin.

„Das klingt ja als wäre das etwas negatives.", gibt sie beleidigt zurück.

„Du weißt du siehst spitze aus! Außerdem hab ich absolut nichts gegen deine unanständige Seite.", ich grinse während ich wieder rot anlaufe, „Du bist meine ganz eigene unanständige, sexy Lady."

„Das bin ich", antwortet Simara nun wieder ernst, „In deinem – und auch meinem – Herzen kann ich das sein. Für dich. Ich verspreche es dir. Ich schenke dir ein Stück meines Herzens und diesen Platz fülle ich dann mit dir."

So sehr mich ihre Worte berühren wird mir wieder einmal klar, dass sie mich nicht liebt. Nicht wirklich. Sonst hätte sie gesagt, sie schenke mir ihr Herz, nicht nur einen Teil davon. Bedrückt von der ganzen Gefühlsduselei bin auch ich erneut den Tränen nahe.

„Es wird nie ein 'uns' geben, stimmt's?"

„Nein. Vermutlich nicht."
Es klingt so endgültig. Als hätte sie schon längst mit uns abgeschlossen.

Der Bus hält vor unserem Hotel. Unsere Stimmung ist mal wieder am Tiefpunkt. Alle steigen nacheinander aus und laufen zu ihren Zimmern. Ich schlage den gleichen Weg wie Simara ein, aber halte ein paar Meter Abstand. Dann ist sie vor ihrer Tür angekommen. Die Klinke schon in der Hand, dreht sie sich noch einmal zu mir um.

„Du kannst Julia übrigens ausrichten, dass das mit der Matratze klargeht."

„Ehrlich?", frage ich.

„Ja, warum bist du so überrascht?"

„Na ja, ich hätte einfach nicht gedacht, dass du da so einfach zustimmst. Was soll ich Julia nur sagen, wenn sie fragt wie ich das geschafft habe?"

„Lucia, ich bin kein Unmensch und durchaus fähig anderen Leuten entgegenzukommen.", sie lacht, „Außerdem, wer sagt, dass ich 'so einfach' zugestimmt habe? Du hast für meinen Geschmack einen viel zu großen Einfluss auf meine Entscheidungen. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich das gutheißen soll. Alles was ich weiß ist, dass ich mich dagegen wehren möchte."

„Warum? Warum willst du dich so sehr dagegen wehren?"

„Ich denke einfach ich brauche die Kontrolle, um nicht selbst unterzugehen."

„Da mach dir mal keine Sorgen! Ich werde dich schon rechtzeitig davor retten.", erwidere ich im Scherz.

Allerdings geben mir ihre Worte erneuten Denkstoff. Sie ist eine Art Kontrollfreak, das hab ich mir ja schon fast gedacht.

„Das freut mich zu hören.", belustigt hebt Simara eine Augenbraue.

„Ich kann doch meine Lehrerin nicht untergehen lassen! Wer bringt mir denn dann die korrekte Kommasetzung bei?"

„Ich hoffe das ist nicht das einzigste was ich dir beibringen darf", ihre Stimme klingt verboten heiß für eine Lehrerin. Simara zwinkert mir zu und verschwindet dann auch schon in ihrem Hotelzimmer.

Sprachlos starre ich auf Simaras geschlossene Zimmertür. Verdammt, wir wollten doch Abstand voneinander.

Kopfschüttelnd gehe ich in mein Zimmer, dort treffe ich auch Julia, die mich euphorisch nach Fr. Winters Antwort fragt. Ich teile ihr mit, dass unsere Lehrerin grünes Licht gibt und frage mich dabei, ob das wirklich noch so viel bringt für die verbleibenden zwei Nächte. Aber wenn sie unbedingt will... soll sie doch.


Sie bringt es wirklich fertig. Seit gestern Abend hat sie mich kein einziges Mal angeschaut oder mit mir geredet. Wir haben das zwar so vereinbart, aber ich hätte nicht gedacht, dass es ihr so einfach fällt mich vollkommen zu ignorieren. Mir fällt es nämlich unheimlich schwer. Sie ist einfach viel zu präsent, ihr Lachen viel zu durchdringend. Ihre ganze Ausstrahlung ist einfach ...... nicht zu ignorieren!
Und irgendwie kratzt es an meinem Ego, dass ich so abhängig bin, so süchtig nach ihrer Zuwendung. Es ärgert mich extrem, dass ich sie so sehr zu brauchen scheine, während sie es nicht einmal wirklich juckt.

Sehr zu Herrn Bergers Wohlwollen, muss man mal wieder einwenden. Er genießt Simaras ungeteilte Aufmerksamkeit und schwirrt die ganze Zeit um sie herum. Mich würde das richtig nerven, aber Simara scheint es sehr zu gefallen. Sie scheint jedenfalls nicht sehr traurig zu sein.... . Klar, der Berger wirft sich ihr sozusagen vor die Füße. Und sie sieht ihn wahrscheinlich als so eine Art Untertan oder Sklave. Nein, Lucia, das wollen wir jetzt nicht genauer erörtern. Ob Simara auf so etwas steht? Auf diesen sm- Kram? Auf Unterwürfigkeit?

Lucia, zum millionsten Mal: Simara Winter liebt dich nicht! Akzeptiers endlich! Sie hat es selbst zugegeben, indirekt zumindest. Sie findet dich ganz nett, aber mehr auch nicht. Aus, Ende. Damit spielt es auch überhaupt keine Rolle auf was sie beim Sex steht. Es hat dich auch gar nicht zu interessieren! Sie ist immerhin deine Lehrerin!

Schließlich ist es schneller Abend geworden, als ich gedacht hätte. Den restlichen Vormittag habe ich nämlich geschlafen. Wir hatten immerhin Freizeit. Na ja. Und jetzt ist es schon Abend und wir würden in einer Stunde in die Disco gehen. Irgendwie hat mich das Schlafen noch müder gemacht. Ich wäre echt lieber daheim geblieben, und außerdem habe ich auch keine Lust mit Simara in der selben Disco zu sein.... es werden sich vermutlich tausende Menschen, egal welchen Geschlechts, an sie heran machen, oder es zumindest versuchen. Das muss ich mir nun wirklich nicht geben. Ich habe auch wahnsinnige Ehrfurcht vor den vielen Menschen, die sich bestimmt in der Disco tummeln würden.

Und was zur Hölle sollte ich eigentlich anziehen? Ich bin nicht so der Kleidertyp, trotzdem habe ich ein schwarzes, kurzes Kleid mit nach Berlin genommen. Es ist schön, keine Frage, aber es ist eben auch sehr kurz und aufreizend..
Es ist eines dieser Kleidungsstücke, die man nur kauft, weil sie schön anzuschauen sind, nicht weil man sie wirklich tragen möchte. Sollte ich es wagen? Am Ende mache ich einfach kurzen Prozess und schlüpfe in das hautenge Kleid. Darunter trage ich meine schwarz-durchsichtige Seidenstrumpfhose und ziehe meine Bikerstiefeletten dazu an. Meine Haare, die vom Dutt ganz wellig geworden sind, lasse ich offen über meinen Rücken fallen. Jetzt nur noch meine Lederjacke, Parfum, ausnahmsweise smokey eyes und etwas mehr Wimperntusche als sonst und schon bin ich bereit. Zumindest rein körperlich. Seelisch bin ich nämlich am Ende. Da kommt es mir zu Gute, dass wir in eine Disco gehen und ich noch dazu stark geschminkt bin, dann fällt mein blasses Gesicht und meine geröteten Augen nicht so auf.

Ich betrinke mich total. Also eigentlich war mir das bis zu diesem Augenblick gar nicht so klar. Ich habe einfach getrunken und gar nicht darauf geachtet wie viel Bier ich meine Kehle hinunter kippe. Sonst hätte ich das Zeug wahrscheinlich auch gar nicht runter gebracht. Obwohl ich mir sicher bin, dass es trotz alledem nicht allzu viel gewesen ist, ich bin Alkohol nur einfach nicht gewöhnt und vertrage anscheinend nichts.
Wenn ich meinen Kopf drehe, schwankt die Welt schon sehr um mich herum. Heilige Scheiße. Es ist als wäre ich in einer Luftblase und als ob sich alles wie in einem Film abspielt. Ich stehe schwankend auf. Alles was ich weiß ist, dass ich hier raus muss. Ich brauche frische Luft. Nicht nur die Menschenmassen machen mir zu schaffen, auch Simaras Ignoranz.

Wie konnte mich Simara nur so allein lassen? Sie weiß doch, dass ich panische Angst vor so vielen Menschen habe. Mir ist schlecht. Zu Beginn war der Alkohol eine gute Ablenkung vor den Menschen, doch jetzt ist es doppelt so schlimm.
Ich stolpere den ersten Schritt nach vorne, kann mich aber Gott sei Dank wieder fangen. Ich muss Simara finden. Lucia, spinnst du eigentlich? Du wolltest dich doch von ihr fernhalten.
Aber sie ist schließlich meine Lehrerin und ihr muss ihr Bescheid geben, dass ich nach draußen gehen möchte – muss.
Irgendein Typ läuft mit voller Wucht gegen mich und ich verliere mein Gleichgewicht endgültig. Ich kippe zur Seite und sehe mich schon wahrhaftig auf dem Boden liegen. Aber erstaunlicherweise werde ich von zwei starken Armen aufgefangen. Ein himmlischer, einzigartiger Duft umhüllt mich. Simaras Duft.

„Komm, ich bring dich hier raus", flüstert sie mir ins Ohr.

Gemeinsam verlassen wir die stickige Disco, ich sehr wacklig auf den Beinen. Und ich bin immer noch geschockt, dass ich beinahe den harten Boden zu spüren bekommen hätte.
„Was hast du dir nur dabei gedacht so viel zu trinken? Und hast du überhaupt heute was gegessen?", wirft mir Simara sogleich erzürnt vor.

