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Prolog

Nachdenklich saß Breda, der sich an diesen Namen nur schwer gewöhnen konnte, im Flugzeug zwischen seinen Eltern und starrte an die Gepäckklappe über sich. Er war nun schon drei Stunden unterwegs und der Flug würde noch weitere sieben Stunden lang dauern. Sieben Stunden in denen er wahrscheinlich an nichts anderes denken würde als jetzt.

Er hatte Vilija das Herz gebrochen.

Er wusste es ganz sicher in dem Moment, in dem er das Flugzeug betreten hatte und er war sich nicht sicher, ob sie ihm je verzeihen konnte.

Sein Herz schmerzte bei dem Gedanken, dass sie ihm keine Chance mehr geben könnte, dass sie ihn nicht mehr wollen würde. Es lag bereits so viel Schmerz zwischen ihnen, dass er sich nicht sicher war, ob das Band zwischen ihnen sich je von dieser Trennung erholen würde.

Wenn ich den nächsten Flieger nach hause nehme... vielleicht könnte sie mir dann nochmal verzeihen.

Er verzog das Gesicht. Als er vor der Wahl stand seine Eltern zu begleiten oder zu bleiben hatte er sich hin und hergerissen gefühlt. Er vermisste Vilija von ganzem Herzen, seit er in das verdammte Auto gestiegen war und war sich sicher, dass er geblieben wäre, wäre sie nur da gewesen als er sich hätte entscheiden müssen.

Doch nun war es zu spät. Er hatte der Sehnsucht nach seinen Eltern nachgegeben, die nun schon so lange in ihm verborgen war, dass er völlig überrumpelt war, als sie beim Anblick seiner Mutter hervorgebrochen war.

Hätte ich doch bloß auf Vilija gewartet...

Doch dafür war keine Zeit gewesen. Keine Zeit mit ihr darüber zu sprechen. Keine Zeit sie ein letztes Mal in die Arme zu nehmen, ihr einen Kuss zu geben, sich von ihr zu verabschieden. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt sie ein letztes Mal zu sehen.

Vielleicht ist das ja auch besser so. Sie weint bestimmt. Ich wäre nie gegangen, wenn sie weint.

Bei dem Gedanken verkrampfte sich sein Herz erneut. Sie weinte wegen ihm und er war nicht da um sie zu trösten, sie zu halten. Der schlimmste Gedanke, den er jedoch ertragen musste war der, dass er nicht wusste, wann er sie wiedersehen würde.

Als er die Augen schloss erfasste ihn Panik.

Alles war dunkel.

Seine Kerze war erloschen.

Kapitel 1

 

Einige Tage zuvor

Glücklich kuschelte ich mich enger an Tevin und seufzte leise, als er die Arme etwas fester um mich schlang.

„Schlaf weiter.“, murmelte er müde.

„Mhm.“, murrte ich daraufhin nur, ebenso müde wie er.

Es war mitten in der Nacht und irgendwas hatte mich geweckt. Ich wusste bloß nicht was.

„Autsch! … Verflucht.“

Verwundert öffnete ich die Augen und hob den Kopf. Das war Veits Stimme, wenn ich mich nicht täuschte.

„Das ist eine ganz dumme Idee.“

„Sei still.“, hörte ich Teddy zischen, „Sonst weckst du noch alle auf.“

Als ich wenig später ein schmerzhaftes Aufstöhnen hörte, löste ich mich vorsichtig von Tevin, zog mir schnell eine Shorts und ein Shirt von ihm an und ging dann leise aus dem Zelt. Ich sah gerade noch wie Teddy und Veit zwischen den Bäumen verschwanden, ehe ich mir Schuhe anzog und hinterher eilte.

„Wir sollten das lassen.“, hörte ich Veit sagen.

„Warum?“, fragte Teddy daraufhin, „Das war deine Idee.“

„Ja, aber ich wusste ja nicht, dass du gleich los rennst.“

„Was heißt gleich los rennst? Du sagtest es sei die ideale Nacht dafür.“

„Was macht ihr hier?“, fragte ich die zwei verwirrt.

Sofort blieben sie stehen und drehten sich zu mir um. „Vilija.“, kam es Teddy überrascht über die Lippen.

„Das ist mein Name.“, entgegnete ich und zog die Brauen zusammen, als ich einen Block und Stifte in Veits Händen sah. „Du willst zeichnen?“, fragte ich Veit.

„Ja.“, entgegnete er, „Theodore wollte allerdings nicht, dass ich allein in den Wald gehe. Du weißt schon, falls irgendwas passiert.“

„Was möchtest du denn zeichnen?“

Er zeigte in den Himmel. „Wir haben Vollmond und es ist keine Wolke am Himmel.“, erklärte er, „Ich war in so einer Nacht noch nie im Wald, also wollte ich einfach irgendwas zeichnen. Den Wald, den Mond, die Sterne. Irgendwas.“

„Oh.“ Ich lächelte begeistert. „Darf ich zusehen?“

Prompt erwiderte er das Lächeln. „Klar.“

„Habt ihr jemandem Bescheid gesagt, dass ihr weggegangen seid?“ Hastig holte ich auf und ging dann mit ihnen weiter. „Und wohin wollt ihr überhaupt gehen?“

„Nur ein Stück weiter in den Wald, bis Veit einen guten Platz zum Zeichnen gefunden hat.“, antwortete Teddy, „Und nein, wir haben niemandem Bescheid gegeben. Wir wollten sie nicht wecken.“

„Was uns offensichtlich nicht so gut gelungen ist.“, bemerkte Veit.

„Was dir nicht gelungen ist.“, korrigierte Teddy.

Veit winkte ab. „Wie auch immer.“

Daraufhin schwiegen wir eine Weile, bis Veit einen schönen Platz fand und sich setzte. Ich setzte mich neben ihn und sah ihm fasziniert über die Schulter, während er begann sich umzusehen und zu zeichnen. Er fing alles mögliche mit einer so unglaublichen Genauigkeit ein, dass es mir den Atem nahm. Es verzauberte den Betrachter auf eine Art, die ihn dazu brachte das Bild einfach nur zu betrachten, um die Schönheit so lange wie möglich auszukosten.

Es war Sommer und wir waren mit meiner und Tevins Klasse auf einer Klassenfahrt. Wir wanderten einer ganz speziellen Route entlang zum Ziel. Jeden Tag wurden wir dabei mit Nahrung und Wasser versorgt. Wir waren bereits 5 Tage unterwegs und hatten noch 2 Tage vor uns. Momentan kampierten wir an einem See, an dem wir drei Nächte verbrachten. Dies hier war die letzte.

Veit, der eine Zeit lang so etwas wie mein Freund gewesen ist, teilte sich sein Zelt mit Theodore, meinem allerbesten Freund, den ich seit unserer Kindheit Teddy nannte. Es gab nicht sonderlich viele Menschen von denen er sich so nennen ließ.

In einem dritten Zelt übernachteten Evelyn und Diana. Ev war Tevins allerbeste Freundin und Diana seine Ex, die in unserer Gruppe alles andere als willkommen war und uns behinderte wo es nur ging.

Ich teilte mir das Zelt mit Tevin McCourtney. Meine Eltern hatten ihn adoptiert als er 6 Jahre alt war und vor wenigen Monaten hatte ich meine Liebe zu ihm entdeckt. Nach unglaublich schwierigen Zeiten hatten wir es endlich geschafft eine intakte Beziehung zu führen.

„Woran denkst du?“, fragte Teddy neugierig und betrachtete mich einen Moment im Mondlicht. „Du grinst so komisch. Du denkst an Tevin, oder?“

Mein Grinsen vertiefte sich ein wenig. „Ich bin nur so glücklich darüber, dass wir es endlich schaffen.“

Warm lächelte er mich an und auch Veit warf mir ein Lächeln zu. Tevin war nicht sonderlich begeistert von ihm, weil ich schon einige Nächte mit ihm verbracht hatte, doch Veit war immer noch ein guter Freund, der von Anfang an wusste, worauf er sich einließ, zumal er auch irgendwie dafür verantwortlich war, dass Tevin und ich endlich soweit waren.

„Wolltest du die Nacht nicht mit Ev verbringen?“, fragte ich Teddy neugierig und grinste ihn an.

Ich konnte einen Schimmer Röte in seinem Gesicht erkennen, ehe er es ein wenig abwand. „Ich hab sie gefragt, aber sie hält es für zu heikel, weil Mr. Dawson noch da ist.“

Die zwei waren ein unglaublich niedliches Paar. „Aber er schläft doch sicher schon.“

„Ich will die Tiefe seines Schlafes nicht auf die Probe stellen.“

Veit lachte leise. „Das haben Tevin und Vilija doch schon getan. Ich hab übrigens die Wette gewonnen. Tevin war lauter als Vilija.“

„Du hast Recht. Ich glaube wir waren nicht die einzigen, die davon aufgewacht sind. Ich hab den einen oder anderen Vogel weg fliegen hören.“

Errötend senkte ich den Kopf und räusperte mich leise. „Müssen wir uns jetzt über mein Sexualleben unterhalten?“

„Über wessen denn sonst? Veit hat ja keines.“

„He.“, warf er beleidigt ein.

Wir lachten ihn aus. So verbrachten wir geschätzt zwei Stunden, ehe wir zurück zu unserem kleinen Lager gingen. Als ich in das Zelt ging, das ich mir mit Tevin teilte, saß dieser mitten auf den Schlafsäcken und beugte sich über ein Buch, das er mithilfe einer Taschenlampe las.

Als ich herein kam, sah er von dem Buch auf und atmete auf. „Hey.“

„Hey.“, erwiderte ich und zog mich aus. „Warum bist du wach?“

„Ich weiß nicht. Ich bin einfach aufgewacht und du warst weg. Dann konnte ich nicht mehr einschlafen, also habe ich mir dein Buch ausgeliehen, um auf dich zu warten.“

Wir waren so sehr daran gewöhnt bei dem anderen zu schlafen, dass es für uns bereits unmöglich war allein zu schlafen. Vor unserer Beziehung war es noch einigermaßen möglich gewesen, doch nun funktionierte das einfach nicht mehr.

„Tut mir leid.“, murmelte ich nun wieder ziemlich müde und krabbelte neben ihn auf die Schlafsäcke.

„Das macht nichts.“, entgegnete er, schlug das Buch zu und legte es mit der Taschenlampe zu meiner Tasche, ehe er sich neben mich legte und an sich zog. „Wo warst du eigentlich?“

„Ich war mit Tevin und Veit im Wald. Veit hat gezeichnet. Er ist wirklich gut.“

„Ja, ich weiß.“ Er schwieg einen Moment. „Und er hat nur gezeichnet?“

„Ja. Wir haben uns nebenbei unterhalten.“ Ich kuschelte mich an seine Brust und küsste ihn auf das Schlüsselbein. „Wollen wir jetzt schlafen?“

Erneut schwieg er eine Weile, bevor er antwortete. „Ich hab nachgedacht.“

Überrascht sah ich zu ihm auf, obwohl ich nichts erkennen konnte. „Worüber?“

„Über... nun... eigentlich ist es nicht weiter wichtig.“ Er gab mir einen federleichten Kuss auf die Nasenspitze.

„Aber wenn du darüber nachgedacht hast, dann... scheint es immerhin einen gewissen Wert zu haben.“

Ich spürte, wie er mit den Schultern zuckte. „Ich hab über meinen Vater nachgedacht.“

Seine Eltern waren ein etwas heikles Thema. Er erinnerte sich nicht an sehr viel, doch die Erinnerungen, die zurück gekommen waren, waren nicht sehr schön. Seine Mutter hatte ihn zum Schutz vor seinem Vater auf einem Flughafen ausgesetzt und war mit dem nächsten Flieger zurück geflogen. So war Tevin mit 6 Jahren allein in einem fremden Land.

„Möchtest du darüber sprechen?“, fragte ich vorsichtig.

„Es gibt nicht viel zu sagen.“, entgegnete er halblaut, „Ich habe bloß darüber nachgedacht, ob er heute so ist wie damals oder ob er sich gebessert hat.“

Bevor Tevins Mutter mit ihm abgehauen war, hatte sein Vater Tevins wenige Monate alte Schwester ermordet, weil ihr Erbgut beschädigt war. Tevins kleine Schwester war unter anderem ohne Pupillen auf die Welt gekommen. Dieser Erbfehler war nur einer von wenigen und optisch wahrscheinlich der unauffälligste.

„Ich kann mir vorstellen, dass er im Gefängnis war.“, entgegnete ich schließlich, „Ich habe noch nie davon gehört, das jemand nicht dafür bestraft wurde sein Kind getötet zu haben.“

Bei den Worten zuckte Tevin zusammen.

„Entschuldige.“, flüsterte ich und legte ihm eine Hand auf die Wange. Meine Augen hatten sich so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass ich ihn wenigstens schemenhaft erkennen konnte. „Das war nicht schön ausgedrückt.“

„Aber du hast Recht. Er muss im Gefängnis gewesen sein, denn ich glaube nicht, dass meine Mutter ihn das einfach so durchgehen ließ.“

„Naja, sie hat dich weggebracht, also hat sie das jedenfalls nicht getan.“

„Nein, aber du weißt was ich meine.“

Ich seufzte leise. „Also, angenommen er war im Gefängnis, was sehr wahrscheinlich ist, denke ich, dass er seine Tat zumindest bereut.“

„Das hoffe ich.“

Liebevoll strich ich ihm durchs Haar, woraufhin er seine Stirn an meine lehnte. „Du vermisst sie, nicht wahr?“

„Das würde ich so nicht bezeichnen. Ich bin neugierig, möchte wissen woher ich komme.“

„Und du fragst dich immer noch, ob sie dich vermissen.“

„Ja.“

Sanft drückte ich ihm einen Kuss auf die Lippen. „Lass uns nicht weiter darüber nachdenken, okay? Ich möchte nicht, dass diese Gedanken dich fertig machen.“

Das brachte ihn leise zum Lachen. „Ich bin vielleicht traurig, weil ich die zwei nicht wirklich kenne, aber ich bin glücklich bei euch zu leben. Ich glaube kaum, dass der Gedanke, meine Eltern könnten mich vermissen oder nicht, mich sonderlich depressiv werden lässt.“

Entgegen dem Inhalt seiner Worte klang er viel trauriger als zuvor. Tröstend legte ich ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen langen Kuss.

„Ich bin da.“, erinnerte ich ihn, „Und ich habe nicht vor zu gehen.“

„Ich liebe dich so sehr.“

„Ich liebe dich mindestens genauso sehr.“

Bei diesen Worten stöhnte er leise auf und rollte sich über mich, küsste mich leidenschaftlich.

 

Als ich am Morgen aus dem Zelt kletterte streckte ich mich genüsslich und schlenderte dann zur Feuerstelle, wo Teddy gerade Feuer machte. Mr. Dawson, der Lehrer, der für unsere Gruppe verantwortlich war und bei uns blieb, solange wir am See waren, schien noch zu schlafen, denn er war nirgends zu sehen.

„Guten Morgen, Teddy.“, begrüßte ich meinen besten Freund und winkte Evelyn zu, die sich im See zu waschen schien. Sie winkte freundlich zurück.

„Guten Morgen.“, entgegnete Teddy und sah kurz zu mir auf. „Hast du letzte Nacht noch gut geschlafen?“

„Ja. Tevin ist wohl aufgewacht, als ich weg war, aber wir haben beide noch ordentlichen Schlaf bekommen.“

Sein Mundwinkel zuckte. „So nennt ihr das also, ja?“

„Hm?“

„Du hast da einen ganz schönen Knutschfleck am Hals.“ Er tippte sich selbst auf die Stelle, an der der Hals in die Schulter überging.

Träge ließ ich mich ihm gegenüber nieder und streckte die Beine aus. „Ich hab ihm gesagt, was wir gemacht haben. Ich glaube es hat ihm nicht gefallen, dass ich nachts bei Veit war, egal ob du da warst oder nicht.“ Ich nahm es Tevin nicht übel, er konnte Veit einfach nicht leiden. Erst vor kurzem hatte er ihm einen Kinnhaken verpasst, weil er etwas zu sehr mit mir geflirtet hatte. „Ich weiß wirklich nicht ob Veit das manchmal nicht vielleicht mit Absicht macht oder er es nicht lassen kann.“

„Vielleicht ist er ja Masochist.“

„Dann hätte er vorgestern nicht so betreten drein geschaut, nachdem Tevin ihn geschlagen hat.“

„Was soll ich sagen?“ Kurz pustete er in die Glut, bevor er nochmals zu mir aufsah. „Gestern Abend hat er ziemlich davon geschwärmt wie schön du doch bist.“

„Ach so?“ Überrascht hob ich die Brauen.

„Mhm.“ Erneut pustete er vorsichtig in die Glut und zog sich zurück, als eine kleine Flamme erschien. Hastig schob er es unter das ordentlich gestapelte Holz und sah zu mir auf. „Hat er nicht mal erwähnt, er würde lieber sinnlos dir hinterher laufen, als mit Diana zusammen zu sein?“

„Ja. Aber da ging es auch um Diana.“ Ich rollte mit den Augen. „Er hat doch dieses Mädchen kennen gelernt.“

„Hat er?“

„Ja.“

„Seltsam. Wie auch immer. Wann immer wir allein sind fängt er an zu schwärmen.“ Er begann Veits Stimme zu imitieren, was ich zum Grinsen brachte. „Ihr Haar glänzt so schön. Und ihre Augen! Diese Farbe, sie ist einfach unbeschreiblich. Ich kann mich an ihr einfach nicht sattsehen.“ Er rollte mit den Augen. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen er hat 'ne Schraube locker.“

„Wenn du es nicht besser wüsstest?“

„Naja, so dämlich es auch klingt, aber er hat Recht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Schon als Kind hab ich versucht dich zu malen und wusste nie welchen Stift ich für deine Augen nehmen sollte.“

Nun lachte ich leise. „Du hast sie immer nur blau ausgemalt.“

„Ja, weil mir nichts anderes übrig blieb. Aber dieser Junge kriegt ja sogar das hin.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Wenn der nicht berühmt wird werde ich schwul.“

Nun brach ich in Gelächter aus. Veit war sogar bereits auf dem Weg zum Ruhm. Als Timothy Relyt hatte er schon unglaublich viele Gemälde angefertigt und ließ einige davon in einer Galerie ausstellen. Er hatte eine Serie von Bildern von mir gemalt, die von dem Übergang von Glück in Unglück handelte. So hatten wir uns mehr oder weniger kennen gelernt. Er hatte vor die Bilder bald ebenfalls in einer Galerie auszustellen und hoffte Aufträge für Portraits und Gemälde zu bekommen, um damit sein erstes Geld zu verdienen.

Als Mr. Dawson mit nichts weiter bekleidet als einer Shorts sein Zelt verließ, verebbte langsam mein Lachen. Ich riss einen Moment die Augen auf, bevor ich mir die Hände davor hielt und den Kopf senkte.

„Was hast du?“, fragte Teddy verwundert.

„Mr. Dawson in Unterwäsche.“, entgegnete ich daraufhin nur.

„Du hast bereits drei Kerle nackt gesehen und wirst schüchtern wenn du Mr. Dawson in Unterwäsche siehst?“

„Unser Lehrer ist was anderes als Tev, Veit und du.“

„Da ist was dran.“ Er schwieg kurz. „Hey, Mr. Dawson. Sie sollten sich vielleicht ein bisschen mehr anziehen, sonst traut sich Vilija nicht mehr die Augen aufzumachen.“

Das brachte unseren Lehrer dazu herzlich zu lachen.

„Hast du ihn gestern nicht auch schon so gesehen?“

„Da fungierte es als Badehose, das zählt nicht.“, murmelte ich, „Außerdem stand da Tevin neben mir, da hab ich das kaum wahrgenommen.“

„Was hast du kaum wahrgenommen, als ich neben dir stand?“, hörte ich Tevin neben mir fragen.

Überrascht nahm ich die Hände runter und sah zu ihm auf. Er sah einfach umwerfend aus. Sein dunkelbraunes Haar war noch zerzaust vom Schlaf und seine tannengrünen Augen leuchteten auf, als er mich ansah. Er war etwas größer als ich, etwa 1,80m, und war schlank und gut gebaut. Und sein Gesicht war einfach anbetungswürdig.

„Alles andere.“, antwortete Teddy an meiner Stelle, „Sie sieht aus, als würde sie dich jetzt zum ersten Mal sehen.“

Prüfend blickte Tevin mir ins Gesicht. „Nein, den Blick hat sie öfter.“, bemerkte er dann und grinste schräg. „Komm her und gib mir einen Kuss.“

Ohne Widerspruch warf ich mich nahezu in seine Arme und küsste ihn begierig.

„Ach, kommt schon.“, beschwere sich sogleich mein bester Freund. „Ich hattet heute Nacht genug Zeit für eure Knutschereien.“

„Dafür haben wir nie genug Zeit.“, widersprach Tevin amüsiert und legte die Arme um mich.

Wie eine ertrinkende schlang ich die Arme um seinen Hals und rückte enger an ihn heran, woraufhin er mich etwas leidenschaftlicher küsste und leise aufstöhnte.

„Leute!“, rief Teddy abrupt aus, „Wehe ihr fang an zu- Leute, euer Ernst?!“ Er unterbrach sich abrupt selbst, als Teivns Hände an meinem Rücken unter mein Shirt glitten und bewarf uns mit einem Stöckchen. „Verzieht euch in euer Zelt. Ich will das nicht sehen!“

Abrupt brachen Tevin und ich in Gelächter aus und lösten uns ein wenig voneinander.

„Als würdest du das mit Evelyn nicht auch tun.“, protestierte Tevin, während ich ein Stöckchen zurückwarf.

Schwer seufzend lies Teddy sich auf den Rücken fallen. „Wenn du wüsstest...“

„Ev wollte nicht, dass sie die Nacht zusammen verbringen.“, informierte ich Tevin halblaut.

Das brachte ihn schadenfroh zum Grinsen. „Ach, dann ist er eifersüchtig oder neidisch, hm?“

„Sei froh, dass hier keine Steine liegen.“, entgegnete Teddy mit verspieltem Ton, sah aber nicht allzu glücklich aus.

„Ist sonst alles okay?“, fragte ich ihn besorgt.

„Klar, was soll denn sein?“

„Ich weiß nicht. Du guckst so traurig.“

„Nein, alles in Ordnung.“ Mit diesen Worten setzte er sich auf und lächelte. „Veit hat mich nur mit seiner Schwärmerei genervt, das ist alles.“

„Schwärmerei?“, fragte Tevin verwirrt.

„Er hat die ganze Zeit von-“

„Diesem Mädchen erzählt, das ich erwähnt hab.“, unterbrach ich Teddy gekonnt und kuschelte mich an Tevin.

„Guten Morgen.“, begrüßte uns Evelyn, als sie vom See zu uns kam, setzte sich zu Teddy und gab ihm einen langen Kuss. „Ihr habt noch nicht mit dem Frühstück angefangen?“

„Das Feuer brennt noch nicht lange genug.“, entgegnete Teddy daraufhin und zupfte an einer Strähne ihres Haars. „Soll ich dir dein Obst holen?“

„Nein danke. Ich brauch was fleischiges.“

„Zum Frühstück?“, neckte Tevin sie amüsiert.

„Wenn ich schon welches habe, dann ja.“

 

Wenige Stunden später verstauten wir bereits unsere Sachen und die Zelte, wobei ich darüber nachgrübelte in welche Richtung wir gehen mussten. Mr. Dawson hatte uns kurz nach dem Frühstück bereits verlassen, da er uns bei der Wanderung selbst keine Hilfe geben durfte, wenn es nicht nötig war. Wir sollten selbst den Weg finden.

„Hier, die Tasche kannst du nehmen, Diana.“, bemerkte Evelyn und schob ihrer neuen Erzfeindin die Tasche mit dem Zelt herüber. „Ich hab sie die ersten Tage getragen.“

„Spinnst du? Wenn ich die die ganze Zeit trage, bekomme ich noch Rückenprobleme.“, entgegnete Diana entsetzt.

„Stell dich nicht so an. Die wiegt keine 10 Kilogramm.“

„Ich trage sie trotzdem nicht. Die ist viel zu schwer.“

Ev hob einen Moment die Braue, zuckte dann aber mit den Schultern. „Wie du willst. Dann lass das Zelt da liegen. Ich schlafe dann bei Teddy und Veit. Du kannst ja in einem Busch schlafen oder so.“ Ohne ein weiteres Wort kam zu sie zu mir herüber. „Und? In welche Richtung müssen wir?“

„Als wenn sie das wüsste.“, schnaubte Diana verärgert und machte einen großen Bogen um die Tasche, als sie zu den Jungs herüber ging, die dafür sorgten, dass das Feuer auch wirklich gelöscht war.

Einen Moment wechselte mein Blick von der Karte zum Kompass und zurück, ehe ich in eine Richtung deutete. „Diese Richtung.“, verkündete ich dann, „Wir dürfen nur nicht vom Trampelpfad abkommen.“

„Okay.“ Ev sah zu den Jungs herüber. „Seid ihr fertig?“, rief sie ihnen dann zu.

„Ja, noch einen Moment.“, antwortete Veit und trat noch einige Male auf ein paar Äste herum, während Teddy Sand darauf verteilte.

Tevin kam bereits auf uns zu und schlang von hinten die Arme um mich. „Weißt du schon in welche Richtung?“

„Ja.“

„Gut.“ Liebevoll küsste er mich auf die Schläfe, ehe er sich wieder von mir löste und die Tasche mit dem Zelt nahm. „Ich nehme das Zelt. Soll ich deine Sachen auch noch tragen?“

„Nein, das geht schon, danke.“, entgegnete ich lächelnd.

„Okay.“

Als nun auch Teddy und Veit zu uns stießen, machten wir uns auf den Weg. Diana blieb noch einen Moment zurück und sah auf das Zelt, hob dann aber die Nase und ging trotzig daran vorbei. Evelyn beobachtete sie dabei einen Moment, schnaubte dann aber und ergriff Teddys Hand.

„Veit.“, hob dieser im selben Moment an und sah zu diesem herüber. „Stört es dich, wenn Evelyn bei uns im Zelt schläft?“

„Wenn ich dann noch Schlaf bekomme... warum nicht?“, antwortete er und warf dem Paar einen kurzen Blick zu.

Tevin lachte leise, nahm meine Hand und drückte einen Kuss auf meine Fingerknöchel. „Was für ein Glück, dass wir unsere Ruhe haben.“

„Diana werden wir ganz bestimmt nicht aufnehmen.“, bemerkte ich ernst und sah zu ihm auf.

„Das habe ich nicht vor. Ich will dich die ganze Nacht ganz für mich allein.“

„Mensch, Leute.“, beschwerte sich Teddy halblaut, „Ich will nicht wissen, ob ihr Sex habt oder nicht.“

„Spätestens heute Abend weißt du es doch sowieso.“, bemerkte Veit amüsiert, „Sieh es positiv, so kannst du dich darauf vorbereiten.“

„Hätte ich das früher gewusst, hätte ich mir Ohrstöpsel mitgenommen.“

Ev lachte leise. „Wenn du erst einmal schläfst kriegt man dich doch sowieso kaum noch wach, wenn die Sonne nicht aufgeht.“

Ich nickte zustimmend. „Er schläft wie ein Murmeltier.“

„Wenigstens rede ich nicht im Schlaf.“

Als ich fragend eine Braue hochzog deutete er auf Veit.

„Ist mir nie aufgefallen.“, bemerkte ich dann überrascht.

„Bei dir hab ich immer gut geschlafen.“, entgegnete dieser und zuckte mit den Schultern.

Als Ev über eine Wurzel stolperte, fing Teddy sie vorsichtig auf und hielt sie fest, bis sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte.

„Geht's wieder?“, fragte er sie aufmerksam.

„Ja, danke.“

So folgten wir eine ganze Weile einem Trampelpfad, der an sich kaum noch zu erkennen war, machten Witze, unterhielten uns und hielten hier und da an, um uns die Umgebung anzusehen.

„Sagt mal...“, hob Veit irgendwann an, als wir begannen uns nach einem guten Platz zum Ausruhen umzusehen. „Wo ist Diana?“

Sofort blieben wir stehen und sahen zurück. Soweit ich mich erinnern konnte war sie uns still gefolgt, bildete das Schlusslicht. Nun war da nichts als Grün.

„Ich gehe mal nachsehen.“, verkündete Teddy, stellte seine Taschen ab und machte Anstalt dem Pfad zurück zu folgen.

„Warte, ich komm mit. Nicht, dass dir noch was passiert.“ Hastig legte Veit seine Taschen ebenfalls beiseite und folgte meinem besten Freund, wobei er noch kurz zurück zu Tevin sah. „Pass du auf die beiden auf.“

„Klar.“, entgegnete dieser und drückte kurz meine Hand.

Evelyn seufzte gereizt. „Mit der kann man wirklich nichts anfangen. Wenn das so weiter geht sind wir noch die letzten.“

„Ich glaube nicht, dass das lange dauert.“, warf ich optimistisch ein, „Ich meine, so lange kann sie nun nicht weg sein, oder? Wir sind doch sicher noch nicht lange unterwegs.“

Tevin zog nachdenklich die Brauen zusammen. „Bestimmt schon ein paar Stunden. Sonst wären wir nicht so kaputt. Und die Sonne hat schon fast ihren höchsten Punkt erreicht, da haben wir sicher etwa Mittag.“

„Dann ist es gleich ja auch Zeit fürs Essen.“

„In welcher Tasche ist es?“

Während die zwei begannen ein winziges Lager aufzubauen, um das Essen vorzubereiten, holte ich das Funkgerät hervor und dachte darüber nach, ob ich Mr. Dawson anfunken sollte.

„Vilija, tauschen wir Apfel gegen Banane?“, fragte Evelyn mich und sah auf ihr Obst herab.

Aus den Gedanken gerissen hob ich den Kopf. „Äh, klar.“ Ich setzte mich neben Tevin. „Meint ihr, ich soll Mr. Dawson Bescheid geben?“

„Ach was.“, entgegnete Tevin und machte eine wegwerfende Geste. „Veit und Teddy finden Diana sicher und kommen gleich wieder.“

Wie gerufen kam Veit zurück... allerdings war er allein.

„Leute.“, hob er unglücklich an, „Wir haben ein Problem.“

„Was denn?“, fragte wir nahezu synchron.

„Diana ist wohl vom Weg abgekommen. Dabei kam sie in ein gefährliches Gebiet. Irgendwo muss sie mit ihren Monsterschuhen umgeknickt sein. Jedenfalls sitzt sie gerade mit geschwollenem Knöchel auf einem Baum.“

„Warum?“, fragte ich verwundert.

Seine Miene wurde finster. „Sie kam einer Bärenmutter in die Quere.“

Evelyn stöhnte auf. „Warum hat die sie nicht gefressen, verdammt.“

Ich hob das Funkgerät an und begann unseren Lehrer anzufunken. „Mr. Dawson. Bitte kommen. Wir haben ein Problem.“

Einen Moment blieb es still, weshalb ich es nochmals versuchte, ehe er antwortete.

„Was ist los?“, wollte er wissen, „Es ist mitten am Tag. Habt ihr euch verlaufen?“

„Nein.“

Gerade als ich die Situation schildern wollte, streckte Veit die Hand aus, woraufhin ich ihm das Funkgerät gab, da er die Situation besser kannte als ich. Es dauerte eine Weile, doch letztendlich verkündete unser Lehrer, dass er sich auf den Weg zu uns machen will, weshalb Veit mir das Funkgerät zurück gab, damit ich ihm unsere ungefähre Position nennen konnte.

„Das ist nicht weit weg.“, bemerkte er dann, „Ich bin in vielleicht fünf Minuten da.“

„Okay.“

„Bleibt wo ihr seid. Irgendwer sollte in der Zwischenzeit nach Theodore und Diana sehen. Over and Out.“

„Okay.“, hob Tevin kurz darauf an, „Ich schlage vor, dass wir jetzt schnell etwas essen, dann geben wir Veit etwas für Teddy mit und dann kommt er zurück.“

„Klingt gut.“, stimmte Ev zu.

Etwa zehn Minuten später erreichte uns Mr. Dawson, wartete noch kurz darauf, dass Veit zurück war und folgte diesem dann zu Teddy und Diana.

„Das Problem ist nicht mehr der Bär.“, hatte Veit kurz bemerkt, als er da war, „Es ist Diana. Sie kommt nicht mehr vom Baum herunter.“

Und so saßen nun Tevin, Evelyn und ich dort herum und warteten. Das Funkgerät, dass ich die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, legte ich zu unseren Taschen und lehnte mich seufzend an Tevin.

„Hoffentlich dauert das nicht allzu lange.“, bemerkte ich und schloss die Augen.

Er legte mir einen Arm um die Taille. „Ich bin ja da, um dich zu unterhalten.“

„Das ist nicht fair.“, beschwerte sich Evelyn, „Ich hab niemanden bei mir.“

„Du musst ja nicht zusehen.“, neckte Tev sie amüsiert.

„Aber die Geräusche sind schwer zu überhören.“

Als Tevin darauf antwortete, hörte ich ein seltsames Brummen. Verwirrt, weil keinerlei Autos in der Nähe waren, öffnete ich die Augen und sah auf.

„Habt ihr das auch gehört?“, fragte ich die zwei.

Verwirrt sah Evelyn zu mir. „Was gehört?“

Tevin sah sich horchend um. Als dann kurz darauf erneut das Brummen ertönte, diesmal lauter, wurden wir alle drei starr.

„Es ist nicht das, was ich denke, was es ist, oder?“, fragte Evelyn vorsichtig.

„Ich weiß nicht genau.“, entgegnete Tevin zaghaft, „Ich meine...“

Keiner von uns wollte es sagen. Als wir dann aus der anderen Richtung, die Richtung in der wir gehen mussten, ein weiteres Brummen hörten, höher, irgendwie niedlicher, riss ich entsetzt die Augen auf.

„Tevin?“ Etwas ängstlich griff ich nach seiner Hand.

„Vielleicht sollten wir den beiden aus dem Weg gehen.“, schlug Ev vor.

Erneut ertönte das Brummen, diesmal viel näher. Ohne Zögern sprang ich auf die Beine.

„Tevin, lass uns hier weg gehen.“, bat ich ihn, „Nur bis sie weg sind.“

„Beruhige dich. Vielleicht geht sie ja nicht genau hier lang.“, spekulierte er, stand auf und hielt mich beruhigend fest.

Im nächsten Moment erspähte ich hinter ihm braunes Fell. Evelyn stand langsam mit großen Augen auf und bewegte sich in unsere Richtung.

„T-T-Tevin...“, brachte ich hervor und machte einen Schritt zurück... und stolperte fast über den kleinen Bären, der mir etwa bis an die Knie reichte und im nächsten Moment nach seiner Mutter rief.

Das war der Moment, in dem ebendiese uns sah und anbrüllte. Verängstigt griff ich nach Tevin und zog ihn zu mir, woraufhin er die Arme schützend um mich legte. Die Mutter des Bärenkindes begann sich bedrohlich aufzurichten.

„Wenn ich jetzt sage, drehst du dich um und läufst.“, sagte Tevin zu mir und zog Evelyn in meine Richtung. „Du ebenfalls.“

„Und du?“, fragte ich und griff nach seiner Hand.

„Ich komme auch. Aber lauf, warte nicht auf mich.“ Aufmerksam beobachtete er die Bärenmutter, schien auf irgendwas zu warten. Dann hob sie die Pranke, brüllte uns wieder an und schien nach uns schlagen wollen. Da rief Tevin „Jetzt!“ und schob mich an dem Bärenkind vorbei.

Ich lief Hals über Kopf los, hörte Evelyn hinter mir und auch Tevin war da. Außerdem hörte ich noch deutlich schwerere Schritte und Flüche von Tevin. Verwirrt sah ich zurück und stellte fest, dass der Bär uns folgte. Genau in dem Moment stolperte ich über eine Baumwurzel und fiel.

„Vilija!“, rief Tevin entsetzt aus, half mir hastig auf und zog mich dann eilig weiter.

Allerdings hatte ich mein Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden und strauchelte, weshalb Tevin, der mich verzweifelt an der Hand hielt, langsamer wurde. Dann war da dieser Moment, in dem ich bereits das Gefühl hatte den Atem des Tieres in meinem Nacken zu spüren. Tevin sah zu mir zurück und im nächsten Moment drehte er sich um und warf sich zwischen mir und dem Bären. Irgendwas prallte gegen seine Schulter, weshalb er gegen mich stieß und mir beide zu Boden fielen. Er umschlang mich daraufhin mit beiden Armen und rollte sich mit mir einige Male zur Seite, ehe er mich wieder auf die Beine schob.

„Los, lauf weiter.“, keuchte er und verzog leicht das Gesicht.

„Alles okay?“, fragte ich ihn, „Geht es dir gut?“

„Alles gut. Jetzt lauf.“

„Aber du- Tevin, du blutest!“, rief ich abrupt aus und wollte nach seinem rechten Oberarm greifen, doch da stand er bereits schwerfällig auf und schob mich voran.

„Lauf! Ich bin hinter dir, warte nicht auf mich.“, sagte er dann nur nachdrücklich und schob mich immer weiter.

Also liefen wir noch eine Weile zusammen durch den Wald, bis ich nicht mehr konnte. Ich atmete schwer und meine Beine begannen weh zu tun.

„Ich glaube wir haben sie abgehängt.“, brachte ich hervor und rieb mir über den Nacken.

Als ich keine Antwort bekam drehte ich mich zu Tevin um und... stellte fest, dass er nicht da war.

„Tevin?“ Zögerlich ging ich einige Schritte zurück, doch ich sah ihn nirgendwo. „Tevin!“ Meine Schritte beschleunigten sich, bis ich wieder rannte. „Tevin!“, rief ich unterdessen immer wieder, suchte verzweifelt nach ihm. Tränen stiegen in mir auf. Ich kann ihn doch nicht verloren haben.

Ich fühlte mich so allein, hilflos. Jeder Baum sah aus wie der vorige und ich bekam das Gefühl, ich würde im Kreis laufen.

„Tev!“

Mein Herz raste vor Angst. Ich hatte das Gefühl jeden Moment keine Luft mehr zu bekommen und zusammenzubrechen. Eine unfassbare Leere breitete sich langsam in mir aus.

Tevin!

„Vivi!“

Ich schnappte abrupt nach Luft, hielt den Atem an. „Tev?!“

„Wo bist du?“ Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass es nicht Tevin, sondern Teddys Stimme war, die ich da hörte.

„Teddy!“, rief ich dann abrupt aus und lief in die Richtung, aus der seine Stimme kam. „Hier! Ich bin hier!“

Kurz darauf erspähte ich ihn zwischen den Bäumen und lief weinend auf ihn zu.

„Oh, Gott sei Dank, da bist du ja. Ich hatte schon Angst ich finde dich nicht mehr. Wo sind die anderen? Was ist passiert? Das kleine Lager ist ja völlig verwüstet.“

„Wir müssen Tevin finden.“, entgegnete ich nur und zog ihn bereits hinter mir her. „Bitte. Er ist verletzt, wir müssen ihn suchen.“

„Was? Vilija, was war los?“

„Gleich. Mein Gott, Teddy, wir müssen ihn suchen!“ Panik kam in mir auf, als ich mir vorstellte, wie er irgendwo allein im Wald verletzt umherirrte, wie ich es getan hatte.

Teddy seufzte kurz, folgte mir dann aber. „Wo seid ihr lang gegangen?“

„Ich weiß es nicht mehr.“ Frustriert wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. „Hier sieht einfach alles gleich aus und er lief hinter mir. Er hat gesagt, ich soll nicht auf ihn warten, er wäre hinter mir. Oh bitte, lass es ihm gut gehen.“

„Was ist denn passiert?“, fragte Teddy erneut, während ich begann nach Tevin zu rufen. „Was ist mit Evelyn?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.“ Aufgewühlt fuhr ich mir mit den Händen durchs Haar und schluchzte leise auf. „Da war dieser Bär und das Kleine, also sind wir gelaufen und dann bin ich gestolpert und Tevin hat mir geholfen. Er- Er-“ Erneut schluchzte dich auf und sah mich um. „Tevin!“, rief ich dann erneut, betete, dass er mich hörte, ehe ich weiter lief. „Tevin!“

„Tevin!“, rief nun auch Teddy und sah sich aufmerksam um.

