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Serena blickte traurig auf das Ergebnis ihres heutigen Tages: 53 Kilo. FETTKUH!, brüllte eine Stimme in ihr, die sie immer weiter nach unten ziehen wollte. Ein klitzekleines Stück Hoffnung war ihr trotzdem noch geblieben – war sie vielleicht gewachsen? Nein, immernoch 1.65 Meter. Vor zwei Monaten war sie doch noch ein ganz normales vierzehnjähriges Mädchen gewesen, und jetzt?! 10 Kilo hatte sie schon runter aber das Einzige, was zählte war, dass sie nicht mehr 51 wog. Ganze 2 Kilo an nur einem Tag!
Immer weiter schien sich ihr Wunschgewicht von 49 Kilo zu entfernen. Und wieso? Weil sie versagt hatte. Versagt. Versagt. Versagt!!!

Sie hatte alles in sich reingefressen, wie immer, wenn der Hunger sie mal wieder besiegte. Der Hunger – Serenas größter Feind. Sie versuchte ihn wegzudenken, wegzuhungern, wegzutrinken, wegzubeißen, wegzutreten, wegzuschlafen, wegzuschlagen. Doch er war stärker. Schlich sich immer wieder in sie hinein, löste ein Verlangen in ihr aus, gegen das Serena keine Chance hatte. Oder doch? War sie nur zu schwach? Aß sie zu viel? Morgens. Mittags. Nachmittags. Dreimal am Tag. War das schlecht? Zu viel? Ein Zeichen von Schwäche? Serena stieg von der Waage und setzte sich erschöpft auf den Toilettenrand. Sie wusste es nicht. Sie wusste nicht, wie viele Kalorien sie zu sich nehmen sollte, um genauso aussehen zu können wie Amanda McHollister aus ihrer Klasse. Sie wusste nicht, wieviel sie essen sollte, wann sie trinken musste, was sie gegen das schreckliche Hungergefühl nachts tun sollte. Sie wusste gar nichts. Ihre wenigen Freunde kannten sich nicht aus, ihre Familie war sowiso gegen ihr Essverhalten und sonst hatte sie niemanden. Doch dann kam ihr eine Idee. Sollte sie wirklich? Ja. „Ich will abnehmen.“ Es war doch nur ein kleiner, unschuldiger Satz. In 0.2 Sekunden fand Google genau zwölfmillionenvierhunderttausend Antworten. Antworten, die danach schreien, gelesen zu werden. Die sich aufplustern, betteln, gefährlich drohen, frech kichern, neugierig machen – und Serena öffnete genau die Antwort, die am lautesten nach ihr schrie.


Sonntagmorgen, Frühsückszeit.
Während ihre Eltern und ihre Schwester mit einandern redeten, aßen, lachten, saß sie einfach nur da. Sie redete nicht. Sie aß nicht. Sie lachte nicht. Sie hörte nicht einmal zu, was ihre Familie erzählte. Sie blickte auf ihren leeren Teller. Sie hatte den ganzen letzten Tag schon nichts gegessen. War es überhaupt jemandem aufgefallen? Serena hatte nicht einmal Hunger. Sie schaute an sich herunter und ekelte sich. Ekelte sich vor ihren Knochen, ekelte sich vor ihrer Haut, ekelte sich vor dem vielen Fett. Ekelte sich vor sich selbst. Sie wusste, dass 45 Kilo zu wenig waren, wusste, dass ihr Körper zu schwach geworden war. Und doch wollte sie die 43. Sie wusste, dass würde ihr Körper nicht mehr mitmachen. Wusste, sie brauchte Hilfe. Sie erinnerte sich zurück an den Tag, an dem sie den Pro Ana-Blog zum ersten mal gesehen hatte. Erinnerte sich an die 53 von damals. Ekelte sich. Ja, sie brauchte Hilfe. „Ich bin krank.“, sagte sie. Nicht laut, aber so, dass jeder es hören konnte. Es wurde still. Ihre Eltern schauten sie verwirrt an. Serena blinzelte, holte Luft und lächelte matt. Sah man ihr nicht an, dass sie krank war? Sah man es nicht in ihren leeren Augen? In ihrer ausdruckslosen Miene? Wieso nicht? Wieso sieht mich denn keiner? „Ich bin krank, Mami.“, flüsterte Serena traurig. Doch es schien immer noch niemand zu verstehen. Sollte sie es wirklich erklären? Dass sie da nicht mehr rauskam? Dass sie immer weiter rutschte? Würden ihre Eltern das verstehen? Die traurige Antwort war Nein. Serenas Eltern würden sie nicht verstehen. Wieso sollten sie auch? Serena verstand sich nicht mal mehr selbst. Wie sollte sie ihren Eltern etwas erklären, was sie nicht einmal selbst verstand? Ihre Eltern starrten sie immernoch an. Trauten sich nicht, runterzuschlucken. Den Mund voll mit Fett, saurem Kaffeegeruch und Speichel. Sie warteten auf eine Antwort ihrer Tochter. Doch die bekamen sie nicht. Heute nicht, und vielleicht nie mehr.