Stimmt. Ich hatte gar nichts gegessen, das habe ich vollkommen vergessen. Und na ja, so unheimlich viel Alkohol war es ja gar nicht, glaube ich.
Ich kann nicht mehr ganz klar denken. Was habe ich mir dabei gedacht? Gute Frage.

Simara ist wütend. Das sehe ich. Aber es ist eher so eine Art 'wütend vor Sorge'. Um mich? Mein Herz hüpft vor Freude wild auf und ab.
Ich drücke mich noch mehr gegen Simara, sie riecht so gut und ihr Körper ist so warm und weich.
„Weißt du eigentlich wie gut du riechst?", lalle ich.

Ihr klares Lachen erfüllt die Dunkelheit. „Lucia, du bist betrunken", ihre schönen Lippen verziehen sich zu einem amüsierten Lächeln.
So ein verführerischer Mund. Ich bin fasziniert und kann ihr nur noch auf die roten, vollen Lippen starren.
Ich weiß nicht welches Tier mich geritten hat, aber ganz spontan küsse ich Simara fest auf den Mund. Ein Feuerwerk explodiert in meinem Inneren. Meine Ohren rauschen. Wie von selbst schlingen sich meine Arme um ihre Hüften und pressen mich noch viel enger an sie heran. Ich kann ihren Herzschlag fühlen.

Perplex steht meine Lehrerin da, sie ist ganz erstarrt von meiner Eigeninitiative, die sonst ja kaum vorhanden ist. Mich wundert es nicht, dass ich sie so überrumpelt habe.
Kaum hat der Kuss begonnen, schiebt mich Simara bestimmt von sich.

„Nicht."

Mir kommen die Tränen, ich bin einfach noch zu mitgenommen von Simaras Ignoranz den ganzen Tag über. Und irgendwie bin ich völlig verwirrt und emotional. Meine Nerven spielen verrückt. Bald kann ich nicht mehr scharf sehen, weil alles vor meinen Augen verschwimmt.

Simara streicht mir behutsam über die Wange.

„Kleines, das heißt nicht, das ich nicht wollen würde", gibt sie seufzend zu, „aber vermutlich weißt du morgen eh nicht viel von diesem Gespräch. Warte kurz, ich glaube du musst dringend in ein Bett."

Simara ruft Herrn Berger an, um ihm bescheid zu geben, dass wir die Disco früher verlassen.

Wenig später sind wir im Hotel angekommen und mir fallen vor Erschöpfung fast die Augen zu. Ich lehne mich beim Laufen stark an Simara, doch sie beschwert sich nicht. Stattdessen legt sie ihren Arm schützend um mich. In ihrer Umarmung fühle ich mich geborgen und sicher. Wir sind inzwischen an meinem Zimmer angekommen, es vergegen mehrere Sekunden, bis sich Simara schließlich räuspert.

„Lucia, willst du die Tür nicht langsam aufschließen?"

„Ja, naa... natürlich", lalle ich und krame in meiner Handtasche herum ohne etwas zu finden.
Ich habe das komische Gefühl, dass sich Simara ein Lachen verkneifen muss.

„Gib mal her!", fordert sie mich auf. Ich reiche ihr meine Tasche. Nach wenigen Augenblicken hält sie den Schlüssel triumphierend in die Höhe.

„Traust du dir zu selbst aufzuschließen?", fragt mich Simara dümmlich grinsend.

„Ka...kan..kannst du vie..vielleicht?", stottere ich verlegen. Ich traue es mir tatsächlich nicht zu.

Sie gibt mir wieder meine Tasche und schließt die Zimmertür mit Leichtigkeit auf. Dann nimmt sie meine Hand und führt mich in den Raum.

Anscheinend merkt Simara, dass ich zu nichts mehr im Stande bin, denn sie beginnt mich zu umsorgen. Bestimmend drückt sie mich auf das Bett, sodass ich nun wie ein Häufchen Elend am Rand des Bettes sitze und sie mit großen Augen anstarre.
Sie ist ganz in ihrem Element und bemerkt nicht, wie gebannt ich ihr mit meinen Blicken folge. Simara nimmt mir nun die Tasche ab und legt sie auf die Kommode, dann zieht sie ihre Jacke aus, hängt sie an die Garderobe und schlüpft aus ihren hochhackigen Lederstiefeln.
Zuletzt schnappt sie sich das Glas Wasser von meinem Nachttisch und setzt sich damit neben mich. Sie ist irgendwie total süß, wenn sie sich so um mich kümmert.

Sie streckt mir das Glas hin, langsam will ich es entgegennehmen, doch ich greife ins Leere. Mist! Wie betrunken bin ich eigentlich wirklich? Lachen dringt an meine Ohren, natürlich, die Lehrerin findest das mal wieder amüsant!
Jetzt spüre ich meine Hand in ihrer. Gemeinsam umfassen wir das Glas, Simara führt unsere Hände zu meinem Mund und hilft mir so beim Trinken. Wie peinlich. Ich fühle mich wie eine Behinderte. Nie wieder Alkohol trinken, Lucia! Du verträgst anscheinend rein gar nichts.

Mir ist so schwindelig, das ich mich am liebsten auf der Stelle hingelegt hätte, aber Simara ist ja noch da, also muss ich mich wohl zusammenreißen.

„Ich glaube jetzt ist es besser, wenn du dich erst mal ausruhst. Schaffst du es dich umzuziehen?"

Mein Kopf ist wie leergefegt. „Äh, ja sicher."

Sie mustert mich zweifelnd. „Wo ist dein Schlafzeug?"

Ich zeige auf das Kopfkissen. „Darunter."


Wenig später hält sie ein übergroßes weißes T-Shirt mit einem 'I love...' Schriftzug ohne Fortsetzung in der Hand. Die Fortsetzung ist nämlich ausschließlich in meinem Kopf.
Sie drückt mir das Shirt in die Hände und ich verschwinde ein bisschen schwankend im Badezimmer.

Als ich aus dem Bad komme, sitzt Simara immer noch an der selben Stelle wie zuvor, sie schaut nachdenklich aus dem Fenster. Ich räuspere mich leise. Ihr Kopf ruckt in meine Richtung. Ich fühle mich in dem dünnen Stoff fast wie nackt unter ihrem Blick. Das Shirt reicht mir bis zur Hälfte meiner Oberschenkel. Meine langen Haare sind nun zur Seite geflochten, damit sie mich beim Schlafen nicht stören. Noch immer stehe ich nervös mitten im Raum. Simara schlägt schließlich die Decke zurück, steht auf und kommt mir immer näher. Dicht vor mir bleibt sie stehen. Ich kann ihren angenehmen Atem mal wieder auf meinem Gesicht spüren, ich schließe kurz die Augen und versuche einigermaßen ruhig zu bleiben. Dann beugt sie sich noch weiter vor. Ihr Mund ist meinem auf einmal so nahe, zu nahe. Ich keuche und schnappe nach Luft. Jetzt ist mir schlagartig noch viel schwindeliger.

„Geht's dir gut?", fragt sie mich provozierend.

Unsicher schüttle ich meinen Kopf. Ich platze gleich. Oder ich falle in Ohnmacht. Ich glaube ihre Nähe ist einfach zu viel für meinen sehnsüchtigen Körper.

„Nein?", fragt sie erstaunt, „Dann muss ich wohl mehr Abstand halten."

Abstand. Wie ich dieses Wort zu hassen gelernt habe. Innerhalb sehr kurzer Zeit.
Erschrocken schüttle ich wieder meinen Kopf, diesmal um einiges heftiger.

Sie lacht. „Nein? Schätzchen, du musst mir schon sagen was du möchtest."

„Könntest du noch näher...?", ich blicke zu Boden, zu peinlich ist mir meine Bitte.

Sie beißt sich auf ihre volle Unterlippe und tritt noch näher an mich heran. Nicht mal ein Blatt Papier hätte jetzt noch zwischen uns gepasst. Dann schlingt sie ihre Arme um mich. Ihr Atem ist heiß an meinem Hals. Genießerisch schließe ich erneut die Augen und lege meinen Kopf auf ihre Schulter.

„Ungefähr so?", flüstert sie mir heißer in mein Ohr.


Ich nicke ihr leicht zu ohne meine Augen zu öffnen. Dann sind ihre Lippen an meinem Hals, sanft küsst die jeden Zentimeter meiner nackten Haut.
Alles kribbelt und ich kann nicht verhindern, dass ich aufseufze.
Simara kichert an meinem Hals, dann bläst sie vorsichtig gegen meinen Hals. Ich kann nicht verhindern, dass sich überall Gänsehaut bekomme. Ich drücke mich mit jeder Faser meines Körpers an ihren.

Plötzlich ist sie weg. Ihre Küsse, ihr Körper, ihre Wärme.
Ich blinzle. „Simara..?"

„Schhhht.", sie greift nach meinen Händen und führt mich zum Bett. Sie hilft mir hinein und deckt mich liebevoll zu. Von oben herab funkeln mich ihre Augen an. Sie ist so atemberaubend schön. Ich seufze frustriert. Will sie gehen? Mich verlassen? Schon wieder?

„Ruh' dich aus meine Liebe."
Simara dreht sich Richtung Tür und möchte ihre Stiefel anziehen.

„Simara?"

Ihr Körper erstarrt in der Sekunde, in der ich ihren Namen ausspreche.
Sie zieht fragend eine Augenbraue hoch.

„Ja?"

„Bitte bleib bei mir.", flehe ich sie an. Beschämt werden meine Wangen feuerrot.

Simara steht immer noch regungslos da. Es scheint in ihr gewaltig zu rattern.