Als wir eine Viertelstunde später nichts fanden, fluchte er lauthals, während ich von Heulkrämpfen geschüttelt wurde, jedoch verzweifelt weiter suchte.

„Tevin!“, rief ich panisch weiter, horchte nach jedem noch so winzigen Geräusch.

„Vilija!“, hörte ich irgendwann.

„Tevin?!“

„Ich glaub, er ist dort drüben.“ Teddy deutete in eine Richtung, woraufhin ich ohne Zögern loslief.

„Tevin!“

„Ich bin hier drüben.“

Im nächsten Moment sah ich ihn an einem Baum gelehnt. Er war blass, atmete schwer und stieß sich gerade vom Baum ab, um sich am nächsten anzulehnen.

„Himmel, Tevin.“, kam es mir erleichtert über die Lippen, ehe mir all das Blut auffiel, dass an seinem Arm hin.

„Großer Gott!“, kam es Teddy über die Lippen.

Ich dagegen stürzte zu ihm herüber und suchte nach der Wunde. „Oh Tevin. Ich dachte schon ich würde dich nicht mehr finden. Ich dachte, ich hätte dich verloren. Ich dachte- Ich dachte-“

„Sch sch sch.“, machte er daraufhin, nahm seine Hand von seinem Blutverschmiertem Oberarm und legte ihn um mich. „Ich bin ja hier.“

„Du blutest. Du bist verletzt.“

„Das... ist nur ein Kratzer.“ Schwer schluckte er und schwankte einen Moment, obwohl er sich schon an den Baum lehnte.

„Na komm, ich stütze dich.“, meinte Teddy, nahm Tevins Arm von meiner Taille und zog ihn sich über die Schultern. Dann sah er sich einen Moment um, schien sich zu orientieren.

„Wo lang?“, fragte ich überflüssigerweise und sah mich ebenfalls um.

„Ich... denke... da lang.“

Da für mich mittlerweile wirklich alles gleich aussah, schien es so auszusehen, als würde Teddy einfach nur willkürlich in eine Richtung nicken, schien allerdings sehr überzeugt zu sein, also nahm ich Tevins andere Hand und drückte sie sanft, ehe ich mich mit den beiden auf den Weg machte.

„Wo ist Evelyn?“, fragte Teddy unterwegs besorgt.

„Sie ist weitergelaufen.“, antwortete ich, „Als Tevin verletzt wurde haben wir sie verloren.“

Mein bester Freund schluckte daraufhin schwer und senkte etwas den Kopf. „An meiner Hüfte ist das Funkgerät.“, presste er dann hervor, „Du hast es am Lager liegen lassen. Funk Mr. Dawson an.“

Ich zögerte etwas, nahm dann aber das Funkgerät von seiner Hüfte und drückte auf den Knopf. „Mr. … Mr. Dawson.“ Ich räusperte mich kurz, zog die Nase hoch und wischte mir die Tränen aus den Augen, während immer weiter welche flossen.

„Vilija? Geht es dir gut?“, ertönte kurz darauf die Stimme unseres Lehrers. „Seid ihr alle beisammen?“

Ich schluckte einige Male. „Also... Wir haben Tevin, aber... Er ist verletzt und... wir haben Evelyn verloren. Ich weiß nicht wo sie ist und... Tevin ist ganz blass.“

Es dauerte einen Moment, ehe eine Antwort kam. „Okay. Kommt so schnell es geht zurück. Ich werde mit Veit nach Evelyn suchen und euch dann alle hier raus fahren. Diana wird hier auf euch warten.“

„Haben Sie Verbandszeug?“, fragte ich ihn und strengte mich an nicht wieder in Tränen auszubrechen.

„Ja, ich hab es Diana gegeben. Kümmert euch um Tevin bis ich da bin.“

„Natürlich!“, entgegnete ich energisch und rang kurz nach Luft. „Wir- Wir werden uns beeilen.“

„Gut.“ Einen Moment war er still. „Es wird alles gut, Vilija. Over and Out.“

Die Worte, die eigentlich beruhigend wirken sollten, lösten einen ziemlichen Trubel in mir aus. „Tevin, wie geht es dir jetzt?“

„Es geht.“, entgegnete er, „Ich sag ja, es ist nur ein Kratzer.“

„Ich bitte dich.“, warf Teddy ein, „Du blutest wie Sau und bist bleich wie Porzellan.“

Er strauchelte einen Moment sehr gefährlich, sodass die beiden beinahe stürzten. Etwas unbeholfen stützte ich Tevin von der anderen Seite und schlang dabei einen Arm um seine Taille. Als wir kurz darauf ein seltsames Rascheln hörten, blieb mein Herz beinahe stehen, weshalb ich abrupt den Atem anhielt und mich an Tevin drängte.

„Hört ihr das?“, fragte ich leise und horchte angespannt.

„Das sind wahrscheinlich nur Tiere.“, entgegnete Teddy zuversichtlich.

„Aber was für Tiere.“, entgegnete ich mit erstickter Stimme.

Als das Rascheln erneut ertönte, wimmerte ich leise auf und drückte Tevins Hand. Dieser stöhnte leise auf und schien langsam die Kraft zu verlieren.

„Runter.“, murmelte Teddy, dem offensichtlich auch nicht ganz wohl war und ging vorsichtig in die Hocke.

Tevin stöhnte erneut auf und lehnte sich ein wenig an mich, ehe er mit einem Plumps auf dem Boden landete.

„Tevin.“, hauchte ich erschrocken und beugte mich nahe über ihn. „Alles okay?“

„Ich bin müde.“, entgegnete er leise und schloss die Augen.

„Sieh mich an.“, bat ich ihn und legte ihm die Hände auf die Wangen. „Oh bitte, sieh mich an.“

Träge öffnete er wieder die Augen. „Alles gut, Kleines. Ich schlaf schon nicht ein.“

„Ich hab Angst.“

Liebevoll zog er mich ein Stück herunter, um mich auf die Stirn zu küssen. „Es wird alles gut, keine Sorge.“

Einen Moment genoss ich die Berührung, ehe ich von Teddy um Aufmerksamkeit gebeten wurde.

„Wir können weiter.“, bemerkte er und kam mit Tevin und mir wieder auf die Beine.

Wieder spürte ich einige Tränen über meine Wangen rollen, doch ich ignorierte sie so gut wie möglich. Es dauerte nicht mehr lange bis wir das kleine improvisierte und zerstörte Lager erreichten, wo Diana verärgert eines ihrer Nägel zurecht feilte.

„Da seid ihr ja endlich!“, rief sie aus und sah uns wütend an. „Habt ihr eine Ahnung wie lange ich hier schon allein sitze?“

Teddy stöhnte genervt auf und half mir dann Tevin vorsichtig hinzulegen. „Hör auf zu jammern und gib uns den Verbandskasten.“

„Hol ihn dir doch. Mein Knöchel tut weh, ich kann nicht aufstehen.“

Ich konnte seine Zähne knirschen hören, als er sie finster ansah und zu ihr herüber ging, um sich den Kasten zu holen. Dann kniete er sich neben Tevin, den ich mühsam aus seinem Oberteil geschält hatte.

„Das muss ja richtig weh tun.“, bemerkte Teddy, als er sich Tevins Arm besah. „Die Wunde ist sehr tief. Du hast wahrscheinlich ziemlich viel Blut verloren.“

Entsetzt riss ich die Augen auf. „Wie bitte?“

„Hab ich nicht.“, warf Tevin hastig ein, ohne den Blick von mir zu nehmen. „Ich bin bloß etwas müde.“

„Mach hier niemandem was vor, Tevin. Spiel es nicht runter, um Vilija keine Sorgen zu bereiten. Du musst in ein Krankenhaus.“

Mein Herz wurde schwer. „Ins Krankenhaus?“

Teddy zögerte ein wenig, als er kurz zu mir aufsah. Dann begann er vorsichtig Tevins Wunde zu säubern. „Es muss nur genäht werden und er braucht bestimmt eine Blutinfusion.“

„Nur ein Kratzer.“, presste Tevin zwischen den Zähnen hervor und zischte kurz, als Teddy offenbar eine schmerzhafte Stelle berührte.

„Gibt mir bitte jemand meine Flasche Wasser herüber? Ich verdurste noch.“, ertönte Dianas Stimme.

„Hol sie dir selbst.“, warf Teddy ihr an den Kopf.

„Spinnst du? Hast du eine Ahnung wie sehr mein Knöchel mir weh tut?“

„Hast du eine Ahnung was Tevin gerade durchmacht?!“, fuhr Teddy sie wütend an und sah sie dabei einen Moment an, ehe er sich wieder an Tevin wendete, da Diana nichts erwiderte. „Du solltest lernen an andere Menschen zu denken, ehe du an dich denkst.“

Immer noch etwas gereizt verband er Tevins Wunde und sah prüfend zu mir auf.

„Geht es dir gut?“

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und griff nach Tevins Hand. „Mit mir ist alles in Ordnung.“

„Gut.“ Er schwieg einen Moment. „Was ist mit Evelyn?“

„Wir haben sie verloren.“, antwortete ich und ließ die Schultern etwas hängen. „Wie ich gesagt hab, sind wir weggelaufen und Tevin wurde wohl von dem Biest erwischt. Dabei sind wir zu Boden gestürzt und über den Boden gerollt. Evelyn ist weitergelaufen.“

Sorge trat in sein Gesicht. „Und der Bär?“

„Ich weiß es nicht.“ Die Tränen wollten einfach nicht versiegen. „Ich weiß es wirklich nicht.“

„Vilija.“

Mein Blick glitt zu Tevin, als er mich kraftlos ansprach. „Nicht reden.“, flüsterte ich ihm verzweifelt zu, „Du hast viel Blut verloren.“

Sein Mundwinkel zuckte. „So viel war es nicht. Es ist nur ein Kratzer.“

Wütend, weil er die Situation immer noch herunterspielte, schlug ich ihm gegen die gesunde Schulter. „Hör auf das so runter zu spielen. Dir geht es schlecht.“

Er seufzte tief und schloss die Augen. „Gib mir einen Kuss.“, bat er dann, „Dann hab ich einen Grund zu schweigen.“

Trotz der angespannten Situation zuckte mein Mundwinkel. Einen Moment dachte ich drüber nach es ihm zu verwehren, beugte mich dann aber über ihn und küsste ihn liebevoll.

Etwa eine Viertelstunde später tauchten Mr. Dawson und Veit mit Evelyn auf, die etwas mitgenommen aussah. Teddy sprang sofort auf die Beine und hastete zu ihr, um sie in die Arme zu ziehen.

„Geht es dir gut? Alles in Ordnung?“, fragte er sie besorgt und nahm ihr Gesicht in seine Hände. „Bist du verletzt?“

Ev sah ihn daraufhin nur einen Moment stumm an. Dann schlang sie die Arme um ihn und drückte sich an ihn. „Ich hatte solche Angst.“, hauchte sie dann und verbarg ihr Gesicht an seinem Hals.

Mr. Dawson beachtete die zwei nicht weiter und kam zu Tevin und mir herüber. „Wie sieht es bei ihm aus?“, fragte er mich.

„Ich hab mir die Wunde nicht angesehen, aber Teddy sagt, er müsse wohl ins Krankenhaus, damit das genäht werden kann und Tevin eine Blutinfusion bekommt.“, antwortete ich, während unser Lehrer vorsichtig das Verband abnahm.

„Okay.“, murmelte er wenig später, „Mein Wagen ist da vorn.“ Wieder kam es mir so vor, als würde er wahllos in eine Richtung zeigen. „Sucht alles zusammen. Eure Wanderung wird hier abgebrochen.“

Erleichterung durchfuhr mich. Mr. Dawson half Tevin vorsichtig auf die Beine und half ihm dann zum Wagen, während Teddy sich von Evelyn löste und mit mir und ihr begann die Sachen vom Lager einzusammeln.

„Du könntest gern ein wenig helfen.“, bemerkte mein bester Freund gereizt an Diana.

Diese sah skeptisch von unten zu ihm auf. „Mit diesem Knöchel? Ich bitte dich.“

„Immerhin konntest du damit wieder herlaufen.“, entgegnete er.

„Da hatte ich einen Adrenalinschub.“, erklärte sie.

Ev schnaubte. „Sie weiß doch nicht mal was das ist.“

Sobald alles zusammen gesammelt war trug ich die Sachen zusammen mit Teddy und Evelyn zum Wagen, wo Mr. Dawson auf uns wartete. Diana kam wenige Momente später hinterher gehumpelt und jammerte darüber, dass ihr niemand half. Unser Lehrer sah uns drei daraufhin etwas finster an, seufzte dann aber und bat uns in den Wagen zu steigen.

Zu dem Zeitpunkt dachte ich, ich hätte den schlimmsten Teil meines Lebens hinter mir gelassen.

Kapitel 2

 

Wenige Tage später

Leise seufzend kuschelte ich mich enger an Tevin und war abermals erleichtert darüber, dass er bei mir war. Nur wenige Augenblicke später erfasste mich Aufregung, weil morgen sein Geburtstag war. Grinsend wie ein Honigkuchenpferd vergrub ich mein Gesicht an Tevins Hals und kicherte glücklich.

„Noch nicht.“, nuschelte er daraufhin im Schlaf, „Ich möchte noch schlafen.“

Da ich noch lange nicht vor hatte ihn zu wecken schmiegte ich meine Wange nur an seine Schulter und genoss seine Nähe.

„Du versuchst ja gar nicht mich zu wecken.“, bemerkte er plötzlich.

„Ich will selbst noch nicht aufstehen.“, entgegnete ich, sah zu ihm auf und stellte fest, dass er mich verwundert angesehen hatte.

Nun begann er aber zu lächeln und küsste mich auf die Stirn. „Hast du gut geschlafen?“

„Sehr gut sogar.“, antwortete ich und reckte mich ein wenig, um mich von ihm küssen zu lassen. Ich würde nie genug von ihm und seinen Küssen kriegen können.

Tevin seufzte leise an meinem Mund und streichelte mir liebevoll über den Rücken. „Was machen wir heute?“, fragte er halbherzig und küsste mich etwas leidenschaftlicher, als ich meine Hände in seinem Nacken verschränkte.

„Ich weiß noch nicht.“, antwortete ich darauf nur, „Aber heute übernachte ich bei Teddy.“

Verblüfft löste er sich von mir. „Du übernachtest nicht hier?“

„Ja. Ich muss etwas vorbereiten und brauche dafür seine Hilfe.“

Enttäuscht atmete er kurz aus. „Schade. Ich hab gehofft den ersten Tag meines 19. Geburtstages so beginnen zu können, wie ich ihn zu enden gedenke.“ Leicht stieß seine Nasenspitze an meine. „Mit dir in meinen Armen.“

Mir blieb beinahe die Luft weg. „Tevin.“

Anschließend verbrachten wir etwa eine halbe Stunde damit uns einfach nur zu küssen und zu kuscheln, ehe wir zusammen ins Bad gingen.

„Was möchtest du morgen denn machen?“, fragte ich ihn, als wir etwas später in der Küche saßen und frühstückten.

„Ich dachte an Kuchen. Und abends Musik und Snacks. Ein paar Freunde und vielleicht ein bisschen Alkohol.“

Genüsslich schloss ich die Augen, als ich einen Bissen Omelett aß. „Ist das lecker.“, murmelte ich leise, ehe ich zu Tevin sah. „Das klingt doch gut. Mamytė und Tėtis sind dann auch außer Haus, oder?“

„Ja.“ Er beobachtete mich eine Weile beim Essen. „Schenkst du mir etwas?“

Unwillkürlich lächelte ich und senkte den Blick. „Vielleicht.“

Seine Augen leuchteten auf. „Was ist es?“

„Wie geht es deinem Arm?“

„Es tut gar nicht mehr weh.“

Im Krankenhaus hatte es ein Arzt sorgfältig genäht und ihm dann eine Infusion angelegt. Einige Stunden später konnte er bereits wieder entlassen werden.

Als nächstes wanderten meine Gedanken zu dem Geschenk, nach dem er eben gefragt hatte. Es war ziemlich schwierig gewesen, aber nach einer eifrigen Suche hatte ich einen sehr guten Goldschmied gefunden, der mir den Schmuck schmieden konnte. Heute Nachmittag würde ich die Ketten abholen. Ich konnte es kaum erwarten sie in den Händen zu halten.

„Woran denkst du? Du siehst so verträumt aus.“

Ich blinzelte und sah zu Tevin auf. „Oh, ich hab bloß... Ich hab nur an später gedacht. Die Vorbereitungen.“

Er stützte seinen Kopf in seine Hand und beobachtete mich verträumt. Sein Teller war bereits leer. „Tanzt du morgen mit mir?“

Sanft lächelte ich ihn an. „Natürlich. Aber nur, wenn wir auch langsamen tanzen.“

„Ich habe vor nur langsam mit dir zu tanzen.“

Wieder war ich wie Butter in seinen Händen. „Ich liebe dich.“

Es sah ein wenig so aus, als würde etwas in ihm ruhiger werden. „Ich liebe dich auch.“

 

Einige Stunden später betrat ich mit Teddy den Laden des Goldschmiedes und biss mir leicht auf die Unterlippe, als ich am Tresen stehen blieb.

„Hallo.“, begrüßte ich den Herren, der uns gerade den Rücken zuwand, während er einen Diamanten schliff.

„Einen Moment.“, entgegnete er halblaut. Einen Augenblick staunte ich über diese Präzision mit der er arbeitete. Dann wendete er sich von dem Diamanten ab, legte die Schleifmaschine beiseite und drehte sich zu uns um. Er schien mich sofort wiederzuerkennen. „Ah, die junge Dame mit dem Herz und der Seele.“

Ich lächelte erleichtert. „Ja. Sind sie fertig?“

„Ich muss zugeben, ich war schon begeistert von der Zeichnung.“, entgegnete er und verschwand eine Minute im Hinterzimmer. Als er zurück kam, biss ich mir bereits wieder vor Nervosität auf die Unterlippe. „In Realität ist es umwerfend. Eigenlob stinkt ja bekanntlich, aber ich habe lediglich greifbar gemacht was die Zeichnung wiedergibt. Sehen Sie selbst.“ Er öffnete die kleine Schatulle, in der er die Anhänger aufbewahrte und stellte sie so auf den Tresen, dass ich hinein sehen konnte.

Erstaunt weiteten sich meine Augen und mein Atem stockte ein wenig.

„Unglaublich.“, flüsterte Teddy.

Abgesehen von Veit, der die Zeichnung angefertigt hatte, und dem Goldschmied ist Teddy der einzige, der die Anhänger vor Tevin zu Gesicht bekam.

Das Herz war schlicht und aus blankpoliertem Silber. Der Grund für das Erstaunen war die Seele, die in das Herz eingefügt werden konnte. Sie war Oval und der Rand, wie das Herz, aus Silber. Doch innen glitzerte ein facettenreicher Edelstein. Erst hielt ich es für einen einfachen gelben, doch als ich ihn leicht berührte, stellte ich fest, dass einige Facetten andere Farben reflektierten. Ein Azotic Topas.

„Wie viel kostet es?“, fragte ich atemlos.

Der Mann zögerte ein wenig ehe er einen Preis im dreistelligen Bereich nannte. Ich hatte ihm einen Limit genannt und ich stellte erleichtert fest, dass der Preis in etwa dem Limit entsprach. Er lag ein paar Dollar darüber, aber das war der Edelstein wert. Ich bezahlte die Anhänger bar und verließ das Geschäft zehn Minuten später.

„Ich glaube wenn ich Evelyn mal Schmuck schenke, lass ich ihn von diesem Mann machen.“, bemerkte Teddy und sah sich erneut die Anhänger an. „Wenn ich es mir so ansehe wird Tevin bestimmt darauf bestehen, dass du den Edelstein nimmst und er das Herz.“

Im Moment war mir das egal. Ich war damit beschäftigt mir vorzustellen, wie er reagieren könnte.

„Vilija.“

Vielleicht wird er sprachlos sein und versuchen das Geschenk zurück zu geben.

„Vivi.“

Vielleicht ist er auch begeistert, nimmt mich in die Arme und küsst mich. Immerhin war es etwas einzigartiges, was einen Teil von uns wiedergab.

„He... Vilija.“

Aber vielleicht gefällt es ihm auch nicht. Es ist Schmuck und Tevin hat bisher nie welchen getragen.

„Vivi.“

Als Teddy mich nun zusätzlich an der Schulter berührte, zuckte ich zusammen und sah zu ihm auf. „Ja?“

„Wollen wir nicht langsam zu mir? Du wolltest noch über etwas mit mir sprechen.“

Ich wurde etwas rot, machte mich aber mit ihm auf den Weg. „Wie läufts mit dir und Ev?“

„Sehr gut.“ Er lächelte besonnen vor sich her. „Sie ist etwas traurig, weil wir uns erst morgen wiedersehen, aber sie versteht, dass du mich brauchst.“

„Es ist schon irgendwie seltsam, dass du, mein bester Freund, mit Evelyn, Tevins beste Freundin, zusammen bist... oder anders herum ich, deine beste Freundin, mit Tevin, Evelyns bestem Freund, zusammen bin.“

Er grinste ein wenig. „Stimmt. Glücklicher Zufall, würde ich sagen.“ Locker legte er mir einen Arm um die Schultern und drückte mich ein wenig an sich. „Und zwischen euch läuft alles gut?“

„Ja.“ Ich schloss kurz die Augen, wobei ich glücklich durchatmete. „Ich hab mich noch nie so gut gefühlt. Er ist alles was ich brauche. Es ist seltsam, aber wenn er nicht da ist hab ich das Gefühl mir würde etwas fehlen. Ich fühle mich ein wenig leer und in mir ist alles in Aufruhr. Aber wenn er da ist und mich hält ist alles ganz ruhig und ich fühle mich vollständig.“

„Das, mein liebstes Zuckerschneckchen, ist Liebe.“

„Ich wäre entsetzt, wenn es etwas anderes wäre.“

Er lachte amüsiert auf. „Und ich erst.“ Kurz schüttelte er den Kopf und schwieg, bis wir sein Zimmer betraten.

Dort angekommen setzten wir uns aufs Bett, wobei ich mich entspannt nach hinten fallen ließ und die Arme ausbreitete, während er mich wartend ansah.

„Erzähl.“, bat er wenig später, „Worüber wolltest du reden?“

Röte breitete sich in meinem Gesicht aus. „Ich möchte mit ihm schlafen.“

Er blinzelte einmal... dann ein zweites Mal. Dann räusperte er sich. „Du meinst... jetzt sofort?“

„Nein!“ Lachend warf ich ihm sein Kissen ins Gesicht. „Morgen Abend. Es soll ein Teil seines Geschenks werden.“

„Solange du nicht vor hast ihm beides zur selben Zeit zu geben, sollte das kein Problem sein, denke ich.“

Verwirrt zog ich die Brauen zusammen, dachte dann aber nicht weiter darüber nach. „Ich bin nervös.“, begann ich dann und hob somit das Thema an, worüber ich eigentlich sprechen wollte.

Teddy, der sofort merkte, wann es wichtig wurde, sah mich aufmerksam an. „Warum?“

„Es ist mein erstes Mal, wie du weißt.“

Er lächelte mich warm an. „Das Thema hatten wir doch schon, nicht? Er wird dich sogar dann noch lieben, wenn du furchtbar schlecht im Bett bist.“

Ich murrte einen Moment, setzte mich dann auf und zog die Beine an, um die Arme darum zu schlingen. „Ja, das Gespräch hatten wir schon. Ich mache mir trotzdem Sorgen. Ich meine... es wird doch sicher weh tun.“

„Oh.“ Darüber hatte sich offenbar nicht einmal Teddy Gedanken gemacht. „Also...“ Nachdenklich sah er mich eine Weile an. „Ich denke, wenn du Tevin darum bittest vorsichtig zu sein, wird er das auch tun. Es gibt Möglichkeiten eine Frau vorzubereiten, damit sie keine Schmerzen hat.“

Die Tatsache, dass ich tatsächlich mit Teddy darüber sprach trieb mir noch mehr Röte ins Gesicht. Doch er war für mich da und hörte mir zu, gab mir Ratschläge. Irgendwann, als es schon dunkel wurde, gab mein Smartphone eine kurze Melodie von sich, die mir sagte, dass ich eine SMS bekommen hatte.

„Ich glaube langsam, ich verliere vorher noch die Nerven.“, merkte ich an und holte mein Smartphone hervor. „Oh. Es ist Tevin.“ Überrascht öffnete ich die Nachricht.

 

Hallo, Vilija,

ich hoffe ich störe dich und Teddy nicht bei den Vorbereitungen.

Sei morgen bitte um 15 Uhr zum Kuchen da, ja? Es ist wichtig.

Ich vermisse dich furchtbar und wünsche mir gerade nichts sehnlicher, als dich in den Armen zu halten. Komm schnell wieder.

Gute Nacht, meine Liebste.

Ich liebe dich

Tevin

 

Mir wurde warm ums Herz, als ich die Nachricht las und ein Lächeln legte sich auf mein Gesicht. „Teddy.“, hob ich an, „Ich liebe ihn so sehr.“

„Ich weiß.“, lachte er begeistert neben mir, drehte sich zur Seite und nahm mich in die Arme.

Wir trugen bereits unsere Schlafsachen und lagen in seinem Bett. Ich tippte Tevin eine kurze Antwort und legte das Smartphone dann zurück.

„Ich hab Angst vor morgen Abend.“, schloss ich dann an das Gespräch wieder an und drehte mich um, um mich an Teddy zu kuscheln.

„Glaub mir, ich war auch total nervös.“, erklärte er liebevoll, „Das ist normal.“

„Nun ja, du bist aber nicht ich und Evelyn ist auch nicht Tevin.“ Tief seufzend lehnte ich mich etwas an ihn. „Was, wenn es ihm nicht gefällt?“

„Dann stimmt irgendwas mit ihm nicht. Jetzt hör auf dir darüber Gedanken zumachen und überleg dir lieber eine Strategie, wie du ihn dazu bringen willst es auch wirklich zu tun. Nicht das er denkt, du würdest es nicht wollen.“

„Ich kann es ihm doch sagen.“

Skeptisch sah er auf mich herab. „Glaub mir, wenn es soweit ist, wirst du kein Wort darüber verlieren können.“

Das machte mich nur noch nervöser. „Oh, Teddy... Ich verliere ganz sicher vorher die Nerven.“

„Nicht doch.“ Er bettete sein Kinn an meinem Scheitel und legte mir eine Hand in den Nacken.

So verbrachten wir noch mehrere Stunden.

 

Verschlafen hob ich irgendwann am nächsten Tag den Kopf und stöhnte leise. Ich hatte noch lange mit Teddy geredet und hatte dann nicht einschlafen können. Irgendwann hatte Teddy mir eine Schlaftablette geholt, dank der ich dann schlief wie ein Stein. Doch jetzt fühlte ich mich wie gerädert.

Neben mir erwachte Teddy ebenfalls langsam. „Wie spät ist es?“, fragte er nuschelnd. Einen Moment war es still. Dann stöhnte er auf. „Gott verdammt. Vilija, wach auf. Wir haben schon zwei.“

Stöhnend schloss ich die Augen. „Oh nein.“, kam es mir dann über die Lippen. Im nächsten Moment schrie ich auf, weil Teddy mich eiskalt aus dem Bett geschoben hatte und ich so auf dem Boden landete. „Teddy!“, rief ich tadelnd aus, woraufhin er leise lachte.

„Na los, geh duschen.“

Träge hievte ich mich auf die Beine und bewegte mich in sein Badezimmer. Als ich es eine halbe Stunde später wieder verließ, war ich wieder so nervös, dass ich sogar anfing zu zappeln. Als Teddy dann noch sah, wie ich begann das Geschenk einzupacken, rollte er mit den Augen.

„Na komm.“, hob er an, „Gib her, ich mach das.“ Sanft schob er mich von seinem Schreibtisch Richtung Bett. „Mach dich weiter fertig.“

Seufzend und etwas aufgekratzt folgte ich seinem Rat und machte mir noch die Haare, während er das Geschenk einpackte. Er war ziemlich begabt darin und machte regelrechte Kunstwerke. Als ich fertig war, begann ich im Zimmer auf und ab zu gehen, während mein Blick ab und an zur Uhr glitt.

„So, fertig.“, verkündete er irgendwann, „Wenn das kein Kunstwerk ist, gehe ich Montag in Unterwäsche zur Schule.“

Neugierig hastete ich zu ihm und lächelte als ich das Geschenk sah. „Das hast du wirklich wunderschön gemacht.“, lobte ich begeistert.

„Ja ja. Jetzt nimm es schon und verzieh dich zu Tevin.“, entgegnete er amüsiert, „Sonst ist er noch beleidigt, weil du zu spät zum Kuchen kommst.“

„Du hast Recht.“, entgegnete ich und schnappte mir die Tasche, in der ich meine Sachen hatte, umarmte ihn fest und nahm das Geschenk. „Ich ruf dich morgen an und sag dir wie er reagiert hat.“

„Aber nicht zu früh.“, entgegnete er, „An einem Sonntag würde ich doch gerne ausschlafen.“

„Okay. Bis morgen.“

Ich gab ihm noch einen letzten Schmatzer und lief dann hastig hinunter, wo ich mich knapp bei den Eltern verabschiedete und dann hinaus zur Bushaltestelle lief. Ich brauchte etwa 40 Minuten, da ich den einen Bus verpasste und der andere Verspätung hatte. Als ich atemlos zuhause ankam, war es bereits 15:30 Uhr.

„Eine halbe Stunde zu spät.“, murmelte ich und atmete kurz durch. „Ich denke, er wird es mir nicht übel nehmen. Immerhin sind es nur 30 Minuten.“

Ich sammelte mich einen Moment und betrat dann das Haus.

„Ich bin wieder da!“, rief ich heiter, warf meine Tasche beiseite und begab mich sofort auf die Suche nach Tevin.

Mein erster Halt war die Küche, wo ich dann überrascht inne hielt, weil ich Schluchzen aus dem Wohnzimmer vernahm. Es klang wie Mom.

Was ist passiert?

Mamytė?“, rief ich verwundert und ging zur Wohnzimmertür, hielt Tevins Geschenk in beiden Händen. „Tėtis?“

Die beiden saßen auf er Couch. Cyntia war nicht zu sehen, ebenso wenig wie Tevin. Dad hielt Mom tröstend in den Armen, während sie weinte. Irgendwas war nicht richtig, lief gründlich verkehrt.

„Was ist passiert?“, fragte ich vorsichtig und ließ mich zaghaft in den Sessel sinken. „Mom hat doch nicht etwa wieder... ein Kind-“

Als Dad den Kopf schüttelte zog ich verwirrt die Brauen zusammen. „Es geht um Tevin.“, entgegnete er dann mit belegter Stimme.

Wenn selbst er so traurig reagierte, dann... Mein Magen verkrampfte sich. „Was... Was ist mit ihm?“

Er atmete tief durch und drückte Mom etwas fester an seine Brust. „Er hat seine Eltern kennen gelernt.“

Einen Moment fühlte ich mich, als würde ich fallen. Alles in mir zog sich vor Angst zusammen.

„Sie waren schon eine Weile in Amerika und konnte nicht länger bleiben, also haben sie ihm angeboten sie zu begleiten.“

Schmerz schnürte mir die Kehle zu, machte es mir schwer zu atmen. „Er ist noch hier, oder? Er... er ist doch nur oben, richtig?“

Ohne auf eine Antwort zu warten eilte ich aus dem Zimmer und lief die Treppe hinauf. Verzweifelt eilte ich zu seinem Zimmer, hielt dort einen Moment inne und riss dann die Tür auf. Es war leer. Nicht etwa im Sinne von menschenleer. Nein, es war verlassen. Es stand nicht wie gewohnt ein Bild von uns auf dem Nachttisch und sein Laptop stand nicht auf seinem Schreibtisch. Sein Kleiderschrank war noch offen und etwa die Hälfte seiner Kleidung war weg. Tränen schossen mir in die Augen und das Geschenk fiel dumpf zu Boden.

Im nächsten Moment lief ich nach unten ins Wohnzimmer. „Wo ist er?“, wollte ich wissen und blieb Tränen überströmt vor meinen Eltern stehen.

„Er hat seine Eltern nach England begleitet.“

Es drehte sich alles. „Nein.“, hauchte ich, „Das... das würde er nie tun. Er... Er würde mich nicht verlassen. Er würde nicht gehen, erst Recht nicht ohne sich zu verabschieden.“

„Sie sind vor einer Viertelstunde gefahren.“, brachte er leise hervor.

Einen Moment stand ich schweigend da, konnte nicht glauben, was er mir da sagte. „Warum?“, wollte ich dann wissen, „Warum habt ihr ihn gehen lassen?“

Mom wurde von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt und Dad liefen Tränen über die Wangen. „Es war seine Entscheidung.“, erklärte er dann, „Er wollte es so.“

„Das kann nicht sein!“, rief ich aus, versuchte mich gegen den Schmerz zu wehren, der mein Herz vor Angst zum rasen brachte. „Das kann einfach nicht stimmen.“

„Er ist alt genug selbst zu entscheiden. Und es sind seine Eltern.“

„Aber warum habt ihr ihn gehen lassen? Warum habt ihr nichts unternommen?“

„Das haben wir doch versucht!“, widersprach er.

„Irgendwas hättet ihr doch tun können.“ Hilflos schlang ich die Arme um mich, versuchte die Leere, die sich in mir ausbreitete, zu ignorieren. „Warum nicht?“

„Weil wir nicht konnten!“ Fest kniff er die Augen zusammen, versuchte sich zu beherrschen. „Er wollte gehen.“ Er holte tief Luft und sah dann traurig zu mir auf. „Es tut mir so leid.“

Ich konnte regelrecht spüren, wie mein Herz in winzig kleine Teile zerfiel. All die Freue, die ich noch vor wenigen Minuten verspürt hatte, wich grenzenloser Trauer, während für mich die Welt zusammenbrach.

„Sein Handy.“, erinnerte ich mich dann und ging zu meiner Tasche, um mein Smartphone herauszuholen.

„Vilija, tut das nicht.“, versuchte Tėtis mich sanft aufzuhalten und kam zu mir herüber.

„Ich kann nicht glauben, dass er einfach gegangen ist.“, entgegnete ich und wusste, dass ich es doch glaubte. „Ich muss es von ihm hören.“

„Vilija...“

Als ich die Nummer wählte, zog Tėtis mich in seine Arme, als wüsste er, dass es gleich schlimmer werden würde. Und das wurde es in genau dem Moment, in dem die Automatische Antwort mir verkündete, dass es keinen Anschluss unter dieser Nummer gab. Ein Schluchzen entwich mir, ehe ich die Nummer verzweifelt erneut wählte. Vielleicht hatte ich mich ja bloß vertippt.

Kein Anschluss unter dieser Nummer.“

„Nein.“, flüsterte ich, „Das kann nicht sein.“

Kein Anschluss unter dieser Nummer.“, verkündete die Stimme kurz darauf erneut. Und eine halbe Minute später ein weiteres Mal. Ich hörte erst auf die Nummer zu wählen, als Dad mir das Smartphone aus der Hand nahm.

„Ist schon gut.“, flüsterte er mir zu und küsste mich tröstlich auf den Schopf, während er selbst mit den Tränen kämpfte und mich ein Weinkrampf schüttelte. „Ist schon gut.“

„Warum?“, kam es mir verzweifelt über die Lippen, „Kodėl, Tėtis? Kodėl jis tai padaryti?Warum tut er das?

„Ich weiß es nicht.“ Eine seiner Tränen glitt über meine Stirn. „Aber ich bin mir sicher, dass er zurück kommt.“

Ohne darauf zu antworten verbarg ich mein Gesicht an seiner Brust und hielt mich an ihm fest.

Tevin...

 

Als am nächsten Tag, irgendwann gegen Mittag, jemand an meine Tür klopfte, blieb ich reglos in meinem Bett liegen und starte das Bild von Tevin und mir an. Es klopfte erneut.

„Vilija?“

Tėtis hatte bereits öfter geklopft. Ebenso wie Mamytė und sogar Cyntia. Diesmal war es Teddy, dem ich nicht mehr geschrieben hatte.

„Ich komme rein.“, warnte er mich vor, nachdem er ein weiteres Mal geklopft hatte.

Ich antwortete nicht, woraufhin er die Tür öffnete und eintrat.

„Vivi?“, hob er zaghaft an, schloss die Tür hinter sich und kam herüber. „Was ist los?“ Besorgt kniete er sich vor mir auf den Boden und strich mir das Haar aus der Stirn. „War gestern etwas mit Tevin? Evelyn redet nicht mit mir darüber, weil sie meint, du solltest es mir sagen.“

Einen Moment schaffte ich es meine Gefühle zu unterdrücken, doch dann traten erneut Tränen hervor. „Er ist weg.“, kam es mir über die Lippen, „Er ist weg.“

Verwirrt zog er die Brauen zusammen. „Weg? Was ist denn passiert? Vilija, rede mit mir.“

„Seine Eltern waren hier.“, erklärte ich mit erstickter Stimme, „Sie konnten nicht mehr länger in Amerika bleiben, also haben sie ihm angeboten sie zu begleiten.“

Mehr musste nicht gesagt werden. Ohne Worte legte Teddy sich hinter mich ins Bett, drehte mich zu sich um und zog mich in seine Arme, drückte mich fest an sich. Er wusste, es gab keine Worte, die mich trösten konnten. Er hielt mich einfach nur fest und wartete, bis der schlimmste Schmerz verflogen war. Dabei schien es sogar ein wenig so, als würde auch er leiden.

Immer wieder küsste er mich liebevoll auf die Stirn oder auf den Schopf und streichelte mir über den Rücken und den Oberarm, flüsterte immer wieder meinen Namen, lehnte seine Wange an meinen Scheitel.

Eine Ewigkeit später lag ich wie betäubt in seinen Armen und ließ mich von ihm halten.

„Du siehst müde aus.“, bemerkte er besorgt und traurig.

„Ich hab kein Auge zugetan.“, offenbarte ich, „Es ist so leer. Alles ist so leer.“ Ich fühlte mich wie eine leere Hülle, als hätte Tevin alles, was mich ausmachte, mitgenommen. „Warum ist er gegangen, Teddy? Ich verstehe das nicht.“

„Ich weiß es nicht.“ Sanft begann er mir übers Haar zu streicheln. „Du solltest nicht darüber nachdenken.“

„Aber es muss doch einen Grund geben, warum er sie mir vorgezogen hat.“, entgegnete ich mit rauer Stimme, „Hat er mich nicht genug geliebt? War ich ihm nicht wichtig genug? Habe ich zulange gewartet?“

„Hör auf damit. Nichts davon ist wahr. Für Tevin bist du sein Leben, sein Ein und Alles. Nichts ist ihm so wichtig wie du.“

„Offenbar doch.“, entgegnete ich gepeinigt von Schmerz und Trauer. „Sonst wäre er doch hier.“

„Es muss ihn überrascht haben. Ich bin mir sicher er war in dem Moment überfordert.“

„Warum hat er dann nicht gewartet?“

„Vielleicht war er unter Zeitdruck. Ich meine, er hatte dich gebeten um 15 Uhr da zu sein. Vielleicht hatte er was geahnt oder er wusste Bescheid.“

„Er hätte doch anrufen können.“ Ich schloss die Augen und barg das Gesicht an seinem Hals. „Ich verstehe es einfach nicht.“

„Vilija, das tut dir nur weh. Hör auf darüber nachzudenken.“

„Aber ich kann nicht. Gott, Teddy, ich liebe ihn so sehr. Ich will das doch nur verstehen.“

„Das weiß ich doch.“ Er drückte mich etwas enger an sich. „Ich weiß das, aber... du wirst es erst verstehen können, wenn er es dir sagt.“

Erneut stiegen Tränen in mir auf. „Ich weiß nicht einmal, ob ich ihn wiedersehe.“

Kapitel 3

 

Ein Jahr später

Gedankenverloren saß ich im Park und versuchte mich an Veits Zeichenlektionen zu erinnern, die er mir genannt hatte, um Dinge so gefühlvoll wie möglich zu zeichnen. Teddy und er hielten es für eine gute Idee mich nach Gefühl etwas zeichnen zu lassen. Sonst zeichnete ich alles immer sehr realistisch.