Sie schloss ihre Zimmertür und legte ihren Laptop auf die Knie. Kuschelte sich unter ihre Decke und legte den Kopf an die Bettlehne. „Willkommen auf meinem Blog, ihr Süßen. Ich bin Ana – Pro Ana ;-)“ Serena schluckte. „Anorexia nervosa – Magersucht“, sie wusste, dass die Verfasserin des Blogs krank war. Niemals wollte Serena magersüchtig werden. Sie ekelte sich vor den dünnen, knochigen Körpern mancher Mädchen, die sie in den Schulpausen auf dem Hof sah. Und trotzdem war sie neugierig, was das Mädchen zu erzählen hatte. Sie begann den Text zu lesen, indem diese 'Ana' von ihrem Leben erzählte. Und Serena musste gestehen, sie war fasziniert von diesem Mädchen. Zu sehr.
Das Mädchen wog 55 Kilo, also zwei Kilo mehr als sie. Und sie hatte es geschafft. Serena schaute auf das Bild, unter dem 44 Kilo stand. Wow. Das Mädchen sah toll aus. Die Hüftknochen stießen hervor, das perket geformte Schlüsselbein – ein Traum. Doch niemals schrieb das Mädchen Magersucht, sie sprach von 'ihrer besten Freundin.' Hörte sich besser an. Hörte sich schön an. Unschuldig.
Serena wusste, sie sollte lieber schlafen gehen, doch der Blog zog sie magisch an.
Sie scrollte runter und blieb bei einem Gedicht hängen. In zierlicher, weißer Schnörkelschrift begann sie zu lesen.

[…]
Ich will leicht sein wie ein Engel.
Will fliegen können wie eine Feder.
Wie durch die Luft schweben,
leicht und schön.

Ich will laufen wie eine Ballerina.
Jeder Schritt tonlos, sanft und weich.
sorgfältig, anmutig und bedacht.
leicht und schön.

Ich will bewundert werden für meine Beine
die unter meinem engen Seidenkleid glänzen.
Will tanzen will lachen will Ein sein mit der Luft.
leicht und schön.

Ich will dünn sein um geliebt zu werden.
Will bewundert werden, so wie ich bin.
leicht und schön.

Wow. Serena laß die Zeilen immer und immer wieder. Und auch wenn sie sich dagegen wehrte, im Inneren wusste sie, das Gedicht waren ihre Gedanken. Das Gedicht waren ihre Gefühle. Das Gedicht war sie.