„Ich meine, nur wenn du willst", schüchtern blicke ich sie an.

Ein Ruck geht durch ihren ganzen Körper. Sie kommt wieder auf mich zu.
„Rutsch auf die Seite!", kommandiert sie.

Ich starre sie ungläubig an.

„Na auf was wartest du? Denkst du ich stehe die ganze Zeit?"

Mechanisch rutsche ich an den Rand des Bettes um Simara Platz zu machen. Sie legt sich neben mich ins Bett und schlingt einen Arm um mich. Dann breitet sie die Decke über uns aus.

„Sag bescheid, wenn dir schlecht wird."

„Mir ist schlecht", gebe ich sogleich jämmerlich von mir. Die ganze Zeit ist mir schlecht gewesen.

„Tja schätze da musst du jetzt durch. So lange du dich nicht übergeben musst?" Wieso zum Teufel hast du nur so viel getrunken? Weißt du denn nicht wie viel du verträgst?"

Ich bleibe still.

„Natürlich - das hatte ich glatt vergessen - du bist ja noch ein Kind."

Ihre Worte verletzen mich. Aber es stimmt. Ich bin noch ein Kind. Und sie ist so viel erfahrener, in allem.
Ich taste mich vorsichtig immer näher an Simara heran, bis ich ganz nah an sie gekuschelt daliege. Sie liegt ein Stückchen höher und so kann ich meinen Kopf entspannt auf sie betten. Ich warte vorsichtig, ob sie sich mir entzieht, doch sie bleibt genauso ruhig liegen.

Nach einer Weile ergreife ich noch einmal das Wort.
„Simara?"

„Mhhhh?"

„Danke. Für alles, das hätte nicht jeder getan."

Und nicht jeder hätte mich so liebevoll geküsst. Das überrascht mich immer an Simara. Egal wie tough sie sich sonst gibt, sie hat auch einen weichen Kern. Und sie kann so verdammt niedlich sein, wenn sie will. Sie ist nicht immer nur diese unverwundbare Frau, die nichts erschüttern kann. Sie ist so facettenreich, so einzigartig. Und ich liebe einfach alles an ihr. Alle Seiten, die dunklen wie die hellen.

„Keine Ursache", kommt prompt die Antwort.

Dann ist wieder Stille.

„Simara?", frage ich erneut.

Ich spüre ihr Grinsen an meinem Kopf.

„Jaaaa?", sagt sie lang gedehnt.

„Ich glaube... ich liebe dich", flüstere ich sehr leise.

Ich spüre schlagartig wie sich ihr gesamter Körper versteift. Ihre Gesichtszüge frieren ein. Mist Lucia.Volltreffer. Bist du eigentlich völlig bescheuert?! Du hätte es wissen müssen! Ich schreibe das eindeutig dem Alkohol zu.

„Simara?", taste ich mich erneut heran.

Schweigen. Nach einer Ewigkeit entspannt sich ihr Körper langsam wieder.

„Du weißt nicht was du sagst. Du bist betrunken.", haucht sie mehr zu sich selbst.


Ihre Worte enttäuschen mich natürlich wieder. Aber was hatte ich schon erwartet? Sie möchte das so gerne glauben. Und auch ich weiß mittlerweile, dass das wohl die einfachste Lösung wäre. Die Gefühle zu leugnen. Aber ich kann das nicht mehr. Ich möchte, dass sie es weiß. Und ich weiß, dass es nicht wegen dem Alkohol so ist. Er macht meine Zunge lediglich locker. Ich weiß sehr wohl was ich fühle.
Ich verstehe nicht, warum sie solche Schwierigkeiten hat damit umzugehen. Gerade weil sie sonst diese starke, selbstbewusste Person ist.
Ich habe sie ja in keinster Weise bedrängt, eigentlich.

„Du hast recht", stimme ich ihr schließlich zu. Ich spüre, dass sie nicht bereit dazu ist sich damit auseinanderzusetzen, deswegen erspare ich ihr die Wahrheit.
Meine erste richtige Lüge ihr gegenüber. Und sie glaubt es auch nur, weil sie selbst so sehr daran glauben will.

Während ich mit den Tränen kämpfe und vor Traurigkeit kaum mehr atmen kann, entspannt sich ihr Körper zufrieden zur Gänze.

„Schlaf gut", sie streicht mir sanft über den Kopf.


Simaras pov

Ich habe mich dazu durchgerungen mich zu ihr zu legen. Sie sah so hilflos aus, ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht sie erneut zu enttäuschen, wie schon so oft. Ich sehe es in ihren Augen. Jedes mal bricht sie ein Stück mehr, und ich bin der Grund. Eigentlich sollte es mir egal sein, aber ich möchte ihr wirklich nicht weh tun.

Jetzt höre ich ihren ruhigen Atem an meiner Schulter. Endlich ist sie eingeschlafen. Sie ist so süß und so verdammt unschuldig. Ich fühle mich schon fast schlecht, weil ich sie körperlich so sehr begehre. Irgendetwas an ihr zieht mich einfach unheimlich an. Was ich ihr gegenüber empfinde ist falsch, das hat sie nicht verdient. Es kommt mir vor wie ausnutzen. Zu gerne würde ich mein Verlangen stillen, aber sie würde sich nur Hoffnungen machen. Und irgendwie will ich sie vor allem schlechten beschützen. Bloß bin ich in dem Fall 'alles schlechte'. Sie ist einfach viel zu naiv und unsicher. Sie braucht jemanden, der wirklich mit ihr zusammen sein will - kann. Und der sie über alles liebt.
Ich möchte das beste für sie, aber andererseits bin ich viel zu egoistisch um sie ganz in Ruhe zu lassen. Das muss ich mir endlich eingestehen. Der Tag war furchtbar. Es hat meine gesamte Willenskraft gekostet sie völlig zu ignorieren. Es reizt mich einfach sie immer wieder zu provozieren und sie einzuschüchtern. Macht mich das zu einem schlechten Menschen? Ich sollte ihr einfach noch einmal klar machen, dass sie mir rein gar nichts bedeutet. Lüge! Sie ist etwas besonderes. Trotzdem weiß ich was das letzte mal passiert ist. Eine Katastrophe. Ich sollte wirklich mehr Abstand halten. Vielleicht ist dann meine Begierde auch nicht ganz so groß.
Das sieht gerade alles andere aus wie Abstand! Ich betrachte ihr hübsches Gesicht. Sie sieht noch viel jünger aus, wenn sie schläft. Diese Reinheit an ihr ist etwas, das mich seit dem ersten Augenblick an ihr bezaubert hat. Sie ist so zart. Schon allein deswegen würde sie nicht zu mir passen. Ich wäre ihr Untergang und das möchte ich nicht sein. Das einzigste was das verhindert ist eben Abstand. Sie wird leben. Und irgendwann auch glücklich sein, ohne mich. Simara, sei mal nicht so theatralisch, das ist ja gruselig.
Das ist zum verrückt werden. Ich will sie so sehr. Ich will sie küssen. Ich will sie berühren. Ich will ihren Körper an meinem spüren.

Ich werde von einem Wimmern aus den Gedanken gerissen. Lucia wälzt sich unruhig hin und her und schlägt mit ihren Armen um sich. Irgendwann liegt sie halb auf mir. Ihr linker Arm quer über meinem Bauch, ihr Kopf liegt auf meiner Brust und das eine Bein hat sie ebenfalls um meine Hüfte geschlungen. Erst in dieser Position kommt sie zur Ruhe. Mich überrascht es selbst, dass es mich überhaupt nicht stört. Im Gegenteil, ich liebe ihren süßen, blumigen Geruch.

„Simi", seufzt sie im Schlaf und ich lächle in mich hinein. Wie oft hab ich ihr schon gesagt, dass ich diesen Kosenamen hasse? Seltsamerweise finde ich es total niedlich und es könnte mir sogar gefallen. Natürlich nur ganz geheim. Niemals würde ich das zugeben.

Ich streiche ihr sanft über die Wange. So weiche Haut. Es ist das erste Mal, dass ich mit einer anderen Frau so eng beieinander liege und na ja, nicht mit Sex beschäftigt bin. Eigentlich traurig, aber wahr.
Normalerweise bin ich wirklich nicht so der Kuscheltyp. Es ist zwar sehr ungewohnt, aber auch nicht unbedingt schlecht. Schlafen kann ich so allerdings auch nicht.

Damit ich selbst noch ein bisschen Schlaf abbekomme, schiebe ich mich vorsichtig unter Lucia hervor, darauf bedacht sie nicht zu wecken. Dann stehe ich auch schon vor ihrem Bett und betrachte ihre zierliche Gestalt. Ein dämliches Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Sie ist etwas besonderes. Die kleine Lucia bedeutet mir irgendwie doch etwas.

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Ich räkle mich genießerisch. Ich habe seltsamerweise sehr gut geschlafen. Auch jetzt schwebt Simaras einzigartiger Duft um mich herum. Ich drücke meinen Kopf wieder ins große Kopfkissen und atme ganz tief ein. Himmlisch. Das ganze Bett riecht nach ihr.

Moment, das ganze Bett? Sie war in meinem Bett? Ich setzte mich schlaftrunken auf und gähne ausgiebig. Ok, nochmal alles von vorne. Disco – Alkohol – Simara?
Ja, sie hat mich ins Hotel gebracht und mir geholfen. Sie ist auch bei mir geblieben. Bei dem Gedanken wird mir ganz warm ums Herz. Schade, dass ich gestern Abend total benebelt war. Ich hätte mich zu gerne in jedem Detail an ihre Präsenz erinnert.
Ich weiß was passiert ist. Aber es fühlt sich nicht so an als hätte ich es auch tatsächlich erlebt. Wie im Halbschlaf, dabei hätte ich ihre Nähe so gerne mit jeder Faser meines Körpers wahrgenommen und genossen.

Automatisch suche ich das ganze Zimmer mit den Augen nach irgendeinem Lebenszeichen von Simara ab. Nach irgendeinem Beweis. Ich stehe mit wackeligen Beinen auf. Da liegt doch etwas gelbes auf meinem Nachttisch. Und ein volles Wasserglas mit einer Tablette. Neugierig springe ich aus dem Bett und wäre beinahe wieder rückwärts umgekippt, so schwindelig ist es mir mit einem mal. Ich setze mich langsam auf die Bettkante und warte einige Augenblicke, bis die Welt um mich wieder still steht. Dann schnappe ich mir das Gelbe etwas, einen Zettel, den ich eifrig entfalte.


Guten Morgen, meine Liebe.

Gut geschlafen? Hast du dir nach gestern Abend definitiv nicht verdient!
Pass das nächste mal mit dem Alkohol auf, ich habe keine Lust dich noch einmal in so einem Zustand am Rockzipfel hängen zu haben!
Nichtsdestotrotz möchte ich das es dir wieder gut geht. Ich finde du hast genug gelitten, obwohl du ja gestern Nacht nicht nur Leid erlebt hast. Auf deinem Nachttisch steht ein volles Glas Wasser, daneben eine Aspirin.
Du darfst dich ruhig bei mir bedanken. Ich hätte auch schon so ein paar Ideen wie....

S.



Eindeutig Simara. Irgendwann einmal werde ich mich an ihre grobe, verletzende Art gewöhnen, hoffe ich zumindest. Und an ihre Forderungen. Obwohl ich mir echt nie sicher bin ob sie sich gerade einen Scherz erlaubt. Mir kommt es so vor als würde sie mich mit jeder ihrer Aussage verwirren wollen. Kopfschüttelnd nehme ich die Tablette und spüle sie mit einem großen Schluck Wasser herunter. Ich habe wirklich immer noch Kopfschmerzen. Und bin wirklich dankbar, dass Simara daran gedacht hat. Alleine wäre ich total aufgeschmissen gewesen. Das erinnert mich wieder an ihre Worte. Ich bin ein Kind. Und ich bin nicht fähig selbst auf mich aufzupassen. Und es stimmt. Ich habe ihr wortwörtlich am Rockzipfel gehangen. Ich habe sie bestimmt total genervt. Ich an ihrer Stelle wäre extrem genervt von mir und meiner Unfähigkeit gewesen. Also hat sie jede Berechtigung dafür grob zu mir zu sein. Und verletztend. Wieso musste mir das auch passieren? Ich schäme mich in Grund und Boden, aber schlimmer finde ich die Tatsache, dass ich Simara in ihrem Eindruck bestätigt habe noch total unreif zu sein. Und damit hat sie ja auch verdammt noch einmal recht. Das ärgert mich noch so viel mehr. Lucia, dann bemühe dich mal reifer zu werden. Da kannst du gleich damit anfangen pünktlich zum Frühstück zu erscheinen.
Wo ist eigentlich mein Handy? Ich habe jedes Zeitgefühl verloren, doch so wie ich mich kenne, ist es bereits eh zu spät für Pünktlichkeit.
Trotzdem krame ich jetzt hektisch in meiner Handtasche. Bestimmt ist es noch darin.

Als ich endlich mein Smartphone in der Hand halte seufze ich erleichtert auf. Was hätte ich nur getan, wenn ich es in der Disco vergessen hätte. Daran will ich gar nicht erst denken.

Gleich nach dem Entsperren springen mich die weißen Ziffern der digitalen Handyuhr an. 9:40 Uhr! Das Frühstück also schon einmal komplett versäumt. Wer hätte das gedacht? Ich setze mich betroffen wieder auf mein Bett. Wie soll ich denn jetzt nur meine Reife beweisen? Haha, sehr lustig Lucia.

Der gelbe Zettel von Simara liegt am Boden. Ist wohl heruntergefallen. Ich schnappe nach dem Papier und sehe, dass auch auf der Rückseite etwas geschrieben steht. Ganz klein, unten im rechten Eck. Eine Nummer. Ich nehme an es ist ihre. Doch warum zum Teufel gibt sie mir ihre Nummer?

Ich speichere sie unter 'Simi' ein und suche auf WhatsApp nach dem Kontakt. Wenn sie nur sehen könnte unter welchem Namen ich sie einspeichere. Ich grinse tief in mich hinein. Irgendwann werde ich ihr das unter die Nase reiben. Ganz sicher.
Mein Handy hat gerade die Kontaktliste aktualisiert, und tatsächlich ich finde sie. Und sie hat sogar ein Profilbild. Jetzt kann ich abends im Bett wenn ich mich alleine fühle immer ihr Gesicht anschauen und sie noch mehr anhimmeln. Kann man jetzt positiv oder negativ sehen. Ich werde vor Sehnsucht sterben. Das Bild ist wirklich schön. Simara sitzt im Schneidersitz auf einer Blumenwiese und lacht vergnügt in die Kamera. Ihre Haare sind lockig und wehen im Wind. Der Inbegriff von Schönheit. Jetzt übertreibst du aber! Bleib doch mal realistisch. Sie ist einfach nur ziemlich attraktiv und weiß damit zu spielen. Verträumt starre ich auf das Display. Sollte ich Simara schreiben? Ich gehe auf das Chatfenster. Sie ist online. Hin und hergerissen ob ich ihr etwas senden soll, knabbere ich auf meiner Unterlippe herum. Ob ich sie nur nerven würde?
Ich komme zu dem Schluss, dass Simara mir vermutlich nicht umsonst ihre Nummer gegeben hat. Also sollte ich es wagen ihr komplett auf den Zeiger zu gehen, aber das kann mir eigentlich auch völlig egal sein, denn dann hätte sie mir ihre Nummer nicht geben dürfen.
Was soll ich ihr nur senden? Lucia, schalte dein Gehirn doch einfach mal ab. Du machst dich viel zu verrückt.


-Guten Morgen. Ich bins und äh... danke?-

Nach wenigen Sekunden sehe ich, dass sie wieder online kommt. Dann habe ich auch schon eine Antwort.

-Sehr geistreich gleich den Namen dazu zu schreiben, Lucia!
Ich habe schon ein bisschen mehr erwartet als ein 'Danke' mit einem Fragezeichen.
Nach dieser ganzen Tortur letzte Nacht.-

Ich wusste es! Ich habe sie total genervt. Klar, sie schreibt das spaßhaft und das verstehe ich auch, aber Zweifel habe ich trotzdem. Würde sie es sonst als Tortur bezeichnen? Es verletzt mich indirekt. Also abblocken. Konter-Modus, selbst wenn ich ihr vermutlich nicht das Wasser reichen kann.

-Na ja... es war eigentlich auch eher ein „Danke für die äußerst liebevolle Nachricht.. “ und das war sowieso nicht ernst gemeint.
Du hast deinen Namen auch nicht dazu geschrieben :P-

Diesmal braucht sie etwas länger zum Antworten. Dann erscheint ihr Text im Chat.

-Wärs dir lieber ich würde dich anlügen?
Seit wann bist du denn so frech? Wird da jemand im Chat mutig?-

Es wäre mir tatsächlich nicht lieber. Nichts hasse ich mehr als Personen, die einem etwas vormachen und nicht geradeheraus sagen was Sache ist. Obwohl Direktheit sehr verletzen kann, finde ich es besser als irgendwann zu erfahren, dass man jemandem lästig war. Das Problem bei Simara ist nur, dass ich nie einschätzen kann, wie viel Wahrheit in ihrer Direktheit liegt. Weil ich nie weiß, was Scherz und was Ernst ist.

-Ja! Vielleicht.. Nein, das möchte ich nicht. Aber du bist immer recht grob.-

Gebe ich dann zu. Und lasse sie damit in meine Gedanken blicken, mache mich damit angreifbar. Mutiger werde ich nicht unbedingt. Ich versuche mich nur zu wehren, und wenn ich in mich hinein höre macht es mir auch Spaß nach einer provozierenden Antwort zu suchen.

-Ich bin direkt. Ich dachte das wüsstest du mittlerweile.-

-Ich weiß es auch. Aber ich bin es nicht gewöhnt.
Bin ich wirklich so schlimm gewesen?-

Ich könnte mir für diese Frage so richtig eine klatschen. Du kannst ihr doch nicht so eine Steilvorlage liefern, Lucia. Das kommt bestimmt richtig unsicher rüber. So opferhaft. Aber genau das bist du doch längst!

-Na dann gewöhnen wir dich in Zukunft ein bisschen intensiver daran.
Du warst niedlich schlimm.-

Was meint sie denn jetzt damit? Mir wird heiß und kalt. Und ich war niedlich schlimm? Was ist das denn bitte für eine Aussage?

-Wird diese Eingewöhnung angenehm für mich?
Und wie darf ich das jetzt bitte auffassen?-

Ich versuche einfach mit einer Gegenfrage meine Verwirrung zu überspielen.

-Ach, ich denke hier und da könnte es dir auch gefallen.
Auffassen kannst du es so wie du willst :P
Sagen wir mal so, ich lebe noch.
Du musst jetzt übrigens deinen Koffer packen sonst wird es etwas knapp mit der Zeit.-

-Blöde Frage, aber wann genau fahren wir denn los?-

-Meiner Erfahrung nach ist es sinnlos dir eine Uhrzeit zu nennen. Aber damit du zufrieden bist: Wir wollten eigentlich um 11 Uhr spätestens losfahren. Das heißt husch husch!-

-Willst du mich gerade vertreiben?-

-Nein, ich helfe nur deinem Pünktlichkeitssinn auf die Sprünge. Und wenn du schnell bist, triffst du mich um 10.45 Uhr noch im Frühstücksbereich an.....
So als kleine Motivation.-

Was erlaubt sich diese Frau eigentlich. Als wäre sie der Mittelpunkt meines Lebens. Ok, das ist sie zum Teil auch. Aber trotzdem... wie kann jemand nur so überzeugt sein? Lucia, du hast ihr eindeutig zu viel Macht gegeben!


Koffer packen, wie lästig! Das Einpacken macht eben nie so viel Spaß wie das Auspacken. Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich alles irgendwie in meinem Koffer verstaut. Die Betonung auf "irgendwie". Ich blicke mich im Zimmer um, nur noch paar Sachen von Julia liegen herum. Sie wird bestimmt in den nächsten Minuten kommen und die Dinge zusammenpacken. Ich ziehe mir meine Lederjacke an und werfe mir meinen dicken, karierten Schal um den Hals. Ein letzter schweifender Blick. Etwas gelbes blitzt mir entgegen. Natürlich, der Zettel! Ich laufe zum Nachttisch und stopfe mir das Stück Papier eilig in die Jackentasche. Dann verlasse ich mit meinem Koffer im Schlepptau das Hotelzimmer.

Herzklopfend betrete ich den Frühstücksbereich, ich habe es tatsächlich noch geschafft. Und obwohl es mir nicht so recht behagt es zuzugeben, aber Simaras Nachrichten waren wirklich ein Ansporn. Doch wie komme ich denn jetzt vor ihr rüber? Wie ein kleines, braves Kind, das alle seine Anweisungen ohne Widerspruch ausführt? Und nicht nur das, es sogar gerne tut! Hätte ich ihre Anspielungen und dieses „Treffen“ einfach ignoriert, würde ich ihr diese Macht wenigstens ein bisschen entziehen. Oder hätte ihr damit wenigstens mehr oder weniger demonstriert, wie „unwichtig“ sie mir eigentlich ist. Und wie gut ich auch ohne sie klarkomme. Aber wenn ich ihr immer so übermäßig zeige, wie sehr ich von ihr abhängig bin, dann mache ich mich nur noch mehr zum Opfer. Schlimm genug, dass ich schon so etwas wie ein Opfer bin, aber diese Rolle möchte ich ja eigentlich gar nicht einnehmen, nicht so und nicht dauernd. Ich kann es ja selbst nicht mal an mir verstehen, ich hasse es, dass ich mich immer geradezu bereitwillig auf diese Ebene setzen lasse. Wie gerne hätte auch ich einmal die Oberhand. Wie gerne würde ich einmal den Schock und die Unsicherheit in Simaras Augen sehen. Wie gerne wäre es einmal ich, die die andere in der Hand hat. Ich würde so vieles tun, nur um dieses Gefühl zu haben. Doch wie könnte ich das jemals erreichen? Lucia, du musst dir was überlegen! Und zeige ihr deine Zuneigung um Himmels Willen nicht zu sehr!

Schon allein dieses Herzklopfen nervt mich so sehr. Kann ich nicht einfach total gelassen und cool bleiben? Muss ich schon wieder rot werden, wenn ich nur in ihre Augen blicke? Ich hab das starke Bedürfnis etwas daran zu ändern. Eindeutig Punkt eins auf meiner geistigen To-do-Liste! Selbstbeherrschung! Lucia, wo ist deine Selbstbeherrschung?

Das Problem ist, ich will, dass sie es weiß. Ich will, dass sie weiß wie sehr ich sie bewundere.. doch wenn ich es offen zugebe, dann hat sie erneut etwas in der Hand gegen mich.. etwas das sie ausspielen kann, das sie ausnutzen kann und das ihr wieder ein Stück mehr Macht über mich gibt. Ich würde damit wieder ganz offensichtlich die Opferrolle einnehmen. Wenn ich es ausspreche und ihr sage, wie sehr sie mich fasziniert, dann wird das Ungleichgewicht nur immer größer. Denn von ihr werde ich nichts zurück bekommen. Rein gar nichts. Selbst wenn sie das gleiche empfindet. Falls sie das gleiche fühlt. Sie wird es nie gestehen, und ich komme mir nur immer dämlicher vor.
Egal wie gerne ich es tun würde. Wie gerne ich darüber sprechen würde, wenn von ihr nichts kommt, wenn sie mir gegenüber nicht ebenfalls offen ist, dann bedeutet das für mich...
Ja, was bedeutet das eigentlich für mich?
Ich wäre todtraurig.  


Wieso werde ich bei ihr immer automatisch zum Opfer, sobald es um Gefühle geht?
Ich werde erst dann wieder das Thema Gefühle ansprechen, wenn auch von ihr eine ehrliche Antwort zu erwarten ist. In einem ernsten Moment, ohne Ironie und ohne Stimmungsschwankungen. Da kannst du warten bis du schwarz wirst, Lucia!

Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich das aushalte. In manchen Augenblicken will ich ihr einfach mein ganzes Herz ausschütten, will ihr alles beichten und nicht mehr nur für mich behalten. Dabei habe ich ihr schon viel zu viel verraten. Ich kann mich oft nicht bremsen. Und hinterher bereue ich es zutiefst, weil ich enttäuscht werde. Enttäuscht von ihrem Verhalten, ihrer Ignoranz.
Ich habe gelernt, dass ich immer dann enttäuscht werde, wenn ich mit ihr über meine Gedanken sprechen möchte. Zu oft ist das schon passiert. Ich mache mich verletzlich und hoffe jedes Mal, Simara tut es mir gleich. Jedes Mal werde ich eines besseren belehrt und jedes Mal begehe ich den selben Fehler erneut. Und jedes Mal könnte ich mich eigenhändig für meine Blödheit umbringen.
Und ich möchte das was wir haben auch nicht kaputt machen. Wenn ich sie zu sehr mit meinem emotionalen Scheiß bedränge, werde ich vielleicht sogar langweilig für sie.

Simara sitzt mit überschlagenen Beinen an einem Tisch am Fenster. Sie ist über irgendeine Zeitschrift gebeugt und scheint sehr darin vertieft zu sein. Die Morgensonne scheint hell durch die Fensterscheibe und hüllt sie in ihr goldenes Licht. In diesem Moment kommt sie mir wahrhaftig wie eine Göttin vor.
Ich genieße die Sekunden, in denen sie meine Anwesenheit nicht bemerkt. Zu selten sind die Augenblicke, in denen ich sie ganz ungestört betrachten kann. Dabei komme ich mir wirklich wie eine Stalkerin vor.

„Wie lange willst du mich eigentlich noch so selig anstarren?“

Sie blickt nicht auf, und hätte ich den Satz nicht klar und deutlich vernommen, hätte nichts darauf hingewiesen, dass sie überhaupt etwas gesagt hatte.
Nur dieses ironische Lächeln auf ihren Lippen zeigt mir, dass sie sich mal wieder über mich lustig macht. Wie angewurzelt bleibe ich ertappt stehen. Natürlich. Wie konnte ich nur denken, sie würde meine Anwesenheit nicht bemerken?
Meine Wangen glühen vor Hitze. Ein äußerst schlechtes Zeichen. Ich sollte wirklich daran arbeiten den ersten Punkt meiner Liste umzusetzen.

Schweigend starre ich sie einfach weiter an. Noch immer studiert Simara die aufgeschlagene Seite ihres Heftes. Man könnte wirklich meinen, ich hätte mir ihre Worte eingebildet. Welch Desinteresse!

Dann wird die Zeitschrift mit einem Ruck zugeschlagen. Schnell lässt Simara sie in ihrer Tasche verschwinden.
Endlich hebt sie auch den Kopf und blickt mich abwartend an. Als ich noch immer nichts sage, zieht sie ihre Augenbraue nach oben. Auf den Lippen, wie zu erwarten, jenes höhnische Grinsen. Ich komme mir irgendwie immer richtig dämlich vor. Doch ich halte mir vor Augen, dass ja genau das ihre Absicht ist. Ihre Masche, um andere zu verunsichern. Das tröstet mich ein wenig.

„Ich höre?“, durchbricht Simara die Stille.

„Ich habe dich überhaupt nicht angestarrt!“, fahre ich sie trotzig an.
Sehr erwachsen, Lucia!

Ihr Grinsen wird breiter, sie durchschaut mich. Was auch sonst?

„Ach nein?“
Ihre Stimme ist samtweich und gleichzeitig gefährlich süß... zu süß... zuckersüß.

„Nein“, behaupte ich schwach.

„Da frage ich mich nur, was kann interessanter sein als ich?“

„Deine Zeitschrift da zum Beispiel. Die ist sehr spannend. Lese ich auch immer daheim!“
Ich versuche mich verzweifelt zu retten. Zwar habe ich wirklich absolut keine Ahnung was das für eine Zeitschrift gewesen ist. Zum Einen, weil ich tatsächlich nur Simara angestarrt habe und zum Anderen, weil ich aus meiner Perspektive kein einziges Wort hätte entziffern können. Aber alles ist besser, als das vor Simara zuzugeben und mir diese Blöße zu geben.

Simaras Gesichtsausdruck ist überraschend ernst. Sehr ernst. Sie runzelt sogar die Stirn.
Dann lacht sie auf einmal schallend los.
Was hat sie denn jetzt schon wieder für ein Problem, verdammt?

„Ich glaube nicht, dass du auch nur die geringste Ahnung hast, was das für eine Zeitschrift war. Aber spannend ist sie, da hast du recht.“

Mal wieder trifft sie den Kern der Sache. Und ich habe gerade von überhaupt nichts eine Ahnung.
Nein, ich stehe einfach weiter wie blöd da und bin nur sprachlos.
Sie merkt wohl, wie hilflos ich mich fühle und erlöst mich endlich, in dem sie mir mit einem Nicken zu verstehen gibt, mich ihr gegenüber auf den freien Platz zu setzen.

„Tut mir leid wegen gestern. Das waren Umstände für dich, ganz allein wegen meiner Dummheit.“

Mein Innerstes hofft natürlich, sie würde abstreiten, dass es Umstände für sie gewesen seien. Dann würde ich mich besser fühlen. Nicht nur besser, auch wichtig. Ihr wichtig.
Kranke Logik, wenn man bedenkt, dass es ja wirklich Umstände gewesen sind.

„Ach was. In deinem Fall beginne ich solche Umstände zu mögen. Jedes Mal stehst du tiefer in meiner Schuld.“


Ich starre Simara entgeistert an, die mich weiterhin einfach nur böse anlächelt.
In ihrer Schuld zu stehen ist beängstigend und gleichzeitig fühlt es sich auch irgendwie aufregend an. Wenn ich ihr komplett egal wäre, würde sie ja keine Gegenleistung von mir verlangen. Super, Lucia! Zum Ausnutzen und zum Spielchen spielen bist du also gut genug..... Jetzt übertreib mal bitte nicht! Du musst dich schließlich nicht von ihr ausnutzen lassen...

Gerade, als ich irgendwas und sicherlich dämliches sagen will, schiebt mir Simara einen Schokomuffin hin. Keine Ahnung wo sie den versteckt hatte. Überrascht fixiere ich den Muffin und das Wasser läuft mir im Mund zusammen. Ich habe einfach eine Schwäche für Schokolade und für Muffins. Schokomuffins. Außerdem habe ich heute noch nichts gegessen.

„Hier. Viel Spaß damit.“

Ungläubig greife ich nach dem Muffin. Wie dankbar ich gerade bin, dankbar und fröhlich. Wie süß von ihr. Bis auf ihre direkte Art. Aber das gehört einfach zu Simara und ich könnte es auch nicht mehr wegdenken. Möchte es auch gar nicht. Innerlich muss ich lachen. Ich glaube niemand sonst hätte solch eine nette Geste auf diese knappe, kurz angebundene Art und Weise rüberbringen können.

„Aber woher...?“

Sie schmunzelt.
„Ich hab schon im Café bemerkt, wie sehnsüchtig du das ganze Schokozeugs angestarrt hast. Wirklich beneidenswert. Fast.“

Ich werde rot und zupfe verlegen an dem Papierchen des Muffins herum. Beneidenswert?
„Ähh... danke? Aber was sollte das 'fast'?“

„Nun, ich stehe nicht auf Kannibalismus. Aber das ist ja sowieso ziemlich unwahrscheinlich. Ich würde dich zuerst fressen. Natürliche Nahrungskette. Fressen oder Gefressen werden und so..“, dann schweift ihr Blick ganz plötzlich zu ihrer Armbanduhr.
„Du hast nur noch zehn kostbare Minuten mit mir.“

„Gerade finde ich diesen Muffin um einiges kostbarer.“

„Da spricht die Unerfahrenheit aus dir. Aber an deiner Stelle würde ich ihn auch genießen. Achso, und das Bedanken war eigentlich gar nicht nötig. Reiner Eigennutz, meine Liebe.“

Ein ganz besonders fieses Lächeln schleicht sich auf ihr Gesicht. So eines, das ich ihr zu gerne einmal aus dem Gesicht wischen würde.
Sie lehnt sich leicht nach vorne.

„Deine Liste wird nämlich immer länger.“

Verständnislos blicke ich sie an.
„Welche Liste?“

„Na ja. Der Dinge, die du mir schuldig bist. Ich bin jetzt draußen beim Bus.“

Simara erhebt sich und geht in Richtung Ausgang. Hinter mir bleibt sie jedoch kurz stehen und beugt sich über mich.

„Ich erwarte dann etwas ähnlich genussvolles...“, flüstert sie mir mit samtweicher Stimme ins Ohr.

Ich schnappe nach Luft. Sie schafft es immer wieder, mich aus dem Konzept zu bringen. Die Nähe, ihre Worte, das alles bringt mich völlig durcheinander.
Ehe ich meine Gedanken richtig sortieren kann, hat sie sich schon umgedreht und verschwindet durch die Tür.

Fassungslos starre ich wieder auf meinen Schokomuffin. Sie will etwas ähnlich genussvolles?
Ich grinse in mich hinein. Dann schenke ich ihr halt einen Blaubeermuffin.
Warum eigentlich nicht?
Ich schaue auf mein Handy. Es ist kurz vor elf Uhr.
Zum Henker mit der Pünktlichkeit. Ich muss an diesen Blaubeermuffin kommen.
Trotzdem lasse ich es mir nicht nehmen, meinen wundervollen Schokomuffin ganz in Ruhe zu verspeisen.

Schon fünf nach elf. Oh weh.
Ich schultere meine Tasche und greife nach dem Henkel meines Koffers.
Jetzt noch schnell, wirklich schnell in das Café. Blaubeermuffin ich komme!


Mit einer fünfzehnminütigen Verspätung treffe ich schließlich am Bus ein. Auf der einen Seite sehe ich den Busfahrer, der noch die letzten Koffer der Schüler verstaut, ich stelle meinen dazu und beeile mich zur Bustür zu kommen.
Simara steht als einzige noch außen und starrt mich missbilligend an. Höchstwahrscheinlich wegen der Verspätung. Sie deutet auf ihre Armbanduhr.

„Ich musste meinen Muffin doch genießen. Das haben Sie selbst gesagt, Frau Winter.“
Ich strecke die Zunge raus, husche schnell an ihr vorbei ins Innere des Busses und nehme ihr somit die Chance etwas zu erwidern.

Diesmal mache ich es mir am Fenster bequem. Wieder sitzen die meisten Schüler möglichst weit hinten. Und wieder sitzt Herr Berger bei den „coolen“ Jungs aus unserer Klasse.
Schade, dass ich Simaras Gesichtsausdruck nicht gesehen habe. Mich hätte ihre Reaktion interessiert. Ich lasse mich seufzend in den Sitz sinken und schließe für einen Moment die Augen. Wie schnell die Zeit doch vergangen ist.

„Anschnallen!“

Ich zucke zusammen und höre Simara leise vor sich hinlachen.
Was ist ihr denn da schon wieder in den Sinn gekommen?
Wie haben uns den ganzen Aufenthalt in Berlin kein einziges Mal im Bus anschnallen müssen.

Ich bleibe reglos sitzen und beobachte, wie sie sich geschmeidig in ihren Sitz neben mir gleiten lässt. Der Motor startet und der Bus bewegt sich langsam vorwärts.

„Auf was wartest du denn?“

„Ich... ähm.. aber..“

„Willst du gerade deiner Lehrerin widersprechen?“, sie schaut mich streng an.

„Naa..nein.“
Meine Stimme zittert unter diesem eindringlichen Blick.
Zögerlich greife ich also nach dem Gurt auf meiner linken Seite. Während ich versuche ihn hervor zu ziehen – er steckt irgendwie fest – setze ich erneut an.
„Wieso ...wieso soll ich mich anschnallen?“

Simara zieht eine Augenbraue hoch.
„Wieso ziehst du beim Fahrrad fahren einen Helm auf?“

Was würde sie wohl dazu sagen, wenn sie wüsste, dass ich beim Fahrrad fahren gar keinen Helm trage? Kein normaler Mensch trägt beim Fahrrad fahren einen Helm. Ich schweige.

„Sicherheit, Liebes. Ich lege höchste Priorität auf Sicherheit!“
Sie schmunzelt und beobachtet amüsiert, wie ich immer noch an meinem Gurt zupfe.

„Wird das noch was?“
Sie hält mich natürlich für unfähig.

„Ich weiß nicht.“, gebe ich schüchtern zu.

Simara gibt ein genervtes Stöhnen von sich, bei dem ich mir mit einem mal nicht mehr sicher bin, ob sie es womöglich tatsächlich ist – genervt. Übel nehmen könnte ich es ihr nicht.
Dann beugt sie sich über mich, um selbst nach dem schwarzen Sicherheitsgurt zu greifen.
Diese Nähe bringt mich fast um den Verstand. Ich bekomme keine Luft mehr. Oh Gott. Ich glaube ich hyperventiliere.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in Ohnmacht gefallen wäre, hätte es Simara nicht innerhalb Sekunden geschafft, den Gurt hervor zu holen.

„Alles gut bei dir?“

Erst jetzt merke ich, dass ich total verkrampft da sitze und schnaufe, als hätte ich einen Marathon hinter mir.
Hilfe! Nichts ist gut! Tief durchatmen, Lucia!

„Ja. Was soll denn auch nicht gut sein?!“, schimpfe ich. Mich regt die Reaktion meines eigenen Körpers einfach fürchterlich auf.
Simara lacht wieder vor sich hin. Ich warte. Sollte sie den Gurt nicht endlich loslassen? Ich kann mich jetzt schließlich selbst anschnallen. Doch sie verharrt und tut das dann an meiner Stelle.
Geschafft. Erleichtert hole ich Luft. Ich lehne mich erneut zurück.
Dann bemerke ich, dass mich Simara immer noch eingehend mustert. Sie grinst böse. Sehr böse. Oh je. Ich blicke auf den Gurt. Ihre Finger halten ihn immer noch umgriffen.
Mit der anderen Hand umfasst sie das Gurtende, an dem man die Länge des Sicherheitsgurtes einstellen kann. Ehe ich mich versehe zieht sie mit aller Kraft zu.


Ich lache unkontrolliert auf. War ja auch irgendwie klar, dass wieder so eine Aktion von Simara zu erwarten war.
Meine Beine werden jetzt so fest an den Sitz gedrückt, dass ich sie kaum noch bewegen kann. Nicht sehr angenehm. Auf Dauer könnte das ein Problem werden. Trotzdem kann ich einfach nicht aufhören zu lachen. Ich merke, dass meine Lehrerin das so gar nicht witzig findet. Sie hätte wahrscheinlich gedacht, dass ich vollkommen schockiert von ihrer Handlung sei. So wie immer halt. Zugegeben, ich bin schockiert, sehr sogar. Und dieses Lachen ist eher eine Art Reaktion auf dieses Schockgefühl in meinem Inneren. Aber das muss Simara ja nicht erfahren. Gut so, wenn sie glaubt, dass mich das kalt lässt und dass ich ihr Verhalten eher lächerlich finde.
Fast könnte man meinen sie sei beleidigt. So finster wie sie drein blickt. Und fast tut sie mir leid. Das muss für sie eine sehr ungewohnte Situation sein.

„Findest du dein Verhalten nicht auch ein wenig kindisch?“, zischt sie mir bitterböse ins Ohr.

Damit bringt sie mich noch mehr zum Lachen. Ich verschlucke mich an meiner eigenen Spucke. Das Lachen wird zu einem Gehuste und ich kann einfach nicht aufhören.

„Findest DU dein Verhalten nicht auch ein wenig kindisch? Ich meine, wofür war das denn jetzt?“, lachend schiele ich zu dem Gurt über meinen Oberschenkeln.

Als ich wieder in ihr Gesicht blicke, vergeht mir das Lachen mit einem Mal, denn ihre Miene ist furchterregend ernst geworden. Ihre Augen sind zu Schlitzen zusammengekniffen.

„Du weißt nicht was du für ein Glück hast, dass wir in einem Bus sitzen, wo andere Menschen uns sehen und hören können!“

Eisige Schauer laufen mir den Rücken hinunter. Entsetzt reiße ich die Augen auf. Gleichzeitig beginnt es in mir schrecklich zu kribbeln. Was genau meint sie damit? Lauter Gedanken schießen mir durch den Kopf. Fragen. Fragezeichen. Nur Fragezeichen. Simara lächelt schief, natürlich weiß sie, dass ich keine Ahnung habe. Von nichts, um genau zu sein. Jetzt hat sie wieder die Oberhand gewonnen und ist sich dessen vollkommen bewusst.

„Trotzdem würde ich mir an deiner Stelle etwas einfallen lassen, um mein Gemüt zu besänftigen. Ich bin nachtragend.“, fügt sie augenzwinkernd hinzu.

Sicher ist sie das. Sie ist wahrscheinlich schon allein aus dem Grund nachtragend, weil es ihr unheimlich Spaß macht. Es macht ihr Spaß Forderungen zu stellen und besänftigt zu werden. Da fällt mir die Tüte mit dem Blaubeermuffin in meiner Handtasche ein. Vielleicht ist das jetzt der richtige Moment, um ihr das „ähnlich genussvolle“ Geschenk zu überreichen. Ich beuge mich nach unten und ziehe die Tasche auf meinen Schoß. Ein Kraftakt, schließlich kann ich meine Beine nicht bewegen – dank der Person neben mir. Dann hole ich die Tüte mit dem Muffin heraus. Simara tippt an ihrem Handy herum und scheint beschäftigt zu sein. Ihre Stirn runzelt sich, während sie kurz inne hält und dann erneut etwas eingibt. Mit wem sie wohl schreibt?

„Hier! Viel Spaß damit!“, ich halte ihr die Tüte vor die Nase.

Skeptisch nimmt Simara sie entgegen und lässt ihr Handy in ihrer Handtasche verschwinden, obwohl sie gerade eine neue Nachricht erhalten hat. Das sehe ich daran, dass ihr Smartphone blinkt. Mit freudiger Erwartung beobachte ich, wie sie die Tüte öffnet. Ich kann ihre Reaktion, wenn sie den Muffin zu Gesicht bekommt kaum abwarten. Was sie wohl dazu sagen wird? Innerlich grinse ich breit.

Doch Simara starrt einfach ausdruckslos in die Tüte. So gar nicht das, was ich erhofft hatte. Nicht das ironische Lächeln oder den schelmischen Glanz in ihren Augen, den ich schon im Geiste zu sehen geglaubt habe.
Ich rutsche unruhig auf meinem Platz herum, sofern mir das mit dem Gurt möglich ist.
Sie sagt immer noch nichts.
Was soll das? Was denkt sie nur? Gerade will ich zu einer Frage ansetzen, als dann doch etwas von ihr kommt. Tonlos. Ganz tonlos. Monoton.

„Den kannst du selbst essen. Ich mag keine Blaubeeren.“

Jetzt bin ich wirklich sprachlos. Im negativen Sinne. Es geht um einen verdammten Muffin. Und eigentlich geht es doch um viel mehr als das. Um die Geste. Um den Witz dahinter. Ist sie gerade wirklich enttäuscht? Sauer? Weil sie keine Blaubeeren mag? Ernsthaft? Außerdem, wer mag keine Blaubeeren?

„Was stimmt mit dir nicht?“, will ich beleidigt wissen.

Sie reicht mir die Tüte. Der arme Muffin. Schulterzuckend beiße ich ab, wenn sie ihn nicht will, bitte.
Simara betrachtet mich nachdenklich, gleichzeitig schleicht sich wieder ein liebliches Lächeln auf ihr Gesicht. Künstlich lieblich. Ich kaufe ihr das nicht ab.

„Das macht dann schon den nächsten Punkt auf der Liste.“

„Häh?“

Was macht denn den nächsten Punkt auf der Liste? Was habe ich schon wieder verbrochen? Sie schaut mich streng an, vermutlich wegen des 'hähs'. Ich verdrehe die Augen.

„Ich meine 'wie bitte'.“

„Dir ist schon bewusst, dass sich dein Fehlverhalten ganz schön häuft? Und, dass ich dir schon wieder etwas geschenkt habe, deshalb der Punkt auf der Liste.“
Sie blickt vielsagend auf den Muffin in meiner Hand, als wäre das die Erklärung des Jahrtausends.

„Aber das macht doch gar keinen Sinn! Mein Verhalten ist doch absolut vorbildlich... und der war doch eigentlich ein Geschenk für dich!“

„Erstens MACHT es so oder so nie einen Sinn, etwas ERGIBT Sinn und zweitens würde ich dein Verhalten jetzt nicht gerade als vorbildlich bezeichnen.“

Simara hebt drohend ihre Hand, als sie sieht, dass ich meinen Mund öffne um zu widersprechen.
Aber schon bei ihrem ersten Satz muss ich wieder die Augen verdrehen. Wie arrogant und lehrerinnenhaft sie einfach rüber kommt.

„Da wäre einmal deine Verspätung, die du wegen eines Muffins, noch dazu eines Muffins, der mir nicht einmal schmeckt, in kauf genommen hast. Dein frecher, völlig unangebrachter Kommentar, an stelle einer ordentlichen Entschuldigung. Dann natürlich dein unverzeihliches „häh“ und das Widersprechen. Zu guter Letzt dieses Augenverdrehen, dass nebenbei bemerkt einfach nur respektlos ist. Wenn man das alles zusammenrechnet, dann kommt man zu einem Ergebnis, das... nicht sehr positiv für dich ausfällt. Und bezüglich des Muffins... da gebe ich dir recht, deswegen war er ja in meinem Besitz. Und dann habe ich dir erlaubt meinen Muffin zu essen. Du bist mir damit also schon wieder etwas schuldig. Einleuchtend, wie ich finde.“

Pfff. Was hat sie nur immer mit diesem „schuldig sein“? Was bitte bringt ihr das?
„Einspruch. Du hast das Geschenk abgelehnt, das heißt es ist gar nicht in deinen Besitz übergegangen!“

Simara schaut mich überrascht an, sie hätte wohl nicht damit gerechnet, dass ich erneut widersprechen würde.

„Dann lass uns darum spielen.“, sie zwinkert mir zu. Beunruhigend siegessicher, für meinen Geschmack.
Wie soll ich nur jemals gegen eine so gerissene Person gewinnen?


„Spielen?“, ich grinse belustigt und versuche so meine Unsicherheit zu verbergen.
„Na sicher. Ist da etwa jemand nervös?“, ebenfalls ein Grinsen ihrerseits.

Wunderbar. An sich habe ich nichts gegen Spiele. Wirklich nicht. Ich bin auch eine gute Verliererin, wenn es ein faires Spiel war natürlich. Aber ich bezweifle, dass Simara jemand ist, der fair spielt. Und eigentlich weiß ich schon jetzt, dass ich verlieren werde, aber gleich aufgeben, das kommt auch nicht in Frage.

„Das hättest du wohl gern?“
Simara grinst weiterhin und zuckt mit den Schultern. Sie glaubt mir kein bisschen. Wie auch? Ich glaube mir selbst nicht einmal und eine gute Schauspielerin war ich ja noch nie.

„Wie wäre es mit folgendem Spiel: Wer den anderen länger anschauen kann ohne zu blinzeln hat gewonnen?“, schlage ich waghalsig vor, dabei frage ich mich welches Tier mich geritten hat, dass ich ausgerechnet dieses Spiel vorschlage. Wie konnte ich das nur tun? Wo mich ihre Augen doch immer geradezu niederringen?

„Wie kommst du darauf, dass du das Spiel aussuchen darfst?“, meint Simara voller Hohn, „Aber gut. Wenn du das unbedingt spielen möchtest..?“.
In meinem Kopf schreien tausend Stimmen, wie tausend kleine Alarmanlagen gleichzeitig schrill „nein“, aber über meine Lippen geht nur ein leises „ja“.
Sie zieht ihre Augenbrauen hoch. Anscheinend weiß sie genau, dass ich mich zu Tode ärgere, dass ich dieses Spiel vorgeschlagen habe, aber jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Simara lächelt selig. „Was?“, will ich genervt wissen. Sie schüttelt den Kopf, „Nichts nichts.“, und lächelt weiter.

„Wann fangen wir an?“

„Ungeduldig wie eh und je. Du scheinst es ja kaum erwarten zu können... zu verlieren.“
Pfff. Beleidigt runzle ich meine Stirn. Es besteht auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ich gewinne!

„Nicht traurig sein, kleine Lu. Mit Gewinnern gibt es immer auch ein paar Verlierer. Und ohne Gewinner gibt es nur Verlierer.“

„Du machst dich über mich lustig!“

„Vielleicht?“

„Also ja!“

„Vielleicht.“

„Bäh.“

„Schäfchen!“

„Also ich bin dafür, dass wir beginnen!“, entschlossen reiße ich meine Augen auf und starre Simara konzentriert an. Nur nicht blinzeln, nur nicht blinzeln! Das ist noch schwieriger als gedacht. So langsam wird es echt schwer die Augen offen zu halten, obwohl bisher wahrscheinlich nicht mal eine Minute vergangen ist. Meine Sicht verschwimmt. Und meine Augen beginnen selbst nach so kurzer Zeit unerträglich zu brennen und zu tränen. Aber ich darf jetzt keine Schwäche zeigen. Während dieses Spiel für mich die reinste Qual ist, sitzt Simara völlig entspannt auf ihrem Platz, ihr scheint das nicht im Geringsten schwer zu fallen oder gar unangenehm zu sein.
Ich werde verlieren! Ich werde verlieren. Natürlich! Wie hatte ich auch nur eine Sekunde denken können auch nur eine klitzekleine Chance gegen sie zu haben? Absurd! Absurd und schrecklich dumm. Ich spüre, wie ich immer krampfhafter versuchen muss nicht zu blinzeln und wie sich meine Lider danach sehnen. Es schmerzt so sehr. Wie schafft sie das bloß?

Kurz bevor ich den Entschluss fasse aufzugeben, zwinkert mir Simara süffisant zu. Moment? Sie hat mir zugezwinkert? Gezwinkert? Gezwinkert, wie Geblinzelt? Ich habe doch gewonnen? Simara hat mich gewinnen lassen?! Warum um alles in der Welt hat sie mich gewinnen lassen?

Ich kann endlich die Anspannung in meinem Körper lösen und meine verkrampfte Haltung aufgeben.


„Tränen stehen dir.“


Ich fasse an meine Wange. Ich habe tatsächlich nicht gemerkt, dass mir vor Verbissenheit und Schmerzen Tränen über die Wangen gelaufen sind.

Ich glaube nicht, dass mir je etwas peinlicher gewesen wäre. Nur trifft mich die Erkenntnis, dass ich eigentlich gar nicht mal richtig gewonnen habe. Es war ihre Entscheidung. Sie kontrolliert immer alles. Und alles ist von ihr abhängig. Ich merke, dass ich einfach eine Marionette bin und sie die Fäden in der Hand hält. Fäden – so kommt es mir zumindest vor –, die mein Leben beeinflussen. Ja, es fast komplett in Händen halten und nach belieben dieses steuern. Es ist als würde sie mir die Chance nehmen etwas selbst zu bestimmen und selbst zu erreichen. So wie sie mir mit Absicht die Chance genommen hat zu gewinnen, selbst wenn meine Chance von vornherein relativ gering gewesen ist. Simara hat mir diesen kleinen Funken Hoffnung auf diese klitzekleine Chance das Spiel zu gewinnen genommen! Ich komme mir vor wie eine Puppe. Trotzig schiebe ich meine Unterlippe vor.
Und ich muss aufpassen, dass mir jetzt nicht noch mehr Tränen kommen. Irgendwie öffnet sich bei mir immer dieses Ventil, um meine Frustration und meinem Ärger Luft zu machen. Ich kann daran nichts ändern, ich bin furchtbar emotional. Und jedes Mal, wenn so etwas passiert, fühlt es sich so an, als würde ich Simara dadurch noch Genugtuung verschaffen. „Tränen stehen dir“. Pah. Was für eine idiotische Aussage!

„Du hast mich gewinnen lassen!“, zische ich ihr mit zusammengebissenen Zähnen zornig entgegen.
Ich will mich doch nicht fremdbestimmen lassen!

„Es sei denn mein eines Auge hat unkontrollierbare Zuckungen?“, Simara tut gespielt nachdenklich, aber für solche Faxen habe ich gerade überhaupt keinen Nerv.
Das ich nicht lache! Unkontrollierbar? Als ob auch nur eine Sache an Simara nicht kontrolliert wäre.

„Wenn dein Auge solch unkontrollierbare Zuckungen hat, dann bist du ja völlig benachteiligt. Sollten wir dann nicht ein faireres Spiel spielen, bei dem du auch eine gleichberechtigte Chance hast?“

„Ach, ich bin durchaus fähig anderen Menschen mal etwas zu gönnen.“, sie lacht überheblich.

„So wie mir den Sieg?“

„Ganz genau.“

„Und einen Preis, weil ich gewonnen habe?“

„Ich glaube der Preis war, dass ich dir recht gebe, was das schuldig sein betrifft, oder täusche ich mich da?“

„Nein, durchaus nicht, aber verdiene ich nicht etwas mehr?“

„Mehr? Was forderst du denn für einen Preis?“

Mist, darüber habe ich mir gar keine Gedanken gemacht. Denk nach Lucia! Okay.... einen Preis... was für einen Preis?

„Äh.... als Preis darf ich dir eine... nein, zwei Fragen stellen, die du ehrlich beantworten musst!“
Gut, Lucia. Das war ein guter Preis. Ich bin zufrieden mit meinem Einfall.

Simara grinst belustigt.
„Schade. Was du alles hättest haben können...“, sie beißt sich verführerisch auf die Unterlippe und zwinkert mir, genau wie vorhin, mit einem Auge zu.

„Pfff. Das heißt du stimmst zu?“

Simara nickt selbstsicher.

„Okay, hmm... wieso magst du keine Blaubeeren?“
Verdammt. Was ist das denn für eine bescheuerte Frage?

„Also eigentlich liebe ich Blaubeeren.“, schelmisch grinst sie mich an. Ihre Augen sprühen geradezu vor Schalk.
„Was ist die zweite Frage?“, will Simara sogleich wissen.
Dabei bin ich gerade noch dabei diese Antwort zu verarbeiten. Mein Muffin? Die ganze Diskussion? Das Spiel? War das etwa alles geplant? Von vorne bis hinten?


Aber das kann ich nicht als zweite Frage stellen, das würde von Unsicherheit zeugen und das kann ich ihr nicht so offensichtlich zeigen. Gut, dann eben eine andere Frage.

„Gibt es eigentlich einen Kurs, den man belegen kann, um so zu werden wie du?“

„Ist das jetzt deine neue Art Komplimente zu machen?“, Simara grinst mich schelmisch an.

„Nein, weil das keine Antwort ist, also nein.“

„Aber das war doch wohl keine ernst gemeinte Frage, oder? Aber um sie zu beantworten, ich glaube nicht, dass ein Kurs existiert, der das so perfekt hinbekommen könnte.“
Innerlich verdrehe ich die Augen. Was stelle ich auch noch so eine blöde Frage?
Vielleicht sollte ich mir mehr Bedenkzeit verschaffen.

„Kann ich mir die anderen zwei Fragen für später aufheben?“

„Zwei? Kommt da wieder deine Matheschwäche zum Vorschein? So weit ich weiß hast du nur noch eine übrig. Und ja, die kannst du dir gerne aufheben. Vielleicht wirst du bis dahin kreativer.“

Diese Spitze von ihr musste natürlich sein. Aber sie hat ja Recht. Ich will meine letzte Frage auch nicht sinnlos vergeuden.

„Einen Versuch war es ja wert.“, ich schiebe meine Unterlippe trotzig vor.

„Lucia, merk dir das, bei mir nicht. Bei mir nicht.“


Die restliche Fahrt vergeht mehr oder weniger stumm. Simara holt ihr Handy heraus und chattet wieder mit einer Person, dessen WhatsApp-Profilbild einen großen, schwarzen Bären in einem Gebirge zeigt. Nicht so spannend wie ich mir erhofft hatte, wenn ich schon einen schnellen Blick auf ihren Handybildschirm erhaschen konnte.
Mir ist ein bisschen langweilig, aber ich will meine Lehrerin auch nicht mehr unterbrechen, sie ist sowieso ziemlich vertieft in das Gespräch mit dem seltsamen Bären.
Ich blicke durch den Bus, die meisten Schüler hören Musik oder sind mit ihrem Smartphone beschäftigt, ebenso wie Herr Berger. Ein paar unterhalten sich auch angeregt. Müde lehne ich mich zurück, schließe die Augen und denke über die Ereignisse der letzten Tage nach.
Durch einen Traumschleier bemerke ich wie Simara meine Hand nimmt und mir irgendwelche Worte zuflüstert, bin aber zu tief in meiner Welt gefangen, in der sich alles um Schokomuffins und Aspirintabletten dreht.

-


Als er als letztes den Bus verließ, hob er den kleinen gelben Zettel auf, der zusammengefaltet auf dem Boden lag. Ein bitterböses Grinsen erschien auf seinem Gesicht, während er die handgeschriebenen Zeilen las. Sie würde ihre gerechte Strafe schon noch bekommen........

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.10.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die meine erste Geschichte verfolgen und Spaß am Lesen haben!

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