Je länger ich auf das leere Blatt meines Zeichenblockes starrte, umso leerer wurde mein Kopf und umso unruhiger wurde es zugleich in mir.

Zeichne nicht so, wie es wirklich ist.“, hatte er gesagt, „Zeichne es entsprechend deinen Gefühlen. Zeichne einen Schmetterling beschwingt, wenn du glücklich bist und Freude ausstrahlen willst. Zeichne ihn träge, wenn du müde bist. Zeichne ihn hektisch, wenn du aufgeregt oder wütend bist. Aber zeichne ihn nie so, wie er wirklich ist.“

Das war schwerer als es sich anhörte.

„Ist der Platz neben dir noch frei?“, fragte mich plötzlich jemand.

Ich nickte nur, ohne den Blick von dem Blatt zu nehmen oder sonst eine Regung zu zeigen. Am Rande realisierte ich, dass sich die Person neben mich auf die Bank setzte.

„Versuchst du zu zeichnen?“

Erneut nickte ich stumm.

„Wo ist dabei das Problem? Hier ist doch massenhaft Inspiration.“

Diesmal regte ich mich gar nicht, schwieg fast zwei Minuten. „Es fällt mir nicht ein.“, antwortete ich schließlich.

„Was fällt dir nicht ein?“

„Wie ich es zeichnen muss. Nach Gefühl.“

Er wendete sich mir zu. „Was möchtest du denn zeichnen?“

„Einen Wald. Einen einfachen Wald. Aber wie sieht ein trauriger Wald aus?“

Einen Moment schwieg er. „Warum bist du traurig?“, fragte er vorsichtig und sanft.

Einen Moment schwieg ich nur. Dann drückte ich meinen Zeichenblock an mich und stand auf. „Entschuldige mich.“

„Hey, warte.“, rief er hinterher und schien mir zu folgen. „Ich wollte dich nicht vergraueln.“

„Das haben Sie nicht, keine Sorge.“, entgegnete ich hastig und wagte es nicht ihn anzusehen.

„Aber du bist offensichtlich sehr traurig. Und es macht einen noch trauriger, wenn man nach dem Grund gefragt wird. Dafür entschuldige ich mich. Ich hasse es schöne Frauen traurig zu machen.“ Als er das sagte, stellte er sich mir in den Weg und hielt mich zaghaft an den Oberarmen fest. „Siehst du, ich hab dich da sitzen sehen, den Zeichenblock in der Hand, und dachte mir, Mensch, die sieht verdammt hübsch aus. Aber mit einem Lächeln wäre sie sicher umwerfend. Blöderweise hab ich mich zu dir gesetzt bevor ich eine Idee hatte, wie ich dich zum Lachen bringen könnte.“

Ich zögerte etwas, wendete den Kopf dann aber ein wenig ab. „Lassen Sie mich bitte gehen.“

„Erst, wenn du mir bewiesen hast, dass ich dich nicht trauriger gemacht habe. Ich will dich wenigstens lächeln sehen.“

„Es gibt keinen Grund um zu lächeln.“, entgegnete ich mürrisch und trat einen Schritt zurück.

Er machte einen Schritt auf mich zu. „Nur ein winziges Lächeln.“, bat er dann, „Wenn nicht das, dann möchte ich wenigstens dein Gesicht sehen.“ Zaghaft legte er mir zwei Finger ans Kinn und hob sanft meinen Kopf an. „Sieh mich mal an.“

Unsicher hielt ich den Blick gesenkt. „Lassen Sie mich bitte gehen.“, wiederholte ich dann.

„Ich will nur wenigstens in diese Augen sehen.“

Einen Moment kniff ich die Augen zusammen, sah dann aber etwas gequält zu ihm auf. „Was wollen Sie von mir?“

Er betrachtete mich eingehend, wobei er begann zu lächeln. Dann schwächte es sich jedoch etwas ab und er berührte mich am Augenwinkel. „Du bist wirklich sehr traurig. Wenn ich kann, würde ich das gerne ändern.“

Ich schüttelte den Kopf. „Es gibt nur eine Sache, die mich glücklich machen kann und die ist unerreichbar.“

Mit diesen Worten machte ich mich von ihm los und ging weiter.

 

Seufzend sah Keanu der jungen Frau noch hinterher, bis sie aus seinem Sichtfeld verschwunden war. Noch nie in seinem Leben war er einer Frau mit so schönen Augen begegnet. Von dem Rest wollte er erst gar nicht anfangen, aber diese Augen... einfach unbeschreiblich. Allein die Farbe war schon schwer zu benennen. Es war blau, aber auch irgendwie grau.

Nicht grau. Eher silbrig. Ein silbriges Blau mit grünen Tupfen.

Einzigartig. Wunderschön.

Und durchzogen von Trauer und Schmerz.

Ob sie jemanden verloren hat, der ihr wichtig ist?

Ein Ball traf ihn hart am Kopf, weshalb er sich unwillkürlich an den schmerzenden Körperteil fasste und sich umdrehte.

„Wir warten schon die ganze Zeit auf dich!“, rief ihm sein bester Freund zu, der ganz offensichtlich den Ball geschossen hatte. „Wo bleibst du so lange?“

„Ich bin gleich da!“, rief Keanu zurück und glitt mit dem Blick bereits wieder zu der Frau. Sie war so verdammt hübsch. Er wendete den Blick nicht einmal dann ab, als sein bester Freund neben ihn trat und seinem Blick folgte. „Kennst du sie zufällig?“, fragte Keanu ihn und beobachtete, wie ein Junge auf sie zulief und die zwei sich unterhielten.

Sein bester Freund kratzte sich kurz am Hinterkopf. „Ich hab sie schon ein paar Mal gesehen. Mal überlegen...“ Er schnipste mit den Fingern. „Vilija. Ihren Nachnamen kann ich nicht aussprechen.“ Er hob seinen Ball auf seinen Fuß und balancierte ihn ein wenig, ehe er den Ball immer wieder in die Luft kickte.

„Was weißt du von ihr?“

„Hast du etwa Interesse, Keanu?“

Dieser sah ihn nur einen Moment an und stieß dann den Ball an, als dieser in der Luft war. Seinem Freund machte das nichts aus. Mit einem sicheren Kick verfrachtete er ihn wieder dort hin, wo er ihn haben wollte, ohne dass der Ball dem Boden auch nur Nahe kam. Keanu fand sein Können schon immer Interessant, doch nun fesselte etwas anderes seine Aufmerksamkeit.

„Sag schon.“, forderte er ihn auf.

„Ich weiß nicht viel.“, antwortete sein bester Freund, schien sich bei seinem Spiel keineswegs anzustrengen. „Der Junge da ist ihr bester Freund. Theodore Vencino. Sie hat noch einen Freund, Veit Tyler, mit dem sie wohl mal zusammen war.“ Er schwieg einen Moment. „Man sagte mir mal, sie hätte einen Bruder in ihrem Alter, aber ich weiß nicht wirklich was über ihn. Er ist wohl vor knapp einem Jahr einfach gegangen.“

„Sonst noch was?“

„Eine kleine Schwester, ein weiterer kleiner Bruder. Sie wohnt noch bei ihren Eltern, aber eine sichere Quelle hat mir verraten, dass sie wohl ausziehen möchte. Sie macht bald ihren Abschluss. Ach ja, sie kann Diana Rosens nicht ausstehen, ich weiß aber nicht genau warum. Ging irgendwie um ihren Ex.“

„Veit?“

„Ich weiß nicht.“ Mit einem etwas stärkeren Kick verfrachtete er den Ball etwa auf Kopfhöhe und begann ihn auf seiner Stirn zu balancieren. „Mal ehrlich, Keanu. Wenn du dich für sie interessierst, dann sprich mit ihr.“

„Hab ich versucht. Sie ist so traurig.“

„Sie hat ihrem älteren Bruder wohl sehr nahe gestanden.“, bemerkte sein fußballbesessener Freund, „Hab Mitgefühl und sei ein bisschen hartnäckig. Ich kenne solche Mädchen, damit kommt man weiter. Vorausgesetzt sie sind normal.“ Bei den Worten warf er Keanu einen bedeutungsvollen Blick zu, der diesen dazu veranlasste mit den Augen zu rollen.

„Kannst du noch mehr herausfinden?“

„Ich kann Fragen stellen, aber erhoff dir nicht zuviel.“ Er ließ den Ball fallen und kickte ihn wieder in die Luft, ehe er ihn mit einem gezielten Tritt in Keanus Gesicht beförderte. „Genug gegafft.“

Keanu rieb sich über das schmerzende Gesicht und zog seinem Freund eins über. „Lass den Mist endlich.“

Mühelos wich dieser dem Schlag aus und nahm ihn in den Schwitzkasten. So zerrte er ihn mit sich mit. „Widme dich deinem besten Freund.“

„Ist ja gut. Lass mich los!“

„Dann drehst du dich nur wieder um...“

 

Verwirrt sah ich Teddy ins Gesicht und versuchte zu verstehen, was er mir soeben gesagt hatte. „Nochmal langsam.“, bat ich ihn und fuhr mir mit der Hand durchs Haar.

Doch statt zu antworten, sah er auf den Zeichenblock in meiner Hand. „Du hast es wieder versucht, hm? War es diesmal erfolgreich?“

Ich zeigte ihm das schneeweiße Blatt. „Nein.“

„Vielleicht fragst du mal deine Mutter?“

Unwillig senkte ich den Blick und löste mit dem Fuß ein wenig Gras von der Erde. „Jetzt sag... was war das mit Veit?“

„Seine Ausstellung ist wohl ein voller Erfolg. Allein für ein Bild hat er 3 Interessenten. Er hat wohl sogar schon 5 Aufträge. Ich hab eben mit ihm telefoniert, weißt du?“ Als ich aufsah, sah ich Sorge in seinen Augen, doch einen Vorwurf war in seiner Mimik. „Nachdem er mehrfach versucht hat dich zu erreichen und du nicht reagiert hast.“

Seufzend wendete ich den Blick ab. „Ich hab es auf stumm gestellt.“, erklärte ich.

„Schon wieder.“, murmelte er, „Wenn du wenigstens die Vibration einschalten würdest... Aber da rede ich wahrscheinlich wieder gegen eine Wand, hm?“

Seit einem gewissen Zeitpunkt tat ich das immer wieder. „Ich... brauchte einfach ein wenig Ruhe.“

„Davon brauchst du in letzter Zeit ziemlich viel. Wir sehen dich kaum noch.“ Liebevoll nahm er mich in die Arme und lehnte seine Stirn an meine. „Du kannst mit mir reden, Vilija. Das weißt du. Machst du dir wieder Gedanken wegen Tevin?“

„Nein.“, antwortete ich wahrheitsgemäß, „Es ist nur... Erinnerst du dich an diese Leere, von der ich erzählt habe?“

Besorgt zog er die Brauen zusammen. „Ja.“

„Sie ist immer noch da.“, hauchte ich, „Ich fühle mich so... einsam. Irgendwie... nun ja, leer. Mehr als zuvor.“

Er seufzte leise. „Seit vorgestern ist er genau ein Jahr in England.“, bemerkte er halblaut, „Das macht dir wahrscheinlich zu schaffen.“ Er bettete meinen Kopf an seiner Schulter und legte sein Kinn auf meinen Scheitel. „Na komm, gehen wir zu mir oder zu dir?“

Ich atmete tief durch. „Kann ich bei dir schlafen?“

„Natürlich.“ Eine Minuten blieben wir noch so stehen, ehe er sich von mir löste, freundschaftlich meine Hand nahm und sich mit mir auf den Weg machte.

„Wie geht es Veit?“, fragte ich halblaut und sah auf den Weg vor mir.

„Ruf ihn doch an und frag ihn selbst.“, schlug Teddy vor und drückte kurz meine Hand.

„Ich weiß nicht... vielleicht ist er ja... beschäftigt.“

„Früher hätte dich das nicht gekümmert.“, murmelte er, „Und du weißt, dass Veit sich gerne Zeit für dich nimmt.“

Schweigend gingen wir eine Weile nebeneinander her. Am liebsten würde ich über irgendwas nachdenken, aber die einzigen Momente, in denen ich mich konzentrieren konnte, ohne dass meine Gedanken abdrifteten, war in der Schulzeit oder wenn ich Hausaufgaben machte. Nicht einmal meine Zeichnungen konnten mich jetzt fesseln.

„Woran denkst du gerade?“, fragte Teddy neugierig.

„An die Schule.“, murmelte ich, „Nächste Woche ist der Abschlussball.“

„Hast du schon eine Begleitung?“

„Ich weiß nicht, ob ich hingehe.“

„Wenn es sein muss schleife ich dich dahin.“, versicherte er mir, „Du gehst hin, ob du willst oder nicht.“

„Ich würde nur herum sitzen.“

„Dann sorgen wir eben für eine Begleitung, die dich ablenkt.“

„Wen denn? Du gehst mit Evelyn und Veit hat Loreley gebeten.“ Loreley war ein wunderschönes schüchternes junges Mädchen und seit etwa einem halben Jahr mit ihm zusammen. Veit hatte mir erzählt, dass sie denken würde, ich möge sie nicht, weil ich mit Veit zusammen war und nun sie an dieser Stelle ist.

„Wir finden schon einen.“ Einen Moment grübelte er vor sich hin. „Simon ist keine Option, oder?“

Ich verzog das Gesicht.

„Und Fidor?“

„Teddy, er spricht mit seinen Fischen. Ich finde ihn ganz nett, aber ich bin nicht verzweifelt.“

Er zögerte etwas. „Mir fällt auch gerade ein, dass er mit Magda hingeht.“ Eine kurze Pause. „Sehen wir es optimistisch. Fidor hat eine Begleitung gefunden, also finden wir für dich auch eine. Du bist wunderhübsch, freundlich, witzig und-“ Er unterbrach sich selbst, als er auf mich herab sah. „Ich kenne da einen, den wirst du bestimmt mögen.“

Ich seufzte tief und bog mit ihm in seine Straße ein. „Lassen wir das. Ich gehe einfach nicht hin und fertig.“

„Ach was. Du gehst. Dafür werden Veit und ich schon sorgen.“

„Was möchte Veit denn machen? Er ist in Atlanta.“

„Ja, aber er kommt dieses Wochenende zurück, schon vergessen?“

Ein schlechtes Gewissen machte sich in mir breit. Ich hatte es tatsächlich vergessen.

„Ich mache mir Sorgen um dich.“ Sanft drückte er meine Hand. „Du wirkst manchmal irgendwie... desorientiert, wenn du verstehst was ich meine.“

Ich seufzte leise. Wenige Minuten später betraten wir sein Zimmer, wo ich mich einfach kraftlos in sein Bett fallen ließ und den Teddybären an meine Brust zog, den ich ihm einmal geschenkt hatte. Statt sich zu mir zu setzen, wie er es früher immer getan hatte, setzte er sich an den Schreibtisch und fuhr seinen Laptop hoch.

„Ich muss kurz meine E-Mails checken.“, erklärte er, „Der Vermieter wollte mir schreiben, ob die Wohnung zum ausgemachten Termin bereits renoviert ist und wir einziehen können.“

Wir wollten zusammen ziehen. Im Vertrag sollten nur er und ich stehen. Evelyn würde ganz in der Nähe einziehen, war noch nicht bereit mit ihm zusammen zu ziehen.

Noch drei Monate...dann ist es soweit.

Schweigend beobachtete ich ihn dabei, wie er seine E-Mails las und ein oder zwei Antworten schrieb, ehe er den Laptop zuklappte und zu mir herüber rollte.

„Okay.“, hob er an, „Möchtest du etwas trinken? Hast du Hunger?“

Einen Moment dachte ich nach. „Du machst echt leckeres Ei auf Toast.“

„Mit einem Glas Milch?“

„Ich liebe dich.“

Lächelnd stand er auf, küsste mich auf die Schläfe und verließ dann das Zimmer. Ich blieb einfach liegen und dachte nach. Zumindest versuchte ich es. Letzten Endes musste ich eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffnete war es deutlich dunkler. Als Rücksicht auf mich hatte Teddy das Licht aus gelassen und las etwas am Laptop. Trotz des Nickerchens war ich immer noch müde, setzte mich aber dennoch auf. Teddy bemerkte es sofort und drehte sich zu mir.

„Hab ich dich geweckt?“, fragte er aufmerksam.

„Nein. Alles okay.“

„Gut. Ich hab dein Essen abgedeckt. Ich kann es in die Mikrowelle stellen, wenn du willst.“

„Ja bitte.“

„Okay. Gib mir fünf Minuten.“

Mit diesen Worten verließ er erneut das Zimmer. Tatsächlich brauchte er vier Minuten und setzte sich mit mir an seinen Schreibtisch. Still aß ich die Mahlzeit, trank das Glas leer und saß dann eine Weile mit ihm herum, ehe er die Sache in die Küche brachte und dann wieder den Laptop zuklappte.

„Bist du noch müde?“

„Ja.“

Wortlos ging er zu seinem Schrank, holte eine Shorts und ein Shirt heraus und reichte sie mir, woraufhin ich in das Badezimmer ging und mich fürs Bett fertig machte. Als ich zurück kam, war er bereits umgezogen und wartete an seinen Schrank gelehnt. Einen Moment stand ich einfach nur in der Tür und sah ihn an, während er zurück sah. Schließlich ging ich einfach zu ihm und nahm ihn in die Arme.

„Tut mir leid, dass ich dir solche Sorgen bereite.“, murmelte ich halblaut, während er mich an sich drückte.

„Das ist okay. Du hast es nicht leicht.“ Eine Zeit lang standen wir einfach nur da und umarmten uns. Dann löste er sich sanft von mir und schob mich zu seinem Bett. „Na komm. Leg dich hin, Kleines.“

Seufzend legte ich mich mit ihm hin, kuschelte mich an ihn und schloss die Augen.

„Er hat sich nie gemeldet.“, bemerkte ich irgendwann.

Teddy, der offenbar kurz davor gewesen war einzuschlafen, hob abrupt den Kopf. „Wie bitte?“

„Er hat nie angerufen oder geschrieben. Er hat auch nie auf meine Anrufe reagiert.“

„Aber- Er-“ Er stoppte kurz und setzte sich leicht auf. „Was denkt er sich dabei?“

Da ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte, blieb ich schweigend liegen und drückte ihn etwas enger an mich.

„Ich kenne euch schon seit wir alle klein waren. Ich weiß, dass du Tevin alles bedeutest. Ich hab sogar manchmal das Gefühl wir könnten unsere Gedanken teilen.“ Die Art und Weise wie er das sagte, verriet mir, dass es ein halber Scherz war. Allerdings nur ein halber... „Trotzdem verstehe ich wirklich nicht was in ihm vorgeht, dass er sowas macht. Ich meine, er muss doch wissen, dass es irgendwo eine Grenze gibt. Er kann doch nicht so weiter machen. Denkt er überhaupt?“

„Teddy-“

„Entschuldige, Vilija.“ Er seufzte leise. „Tut mir leid, aber … du bist meine allerbeste Freundin und er ist es, der dir das Herz raus gerissen hat. Du kannst dir wahrscheinlich nicht vorstellen wie wütend ich auf ihn bin. Seit er weg ist hast du nicht ein einziges Mal gelacht. Ich hab dich seit dem nie aus Freude lächeln sehen. Du bist so verdammt anders und ich weiß einfach nicht wie ich dir helfen kann.“

„Aber du hilfst mir doch.“, widersprach ich.

„Aber nicht gut genug.“, entgegnete er, „Würde ich dir die richtige Hilfe geben, dann wärst du nicht … nicht mehr... so. Du bist so... traurig. Es gibt kein Wort um das zu beschreiben. Wenn wir uns sehen möchte ich dich am liebsten in Watte packen, festhalten und so lange drücken, bis du nicht mehr traurig bist. Aber das hilft nicht. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst, aber du brauchst mehr. Allerdings weiß ich nicht was. Das macht mich verrückt.“

„Es ist okay, Teddy. Du bist mein allerbester Freund. Du musst nicht mehr tun als für mich da zu sein.“

„Ich will dir richtig helfen, Vilija.“ Er schob mir einen Arm unter den Kopf und legte ihn mir dabei um die Schultern. „Du bist kein Mensch, der traurig sein sollte. Du solltest strahlen vor Glück. Wie die Sonne.“

Mit Tränen in den Augen bettete ich meinen Kopf an seiner Schulter und schlang die Arme um ihn. „Danke, dass ich dich hab. Nach Tevin warst du für mich immer der wichtigste Mensch in meinem Leben.“

„Noch vor deinen Eltern?“

Mein Mundwinkel zuckte. „Eltern sind eine Priorität für sich.“

„Nun... da hast du Recht. Obwohl deine Eltern ja schon ziemlich cool sind.“

Ich seufzte tief. „Naja, seit Enio da ist, ist ziemlich viel los.“

Enio war das neueste und somit jüngste Familienmitglied. Mein neuer kleiner Bruder. Er war nun 5 Monate alt und richtig süß... wenn er nicht gerade schrie, was offenbar leider seine einzige Tätigkeit zu sein schien. Er schrie fast immer, wenn er nicht aß oder schlief. Das machte meinen Eltern ziemlich zu schaffen. Cyntia hatte sogar Ohrenstöpsel bekommen. Glücklicherweise hatte ich keinen Unterricht mehr, weil die Prüfungen bereits alle geschrieben wurden, und musste deshalb nicht früh aufstehen.

„Ich glaube, meine Eltern werden nun wahrscheinlich keine weiteren Kinder mehr haben wollen.“, fügte ich noch hinzu.

„Warum schreit er eigentlich so viel?“

„Ich weiß nicht. Mamytė und Tėtis haben schon einen Termin beim Arzt, damit er ihn untersuchen kann.“

„Verstehe. Du bekommst aber sicher nicht viel Schlaf?“

„Ohne Tevin sowieso nicht.“, murmelte ich.

Er seufzte leise. „Wir haben Schlaftabletten. Wenn du eine nehmen möchtest...“

Ich zögerte ein wenig. „Na gut. Probieren wir das mal aus.“

Er küsste mich kurz auf die Stirn und stand dann auf. Kurz darauf kam er mit einer kleinen Dose, einem Zettel und einem Glas Wasser zurück.

„Der Beipackzettel.“, bemerkte er, stellte die Dose und das Glas auf seinem Nachttisch ab und schaltete die kleine Lampe darauf an. „Mal sehen wie hoch die Dosis sein sollte, damit es wirkt.“

Gemeinsam begannen wir uns den Zettel anzusehen, witzelten über die Nebenwirkungen und kamen schließlich zu dem Entschluss, dass zwei Tabletten eine gute Dosis waren. Nachdem ich sie genommen hatte, legten wir uns wieder hin und machten es uns gemütlich.

Eine Viertelstunde später schlief ich tief und fest.

 

Ich wusste nicht wie lange ich nun überhaupt insgesamt geschlafen hatte, aber als ich aufwachte war es bereits nach Mittag und ich war allein im Zimmer. Etwas verwirrt, weil ich das erste Mal seit etwa einem Jahr relativ gut geschlafen hatte, setzte ich mich auf und rieb mir den Traum aus den Augen, ehe ich etwas träge aufstand und, auf der Suche nach Teddy, hinunter ging. Es stellte sich heraus, dass ich gar nicht erst suchen musste. Ich konnte ihn bereits hören, als ich die Treppe hinunter ging.

„Nein, sie hat noch geschlafen.“, sagte er gerade, „Ich weiß es nicht, aber ich mache mir trotzdem Sorgen.“

Die Tatsache, dass es zwischen diesen Sätzen still war, sagte mir, dass er telefonierte.

„Abgesehen von dem Üblichen.... ja, es geht ihr gut. Es war eine gute Idee ihr eine Schlaftablette anzubieten.“ Einen Moment war es still, dann seufzte er leise. „Ich weiß nicht. Sie sagt, sie will nicht hin. - Ja, das hab ich auch gesagt, aber ich glaube, sie zweifelt daran, dass wir das schaffen.“

Ich belauschte ihn nicht gern, aber es klang ein wenig, als würde er mit Veit sprechen.

„Ich glaube nicht, dass irgendwer in deinem Freundeskreis sensibel genug wäre. - Das hab ich gar nicht behauptet. Wir müssen halt erst mal suchen.“ Wieder schwieg er eine Weile, diesmal überraschend lange. „Das ist eine bescheuerte Idee. - Sie ist meine allerbeste Freundin. Natürlich finde ich, dass das eine bescheuerte Idee ist. - Frag nicht so blöd. Denk darüber nach was du gerade vorgeschlagen hast. Ich denke ja es wäre besser mit ihr in den Park zu gehen und erst mal zu gucken wer da so ist. Du verstehst, was ich meine?“

Verwundert zog ich die Brauen zusammen.

„Du bist ein Idiot.“ Er seufzte tief. „Na gut, lass uns weiter reden, wenn du wieder hier bist. - Klar. Wenn nötig trage ich sie zum Flughafen. - Okay, bis dann.“

Eine Minuten blieb ich noch schweigend an der Treppe stehen, atmete dann aber leise durch und ging zur Küche, von wo ich seine Stimme gehört hatte. Sobald ich sie betrat, drehte er sich zu mir um und lächelte mich an.

„Da bist du ja. Tut mir leid, dass ich schon weg war. Ich wollte dich nicht wecken.“, erklärte er liebevoll und ging bereits zum Kühlschrank. „Hast du Hunger?“

„Nein Danke.“, murmelte ich, „Und es ist okay... wegen eben.“

„Möchtest du nicht wenigstens ein Ei oder Pfannkuchen? Es sind noch welche von heute Morgen übrig.“

„Nein Danke.“, wiederholte ich, „Ich habe dich eben reden hören.“

Er blinzelte. „Ach so. Veit hat nach dir gefragt, weil er dich wieder nicht erreicht hat. Du solltest wenigstens mal zurückrufen.“

„Er kommt doch eh am Wochenende zurück.“, entgegnete ich halblaut und lehnte mich an den Türrahmen.

„Früher hättest du wenigstens eine SMS geschrieben.“

Ich schwieg einen Moment, stieß mich dann aber vom Türrahmen ab und drehte mich um. „Ich gehe duschen.“

Er seufzte leise, sagte aber nichts.

Als ich eine Stunde später wieder hinunterging, saß Teddy im Wohnzimmer und las. Diesmal schien er mich gar nicht zu bemerken. Einen Moment dachte ich darüber nach, ob ich mich verabschieden sollte, ehe ich ging, doch dann würde er bestimmt darauf bestehen mich nach hause zu bringen.

Leise trat ich von der Tür weg und verließ so still wie möglich das Haus. Den Zeichenblock und den Stift in der Hand machte ich mich auf den Weg nach hause und ließ die Gedanken wieder einmal schweifen. Ich fühlte mich ein wenig wie betäubt, nahm die Umgebung kaum wahr. So kam es eine Weile später dazu, dass ich, als ich die Straße überqueren wollte, ein Auto übersah. Es bremste mit quietschenden Reifen und hielt nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Erschrocken konnte ich nichts anderes tun als es mit großen Augen anzusehen. Im nächsten Moment stieg der Fahrer bereits aus.

„Entschuldigen Sie bitten vielmals. Geht es Ihnen gut?“, fragte er mich besorgt.

Ich brauchte einen Moment um zu bemerken, dass ich auf einem Zebrastreifen stand. Dann nickte ich langsam. „Ja, mir geht’s gut. Danke der Nachfrage.“

Er nickte mir zu und stieg wieder ein, woraufhin ich weiter ging und mich zwang etwas aufmerksamer zu sein. Zehn Minuten später stellte ich allerdings fest, dass ich wieder mit den Gedanken woanders hing.

Ich seufzte tief. „Es ist hoffnungslos.“

„Was ist hoffnungslos?“

Ich blieb abrupt stehen und sah mich verwirrt um, bis ich rechts von mir, auf einer Mauer, ein zwei Beine entdeckte. Verwundert sah ich auf und blickte dem Jungen entgegen, der sich am vorigen Tag zu mir auf die Bank gesetzt hatte.

„Oh.“, bemerkte ich und entspannte mich. „Sie sind es nur.“

„Sag Du zu mir.“, bat er mich daraufhin und sprang von der Mauer herunter. „Heute siehst du ja trauriger aus als gestern.“, bemerkte er dann überrascht, „Darf ich dich ein Stück begleiten?“

Unsicher wendete ich mich ab. „Wenn es sich nicht vermeiden lässt.“

Als ich weiter ging, ging er gemütlich neben mir her und beobachtete mich von der Seite. „Wie heißt du?“

Ich starrte vor mir auf den Weg und ignorierte seinen Blick. „Vilija.“

„Vilija.“, wiederholte er halblaut, „Ein schöner Name.“

„Danke.“

„Ich bin Keanu.“

Da ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte, drehte ich das Gesicht ein wenig von ihm weg.

„Ich frag mich ob du einfach schüchtern bist oder zurückhaltend.“

Ich atmete kurz tief ein. „Keins von beidem.“, entgegnete ich kurz darauf und warf ihm einen kurzen Blick zu.

„Dann bist du also einfach nur still, ja?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Wird wohl so sein.“

Er steckte die Hände locker in die Hosentaschen. „Ich hab noch nie eine so hübsche Frau gesehen.“

Ich warf ein Blick auf seinen gebräunten Unterarm. „Dann kommt die Bräune wohl mehr aus dem Solarium, als von der Sonne.“

Er lachte leise. „Nein, die Bräune kommt von der Sonne, aber die Frauen die ich bisher gesehen habe... Die waren nicht so schön wie du. Schwarze Haare und blaue Augen sind eine seltenere Mischung, als die meisten denken.“

Ich schwieg erneut vor mich hin.

„Bekomme ich deine Handynummer?“

„Nein.“

„Dachte ich mir.“ Er seufzte leise. „Na gut, dann... würdest du mit mir ausgehen?“

Ich zögerte einen Moment. „Nein.“

„Wie wäre es dann mit einem einfachen Treffen? Kein Date.“

„Nein.“

„Warum nicht?“

Diesmal sah ich zu ihm auf, blieb stehen und wollte ihm bereits sagen, dass es jemanden in meinem Leben gab, hielt dann aber inne. Er blieb ebenfalls stehen und sah wartend auf mich herab, während ich ihn ein wenig musterte. Wie ich bereits bemerkt hatte, war er braun gebrannt von der Sonne, wie er selbst gesagt hatte. Außerdem hatte er unglaublich blondes Haar, dass ihm bis ans Kinn reichte und ein wenig zerzaust aussah. Seine Augen funkelten hellblau. An sich war er ein attraktiver junger Mann, war schlank, hatte ein paar Muskeln an den richtigen Stellen und ein Gesicht, für das viele Frauen niederknien würden. Allerdings hatte ich bereits ein Ideal und es gab niemanden, der es erreichen konnte.

All das war allerdings nichts gegen den Anblick, den er bot, als ihn plötzlich ein Ball am Kopf traf. Überrascht weiteten sich meine Augen, während er sich in die Richtung drehte, aus der der Ball gekommen war. Der Kerl, der offenbar geschossen hatte, grinste ihn nur amüsiert an.

„Hör damit auf, verdammt.“, fuhr Keanu ihn an, als er näher kam. „Irgendwann werf ich den Ball in die nächste Tonne.“

„Das würdest du dich nie wagen.“, entgegnete der andere und hob seinen Ball auf.

Er trug ein Trikot, kurze Shorts und Fußballschuhe. Neben Keanu wirkte er beinahe blass. Sein Haar war dunkelrot und die Augen irritierenderweise olivgrün. Ich vermutete, dass er sich die Haare gefärbt hatte, allerdings könnte die Farbe sogar natürlich sein. Gleichzeitig fiel mir auf, wie seidig die Haare aussahen und wie lang und dicht seine Wimpern waren.

Nachdenklich betrachtete ich ihn erneut, da er mir langsam irgendwie bekannt vorkam. Woher kenne ich ihn...

„Hallo Vilija.“, begrüßte er mich lächelnd und reichte mir die Hand. „Wir kennen uns nicht persönlich, aber ich bin mit Kash befreundet.“

Der Name kam mir ebenfalls bekannt vor. „Kash...“, wiederholte ich grübelnd.

„Kraig Markash.“, versuchte er es, „Ein Freund von Tevin.“

Da machte es Klick. „Ah... Kraig.“, stimmte ich dann zu und rollte mit den Augen. „Die Bohnenstange.“

Sein Mundwinkel zuckte. „Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an meinen Namen. Ich bin Seth MacGavin.“

Ich schnipste mit den Fingern. „Du kamst mir gleich bekannt vor.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast vor drei Jahren in den Blumentopf von Teddys Mutter gekotzt und dann versucht Rosen hinein zu pflanzen.“

Keanu brach in Gelächter aus, während Seth rot wurde. „Das war mein Bruder.“, entgegnete er, „Ich war der, der ihn später aus dem Blumentopf herausgeholt hat.“

„So?“ Einen Moment dachte ich darüber nach, seufzte dann aber leise. „Kann sein.“

„Wie geht es Teddy?“

„Gut.“

„Und... Tevin?“

Ich senkte den Kopf. „Ich wäre froh, wenn ich wenigstens das wüsste.“

„Warum?“ Verwundert sah er mich an.

Ich sah bedrückte zu Boden. „Weißt du es nicht? Er ist vor etwa einem Jahr mit seinen Eltern nach England gegangen.“

„Mit seinen... Moment...“ Irritiert fuhr er sich durchs Haar. „Mit deinen Eltern?“

„Nein. Mit seinen.“

„Aber.... Er ist doch dein Bruder. Habt ihr da nicht dieselben Eltern?“

„Kommst du vom Mond?“, entgegnete ich verdutzt, „Ich dachte, du kennst Tevin.“

„Ja, das tue ich- Ich meine, nein. Das tue ich nicht, aber ich kenne Tevin. Nur nicht sehr gut.“

„Er ist adoptiert.“

Stille trat ein, die nur von zwei vorbeifahrenden Autos unterbrochen wurde.

„Adoptiert.“, wiederholte Keanu langsam.

Ich sah ihn einen Moment an, sah dann wieder zu Seth auf. „Noch Fragen?“

„Ja.“ Er nahm den Ball in die andere Hand. „Wie geht es dir? Wenn mich nicht alles getäuscht hat, waren du und Tevin euch doch sehr nahe, oder?“

Ich machte einen Schritt von ihm weg. „Das waren wir. Und mir geht es gut. Entschuldige mich jetzt bitte, ich muss nach hause.“

Ohne auf eine Antwort zu warten drehte ich mich um und ging hastig weiter.

 

„Musstest du dazwischen kommen?“, fragte Keanu Seth genervt, während er Vilija wieder hinterher sah. „Sie wollte mir gerade sagen, warum sie nicht mit mir ausgehen will.“

„Sie ist verletzt, das ist der Grund.“, entgegnete Seth, „Und jetzt weißt du auch mehr über sie und ihren Bruder.“

„Du hast mir nicht gesagt, dass du Vilija kennst.“

„Tue ich auch nicht. Ich bin nur mit einem Freund ihres Bruders befreundet.

Keanu rollte mit den Augen. „Haarspalterei. Wie treffe ich mich mit ihr, wenn sie sich nicht mit mir treffen will?“

„Das hab ich dir schon gesagt. Bleib hartnäckig. Aber sei nicht aufdringlich.“

„Das dürfte nicht so schwer sein. Kommst du morgen mit an den Strand?“

„Willst du wieder den Mädchen imponieren?“

„Ich will nur Surfen.“ Gemütlich machten sie sich auf den Weg zum nächsten Park. „Du bist es, der den Mädchen imponieren will.“

 

Als ich zuhause ankam, rief ich einen kurzen Gruß durchs Haus, während ich direkt die Treppe ansteuerte, um in mein Zimmer zu gehen.

„Vilija?“, rief Tėtis aus dem Wohnzimmer.

„Ja?“

„Komm bitte gleich her.“

„Mach ich.“

Nun... das vergaß ich. Eine halbe Stunde später lag ich im Bett und hing wieder sinnlosen Gedanken nach, die mich daran hindern sollten an Tevin zu denken.

Was macht er jetzt wohl? Ob er mich vermisst?

Als es an der Tür klopfte, seufzte ich leise. „Herein.“

Dad sah herein und hob eine Braue. „Ich hatte dich gebeten nach unten zu kommen.“

„Entschuldige.“, murmelte ich, „Ich... habs vergessen.“

„Tevin hat sich immer noch nicht bei dir gemeldet, oder?“

Erschöpft von all der Traurigkeit drehte ich mich auf die Seite. „Nein.“ Mir erschien das Bett ohne ihn so groß. Es kam mir so vor, als könnten drei Personen darin liegen.

„Violeta und ich wollen versuchen seine Eltern zu erreichen.“

Ich murrte zustimmend.

Er seufzte leise. „Isst du heute mit zu Abend?“

„Wahrscheinlich nicht.“

„Hast du heute denn schon etwas gegessen?“

„Nein.“

Besorgt setzte er sich zu mir ans Bett und streichelte mir übers Haar. „Wie wäre es, wenn wir nächste Woche an den Strand fahren? Vilija fährt mit Cyntia und Enio für die Woche zu Jolie und Callum. Dann sind wir nur zu zweit.“

„Das klingt schön.“

„Wir können auch ins Kino gehen. Wolltest du nicht auch in den Zoo? Wir haben eine Woche lang Zeit um das zu machen was du möchtest.“

Das klang sehr verlockend. „Der Zoo klingt fantastisch.“, bemerkte ich dann und sah zu ihm auf. „Gehen wir auch Chinesisch essen?“

„Wenn du willst jeden Tag. Wir können auch einen Tag in die Mall und shoppen. Dann kannst du dich auch mal so richtig austoben.“

Shoppen war nicht ganz das, was mir in den Sinn kam. „Daddy? Können wir... für zwei Tage wegfahren? Oder für drei?“

„Natürlich.“

Ohne Zögern setzte ich mich auf und ließ mich von ihm in die Arme ziehen. „Danke.“

„Wie klingt Monterey?“, fragte er kurz darauf, „Ein hübsches Hotel am Strand.“

Ich kuschelte mich etwas an ihn. „Du bist der beste Dad der Welt.“

Er lachte leise und küsste mich auf den Schopf. „Und du die beste Tochter.“ Er machte eine kurze Pause. „Schon einen Plan für den Abschlussball?“

„Ich bleibe zuhause.“, antwortete ich direkt und sah zu ihm auf. „Es gibt nur noch eine Person, die ich als Begleitung annehmen würde.“

„Eine?“

„Ja. Teddy geht mit Ev, Veit geht mit Loreley.“

„Ah, verstehe. Wenn du willst frag ich Andrew, ob er sich Zeit nehmen kann.“

Das erste Mal seit langem unterdrückte ich ein Lachen. „Er wäre viel zu sehr damit beschäftigt den Mädchen aus dem Weg zu gehen.“

„Wie wäre es dann mit Jaydon?“

„Da wäre es das gleiche Spiel.“

„Na gut. Dann frag ich Darven.“

„Dad, wie wäre es mit jemandem, der sich nicht am laufenden Band verstecken müsste? Frag gar nicht erst, ob du mich begleiten kannst. Dich meinte ich mit meiner Frage ebenfalls.“

Er lachte leise. „Du machst es einem wirklich nicht leicht.“

„Das muss ich wohl von Mamytė haben.“

„Oh, garantiert. Von mir hast du das nämlich nicht.“

Amüsiert barg ich das Gesicht an seiner Brust.

„Möchtest du mit runter kommen?“

„Ich bleibe lieber hier.“

„In Ordnung.“ Er küsste mich ein letztes Mal auf die Stirn und löste sich dann von mir, ehe er das Zimmer verließ.

Zehn Sekunden später war die gute Laune wieder verflogen und ich ließ mich zurück ins Bett fallen.

Warum ist Tevin gegangen?

Als wenig später mein Smartphone klingelte, hob ich den Kopf und holte es heraus, um auf das Display zu sehen.

Theodore Vencino

Ich atmete kurz durch und hob dann ab. „Hey.“

„Du bist einfach gegangen.“, stellte er ohne Umschweife fest.

Ich sagte dazu nichts.

„Warum?“

Wieder schwieg ich, wüsste nichts, was ihn besänftigt hätte.