Serena war einfach aufgestanden und auf ihr Zimmer gegangen, hatte leise die Tür hinter sich geschlossen, und darauf gewartet, dass ihre Mutter kam, um ihr zuzuhören, sie in den Arm zu nehmen und sie sanft zu streicheln. Doch das passierte nicht. Ihre Mutter hatte eigene Probleme. Ihr Vater wohnte immernoch bei Ihnen, Eleonor zu liebe, damit sie nicht ohne Vater aufwachsen musste, sie war doch erst vier. Doch niemand schien zu bemerken, dass es nur noch mehr Streit gab. Wie konnten zwei Menschen in einem Haus leben, getrennt von einander, ohne Liebe? Wie konnten sie nur versuchen, Liebe vorzuspielen, wenn doch gar keine da war? Das war krank, ihre Eltern waren krank. Genau wie sie. Vielleicht sogar noch ein bisschen mehr.
Serena zog die Decke über ihren Körper, um ihn nicht betrachten zu müssen. Sie wollte das alles nicht mehr. Wollte nicht mehr hungern, zunehmen, Essen sehen, weinen, schreien, kauen, schlucken, beißen, bluten. Sie hatte keine Kontrolle mehr über ihr Leben, über ihre Eltern, über sich, über das was geschah. Wie hatte sie einmal auf Anas Blog gelesen? „Vielleicht ist es ein großer Unterschied, ob wir atmen oder ob wir leben. Vielleicht sind wir da, in jeder Sekunde lebendig. - und in jeder Sekunde tot.“ Serena fragte sich, ob da vielleicht was dran war. War ihre Welt nicht in jener Sekunde zusammengebrochen, als ihre Eltern sich trennten? Als sie plötzlich das Gefühl beschlich, nicht geliebt zu werden? Nichts besonderes zu sein? Hatte sie seid dem gelacht? Hatte sie seid dem gelebt? Sie wusste es nicht. Sie wusste gar nichts mehr.


Zwei Tage waren seid jenem Abend vergangen, als sie das Gedicht ausgedruckt hatte. Ein schönes Gedicht. Serena hatte beschlossen, ein Experiment zu machen. Sie würde 3 Tage nur noch dann essen, wenn sie das Gefühl hatte, zusammenzubrechen. Vielleicht würde sie dann ihrem Wunschgewicht näher kommen? Serena wusste nicht, wie gefährlich es war, was sie da tat. Sie wusste nicht, dass es nicht ihr Wunschgewicht war, was sie wollte. In Wirklichkeit stand die 49 nur als Ziel. Ersetzte den Wunsch nach Liebe und Geborgenheit. Nach Aufmerksamkeit und dem Verlangen, gebraucht zu werden. Doch das gestand sie sich nicht ein. Für sie war die 49 das Ziel - Ihr Gewicht, womöglich das Einzige, was sie kontrollieren konnte. Zwei Tage waren vergangen und Serena fühlte sich schlapp. Getrunken hatte sie viel, gegessen wenig. Die Waage zeigte 900 Gramm weniger an und das Gefühl von Schwäche war wie zerplatzt. Sie fühlte sich stark, war dankbar für Anas Blog, der ihr dabei helfen konnte, Kontrolle zu gewinnen. Endlich hatte sie eine Aufgabe. Etwas, was sie selbst bestimmen konnte, was sie zu etwas Wichtigem machte.
Vielleicht, dachte Serena, verlängere ich das Experiment um zweidrei Tage...


Serena war glücklich – nach endloslanger Zeit glücklich. Denn sie wog 43. Sie hatte es geschafft und sie fühlte sie unendlich glücklich. Sie hasste die Verfasserin des Blogs dafür, dass sie sie dazu brachte, so viel zu hungern. Aber noch mehr liebte sie sie, für das Gefühl schön zu sein. Serena fühlte sich schön. Doch sie erzählte es keinem. Wem auch? Freunde hatte sie keine mehr, denn sie konnte niemandem vertrauen. Ihren Eltern? Nein. Seid neustem zwangen sie sie, zu essen. Ach jetzt? Auf einmal? Jetzt war ihnen etwas aufgefallen?! Lief das immer so? Musste man erst einmal schwach werden, und ihnen sagen, dass etwas mit einem nicht stimmt? Musste man sich erstmal SO lächerlich machen? War das so? Serena hasste ihre Eltern. Seid jener Nacht, in der sie im Bett lag und auf ihre Mutter wartete, die sie in den Arm nahm und sich Sorgen machen sollte. Die fragen sollte, was los sei, wenigstens da sein sollte. Doch sie kam nicht. Und in Serenas unendlicher Trauer, dem schreckliche Gefühl, alleine zu sein wurde ihr eines klar. Sie war schon lange alleine. Wurde Verlassen, wurde nicht gebraucht. Sie hörte auf zu weinen, denn sie war wütend. Keine Träne würde sie an die Menschen verschwenden, die sie alleine gelassen hatten. Die sich nicht um sie kümmerten. Sie würden schon noch sehen, was sie davon haben! Würde sie halt gar nichts mehr essen. Auch wenn es wahnsinnig schwer war, würde sie sich halt runterhungern. - auf 40! Oder noch besser auf 30! Auf 20! Wer bietet mehr – oder eher gesagt: Wer bietet weniger? Serena lachte. Sie lachte sich die Seele aus dem Leib, schrie vor Lachen, hässlich, krank und laut. „Komm schon Mum!“, schrie sie. „Bietest du weniger?“


Aus den drei Tagen wurden 12, aus den 12 Tagen zwei Wochen und schließlich schaffte es Serena, 3 Wochen lang durchzuhalten. Und dann kippte sie das erste mal um. Niemand hatte es bemerkt. Bestimmt 20 Minuten lag sie bewusstlos in ihrem Zimmer, ohne das sich irgendjemand drum gescherrt hätte. Warum auch? War ja nur Serena. Serena hatte nicht bemerkt, dass ihr kleines Experiment aus den Fugen geriet. Dass sie etwas entwickelt hatte, was sich ein Teufelskreis nennt. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie nur noch 200 Gramm brauchte, um bei 49 anzukommen – Endlich! Doch ihr Körper schien immernoch dick, dicker als zuvor – Fett. Hatte sie was falsch gemacht? Nein, das war normal. Auf Anas Blog stand, das wäre normal. Am Anfang würde es immer ein „Fett-Gefühl“ geben, hatte sie geschrieben, Serena war beruhigt. Sie las jeden Tag ihren Blog, aufmerksam, um ja nichts zu verpassen. Bewunderte die Bilder, Ana schien immer dünner zu werden. Sie nannte das Mädchen Ana, obwohl sie vielleicht gar nicht so hieß. Es war ein schöner Name, irgendwie. Er passte. War ein Name aus drei Buchstaben. Er wog nicht viel. War leicht. Unschuldig. Merkte Serena nicht, dass die Alarmglocken in ihrem Kopf langsam verhungerten? Dass keine Stimme in ihren Gedanken mehr flüsterte „Der Blog macht dich krank.“ ?! Was war bloß los mit ihr? Eine Frage, die sich Serena nicht mehr stellte. Für sie gab es nur noch ein Thema. Die 49!


Serena tat gar nichts mehr. Wehrte sich nicht mehr, spuckte nicht mehr, schrie nicht mehr, fluchte nicht mehr, weinte nicht mehr. Sie lag einfach da und schaute zur weißen Decke. Sie fragte sich nicht mehr, warum ihre Eltern sie in ein Krankenhaus eingewiesen hatten. Weil sie sie nicht mehr bei sich haben wollten? Weil sie einer kranken Psychopatin nicht helfen konnten beziehungsweise nicht helfen wollten? Sie hatte die Tränen gesehen, die ihren Eltern die Wange runterliefen, als sie an ihrem Bett saßen und auf sie einredeten. Aber sie hatte nichts gesagt. Sie sagte gar nichts mehr. Denn sie hatte die Kontrolle über das verloren, was das Einzige war, was sie noch kontrollieren konnte: Ihr Gewicht. Wog sie 36? oder 34? oder 30? Sie wusste es nicht. Und sie fragte auch nicht danach. Sie fühlte keinen Schmerz mehr, keine Wut, keine Trauer. Sie hatte keine Emotionen mehr. Sie war hohl. Sie war eine Hülle. Sie war leer. Konnte nicht mehr unterscheiden zwsichen Traum und Wirklichkeit, die Magersucht machte sie kaputt. Sie hatte das bekommen was sie wollte: Aufmerksamkeit. Sie hatte das bekommen was sie wollte: Einen Körper, der zu nichts mehr fähig ist, dessen Organe nicht mehr funktionieren, eine Haut, die rissig und kaputt ist, Haare, die nach und nach absterben und ausfallen, kaputte Zähne, kaputte Seele. Es war nichts mehr da, was sie noch abnehmen könnte, es war nichts mehr da, was Serena noch zerstöhren könnte. „Bist du stolz auf mich, Ana?“, flüsterte sie.

Sie hatte die 49 erreicht. Doch sie machte weiter. Klar tat sie das, denn sie war ja noch viel zu fett! Es galt: neues Ziel setzen, weniger essen, mehr hungern. Für andere Gedanken war kein Platz mehr. Verdrängte sie allen Schmerz in dieser Sucht? Die Trennung ihrer Eltern? Den Schmerz, nicht geliebt zu werden? Jeden Tag Zeugin einer „Familie“ zu sein, in der sie keinen Platz hatte? In der es nur Mami, Daddy & Eleonor gab? Den Schmerz, wenn Mum & Dad sich anschrien? Wenn sie etwas vorgaben zu sein, was sie nicht waren? Jeden Tag die Erkenntnis, ein Fehler zu sein? Kein Wunschkind zu sein? Serena konnte es sich nicht leisten, über so etwas nachzudenken. Ursachen für das, was sie tat gab es nicht. Es gab nur das Hier & Jetzt. Es war nur wichtig, abzunehmen. Kontrolle zu gewinnen. Abzuschalten. Ziele setzen. Stark sein. Wiegen. Weniger wiegen. Hungern. Zittern. Umfallen. Schlafen. Kalorien zählen. Serena merkte nicht, wie sich ihr Alltag so schnell verändert hatte. Serena merkte gar nichts.


Serena lag im künstlichen Koma. Sie musste zwangsernährt werden. Ihre Eltern sahen dabei zu, wie ein Schlauch in ihrer Tochter steckte, der sie mit dem versorgte, was sie am Leben hielt. Sie war am Leben. Und das bedeutete Hoffnung. Doch die Ärzte hatten keine Hoffnung mehr. Was sollte man tun, sie lebenslang zwangernähren? Man konnte sie nicht zwingen zu essen, und sie aß nicht. Man konnte sie nicht zwingen zu reden, und sie redete nicht. Niemand wusste was in Serena vorging, was sie dachte, was sie wollte, wie sie fühlte. Wollte sie überhaupt noch leben? Eine Frage, die niemand fragte, aber jeder dachte.


Warum merkte es denn niemand?! Warum merkte niemand, dass Serena sich verändert hatte? Niemand sagte etwas zu den Mahlzeiten, die sie auslies, niemand merkte, dass sie fast nichts mehr aß. Was musste sie denn noch machen? Musste sie erst sterben, damit man sie wahrnahm? Komischer Gedanke. Was war bloß los mit ihren Eltern, mit der Welt, mit ihr selbst. Um was ging es Serena denn jetzt? Ums abnehmen? Um den Schmerz? Um endlich Aufmerksamkeit zu bekommen? Um so zu sein wie Ana? Serena verstand die Welt nicht mehr. Sie verstand so vieles nicht mehr. Und das machte ihr Angst. Sie beschloss einfach aufzuhören, verstehen zu wollen.


Es war kein schöner Tag und auch kein grauer Tag. Ein Tag wie immer, an dem sich Wolken vor die Sonne schieben, vorbeiziehen, verschwinden, wieder kommen. Es war der Tag an dem Serena starb. An dem sie zum Engel wurde, an dem sie schwebte, wie eine Feder. Leicht und schön. Frei von Schmerz, Trauer, Wut und Hass. Der Tag, an dem ihre Eltern endlich aufwachten. Begriffen, dass ihre Tochter Probleme hatte, dass sie krank war, dass sie Hilfe brauchte. Begriffen, dass es dafür jetzt zu spät war. Sie wachten auf aus einer Starre, ihre heile Welt zerbrach. Sie sahen endlich das, was wirklich war, und nicht das, was sie sehen wollten. Sie sahen ein Mädchen, ihre Tochter, dass völlig zerstöhrt war. Aber sie verstanden sie nicht. Sie verstanden ihre eigene Tochter nicht. Das, was das mindeste war, was sie hätten tun können, nach alldem, wo sie versagt hatten, taten sie nicht. Sie versuchten nicht einmal, sie zu verstehen. Sie brachten nicht den Respekt auf, den Grund für dieses Drama zu suchen. Sie hatten ihre eigene Tochter verloren, und versuchten nicht mal zu verstehen wieso.


Serena hatte den ganzen gestrigen Tag nichts gegessen und auch heute hatte sie vor, aufs Essen zu verzichten. Es war Sonntagmorgen. Frühstückszeit. Während ihre Eltern und ihre Schwester mit einandern redeten, aßen, lachten, saß sie einfach nur da. Sie redete nicht. Sie aß nicht. Sie lachte nicht. Sie hörte nicht einmal zu, was ihre Familie erzählte. Sie blickte auf ihren leeren Teller. Sie hatte den ganzen letzten Tag schon nichts gegessen. War es überhaupt jemandem aufgefallen? Serena hatte nicht einmal Hunger. Sie schaute an sich herunter und ekelte sich. Ekelte sich vor ihren Knochen, ekelte sich vor ihrer Haut, ekelte sich vor dem vielen Fett. Ekelte sich vor sich selbst. Sie wusste, dass 45 Kilo zu wenig waren, wusste, dass ihr Körper zu schwach geworden war. Und doch wollte sie die 43. Sie wusste, dass würde ihr Körper nicht mehr mitmachen. Wusste, sie brauchte Hilfe. Sie erinnerte sich zurück an den Tag, an dem sie den Pro Ana-Blog zum ersten mal gesehen hatte. Erinnerte sich an die 53 von damals. Ekelte sich. Ja, sie brauchte Hilfe. „Ich bin krank.“, sagte sie. Doch niemand hörte sie. Sie bekam keine Hilfe. Heute nicht, und vielleicht nie mehr.

Epilog (7 Jahre später)



Amanda McHollister laß sich ein letztes Mal die Gästebucheinträge ihres Blogs „Pro-Ana“ durch. Sie erinnerte sich noch genau, als sie damals den ersten Satz schrieb: „Willkommen auf meinem Blog, ihr Süßen. Ich bin Ana – Pro Ana ;-)“. Ja, sie war eine Pro-Ana gewesen. Gefangen in der Magersucht. Und sie war eine der wenigen gewesen, die es geschafft hatte, dort rauszukommen. Sie konnte gar nicht ausdrücken, wie dankbar sie war und ist, eine Familie und so viele Freunde zu haben, die sich um sie gekümmert haben und ihr da rausgeholfen haben. Sie hatte wieder Normalgewicht und Spaß am Leben. Sie verglich ihre Krankheit immer mit trockenen Alkoholikern. Sie trinken keinen Alkohol mehr, können aber jederzeit rückfällig werden. Doch Amanda wurde nicht mehr rückfällig. Sie ernährte sich gesund und führte ein wundervolles Leben, für das sie unglaublich dankbar ist.

Sie war beim letzten Gästebucheintrag angekommen, der etwas länger war als die anderen, und ihr unbekannt vorkam. Sie hatte ihn noch nie gelesen. Sie suchte verblüfft nach dem Datum. 24.5.2009. Ihr Herz stockte. Sie scrollte den Beitrag nach unten um den Namen des Verfassers zu lesen. 'Pro-Serena'. Amanda erschrak. War das wirklich...? Ja, ohne Zweifel. Der Beitrag war von Serena Parker, verfasst am Tag ihres Todes. Amanda scrollte hektisch wieder hoch, atmete durch und begann den Beitrag von einem Mädchen zu lesen, dass sie damals so hasste, weil sie es schaffte, weniger zu wiegen als sie. Vielleicht war es ihr Tod, der sie damals endlich aus ihrem Magerwahn rausbrachte. „Hallo, beste Freundin“, schrieb Serena, und Amanda rollten tausende von Tränen aus den Augen.

Hallo, beste Freundin

Ich spühre, dass ich es nicht mehr lange durchhalte. Und bis gestern wollte ich es auch nicht mehr durchhalten. Doch vielleicht habe ich endlich verstanden, dass es sich lohnt zu kämpfen. Vielleicht brauche ich wirklich Hilfe, auch wenn ich sie von meiner Familie nicht bekomme. Vielleicht musste ich erstmal so tief sinken, um zu verstehen wieso und um zu verstehen, dass das Leben kostbar ist.
Ich habe keine Kraft mehr, zu sprechen, aber falls meine Eltern das hier je lesen werden, (hallo Mami, hallo Daddy) ich habe etwas, was ich euch sagen möchte:

'Meine Theorie ist, dass man Eltern eine Art Infoblatt gibt, wenn sie sich scheiden lassen wollen. Als meine Eltern mir erzählten, dass sie sich trennen, sagten sie drei Dinge: 1. Du bist nicht Schuld. 2. Du bist nicht Schuld, und 3. Du bist nicht Schuld. Aber das Problem ist... das glaube ich nicht. Kein Kind glaubt das. Ich hab die Fotos gesehen, die Fotos von eurer Hochzeit. Da habt ihr gut ausgesehen, und ihr habt euch angelächelt und... ihr musstet euch nur ansehen und wart glücklich. Durch was hat sich euer Leben so verändert? Durch mich? … Ich kam auf die Welt und machte euch unzufrieden und verzweifelt und erschöpft. Ihr habt meinetwegen Haarausfall und 20 Kilo zuviel auf den Hüften. Und... Irgendwann zwischen damals und jetzt hat eure Liebe einfach aufgehört.

Ich würde was anderes auf das Infoblatt schreiben. Das nächste mal sagt ihr mir 1. Es ist schwer, glücklich zu sein. 2. Mach nicht die selben Fehler wie wir. Und 3. Okay, es ist vielleicht ein bisschen deine Schuld.

Ich soll immer erlich sein? …
Dann seids bitte auch.'

Ich verzeihe euch, Mama und Papa! Ich verzeihe euch, dass ihr nicht da wart, als ich euch gebraucht habe. Ich verzeihe dir Ana, denn du konntest nicht ahnen, dass dein Blog mich umbringt. Ich verzeihe mir selbst, dass ich es soweit habe kommen lassen, denn ich habe irgendwann den Überblick verloren.
Ich möchte kämpfen, für ein Leben, was mir geschenkt wurde. Ich möchte verzeihen und ich bitte selbst um Verzeihung. Bei Gott, bei meinen Eltern, bei mir selbst.

Ich spühre, dass ich es schaffen kann, ich weiß, dass ich es schaffe.
Ich schreibe das hier, weil ich es allen sagen möchte: Ihr könnt es schaffen!
Auch du Ana! Wir können es alle schaffen, wenn wir nur an uns glauben!
Bitte tut euch das nicht länger an.
Es zerstöhrt euch.

Hiermit kündige ich unsere Freundschaft, liebste Ana.
Denn ich möchte leben.




Amanda lächelte traurig. Sie würde die Seite gleich endgültig

löschen, sie hätte nie gedacht, dass sie zum Tod von einem Mädchen beigetragen hätte. Doch erst schaltete sie für einen Moment die unglaublichen Schuldgefühle aus, die unglaubliche Trauer und ihr Mitgefühl - all das würde sie ihr Leben lang fühlen. Jetzt nahm sie sich ein paar Minuten Zeit, um für Serena zu beten. Für Serena, das Mädchen, dass den Kampf verloren hatte.

Impressum

Texte: Der Text im Epilog, der mit "Meine Theorie..." beginnt und mit "Dann seids bitte auch." endet, ist nicht von mir und stammt aus dem Film "Fame."
Tag der Veröffentlichung: 11.08.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die an einer Essstöhrung leiden, es getan haben oder auf dem Weg dort hin sind. Für Eltern und Freunde. Für Interessierte. Für dich. Texte in schwarzer Farbe stehen für die Vergangenheit, Texte in roter Farbe stehen für die Gegenwart. Die Zeit wechselt sich immer ab. (Wenn ein Text in schwarzer Farbe aufhört, geht er im nächsten schwarzen Abschnitt weiter.)

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