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Mein neues Hobby
Die meisten Menschen prägt die Vorstellung, dass sich ihnen, wenn sie einem anderen Menschen nahe genug kommen, seine Seele in all ihren Facetten offenbart; dass sie in die Dunkelheit ihrer tiefsten Abgründe und die bunte Welt ihrer Wünsche würden schauen können; sie erwarten interessante Denkweisen und Ansichten sowie individuelle Eigenheiten kennen zulernen. Doch ist dies in Wirklichkeit fast nie der Fall. Wenn ich an mein bisheriges Leben zurückdenke, kann ich mich bloß an Begegnungen erinnern, bei denen ich mit jedem Schritt, durch den wir einander näher kamen, ein wenig mehr Interesse an dieser Bekanntschaft verlor. Ja, man könnte mein bisheriges Leben als eine Reise bezeichnen, auf der ich wieder und wieder ein Nichts ansteuerte, in dem Glauben, es sei alles, und jedes Mal, wenn ich ein paar Schritte darauf zu gemacht hatte, davon abgestoßen wurde, weil mich die Einsicht zur Wahrheit, die mich stets nach den ersten Schritten heimsuchte, wie ein Pfeil ins Herz traf. Doch anstatt klüger zu werden und aus meinen Fehlern zu lernen, wurde ich jedes Mal mit neuer Hoffnung erfüllt – weiß Gott, woher sie kam – mit der ich mich einer anderen Destination zuwandte.
Ein wenig habe ich jedoch schon gelernt. Vor ungefähr drei Jahren hatte ich eine intensive Beziehung zu einem Menschen, die Intensivste meines Lebens. Sie war sehr geheimnisvoll, jedoch gleichermaßen schmerzvoll und ich weiß nicht einmal, ob dieser Mensch mich jemals realisierte.
Eines stürmischen Abends im Spätherbst befand ich mich in einer Bar, die drei Häuserecken von meiner damaligen Wohnung entfernt war und die ich eher per Zufall betreten hatte als mit Bedacht; ich weiß gar nicht mehr warum überhaupt, aber ich glaube es war, weil ich einfach keine Lust hatte, noch weitere Schritte zu machen um zu meiner Wohnung zu gelangen. Von dem Barhocker an der Theke aus, auf den ich mich gesetzt hatte, erblickte ich in einer Ecke auf einem kleinen Sofa sitzend eine Frau. Die Art, wie die schummrige Beleuchtung der Ecke und die Nebel aus Zigarettenrauch, der aus ihrem Mund und ihren Nüstern drang, wie von ganz allein, mir die Sicht erschwerte, in Zusammenklang mit der Art, auf die sie die Zigarette in vollkommener Ruhe an ihren Mund führte und daran zog, dabei gedankenverloren in die Ferne blickte, und sicher weder ihre Bewegungen noch die Bar wahrnahm, sondern Welten, von deren Existenz wohl keiner außer ihr wusste, wie sie nicht zu merken schien, dass ihr Körper eine immer mehr liegende Position auf dem schwarzen Sofa einnahm, aus dem durch mehrere Öffnungen seine gelbe Plüschfüllung quoll, wie ihre langen schwarzen, ein wenig welligen Haare ihr blasses, ungeschminktes Gesicht umrahmten und sich auf der Sofalehne und ihrem Oberkörper ausbreiteten - all dies lässt sich mit einem Wort beschreiben: Harmonie. Erst in diesem Augenblick konnte ich verstehen, was Harmonie bedeutet, und nichts anderes als dieser Anblick ist noch heute mein einziger Schlüssel zum Verständnis dieses Wortes.
Da sie ebenso allein dort zu sein schien wie ich, durchzuckte mich sofort der Impuls, aufzustehen und mich zu ihr zu setzten, zu fragen, woran sie dachte; doch hielt ich diesem Impuls stand. Ich wollte die geheimnisvolle Harmonie bewahren, und nicht auf die Frau zugehen und mit jedem Schritt etwas von dem zerbrechlichen Gebilde zerstören, das zwischen uns thronte, um bei ihr anzukommen und zu sehen, dass ich gerade alles zerstört hatte, was zwischen uns gewachsen war.
Von diesem Tag an kam ich regelmäßig in die Bar, und ausnahmslos fand ich sie in ähnlicher Position vor, wie sie halb auf dem Sofa lag, rauchte und träumte. Bald wurde ich auf das kleine Glas mit grünlichem Inhalt aufmerksam, das stets vor ihr auf dem flachen Tisch stand, aus dem ich sie aber noch nie einen Schluck hatte nehmen sehen; und doch erschien das Glas nie ganz unberührt, wenn ich eintraf.
In den nächsten Tagen beeilte ich mich sehr, nach der Arbeit in die Bar zu gelangen, um zu sehen, wie sie geht, und um zu hören, wie sie bestellt, nichts auf der Welt hätte mir zu diesem Zeitpunkt mehr Glück bereitet! Und gleichzeitig war ich mir bewusst darüber, dass es mir gleichermaßen schaden würde, weshalb ich ebenso sehr hoffte, sie würde bei meiner Ankunft schon auf ihrem Sofa sitzen. Immer war sie vor mir da und rauchte traumverloren seelenruhig ihre Zigarette, wenn ich von Schweißbächen überflutet und nach Atem ringend die schwere Holztür öffnete und in die Bar getaumelt kam. Ich nahm stets den gleichen Platz an der Bar ein, schüttete Bier für Bier in mich hinein und sann nach, woran sie wohl gerade denken mochte. An Freiheit? Ans Fliegen vielleicht? Daran, sein ganzes Leben in einem Walmagen zu verbringen? An Grillen, die sich lieben? Oder an Menschen, die sich lieben? Vielleicht malt sie sich gerade die buntesten sexuellen Fantasien aus, so dachte ich manchmal. Vielleicht denkt sie aber auch an überhaupt nichts Irdisches. Oder auch an überhaupt gar nichts. Dieser Gedanke kam mir oft zum Ende meines Baraufenthaltes, dann, wenn ich es nicht mehr länger ertragen konnte und die Bar verließ. Doch am nächsten Morgen sehnte ich schon den Abend herbei, weil ich sie endlich wiedersehen wollte. Sie war eine Droge für mich, ohne die zu Leben für mich bald undenkbar wurde. Oft dachte ich auch darüber nach, wie sie wohl heißen mochte. Anathème? Oder Ophelia? Damaris vielleicht? Damaris heißt Geliebte. Auch fragte ich mich, ob sie mich überhaupt jemals realisiert hat. Ob sie wohl mit Absicht jeden Abend vor mir hier eintrifft und zur Theke geht um ihr Getränk zu bestellen, damit ich sie nicht würde gehen sehen und ihre Stimme niemals hören würde. Vielleicht hat sie ja meine Arbeitszeiten ausfindig gemacht. Oder vielleicht hat sie auch gar keine Stimme oder kann nicht sprechen; vielleicht kann sie ja auch nicht einmal gehen.
Oder, so dachte ich einmal in späteren Stunden, sie ist Teil der Umgebung. Sie, wie sie dort auf dem Sofa sitzt und raucht, vor ihr der flache Tisch, auf dem das Glas mit dem grünlichen Inhalt steht, sind einfach Aspekte der Landschaft. Die Erde entwickelt sich schließlich immer weiter, warum sollte sie dann nicht mal neuartige Landschaftsformen hervorbringen?
Oder sie übt einfach ihren Beruf aus, der darin besteht, Dekorationsgegenstand für die Bar zu sein. Die Berufsfelder ändern sich ja bekanntlich in der modernen Welt.
Ungefähr zwei Monate meines Lebens bestanden daraus, nach der Arbeit zur Bar zu hasten und dort manchmal bis spät in die Nacht hinein die geheimnisvolle Frau anzuschauen, ja sie zu bewundern, und über nichts als sie nachzugrübeln, und ich kann mit Sicherheit sagen, dass es die aufregendste Zeit meines Lebens war. Nachdem ich genau einen Monat und 28 Tage auf diese Weise verbracht hatte, ereignete sich etwas, das erneut einen Wendepunkt in meinem Leben hervorrief. Als ich am nächsten Abend die Tür zur Bar öffnete, hatte sich etwas Entscheidendes geändert. Nur liegt dieses Ereignis in drei Variationen in meinem Gedächtnis vor, und ich kann mich nicht entsinnen, welche die richtige ist.
In der ersten Variante stürmte ich wie immer voller Vorfreude in die Bar hinein, warf sogleich einen Blick in die vertraute Ecke - doch fand das schwarze Sofa und den flachen Tisch davor zum ersten Mal leer vor. Ein Schock durchfuhr mich; ohne den Blick von der Ecke abzuwenden und ohne begreifen zu können, was ich sah, nahm ich auf dem gewohnten Barhocker Platz und bestellte das gewohnte Bier. Vielleicht musste sie ja mal auf die Toilette, überlegte ich hoffnungsvoll, doch sie blieb den ganzen Abend verschwunden. Fassungslos starrte ich auf das leere Sofa und den leeren Tisch, und als ich dachte, wenn sie ihren Arbeitsplatz wechselt, muss sie doch auch ihr Equipment mitnehmen, und die erste Träne meine Wange herabrann, stand ich von meinem Hocker auf und verließ die Bar früher denn je.
An den nächsten Abenden kam ich wieder, doch sie blieb verschwunden. Vielleicht hat sie ja Lungenkrebs und muss operiert werden, wegen des ganzen Rauchens, dachte ich einmal, doch glaubte ich es nicht wirklich. Das Rauchen war Teil von ihr, so wie mein kleiner Zeh Teil von mir ist, und der kann ja schließlich auch keinen Lungenkrebs verursachen.
Eigentlich wusste ich schon von dem Moment an, als ich das leere Sofa zum ersten Mal sah, dass sie nicht mehr wiederkommen würde. Die Harmonie war gebrochen und ließ sich nicht wieder zusammensetzen, denn Harmonie kann nur ohne Bruchstellen existieren. Ich kam eigentlich bloß noch wegen der Nebenwirkung her, welche die Sucht nach ihr mit sich gebracht hatte, nämlich der Alkoholsucht.
In der zweiten Variante stürmte ich wie immer voller Vorfreude in die Bar hinein, warf sogleich einen Blick in die vertraute Ecke – doch etwas hatte sich an ihrem Anblick geändert. Ihr Körper lag regungslos auf dem Sofa und blutete aus unzähligen Wunden; jedoch war dies kein unharmonischer Anblick. Wie alle Dinge hat auch die Harmonie eine Schattenseite, und wie alle Dinge bleibt die Harmonie natürlich bestehen, wenn sie sich von einer anderen Seite zeigt. Zwar fehlte das Zigarettenrauchen, doch dieser Aspekt wurde hinlänglich durch die Blutströme auf ihrem Körper ersetzt.
In der dritten Variante stürmte ich wie immer voller Vorfreude in die Bar hinein, warf sogleich einen Blick in die vertraute Ecke – und brachte sie um.

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Tag der Veröffentlichung: 28.12.2008

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