„Du hättest wenigstens Bescheid geben können.“

„Ich wollte dich nicht stören.“

„Du störst nie und das weißt du auch, also ist das kein Argument.“

„Ich wollte bloß... etwas allein sein.“

„Das willst du in letzter Zeit ständig.“

Ich seufzte leise. „Ich wollte dich nicht verletzen.“

„Oh, nein. Ich verstehe dich ja. Du bist immer noch sehr verletzt und weißt nicht, was du tun sollst.“ Selbst am Telefon las er mich wie ein Buch. „Das ist doch verständlich nach dem, was Tevin da gebracht hat.“

„Aber das rechtfertigt nicht mein abweisendes Verhalten.“

„Aber es erklärt es.“ Er machte eine kurze Pause. „Du brauchst eine gehörige Portion Ablenkung.“

Einen Moment zögerte ich. „Dad verbringt die nächste Woche mit mir. Wir fahren in den Zoo, gehen an den Strand und für ein paar Tage fahren wir nach Monterey.“

Er schwieg so lange, dass ich bereits dachte, er würde gar nichts mehr dazu sagen. „Nach Monterey?“, frage er dann, „Wie lange? Und wann genau?“

„Ich weiß noch nicht. Drei Tage oder so.“

„Sei aber am Tag des Abschlussballs wieder da.“

„Ich gehe nicht hin, Teddy.“

„Das wirst du.“, widersprach er, „Und wenn du allein gehst, aber du gehst hin. Wenn es sein muss trage ich dich. Die Chance auf einen Abschlussball zu gehen hast du nur einmal. Lass dir das nicht verderben, weil Tevin sich wie das Letzte benommen hat.“

„Teddy!“

„Das ist doch die Wahrheit!“

„Ist es nicht. Er wird seine Gründe gehabt haben.“

„Er hätte sich wenigstens von dir verabschieden oder sich melden müssen. Es ist jetzt ein Jahr her und von ihm kam nichts! Du weißt nicht mal ob er überhaupt dort angekommen ist, geschweige denn warum er überhaupt gegangen ist.“

„Vielleicht hat er sein Handy verloren.“

„Es gibt noch andere Wege. Und wenn er wollte hätte er einen Weg gefunden, sei es auch nur ein schlichter Brief. Und versuch jetzt nicht mir zu sagen, er hätte die Adresse vergessen. Du weißt genauso gut wie ich, dass das sehr unwahrscheinlich ist.“

„Hör auf damit.“

„Nein.“, entgegnete er, „Du redest dir all diese Dinge ein und hoffst, dass ihn irgendwas daran gehindert hat. Ich weiß, dass du denkst, dass er irgendwann zurück kommt und es dir erklärt. Aber ich will nicht zusehen, wie du Monat um Monat, wahrscheinlich bald Jahr um Jahr auf ihn wartest und zerbrichst.“ Mit jedem Satz den er sprach wurde er etwas lauter.

„Er kommt zurück!“

„Das kannst du nicht mit Sicherheit sagen! Ja, er hat dich geliebt, aber wer kann schon sagen wie es heute, morgen oder in einem Jahr aussieht? Wer kann dir sicher sagen, dass er nicht jemand anderen kennen gelernt hat.“

Mein Herz krampfte sich zusammen. „Sag sowas nicht...“

„Vilija, ich bitte dich. Mach die Augen auf. Du kannst so nicht weiter machen. Das ganze letzte Jahr hast du dich immer mehr zurück gezogen. Man bekommt dich kaum noch zu Gesicht. Du hattest jetzt so viel Zeit über ihn hinweg zu kommen. Wenn du dir selbst nicht in den Hintern treten kannst, dann mach ich es für dich.“

„Warum tust du das?“

„Du sollst wieder Spaß am Leben haben und lachen können.“

„Aber ohne Tevin-“

„Verdammt Vilija!“ Nun war er wirklich wütend. „Es gibt noch andere Kerle. Tevin ist nicht der einzige Mann auf diesem Planeten. Hör auf so selbstsüchtig zu sein und komm aus deinem Versteck raus! Wenn du das selbst nicht tust, hol ich dich eigenhändig, darauf kannst du dich verlassen.“

„Ich will keinen außer Tevin.“

„Dann komm damit zurecht, dass er nicht da ist!“

„Schrei mich bitte nicht an.“

Er atmete heftig durch und schwieg dann eine Weile. „Ich meinte es ernst, Vilija. Du bist nicht mehr die, die mal meine beste Freundin war. Ich will dich um nichts auf der Welt verlieren.“ Er stoppte kurz. „Ich hol dich morgen früh ab. Zieh dir was gemütliches an.“

Ich seufzte leise, woraufhin er, ohne eine Antwort abzuwarten, auflegte. Der Schmerz, den er jedoch angerichtet hatte, war so groß, dass es mir eine Weile schwer fiel zu atmen.

Tevin kommt zurück. Da bin ich mir ganz sicher...

Kapitel 4

 

Ich lag noch im Bett und schlief, als Teddy plötzlich herein platzte.

„Na komm!“, rief er aus und kam herüber, „Steh auf, Vilija!“

Rücksichtslos griff er nach meiner Decke und riss sie weg, hielt dann aber überrascht inne.

„Vivi?“

„Noch eine Stunde.“, murmelte ich und kugelte mich etwas mehr zusammen.

Er seufzte tief. „Hast du wieder versucht ihn anzurufen?“

Der Anrufer ist momentan leider nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.

Das hatte ich. Immer wieder.

„Na komm, gehen wir duschen.“ Vorsichtig nahm er mir das Smartphone aus der Hand und legte es auf meinen Nachttisch. Dann hob er mich sanft auf die Arme und wendete sich wohl gerade um, als plötzlich mein Smartphone begann zu klingeln.

Sofort riss ich die Augen auf und wendete mich aus Teddys Armen, um mein Smartphone zu ergreifen, nur um dann verwundert inne zu halten, als ich sah, was auf dem Display stand.

Unbekannte Nummer.

Teddy stand wartend neben mir und sah auf das Display. Nach einem Zögern hob ich schließlich ab.

„Hallo?“

„Hallo. Spreche ich mit... Vilija Kemmesies?“, ertönte eine Männerstimme.

Enttäuschung machte sich in mir breit, weshalb ich die Schultern sinken ließ. „Ja.“

Teddy drückte mich sanft.

„Hier ist Leonas. Ich bin der Cousin deines Vaters.“

Verwundert trat ich von einem Fuß auf den anderen. „Okay.“

„Ich habe leider keine aktuelle Handynummer und auch keine Festnetznummer. Ich hab deine Nummer von Rima.“

„Okay. Was gibt’s?“

„Ich... Kann ich vielleicht deinen Vater sprechen?“

Ich rieb meine Hand an meinem Oberschenkel. „Er ist gerade nicht da. Er ist heute im Büro und kommt erst heute Abend zurück.“

„Verstehe. Sagst du ihm bitte, dass ich dringend mit ihm sprechen muss? Ich gebe dir meine Nummer durch.“

„Natürlich.“

Ich ging an meinen Schreibtisch und schrieb die Nummer auf, die er mir diktierte, ehe wir uns verabschiedeten und ich auflegte. Dann drehte ich mich zu Teddy um und stellte verdutzt fest, dass Veit an der Tür stand. Zwischen den beiden hin und her sehend hob ich langsam die Hand und zeigte auf Veit, ehe ich zu Teddy sah.

„Er ist wieder da.“, bemerkte ich dann.

Teddy lächelte matt. „Nachdem ich mit ihm gesprochen hab hat er den nächsten Flieger genommen.“

„Ich hätte wirklich nichts dagegen, wenn du mich begrüßt.“, bemerkte Veit und schürzte die Lippen. „Ein Kuss wäre nicht schlecht.“

„Loreley hätte sicher was dagegen.“ entgegnete ich, ging aber zu ihm herüber, um ihn in die Arme zu nehmen.

„Nein. Ich hab Schluss gemacht.“

Verwirrt sah ich zu ihm auf. „Warum?“

Nun zog er die Brauen zusammen und sah auf mich herab. „Hast du das nicht mitbekommen? Wir haben uns einfach auseinander gelebt. Ich hab mich schon vor drei Wochen von ihr getrennt.“

Schuldbewusst verzog ich das Gesicht. „Tut mir leid.“

„Schon in Ordnung. Dir geht ja immer noch einiges durch den Kopf, wie ich gehört hab.“

„Gehst du trotzdem mit ihr auf den Ball?“

„Natürlich. Das haben wir bereits vor Monaten abgesprochen. Aber jetzt lass mich mal beiseite.“ Er schnippte mir an die Stirn. „Was ist hier oben drinnen? Du wartest jetzt knapp über ein Jahr auf ihn. Die meisten hätten schon nach 6 Monaten die Nase voll. Spätestens.“

„Nicht du auch noch.“ Ich löste mich von ihm und trat zwei Schritte zurück. „Es gibt keinen anderen mit dem ich zusammen sein will.“

„Klar. Kein Problem. Aber nur weil er dann gerade nicht da ist solltest du dich nicht wie eine Schildkröte in einem Panzer verkriechen.“ Erneut schnippte er mir an die Stirn.

„Aua.“ Ich schob seine Hand weg. „Lass das.“

„Dann hör auf so ein leidendes Gesicht zu machen und hab Spaß am Leben.“

„Ich habe Spaß.“

„Ja klar. Und ich bin Catwoman.“ Er rollte mit den Augen, legte mir einen Arm um die Schultern und bugsierte mich aus meinem Zimmer. „Teddy und ich meinen es ernst. Wirklich ernst. Du hast keine Freude mehr am Leben und das müssen wir ändern, sonst vegetierst du nur so vor dich hin wie eine querschnittsgelähmte Anaconda.“

Skeptisch sah ich ihn an, als er mit mir ins Badezimmer ging. Noch skeptischer wurde ich, als er begann sich auszuziehen. „Veit?“

„Ich denke wir fangen damit an, dass du-“

Teddy unterbrach ihn abrupt, indem er ihn am Kragen packte und aus dem Bad zog. „Sie geht allein unter die Dusche.“

„Aber-“

„Kein aber.“

Wortlos zog Teddy hinter sich die Badezimmertür zu, woraufhin ich allein zurück blieb. Schwer seufzend zog ich mich aus und stieg unter die Dusche, wobei ich mir durch den Kopf gehen ließ, was Veit gesagt hatte. Wenig später kam ich nicht umhin leise zu kichern.

„Querschnittsgelähmte Anaconda.“, murmelte ich vor mich her und hob das Gesicht in den Wasserstrahl. „Veit ist verrückt.“

Eine Stunde später war ich mal wieder auf dem Weg in den Park. Veit hatte Zeichensachen mitgenommen und Teddy telefonierte mit Evelyn, die wohl ein dringendes Anliegen hatte.

„Du sagtes es sei kein Problem, wenn ich allein mit Vivi zusammen wohne.“, sagte er, als wir den Park betraten. „Wo ist plötzlich das Problem?“

„Ärger im Paradies.“, neckte Veit ihn und sah sich nach einer hübschen Ecke um.

„Du kennst uns doch. Sie ist meine allerbeste Freundin.“

„Hast du schon versucht nach Gefühl zu zeichnen?“, fragte Veit neugierig und sah zu mir herüber.

„Ja. Aber ich wusste nicht wie.“

„Verstehe...“ Erneut sah er sich aufmerksam um. „Du wolltest einen Wald zeichnen, richtig?“

„Ja.“

„Dann frag ich eben Veit, ob er mit einziehen will.“, schlug Teddy vor und schien mit den Nerven am Ende zu sein. „Wir schlafen in getrennten Zimmern! Und wir haben schön öfter im selben Bett geschlafen, wie du weißt. - Was soll das denn jetzt heißen?“

„Willst du nicht zu ihr gehen?“, fragte Veit und verzog ein wenig das Gesicht, als Teddy weiter argumentierte. „Vielleicht fällt es euch zwei ja einfacher auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, wenn ihr euch nicht am Handy anschreit.“

„Sei still, ich schrei doch gar nicht. - Nicht du, Evelyn. Ich hab mit Veit gesprochen.“ Kurz darauf stöhnte er auf. „Ev... Ich hab gerade wirklich keinen Nerv für so ein Gespräch. Lass uns morgen darüber reden. - Aber- Na gut. Gib mir eine halbe Stunde.“ Während er das sagte, blieb er resigniert stehen und sah zu uns. Noch während er auflegte erklärte er, dass er zu Evelyn ging, um sie zu beruhigen.

„Mach nur.“, meinte Veit, „Viel Glück.“

„Danke.“

„Bis dann.“, murmelte ich halblaut.

Teddy, der sich bereits abgewand hatte, hielt inne und drehte sich nochmals zu mir, um mich fest in die Arme zu ziehen. „Tu mir bitte den Gefallen und sei nicht so traurig.“, bat er mich, ehe er mir einen Kuss auf den Mund drückte. „Langsam ertrage ich das nicht mehr.“

„Tut mir leid.“

„Ich weiß.“ Er tätschelte mir leicht den Kopf. „Viel Spaß euch zwei.“

„Danke.“

Er lächelte mich versöhnlich an, nickte Veit zu und machte sich dann auf den Weg zu Evelyn.

„Ist bei den beiden alles in Ordnung?“, fragte ich Veit zaghaft.

„In letzter Zeit streiten sie häufig. Teddy ist ziemlich angespannt und Evelyn macht das sehr nervös und empfindlich.“, erklärte er und ging mit mir weiter. „Hier ist ein guter Platz.“, bemerkte er kurz darauf und bedeutete mir mich auf eine Bank zu setzen, um die er herum ging und sich dann hinter mir an der Rückenlehne abstützte, um mir über die Schulter zu sehen. „Dann zeig mal.“, forderte er mich auf und drückte mir Block und Stift in die Hand.

Seufzend lehnte ich mich einen Moment zurück, lehnte mich dabei unbewusst an Veit, und besah mir die Umgebung. Er hatte Recht. Der Platz war ideal. Vor uns zog sich eine Reihe dicht aneinander stehender Bäume, die aus dem richtigen Blickwinkel wie ein kleiner Wald aussahen.

„Fang am besten mit einer Skizze an.“, schlug er vor.

Murrend schlug ich den Block auf, zog ein Bein an, um den Block an meinem Knie zu stützten und begann zu skizzieren. Da ich bereits geübt darin war Bäume zu zeichnen, war es nicht sehr zeitaufwendig die Skizze anzufertigen. Eine halbe Stunde später beugte Veit sich etwas weiter herunter.

„Genau so.“, bemerkte er, „Aber das ist ja die kleinere Schwierigkeit. Jetzt musst du den Bäumen die richtige Form geben. Statt sie kräftig aussehen zu lassen willst du sie ja traurig zeichnen. Wie stellst du dir einen kraftlosen Baum vor?“

„Auf dem Boden liegend.“, entgegnete ich trocken, „Immerhin kann die Wurzel ihn dann nicht mehr halten.“

Er schnalzte mit der Zunge. „Das ist zu sachlich. Stell dir vor der Baum wäre menschlich. Du bist sehr lange traurig, also weißt du, wie ein trauriger Mensch aussieht. Jetzt musst du das auf die Bäume übertragen.“

Tief seufzend versuchte ich es mir vorzustellen und begann die Skizze zu ändern. Eine Viertelstunde später seufzte Veit leise. „Vilija.“, hob er amüsiert an, „Die sehen genauso aus wie vorher.“

„Ich kann das nicht.“, entgegnete ich daraufhin mutlos und legte den Zeichenblick neben mich. „Ich zeichne realistisch. Ich zeichne Wasserfälle, tropische Wälder, Lichtungen, Seen, aber keine traurigen Bäume.“

Wortlos nahm er den Block, setzte sich neben mich und nahm mir den Stift aus der Hand. Dann schlug er das bezeichnete Blatt um und begann selbst zu zeichnen, während er mir alles erklärte.

„Siehst du?“, fragte er einige Zeit später und zeigte mir die Zeichnung. Bei ihm sah es so... fantastisch aus. Die Bäume wirkten tatsächlich traurig und dennoch schien es so, als wären sie real.

„Keanu!“, ertönte plötzlich eine Stimme.

Im nächsten Moment sah ich genau diesen mit Seth' Fußball an uns vorbeilaufen, gefolgt von einem Seth, der ziemlich wütend aussah.

„Gib mir den Ball zurück, sonst drehe ich dir den Hals um!“

Überrascht sah ich den beiden hinterher und beobachtete verwundert, dass Keanu offensichtlich deutlich schneller war als Seth, der selbst ein erstaunlicher Sprinter sein musste.

„Wenn du mir den Hals umdrehen möchtest, musst du erst mal schneller werden!“, rief Keanu lachend zurück.

Seth schien daraufhin beinahe zu verzweifeln, als ihm klar wurde, wie viel schneller Keanu doch war. „Verdammt, K.! Gib ihn zurück!“

„Hol ihn dir!“

„Vilija...“

Ich riss den Blick von den beiden los und sah zu Veit. „Hm?“

„Verstehst du es jetzt?“

Ich seufzte tief. „Ich verstehe es schon, aber ich denke mir fehlt das Talent dafür. Dafür hast du ja auch diverse Schwierigkeiten damit Dinge eins zu eins abzuzeichnen.“

„Hey, das stimmt doch gar nicht.“, widersprach er verärgert.

Ich nickte. „Oh doch.“

Er schüttelte den Kopf. „Das bildest du dir ein.“

„Wollen wir wetten ich kann es besser?“

Er verengte die Augen. „Na gut. Ich zeichne zuerst, nehme das Bild heraus und dann zeichnest du.“ Er deutete auf die Ansammlung von Bäumen. „Und zwar genau diesen Anblick.“

Ich nickte. „Abgemacht.“

„Der Verlierer muss dem Gewinner einen Wunsch seiner Wahl erfüllen.“

Zustimmend nickte ich und schlug ein. „Abgemacht.“

Mit einem letzten Nicken wendete er sich ab, hielt den Block so, dass ich seine Zeichnung nicht sehen konnte und schlug seine Zeichnung um, ehe er begann eine neue anzufertigen. Er war gerade zwei Minuten dabei, als mein Smartphone vibrierte und direkt danach begann zu klingeln.

Ohne den Blick von Veit zu nehmen holte ich es hervor und hob ab. „Ja?“

„Hallo Kleines.“, begrüßte mich Mom, „Ich wollte nur wissen, ob du heute Abend zum Abendessen da bist. Dein Vater macht Cepelinais.“

„Ich bin da.“, entgegnete ich darauf nur und kam nicht umhin mich auf das Essen zu freuen. „Ich wette, wenn ich frage kommt Teddy auch gern.“

„Ich sag ihm, dass er extra viel machen soll. Wenn nicht alles leer wird kann man ja den Rest morgen zum Frühstück essen.“

„In Ordnung. Bis später.“

„Bis später.“

„Dein Vater?“, fragte Veit, ohne mit dem Zeichnen inne zu halten.

„Nein. Das war Mamytė. Tėtis macht heute Cepelinais.“

„Zepe- was?“

Cepelinais.“, wiederholte ich, „Sie wollte wissen, ob ich mitesse.“

Er warf mir einen kurzen Blick zu. „Was ist das?“

Ich rollte mit den Augen. „Abendessen.“

Er murrte. „Zicke.“

Daraufhin streckte ich ihm provokant die Zunge raus.

„Ist das ein Angebot?“, fragte er neckisch und grinste mich an.

„Nein. Zeichne weiter.“

Eine halbe Stunde später riss er die Zeichnung vorsichtig heraus und gab mir Zeichenblock und Stift. „Jetzt du.“

Wortlos nahm ich die Dinge entgegen, drehte mich so, dass er die Zeichnung nicht sehen würde und fing an. Ich wusste nicht wie oft ich bereits solche realistischen Zeichnungen angefertigt hatte. Jedenfalls genügte es um innerhalb einer Stunde eine exakte Kopie des Ausblicks zu zeichnen. Sobald ich fertig war hob ich den Kopf und sah zu Veit.

„Fertig.“

„Gut. Jetzt brauchen wir einen dritten, der sie vergleicht.“

Er begann gerade sich umzusehen, als ich einen Fußball im Hohen bogen über uns herüber fliegen sah. Kurz darauf schrie Seth auf, während ich hörte, wie der Ball hinter Veit und mir im Wasser landete.

„Reg dich ab.“, hörte ich den näher kommenden Keanu sagen, „Ich hol ihn ja schon.“

Seth folgte ihm wütend. „Ich hab dir schon tausend Mal gesagt, du sollst den Ball nicht herum schießen. Du triffst ein Ziel nicht einmal, wenn du direkt davor stehst.“

„Ein Grund mehr deinen Ball herum zu schießen.“

Als Keanu mich bemerkte, blieb er abrupt stehen und sah mich überrascht an. „Hallo.“, begrüßte er mich dann ebenso verblüfft.

„Du kannst gleich flirten.“, ging Seth dazwischen, ehe ich etwas sagen konnte und schob ihn weiter. „Hol erst meinen Ball aus dem Wasser.“

Seufzend ging Keanu weiter und griff nach dem Saum seines Shirts. Als ich den beiden hinterher sah stellte ich fest, dass der Ball sich nun deutlich weiter in der Mitte des Sees befand. Zumindest konnte ich nun nachvollziehen, warum Keanu sich plötzlich auszog. Was mich allerdings wunderte war, dass er eine Schwimmhose unter seiner Alltagshose trug. Eine dieser Modelle, die eng anlagen. Unwillkürlich biss ich mir auf die Unterlippe und betrachtete ihn ein wenig. Seine Muskeln waren ausgeprägter als ich dachte. Wahrscheinlich machte er regelmäßig Sport.

„Sag bloß, der gefällt dir.“, bemerkte Veit neben mir überrascht.

Keanu und Seth, die ihn wohl gehört hatten, sahen überrascht zu uns, woraufhin ich Veit kräftig anstieß. „Rede keinen Unsinn. Ich warte bloß darauf, dass er fertig ist, damit ich ihm die Zeichnungen zeigen kann.“

Als Seth bemerkte, dass Keanu sich nicht bewegte, stieß er ihn an. „Jetzt mach schon. Er treibt immer weiter weg.“

Die Augen verdrehend ging Keanu ans Wasser und watete hinein, bis das Wasser tief genug war. Dann begann er zu schwimmen und ich war erstaunt wie schnell er war. Er musste ziemlich kräftige Arme und Beine haben, wenn er so schnell schwamm.

„Keanu ist Hawaiianer.“, bemerkte Seth nebenbei und kam herüber. „Er liebt Surfen, deshalb schwimmt er viel.“ Als er neugierig zu meinem Zeichenblock sah, griff ich nach Veits Bild und hielt es ihm hin.

„Sieh dir das bitte an.“, bat ich ihn und beobachtete, wie er es betrachtete.

„Das sieht richtig gut aus.“

Veit grinste mich siegessicher an.

Dann drehte ich den Block um. „Was sieht realistischer aus?“, fragte ich ihn dabei.

Überrascht sah er auf meine Zeichnung. Dann sah er hin und her. „Sind die nicht... identisch?“ Verwundert nahm er auch den Block und hielt die Bilder nebeneinander, ehe er sich plötzlich umsah und die Baumgruppe betrachtete, die Veit und ich gezeichnet hatte. Plötzlich machte er ein seltsam ersticktes Geräusch. „Fuck.“, murmelte er dann und sah sich erneut die Zeichnungen an.

Als Keanu keine halbe Minute später mit dem Ball aus dem Wasser kam, stellte er sich neben ihn und sah sich die Zeichnungen an. „Was ist das?“

„Welches sieht realistischer aus?“, gab Seth die Frage weiter, „Das sind... Zeichnungen von den Bäumen dort.“

Keanu folgte seinem Blick kurz und wischte sich Tropfen aus dem Gesicht, ehe er erneut ungläubig die Zeichnungen betrachtete. „Das da.“, meinte er schließlich und zeigte auf eines der Bilder.

Leider in einem Winkel, dass ich nicht erkennen konnte, welches er meinte.

„Denke ich auch.“, stimmte Seth zu und ließ Veits Zeichnung sinken, um meine Zeichnung mit den Bäumen zu vergleichen. „Das ist gut, verflucht.“

Nun doch etwas verdutzt stand Veit auf und ging um die Bank herum, um sich meine Zeichnung anzusehen. Dann seufzte er tief und fluchte leise.

„Na gut.“, meinte er dann nachgiebig und legte den Kopf in den Nacken. „Du hast gewonnen. Wie auch immer du das gemacht hast.“

„Ich habs doch gesagt.“, entgegnete ich und warf einen Blick auf Keanu.

„Hast du das etwa gezeichnet?“, fragte Keanu erstaunt und stützte sich an Seth ab, um das Bild etwas mehr aus der Nähe zu betrachten.

„Hat sie.“, antwortete Veit für mich, „Sag schon, was soll ich machen?“

Ich seufzte tief und war bereits in Versuchung ihm ironischerweise zu sagen, er solle Tevin zurück holen. Dann kam mir jedoch ein anderer Gedanke. „Sorg bitte dafür, dass ich nicht auf den Abschlussball gehen muss.“

„Was? Ist das dein Ernst?“

„Ja.“

Einen Moment starrte er mich an, dann drehte er sich um und begann zu fluchen. „Theodore dreht mir den Hals um.“, bemerkte er unglücklich, „Warum? Ich meine, was ist so schlimm daran hinzugehen?“

„Was ist so schlimm daran nicht hinzugehen?“, entgegnete ich gereizt und wendete mich ab.

„Man feiert nur einmal in seinem Leben so einen Abschluss.“, bemerkte Keanu, „Da sollte man dann auch hingehen.“

„Sehe ich genauso.“, stimmte Seth zu.

„Das bringt nichts.“ Veit seufzte tief. „Theodore und ich haben ihr schon viele logische Gründe genannt. Es ist ihr egal. Sie geht nur mit einer Person hin und der ist nicht da.“

Ich wusste nicht, was dann passierte, aber Seth begann leise zu lachen. „Das meinst du nicht ernst.“

„Doch.“, entgegnete Keanu, „Es ist mein voller Ernst.“

„Das wirst du nicht machen.“

„Hinder mich doch dran.“

Ohne auf eine Antwort zu warten trat Keanu vor mich, hockte sich hin und grinste wie ein kleiner Junge. „Ich möchte mich mit dir treffen.“

„Das Thema hatten wir schon mal.“

„Woher kennen die zwei sich?“, fragte Veit Seth hinter uns.

„Ja, aber du hast mir nicht gesagt warum.“, entgegnete Keanu und ignorierte Seth' Antwort.

„Weil es schon jemanden in meinem Leben gibt.“ Gelangweilt stützte ich meine Ellenbogen an meinen Knien und meinen Kopf an den Händen ab.

„Wer auch immer es ist, er scheint sich nicht gut genug um dich zu kümmern.“

„Keanu, das ist wahrscheinlich eine schlechte-“

„Was weißt du denn schon?“, unterbrach ich Seth und sah Keanu wütend an.

„Ich weiß, dass die einzige Person, mit der du auf den Ball gehen willst, nicht da ist und auch jetzt nicht an deiner Seite ist.“ Er hob eine Braue. „Ich sehe dich jetzt zum dritten Mal und du siehst jedes Mal trauriger aus. Wenn der Kerl sich gut um dich kümmern würde, würdest du Lächeln wie die Sonne.“

Du solltest strahlen vor Glück. Wie die Sonne.

Verärgert wendete ich mich von ihm ab und biss die Zähne aufeinander.

„Ein Kerl sollte für seine Freundin da sein und sie glücklich machen, nicht traurig.“, fuhr Keanu fort, „Irgendwas macht deiner also falsch.“

„Als wenn du das besser könntest.“, entgegnete ich spitz.

„Wahrscheinlich schon.“, lachte er daraufhin heiter, „Wenn er nicht einmal jetzt bei dir ist dürfte das ein leichtes sein. Es ist vielleicht nicht das leichteste der Welt eine wunderschöne Frau glücklich zu machen, aber unmöglich ist es nicht, egal was sie durchgemacht hat. Wenn du mir eine Chance gibst beweise ich es dir.“

Nachdenklich zog ich die Brauen zusammen und knirschte mit den Zähnen.

„Wahrscheinlich sagst du aber sowieso wieder nein. Wenn sich herausstellt, dass ich Recht habe, müsstest du dir immerhin eingestehen, dass dein Kerl nicht so toll ist wie du denkst.“

„Du weißt nicht mal von wem wir sprechen.“, warf ich bissig ein und sah ihn finster an.

„Das muss ich nicht. Jeder Anwesende sieht, dass er dir zur Zeit nichts Gutes tut. Du willst es wahrscheinlich nur nicht wahrhaben.“

„Als wenn du das wissen würdest.“

„Ich behaupte ja nicht, dass es so ist. Ich sage nur, dass es wahrscheinlich ist.“

„Das läuft auf dasselbe hinaus.“, zischte ich genervt.

„Wie wäre es damit? Ab heute gehst du genau zwei Wochen mit mir aus. Wenn du danach immer noch so unglücklich bist, dann gestehe ich, dass ich falsch lag und wir vergessen das ganze. Sollte ich es aber schaffen dich zum Lächeln zu bringen, weil du Spaß hast, dann gibst du mir eine faire Chance.“

Als er mir die Hand hinhielt, starrte ich sie an, als würde sie mein Verderben bedeuten. Ich schluckte einige Male und in mein Kopf begann es zu rattern.

„Du hast dabei doch nichts zu verlieren.“, bemerkte er, „Warum zögerst du also noch?“

Ich seufzte tief und wendete den Blick ab. „Vielleicht gefällst du mir ja nicht.“

Nun begann er zu grinsen. „Dann hättest du schon viel früher etwas gesagt.“

Da mir ansonsten kein logisches Argument einfiel, gab ich gereizt nach und ergriff seine Hand. „Zwei Wochen. Nicht länger.“

„Ich glaub nicht, dass er das geschafft hat.“, murmelte Seth.

Keanus Gesicht hellte sich etwas auf. „Du wirst es sicher nicht bereuen, Kleines.“

Als ich meine Hand zurück ziehen wollte, hielt er sie fest und hob eine Braue.

„Da wäre etwas, was ich gerne versuchen würde, jetzt wo... du mir ein Treffen nicht mehr ausschlagen kannst.“

Misstrauisch sah ich ihn an, wägte ab, ob ich danach fragen sollte. „Was... wäre das?“, fragte ich schließlich.

„Ich glaubs nicht, dass sie darauf reingefallen ist.“, hörte ich Veit sagen, als Keanu plötzlich an meiner Hand zog, sodass ich regelrecht auf ihn fiel.

Mit einer flüssigen Bewegung fing er mich auf, drückte mich an sich und rollte sich mit mir herum, sodass ich unter ihm lag, ehe er mich küsste. Ich lag ein paar Augenblicke überwältigt da, nicht fähig mich zu bewegen. Dann wurde mir klar, was er da eigentlich tat und ehe ich registrieren konnte wie schön der Kuss eigentlich war, stieß ich ihn von mir herunter und schlug nach ihm. Das Geräusch von meiner Hand auf seiner Wange schien erstaunlich laut zu sein. Tatsächlich war ich sogar überrascht, dass ich ihn erwischt hatte und beobachtete drei Sekunden lang, wie die Haut erst weiß und dann knallrot wurde. Dann sah ich ihn jedoch wütend an und stand auf.

„Tu das nie wieder.“, warnte ich ihn dann.

Er dagegen begann zu lächeln wie ein zufriedener Kater. „Also, das war es alle Mal wert.“

„Keanu.“, hob Seth seufzend an, „Du bist ein Idiot. Du bist zwar gut, aber du bist ein Idiot.“

Nun warf ich Seth einen finsteren Blick zu, woraufhin er abwehrend die Hände hob. „Ich meinte seine Fähigkeiten als Surfer, nicht seine Fähigkeit als Casanova. Du bist erst das zweite Mädchen, an dem er Interesse zeigt und sonst hat er sich nie an eine ran gemacht.“

„Und ich bin Wolfman.“, bemerkte Veit und rollte mit den Augen.

„Wolfman und Catwoman.“, wiederholte ich, „Widerspricht sich das nicht sogar mehrfach?“

„Ich bin eben vielseitig begabt.“ Er wackelte anzüglich mit den Brauen, woraufhin ich mir theatralisch ans Herz fasste.

„Du hast Recht. Ich konnte dich nie vergessen.“ Ich hielt mir die Hand an die Stirn. „Jede Nacht musste ich an dich denken...“ Dann sah ich ihn wieder ernst an. „Zumindest in deinen Träumen.“

Sein Mundwinkel zuckte. „Du bist wirklich gemein geworden, weißt du das?“

„Das musst du dir einbilden.“

Als Keanu mir plötzlich einen Arm um die Taille legte, sah ich mit zusammen gezogenen Brauen zu ihm auf.

„Was hast du jetzt vor?“

Jetzt gehe ich mit dir aus.“, antwortete er.

Am Rande bemerkte ich, dass er sich angezogen hatte, war jedoch mehr damit beschäftigt ihn verwirrt anzusehen. „Ausgehen?“

„Das gehört dazu, wenn man miteinander geht. Man geht aus. Jetzt komm, Kätzchen. Ich weiß schon wohin ich mit dir als erstes gehe.“

Flehend sah ich zu Veit, der amüsiert beobachtete, wie Keanu sich mit mir umdrehte und Richtung Ausgang ging.

„Viel Spaß.“, formte er lautlos mit dem Mund und hob aufmunternd beide Daumen.

Der wird mir ganz bestimmt nicht helfen.

Verdammt.

 

Ich versuchte einen möglichst gleichgültigen Eindruck zu machen, als Keanu mit mir Hand in Hand durch eine Einkaufsstraße ging. Tatsächlich fragte ich mich jedoch die ganze Zeit was er vorhatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich vermutete, dass wir einfach nur herum schlenderten. Ab und zu blieb er mit mir stehen und sah sich ein paar Dinge im Schaufenster an, während ich ihn schweigend begleitete. Doch mittlerweile wurde es spät und er hatte offenbar kein präzises Ziel vor Augen.

„Hattest du nicht irgendwas mit mir vor?“, fragte ich ihn nachdenklich.

„Ja.“, antwortete er gelassen und warf mir ein kurzes Lächeln zu, ehe er sich ein paar Dinge im Schaufenster einer Modeboutique ansah. „Wir sind auch gleich da.“

Als wir weitergingen seufzte ich leise und fragte mich, was er nun meinte. Dann steuerte er plötzlich ein bestimmtes Gebäude an. Erst als ich die mir bekannte symbolische Schere neben dem Eingang sah wurde mir klar, dass er mich zum Friseur schleppte.

„Ein Friseur?“, fragte ich ihn perplex.

Amüsiert grinste er mich an. „Jep.“

Wie von selbst griff ich mit meiner freien Hand zu meinem Haar. Meine andere Hand würde er wahrscheinlich nicht einmal dann loslassen, wenn ich ihm weh tat. „Warum zum Friseur?“

Er zupfte an seinen Strähnen. „Ich brauche weibliche Beratung. Die Besitzerin des Friseursalons ist eine Freundin meiner Mutter, deshalb schneidet sie sie mir kostenlos. Wenn du willst kannst du dir ja die Spitzen schneiden oder ein paar Stufen rein machen lassen. Da du sowas wie meine Freundin bist macht sie das für dich sicher auch umsonst.“

Ich blinzelte überrascht, wobei mir durch den Kopf ging, dass ich tatsächlich einen Haarschnitt gebrauchen könnte. Seit Tevin gegangen war hatte ich meine Haare etwas vernachlässigt.

„Na gut.“, seufzte ich schließlich und betrat mit ihm den Laden. „Kann ja nicht schaden.“

„Gut.“

„Keanu! Schön das du da bist.“, wurde er kurz darauf von einer großen Blondine begrüßt, die ihn überschwänglich drückte und dann eingehend musterte. Da ich diesen Friseur bisher immer aufgesucht hatte, um mir die Haare zu schneiden, wusste ich wer sie war. „Meine Güte, du siehst immer mehr aus wie dein Vater. Lass mal sehen.“ Neugierig nahm sie sein Kinn und drehte sein Gesicht einmal hin und dann her. „Kaum zu glauben. Soll der Teufel ihn holen, du siehst wirklich aus wie er.“

„Du solltest aufhören alle zum Teufel zu wünschen.“, bemerkte Keanu amüsiert.

„Was soll ich denn sonst mit ihnen machen?“ Dann fiel ihr Blick auf mich und es schien ein wenig, als würde sie mich fast sofort erkennen. „Oh! Vilija. Ich hab dich ja ewig nicht gesehen.“

Ich verzog den Mund, hatte tatsächlich verdrängt, dass sie mit meinen Eltern befreundet war.

„Wie geht es deinen Eltern?“

„Gut.“

„Violeta sieht wirklich furchtbar müde aus. Ist irgendwas passiert?“

„Nein, alles in Ordnung. Mein kleiner Bruder ist nur etwas anstrengender als alle dachten.“

„Oh, wie schade. Und was ist mit deinem älteren Bruder? Den habe ich auch nicht mehr gesehen seit... oh nun... seit...“

„Etwa einem Jahr.“ Ich atmete kurz durch. „Er ist weggegangen.“

„Weggegangen?“ Verwirrt schob sie mich sanft zu einem der Waschbecken, fragte erst gar nicht was zu tun war. „Warum? Und wohin?“

„Weggegangen.“, bestätigte ich und sah an die Decke, während sie begann meine Haare zu waschen. „Nach England, glaube ich.“

„Große Güte, was will er denn da? Er studiert doch nicht etwa in Oxford?“

Wenn es wenigstens das wäre... „Nein. Er ist für längere Zeit dort.“

„Hat ihm denn dein Geburtstagsgeschenk damals gefallen? Das hast du mir nie erzählt.“

Tränen traten mir in die Augen, als ich mich an die Ketten erinnerte. Sie lagen, immer noch säuberlich verpackt, in einem Fach meines Schranks, direkt neben dem Geschenk seines letzten Geburtstages. Es war eine einfache Fotografie, aber ich hatte mir viel Mühe mit dem Motiv gegeben.

„Ich weiß es nicht.“, antwortete ich auf die Frage und schloss gequält die Augen.

„Hat er es etwa nicht ausgepackt bevor er gegangen ist? War es so knapp?“

„Er ging noch bevor ich es ihm geben konnte.“

Mit dem Handtuch an meinem Haar hielt sie überrascht inne. „Oh. Das tut mir leid. Ihr habt euch sehr nahe gestanden.“ Ich konnte beinahe das Lächeln in ihrer Stimme hören, als sie, auf dem Weg zum Friseurstuhl, weitersprach. „Ich erinnere mich noch gut daran, wie er dich angesehen hat, während du hier gesessen hast. Ich könnte schwören er hielt dich für einen Engel.“

Erneut schloss ich die Augen. „Offenbar hat es nicht gereicht.“

„Ach was. Er kommt doch wieder, oder nicht?“

„Ich weiß es nicht.“

„Aber... redet ihr denn nicht?“

„Nein.“

Tatsächlich fiel ihr die Schere herunter. „Nein?“, hakte sie nach, als hätte ich soeben etwas unmögliches behauptet.

„Nicht ein einziges Mal.“

„Oh... Kind. Das muss dich ja ganz verrückt gemacht haben. Ein Glück, dass du so eine starke junge Frau bist. Ich bin froh, dass du einen jungen Mann wie Keanu gefunden hast. Er ist ein guter Kerl, weißt du? Und ich bin froh, dass er dich gefunden hat.“

Ich öffnete bereits den Mund, um sie zu korrigieren, hielt dann aber inne.

„Weißt du, er hat es nie sonderlich leicht gehabt. Sein Vater sieht ihn als Nachfolger seiner Millionenfirma und seine Mutter sieht in ihm ein geniales Genie. Schon als Kind musste er früh viel lernen und hatte kaum Zeit zum Spielen. Erst mit 16 fing er an zu rebellieren und verbrachte den ganzen Tag am Strand von Hawaii.“

„Er ist also echter Hawaiianer?“

„Zur Hälfte, ja. Seine Mutter ist Hawaiianerin. Sein Vater ist Amerikaner.“

Nachdenklich starrte ich durch den Spiegel die Wand hinter mir an. „Was hat er gemacht? Mit 16, meine ich.“

„Oh.“ Sie lachte plötzlich auf. „Er war schon als kleiner Junge ein begnadeter Schwimmer. Es gab nur eine Sache die ihm mehr Freude bereitete als im Wasser zu sein. Und das war Surfen. Er nahm an jedem Wettbewerb teil und gewann. Aber nicht, weil er ehrgeizig war. Er wollte einfach nur seinen Spaß haben. Sein Leben lang war er den strengen Regeln seiner Eltern gefolgt um ihnen der Sohn zu sein, den sie wollten, aber es hat ihnen nie gereicht. Es reichte nicht, dass er Klassenbester war. Er sollte Jahrgangsbester sein. Es reichte nicht die Prüfungen zu 99% zu bestehen. Er musste 100% erreichen. Er durfte keine Fehler machen. In seinem ganzen Leben hatte er nur einen einzigen Freund. Und auch der wurde ihm genommen.“

„Seth.“

„Ja. Er hat als kleiner Junge dort gewohnt, aber seine Eltern zogen aus finanziellen Gründen mit ihm her nach San Diego. Keanu ist ihm vor wenigen Monaten hier her gefolgt, weil er dem Druck seiner Eltern nicht mehr standhalten konnte.“

Er muss sehr lange gelitten haben...

„So, fertig. Soll ich sie dir föhnen?“

„Nein, das mach ich selbst, danke.“

„Aber nicht doch.“ Sie tätschelte mir die Schulter und winkte dann Keanu zu sich. „Komm, ich wasch dir jetzt die Haare.“

Während ich begann mir die Haare zu föhnen, beobachtete ich Keanu durch den Spiegel. Er setzte sich gemütlich an das Waschbecken und unterhielt sich gut gelaunt mit der Friseurin. Hannah. Sein Auflachen wenige Augenblicke später kam so plötzlich, dass ich vor Schreck zusammen zuckte.

„Doch, ich schwöre dir, genau das hat sie gesagt.“

„Du bist ein Schuft, Keanu.“

„Wenn ich keiner wäre, hätte ich es nur halb soweit geschafft.“

„Wie wahr, wie wahr. Jetzt erzähl mir mal woher du dieses bildschöne Mädchen hast. Irgendwas sagt mir, dass sie nicht Hals über Kopf in dich verliebt ist und ich will wissen warum.“

„Denkst du nicht, das ist etwas zu privat?“

„Warum denn? Ich bin deine Patentante.“

Kein Wunder, dass sie so viel über ihn wusste...

„Ja, aber ich frag dich ja auch nicht nach deiner Beziehung, weil ich dein Patenkind bin.“

„Das meiste wäre eh nichts für deine unschuldigen Ohren.“

„Sagtest du nicht eben noch ich sei ein Schuft?“

Mein Mundwinkel zuckte und ich fragte mich ob er jeden, den er gern hatte, so vertraulich neckte.

 

Eine Stunde später verließ ich mit ihm den Friseursalon und sah unmotiviert auf die Uhr.

„Ich muss jetzt nach hause.“, bemerkte ich

Das Lächeln in seinem Gesicht verschwand. „Was? Warum?“

„Abendessen.“

Er blinzelte überrascht, als hätte er völlig vergessen, dass so etwas überhaupt existierte. „Nun... dann bringe ich dich nach hause.“

„Bist du dir sicher? Es ist ein ganzes Stück von hier.“

„Das ist das mindeste. Also... welche Richtung?“

Ich seufzte resigniert und machte mich mit ihm auf dem Weg nach hause. „Ich muss Teddy noch anrufen.“, bemerkte ich dann und holte mein Smartphone heraus.

„Wen?“

„Theodore.“ Da er auf einer Kurzwahltaste gespeichert war dauerte es nicht lange und er hob auch direkt beim zweiten Freizeichenton ab.

„Ja?“

„Hallo, Teddy.“

Er schwieg einen Moment, schien scheinbar überrascht. „Was ist los?“

Ich schloss kurz die Augen. „Nichts, ich...“ Ich seufzte leise. „Ich wollte dich bloß fragen, ob du heute bei uns essen möchtest. Tėtis macht Cepelinais.“

„Oh.“ Im Hintergrund hörte ich etwas rascheln. „Ja. Klar. Ich mach mich auf den Weg.“

„Ich brauche selbst noch eine halbe Stunde nach hause.“

„Wo bist du denn? Wir können uns ja unterwegs treffen.“

„Ich... Ich bin... äh...“ Ich spürte, wie mir Röte ins Gesicht stieg. „Ich bin in der Einkaufsstraße.“

„Da, wo du die Ketten gekauft hast?“

„Ja.“

„Das ist ja nicht weit. Du kannst da warten, dann treffen wir uns da.“

„Ich- Also... Ich bin nicht... I-I-Ich...“

„Ist alles in Ordnung mit dir?“

Wie sollte ich ihm bloß erklären, dass ich Keanu nicht kannte aber mit ihm ausging, obwohl ich erst so heftig mit ihm diskutiert hatte? Er könnte sich nutzlos fühlen, weil er es so lange versucht hat und es nicht schaffte, während Keanu nichts weiter tat als.... mich zu bedrängen.

„Vilija?“

„Ich bin nicht allein.“, brach es aus mir heraus, ehe ich mich zurückhalten konnte.

„Ist Veit noch nicht zuhause?“

„Äh, wahrscheinlich schon. Ich meine...“ Ich seufzte tief. „Ich erkläre es dir, wenn du hier bist.“

„Na gut. Aber mit dir ist wirklich alles in Ordnung, ja?“

„Ja.“

„Okay. Wo treffen wir uns?“

„Vor dem Schlüsselladen?“

„Gute Idee. Dann bis gleich.“

„Bis gleich.“

Seufzend legte ich auf und steckte das Smartphone ein.

„Alles gut?“, fragte Keanu aufmerksam.

Ich verzog das Gesicht. „Ja.“

„Warum guckst du dann so unglücklich?“

„Das ist kompliziert. Mach dir lieber Gedanken darüber wie du das ändern kannst.“ Während ich das sagte hob ich die Hand und zauste ihm das Haar. „Du wirst jede denkbare Idee gebrauchen können.“

„Bist du etwa so unglücklich?“

Wortlos sah ich zu ihm auf.

„Na gut.“

„Stört es dich am Schlüsselladen mit mir auf Teddy zu warten?“

„Nein, ist in Ordnung.“ Nachdenklich zog er die Brauen zusammen. „Aber warum möchtest du ihn jetzt treffen?“

„Ich hab ihn gefragt, ob er bei uns essen möchte. Mein Vater kocht mein Lieblingsessen.“ Als wir den Schlüsselladen erreichten, blieben wir stehen, wobei er sich vor mich stellte, damit er mich besser ansehen konnte.

„Dieses Zepelinay?“

Innerlich rollte ich über die Aussprache mit den Augen. „Cepelinais, ja.“

„Und was ist das?“

„Es ist ein litauisches Nationalgericht. Zeppelinförmige Kartoffelkröße gefüllt mit Hackfleisch oder Quark. Ich liebe sie abgöttisch mit Hackfleisch.“, merkte ich an, „Üblicherweise werden sie mit einer Specksoße serviert.“

Überrascht hob er die Brauen. „Das klingt ziemlich lecker.“

„Das ist es auch. Tėtis ist ein guter Koch.“

„Wer?“, fragte er verdutzt.

Ich schürzte die Lippen. „Mein Vater.“

„Ist... Tetis... sein Name?“

„Das e wird lang gesprochen.“, bemerkte ich daraufhin, „Und nein, das ist nicht sein Name. Tėtis ist Litauisch und heißt Papa.“

„Sprichst du die Sprache? Oder warum nennst du ihn so?“

Ich atmete tief durch. „Du weißt gar nicht so viel von mir, oder?“

„Nicht wirklich.“

„Okay... Also... Mein Vater kommt ursprünglich aus Litauen. Ich bin mit dieser Sprache, Litauisch, aufgewachsen. Ein paar Mal in der Woche sprechen wir zuhause nur Litauisch. Manchmal auch so zwischendurch.“

„Interessant.... Sag mal irgendwas.“

„Was soll ich denn sagen?“

„Was heißt... Guten Tag?“

Laba diena.“

Er blinzelte. „Und Auf Wiedersehen?“

Viso gero.“

„Sprichst du noch mehr Sprachen?“

„Ich spreche Englisch, Litauisch, Italienisch und ein wenig Deutsch und Französisch.“

„Wow.“ Er rieb sich über den Nacken. „Ich lerne selten so junge Frauen kennen, die intelligent und wunderschön sind.“

Meine Wangen röteten sich ein wenig. Hastig wendete ich verlegen den Blick ab und sah mich nach Teddy um. Er müsste bald auftauchen. Als mein Smartphone plötzlich begann zu klingeln, zuckte ich vor Schreck zusammen und holte es hervor.

Taip.“, meldete ich mich, ohne auf das Display zu sehen.

„Hallo Vilija.“, meldete sich der Tėtis' Cousin auf Litauisch.

Da er sich nicht gern auf Englisch unterhielt, antwortete ich ebenfalls auf Litauisch. „Hallo Janis. Was gibt’s?“

„Dein Vater geht nicht an sein Handy. Ist er gerade in der Nähe?“

„Äh... nein, tut mir leid. Ich bin aber gleich zuhause. Er kochte heute das Abendessen.“

„Okay. Sagst du ihm Bescheid?“

„Mach ich.“

„Vielen Dank.“ Er machte eine kurze Pause. „Wie geht’s dir?“

Verwundert über die Frage ließ ich den Blick ein wenig schweifen. „Den Umständen entsprechend gut und dir?“

„Auch sehr gut.“ Er zögerte etwas. „Tevin hat sich immer noch nicht gemeldet?“

Ne.“

„Wirklich schade.“, bemerkte er halblaut, „Nun dann, ich will dich mal nicht weiter aufhalten. Grüß die anderen lieb von mir.“

„Mach ich. Liebe Grüße an die anderen.“

„Richte ich aus. Bis dann.“

„Bis dann.“

Seufzend legte ich wieder auf und steckte das Smartphone ein.

„War das ein Verwandter?“, fragte Keanu neugierig.

„Der Cousin meines Vaters. Mein Vater ist aus irgendeinem Grund nicht zu erreichen.“ Als ich sah wie Teddy auf uns zu kam, atmete ich ein wenig auf. „Alles okay?“, fragte ich ihn, als er nahe genug war.

Er sah ziemlich bedrückt aus. „Ich rede später mit dir darüber.“, antwortete er dann mit einem Blick auf Keanu, ehe sein Blick auf meine Hand fiel, die Keanu einfach nicht loslassen wollte. Dann sah er mich lange an.

„Das ist eine seltsame Geschichte.“, bemerkte ich und ließ die Schultern etwas sinken. „Das ist Keanu. Keanu, das ist Theodore.“

Die beiden gaben sich die Hand, ehe wir uns auf den Weg zu mir machten.

„Und was soll nun... das da?“, fragte Teddy mit einem Blick auf unsere Hände.

Ich seufzte leise und erzählte ihm so knapp wie möglich, was sich im Park abgespielt hatte, wobei ich natürlich die Wette mit Veit außer Acht ließ. Als ich schließlich endete hob Teddy skeptisch die Braue.

„Du führst also eine Art... Probebeziehung mit... dem da?“, schlussfolgerte er und deutete auf Keanu.

„Was heißt hier dem da?“, fragte dieser verärgert.

Ich seufzte leise und ignorierte die Diskussion, die sich die zwei daraufhin lieferten. Als wir schließlich vor unserer Haustür waren, drehte ich mich zu den beiden um, die sich ziemlich finster ansahen.

„Okay, ihr zwei.“ Sowohl verbal, als auch körperlich schob ich mich zwischen die zwei. „Diese Diskussion kann ein andern Mal fortgeführt werden.“ Ich deutete auf Teddy. „Du kannst schon mal rein gehen. Tėtis und Mamytė wissen schon Bescheid.“

„Aber er-“

„Teddy.“, bettelte ich, „Muss sowas wirklich sein?“

Er zögerte etwas, sah Keanu dann aber ein letztes Mal finster an, ehe er hinein ging. Dann wendete ich mich an den Hawaiianer und hob tadelnd eine Braue.

„Was?“, fragte er unschuldig.

„Wenn du ernst meintest, was du sagtest, und mich glücklich machen willst, dann ist ein Streit mit meinem allerbesten Freund die schlechteste Idee der Weltgeschichte.“, erklärte ich und legte den Kopf in den Nacken. „Warum können sich die Männer in meinem Leben nicht einfach alle verstehen, ohne gleich dem anderen an den Kragen zu gehen?“

„Männer?“, wiederholte er vorsichtig.

„Bester Freund, andere Freunde, Tevin...“ Ich winkte ab. „Wie auch immer. Du musst jetzt gehen.“

„Willst du mich nicht einladen?“

„Nein.“

„Warum?“

„Weil ein Essen mit den Eltern etwas ist, das mir dann doch etwas zu privat wird.“

Als er mir die Hände auf die Hüften legte und etwas enger an sich zog, widerstrebte in mir irgendwas, doch ich ließ ihn widerwillig gewähren.

Zwei Wochen. Nur zwei Wochen, Vilija.

„Gibst du mir noch deine Handynummer?“, fragte er mich halblaut, während er mir in die Augen sah.

Es war mir etwas unangenehm ihm so nahe zu sein. Nicht etwa, weil er unansehlich war. Im Gegenteil. Jedes andere Mädchen wäre bereits geschmolzene Butter zu seinen Füßen. Allerdings fühlte es sich für mich an als würde ich Tevin fremd gehen und das behagte mir so gar nicht, auch wenn er bereits ein Jahr fort war.

„Du wirkst wieder so traurig.“, bemerkte Keanu besorgt, „Woran denkst du gerade?“

„An nichts.“, antwortete ich hastig, ehe ich meine Telefonnummer herunterrasselte.

Sein Mundwinkel zuckte, doch immer noch stand Sorge in seinen Augen. „Ich hab ein gutes Gedächtnis. Ich schreib dir heute Abend noch.“ Einen Moment sah er mich schweigend an. „Hat es dir heute gefallen?“, fragte er dann ehrlich neugierig.

„Es war... nett.“, gab ich zu und betrachtete seine neue Frisur.

Sie unterschied sich nicht sehr von seiner alten, weil er mit der Haarlänge ziemlich gut aussah. Da seine Haare vorher nahezu gleichlang waren, hatte ich ihm einen Pony verpassen lassen, der ihm ziemlich gut stand. Die Haare, die ihm vorher in die Augen gefallen waren, fielen ihm jetzt charmant in die Stirn. Außerdem hatte er jetzt ein paar Stufen, sodass sein Haar besser fiel. Einige waren dabei so kurz geworden, dass sie ein wenig zerzaust aussahen. Bei dem Anblick wurden tatsächlich meine Knie etwas weich.

„Es war mal etwas anderes mit einem Jungen zum Friseur zu gehen, statt in ein Restaurant.“

„Oh, das machen wir auch noch.“

„Jetzt muss ich aber rein, bevor noch jemand nach mir sieht.“ Zaghaft versuchte ich mich von ihm zu lösen, doch er hielt mich noch fest.

„Einen Moment noch.“, bat er leise, ehe er den Kopf senkte und mich erneut küsste. Eine Hand legte er mir dabei in den Nacken, hielt mich dort sanft fest, während er mich mit der anderen an der Hüfte an sich zog. Der Kuss war etwas anders, als der im Park. Der schien eher verspielt, als wolle er unbedingt einen haben. Dieser hier war liebevoller, als wolle er mir unbedingt einen geben. Ich ließ ihn ein paar Sekunden gewähren, schob ihn dann aber sanft von mich, wagte es nicht den Kuss zu genießen oder gar zu erwidern. Dennoch kam ich nicht daran vorbei zu bemerken wie weich seine Lippen gewesen waren, wie schön es sich angefühlt hatte.

„Bis später.“, verabschiedete ich mich und spielte damit auf die Nachricht an, die er mir schicken wollte.

Er sah mich einen Moment stumm an, ehe er begann zu lächeln und mich gehen ließ. „Bis später.“

Hastig wendete ich mich von ihm ab und eilte hinein. Die anderen warteten bereits in der Küche, das Essen war schon serviert.

„Da bist du ja.“, bemerkte mein Vater und lächelte sanft.

„Tut mir leid.“, bemerkte ich und setzte mich neben Teddy. „Ich hab mich nur schnell von jemandem verabschiedet.“

„Schon in Ordnung.“, entgegnete Mamytė müde und lächelte liebevoll.

„Tėtis, Janis und Leonas haben heute auf mein Handy angerufen.“, bemerkte ich wenig später, „Janis hat versucht dich eben zu erreichen, aber du bist nicht ans Handy gegangen.“

Er seufzte leise. „Das Akku ist leer. Ich rufe ihn gleich zurück.“

„Dieser Leonas hat heute Nachmittag angerufen und sagte er habe gar keine aktuelle Nummer. Ich hab seine oben aufgeschrieben. Er sagte es sei wichtig.“

„Okay. Danke. Ich rufe ihn später zurück.“

Ich nickte zustimmend und begann zu essen.

 

Etwas später saß ich mit Teddy auf meinem Bett im Schneidersitz und sah ihn schweigend an, während er vor mir auf dem Rücken lag und an die Decke starrte.

„Habt ihr gestritten?“, fragte ich etwas hilflos.

„Mal wieder, ja.“

Ich seufzte leise. „Ich fühle mich schrecklich, weil ich von euren Problemen nichts bemerkt habe.“

„Ist schon okay. Du hast selbst viel im Kopf.“

„Ja, aber trotzdem. Du bist auch für mich da, obwohl du viel im Kopf hast.“

„Deine Schwierigkeiten sind aber schwerwiegender als meine.“ Er zog nachdenklich die Brauen zusammen. „Wie lange gehst du noch gleich mit Keanu?“

„Zwei Wochen.“ Als er begann zu schweigen, verengte ich misstrauisch meine Augen. „Woran denkst du gerade?“, fragte ich ihn dann.

„An das eine oder andere.“

„Teddy...“

„Magst du ihn eigentlich?“

„Bisher war er ganz in Ordnung.“

Prüfend sah er zu mir auf. „In Ordnung, ja?“, hakte er nach, „Wie in Ordnung?“

„Na, in Ordnung wie... Was weiß ich. In Ordnung eben. Er ist nett.“

„Nett im Sinne von sympathisch oder nett im Sinne von... ganz ok?“

Ich starrte ihn an. „Worauf willst du hinaus?“

„Ich dachte nur...“ Er sah wieder an die Decke und ließ den Satz unbeendet. „Evelyn sagt ich würde ihre Nerven strapazieren.“

„Veit sagte mir, du wärst in letzter Zeit sehr angespannt. Tut mir leid, ich glaube das kommt von mir.“ Ich seufzte tief und senkte den Blick. „Du musst dir um mich keine Sorgen machen. Ich komme zurecht.“

„Zurecht kommen und leben sind zwei verschiedene Dinge, Vilija.“

Wie Recht er doch hat... „Ich schaffe das schon. Wenn Keanu versagt, dann...“ Ich zögerte ein wenig und merkte, dass ich unbewusst hoffte, dass Keanu mich glücklicher machen konnte. Verdutzt zog ich die Brauen zusammen. Woher kam dieser Gedanke?

Teddy, der es offenbar ebenfalls bemerkt hatte, sah mich überrascht an. „Du willst es wirklich versuchen?“

Zögerlich sah ich zur Seite. „Nun, wie er schon sagte... ich habe ja nichts zu verlieren.“

Erleichtert atmete er auf und setzte sich auf. Dann fiel sein Blick auf meinen Schreibtisch. „Euer Bild steht immer noch da.“, bemerkte er.

Ich musste seinem Blick nicht folgen, um zu wissen welches Bild er meinte. Es war das ganz alte von Tevin und mir im Park. Vor anderthalb Jahren wollte ich es wegwerfen, hatte es jedoch nicht übers Herz gebracht, so wie ich es auch jetzt nicht konnte.

„Ich nehme an, seine Geschenke hast du auch noch?“, fragte er wissend.

Ich nickte stumm.

„Auch das von diesem Jahr?“

„Ja.“

Einen Moment schwieg er. „Du wirst ihm jedes Jahr etwas kaufen, oder?“

„Ja.“ Ich würde ihm so lange ein Geburtstagsgeschenk kaufen, bis ich ganz sicher war, dass er nicht zurück kam. Bis dahin würde ich sie sorgfältig in meinem Schrank aufbewahren, fein säuberlich verpackt.

Da Teddy merkte in welche Richtung das Gespräch führte, wechselte er das Thema. „Gehst du morgen wieder mit Keanu aus?“

„Ich weiß es nicht.“, antwortete ich verdutzt, „Er wollte mir heute Abend noch schreiben.“ Als ich das sagte, holte ich mein Smartphone heraus und entdeckte eine ungelesene Nachricht. „Oh.“, bemerke ich überrascht und öffnete die Nachricht, nur um dann innerlich weich zu werden. „Oh.“, wiederholte ich dann leiser.

„Was schreibt er?“

„Er sagt, dass er sich den Tag nie schöner hätte vorstellen können und dass er sich freut mich morgen wiederzusehen. Er möchte mich um 17 Uhr abholen und Essen gehen.“ Die Bemerkung, die er über den Kuss machte, ließ ich gekonnt aus.

„Antworte ihm.“, motivierte Teddy mich.

„Ich dachte du magst ihn nicht.“

„Ich habe keinen sehr optimistischen Eindruck, aber wenn er sich Mühe gibt ist er es wert.“

Ich dachte einen Moment darüber nach was er sagte, ehe ich Keanu antwortete. „Okay.“, murmelte ich, „Schläfst du heute hier oder gehst du noch nach hause?“

Einen Moment sah er noch auf mein Smartphone, ehe er mich prüfend ansah. „Wenn du magst dann bleibe ich.“

Ich hielt den Atem an und dachte einen Moment darüber nach, ehe ich langsam ausatmete. „Das wäre schön.“, gab ich dann zu und lehnte mich nach vorn, um meinen Kopf an seiner Schulter zu betten.

„Okay.“ Liebevoll küsste er mich auf den Schopf. „Tu mir aber einen Gefallen, ja?“

„Was denn?“

„Wenn du wieder bei mir bist... geh bitte nicht einfach ohne ein Wort zu sagen, okay? Es ist in Ordnung, wenn du allein gehen willst, aber sag es mir dann einfach.“

Schuldbewusst senkte ich den Kopf. „Okay.“

Warm küsste er mich auf die Stirn, ehe er aufstand. „Na, komm, ziehen wir uns um und gucken einen Film. Das bringt dich sicher auf andere Gedanken.“

Ich lächelte matt und sah ihn einen Moment einfach nur an, während er sich sein Shirt auszog. Vor einer Weile hatte er Sachen von sich mitgebracht, wie ich es bei ihm getan hatte.

„Was wollen wir gucken?“, fragte ich ihn nebenbei und stand auf, um mich ebenfalls umzuziehen.

„Ich hab Lust auf einen Horror.“

„Du willst ja nur, dass ich mich ängstlich an dich klammere.“

Er grinste mich an. „Ganz genau.“

Amüsiert boxte ich ihm leicht gegen die Schulter. „Du hast dich kein bisschen verändert.“

 

Hey Vilija,

ich hab dir ja versprochen, dass ich dir heute Abend noch schreibe. Nun, hier bin ich.

Ich muss sagen, der Tag war wirklich schön. Ich glaube, ich hätte ihn mir nie besser vorstellen können. Das will ich unbedingt wiederholen.

Hoffentlich hast du nichts dagegen morgen mit mir essen zu gehen. Ich hole dich um 17 Uhr ab.

Und bitte... lass mich dich noch einmal küssen. Es war das schönste, was ich je erleben durfte und will mehr davon. Und ich habe gesehen, dass du danach nicht mehr ganz so... traurig warst.

Lass mich dich glücklich machen, Vilija.

Keanu

 

 

Hallo Keanu,

zugegeben, der Tag war wirklich schön, aber genau so muss ich ihn nicht unbedingt wiederholen. Irgendwann wären meine Haare viel zu kurz.

Essen gehen klingt schön. Wohin gehen wir?

Vilija

 

P.s.: Glaub nicht, dass ich mich jedes Mal von dir küssen lasse, nur weil ich es einmal kurz zugelassen habe.... auch wenn es schön war.

 

 

Vilija,

dank dir kann ich nicht schlafen. Jetzt bin ich viel zu aufgeregt. Warum tust du das?

Ich schwanke zwischen italienisch und chinesisch. Lass dich einfach überraschen.

 

Es reicht mir zu wissen, dass du es schön findest...

Ich freue mich schon auf morgen.

Keanu

Kapitel 5

 

Wir Bitten vielmals um Entschuldigung, aber der folgende Betrag konnte aus technischen Gründen leider nicht abgebucht werden.

- aus einem Brief der International Bank

adressiert an Breda Amanar

 

Aufgrund der ausgebliebenen Zahlung behalten wir uns die Zusendung ihres Tickets vor, bis der Betrag vollständig bezahlt wurde.

Wir bitten um Verständnis.

- aus einem Brief der Airline zbura de încredere

adressiert an Breda Amanar

 

„Hey.“, ertönte an meinem Ohr eine sanfte Stimme, „Vilija. Komm, aufwachen. Es gibt Frühstück.“

Verschlafen kuschelte ich mich enger in die Arme, die mich hielten, woraufhin der Brustkorb vor mir vor Lachen leise vibrierte.

„Na komm schon, Kleines. Es gibt Koldunai.“

Wie immer, wenn Teddy ein litauisches Wort sprach, verkniff ich mir das Lachen. Er sprach es mittlerweile korrekt aus und kannte schon genug Wörter um etwas zu verstehen, aber es war dennoch gewöhnungsbedürftig ihn so sprechen zu hören.

„Hör auf mich ständig auszulachen.“

„Tu ich doch gar noch.“, entgegnete ich amüsiert.

„Doch, tust du.“

„Das bildest du dir ein.“

„Ist es, weil ich Koldunai gesagt hab?“

Erneut verkniff ich mir das Lachen.

„Was ist so witzig daran? Du lachst mich immer aus, wenn ich ein litauisches Wort sage.“

„Bei dir klingt es so witzig.“

„Warum?“

„Ich weiß nicht.“

„Hmmm....“ Nachdenklich rieb er sein Kinn an meinem Schopf, gab es dann aber scheinbar schnell auf. „Wie auch immer.“, hob er dann an und gab mir einen kleinen Klapps auf den Hintern. „Steh auf. Es gibt Essen.“

„Du willst doch bloß Tėtis Kochkünste genießen.“

„Auch. In Wahrheit komme ich nur gerade an meine Grenzen.“, entgegnete er und klang dabei seltsam vorsichtig.

Blinzelnd sah ich zu ihm auf. „Deine Grenzen?“

Er seufzte leise. „Mir ist das bei dir noch nie passiert.“, bemerkte er dann verlegen.

„Was denn?“

Er schluckte leicht und verzog den Mund. „Ich will dich nicht unbedingt damit konfrontieren.“

„Teddy...“

„Ich... Ich hab...“ Er presste die Lippen aufeinander.

Einen Moment sah ich ihn noch verwundert an, ehe es mir dämmerte. „Oh.“, bemerkte ich dann unsicher, „Das ist... überraschend.“

„Ja.“, stimmte er vorsichtig zu, „Findest... du es schlimm? Ich meine, das ist das erste Mal, dass ich...“

Ich schwieg einen Moment, schüttelte dann aber den Kopf. „Ist schon okay. Du bist immer noch Teddy.“

Verlegen drehte er den Kopf leicht zur Seite. „Lass... Lass uns aufstehen, ja. Ich meine... wenn du so eng bei mir liegst, dann... geht das nicht weg.“

„Oh, natürlich. Entschuldigung.“ Hastig rückte ich von ihm ab und stand auf. „Ich gehe schon mal vor. Komm nach wenn du... du weißt schon.“

Er nickte dankbar, woraufhin ich das Zimmer verließ und nach unten ging. Mamytė saß müde am Esstisch und fütterte Enio. Tėtis war scheinbar im Wohnzimmer, wo er mit irgendwem telefonierte.

„Mit wem telefoniert er um diese Uhrzeit?“, fragte ich verwundert und holte mir einen Teller Koldunai, ehe ich mich zu Mamytė an den Tisch setzte.

„Wenn ich das wüsste würde ich der Person den Hals umdrehen.“, entgegnete sie schlecht gelaunt, „Der Anruf hat uns vor anderthalb Stunden geweckt. Und Enio ebenfalls.“

„Wenn du möchtest kümmere ich mich ein wenig um ihn bis Tėtis Zeit hat und du schläfst ein wenig.“, schlug ich vor.

Sie lächelte mich liebevoll an. „Du bist ein wahrer Goldschatz, Vilija.“

Ohne etwas dazu zu sagen nahm ich ihren Platz ein und begann Enio zu füttern, während ich nebenbei meine Mahlzeit aß. Mom dagegen stand auf und küsste mich auf die Stirn, ehe sie die Küche verließ und ins Wohnzimmer ging. Nur eine Minuten später hörte ich sie die Treppe hinauf gehen. Und eine weitere Minute später kam Teddy herunter.

„Spielst du jetzt Babysitter?“, fragte er überrascht und holte sich ebenfalls etwas zu essen, bevor er sich zu mir setzte.

„Mom ist müde. Ich glaube nicht, dass sie heute viel geschlafen hat.“

„Ich kann mir gar nicht vorstellen ein Kind zu haben, das so viel schreit.“

Bei den Worten hielt ich mitten in der Bewegung inne und starrte Teddy an.

„Was?“

„Stellst du dir etwa vor Kinder zu haben?“

Er senkte ein wenig den Blick und stocherte in den Koldunai herum, wobei er mit den Schultern zuckte. „Evelyn wäre eine wirklich bezaubernde Mutter.“

Mein Mund klappte auf. „Du möchtest Kinder mit ihr?“, fragte ich kurz darauf.

Er atmete tief durch. „Nicht jetzt. Später, vorausgesetzt sie... Vorausgesetzt sie will mich dann noch.“

Mitleidig zog ich die Brauen zusammen. „Ganz bestimmt. Sie liebt dich.“

„Sie sagte, ich würde ihr auf die Nerven gehen, Vilija.“

„Sieh das nicht so negativ. Vielleicht will sie dir damit nur einen Hinweis darauf geben wie anstrengend das für sie ist. Ich meine... wenn Veit sagt, du seist angespannt, dann scheint es ziemlich auffällig zu sein. Ich meine... wann bist du das letzte mal mit ihr ausgegangen?“

Er hielt überrascht inne und dachte nach. Ziemlich lange sogar.

„Wie wäre es, wenn du zum nächsten Floristen gehst, ein paar Rosen kaufst und dann zu Evelyn rüber gehst?“, schlug ich vor, „Danach könnt ihr ja ausgehen oder ihr treibt es gleich wild miteinander.“

Röte schlich sich in sein Gesicht. „Bei dir klingt es so, als wäre ich sexsüchtig.“

„So würde ich es jetzt nicht sagen... Ich wollte damit nur bemerken wie sehr ihr einander verfallen seid. Wie verrückt ihr nacheinander seid.“

Er murrte leise.

„Kann es sein, dass sie dich seit einer Weile nicht mehr ran gelassen hat?“

„Seit zwei Monaten.“, stimmte er zu.

„Oh.“ Nachdenklich nahm ich einen Bissen und kaute sorgfältig darauf herum. „Also, wenn das so ist, dann wundert es mich ehrlich gesagt nicht, dass du eben... also... du weißt schon.“

Tief seufzend stützte er den Kopf in die Hand. „Ich glaube, sie mag weiße Rosen sehr gerne.“

„Ach so? Ich hätte jetzt schwarz geschätzt. Aber das weißt du sicher besser.“

Lustlos kaute er auf einer Teigtasche herum. „Sie trifft sich seit ein paar Wochen mit so einem Kerl.“, hob er wenig später an.

Verwundert zog ich die Brauen zusammen. „Wie bitte?“

Er zuckte mit den Schultern. „Sie sagt er sei ein Freund.“

„Kennst du ihn denn?“

„Nein. Wenn ich sie nach ihm frage, behauptet sie ich würde ihr nicht vertrauen.“

„Das klingt... seltsam. Du kannst doch sagen, dass du einfach neugierig bist und die Leute kennen lernen möchtest, die sie so mag.“

Er lachte trocken auf. „Ich glaube sie würde das nicht mal dann glauben, wenn es die Wahrheit wäre. Ich meine, wenn es wirklich langjährige Freunde sind dann bin ich wirklich neugierig, aber das mit dem Kerl ist mir nicht ganz geheuer.“

„Das glaube ich dir.“ Tröstlich streichelte ich ihm über den Rücken. „Das wird schon wieder. Da bin ich mir sicher.“

„Hoffentlich hast du Recht.“

Kurz darauf wendete ich mich wieder meiner Mahlzeit zu.

 

Stunden später saß ich mit Cyntia im Wohnzimmer auf der Couch und spielte ein Spiel mit ihr an der Konsole. Für ihr Alter war sie schon ziemlich gut mit dem Controller, doch gegen mich hatte sie keine Chance. Dennoch ließ ich sie ab und zu gewinnen, damit sie den Ehrgeiz nicht verlor.

„Na, macht dich die Kleine fertig?“, fragte Tėtis amüsiert und zauste mir das Haar, als er herein kam.

Es stand 4:3 für sie. „Sie ist einfach so gut.“, entgegnete ich ironisch und holte mir in den letzten drei Sekunden den Sieg. „Ich esse heute Abend nicht mit.“, bemerkte ich dann.

„Warum? Wieder keinen Hunger?“

„Nein. Ich gehe mit jemandem essen. Er holt mich gleich ab.“ Ich sah kurz auf die Uhr. „Das heißt... er müsste eigentlich schon da sein.“

„Vilija, los!“, lenkte Cyntia meine Aufmerksam kein wieder auf das Spiel.

Amüsiert startete ich die nächste Runde.

„Mit wem gehst du denn essen?“, fragte Tėtis neugierig und stellte seinen Laptop auf den Wohnzimmertisch. „Mit Theodore?“

„Nein.“

„Veit?“

Ich zögerte. „Nein. Ihr kennt ihn nicht.“

„Also hast du jemanden kennen gelernt.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu und gab das Passwort ein.

„Ja.“

Schweigend arbeitete er eine Weile am Laptop. „Was ist mit Tevin?“

Mein Hals zog sich ein wenig zusammen. „Teddy hat Recht. Ich warte schon zu lange.“

„Also gibst du ihn auf?“

Nachdenklich brachte ich siegreich die nächste Runde zu Ende und startete eine weitere. „Wie lange hast du auf Mamytė gewartet?“

„Wir hatten nach diesem Vorfall damals etwa 4 Monate keinen Kontakt, wenn du das meinst. Dann waren wir eine Zeit lang nur Freunde, bis ich ihr den Antrag gemacht habe. Aber ich wusste damals die ganze Zeit, dass sie sich nicht von mir abwenden würde. Ich war in einer ähnlichen Situation wie du.“ Konzentriert tippte er etwas ein und hinter mir hörte ich wie es an der Tür klingelte. „Tevin würde dich nie freiwillig hergeben, wenn er hier wäre.“

„Aber er ist nicht hier.“, entgegnete ich, „Und das schon … zu lange. Ich weiß nicht einmal ob er zurück kommt. Und deshalb...“

Tėtis seufzte tief. „Ich weiß.“

Als ich auch diese Runde beendete murrte Cyntia frustriert, weshalb ich mir vornahm sie nächste Runde wieder gewinnen zu lassen.

„Wohin geht ihr denn essen?“, fragte Tėtis als die nächste Runde begann.

„Ich weiß es nicht.“, antwortete ich ehrlich, „Er war sich selbst noch nicht sicher.“

„Ist er denn nett?“

„Ja.“

„Und Höflich?“

„Meistens, ja.“

„Was meinst du mit meistens?“ Prüfend sah er mich an.

„Er ist nun mal ein Kerl.“

Er murrte ein wenig. „Das bin ich auch.“

„Du weißt was ich meine.“, entgegnete ich amüsiert, „Du bist fantastisch, Tėtis. Er ist halt noch... jünger. Und verspielt. Du weißt schon. Hartnäckig und stur.“

„Das klingt ganz nach deiner Mutter.“

„Das habe ich gehört.“, ertönte Mamytės Stimme von der Wohnzimmertür, weshalb ich ein wenig prustete.

„Aber Recht hat er.“, bemerkte ich dann.

Tėtis lachte leise, wendete den Blick jedoch nicht vom Laptop ab. Wahrscheinlich arbeitete er an einem neuen Entwurf.

Als ich Cyntia, wie geplant, gewinnen ließ, jubelte sie begeistert auf. „Nochmal!“, rief sie dann aus, woraufhin ich noch eine Runde startete.

„Danach machen wir aber aus.“, bemerkte ich, „Du musst noch dein Zimmer aufräumen.“

„Ach manno. Können wir nicht noch ein bisschen spielen?“

„Vielleicht morgen, wenn du brav bist. Wenn du ganz lieb bist und auch selbstständig deine Hausaufgaben machst, dann gehe ich mit dir auch auf den Spielplatz. Auf den großen.“

„Vilija, du verwöhnst deine Schwester zu sehr.“, bemerkte Mamytė, „Außerdem hast du Besuch.“

Überrascht hob ich den Blick vom Fernseher und entdeckte Keanu an der Wohnzimmertür. „Oh. Entschuldige, ich... Einen Moment noch.“

„Ich warte, keine Sorge.“, entgegnete er.

Dad, der ebenfalls zu ihm gesehen hatte, sobald Mom erwähnt hatte, dass ich Besuch hatte, musterte ihn prüfend.

Tėtis, das ist Keanu.“, stellte ich ihn vor, „Keanu, das ist mein Vater Levantin und meine Mutter Violeta. Und der kleine Drops hier ist Cyntia, meine kleine Schwester.“

Höflich kam Keanu herein und gab meinem Vater die Hand. „Freut mich sehr Sie kennen zu lernen.“

„Mich ebenfalls.“, entgegnete dieser, der aufgestanden war und nun auf ihn herab blickte. „Du willst also etwas von meiner Tochter, richtig?“

„Von der älteren, ja.“

Mamytė lachte leise in sich hinein und ich konnte sogar in Tėtis Augen Humor sehen, doch er lächelte nicht.

„Was für Absichten hast du?“, fragte er direkt.

„Äh...“ Keanu zögerte ein wenig. „Nun... Ihre Tochter ist sehr attraktiv.“

„Das weiß ich. Aber das war nicht meine Frage.“

Mein Mundwinkel zuckte.

„Ich... möchte sie gerne näher kennen lernen. Sie gefällt mir außerordentlich, Sir, und ich äh... hätte gern eine Beziehung mit ihr.“

Dad musterte ihn erneut. „Warum?“

„Wie bitte?“

„Warum?“, wiederholte er geduldig. Ich konnte sehen, wie viel Spaß es ihm machte Keanu so zu ärgern, ihn so auf die Probe zu stellen.

„Ich verstehe die Frage nicht, Sir.“

„Es muss doch einen Grund geben, warum du ausgerechnet mit meiner Tochter zusammen sein möchtest.“

Es gab nicht viele richtige Antworten auf die Frage, die daraus resultierte.

„Sie hat mich bezaubert.“, antwortete Keanu, was mich ein wenig überraschte. „Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich heute gerne mit Ihrer Tochter essen gehen. Mit der älteren.“, fügte er hastig hinzu.

Mom kicherte erneut.

„Natürlich habe ich etwas dagegen.“, entgegnete Dad, als wäre es das natürlichste der Welt. „Welcher Vater wäre bedingungslos damit einverstanden?“

Ich gewann die letzte Runde und schaltete die Konsole aus, ehe ich mich zu meinem Vater stellte. „Tėtis, hör auf ihn so aufzuziehen.“

„Ich meine das ernst.“, entgegnete er daraufhin und sah auf mich herab.

„Das weiß ich. Und genau deshalb wirst du mir auch viel Spaß wünschen, wenn ich gehe. Natürlich erst, nachdem du ihm gesagt hast, er soll auf mich aufpassen, als wäre ich sein Augapfel.“

„Nein.“, widersprach er lächelnd und sah zu Keanu. „Du musst auf sie aufpassen, als hinge dein Leben davon ab. Kein Kratzer.“

Keanu lächelte erleichtert. „Natürlich.“

„Sollte sie weinend nach hause kommen, finde ich dich.“

„Nun... also... ich hoffe nicht.“

Nun musste Tėtis doch lachen. „Viel Spaß, meine Kleine.“, wünschte er mir schließlich und küsste mich auf die Stirn. „Ruf an, wenn etwas ist.“

„Mach ich. Bis später.“ Ich gab ihm noch einen Kuss auf die Wange, küsste Cyntia auf die Stirn und verabschiedete mich mit einem Kuss auf die Wange von Mamytė, ehe ich mit Keanu das Haus verließ.

Ich stellte mich bereits darauf ein eine Weile zu laufen, deshalb war ich sehr überrascht, als er zu einem Wagen ging und mir die Tür aufhielt.

„Du hast einen Führerschein?“, bemerkte ich überrascht, als er sich hinters Steuer setzte.

„Ja. Mein Vater hat darauf bestanden, dass ich einen mache, sobald ich alt genug bin. Ich soll lernen selbstständig zu sein.“ Er zuckte mit den Schultern und fuhr los.

„Und? Hast du es gelernt?“

„Ich denke schon. Ich komme gut allein zurecht. Ich habe meine eigene Wohnung, einen netten Job, keine Schulden.“ Er seufzte leise. „Allerdings nerven meine Eltern trotzdem regelmäßig und fragen, ob ich auch ja keine Probleme habe und nicht vielleicht doch zurück möchte. Wie auch immer. Reden wir nicht über die.“

Ich zögerte ein wenig. „Eine eigene Wohnung ist bestimmt ziemlich cool.“

„Am Anfang schon. Es war total klasse. Drei Wochen später war es langweilig. Ich versuche Seth zu überreden bei mir einzuziehen, aber weil er noch zur Schule geht findet er das nicht so praktisch.“

„Ich würde auch nicht zuhause ausziehen, solange ich meinen Abschluss noch nicht habe. Das wäre auch viel zu stressig.“

„Ich hab gehört, dass du vorhast bald auszuziehen.“, bemerkte er dann vorsichtig.

„Ja. Ich ziehe mit Teddy und vielleicht auch mit Veit zusammen. Mal sehen wie es bei Evelyn und Teddy dann aussieht.“

„Und was meint dein Kerl dazu? Stört ihn das nicht, wenn du mit zwei Jungs zusammenwohnst? Oder deine Eltern?“

„Meine Eltern haben keine Bedenken. Teddy ist mein allerbester Freund und Veit ist mein Ex und ein sehr guter Freund.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Mein Kerl weiß davon gar nichts. Aber wenn es möglich wäre, würde ich mit ihm zusammenziehen.“

„Es ist also nicht möglich.“, schlussfolgerte er, „Er ist wirklich nicht in der Nähe, oder?“

„Nein.“ Ich wendete den Kopf ab und sah aus dem Fenster. „Er ist in Europa.“

„Europa. Wow. Was macht er da?“

Ich schwieg eine Weile, ehe ich mich einfach zu ihm drehte. „Wohin gehen wir essen?“, fragte ich dann, statt zu antworten.

„Ich dachte mir, wenn ich mich nicht entscheiden kann, nehme ich das, was am nächsten ist. Zufälligerweise ist das ein argentinisches Steakhaus.“

Ich stöhnte vor Wonne. „Fantastisch. Aber... kannst du dir das leisten?“

„Das ist meine Sorge. Du wirst einfach essen was dir schmeckt ohne dich zurückzuhalten.“

„Bist du dir sicher? Das könnte teuer werden.“

„Ich werde dir böse sein, wenn deine Mahlzeit weniger als 30 Dollar kostet.“

Ich atmete tief durch. „Na gut.“, stimmte ich dann zu und betrachtete ihn wieder einmal.

Er sah locker konzentriert auf die Straße und schien sich nicht an den Strähnen zu stören, die ihm in die Stirn fielen. Sein Mundwinkel war leicht gehoben, als würde er sich freuen.

„Was hältst du von Tattoos?“, fragte er plötzlich und warf mir einen kurzen Blick zu, wobei er meinen Blick bemerkte und grinste.

„Kommt auf den Ort und das Motiv an.“, antwortete ich ehrlich, „Aber generell habe ich nichts gegen Tattoos.“

„Gut zu wissen.“ Er bog auf einen kleinen Parkplatz ein und parkte gekonnt ein. „Da wären wir.“

Langsam packte mich die Aufregung, weshalb ich tatsächlich ein wenig zitterte, als ich mich abschnallte.

Es ist nur ein Essen mit Keanu. Nichts weiter.

Einen Moment beruhigte mich der Gedanke und ich stieg aus. Wenig später betrat ich mit Keanu dann das Restaurant und die Nervosität kam mit einem Schlag zurück.

Nur ein Essen. Nur ein Essen. Nur ein Essen.

 

Am Ende des Abends war ich so außer mir, dass ich mich an Keanu stützen musste, als wir zum Auto gingen.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er amüsiert.

Ich nickte nur hastig.

„Ganz sicher? Du zitterst ja.“

„Ich-Ich-Ich... war... noch nie so teuer essen.“, gab ich dann zu und musste tief durchatmen, als ich mich an die Preise erinnerte. Allein meine Vorspeise hatte sein Limit fast erreicht. Von dem Dessert ganz zu schweigen. Aber die Hauptspeise allein sprengte sein Limit gnadenlos. Wie konnte er sich sowas leisten? „Gehst du immer so teuer essen?“

„Nein. Nur mit dir.“

„Oh, lieber Himmel.“ Vor Schreck gaben beinahe meine Knie nach. „Ich muss mich setzen.“

Fürsorglich öffnete er die Beifahrertür und hielt sie mir auf, woraufhin ich mich hastig in den Sitz plumpsen ließ und den Kopf zwischen die Knie steckte.

„Es war nur ein Essen.“, bemerkte Keanu gelassen, „Warte erst mal bis zum Wochenende.“

Entsetzt sah ich zu ihm auf. „Gib bitte nicht noch einmal mehr als 100 Dollar an einem Tag für mich aus.“, bat ich ihn dann hastig.

Er blinzelte überrascht. „Okay. Wollen wir noch ein wenig irgendwo spazieren gehen oder möchtest du nach hause?“

Ich dachte eine Weile darüber nach und hob dann die Beine in den Wagen. „Ein Spaziergang wäre bestimmt nicht falsch. Aber nicht hier.“

„Okay.“ Er schloss die Tür, ging um den Wagen herum und setzte sich ans Steuer. Zwei Minuten später fuhr er vom Parkplatz. „Wann warst du das letzte Mal am Meer?“

„Vor einer Ewigkeit.“, antwortete ich, „Du warst wahrscheinlich gestern erst dort.“

Er lächelte leicht. „Heute Mittag sogar. Die Wellen waren fantastisch. Nicht so gut wie auf Hawaii, aber fantastisch.“

„Vermisst du Hawaii?“

Einen Moment dachte er darüber nach, seufzte dann aber. „Es gibt die einen oder anderen Vorteile, die ich vermisse, aber letztendlich bin ich froh gegangen zu sein.“

Den Rest der Fahrt schwiegen wir, weshalb ich genug Zeit hatte ein wenig über ihn nachzudenken. Er war sehr höflich, aufmerksam und hatte im Restaurant ziemlich gute Manieren bewiesen. Ganz abgesehen davon hatte er Humor, war sehr freundlich und großzügig obendrein. Ob er es sich wohl leisten kann so großzügig zu sein?

Eine Weile später parkte Keanu den Wagen direkt am Strand und hielt mir kurz darauf wieder die Tür auf. Meine Nervosität hatte sich wieder gelegt, weshalb ich bedenkenlos aussteigen konnte.

„Da wären wir.“, merkte er überflüssigerweise an, nahm meine Hand und schloss den Wagen ab, ehe er mit mir zum Strand ging.

„Du bist öfter hier, oder?“, fragte ich nebenbei und betrachtete das Meer.

„Ja. Fast jeden Tag.“

Als ich zu ihm aufsah, sah er zum Meer. In seinem Blick lag eine Sehnsucht, die schwer zu beschreiben war, als wäre das Meer alles, was er sich wünschen würde.

„Seth hat erzählt, dass du surfen kannst.“

Seine Mundwinkel hoben sich. „Das ist untertrieben.“, bemerkte er dann, „Surfen ist meine Leidenschaft. Ich liebe es nahezu genauso sehr wie Schwimmen.“

Als er Anstalt machte zum Wasser zu gehen, zog ich meine Schuhe aus, woraufhin er kurz inne hielt, es mir gleich tat und die Schuhe dann zum Auto brachte, eher er zurück kam, um dann mit mir gemütlich am Wasser entlang spazierte.

„Surfen ist also deine Leidenschaft.“, griff ich seinen Satz wieder auf, „Es muss dir dann ja wirklich sehr wichtig sein.“

„In meinem ganzen Leben war ich nie so glücklich wie im Wasser. Ich liebe es, wenn es um mich herum ist. Dieses Gefühl davon umgeben zu sein.“

„Das erklärt deine Liebe zum Schwimmen.“

Er drückte meine Hand ein wenig und sah erneut auf das Meer hinaus, schien in Gedanken zu schwelgen und vor sich hin zu träumen. „Surfen ist anders.“, begann er dann, als ich bereits dachte, er würde nichts mehr sagen. „Für mich zumindest. So eine Welle ist eine sehr gewaltige Kraft. Solch eine Kraft mit einem Surfbrett zu reiten gibt vielen das Gefühl man würde sie beherrschen.“ Er grinste auf mich herab. „Ich finde das ist purer Blödsinn. Man beherrscht die Welle nicht. Man wird von ihr getragen. Keiner sollte auf die Idee kommen etwas so natürliches wie die Welle eines Meeres, eines Ozeans, beherrschen zu können. So eine Welle wäre in der Lage dich zu ertränken, während du ihr hilflos ausgeliefert bist. Aber beim Surfen nutzt du ihre Kraft, lässt dich von ihr tragen und das gibt mir ein bisschen das Gefühl frei zu sein. So wie das Schwimmen.“

Erstaunt sah ich zu ihm auf. So wie er das beschrieb schien es fast so, als wäre das Wasser ein lebendiges Wesen. Und tatsächlich konnte ich so nachvollziehen, warum Surfen so eine Leidenschaft für ihn war.

Frei sein... einfach... frei sein. „Bringst du es mir bei?“

Überrascht blinzelte er mich an. „Wie bitte?“

Ich biss mir leicht auf die Unterlippe. „Ich würde es gerne lernen.“

Die Überraschung in seinem Gesicht wich einer Sanftheit und Wärme, die mir beinahe den Atem nahm. „Sehr gerne. Aber sei gewarnt, am Anfang ist es alles andere als leicht.“

„Ich bin hart im Nehmen.“

„Gut.“ Sein Blick fiel auf meine Lippen. „Gut... Dann werde ich sehen, was ich tun kann. Du brauchst ein Board und für den Anfang solltest du vielleicht einen Anzug tragen.“

„Wofür brauche ich einen Anzug? Reicht nicht ein Bikini?“

Wie aus Reflex glitt sein Blick an mir herab. „Ein Bikini könnte etwas knapp werden. Das ist an kalten Tagen nicht immer angenehm.“ Seine Stimme wurde immer abwesender, als wäre er mit den Gedanken woanders. „So ein Anzug schützt dich wenigstens vor dem kalten Wind, wenn du aus dem Wasser auf das Board steigst.“ Langsam legten sich seine Hände auf meine Hüften und glitten an meinen Seiten hinauf. „Du bist sehr schlank.“, bemerkte er dabei seltsam überrascht.

„Ich äh.... Danke.“

Stück für Stück wanderte sein Blick wieder nach oben, wobei er mich immer näher an sich zog. „Ein Bikini steht dir bestimmt teuflisch gut.“

„Ich weigere mich das zu beurteilen.“

Das zauberte ihm wieder ein leichtes Lächeln auf den Lippen, die meinen dabei immer näher kamen. „Normalerweise bin ich ziemlich gut darin so etwas einzuschätzen.“

„Du hast bestimmt auch schon viele Frauen im Bikini gesehen.“

„Keine sah so schön aus wie du.“

Ehe ich etwas dazu sagen konnte, legte er seine Lippen auf meine. Ganz sanft und vorsichtig, scheinbar darauf gefasst, dass ich ihn jeden Moment wegstoße, doch ich ließ ihn noch gewähren und ignorierte die finsteren Stimmen im hinteren Teil meines Kopfes, die mir sagten, dass es nicht der richtige Mann war, den ich küsste. In der Hoffnung, ich könnte die Trauer um Tevins Abwesenheit vergessen, gab ich mich ihm ein wenig hin und begann den Kuss zu genießen.

Ermutigt küsste er mich etwas leidenschaftlicher, legte einen Arm um meine Taille und umschloss mit einer Hand meinen Nacken. Seine Lippen selbst waren schon eine Versuchung, doch das Gefühl, als er den Mund öffnete und meine Zunge mit seiner berührte, war fast so unglaublich wie ein Kuss von Tevin.

Paradoxerweise war es genau dieser Gedanke, der mich dazu veranlasste mich von ihm zu lösen. Sein Atem ging schwer und glitt warm über mein Gesicht.

„Entschuldige.“, murmelte ich halblaut und senkte den Blick. „Es... fällt mir sehr schwer jemandem nahe zu kommen ohne...“

„Ohne an ihn zu denken?“, half er mitfühlend.

„Ja.“

Er strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und hob dieses dann am Kinn an, um mir in die Augen zu sehen. „Ich sage nicht, dass du aufhören sollst ihn zu lieben. Ich möchte dir bloß zeigen, dass du trotz dieser Liebe leben kannst und in der Lage bist mit einem anderen glücklich zu sein.“

Tränen traten mir in die Augen, die er vorsichtig wegwischte, als sie über meine Wangen liefen.

„Du musst dich auch nicht so sehr in mich verlieben wie in ihn. Wir stehen hier noch nahe am Anfang und haben noch viel Zeit vor uns. Mit dieser Zeit entscheidet dein Herz, ob es Platz für mich hat. Ich werde nicht von dir erwarten, dass du dich Hals über Kopf in mich verliebst, aber ich erwarte von dir, dass du wenigstens versuchst glücklich zu sein.“ Der Wind wehte ihm einige Strähnen ins Gesicht, die ihn nicht im Geringsten zu stören schienen. „Du hast nur das eine Leben, deshalb solltest du die Zeit, die man dir geschenkt hat, auch nutzen.“

Ich wusste nicht warum die Tränen nicht versiegen wollten.

Ich wusste auch nicht warum es mich so erleichterte, als er mich anschließend in die Arme nahm und festhielt.

Eins wurde mir jedoch klar. Es war Zeit loszulassen. Und Keanu wäre da um mir zu helfen den Schmerz zu ertragen, den ich dabei erleiden würde. Er würde mir die schönen Dinge zeigen, die ich vergessen hatte. Dinge, die mich zurück ins Leben holen würden.

Doch die Frage war, war ich bereit Tevin hinter mir zu lassen?

 

Konzentriert hockte ich auf dem Surfboard und richtete mich langsam auf. Keanu stand direkt daneben und hielt das Board für mich fest.

„Bereit?“, fragte er.

Das Board war mit einer seltsamen Vorrichtung so an zwei Stangen befestigt, dass es sich seitlich drehte, wenn man das Gleichgewicht nicht richtig verteilte. So sollte ich lernen nicht sofort herunter zu fallen, wenn ich versuchen würde im Meer auf das Board zu steigen.

Einen Moment zögerte ich, nickte Keanu dann aber zu. „Okay.“

Langsam ließ er das Board los, woraufhin die rechte Seite sofort etwas nachgab. Reflexartig versuchte ich mit dem linken Bein auszugleichen, weshalb ich beinahe herunter fiel und versuchte sofort mit rechts auszugleichen.

„Du bist etwas zu eifrig. Du musst das Gewicht auf beide Beine verlagern und nur leicht ausgleichen.“, erklärte er nebenbei, „Benutz deinen Oberkörper. Nimm ein Bein weiter vor, versuch die Füße in die Mitte zu stellen.“

Als ich mich einen Moment zu sehr auf seine Worte konzentrierte, verlor ich die Balance und rutschte vom Board. Glücklicherweise in seine Richtung, weshalb er mich geschickt auffangen konnte.

„Ich hab dich.“, beruhigte er mich und stellte mich auf den Boden.

Ich dagegen seufzte entmutigt. „Das war jetzt schon das siebte Mal.“, bemerkte ich frustriert, „Vielleicht sollten wir es anders ausprobieren.“

„Ach was. Du machst das gut. Du vergisst nur ständig die Füße in die Mitte zu stellen. Du stehst gerade darauf, das funktioniert so nicht. Ich zeigs dir.“

Mühelos zog er sich auf das Board, brachte es ohne Hilfe in die richtige Lage und hievte sich auf die Beine. Bei ihm sah es so unglaublich einfach aus.

„Siehst du? Ganz leicht. Genau genommen drehst du das Board mit deinen Füßen.“ Er deutete auf das Board herab. „Aber du denkst zu viel nach. Du musst nur deinen Oberkörper bewegen, den Rest macht dein Körper ganz von allein.“ Er machte ein paar Bewegungen vor, die ich mich so gut wie möglich einprägte. Dann ließ er sich auf dem Board nieder und sah zu mir herab. „Nicht zu viel denken. Und bleib immer ruhig. Denke daran, du willst das Wasser nicht beherrschen. Du lässt dir von ihm helfen.“

Ich seufzte leise und nickte zustimmend. „Okay.“

„Versuchen wir es nochmal?“

„Ja.“

„Gut.“ Geschickt glitt er herunter und half mir hoch, ehe er das Board wieder für mich festhielt. Er wartete, bis ich stand und sah dann fragend zu mir auf. „Sag, wenn du bereit bist.“

Ich atmete kurz durch und wollte bereits nicken, als ich daran dachte, wie er auf dem Board gestanden hatte. „Welcher Fuß muss nach vorn?“

„Das musst du austesten. Es kommt darauf an mit welchen es für dich einfacher ist.“

Nachdenklich wechselte ich die Füße ab, verlagerte dabei immer wieder mal das Gewicht und entschied mich dann für den linken.

„Okay.“, murmelte ich dann und versuchte seine Haltung nachzuahmen.

Langsam ließ er das Board los und trat einen Schritt zurück. Das Board bewegte sich nicht. Nervös sah ich langsam hinunter.

„Äh... und... jetzt?“

„Jetzt.“, murmelte er, „Jetzt simulieren wir Wasser. Es gibt eher nach und vor allem ist es im Meer immer in Bewegung.“

Er stieß ganz leicht den Rand des Boards an, woraufhin es sich ein wenig in Bewegung setzte. Erneut begann der Kampf um die Balance.

„Es ist eine Sache es gerade zu halten, wenn es vorher still war. Aber wenn es sich bewegt ist es was anderes. Vergiss nicht, dass auf dem Wasser auch noch hinzukommt, dass sich das Board nicht nur nach links und rechts bewegt, sondern auch nach vorn und nach hinten.“

„Du bist nicht besonders motivierend.“, jammerte ich kläglich.

„Ich hab nie behauptet, dass es einfach wird. Du siehst übrigens reizend aus.“

Ich warf ihm einen finsteren Blick zu. Als er mir angeboten hatte mit mir an den Strand zu fahren, um mit dem Surfunterricht zu beginnen, hatte ich damit gerechnet ins Wasser zu gehen und trug deshalb einen Bikini. Mittlerweile hatte ich mir ein Shirt übergezogen aber ich fühlte mich immer noch sehr freizügig, während er in Hose und Shirt neben mir stand.

„Na, das sieht doch gut aus.“, lobte er begeistert und verpasste dem Board einen kleinen Klaps. „Hier ist eine Welle.“

Dieser Klaps kam so plötzlich, dass ich erneut vom Board fiel. Ich stöhnte leise auf und rieb mir den schmerzenden Hintern, woraufhin Keanu um das Board herum kam und sich neben mich hockte. „Alles okay?“, fragte er aufmerksam.

„Bist du dir sicher, dass das die beste Methode ist, um das zu lernen?“

„Du machst doch sehr gute Fortschritte.“

Ich seufzte leise. „Dafür fühlt sich mein Hintern aber ziemlich misshandelt an.“

Sein Mundwinkel zuckte. „Ich kann ihn dir ja massieren, dann geht es ihm bestimmt besser.“

Amüsiert rollte ich mit den Augen und kam wieder auf die Beine. „Nochmal.“

Lächelnd half er mir auf das Board und hielt es fest.

Kapitel 6

 

Ihr Mobilfunkgerät ist leider irreparabel beschädigt. Da der Speicherchip ebenfalls stark beschädigt ist, ist eine Wiederherstellung Ihrer Daten leider nicht möglich. Wir entschuldigen uns vielmals und bitten um Verständnis.

- aus einem Brief der EIC

adressiert an Breda Amanar

 

Entspannt saß ich mit Tėtis im Auto und döste vor mich hin. Es war schon spät und wir waren auf dem Weg nach hause. Der Ausflug nach Monterey war unglaublich schön gewesen und ich wünschte ich könnte sofort mit ihm zurück fahren. Doch zum einen war das Hotel ausgebucht und wir hatten bereits ausgecheckt und zum anderen hatte Teddy sich so fest vorgenommen dafür zu sorgen, dass ich auf den Abschlussball gehe, dass er sich weigerte hin zu gehen, wenn ich nicht ging. Es war zum Haare raufen.

Als mein Smartphone klingelte, seufzte ich leise und holte es hervor.

Keanu Kahoku

Überrascht hob ich ab. „Hallo.“

„Hallo Vilija.“, begrüßte er mich gut gelaunt, „Bist du schon zuhause?“

„Nein. Wir waren in einem Stau, deshalb sind wir noch unterwegs.“ Ich gähnte verschlafen und sank etwas tiefer in den Sitz. „Warum rufst du an?“

„Wenn du möchtest rufe ich morgen nochmal an. Die Frage kann warten.“

„Ist schon okay. Frag schon.“

Er zögerte ein wenig. „Veit hat mir erzählt, dass Theodore nur auf den Abschlussball geht, wenn du hingehst.“

Ich seufzte tief. „Hat er das, ja?“

„Was denkst du darüber?“

„Ich bleibe hartnäckig und lass mich nicht manipulieren. Ich möchte nicht hingehen.“

„Aber warum? Ich meine, du hättest doch jemanden, der dich begleiten könnte.“

Ich schwieg eine Weile, weigerte mich überhaupt an den Grund zu denken. „Ich möchte einfach nicht.“, antwortete ich schließlich.

„Verstehe. Nun, dann... hättest du Lust an dem Abend zu mir zu kommen? Wir können zusammen kochen und uns einen Film ansehen.“

„Klingt gut.“

„In Ordnung. Dann wünsche ich dir noch ein paar schöne Tage mit deinem Vater. Viel Spaß.“

„Dankeschön. Bis Sonntag.“

„Bis Sonntag.“

Ich legte auf und steckte das Smartphone wieder ein, wobei Tėtis mir einen kurzen Blick zuwarf.

„War das Keanu?“, fragte er nebenbei.

„Ja.“

Wir hielten an einer roten Ampel, direkt neben einer Leuchtreklame. Desinteressiert sah ich aus dem Fenster, um sie mir anzusehen. Die Electronic Innovation Company, kurz EIC, warb für ihr neustes Modell. Mittels der neusten Technik konnte es dreidimensionale Bilder schießen. Dafür hatte es zwei Linsen. Außerdem warb es mit einem ausgefeiltem integriertem Terminplaner. Es sollte auch viel robuster sein als sein Vorgänger. Das Gerät war sehr interessant, da es ursprünglich ein einfaches Smartphone war. Mittlerweile wurde bereits nach einem neuen Namen gesucht, da die eigentliche Definition eines Handys oder Smartphones nicht darauf zutraf.

„Wie wäre es, wenn wir morgen einfach nur entspannen, hm?“, schlug Tėtis vor, „Ein bisschen faulenzen, Spiele spielen und abends gucken wir einen Film und ich mache Popcorn.“

Ungläubig sah ich ihn an. „Du willst Spiele mit mir spielen?“

„Ja, warum nicht? Als ich in deinem Alter war war ich nicht schlecht an der Konsole.“

„Aber das waren sicher ältere Modelle.“ Ich setzte mich ein wenig auf. „Hilfst du mir vielleicht bei der Auswahl der Möbel? Teddy sagt ich kann alles einrichten und den Preis teilen wir uns dann.“

„Natürlich. Frag nur, wenn du etwas wissen willst.“ Er machte eine kurze Pause. „Und du bist dir ganz sicher, dass du ausziehen möchtest?“

Ich nickte entschlossen. „Teddy hatte nie eine bessere Idee. Außerdem komme ich euch regelmäßig besuchen.“

Er murrte unglücklich. „Ist die Wohnung denn weit weg?“

„Nur etwa zehn Minuten mit dem Auto. Teddy und ich möchten sie uns nur noch einmal ansehen, bevor wir den Vertrag unterschreiben und dann zeige ich sie euch.“

„Wie sieht es mit deinen Bewerbungen aus?“

Ich zögerte ein wenig.

„Vilija? Du hast dich doch schon beworben, oder?“

Ich seufzte leise. „Ich warte damit noch ein wenig.“

„Vilija.“, tadelte er mich nun, „Ich habe dir doch schon gesagt, dass du damit nicht zu lange warten sollst. Ehe du dich versiehst ist Einsendeschluss und du musst ein halbes Jahr warten.“

„Ich will mich unbedingt an der SDOU bewerben.“, erklärte ich dann, „Es ist online und in der Nähe. Das wäre ideal.“

„Du weißt, dass das eine sehr fragliche Universität ist.“

„Sie ist schon seit zwei Jahren eröffnet und bisher habe ich nur positive Kritiken gelesen. Die Professoren sollen sehr professionell mit der Technik umgehen, sodass es spielend einfach ist an den Seminaren teilzunehmen.“

Das System der ersten Universität, die speziell auf Online-Seminare ausgerichtet war, war so angelegt, dass jeder Student in der Lage war von zuhause an den Seminaren teilzunehmen. Eine Kamera übertrug alles live als Stream, auf den man nur zugreifen konnte, wenn man von der Universität bestätigte Zugangsdaten nutzte. Gleichzeitig war man über ein Headset und einer einfachen Taste auf der Tastatur in der Lage sich zu melden und dem Professor Fragen zu stellen. Da die Universität mit der allerneusten Technik ausgestattet war, soll die Qualität nichts zu wünschen übrig lassen und war deshalb auch sehr beliebt bei angehenden Studenten.

Tėtis dagegen sah dem ganzen noch sehr skeptisch entgegen. „Du solltest eine richtige Universität besuchen, wie Harvard, Princeton oder Columbia.“

„Das ist alles viel zu weit weg.“, gab ich zu bedenken, „Anfangs wolltest du nicht einmal, dass ich ausziehe.“

„Wenn es deinen Abschluss fördert werfe ich dich mit Vergnügen in hohem Bogen raus.“

„Lügner.“

Erneut murrte er unglücklich, stritt es jedoch nicht ab.

„Mach dir keine Sorgen, Tėti. Ich bin in der Nähe und wenn etwas passiert dann komme ich einfach zu dir.“

Nicht viel entspannter seufzte er leise. „Was wollte Keanu von dir?“

„Er hat mich zu sich eingeladen. Zusammen kochen und einen Film ansehen. Am Sonntag.“

„Findet da nicht der Abschlussball statt?“

„Ja.“

„Warum gehst du nicht mit ihm dahin?“

Die Lichter der Laternen zogen an uns vorbei, während ich darüber nachdachte, was ich dazu sagen sollte. Er wusste, dass es einen Grund gab.

„Ich glaube, es würde weh tun.“, erklärte ich schließlich, „All die glücklichen Paare.“

„Bist du mit Keanu nicht glücklich?“

„Er gibt sich alle Mühe, aber ich glaube, er ist einfach nicht das, was ich brauche.“

Er dachte eine Weile darüber nach. „Lade ihn doch morgen ein.“

„Hä?“

„Zu uns.“

„Aber das sollte doch eine Vater-Tochter-Woche werden.“

„Oh, das ist es, keine Sorge.“ Er lächelte mich kurz warm an. „Ich dachte mir nur, dass er dich sicher schon vermisst. Außerdem würde ich ihn gerne etwas besser kennen lernen, wenn er sich wirklich so viel Mühe gibt dich glücklich zu machen. Und wann ist ein besserer Zeitpunkt als dann, wenn die anderen Frauen außer Haus sind?“

Mein Mundwinkel zuckte. „Hast du Enio gerade als Frau bezeichnet?“

Er brach in schallendes Gelächter aus.

„Na gut.“, gab ich nach, als er sich wieder beruhigt hatte. „Ich frage Keanu morgen ob er vorbei kommt.“

 

Der Geruch von Ei und gebratenem Speck holte mich langsam aus meinem mit Schlaftabletten vereiteltem Schlaf. Ich murrte lange, wollte noch nicht aufstehen, sah kurz darauf aber auf die Uhr.

„Mist.“, nuschelte ich in mein Kissen und zog es mir über den Kopf. „Schon 13 Uhr.“

Es klopfte an der Tür.

„Vilija, kommst du runter? Keanu ist schon da.“

Ich rief etwas unverständliches zurück und betete, dass Tėtis nicht herein kommen würde.

„Ich habe Omelette gemacht. Mit Speck und Bratkartoffeln.“

Mein Magen knurrte.

„Wenn du dich nicht beeilst ist es kalt wenn du runter kommst.“

Ich jammerte vor mich hin. Ich will schlafen. Warum folterst du mich so?

„So wie Keanu aussah hätte er sicher auch gerne etwas. Wenn du nicht möchtest gebe ich ihm deine Portion.“

Das wars. Mit einem Satz war ich auf den Beinen und hastete zur Tür. „Das ist mein Frühstück.“, protestierte ich verschlafen und sah zerzaust zu meinem Vater auf, der amüsiert auf mich herab sah.

„Da bist du ja.“, bemerkte er lächelnd, „Na komm, mach dich fertig. Das Essen braucht noch ein paar Minuten.“

Seufzend schlurfte ich ins Bad, während er wieder hinunter ging.

Eine Viertelstunde später ging ich gähnend hinunter und streckte mich ein wenig, ehe ich die Küche betrat. Tėtis richtete gerade die letzte Portion an.

„Du bist der allerbeste Vater, den sich eine Tochter wünschen kann.“, bemerkte ich und gab ihm einen Kuss auf die Wange, ehe ich zu Keanu ging.

Er stand sofort auf und zog mich in seine Arme, was mittlerweile seine übliche Begrüßung war. Der Kuss, den er mir gab, war jedoch neu. Ganz zu schweigen davon, wie überschwänglich der Kuss war.

Hinterher blinzelte ich ihn verwundert an. „Wofür war der?“

„Einfach so.“, entgegnete er lächelnd, „Ich küsse dich gerne.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, gab er mir noch einen kleinen Kuss, ehe er sich mit mir setzte. „Guten Morgen.“, begrüßte er mich dann.

„Guten Morgen.“, entgegnete ich, immer noch etwas überrascht.

„Wie hast du geschlafen?“ Beinahe verträumt stützte er seinen Kopf in seine Hand und sah mir zu, wie ich begann zu essen.

Traumlos, dank der Tabletten... „Eigentlich ziemlich gut.“ Im Vergleich zu sonst. „Und du?“

„Ich konnte kaum ein Auge zu tun.“, gab er zu und begann sich nun auch seiner Mahlzeit zu widmen. Kurz darauf hielt er kurz inne und sah meinen Vater anerkennend an. „Sir, ich glaube, das ist das beste Omelette, das ich je gegessen habe.“

Tėtis lächelte freundlich. „Vielen Dank, Keanu.“

„Du würdest aus den Schuhen kippen, wenn du erst einmal Janis' Mahlzeiten probierst.“, bemerkte ich, „Ich meine, es gibt nichts, was besser schmeckt als Tėtis' Essen, aber Janis ist fünf Sterne Koch und einfach... umwerfend.“

Dad seufzte leise und rollte mit den Augen. „Ja. Umwerfend. Manchmal verstehe ich wirklich nicht was ihr Frauen so an ihm findet.“

Tėti, du bist ein Mann. Es ist normal, dass du das nicht nachvollziehen kannst.“

„Dafür werde ich mich nicht entschuldigen.“

Ich schmunzelte. „Janis hat einfach so eine Ausstrahlung. Man sieht ihn an und denkt sich: Wenn es einen Gott gibt, dann ist das einer seiner Engel. Oder: Ich muss diese Haare berühren...“ Tatsächlich hatte ich es in meinem ganzen Leben nie geschafft jemals seine Haare zu berühren. Nun gab mir das irgendwie zu denken. War ich wirklich so sehr von Tevin abgelenkt?

„Sind Engel nicht eigentlich wunderschön?“, fragte Dad skeptisch, „Wenn das so ist, bin ich überglücklich nicht die gleiche Ausstrahlung zu haben wie Janis.“

„Nein, die hast du nicht. Wie Mamytė richtig erkannt hast wirkst du eher ein wenig wie ein...“

„Wie ein Streuner, ich weiß.“

Schmollte er gerade wirklich?

„Ich muss mir dafür wohl eine Strafe einfallen lassen.“ Nachdenklich sah er auf seinen Teller und grübelte vor sich hin. „Das ist gar nicht so einfach mit Enio.“

„Ach, Daddy.“, seufzte ich halblaut.

Als er bemerkte, wie ich ihn nannte, lächelte er mich warm an. „Iss auf bevor es kalt wird.“

Gerade als ich seiner Bitte Taten folgen lassen wollte, wurde die Haustür aufgerissen und jemand kam herein gehastet.

„Vilija?“

Verdutzt sah ich in den Flur. Was macht Veit denn hier? „Was gibt’s?“, rief ich zurück.

Keine zwei Sekunden später eilte er herein, packte mich am Handgelenk und zog mich hinter sich her. „Es tut mir wirklich furchtbar leid, aber ich wäre nicht hier, wenn es kein Notfall wäre.“

„Wovon redest du?“

„Theodore und Evelyn.“, antwortete er nur knapp, während er mich nach draußen zog.

Ich bemerkte wage, wie Keanu uns hastig folgte. „Was ist denn passiert?“

„Zuerst, es tut mir wirklich leid dich und deinen Vater bei eurer Vater-Tochter-Woche zu stören. Theodore wollte eigentlich gar nicht, dass du es erfährst, weil er will, dass du dich entspannst, aber- Verdammt nochmal.“ Als er sah, dass der Bus gerade wegfuhr, begann er zu laufen. „Evelyn hat ihn verlassen. Also, nicht wirklich verlassen, sondern... Er hat sie mit einem anderen in ihrem Zimmer gefunden. Es war nicht im Fligranti oder so, aber sie knöpfte sich gerade die Bluse zu und er hat sich ein Shirt übergezogen. Das ist doch nun wirklich eindeutig, oder?“

Mein Herz verkrampfte sich ein wenig. „Wie geht es ihm?“

Veit lachte freudlos auf. „Wie soll es ihm gehen? Er macht mir Angst, verdammt. Nach Gabriela war er noch halbwegs normal, nur ziemlich traurig. Aber jetzt... er sagt kein einziges Wort mehr. Er liegt einfach nur im Bett und... existiert!“

„Wer ist Evelyn?“, fragte Keanu nebenbei verwundert.

Veit sah ihn verdutzt an und sah dann zu mir. „Wo kommt er plötzlich her?“

„Er war schon die ganze Zeit da.“

„Warum war er bei euch? Ich dachte ihr hattet eine Vater-Tochter-Woche.“

Ich winkte ab. „Andere Geschichte.“ Dann sah ich zu Keanu. „Ev ist Teddys Freundin. Oder war es.“ Langsam ging mir wirklich die Puste aus. „Gabriela war seine erste Freundin, aber sie hat ihn mit einem anderen betrogen. Wochenlang. Zufälligerweise war es Evelyns Exfreund. Und zufälligerweise hat es zwischen Ev und Teddy auch sofort gefunkt und nach einem holprigen Start waren die zwei Feuer und Flamme und konnte die Finger nicht voneinander lassen. Und jetzt hat sie... nun ja. Ob sie ihn betrogen hat wissen wir ja nun nicht.“ Das konnte ich mir bei Evelyn auch beim besten Wille nicht vorstellen.

Als wir eine gefühlte Ewigkeit später keuchend Theodores Haus erreichten deutete seine Mutter einfach nur auf die Treppe, während ich sie atemlos begrüßte.

„Er ist in seinem Zimmer.“

Ich nickte. „Vielen Dank, Mrs. Vencino.“ Mit diesen Worten eilte ich an Veit vorbei, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und in Teddys Zimmer.

Wie Veit gesagt hatte lag er in seinem Bett. Er lag mit dem Rücken zur Tür und hielt den Teddybär in der Hand. Ohne lange zu zögern legte ich mich neben ihn und nahm ihn in die Arme.

„Es tut mir so leid.“

Er wurde etwas starr. Dann drehte er sich zu mir um, schien etwas verwundert. „Was-“ Als er Veit an der Tür sah, wurde sein Blick finster. „Ich hab doch gesagt, du sollst es ihr nicht sagen.“

Ehe Veit etwas dazu sagen konnte, drückte ich Teddy einfach an mich. „Sag so etwas nie wieder!“ Tränen traten mir in die Augen. „Du bist mein allerbester Freund. Wenn es sein muss würde ich sogar meine Flitterwochen unterbrechen, nur um dir beizustehen.“

„Aber Vilija, das ist doch-“

„Sei still.“, unterbrach ich ihn und klammerte mich an ihn, „Seit Jahren tust du nichts anderes als mir zu helfen, mich aufzumuntern und für mich da zu sein, wenn ich mal wieder die Welt nicht verstanden habe. Du warst immer mein Fels in der Brandung und die Ruhe mitten im Sturm. Aber immer wenn es dir schlecht ging hast du dich zurück genommen und es nie wirklich zugelassen, dass ich dir helfe.“

„Das ist in Ordnung.“

„Ist es nicht.“, widersprach ich und schluchzte leise. „Es tut mir so leid, dass ich so lange so zurück gezogen war. Ich hab- Ich hab einfach so wahnsinnige Angst. Aber ich will nicht, dass du mich ausschließt. Erst recht nicht, wenn ich Schuld an allem bin.“

„Was redest du denn da?“

„Wenn ich mich nicht so verhalten hätte, hättest du dir nicht so viele Sorgen um mich gemacht und-“

„Rede nicht so einen Unsinn. Was Evelyn getan hat, hat nichts-“

„Doch hat es. Du hast sie wegen mir vernachlässigt. Es ist alles meine Schuld.“

„Hör auf zu weinen.“, bat er mich mit belegter Stimme, „Du weißt doch, dass ich selbst weinen muss, wenn du es tust. Bitte... hör auf zu weinen.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Es tut mir alles so leid.“

„Du kannst doch aber nichts dafür.“ Er lehnte meine Stirn an seine, sodass ich sehen konnte, wie ihm Tränen aus den Augenwinkeln liefen. „Das ich Evelyn vernachlässigt habe war meine eigene Entscheidung. Sie hat so viel Verständnis gehabt, dass ich dachte, sie versteht das. Ich war blind und habe nicht gemerkt, wie es ihr weh getan hat, während wir stritten. Ich hab den eigentlichen Grund für ihren Frust nicht gesehen.“

„Ich hab Theodore noch nie weinen sehen.“, hörte ich Veit leise sagen.

„Gibt dir nicht die Schuld dafür.“, bat dieser mich, „Ich meine, für mich ist es selbstverständlich bei dir zu sein, wenn es dir so schlecht geht. Und es ist für mich auch selbstverständlich, dass du mich auf eine Weise erreichst, für die es gar nicht nötig ist, dass du mir so hilfst, wie ich es bei dir versuche. Es reicht, dass du einfach nur da bist. Du warst schon immer eine Konstante in meinem Leben und das gibt mir Halt. Du hast mir nicht einmal dann den Rücken zugedreht, als ich abweisend und gemein zu dir wurde. Verdammt, du-“ Plötzlich begann er zu lachen. „Du hast mir deine Brüste gezeigt, obwohl ich dich immer wieder belästigt habe.“

„Hör auf mich zum Lachen zu bringen.“, tadelte ich ihn, während ich mir das Lachen verkniff. „Ich bade gerade in Selbstmitleid. Du willst doch nicht, dass ich ertrinke.“

„Ich will nicht, dass du denkst, du wärst nicht für mich da.“, entgegnete er und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. „Du weißt wie ich ticke und findest immer die richtigen Worte und Gesten. Du musst mir nicht helfen, weil allein deine Anwesenheit eine Hilfe ist. Ich habe immer das Gefühl, ich könnte dir das, was du mir gibst, nie zurück geben. Egal was ich tue, egal wie sehr ich versuche dir zu helfen, ich erreiche dich nicht so, wie du mich erreichst.“

Ich vergrub mein Gesicht an seinem Hals und wiederholte seine eigenen Worte. „Es reicht, dass du da bist.“

Nun brach auch er leise in Tränen aus, vergrub sein Gesicht an meinem Hals und drückte mich an sich, während seine Schultern bebten.

„Sowas hab ich noch nie gesehen.“, murmelte Keanu halblaut, „Die ergänzen sich wie ein Traumpaar.“

„Du hättest sie mit Tevin sehen sollen.“, warf Veit ein, „Du musstest einfach nur neben ihnen stehen, um zu spüren wie glücklich sie waren.“

Einen Moment waren nur die Geräusche von meiner und Teddys Trauer zu hören.

„Du hast dir viel vorgenommen, wenn du sie glücklich machen willst.“

„Und ich dachte erst ihr dramatisiert das ganze.“

Zwei allerbeste Freunde die einander in tiefster Trauer trösten.

 

Ganze zwei Stunden später saßen Teddy und ich uns in seinem Bett gegenüber und hielten uns an den Händen. Keanu und Veit hatten sich nach einer Stunde herein getraut und saßen auf Teddys Couch, unterhielten sich leise.

„Veit sagte, du hättest nichts eindeutiges gesehen.“, bemerkte ich halblaut.

Teddy schüttelte den Kopf. „Ich wollte ihr Blumen und Pralinen bringen.“ Seine Wangen röteten sich leicht. „Aber als sie ihre Zimmertür geöffnet hat war ihre Bluse nur zur Hälfte geschlossen und sie war dabei die letzten Knöpfe zu schließen. Dieser Kerl zog sich gerade ein Shirt über.“

„Hat sie irgendwas gesagt?“

„Sie war überrascht mich zu sehen. Aber ich hab direkt gesagt, dass ich sie nicht stören wollte und bin dann wieder gegangen.“

„Und den Kerl kanntest du nicht?“

„Nein. Nie gesehen.“

Ich seufzte leise. „Was hast du mit den Blumen und Pralinen gemacht?“

„Die Blumen habe ich ihrer Mutter geschenkt. Ich hab mich dabei einfach für alles bedankt. Die Pralinen liegen in der Schublade.“ Er deutete auf seinen Nachttisch, auf dem sein Smartphone lag, dessen Display gerade aufleuchtete. Evelyn rief an.

Verwundert zog ich die Brauen zusammen. „Möchtest... Willst du nicht rangehen?“

Er seufzte leise, schüttelte aber den Kopf. „Nein. Mir fehlt gerade die Kraft dazu.“

Liebevoll strich ich ihm eine Strähne aus der Stirn. „Wenn du willst gehe ich ran.“

„Nicht nötig. Ich will nicht, dass du dich damit auch noch befassen musst. Eigentlich müsstest du jetzt Zeit mit deinem Vater verbringen.“

„Ich bin mir sicher, dass die Auszeit wie gerufen für ihn kommt. Er hat die Firma die ganze Zeit vernachlässigt, hat sich Urlaub genommen. Ich wette da ist das reinste Chaos ausgebrochen und er muss alles wieder gerade biegen.“

Sein Mundwinkel zuckte. „Dein Vater ist ein Naturtalent, wenn es darum geht Chaos aufzulösen. Und er ist immer die Ruhe selbst.“

„Ja. Ich hab ziemlich viel Glück mit ihm. Es hätte mich schlimmer treffen können. Kaden kann zum Beispiel ziemlich aufbrausend sein. Und Janis ist unglaublich still. Ich frage mich was Andrew für einen Vater abgeben würde.“

Teddy lächelte schräg, sah dann aber traurig auf unsere Hände. „Evelyn ist wirklich was besonderes für mich.“

„Du könntest mit ihr reden und die Beziehung retten.“

Er verzog das Gesicht. „Jedes Mal wenn ich an sie denke habe ich das Bild im Kopf wie sie vor mir steht, die Bluse zu macht und sich hinter ihr dieser Kerl anzieht. Ich glaube nicht, dass ich sie ansehen kann ohne dasselbe zu denken.“

Es war dem, was er mit Gabriela erlebt hatte sehr ähnlich. „Tut mir leid.“

Leise seufzend drehte er das Gesicht ein wenig zur Seite, drückte aber meine Hände. „Ich werde schon damit zurecht kommen. Und... bevor ich es vergesse.“ Er schloss kurz die Augen und sah dann zu mir auf. „Der Vermieter hat sich gemeldet. Die Renovierung ist fast vorbei, also könnten wir voraussichtlich schon nächste Woche einziehen, wenn wir wollen. Ich sagte ihm, dass ich mit dir darüber reden werde. Immerhin wärst du auch im Mietvertrag.“

Ich nickte und dachte darüber nach. „Nun... Es wäre sicher praktisch das so früh wie möglich zu machen, weil wir uns dann auf das Studium konzentrieren können.“

„Das dachte ich mir auch. Allerdings betont Mom immer wieder, dass wir ja nichts überstürzen sollen. Wegen den Finanzen.“

„Wir müssen uns auch Nebenjobs suchen.“, gab ich zu bedenken.

„Ja. Nachdem ich dem Vermieter die Lage erklärt habe, sagte er, dass wir im ersten Monat kostenfrei dort wohnen können, aber eine Kaution hinterlegen müssen.“

„Wirklich?“

„Ja. Die Kaution ist allerdings so hoch wie die Hälfte des Mietpreises. Und das können wir uns momentan noch nicht leisten.“

„Du hast Recht.“ Ich rieb mir den Nacken. „Wenn ich Dad frage, dann leiht er mir sicher etwas Geld. Er ist auch bereit uns generell finanziell zu unterstützen. Und er hilft mir bei der Wahl der Möbel.“

„So einen Dad hätte ich auch gerne.“ Er seufzte tief. „Meiner ist immer noch skeptisch und glaubt ich kriege das nicht hin. Deshalb will er mir auch kein Geld leihen.“

Ich hob ungläubig die Braue. „Du hast einen Vater?“

„Was redest du da? Natürlich habe ich einen Vater.“

Ich fasste mir an die Stirn. „Lieber Gott, was muss ich ignorant sein. Ich kann mich gar nicht an ihn erinnern.“

„Er ist auch selten da. Er arbeitet in Detroit und ist deshalb bestenfalls alle paar Monate da. Und Mom verdient leider nicht genug, um mich finanziell zu unterstützen. Dad schickt uns zwar Geld zu, aber es ist gerade genug, dass wir Problemfrei leben und uns ab und zu etwas gönnen können.“

„Ich dachte immer deine Eltern hätten sich getrennt.“

„Noch besteht die Ehe.“ Er kratzte sich verlegen am Kopf. „Ich bin etwas überrascht, dass wir nie darüber gesprochen haben.“

„Und ich erst. Er muss ja ausgezogen sein bevor du in den Kindergarten gegangen bist.“

„Fast. Damals war ich 5 Jahre alt. Wir haben uns nur noch nicht so gut gekannt. Wie auch immer. Ich hab mich schon nach Jobs für uns umgesehen.“

„Für mich auch?“, hakte ich überrascht nach.

„Natürlich. Ich weiß doch, dass du gerade nicht wirklich belastbar bist.“

Ich seufzte leise. „Hab ich dir jemals gesagt, dass ich dich liebe?“

Sanft lächelte er mich an. „Lass Tevin das nicht hören.“ Zwei Sekunden später wurde ihm klar, was er da gesagt hatte und das Lächeln verschwand. „Tut mir leid. Das ist mir so raus gerutscht.“

„Ist schon okay. Ich muss damit zurecht kommen.“ Ich atmete kurz durch. „Nun gut, was hast du für Jobs gefunden?“

Er ließ den Blick einen Moment wandern, schien nachzudenken. Dann stand er auf und holte seinen Laptop herüber. „In der Nähe von der Wohnung ist ein Tätowierer. Ich hab ihm Bilder gezeigt, die du gezeichnet hast und er sagt er könnte dich trotz des Studiums anlernen.“ Er tippte ein wenig auf herum und drehte dann den Laptop um, sodass ich Bilder von dem Laden und den Angestellten sehen konnte. „Das da ist Mr. Dridger. Er ist der Tätowierer. Und Mrs. Dridger ist die Geschäftsführerin.“ Er deutete auf die entsprechenden Bilder. „Zu Fuß sind es nur 10 Minuten von der Wohnung und gegenüber ist sogar ein kleines Café. Wir könnten da Pause machen.“

„Du auch? Was würdest du denn machen?“

„Ich zeichne zwar nicht so gut wie du, aber ich bin klasse in Mathematik und Verwaltung. Mrs. Dridger würde mir alles über die Geschäftsführung zeigen und sobald wir beide geübt sind könnte einer von ihnen auch mal zuhause bleiben. Je nachdem wir gut wir uns schlagen, sagt sie, würde sie uns auch irgendwann ganz allein lassen. Wir würden dann auch mehr verdienen.“

„Das klingt ja richtig klasse. Was würden wir da verdienen?“

„Das hängt davon ab wie gut wir sind. Nach deinen Zeichnungen sagt Mr. Dridger er würde dir 8 Dollar die Stunde anrechnen. Wenn du so gut tätowierst wie du zeichnest sogar mehr. Mrs. Dridger hat mir ähnliches vorgeschlagen.“

„Ähnliches?“

„Ja. Sie sagt sie würde mich nicht pro Stunde bezahlen, sondern das, was ich gearbeitet habe. Wenn ich also eine Stunde da bin, aber nichts zu tun habe, bekomme ich nur die Hälfte des Lohnes.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber sie sagt es gäbe immer genug zu tun. Und wenn ich wirklich gut bin gibt sie mir auch mehr. Alles in allem, wenn wir beide gut arbeiten verdienen wir etwa gleich viel und nachdem ich das durchgerechnet habe hab ich festgestellt, dass es im Monat genug für die Miete und Versorgung ist. Wir hätten auch genug, um etwas zurück zu legen oder deinem Vater Geld zurück zu geben.“

Ich nickte. „Okay. Was hast du noch?“

Er drehte den Laptop wieder um und begann zu tippen. „Die meisten Dinge waren so einfache Aushilfsjobs, wie Kellnern oder im Supermarkt Verkaufen oder die Regale einräumen.“ Er seufzte leise. „Irgendwann ist mir eingefallen, dass du eine wirklich hübsche junge Frau bist.“

Ich hob die Brauen. „Und?“

„Und ich hab ein paar Bilder an eine Werbeagentur geschickt.“

„Du hast was?!“

Veit und Keanu unterbrachen ihr Gespräch und sahen herüber.

„Guck nicht so, die bezahlen wirklich gut. Die wären bereit dich für ein paar Fotoshootings und Werbespotts zu nehmen und du würdest damit genug Geld für uns beide verdienen.“

Ich verzog das Gesicht, während er den Laptop umdrehte

„Hier. Ordinary Visions. Mir fiel auch ein, dass es eine Agentur ist, die die Firma unterhält, bei der dein Vater arbeitet. Die Werben ja für alles mögliche. Kosmetik, Mode, Fahrzeuge und so weiter. Die bieten dir dann eine Reihe von Möglichkeiten an und du darfst entscheiden was du davon machst.“

Ich murrte missmutig. „Ich stehe nicht gerne im Rampenlicht.“

„Ich weiß. Ich habe ihnen auch gesagt, dass du keinen Job machst, wenn ich nicht dabei bin.“

„Ich liebe dich wirklich, Teddy.“

Erneut lächelte er mich an. „Ich wäre dann übrigens Fotograf.“

„Fotograf?“

„Na, was glaubst du woher ich die Bilder von dir hatte.“

Mein Mundwinkel zuckte. „Sehr einfallsreich.“

„Vielen Dank.“

„Hast du noch mehr?“

„Einen noch.“ Er klappte den Laptop zu. „Aber das halte ich nicht für sehr seriös, deshalb ziehe ich das gar nicht erst in Erwägung. Du solltest auch erst mal in Ruhe darüber nachdenken und vielleicht mit deinem Vater darüber sprechen. Der Job bei Ordinary Visions wirft mehr Geld ab, ist aber sicher viel anstrengender. Der Job beim Tätowierer dagegen ist weniger zeitintensiv aber da verdienst du auch etwas weniger.“

„Was ist mit dir? Was würdest du gerne tun?“

„Ich bin mit beidem zufrieden. Ich hab erst Jobs ausgesucht die dir gefallen könnten und dann habe ich nachgesehen ob dabei etwas für mich in Frage käme.“ Er kratzte sich verlegen am Kopf. „Ehrlich gesagt war ich etwas egoistisch und hab alles rausgeschmissen bei dem wir nicht zusammen arbeiten würden. Am Ende hab ich noch raus sortiert was für mich nicht machbar wäre und... nun ja, das war das Ergebnis.“

Ich lächelte schräg. „Ist okay. Ich werde mit Tėtis darüber sprechen.“

„Gut. Also, was denkst du, was soll ich dem Vermieter sagen? Ziehen wir übernächste Woche ein oder möchtest du noch warten?“

„Nun, wir können uns die Wohnung auf jeden Fall dann mal ansehen. Wenn sie uns gefällt würde ich den Vertrag unterschreiben, aber mit einem Einzug warten, bis wir Möbel haben auf denen wir schlafen können.“

„Nimmst du deine Sachen denn nicht mit?“, fragte er überrascht.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Der Umzug in die WG ist für mich ein neuer Anfang. Aber das Zimmer bei meinen Eltern behalte ich auch. Als eine Art... Rückzugsort. Außerdem brauche ich da ja auch ein Bett in dem ich schlafen kann.“

„Du hast Recht.“ Nachdenklich zog er die Brauen zusammen. „So betrachtet werde ich mir auch ein neues Bett kaufen müssen. Na gut. Dann machen wir das so.“ Er streckte sich ausgiebig, drehte sich um und legte dann seinen Kopf in meinen Schoß. „Hast du dich eigentlich schon für eine Uni entschieden?“

„Ich wollte es mit der SDOU ausprobieren.“

„Ich hab auch darüber nachgedacht.“

Ich begann ihm mit den Fingern das Haar aus der Stirn nach hinten zu kämmen. „Tėtis hält das für keine gute Idee. Weil das eine Online Universität ist und so. Er hält das nicht für seriös.“

„Aber sonst sagt er nichts? Er lässt dich trotzdem machen?“

„Ja. Er vertraut mir, dass ich schon das richtige tun werde.“

„Verstehe.“

„Was sagt deine Mutter?“

„Dass sie von so etwas eh keine Ahnung hat und ich schon alles richtig machen werde.“ Er seufzte leise. „In solchen Dingen ist sie keine so gute Hilfe.“

Als es an der Tür klopfte, sahen wir alle dorthin.

„Ja?“, rief Teddy.

Seine Mutter sah herein, hielt ein Telefon in der Hand. „Evelyn ist am Telefon. Sie ruft schon seit Stunden an.“

„Ich habe gerade keine Zeit.“, entgegnete Teddy bedrückt und sah wieder zu mir auf.

„Sie sagt es sei wichtig.“

„Ich weiß schon Bescheid. Richte ihr bitte aus, dass …“ Er hielt inne und verzog ein wenig das Gesicht.

Ich seufzte leise. „Sie muss es nicht weiter versuchen.“, erklärte ich dann, „Die Nachricht ist bei ihm angekommen.“

Seine Mutter sah ihn mitfühlend an. „Okay. Ich werde es ihr ausrichten.“

Mit diesen Worten zog sie die Tür wieder zu, woraufhin ich zu Teddy herab sah. „Ich muss sagen, ich bin ziemlich enttäuscht von ihr.“ Tevin hatte mir erzählt sie würde nur mit jemandem schlafen, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte. Teddy war der erste mit dem sie das getan hatte. „Du solltest nicht weiter darüber nachdenken.“

„Du hast Recht.“ Er seufzte tief. Dann lächelte er schwach. „Bekomme ich einen Kuss?“

Wortlos beugte ich mich zu ihm herab und küsste ihn liebevoll auf den Mund. Als ich mich wieder aufrichtete dachte er einen Moment nach, ehe er nickte.

„Wie ich es mir gedacht habe. Ein Trost, der mir das Herz erwärmt.“ Er griff nach meiner Hand. „Lass mich niemals allein.“

„Nie. Du solltest jetzt vielleicht ein wenig schlafen. Du siehst müde aus.“

„Ich hab seit dem kein Auge zugetan.“

„Wann war das denn?“

„Vorgestern.“

„Oh... Wie gesagt, schlaf dich aus. Wir lassen dich dann allein.“

„Bleibst du bis ich schlafe?“

„Klar.“

Daraufhin machten wir es uns im Bett gemütlich und ich wartete geduldig bis er schlief, wobei ich ihm immer wieder mit der Hand durchs Haar fuhr. Als ich mir sicher war, dass er schlief, löste ich mich sanft von ihm, legte ihm den Teddybär in die Arme und küsste ihn sanft auf die Wange, ehe ich mich abwand.

„Wir sollten gehen.“, flüsterte ich Veit und Keanu zu.

Diese nickten wortlos und folgten mir hinaus.

 

Als ich mit Keanu wieder bei mir ankam saß Tėtis wie erwartet an seinem Laptop und telefonierte.

„Ich habe doch gesagt, dass das erledigt werden muss. Und sorgt dafür, dass wir mehr Angestellte in die Abteilung bekommen. So geht das ganze den Bach runter.“ Als er uns bemerkte nickte er kurz. „Ich muss jetzt auflegen. Ich melde mich wenn mein Urlaub vorbei ist.“ Sein Gesprächspartner sagte noch irgendwas, woraufhin Dad die Augen schloss. „Nein, das habe ich doch gerade eben gesagt. Gib die Unterlagen an meine Sekretärin weiter, die kümmert sich darum. - Gut, bis dann.“ Etwas gereizt legte er auf, klappte den Laptop zu und stand auf. „Alles beredet, was beredet werden musste?“

Ich ging zu ihm herüber und nahm ihn in die Arme. „Ja. Es geht ihm furchtbar schlecht, aber er ruht sich jetzt aus.“

„Haben sie wieder gestritten?“

„Nein. Schlimmer. Das ist so kompliziert.“

„Nichts ist komplizierter als Tevin und du.“, bemerkte er trocken und tätschelte mir den Kopf. „Wie auch immer. Du hast nicht aufgegessen und es ist kalt geworden. Soll ich es aufwärmen?“

„Oh bitte.“

Amüsiert löste er sich von mir und ging in die Küche, während ich mit Keanu im Wohnzimmer blieb. Wir setzten uns gemütlich auf die Couch, wobei er mich eng an sich zog und in die Arme nahm.

„Du verstehst dich sehr gut mit deinem Vater, oder?“

„Ja. Ich bin voll und ganz ein Vaterkind. Cyntia hängt eher an meiner Mutter.“

„Und dein älterer Bruder?“

„Keins von beidem. Er... Er hing an mir.“

„Wie nahe standet ihr euch denn?“

Wortlos sah ich vor mir her, antwortete nicht. Als ich dann zu ihm aufsah wechselte ich einfach das Thema, indem ich ihn küsste. Er grinste leicht darüber, erwiderte den Kuss aber gefühlvoll. Ein paar Sekunden später fiel mir ein, dass ich ihn bisher nie von mir aus geküsst hatte. Das war also der erste Kuss, der von mir ausging.

„Ich hoffe für dich, dass du genauso gut aufgeklärt bist wie meine Tochter.“

Als Tėtis Stimme ertönte, löste Keanu sich abrupt von mir und sah zu ihm auf. „Ich... ähm... entschuldigen Sie, Sir. Und... ja, ich bin aufgeklärt.“

Mein Vater nickte langsam und kam dann mit meinem Frühstück herüber, dass er vor mich auf den Tisch stellte.

„Vielen Dank.“

„Gerne doch.“, entgegnete er lächelnd und setzte sich neben mich. „Dann erzähl mal, Keanu. Vilija sagte du hättest einen Job.“

„Ja, Sir. Ich arbeite als Surf- und Schwimmlehrer und als Bademeister. Drei Mal die Woche, einmal davon am Wochenende. Das ist eher so ein Nebenjob um Geld zu verdienen, das ich sparen kann. Hauptberuflich bin ich Erzieher in einer Kita in der Nähe meiner Wohnung.“

„Verdienst du da gut?“

„Ich kann mit von dem Lohn die Wohnung bezahlen, den Wagen und die Lebensmittel. Dann bleibt am Ende des Monats noch etwas übrig. Ich denke also schon, dass ich da gut verdiene.“

„Und du hast trotz zwei Jobs viel Freizeit?“

„Ich bin nur vormittags in der Kita, wenn die Eltern alle arbeiten. Gegen Mittag werden viele schon abgeholt und dann wird entschieden wer bis 15 Uhr bleibt. Die meisten werden bis dahin aber schon abgeholt sodass dann ein Erzieher reicht. Und um 15 Uhr kommen dann die für die Nachmittagsschicht.“

„Wann fängst du morgens denn immer so an?“, fragte ich neugierig.

„So gegen 8 Uhr. Aber die Kita öffnet schon um 7.“

„Dann arbeitest du gern mit Kindern?“, fragte Dad weiter.

„Ja. Ich mag es, wenn sie lachen. Und es macht mir auch nichts aus, wenn sie mal schreien oder weinen. Allerdings ist es ein wenig anstrengend, wenn sie so kleine Ärgermacher sind und Spaß daran haben andere Kinder zu ärgern.“

„Da braucht man bestimmt eine Menge Geduld. Bei dieser Arbeit, meine ich.“, vermutete ich halblaut und aß den letzten Bissen von meiner Mahlzeit.

„Man sollte zumindest nicht wegen jeder Kleinigkeit an die Decke gehen. Die meisten Kinder fangen an zu weinen, wenn man sie anschreit.“

„Es sind eben empfindliche kleine Wesen.“

„So wie du?“, neckte er mich amüsiert.

„Hey... Das ist nicht nett.“ Ich zog einen kleinen Schmollmund.

Sein Blick glitt zu meinem Mund. „Ich hab nie gesagt, dass ich immer nett bin.“

„Oh! Also das werde ich mir merken.“, entgegnete ich neckisch und stand auf, um den Teller in die Küche zu bringen.

Ich hörte wie er und Dad sich unterhielten und ließ mir deshalb noch etwas länger Zeit. Als ich zurück kam, sah Keanu gerade mit rotem Kopf auf den Tisch und rieb sich das Ohr. Ich sah den Humor in Dads Augen, weshalb ich vermutete, dass er ihm unangenehme Fragen stellte.

„Nein, Sir.“, antwortete Keanu gerade.

„Nicht einmal wen

n du abends allein im Zimmer bist?“

„Ähm... nein, Sir.“

„Du hast nicht mal mit dem Gedanken gespielt?“

„Ma-Manchmal.“, gab er zu und wurde noch roter.

„Und bevor du mit meiner Tochter zusammen warst?“

„Ich... gebe zu, ich... ähm.... Ja, Sir.“

„Nun gut. Das ist besser als Frauen wie Einweghandschuhe zu benutzen.“

Ich seufzte tief. „Du hast deinen Spaß, hm?“, fragte ich Tėtis schmunzelnd.

„Das ist das erste Mal, dass ich so etwas genießen kann. Natürlich macht es Spaß.“, entgegnete er amüsiert, „Aber so stelle ich auch fest, dass du einen ordentlichen jungen Mann gefunden hast.“

„Dann findet er also deine Zustimmung?“ Ich setzte mich wieder neben Keanu.

„Das habe ich nicht behauptet.“

„Habe ich denn deine Zustimmung?“, fragte Keanu mich leise.

„Das weiß ich noch nicht.“, entgegnete ich ebenso leise.

„Also...“, hob Tėtis an, „Du hast behauptet ich sei nicht gut an einer Konsole.“

Ich grinste ihn an. „Ich besiege dich bestimmt.“

„Da wirst du Keanus Hilfe brauchen.“

 

Mehrere Stunden später fluchte ich vor mich hin und legte den Arm über meine Augen.

„Verloren.“, murmelte ich, „Gegen meinen Vater.“

Dieser saß gemütlich in seinem Sessel und sah mich belustigt an. „Ich habs dir gesagt.“

Keanu lachte neben mir leise.

„Hör auf zu lachen. Wir sind ein Team. Du müsstest genauso niedergeschlagen sein wie ich.“

„Oh, das bin ich, keine Sorge. Aber es ist einfach zu süß, wie du diese Schnute ziehst.“

„Ich-ich ziehe keine Schnute.“, protestierte ich abrupt.

„Doch, du schmollst richtig.“

„Tue ich nicht.“

„Und wie du das tust.“

„Das redest du dir ein.“

„Ich käme nie auf diese Idee.“ Er kam mir etwas näher und lächelte mich an. „Ich komme jedes Mal in Versuchung dich zu küssen, wenn du das machst.“

„Ich-ich mache d-d-doch gar nichts.“

„Ich werde mich mal um das Abendessen kümmern.“

Ich bemerkte noch wie Tėtis das Wohnzimmer verließ, woraufhin Keanu mich der Länge nach auf die Couch schob und sich über mich beugte.

„Zu verführerisch.“, wisperte er, ehe er mich küsste.

Das erste Mal seit Monaten begann ich zu lächeln.

Kapitel 7

 

 

Ich habe schon wieder von ihr geträumt.

Meine Eltern scheinen nicht zu wissen, warum keine Antwort kommt, aber langsam benehmen sie sich komisch,

wenn ich sie danach frage.

Ich kann es kaum erwarten sie wiederzusehen.

- Tagebucheintrag von Breda Amanar

 

Es ist nun zwei Jahre her und doch muss ich immerzu an ihn denken. Dabei versucht Keanu alles, um mich glücklich zu machen. Wann hört das auf?

- Tagebucheintrag von Vilija Kemmesies

 

Ein Jahre später

Frustriert raufte ich mir das Haar und starrte die Zeichnung vor mir an. Seit etwa einer Woche arbeitete ich nun daran, aber irgendwas fehlte. Ich wusste nur nicht was.

Ein Klingeln an der Tür riss mich schließlich gänzlich aus der Konzentration, woraufhin ich laut fluchend meinen Bleistift an meine Zimmertür warf. Tief seufzend legte ich schließlich meine Arme auf den Zeichentisch und bettete meine Stirn drauf, wobei ich die Schultern sinken ließ und hoffnungslos vor mich hin döste.

„Schläfst du schon?“, ertönte Keanus Stimme von der Tür.

„Ich bade in Selbstmitleid.“, entgegnete ich demotiviert und hob den Kopf, um auf die Zeichnung zu sehen. „Ich komme einfach nicht darauf was fehlt.“

„Wirfst du mit Stiften um dich?“

Als ich zu ihm sah, hob er gerade den Bleistift auf. „Ja, sieht so aus. Diese Arbeit macht mich einfach total fertig. Ich komme auf keinen grünen Zweig.“

„Dann versuch es mit einem gelben.“ Er zuckte mit den Schultern, kam herüber und begrüßte mich mit einem innigen Kuss. „Hey.“

Ich murrte. „Hey.“

„Warum so unglücklich über den Kuss?“

„Nicht darüber. Eher darüber, dass du mich nicht ernst nimmst.“

„Oh, ich nehme dich ernst.“

Skeptisch hob ich eine Braue.

„Sehr ernst.“, bekräftigte er und hob mich ein Stück hoch, um an meiner Stelle auf dem Stuhl Platz zu nehmen und mich auf seinen Schoß zu ziehen. „Na, dann gucken wir mal.“

„Als würdest du eine bessere Idee haben.“

„Ich kann vielleicht nicht so unfassbar gut Zeichnen, aber- Verdammt, wie machst du das? Du sitzt nur auf meinem Schoß und ich hätte dich am liebsten im Bett.“

„Ich sag doch, du nimmst mich nicht ernst.“

„Ich habe nie einen Menschen ernster genommen, glaub mir.“

„Du musst ein viel zu entspanntes Leben geführt haben.“, bemerkte ich schnippisch, ehe ich von seinem Schoß aufstand und zu meinem Schrank ging. „Du bist zwei Stunden zu früh dran.“

„Es ist nie zu früh dich zu sehen.“, widersprach er lächelnd und sah mir dabei zu, wie ich begann mich auszuziehen. „Ich sehe dir gerne beim Ausziehen zu. Ich wünschte nur, es wären meine Hände.“

Ich lächelte amüsiert. „Du bist viel zu lüstern, um mein Freund zu sein.“

„Noch mehr Bedingungen?“ Sanft schmiegte er sich von hinten an mich und legte mir die Arme um die Taille, während sein Mund über meine Ohrmuschel glitt. „Du überforderst mich.“

„Es ist doch nicht schwer ein bisschen Zurückhaltung zu üben.“, warf ich ein, während er mein Gesicht zu sich drehte.

„Meinst du?“ Ehe ich antworten konnte, küsste er mich erneut. „Ich halte mich schon seit einem Jahr zurück. Es war nie meine Stärke mit Frust umzugehen.“ Seine Finger malten kleine Kreise auf meinem Bauch, ehe er die Hände darauf ausbreitete. „Du bist viel zu sexy für diese Welt.“

„Du bist bloß-“

Er unterbrach mich mit einem weiteren Kuss. „Nicht reden.“, murmelte er und drehte mich zu sich herum. „Wir haben zwei Stunden Zeit zum genießen.“

„Und ich hab mich schon gewundert, warum du so früh da bist.“

„Tatsächlich bin ich das, weil ich dich einfach sehen wollte. Aber ich bin nun mal wer ich bin und kann nichts dagegen machen, wenn ich Hoffnung hege ein bisschen mehr von dir zu bekommen als Küsse.“ Unschuldig sah er mich an. „Ich finde ich war das letzte ganze Jahr ein sehr braver Junge, der belohnt werden muss.“

„Sagtest du nicht ich soll nicht reden?“

„Hey.“ Er kniff mir in den Hintern. „Werd nicht frech.“

Ich lächelte belustigt zu ihm auf. „Ich hab doch gerade erst angefangen.“

„Ja, das ist mir bewusst. Ich sollte weitere Frechheiten vorbeugen.“

„Und wie stellst du das an?“

„Nun... wie wäre es damit?“ Ohne Vorwarnung warf er mich über seine Schultern, durchquerte kurz mein Zimmer und ließ mich dann auf mein Bett fallen, ehe er sich über mich beugte. „Nur ein bisschen.“

Ich biss mir leicht auf die Unterlippe, während er begann meinen Hals zu küssen. „Ich weiß nicht, ob ich das schon kann.“

Seufzend löste er sich von mir. „Okay. Verstanden.“

„Das heißt nicht, dass du mich nicht küssen darfst.“

„Ich weiß.“ Er verzog das Gesicht. „Allerdings strapazierst du meine Geduld ganz schön. Es ist gar nicht mehr so einfach mich zurückzuhalten.“

„Vielleicht sollte ich aufhören mich vor deinen Augen auszuziehen.“

Einen Moment dachte er darüber nach. „Nein, keine Chance. Ich hab es schon zu oft gesehen. Wenn du rausgehst, um dich umzuziehen, werde ich es mir vorstellen. Das ist nicht besser.“

Nachdenklich starrte ich auf seinen Oberarm.

„Ich hab schon alles mögliche durchdacht.“, bemerkte er und berührte sachte meinen Mund. „Ich bin eben ein hoffnungslos lüsterner Flegel, der es gar nicht abwarten kann seine Freundin nackt zu sehen.“

„So genau hätte ich es gar nicht beschrieben.“

„Vielen Dank.“

Einen Moment sah ich ihn dann. Dann konnte ich einfach nicht anders, als lauthals loszulachen.

„Lach mich nicht aus.“, murrte er verstimmt, „Du verletzt meinen Stolz.“

Tröstlich zog ich ihn zu mir herüber und gab ihm einen Kuss. „Entschuldige, Keanu. Das war nicht meine Absicht.“

„Das klingt nicht sehr glaubwürdig. Du lachst immer noch.“ Verwundert sah er auf mich herab. „Ich hab dich noch nie lachen sehen.“

„Bist du sicher?“, fragte ich verblüfft.

„Ja. Eher habe ich das Gefühl, dass du mit der Zeit immer ernster wurdest. Als ich dich kennen gelernt habe warst du zwar unendlich traurig, aber du warst irgendwie... lebendig. Auf deine Art. Aber in letzter Zeit warst du so... ernst.“

Ich strich ihm ein paar Strähnen aus der Stirn. „Was meinst du mit ernst?“

Wortlos stand er auf und ging zu meinem Zeichentisch, wo er eine Schublade aufschob und die erste Zeichnung herausholte, die er fand. „Sieh es dir an.“

Es war eine sachliche Zeichnung von einem Kind auf einer Schaukel. „Was ist damit?“

Er nickte nur, ging zu meinem Schreibtisch und schnappte sich meinen alten Zeichenblock, aus dem er ebenfalls die erste Zeichnung nahm und sie mir zeigte. „Und das hier?“

Eine farbenfrohe Lichtung mitten in einem Wald. Der Mond stand voll am Himmel und einige Wolken verdeckten ihn zur Hälfte. Ein kleines Häschen saß am Rande der Lichtung.

„Und?“, fragte ich verwundert.

Er hielt die beiden Zeichnungen nebeneinander. „Fällt dir da nichts auf?“

Das jüngere Bild war schwarz weiß und erschien völlig trocken, während das ältere nur so vor Farben und Leben strotzte.

„Das Kind war ein Projekt für die Uni.“, erklärte ich.

„Es geht nicht um die Farben.“, bemerkte er, legte die Zeichnungen zur Seite und kam wieder zu mir. „Es geht mir um das Gefühl, das du vermittelt hast. So wie Veit in der Lage war mit den Emotionen zu faszinieren, hast du mit wunderschöner Realität fasziniert. Du hast jedes Detail beachtet und es sorgsam platziert.“ Er deutete auf die Zeichnung auf meinem Zeichentisch. „Dir fehlt die Freude an der Realität. Du zeichnest einfach nur nach Anweisung.“

Ich seufzte leise und senkte ein wenig den Blick. „Die Uni ist mir wichtig.“

„Ich weiß. Dagegen habe ich auch nichts. Du bist in gewisser Maßen ein wenig aufgeblüht, aber du hast diese... Freude verloren. Wir haben ab und zu noch unsere schönen Moment in denen wir uns necken und du lächelst, aber ich sehe dich viel zu oft ernst vor dich hinstarren. Du lächelst nicht mehr so oft wie am Anfang.“

„Tut mir leid, dass ich dir Sorgen bereite.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist in Ordnung. Du solltest dich eher dafür entschuldigen, dass du es mir so schwer machst dich glücklich zu machen. Ich weiß langsam einfach nicht mehr, was ich falsch mache.“

Aufmunternd legte ich ihm die Arme um den Hals. „Du machst nichts falsch. Wirklich. Ich denke, ich bin nur etwas gestresst, wegen der Uni und dem Tätowierer und diesen blöden Fotoshootings.“

Er schnalzte mit der Zunge. „Ich wusste es. Es liegt dir einfach nicht vor einer Kamera zu hantieren.“

Ich verzog das Gesicht. „Ich hasse es. Aber Teddy hat Spaß am Fotografieren und wir können das Geld gut gebrauchen.“

„Wenn du als Ausgleich mehr zur Entspannung hättest, würde ich gar nicht meckern.“

„Du willst mir bloß an die Wäsche.“, tadelte ich amüsiert.

„Sei ehrlich. Welcher Mann will das nicht?“

„Na, mein Daddy, natürlich.“

„Ah... ja... natürlich.“ Er sah betreten auf meine Schulter. „Dein Dad.“

„Er mag dich. Wirklich.“

„Ich verstehe wirklich nicht wie du das so sehen kannst.“

Ich rollte mit den Augen. Tėtis hatte vor fünf Monaten mitbekommen, wie Keanu sich mir ein wenig aufgedrängt hatte. Er hatte gar nichts schlechtes im Sinn und hatte bereits damit aufhören wollen, allerdings fand mein Vater das bei weitem nicht so witzig wie wir.

„Du hast ihn schockiert.“, erklärte ich.

„Er hat mir gedroht mich zu kastrieren.“, widersprach Keanu, „Da sprach eiserne Berechnung, kein Schock.“

„Er hat lediglich gesagt, er würde dir den Hals umdrehen, solltest du mich nochmal derart bedrängen.“

„Er sagte nicht welchen Hals.“

Kichernd schlug ich ihm gegen die Schulter. „Wenn er mitkriegen würde was du tust wenn du hier bei mir bist, würdest du dir um ganz andere Dinge Sorgen machen.“

Er murrte mich ein wenig an. „Ich gebe mir wirklich alle Mühe.“

„Ich weiß.“ Abwesend streichelte ich ihm über den Schopf.

„Ich zeige beste Manieren in seiner Gegenwart und behandle ihn mit größtem Respekt.“

„Ich weiß.“

„Ich würde nie auf die Idee kommen dir etwas anzutun, was du nicht willst.“

„Das weiß ich auch.“ Beiläufig knöpfte ich sein Hemd auf und ließ eine Hand über seinen Oberkörper wandern.

„Was muss ich noch tun, damit er aufhört mich anzusehen, als würde er mich jeden Moment aus dem Haus werfen?“

„Hmmm....“ Nachdenklich betrachtete ich seine Brust, die noch genauso umwerfend aussah, wie damals im Park, als er dem Ball hinterher geschwommen war. „Vielleicht solltest du öfter ohne Oberteil herum laufen.“

„Ich weiß wirklich nicht wie mir das helfen soll. Dein Vater ist glücklich verheiratet.“

Vielleicht habe ich ihn zu lange zappeln lassen... „Du hast Recht.“, bemerkte ich.

Verdattert sah er mich an. „Ich wäre bestürzt wenn nicht.“

„Ich auch, ich auch.“

Verwirrt ließ er zu, dass ich ihm das Hemd auszog.

„Du solltest wirklich belohnt werden.“

Nun sah er mich überrascht an. „Wirklich?“

Ich zog ihn etwas enger an mich. „Wirklich.“

„Oh.“, bemerkte er daraufhin leicht neben der Spur und sah perplex auf mich herab, als ich begann ihn zu liebkosen. „Was tust du da?“

„Wonach sieht es denn aus?“

„Eiskalte Folter der Verführung.“, entgegnete er mit gespielt finsterer Stimme.

Erneut fing ich an zu lachen, schlang die Arme um ihn und zog ihn mit, als ich mich zurück legte. „Ich belohne dich, du vernachlässigter Mann.“

„Oh.“, kam es nun verstehend von ihm, „Wenn das so ist, will ich dich natürlich nicht länger davon abhalten.“ Warm und vorsichtig glitten seine Hände über meine Seiten. „Darf ich dir dabei helfen?“

„Wenn du...“ Ich zögerte, haperte etwas mit mir selbst. Er schien offenbar zu merken, dass meine Gedanken wieder die falsche Richtung einschlugen und zog die Hände zurück.

„Es ist okay.“, bemerkte er etwas niedergeschlagen.

Ich winkte ab. „Alles in Ordnung. Ich... Es tut mir leid. Ich habe dir zu viel zugemutet. Ich wollte dich nicht... so lange warten lassen.“

Stumm starrte er auf mich herab. „Warum fällt es dir so schwer?“

Es passierte in letzter Zeit öfter, dass er Dinge bezüglich meines Verhaltens fragte. Dinge, die sich nur erklären ließen, wenn ich von Tevin erzählte. Das wollte ich ihm nicht antun.

„Das ist nicht weiter wichtig.“, entgegnete ich entschlossen, „Übernachtest du heute bei mir?“

„Vilija. Sprich mit mir. Da bedrückt dich noch irgendwas.“

Ich hielt einen Moment den Atem an. „Es ist nichts wogegen du etwas tun kannst.“

„Also dein Kerl, hm?“ Er seufzte leise, rollte sich neben mich und zog mich an sich. „Okay. Ich wollte das eigentlich nie sagen, aber... erzähl mir von ihm. Er muss ja ein wahnsinnig toller Kerl sein, wenn du ihm so lange nachtrauerst.“

„Ich werde nicht über ihn sprechen.“, widersprach ich und kuschelte mich an ihn. „Es ist nur schwer mich auf jemand anderen einzulassen.“

Er schwieg einen Moment. „Verstehe.“

„Übernachtest du heute bei mir?“

„Äh... Was?“

„Vielleicht ist es dann einfacher.“, spekulierte ich, „Du hast noch nie bei mir übernachtet.“

„Fragst du mich das, um es auszuprobieren, oder weil du mich gern bei dir haben würdest?“

„Eine Mischung aus beidem.“, entgegnete ich ohne nachzudenken, schloss die Augen und barg das Gesicht an seinem Hals. „Können wir nicht hier bleiben? Mir ist nicht mehr nach Ausgehen.“

„Natürlich. Ich werde nur eben im Restaurant anrufen und die Reservierung aufheben.“ Vorsichtig löste er sich von mir. „Bin gleich wieder da.“ Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

Ich muss es wirklich versuchen. Ich habe ihm gesagt, dass er eine faire Chance bekommt, also muss ich es versuchen.

Leise seufzend drehte ich mich um und starrte mein Mobi an. Zwei Jahre und keine einzige Reaktion von Tevin.

Ich muss loslassen...

Ich atmete tief durch, nahm mein Mobi und wollte gerade in die Kontakte gehen, als eine SMS kam.

Ihn ein Jahr zappeln zu lassen war wirklich irgendwie grausam, dachte ich mir, während ich die SMS öffnete.

 

Komm morgen bitte nach hause. Es ist wichtig.

Levin

 

Verdutzt starrte ich die SMS an. Tėtis schrieb mir nie eine SMS in der er mich nicht begrüßte. Und er fasste sich auch nie so kurz. Ganz zu schweigen von dem fehlenden Abschied.

Verwirrt schrieb ich eine Antwort.

 

Ich muss morgen arbeiten. Es stehen überraschend viele Tätowierungen an, die Mitch allein nicht schafft. Ich übernehme die Hälfte.

Passt übermorgen?

Vilija

 

„Das sieht ihm nicht ähnlich.“, murmelte ich vor mich her und streckte mich ein wenig, wobei mein Blick zur Tür glitt. „Keanu!“, rief ich halblaut, „Du brauchst zu lange.“

Er musste direkt an der Tür stehen, denn ich konnte sein Lachen hören. Dann kam er wieder herein. „Tut mir leid. Ich hab die Nummer erst nicht gefunden und dann hatte sie Schwierigkeiten meinen Namen zu schreiben.“

„Sie notiert sich wahrscheinlich irgendwo deine Nummer, um dich zu stalken.“

„Da bist du ja wieder.“, bemerkte er mit einem warmen Lächeln und legte sich wieder zu mir ins Bett. „Ich hab dich vermisst.“

„Tut mir wirklich leid.“

„Ist schon okay.“

Als er sich zu mir herunter beugte, um mich zu küssen, vibrierte mein Mobi erneut, woraufhin er verwirrt darauf herab sah.

„Unterhältst du dich mit jemandem?“

Ich murrte kurz. „Mein Vater hat mir geschrieben.“, erklärte ich daraufhin und öffnete die SMS. „Dauert nur einen Moment.“

 

Komm danach. Ich bin mir sicher, dass es auch für dich besonders wichtig ist.

 

Noch verwirrter als zuvor zog ich die Brauen zusammen.

 

Na gut. Ich bringe Keanu mit. Wir sind verabredet.

 

„Ist es in Ordnung wenn wir zu meinen Eltern gehen, statt ins Kino?“, fragte ich nebenbei, „Dad besteht darauf, dass ich morgen hingehe.“

„Kein Problem.“

Als auf meine SMS kein Antwort kam, legte ich das Mobi beiseite und kuschelte mich wieder an Keanu. „Also.... wo waren wir?“

„Von jetzt an werde ich jede Nacht bei dir schlafen.“, verkündete er.

Unwillkürlich lachte ich auf. „Du hast deine eigene Wohnung.“

„Oh... stimmt. Nun, wenn das so ist, dann schläfst du halt ab und zu bei mir.“

Amüsiert schüttelte ich den Kopf. „Wir dürfen uns nicht zu sehr auf die Pelle rücken. Sonst wird uns das zu viel.“

„Ach was... Niemals.“ Liebevoll stieß er seine Nasenspitze an meine und gab mir einen leichten Kuss.

„Das klingt sehr überzeugt.“

„Oh ja.“

Dieser Bestätigung folgte ein langer, sehr sinnlicher Kuss, der mir den Atem nahm. Ein leises Stöhnen kam mir über die Lippen, woraufhin er mich vorsichtig auf den Rücken drehte und sich über mich schob.

„Du bist so weich...“

 

Tevin!“

Murrend vergrub er das Gesicht in meinem Kissen.

Tevin, steh auf. Wir müssen in die Schule.“

Noch fünf Minuten.“

Wir sind schon spät dran.“

Gleich, gleich...“

Aber wenn wir zu spät kommen...“

Er streckte sich müde. „Ja ja, ich weiß. Ich mach ja schon.“ Langsam öffnete er die Augen und sah auf mich herab. „Bekomme ich einen Kuss? Dann werde ich ganz bestimmt schneller wach.“

Du bekommst einen, wenn du fertig bist. Jetzt steh auf, mein Großer. Du kannst doch nicht zu spät zu deinem Abschluss kommen.“

Er seufzte tief. „Ich weiß, dass du Recht hast. Aber vergiss nicht, dass mein Flug heute geht.“

Entsetzt sah ich zu ihm auf. „Was?“

Na... mein Flug. Hast du das etwa vergessen? Meine Eltern holen mich später ab. Wir fliegen doch nach England.“

Verdattert schüttelte ich den Kopf. „Nein... Du... Du kannst doch nicht...“

Doch.“, entgegnete er verwirrt, „Habe ich doch schon.“

Plötzlich fiel ich. Ich... fiel einfach...

 

Mit einem Schrei schreckte ich aus dem Traum hoch und sah mich hektisch atmend um.

„Alles okay? Vilija? Was hast du?“

Tevin? … Nein, das... nein!

Zerstreut strich ich mir das Haar aus dem Gesicht und schaltete mein Nachtlicht ein. Keanu blinzelte mir verschlafen entgegen und wirkte besorgt.

„Was hast du?“, fragte er erneut, „Hast du schlecht geträumt?“

Als sich langsam der Schock legte, atmete ich kurz durch und schaltete das Licht wieder aus.

„Vilija?“

„Tut mir leid.“, entgegnete ich und rückte eng an ihn heran. „Ein Albtraum.“

„Möchtest du darüber reden?“

Ich war drauf und dran den Kopf zu schütteln, hielt dann aber inne und vergrub das Gesicht an seiner Brust. „Er hat mich einfach verlassen.“

Mit einem Schlag entwich die Luft aus seiner Lunge. „Er schon wieder.“, murmelte er kaum hörbar, „Er tut nichts als ihr weh zu tun.“ Dann hob er etwas die Stimme an. „Du solltest weiterschlafen. Ich bin hier. Ich werde dich nicht verlassen.“

„Lass es mich vergessen.“, bat ich ihn leise, „Bitte. Ich will es vergessen.“

„Rede nicht so.“, murmelte er.

Die Bitte ignorierend zog ich mich an ihm hoch und drückte meine Lippen auf seine. „Bitte, Keanu. Hilf mir es zu vergessen.“

„Vilija... großer... Gott...“ Stöhnend gab er nach und erwiderte den Kuss. „Sollte ich ihn je in die Finger kriegen...“

Die Drohung blieb unbeendet in der Luft hängen, wurde nicht weiter beachtet.

 

Das Klingeln meines Weckers holte mich unsanft aus dem Schlaf. Es hatte lange gedauert, doch nach einer äußerst intensiven Behandlung von Keanu hatte ich dann doch noch schlafen können.

Dieser räkelte sich nun verschlafen hinter mir und streckte den Arm aus, um den Wecker auszustellen.

„Wir haben noch ein wenig Zeit.“, murmelte er.

Du hast noch ein wenig Zeit.“, korrigierte ich, „Ich muss aufstehen.“

„Wirklich?“

„Ja.“

„Tattoo?“

„Mhm.“

Er schnaufte. „Na gut. Dann lass ich dich freiwillig gehen. Aber nur, wenn ich vorher einen Kuss bekomme.“

„Du willst mich nur austricksen.“, entgegnete ich darauf und rutschte aus dem Bett. „Du kannst ruhig liegen bleiben, wenn du möchtest.“

„Ohne dich will ich nicht. Gehst du duschen?“

„Ja.“

„In Ordnung.“ Er erhob sich ebenfalls und streifte sich kurz seine Shorts über. „Ich komme mit.“

Ich zog mir ein längeres Shirt über und verließ mit Keanu das Zimmer. Veit verließ gerade gähnend sein eigenes. Als er uns bemerkte blinzelte er überrascht.

„Guten Morgen.“, grüßte er uns dann verwundert.

„Morgen.“, entgegnete ich, „Wir gehen ins Bad, okay?“

„Äh... ja... klar.“ Offenbar immer noch überrascht sah er uns hinterher, bis Keanu die Badezimmertür hinter uns schloss.

„Teddy!“, hörte ich kurz danach Veit rufen, „Sie hat's getan!“

„So eine Klatschtante.“, bemerkte ich und rollte mit den Augen.

„Denken wir nicht weiter darüber nach.“, meinte darauf Keanu und ging zur Dusche, um das warme Wasser aufzudrehen.

Murrend ging ich zu ihm herüber und griff nach dem Saum meines Shirts. „Hast du abgeschlossen?“

Verwirrt hielt er mit den Händen an seiner Shorts inne und zog die Brauen zusammen. „Warum sollte ich abschließen?“

Ich hatte das Shirt gerade bis zu meinem Bauch angehoben, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und Teddy herein sah.

„Deswegen.“, bemerkte ich daraufhin und ließ seufzend das Shirt fallen. „Wir wollten gerade duschen.“

Er taxierte uns eine Weile. „Zusammen.“

„Nein, wir halten ein Handtuch zwischen uns.“

Als er mich daraufhin anstarrte, brach ich einfach ich halblautes Gelächter aus, schüttelte den Kopf und wendete mich ab. „Ja, wir duschen zusammen. Sag nicht, du willst auch mitkommen.“

Als er nicht antwortete und auch sonst nichts passierte, drehte ich mich wieder zu ihm um. Er starrte mich mit so einem seltsamen Blick an.

„Was ist?“, fragte ich verwundert.

Er atmete erleichtert aus. „Du hast gelacht.“

„Könnten wir das vielleicht auf später verschieben? Ich würde gern duschen.“

„Ja... klar...“ Sein Blick wurde etwas weicher und er lächelte leicht. „Ich mach schon mal Frühstück.“

„Okay. Bis gleich.“

Mit einem Nicken schloss er hinter sich die Tür.

„Das... hab ich jetzt nicht ganz verstanden.“, bemerkte Keanu vorsichtig.

Ich zog mir das Shirt über den Kopf. „Er wollte nur sicher gehen, dass es mir gut geht. Oder... besser.“

Ohne weiter darauf einzugehen stieg ich in die Dusche und seufzte wohlig, als mir das warme Wasser auf den Rücken prasselte.

Eine Stunde später setzte ich mich mit Keanu an den Frühstückstisch und besah mir das Essen, das Teddy mir gerade hinstellte.

„Nicht wahr!“, rief ich begeistert aus, als ich die Koldunai erkannte.

„Ich hab deinen Vater nach dem Rezept gefragt.“, erklärte Teddy und drückte mir einen Kuss auf die Schläfe.

„Du bist fantastisch!“

„Mach ich gerne. Jetzt iss. Ich würde gerne wissen, ob sie dir schmecken.“

Ohne Zögern schnappte ich mir die Gabel und probierte. Dann stöhnte ich vor Wonne auf. „Sind die lecker.“

„Schön zu hören.“, kam es daraufhin erleichtert von ihm.

„Was ist das?“, fragte Kenau verwundert.

„Das sind Koldunai.“, antwortete ich.

„Teigtaschen.“, erklärte Teddy.

„Warum isst du das zum Frühstück?“

Veit blinzelte ihn verwundert hat. „Du bist jetzt ein Jahr mit ihr zusammen und weißt das nicht?“

„Was?“

„Vilija ist den litauischen Rhythmus gewöhnt.“, erklärte Teddy, „Sie essen morgens immer warm. Selten kalt. Und auch dann etwas deftiger.“

„Möchtest du probieren?“, fragte ich Keanu und hielt ihm die Gabel mit einem Koldunai hin.

Zögerlich betrachtete er es einen Moment, zog es dann aber vorsichtig mit den Zähnen von der Gabel und probierte. Überrascht sah er sie dann an. „Das schmeckt richtig gut.“

Ich lächelte. „Du musst Daddys Cepelinai probieren.“

Teddy stöhnte leise. „Sie sind göttlich.“

Veit nickte zustimmend. „Das sind sie wirklich.“

„Normalerweise macht Janis immer die besten Gerichte, aber Tėtis' Cepelinai sind unschlagbar.“, erklärte ich.

„Jetzt hast du mich neugierig gemacht.“

Amüsiert gab ich ihm einen kurzen Kuss, ehe ich den letzten Rest aufaß und aufstand, wobei ich einen Blick auf die Uhr warf. „So, meine lieben Herren. Ich mache mich dann jetzt auf zu Mitch. Danach gehe ich zu meinen Eltern. Tėtis hat darum gebeten. Er sagte es sei wichtig.“

„Ist in Ordnung.“

„Du isst dann nicht mit, richtig?“, fragte Teddy.

„Ich denke nicht. Keanu kommt auch mit. Wir werden bei Tėtis und Mamytė essen.“

„Okay.“

Ich zauste Veit das Haar, gab Teddy einen kleinen Kuss und küsste Keanu kurz, aber innig, ehe ich zur Tür ging. „Bis dann.“

„Sag Christina bitte, dass ich morgen eine Stunde später da bin.“, rief Teddy mir hinterher.

„Mach ich!“

Damit schloss ich die Tür hinter mir und ging gemütlich die Treppen hinunter.

 

Als ich um 18 Uhr Feierabend machte wartete Keanu bereits vor dem Geschäft. Zur Begrüßung schloss er mich in die Arme und küsste mich liebevoll, ehe er auf mich herab sah.

„Hey.“

Ich lächelte ihn an. „Hey.“

„Wie wars?“

„Eigentlich ziemlich gut. Etwas stressig zwar, aber gut.“

Er nahm meine Hand, verschränkte unsere Finger und machte sich dann mit mir auf den Weg. „Was glaubst du ist so wichtig, dass dein Vater dich so dringend bittet hinzukommen?“

„Ich weiß es nicht.“

Ich bin mir sicher, dass es auch für dich besonders wichtig ist.

Ich konnte mir einfach nichts vorstellen. Mamytė war nicht schwanger, also hatte ich kein neues Geschwisterchen. Einen Unfall gab es sicher auch nicht, sonst hätte er mich sofort hin gebeten, nicht erst heute. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass es irgendein Problem in der Verwandtschaft gab, sonst hätte er nicht so dringend darauf bestanden.

„Ich habe keine Idee.“

„Seltsam.“, murmelte er, „Hat er sowas denn schon mal gemacht?“

„Nein. Es ist sehr ungewöhnlich, dass er mich so nach hause bittet. Und er hat auch in ganz kurzen Sätzen geschrieben, ohne Begrüßung, ohne Abschied. Das ist seltsam.“

„Also eine ganz neue Situation.“

Ich seufzte. „Sieht ganz danach aus. Aber was auch immer es ist, so schlimm kann es nicht sein.“

„Wie kommst du darauf?“

„Wäre es etwas sehr dringendes hätte er mich schon gestern gebeten zu kommen.“, erklärte ich, „Aber er wollte, dass ich heute komme.“

„Verstehe.“

„Wir sehen es ja, wenn wir da sind.“

Er nickte nachdenklich.

„Es ist nur schade um den Tisch, den du für gestern reserviert hast.“

„Ach.“ Er winkte ab. „Ich kenne den Besitzer um ein paar Ecken herum. Ich bekomme bestimmt noch mal so einen Tisch. Das soll nicht das Problem sein.“

„Ja, aber gefreut habe ich mich trotzdem.“

Er lächelte mich warm an und gab mir einen kurzen Kuss. „Das holen wir nach, versprochen.“

„So wie den Surfunterricht, der nun schon seit zwei Wochen ausfällt?“

Er begann an meinen Lippen zu grinsen. „Verdammt.“

Leise lachend gab ich ihm den Kuss, den er haben wollte und zog ihn dann weiter. „Na komm. Ich werde neugierig.“

Eine halbe Stunde später öffnete ich die Tür und betrat mit Keanu das Haus.

„Wir sind da!“, rief ich herein und klopfte meine Schuhe aus.

Da waren Stimmen im Wohnzimmer. Verwundert zog ich meine Schuhe aus und ging dann zur Wohnzimmertür... wo ich wie vom Blitz getroffen stehen blieb.

Tėtis und Mamytė saßen auf einer Zweiercouch, auf der Couch gegenüber saß ein Fremder und im Sessel... Ich weigerte mich es zu glauben, da ich ihn nicht richtig erkennen konnte. Er saß seitlich im Sessel, die Beine über die eine Lehne, den Rücken an die andere Lehne gelehnt und den linken Arm über die Augen gelegt. Der rechte Arm hing einfach nur runter. Alles in Allem machte er einen sehr erschöpften Eindruck.

„Noch mehr Verwandte?“

Ich bemerkte Keanus Frage kaum, war viel zu sehr damit beschäftigt ihn mir anzusehen. Er schien etwas größer zu sein, seine Schultern waren breiter und er musste auch abgenommen haben. Da er nur ein T-Shirt trug, sah ich, dass er auf jeden Fall etwas an Muskelmasse zugelegt hatte, die ihm ziemlich gut stand, sofern ich das in seiner Position beurteilen konnte.

Er kann es nicht sein...

„Ah, da seid ihr ja schon.“, bemerkte Tėtis mit einem Lächeln.

Als hätte er einen imaginären Knopf gedrückt, nahm er den Arm von seinen Augen und hob den Kopf. Leuchtende grüne Augen, dunkles braunes Haar, glänzend, wie dunkle Seide. Seine Gesichtszüge traten etwas schärfer hervor als früher, die Haare waren etwas länger. Mein Herz begann sofort zu pochen und meine Knie wurden etwas weich. Er war schon immer anbetungswürdig, doch nun... wurde meine Welt vollständig aus den Angeln gehoben.

Tevin!“, brachte ich atemlos hervor.

Wortlos sprang er auf und kam direkt auf mich zu, streckte die Hände nach mir aus, die Stimme nicht mehr als ein Hauchen.

Vilija...

Ein einziges Wort aus seinem Mund genügte um mir Tränen in die Augen zu treiben. Unbewusst begann ich vor ihm zurück zu weichen und hob abwehrend die Hände.

„Nein.“, brachte ich hervor, „Bleib weg von mir.“

Er verzog das Gesicht. „Vilija... bitte.“ Als er das sagte, fiel mir sein Akzent auf. Als wir jünger waren, klang er genauso. „Lass mich alles erklären.“

Ich schüttelte abwehrend den Kopf. „Ich will nichts hören.“ Tränen liefen mir über die Wangen.

„Bitte. Es... Es gibt Gründe. Ich-“

Ich kniff die Augen zu und wendete das Gesicht ab. „Bitte, ich will nichts hören.“

Zwei Hände legten sich auf meine Oberarme. Sofort begann ich zu zittern und schüttelte hastig den Kopf.

„Nicht...“

„Bitte.“ Er war so nahe...

So nahe...

Mein Herz raste.

Mein Atem ging schnell.

Plötzlich ertönte Moms Stimme. Sie sprach Litauisch.

„Tevin, du solltest ihr mehr Raum lassen. Du warst lange nicht da, vieles ist jetzt anders.

Sein Atem ging stockend. „Anders?“, wiederholte er, „Was... was hat sich geändert?“

„Könntest du bitte aufhören sie so zu bedrängen?“, fragte Keanu dazwischen.

Ich öffnete die Augen und entdeckte ihn direkt neben uns. Tevin hatte mich an die Wand gedrängt, die dem Wohnzimmer gegenüber lag und stand so dicht bei mir, dass er mich beinahe mit mehr als seinen Händen berührte. Ich konnte seinen Atem an meinem Haar spüren.

Keanu sah überaus verwirrt aus und bedachte Tevin mit einem warnenden Blick.

Dieser warf ihm einen kurzen Blick zu und sah dann wieder auf mich herab. „Ein Freund von dir?“, murmelte er halblaut, „Was ist mit Theodore, Ev und Veit?“

„Breda?“, ertönte diesmal eine fremde Stimme.

Der Fremde stand in der Wohnzimmertür und sah herüber. Tevin wurde etwas unruhig und sah sich über die Schulter.

„Ja?“

„Wir müssen noch reden, bevor ich wieder abreise.“

„Ich weiß. Nicht jetzt, ich-“ Er unterbrach sich und sah wieder auf mich herab, strich mit mit einer hauchzarten Berührung eine Träne von der Wange. „Es tut mir alles so leid.“, flüsterte er.

Ich schüttelte den Kopf.

„Bitte, lass mich alles erklären.“

„Nicht. Ich- Ich kann nicht. Es ist wie Mom sagte. Vieles hat sich geändert.“ Mein Blick fiel auf Keanu, der geduldig neben uns stand.

Tevin folgte meinem Blick und sah mich dann lange an. Kurz darauf begann sich die Hand, die noch an meinem Oberarm lag, sich abwechselnd zu ballen und zu lockern. „Meinst du mit anders, dass du... Hast du...“ Seine Stimme begann zu beben, vermischte sich mit Panik. „Ist er dein...“

„Es sind zwei Jahre vergangen.“, entgegnete ich halblaut.

„Ja, aber... Ich meine... Nein... Du- Nein! Das kann nicht sein.“ Zerstreut schüttelte er den Kopf, rückte unbewusst näher und stützte sich mit einem Arm an der Mauer ab, während er die Stirn auf meiner Schulter bettete. „Das glaube ich nicht.“

„Mach es nicht noch schwerer, als es ist.“, bat ich leise.

Ein lautes Pochen ertönte direkt neben seinem Kopf. Er hatte gegen die Wand geschlagen. „Tu mir das nicht an.“

Langsam wich ich seitlich von ihm zurück, rückte zu Keanu herüber. „Wir sollten besser wieder gehen.“

Liebevoll legte er mir einen Arm um die Taille. „Alles okay mit dir?“

„Ja, ich... werde schon zurecht kommen.“

Er seufzte lange, während ich mich wieder von meinen Eltern verabschiedete. „Und so geht alles wieder von vorne los, hm?“, fragte er, als ich auf ihn zu kam.

Ich warf Tevin einen Blick zu. Er hatte den Kopf an die Wand gestützt und sah ziellos gen Boden, die eine Hand im Haar vergraben, die andere herab hängend.

„Nein.“, antwortete ich und riss den Blick von ihm los. „Das ist was anderes. Etwas ganz ganz anderes.“

Warm küsste er mich auf die Schläfe und nahm meine Hand, eher er mit mir das Haus verließ. „Willst du mir verraten wer er ist? Deine Eltern kennen ihn wohl.“

„Er ist jemand, der... mir sehr viel bedeutet. Oder bedeutet hat.“

Oder bedeutet hat?“, hakte er nach.

„Ich... Ich will ehrlich sein... Aber ich will dich nicht mit Dingen belasten, die dich... nicht belasten sollten.“

„Wie meinst du das?“

Tief durchatmend zog ich meine Jacke etwas enger um mich und wappnete mich für das kommende Gespräch. „Er ist es, dem ich so lange hinterher getrauert habe.“

Er stolperte fast, wurde etwas langsamer und sah mich nahezu entsetzt an. „Das war dein Ex? Ist er Preisboxer oder so? Heilige Scheiße, der macht mich doch kalt.“

Ich konnte nicht anders, als etwas erleichtert zu sein. Er nahm es nicht so ernst, wie ich gedacht hatte. „Nein. Und so viele Muskeln sind es gar nicht.“

„Wenn nicht er, dann der Kerl, der mit ihm gesprochen hat. Kennst du den?“

„Nein. Nie gesehen.“

„Aber er kennt ihn. Tevin, oder?“

„Ja.“

„Und warum ist er hier? Ich meine, sagtest du nicht, er sei in England?“

„Das dachte ich auch. Ich... Ich habe keine Ahnung, Keanu. Ich weiß genauso wenig darüber wie du.“

„Ich... Ich weiß. Es tut mir leid.“ Er atmete kurz durch. „Es ging dir sehr nahe, oder? Dass er wieder da ist.“

„Ich bin sehr überrascht.“

„Und überwältigt, hm? Ich meine... Veit und Teddy haben oft angedeutet wie sehr ihr euch geliebt habt und so.“ Er griff nach meiner Hand. „Wir haben uns nie etwas derartiges gesagt.“

„Findest du das schlimm?“

„Ich... weiß nicht genau.“ Unsicher sah er zu mir herüber. „Jetzt wo er da ist wüsste ich schon gerne ob du mich liebst.“

Mein Hals zog sich etwas zusammen, Nervosität erfasste mich. Als er stehen blieb und sich zu mir umdrehte musste ich einige Male schlucken, ehe ich zu ihm aufsehen konnte.

„Erinnerst du dich noch daran, was ich zu dir gesagt habe, als wir diese Probebeziehung geführt haben?“

„Du... hast so einiges gesagt.“, antwortete ich unsicher.

Sein Mundwinkel hob sich ein wenig und sein Kopf senkte sich etwas zu mir herab. „Ich hab gesagt, wenn du dich in mich verliebst, verlange ich nicht von dir, dass du mich so sehr liebst wie ihn. Ein bisschen würde mir schon reichen.“

Ich setzte zu einer Antwort an, doch er legte mir einen Finger auf die Lippen und hielt mich davon ab zu sprechen.

„Warte noch.“ Einen Moment sammelte er sich und nickte dann vor sich hin. „Ich sagte, ein bisschen würde mir reichen.“, wiederholte er dann und sah auf mich herab. „Ich verstehe es, wenn du für mich nicht so viel empfinden kannst wie... ich für dich.“

Meine Augen weiteten sich überrascht.

„Ich habe es dir nie gesagt, weil ich dich nicht unter Druck setzten oder drängen wollte. Erst war ich einfach nur fasziniert und war bestrebt dich näher kennen zu lernen, aber dann...“ Er lachte kurz auf. „Ich hab dich so völlig natürlich mit deiner Schwester spielen sehen. Und dann war da dieser Moment, als du das mit Evelyn und Theodore erfahren hast. Du hast nicht gezögert ihn zu trösten. Es gibt noch so viele andere Momente, in denen alles immer... stärker wurde. Meine Gefühle für dich. Mein Bedürfnis dich glücklich zu machen.“ Liebevoll strich er mir einige Strähnen aus dem Gesicht und glitt mit den Fingerspitzen über meine Wange. „Ich liebe dich.“

Vereinzelnd glitten einige Tränen über meine Wangen, die Keanu sanft wegwischte.

„Ich weiß, es ist sehr schwer für dich. Wegen ihm, wegen dem was passiert ist und weil er wieder da ist. Aber ich will, dass du weißt, dass ich immer bei dir sein werde, egal was du tust, egal... für wen du dich entscheidest.“

Entscheiden?

Er lächelte bitter. „Ich weiß, dass du ihn noch liebst. Ich hab es gesehen. In jedem Wort gehört. Ich kann es verstehen, wenn du lieber mit ihm zusammen sein willst.“

„Hör auf so etwas zu sagen.“, brachte ich mit belegter Stimme hervor und griff nach ihm, hielt mich an ihm fest. „Sag das nicht.“ Ich schlang fest die Arme um ihn und drückte mein Gesicht an seine Brust. „Sag das nicht.“

Er drückte mich ebenfalls an sich, küsste mich auf den Schopf und legte dann seine Wange darauf.

„Ich kann ihm nicht verzeihen, was er getan hat.“

In gleichmäßigen Abständen glitt er mit der Hand beruhigend über mein Haar, bis ich mich beruhigt hatte. „Ist okay.“, flüsterte er dann und schob mich ein wenig zurück, um mir ins Gesicht zu sehen. „Lass uns weiter gehen.“

Langsam nickte ich und schloss einen Moment die Augen. „Gut.“

Kapitel 8

 

Ich hab letzte Nacht wieder von ihr geträumt.

Sie hat mich angelächelt und gesagt: „Tevin,

pass gut auf, sonst bläst der Wind deine Kerze aus.“

Jetzt sitze ich im Dunkeln und bete, dass sie mir vergibt.

Nie werde ich ihr Gesicht vergessen,

als sie mich weinend angesehen hat,

als sie sagte: „Vieles hat sich geändert.“

Das bedeutet so viel wie: „Du hast nicht aufgepasst.

Der Wind hat deine Kerze ausgeblasen.“

- Tagebucheintrag von Breda Amanar

 

Ich schlief in dieser Nacht schlecht und bereitete Keanu Sorgen, doch die nächsten Tagen verliefen besser. Teddy war wahnsinnig wütend auf Tevin und Veit musste sich sehr anstrengen, um ihn daran zu hindern Tevin sofort zu verprügeln.

„Es macht keinen Sinn.“, sagte er in vernünftigem Ton, „Davon wird es auch nicht besser.“

„Aber es verschafft Genugtuung.“, entgegnete Teddy ebenso logisch,

„Dir vielleicht, aber sonst niemandem.“

Mittlerweile beachtete ich diese kleinen Diskussionen nicht mehr und verbrachte die Zeit mit Keanu, der gar nicht mehr von meiner Seite weichen wollte.

Ich saß gerade mit ihm im Wohnzimmer und sah einen Film, als Teddy nach hause kam und die Tür hinter sich zu warf. Er wirkte zutiefst frustriert.

„Hey.“, begrüßte ich ihn und warf ein Popcorn in seine Richtung.

Er winkte ab und ging in sein Zimmer.

„Hm.“, machte ich daraufhin und wendete den Blick ab. „Dann eben nicht.“

„Soll ich mit ihm reden?“, bot Keanu an.

„Ich weiß nicht, wie das helfen soll.“

„Meinst du?“

Ich hob die Schultern. „Wenn du es versuchen willst, bitte. Aber Teddy ist stur. Vergiss nicht, er ist nicht auf den Abschlussball gegangen, weil ich nicht hinging.“

„Was Evelyn ihm sicher übel genommen hat.“

Leise seufzend legte ich den Kopf in den Nacken. „Wahrscheinlich.“ Einen Moment blieb ich noch so liegen und starrte an die Decke. Dann sah ich zu ihm herüber. „Wie wäre es, wenn wir ihn mit an den Strand nehmen würden? Einmal raus aus dem Alltag.“

„Klar, warum nicht?“

„Gut.“ Ich stellte das Popcorn auf den Tisch und stand auf.

„Jetzt?“, fragte er überrascht.

„Natürlich, wann sonst?“

Resigniert stand er ebenfalls auf. „Na gut.“ Liebevoll gab er mir einen kurzen Kuss und einen Klaps auf den Hintern. „Dann sag ihm Bescheid, ich hol die Sachen und das Auto.“

„In Ordnung. Das ist lieb von dir.“

Seine Antwort war ein Lächeln und ein weiterer Kuss, ehe ich mich von ihm löste und in Teddys Zimmer ging.

Er hatte sich auf seinem Bett ausgestreckt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und starrte ziellos an die Decke. Als ich klopfte atmete er einen Moment aus, reagierte aber nicht weiter, also ging ich herüber und setzte mich zu ihm.

„Teddy.“ Ich legte ihm eine Hand auf den Bauch.

Einen Moment ignorierte er mich noch, sah dann aber zu mir auf. „Du machst dir Sorgen, hm?“

„Natürlich.“

„Das musst du nicht.“

„Das sagst du nur, weil du es musst.“

Er antwortete nicht darauf, weshalb wir uns eine Weile einfach nur ansahen. Letztendlich drehte ich mich ganz zu ihm und beugte mich über ihn.

„Komm mit an den Strand.“, schlug ich vor, „Keanu und ich wollen gleich los.“

Er rollte mit den Augen. „Was soll ich am Strand?“

„Frag nicht. Komm einfach mit. Du musst nichts machen. Es reicht, wenn du einfach nur da liegst und gut aussiehst. Letzteres sollte dir keine Probleme bereiten, aber einfach nur dazuliegen könnte schwierig für dich werden.“

Er schnaubte amüsiert und verzog den Mund. „Du bist blöd.“

„Und du bist ein Esel. Stur und kräftig.“

„Bei dir klingt es, als wäre es gut ein Esel zu sein.“

Ich grinste ihn an. „Es sind nicht die schönsten Tiere, weißt du?“

„Sagtest du nicht eben, ich wäre gutaussehend?“

Ich ging nicht darauf ein und sah einfach auf ihn herab. „Komm mit.“, bat ich ihn dann nochmals, „Bitte.“

Tief seufzend sah er auf meine Hand herab und nickte schließlich. „Na gut. Aber nur, weil du es bist.“

„Ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“ Er gab mir einen Kuss auf die Wange und stand dann mit mir auf. „Na komm, machen wir uns fertig.“

„Keanu holt in der Zwischenzeit das Auto und die Sachen.“

Verdutzt hielt er auf dem Weg zu seinem Schrank inne. „Welche Sachen?“

„Ich lass mit von ihm weiter das Surfen beibringen. Du kannst es ja auch mal versuchen.“

Er winkte ab. „Surfen ist nicht so mein Ding.“, murmelte er dann.

„Kannst du es denn?“

„Ja, schon.“ Er kratzte sich am Hinterkopf und durchwühlte seine Sachen. „Erinnerst du dich an die Urlaube, die Mom mit mir verbracht hat?“

„Ihr ward in der Karibik, in Spanien und in Australien.“

„Ja. Also... sie hat mir schon früh Surfen beigebracht. Aber ich finde es nicht sehr reizvoll. Es macht mir keinen Spaß mehr.“

„Wenn das so ist... dann wirst du eben eine neue Freundin aufreißen.“

Er zuckte leicht zusammen, verzog ein wenig das Gesicht.

„Sie ruft immer noch an, oder?“

„Einmal im Monat.“, gab er zu und atmete tief aus. „Aber seit wenigen Wochen kam nichts mehr.“

„Sie hat wohl aufgegeben.“, vermutete ich.

Er lachte bitter auf. „Aufgegeben.“, wiederholte er dann, „Für sie gab es nichts aufzugeben.“

Bedrückt ging ich zu ihm herüber und rieb ihm über die Schulter. „Denk nicht weiter dran. Heute wirst du dir ein heißes Schnittchen anlachen und mit ihr ausgehen.“

„Meinst du?“

„Ich weiß es.“

Er seufzte. „Na, dann bleiben wir doch optimistisch.“

Zwei Stunden später saß ich auf einem Board im Wasser. Keanu war direkt neben mir.

„Erinnere dich an das letzte Mal. Das war fast perfekt.“, sprach er mir zu und sah zurück auf das offene Meer. „Deine Chance, da kommt die nächste.“

Ich atmete kurz durch, wartete auf den richtigen Augenblick und schwamm dann los. Eine weitere Stunde später stand ich am Strand, die Arme vor der Brust verschränkt und sah Keanu zu, wie er die Wellen ritt. Ich hatte es für heute aufgegeben, weil ich es einfach nicht schaffte die Balance zu halten. Bei Keanu sah das so wahnsinnig einfach aus. Er glitt scheinbar mühelos übers Wasser.

„Er macht das wirklich gut.“, bemerkte Teddy neben mir.

„Ja.“, stimmte ich zu und beobachtete atemlos, wie er in einer Tube verschwand. Wenige Sekunden später schoss er wieder aus ihr heraus, legte zwei unglaubliche Drehungen hin und sprang schließlich mit einem Rückwärtssalto vom Brett direkt ins Wasser. „Ich werde nie so gut wie er.“

„Er ist Hawaiianer, da ist nichts anderes zu erwarten.“, bemerkte er amüsiert.

Amüsiert lachte ich ein wenig und winkte Keanu zu, als er auftauchte und sich das Board schnappte. Er winkte zurück und kam wieder an den Strand.

„Komm mit, ich werd dir was zeigen.“, verkündete er begeistert, nahm meine Hand und zog mich hinter sich her.

„Was? Aber-“

Er unterbrach mich, in dem er mich vor sich auf sein Board setzte, sich hinter sich setzte und über mich beugte, um voran zu schwimmen.

„Bleib flach auf dem Board liegen und halte dich an der Nose fest.“ Mehr sagte er nicht, ehe er sich eine Welle aussuchte und bereits wieder los schwamm.

„Was hast du vor?“, wollte ich wissen und sah ihn über meine Schulter hinweg an.

„Ich zeige dir etwas, dass du im Leben noch nie gesehen hast.“

Und dann begann er die Welle zu reiten, wobei es ihn überhaupt nicht zu stören schien, dass ich auf seinem Board war.

„Nicht bewegen.“, warnte er mich, „Noch einen Moment.“

Tatsächlich hatte er genug Konzentration und Kontrolle über das Board, dass er sich problemlos über die Schulter sah, ehe er etwas zu mir herunter kam.

„Jetzt pass auf.“, sprach er mir halblaut zu und im nächsten Moment schlug die Welle über uns über.

Ich unterdrückte einen erschrockenen Schrei und riss die Augen auf, als ich feststellte, dass ich mich mit ihm genau dort befand, wo er wenige Minuten zuvor war. In der Tube. Es war ein atemberaubendes Gefühl so von Wasser umgeben zu sein ohne es zu berühren. Ich konnte nicht anders als die Hand auszustrecken, um eine Linie in die scheinbar glatte Oberfläche der Innenseite der Tube zu brechen. Wenige Augenblicke später war es schon vorbei und Keanu zwang das Board in seichtere Gewässer, ehe er hinuntersprang. Als er kurz darauf auftauchte, tat er das vorn bei mir und gab mir einen langen Kuss.

„Und?“, fragte er dann, „Wie fandest du es?“

„Es war atemberaubend. Einfach... umwerfend schön.“

Er lächelte mich voller Zuneigung an. „Freut mich sehr, dass es dir so gefallen hat.“

Ich lächelte zurück, woraufhin er mich einen Moment einfach nur ansah.

„Na komm.“, meinte er schließlich, „Gehen wir wieder zurück. Ich bekomme so langsam einen Bärenhunger.“

„Essen ist eine gute Idee.“

Lächelnd drehte er das Board und schob mich Richtung Ufer, wobei ich bereits Ausschau nach Teddy hielt. Als ich ihn fand, hielt ich überrascht den Atem an.

Er war nicht allein, was an sich eine gute Nachricht war.

Die schlechte Nachricht war jedoch, dass die Frau die bei ihm stand Evelyn war.

Als wir den Strand erreichten, zögerte ich ein wenig hinüber zu gehen, gab mir dann aber einen Ruck und ging in die Richtung, blieb jedoch wieder einige Meter entfernt von den beiden stehen.

„Hey.“, meinte Keanu, als er mich einholte. „Alles okay? Wer ist das?“

Ich zögerte etwas, sah von Teddy zu Keanu und wieder zurück. Mein bester Freund sah alles andere als glücklich aus. Er machte sogar einen nahezu wütenden Eindruck.

„Das ist Evelyn.“

„Seine Ex?“

„Ja.“

Er besah sie sich einen Moment. „Hübsch.“

Ich seufzte leise. „Er liebt sie immer noch abgöttisch.“

„Warum hat er die Anrufe dann nie entgegen genommen?“

„Weil sie ihn sehr verletzt hat und er nicht noch mehr verletzt werden wollte.“

„Verstehe...“

Als der Ausdruck in Teddys Gesicht von Wut zu Schmerz überschlug, wollte ich bereits zu ihm gehen, wurde jedoch von Keanu zurück gehalten, der die Arme um mich schlang.

„Vielleicht solltest du die beiden noch etwas allein lassen.“, schlug er vor.

„Aber Teddy-“

„Er ist ein großer Junge. Wenn es ihm zu viel wird, wird er gehen.“

Keanu hatte Recht. Dennoch wurde mir etwas flau im Magen, als Evelyn sich vor Teddy in den Sand kniete und sein Gesicht in die Hände nahm, damit er sie ansah. Selbst aus der Entfernung konnte ich erkennen, dass er es vermied ihr ins Gesicht zu sehen, während sie redete. