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Er kam über die Felsen gestolpert. Sein Lächeln strahlte und seine gebleichten Zähne blitzten mir entgegen. Zwischen uns lagen noch drei Meter unebene, glitschige Felsen und er sah schon unbeholfen aus, wie er nun versuchte auf allen vieren so schnell wie möglich zu mir zu gelangen.
„Ich brauch keine Hilfe!“, schrie ich ihm und den starken Wind entgegen.
Ich befand mich auf einem kleinen Plateau zwischen den Klippen und hatte grade meinen größten Fisch, den ich je geangelt hatte, rausgezogen. Die Umgebung war sehr Felsenreich und überall schauten Angelruten hier und da aus den Felsen hervor.
Ab und zu hörte man ein „Plop“, wenn ein Angler seinen Köder rauswarf. Nur ihn, der grade versuchte zu mir zu gelangen, sah ich von Anfang an in voller Montur. Stundenlang hatten wir unser Glück im Angeln versucht und im Augenwinkel ab und zu den Gegner registriert. Sobald er sah, dass ich mit meinem ersten Fang dieses Tages schwer zu kämpfen hatte, legte er seine Rute wie ein zerbrechliches Kind beiseite und eilte mir zu Hilfe.
Das registrierte ich alles nebenbei, dank der unebenen Landschaft konnte er mich nicht so schnell erreichen. Doch auch als ich meinen Fang gesichert hatte, drehte er nicht ab. Das missfiel mir sehr.
„Man das ist ja ein fettes Teil. Glückwunsch!“, sagte er, als er vor mir stand. Ich sagte zuerst nichts. „Für eine Frau nicht schlecht.“ Er grinste immer mehr. „Danke. Ich mach das hier nicht zum ersten Mal.“ „Schade, dass sie kein Foto davon machen können.“ „Mach ich zu Hause.“ Ich wollte den Typen schnell loswerden, doch er schien nicht locker zu lassen. „Ich helfe ihnen. Wohnen sie hier–?“ „Danke. Ich komme schon zurecht.“
In mir kribbelte ein ungutes Gefühl. Zwar konnte ich alleine einen Fisch aus dem Wasser holen, doch gegen so einen großen Mann würde ich mich sicherlich nicht wehren können. Mir war er zu aufdringlich und plötzlich kamen mir blöde Gedanken in meinen Kopf. Was wäre wenn er mich jetzt einfach packen würde und mich die Klippen runterstürzen würde? Oder mich nach Hause verfolgen würde? Bedrückend stand ich vor ihm und legte schützend eine Hand auf meinen Hals. Überall klebten mir Fischschuppen an der Haut und Kleidung, ja sogar etwas Fischblut. Ich sah sicherlich fürchterlich dreckig aus. Man angelt ja auch nicht grade mit seinen Ausgehsachen.
„Nein, er kann von mir nichts wollen, er ist nur neidisch auf den Fang“, dachte ich. Ich stand einfach noch da und sagte nur: „Ok. Ich hab heute noch ein wichtigen Termin und so, also ich muss dann mal –.“ „Schönen Abend noch“, er blinzelte mir zu und ging dann endlich wieder zu seinem Angelplatz zurück. Kann man hier nicht mal seine Ruhe finden. Alleine und erleichtert machte ich mich auf dem Heimweg.
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Mein Mann und ich lagen oft im Bett und kuschelten. Unsere gegenseitige Zuneigung war sehr stark. Natürlich gab es auch Zeiten wo wir streiteten. Aber das Leben ist eben kein Ponyhof. Traurige Nächte mit viel weinen und Sorgen hatte ich auch hinter mir. Doch wir liebten uns und es war erstaunlich wie wir fast immer, egal in welchen Lebenslagen, die gleiche Meinung hatten. Wir sind ganz einfach Seelenverwand. Wir lagen oft in Löffelchenstellung im Bett und ich spürte gerne seinen Herzschlag an meinem Rücken. Eine wohlig aufsteigende Wärme aus seinem Körper umhüllte mich immer und legte sich wie ein Schutzfilm um mich. Bei ihm fühlte ich mich verstanden, geborgen und akzeptiert. Er war nicht nur mein Mann, mein Freund, mein Schatz, mein Hengst, mein Trostgeber, mein Kuscheltier, sondern auch meine beste Freundin. Ich hatte nur ihn im meinem Leben.
Ich war erst 17 als wir uns kennengelernt hatten. Der Anfang mit uns war schwierig gewesen, nicht nur weil er acht Jahre älter als ich war, sondern auch weil seine damalige große Liebe ihm fremdgegangen war. Er war in der Krise und ich war unerfahren mit dem Umgang eines Mannes und dazu misstrauisch gegenüber Menschen. Drei Jahre lang waren wir nur Bekannte gewesen. Man sah mal sich ab und zu bei einem Geburtstag, bei einer Party, im Stadtbad oder an der Bushaltestelle, wenn er zur Uni fuhr und ich in die Schule. Und dann war es auf einer Hüttenparty geschehen. Es war schon nach Mitternacht gewesen, die meisten Partygäste waren schon weg, mir war kalt und ich wollte eine Decke haben. Grade er saß auf einer Decke drauf, wie ein nasser Trauerkloß und blickte ins leere. Ich hatte mich zu ihm gesetzt und geflüstert ob ich den die Decke haben dürfte. Ich spürte seine angenehme Wärme und sein Duft lockte aus mir ein Kribbeln im Bauch hervor. „Manuel, hei, was ist denn los?“, hatte ich ihn gefragt. Er sah mich an, nahm meine Hand und fragte mich ob er mich den küssen dürfte. Im meinem ganzen Körper hatte es angefangen zu kribbeln und nun wurde es mir auch sehr warm. Ich bejahte seine Frage. Seit dem Abend waren wir zusammen, liebten und kuschelten wir uns so oft es ging.
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Ich saß alleine an meiner Angelstelle und legte die Jacke fester um mich. Es war heute sehr kalt und ich stellte mir vor, dass mein Schatz hinter mir stand und mir etwas von seiner Wärme gab.
Immer wenn wir hier zu zweit waren hatte er nicht nur die Aufmerksamkeit auf das angeln gelegt, sondern auch darauf, dass ich das angeln selber lernte und ab und zu stellte er sich hinter mich, gab mir einen Kuss auf den Hals, umarmte mich von hinten und gab mir seine kostbare Wärme.
Die Angelausflüge waren eins der schönsten Dinge, die wir gemeinsam gemacht hatten.
Doch auch heute wurde meine Ruhe gestört. Der Typ von letztens kam die Klippen runter. Er winkte mir zu und stellte sich auf seinen Platz. Er musste ja sich grade den gleichen Platz aussuchen wie letztens. So konnte er mich die ganze Zeit beobachten. Ich blickte zu ihm und dann rief er gegen den Wind: „Ich – fischen – muss auch so –.“ Ich verstand nichts, der Wind fetzte die Worte auseinander. Ich machte ihm Handzeichen, dass ich nichts hörte, winkte ab und beachtete ihn nicht mehr.
Es ist grade Sommerzeit und somit verbrachte ich meine ganzen Ferien an unserem Angelplatz. Jeden Tag ging ich nun zum Angeln und der Typ schien auch jedes Mal da zu sein. Ich achtete nicht weiter auf ihn, schließlich darf er ja angeln wo er wollte.
Doch am Samstagmorgen erwischte er mich grade als ich auf den Parkplatz rauf fuhr, wo ich immer das Auto abstellte, um von da aus hinunter die Felsen zum Angelplatz runter zu wandern.
„Hallo, Sie sind ja schon früh da. Gehen Sie immer hierher? Nennen Sie mich einfach Marco. Und Sie sind–?, plauderte er einfach drauf los. „Morgen. Ich bin nur ab und zu da.“, log ich ihm vor.
Ich wendete mich von ihm ab und sagte: „Naja, viel Glück beim Angeln.“ Plötzlich stand er ganz nah vor mir. Schnell breitete sich in mir Angst aus. „Und wie hat das große Monstrum geschmeckt?“, lächelt stand er da. „ÄÄhm, was?“, ich war verwirrt. Ich überlegte krampfhaft, wie ich ihm aus dem Weg gehen konnte. „Ähm, hab ich eingefroren.“, stotterte ich ihm vor. „Super, dann kann ich ja von dem Teilchen auch noch kosten! Wann soll ich vorbeikommen?“ Ich wurde kreidebleich und mir wurde es flau im Magen.
„Danke, ich schaffe das Teil auch schon alleine.“, sagte ich dummerweise. „Ach Sie leben allein?“ „NEIN!“, jetzt schrie ich ihm entgegen. Endlich merkte er, dass ich mich anscheinend nicht wohl fühlte. „Nun dann, aber wir könnten doch mal zusammen essen gehen oder nicht? Einfach mal so. Merkt ja keiner – ich meine ja nur ein einziges Essen?“
„Ich will jetzt alleine sein. Bitte.“ Er ließ von mir ab und ging die Felsen hinunter. Sicherlich leicht angespannt. Mir war es nicht wohl und ich setzte mich ins Auto. „Schatz wo bist du nur?“, sagte ich zu mir selbst. Weinend fuhr ich wieder zurück nach Hause.
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Tage vergingen und Marco belästigte mich nicht mehr. Ich dachte erst, dass ich meine Ferien beenden sollte oder mir einen anderen Ort suchen musste, um meinem Schatz am nächsten zu sein. Ich fühlte mich alleine, hilflos und ohne Schutz.
Traurig wandelte ich von Tag zu Tag und war sehr melancholisch. „Ach ich brauch doch etwas Wärme und jemanden zu reden.“ Selbstgespräche waren ein Teil meines Lebens geworden und die Trauer. Ich sehnte mich nach meinem Mann, nach seiner Geborgenheit, nach seinem Verständnis und nach Liebe.
Ich wollte wieder begehrt werden und ich wollte das Leben in mich aufsaugen. Ich war im Zwiespalt.
Böse Gedanken und Triebe wollten aus meinem Körper herausbrechen. Zwar wartete ich schon so lange auf Manuel, dass wir endlich wieder vereint waren, doch wie lange sollte ich noch auf ihn warten? Oder sollte ich überhaupt warten? Ich war schon so lange einsam.
Gedanken rissen mich hin und her. Grade wo mein Herz am tiefsten in Sorge war und wo ich dachte ich kann schon vor lauter Einsamkeit nicht mehr, fragte mich Marco noch einmal ob wir vielleicht mal was zusammen essen könnten. Ich stimmte zu. Mein Körper war vor lauter Weinen ausgezehrt und ich hoffte auch so Marco loszuwerden. „Ein Essen und dann ist er weg.“, dachte ich naiv.
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„Julia, du bist die tollste Frau auf der Welt!“, rief Manuel aus. „Achso? Und was ist mit der einen, die du vor mir hattest?“, neckte ich ihm. Wir verstanden uns so gut, dass wir uns über alles unterhalten konnten. Wir sagten uns alles und das schätzte ich sehr an ihm. Unser gegenseitiges Vertrauen, seine Ehrlichkeit und das wir zwischen uns keine Geheimnisse hatten waren wichtige Beziehungspunkte. Wir konnten uns alles erzählen. Das war es, was ich an ihm liebte. Offenheit und Ehrlichkeit. Wir redeten über Dreck unter den Zehnnägeln, über Politik, Hygiene, wie der andere das oder das machte oder dachte, ja sogar über Badezimmererlebnisse und über seine Ex. „Dich liebe ich viel mehr.“, hatte er gesagt. „Soso. Aber an der Uni sind ja auch hübsche Mädels.“ „Ja, aber wenn dann schweife ich nur in der Fantasie davon, ich will keine andere Frau mehr.“ Er gab mir einen Kuss auf den Hals und umarmte mich. „Ich will immer bei dir bleiben.“ Ich verstand ihn sehr gut. Auch ich hatte mal die ein oder andere Fantasie, aber nur er war das kostbarste was ich je haben durfte.
Doch unsere Liebe standen immer lauter Holpersteinen im Weg. Nur ein Jahr waren wir glücklich zusammen, dann war mein Abitur und sein Studium fertig. Ich ging in den Süden studieren und er fand im Norden eine Arbeit. Natürlich hatten wir es versucht zusammen zu ziehen, doch er fand keinen Job in der Nähe meines Studienplatzes und ich kein geeignetes Studienfach im Norden. Und ich wollte studieren was ich mochte und erst mal mich selbst Karrieremäßig beweisen.
So geschah es, dass er 3500 km weg von mir lebte und wir uns nur in den Ferien sahen. Es war eine schwere Zeit. Sieben Jahre hatte mein Studium gedauert, sieben Jahre Fernbeziehung. Nur Telefonanrufe und ab und zu treffen. Es war ein schweres Studium und oft hatte er Sorgen mit mir. Ich wollte es unbedingt schaffen und so geschah es das wir uns nur zwei Mal im Jahr für zwei bis drei Wochen sahen.
Doch auch dieses standen wir durch, obwohl ich ein halbes Jahr fremdgeküsst hatte.
Es war die Einsamkeit und die täglichen vier kalten Wände die mich auffraßen. Ich war traurig, saß tagelang allein im Zimmerchen und plötzlich war Timo da. Ein lustiger Kerl der locker durchs Leben ging. Mit ihm verbrachte ich ab und zu meine Unizeit und Freizeit im Studium. Und dann konnte ich mich nicht länger seiner Wärme entziehen. Mein Körper war ausgehungert. Ich brauchte Liebe. Schweren Herzens beichtete ich alles Manuel. Ich wollte keine Geheimnisse haben. Wir konnten uns alles sagen. Paar Küsse gegen die seelischen Schmerzen, doch Manuel traf es tief. Schließlich war er auch einsam da im Norden. „Meine Arbeit hält mich vor Einsamkeit fern.“, hatte er immer gesagt. Es war nicht einfach, sein Herz hatte eine Narbe abbekommen, das Vertrauen zu mir brauchte Zeit.
Doch Gott sei Dank verließ er mich nicht. Ich versprach ihn, ihn nie wieder zu enttäuschen. Nach sieben qualvollen Jahren konnten wir endlich zusammen ziehen und unser Leben fing von neuem an.
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Verklemmt saß ich ihm gegenüber. Den ganzen Abend hatte Marco mit mir nur belangloses Zeug erzählt. Wie er zum Beispiel auf Angeltur da und hier war, wie er sich als Fußball- und Footballspieler versucht hatte und wie er nun erfolgreich eine Computerfirma gegründet hatte. Auch von mir kam nur langweiliges Zeug zutage. Wir saßen beim Kerzenschein im Restaurant gegenüber und er wirkte nicht mehr aufdringlich, jedoch kam eine wilde Aura zu mir geschwappt. Ich versuchte abzublocken und neutral zu sein, doch der Alkohol, den wir beide in Form von Cocktails zu uns nahmen, lockerte immer weiter die Zungen und die Verklemmungen. Doch er fragte nichts über meinen Beziehungsstatus und sagte auch nichts wichtiges Privates über sich selbst.
Und auf einmal saß ich mit ihm da und lachte und gackerte. Mein Herz erfreute sich über diesen Spaß. Nachdem er meine Rechnung mitbezahlt hatte gingen wir raus in die Nacht hinein.
Er wollte mich nach Hause begleiten. Wir durchquerten einen Park der romantisch mit blauen und roten Lichtern ausgeschmückt war. Die schwüle Sommerhitze legte sich feucht auf unsere Haut. Mir war ganz warm von dem Lachen und den ganzen Cocktails. Mein Herz fing an schneller zu klopfen und ich spürte heißes Blut in meinen Ohren pulsieren.
Die Umgebung war so voll Knistern und Kribbeln. Jetzt konnte ich nicht mehr fliehen.
Ich hätte es wissen müssen. Zweisam im Restaurant, ein Spaziergang im hitzigen Sommer…und dann auf einmal sein untypisches zärtliches Gesäusel: „Julia–“, seufzte er meinen Namen, den er erst beim Abendessen erfahren hatte.
Ich bekam einen Kloß im Hals. Wir schlendernden zwischen hohen Bäumen, alles wirkte ruhig. Plötzlich packte er mich am Unterarm und schob mich rückwärts langsam gegen einen großen Baum.
Mein Herz klopfte überall und mein Blut pumpte unaufhörlich durch meinen Körper. Jetzt saß ich in der Falle. Hinter mir der Baumstamm und vor mir ein großer, dunkelhaariger Kerl, der für sein Alter noch frisch aussah. Er drückte mit seinen Körper mich gegen den Stamm. Ich fühlte sein heißes rechtes Bein zwischen meinen Schenkeln. Beide Hände hatte er nun um meine Taille geschlungen und versuchte mit seinen Lippen meinen Mund zu öffnen. „Manuel!“, dachte ich noch. „Mein Schatz, jetzt geschieht es schon wieder.“ Meine Gedanken waren bei Manuel, doch der Körper war bei Marco.
Nach einiger Zeit gab ich einfach nach und sog die Wärme und die Lebensenergie in mich auf. Im meinem ganzen Körper kribbelte es und seine Hände auf meinen Rücken waren eine Wohltat. Ich brannte richtig vor Erlösung.
„Es ist so schön, doch das darf einfach nicht sein. Es darf nicht geschehen.“, dachte ich, während meine Zunge flink seine umschloss.
Wir schlenderten langsam in Richtung meiner Wohnung und als wir an meiner Tür ankamen wollte er mit rein. Meine Gedanken waren im schwebenden Zustand, doch Manuels gebrochenes Herz zeigte sich mir vor meinem geistlichen Auge.
Ich merkte wie Marco immer wilder wurde und schon neigte zu explodieren. Dauernd säuselte er meinen Namen und sagte wie schön ich doch sei. „Komm, lass mich rein. Es wird doch niemand was erfahren–.“,hatte er gesagt. Ich blockte sofort ab. „Nein, bitte. Ich möchte das nicht.“ Ich dachte schon er würde sich gewaltsam in die Wohnung befördern, doch als ich mich alleine in meine Wohnung schob und ihm die Tür vor der Nase zuschloss, war ich erleichtert als ich keinen weiteren Mucks mehr hörte. Mein Körper war noch am beben und ganz nass geschwitzt. Ich legte mich mit meinen Sachen ins Bett. Der Körper brennte an jeder Stelle, wo Marco mich berührt hatte. Er sehnte sich nach mehr, doch mein Herz und meine Gedanken bekamen Schuldgefühle. Ich fühlte mich wie eine vierzehnjährige. Bald hatte ich bedrückende Sorgen.
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„Ich finde das so toll mit dir.“ Manuel und ich hatten mal an einem Winterabend zusammen gekuschelt und uns einen heißen Kakao gemacht. „Wir bleiben für immer zusammen.“, sagte ich. Den ganzen Tag hatten wir nur Blödsinn getrieben. An so kalten Tagen liebten wir es uns gemeinsam in die heiße Badewanne zu setzen und dann uns gegenseitig nackt durch die Wohnung zu jagen bis es uns wieder kalt wurde. Dann tranken wir Kakao und erzählten uns Geschichten aus unserer Kindheit. „Wann heiratest du mich endlich?“, hatte ich plötzlich gefragt. Wir besprachen immer alles und dieses Thema hatten wir schon oft auf den Tisch gehabt. Irgendwie musste Manuel bei uns alles erst durchplanen. Ich musste ihn regelrecht zur Spontanität zwingen. „Erst mal das Haus bezahlen, dann muss noch die neue Waschmaschine gekauft werden und dann warten wir noch auf die Rechnung der neuen Winterreifen.“ Geld war meistens ein Streitpunkt. „Dann plane doch einfach die Hochzeit mit ins nächste Jahr mit hinein. Wir sind nun 10 Jahre zusammen! Die Leute tuscheln schon….“, sagte ich. „Die Leute interessieren mich nicht, es kommt immer noch was Unverhofftes dazu, was man nicht eingeplant hatte und dann muss man das erst mal erledigen. Achja, sieben Jahre musst du eigentlich noch abziehen.“
„Jaja, aber ich bin schon 30 und du lässt auch schon nach.“ Er sah mich entsetzt an und sagte aber spaßeshalber, dass ich mir doch einen anderen suchen sollte.
„Ich liebe dich und will mich auch kirchlich an dich binden. Las dir das durch den Kopf gehen.“
Eine Hochzeit wollte ich unbedingt. Ich war katholisch erzogen worden und irgendwie wollte ich Gottes Segen. Unser Glück war so perfekt. Wir liebten uns so sehr dass wir Lust hatten den anderen regelrecht einzuatmen und seinen Körper aufzusaugen.
Ich hatte das Gefühl als ob uns ein unsichtbarer Faden zusammenhält, der nicht reißen kann und unsere Seelen immer weiter ineinander verknotete.
„Manuel?“ „Hmmm?“ „Es heißt ja, bis das der Tod uns scheidet. Aber wenn es wirklich ein Leben danach gibt- willst du mich dann wieder treffen?“
Wir lagen im Bett Angesicht zu Angesicht und umschlangen unsere Körper. Ich sah in seine engelsblauen Augen und zupfte neckisch an seinem Ohrläppchen. „Aber selbstverständlich.“ Zufrieden gab ich ihm einen Kuss auf den Mund und umarmte ihn ganz fest.
„Aber was ist mit den Menschen, die mehrere „große“ Lieben in ihren Leben gehabt haben–?“ „Die haben dann im Himmel Gruppensex!“, er lachte und schaute mich liebevoll an. „Du hast komische Gedanken. Woher soll ich das wissen, ich war da noch nie. Oder doch? Wer weiß das schon.“ „Jedenfalls, wenn ich sterben sollte, dann darfst du wieder eine andere Frau suchen.“ „Neee–das will ich nicht und du suchst dir auch keinen anderen. Ich will schließlich da oben keine Nebenbuhler haben.“ Ich wusste nicht genau ob er das ernst oder eher neckisch meinte.
„Naja, wer weiß, vielleicht kommst du ja gar nicht in den Himmel–“, sagte ich.
„Ich zeigt dir gleich wer da oben nicht hinkommt!“ Er legte sich auf mich und biss mir in den Hals. Unsere Körper verschmolzen immer mehr miteinander.
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Marco klingelte unaufhörlich an der Tür. Es war wieder ein herrlicher Sommerabend und die Sonne erleuchtet im roten Licht die Wohnungsräume. Mehrmalige Absagen via Türsprechanlage akzeptierte Marco nicht mehr. Er wollte unbedingt mit mir noch einmal ausgehen. Hartnäckig belagerte er nunöffters die Haustür, bis ich schließlich nachgab.
„Manuel, wo bist du, mein Ritter in der Not?“, besorgt gesellte ich mich zu Marco. Er klapste mir auf den Po und sagte: „Los geht’s Schneckel. Hey, komm nur noch einen schönen Abend wir zwei. Es war doch letztes Mal so schön!“
Bedrückt ging ich mit ihm, doch diesmal verlief alles ganz ruhig. Meine Gedanken waren den ganzen Abend bei Manuel und sein Gelaber hatte mich wenig interessiert. Er setzte mich ohne weiteres Getue zu Hause ab. Erleichtert dachte ich, dass ich ihm endlich los war. Als jedoch meine Arbeit wieder anfing und ich aus meinem Auto stieg, wartete er oft schon an der Haustür. „Musst du nicht arbeiten?“, fragte ich ihn. „Ich bin Chef, es läuft auch so gut, ohne dass ich dauernd dabei bin. Außerdem kann ich mir tausende Abendessen mit dir leisten!“ Er zwinkerte und hoffte, dass ich spontan herausrufen würde, dass ich mit ihm unbedingt Essen gehen wollte.
„Ich muss morgen früh zur Arbeit, wir haben grade da ein wichtiges Projekt am laufen–.“ Langsam versuchte ich mich an ihm vorbeizuschieben, um in meine Wohnung zu gelangen. Plötzlich trat er ganz nah an mich, packte mich mit seinen Armen um die Taille und drückte mir einen Kuss auf die Lippen. Ich spürte seinen hitzigen Atem und sein männlicher Geruch versuchte sich in meinen Körper zu bahnen. Meine Hormone machten Freudensprünge, doch mein Gehirn versperrte jeden seiner Versuche. Ich drückte seinen warmen Körper weg und log: „Ok, Samstagabend–“ Er stimmte freudig zu und ich verkroch mich in die Wohnung. Am Samstagabend und auch die weiteren Tage fand ich gute Ausreden, um ihn loszuwerden. Doch langsam wurde mir das zu bunt. Via Sprechanlage sagte ich ihm eines Abends, dass ich einen Mann hätte und es sollte ja auch nur ein Essen mit ihm werden.“ Er schrie in die Hörsprechanlage: „Lüg mich nicht an! Da ist kein Mann! Habe genug Arsch in der Hose und sag mir das ins Gesicht! Hier lief mir nie einer über den Weg und du hast auch nicht ein einziges Wörtchen gesagt!“ Ich dachte, dass ich im falschen Film sei. „Es sollte doch nur EIN Essen mit dir sein- und mein Mann ist verreist!“, schrie ich entgegen. Weiter hörte ich nichts mehr von ihm. Plötzlich war alles still.
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Ein halbes Jahr ging still ins Land hinein. Ich war beruhigt die Sache hinter mich gebracht zu haben. Doch mein Körper hatte die kurze Wärme und das gierige Vordern von Marco wie ein vertrockneter Schwamm aufgesogen und verlangte nach mehr. Im meinem Kopf war das Chaos ausgebrochen. Die hitzigen Küsse und Bewegungen von Marco fingen an meinen einsamen Körper zu erregen, doch ein großer Teil meines Gehirns schrie nach Manuel.
„Hier geht kein Mann ein und aus!“, schrie Marco eines kalten Winterabends durch die Straße. Ich erstarrte und sah ihn über die Straße eilen. „Er ist verreist! Bitte lass mich. Hast du mich etwa beobachtet?“, mir wurde trotz der kalten Luft auf einmal ziemlich sehr warm. „Oder ist er bei der CIA?“, er lachte mich an. „Julia, auch wenn er jetzt nicht da ist, ich will dich! Er merkt es doch eh nicht-komm, lade mich auf einen heißen Kaffee doch mal ein.“ Ich blickte ihn entsetzt an und wusste nicht weiter. Seine energischen Küsse nahm mein Körper freudig entgegen.
In mein Haus kam Marco nicht, doch ich traf mich nun regelmäßig mit ihm. Mein Körper verlangte immer mehr die Nähe eines Menschen. Es tat mir gut einige Abende nicht alleine zu sein und nur kalte Wände anzustarren.
Mein Körper fühlte sich langsam gesättigt, doch Marco verlangte mehr: „Warum schläfst du nicht mit mir? Wegen ihm? Also das müsste jetzt doch eh zu spät sein.“
„Ich will nicht, ich kann nicht. Ich liebe ihn.“ „Und ich liebe dich. Liebst du mich?“ „Wie soll ich das erklären. Ich weiß nicht–.“
„Was ist mit dir los? Sag einfach was in dir vorgeht und lass mich hier nicht so zappeln. Komm dann lad ich dich ein zu mir zu kommen. Das Bett ist zwar klein aber–.“
„Ich kann nicht.“ Wir saßen in einer Cocktailbar und trotz der späten Stunde waren viele Leute in der Bar. Wir saßen weiter hinten in einer Kuschelecke und jeder Gast schien sich um seinen Begleiter zu kümmern. Ich blickte mich um und sah lauter jugendliche Liebespaare, die wild ineinander verschlungen waren. Mit meinen 44 Jahren fühlte ich mich auf einmal fehl am Platz. Marco legte eine Hand auf meine Schenkel. Er begann meinen Hals mit seinen heißen Lippen zu saugen. „Deine Verweigerungen machen mich noch mehr an.“, hauchte er mir ins Ohr. „Ich kann nicht.“
„Hast du AIDS oder irgendwelche anderen Krankheiten oder was?“
Und dann erzählte ich ihm die Wahrheit.
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Manuel. Mein Seelenpartner. Mein Freund, mein Schatz und mein Halt. Wir sind eins und unzertrennbar. Ich erzählte ihm alles. Wie wir uns kennengelernt haben, wie wir uns unendlich liebten, wie wir älter wurden und wie er drei Monate vor unsere Hochzeit starb. Damals war ich so glücklich, dass Manuel und ich endlich uns verlobt hatten. Mittlerweile war ich ja auch schon über dreißig. Wir freuten uns sehr auf unsere Zukunft, doch ein Autounfall endete alles. Er war nicht auf der Stelle tot. Zwei Wochen hatte er versucht durchzukommen. Jeden Tag saß ich bei ihm am Krankenbett. Er kämpfte, ich weinte, betete und ich schwor ihm für immer bei ihm zu sein, auch wenn er durch seinen Unfall gelähmt sein würde. „Bleib immer bei mir. Ich liebe Dich. Verlass mich nicht.“, waren seine letzten Worte. „Wir sehen uns im nächsten Leben.“
Und jetzt waren schon über zehn Jahre vorbei. „Ich freu mich schon wenn ich bei ihm bin. Doch Gott hat wohl entschieden, dass ich hier noch auf der Erde alleine rumwandeln soll.“, sagte ich zu Marco.
„Hey, das ist schon so lange her. Du musst auch auf dein Wohlergehen achten. Er hätte bestimmt nicht gewollt, dass du hier wie ein Trauerkloß rumläufst.“, meinte Marco. „Mein Körper sagt ja, aber mein Herz kann einfach nicht. Du verstehst das nicht.“ „Du kannst doch nicht jetzt dein ganzes Leben einfach so wegschmeißen! Es ist nicht verboten etwas Zuneigung zu erfahren. Jeder Mensch muss mal bisschen abschalten können.“
„Etwas Zuneigung habe ich dank dir erfahren, aber ich kann nicht mit dir schlafen. Es ist so ein endgültiger Schnitt. Als ob ich Manuel für immer entgleite–.“ „Ach hör doch auf. Also ehrlich ich glaub es gibt nur dieses Leben hier. Vielleicht musst du nur mal ordentlich wieder durchgenommen werden!“
„Also bitte! So hätte Manuel mit mir nie geredet. Du bist widerlich–.“ „Ich weiß und ich will Dich!“, sagte er bestimmt und legte seine Hand zwischen meine Beine. „Wir sind nicht mehr 20 aber ich fühl mich noch richtig frisch im Saft!“, flüsterte er mir wieder ins Ohr. „Ja, aber so verhalten wir uns. Und wenn du über mich drüber warst, dann bin ich nur noch eine Nummer die du endlich geschafft hast zu erobern. Wird erwachsen.“ Er zeigte sein wahres Gesicht. „Ist doch egal, wir beide haben doch unseren Spaß.“
„Meine Gefühle sind dir egal, wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, dann will ich, dass Manuel nicht betrübt über mich ist-.“
„Ach komm, wenn wir tot sind, dann sind wir tot. Dann gibt es kein Wiedersehen und keine Gefühle mehr-.“ „Ich werde nicht mit dir schlafen. Und wenn du mich lieben würdest, dann würdest du dass auch akzeptieren.“ Er schaute mich mürrisch an. „Wir sind gar nicht auf einer Wellenlänge. Manuel hat mich immer verstanden. Wenn er irgendwo noch rumschwirrt, dann will ich ihn nicht enttäuschen. Ich liebe ihn und mein Herz schmerzt immer noch. Mein Körper möge vertrocknet sein, doch die Schuldgefühle sind zu groß. Es wäre einfacher, wenn du nicht so wild wärest. Ich denke ich brauche eine Therapie.“ Marco entwich mir mehr von der Seite und schien mich fassungslos anzusehen. „Ich brauche eher einen Menschen zum kuscheln und reden. Mehr nicht. Du bist nicht der richtige.“ „Du hörst dich alt an. Ich dachte du wärst bissel spritziger. Nun denn, dann werde halt eine vertrocknete alte Pflaume.“, genervt kramte er ein hundert Euro aus seinem Portmonee, stand auf, war den Schein auf den Tisch und verschwand. Ich saß da, fühlte mich leicht erniedrigend. „So ein Arsch!“, dachte ich und bestellte mir noch ein paar Cocktails. Endlich war ich ihn los.
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Marco sah ich nicht mehr wieder. Mein Herz war stolz auf mich. Irgendwie fühlte ich Manuel um mich herum. Er wird für mich immer die größte Liebe sein. Auch wenn ich 70 Jahre alt werden sollte, es darf sich kein Mann in mein Herz reinschleichen.
"Und wenn es doch einfach so passieren würde?", daran durfte ich nicht denken. "Warum versteht mich keiner. Es ist nicht verboten sein Herz zu öffnen, nach so vielen Jahren der Einsamkeit, doch– für mich ist es tabu."
Ich sprach wieder mit mir selbst, saß auf meinem Lieblingsplatz am Meer.
Manuel ist bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 09.09.2012
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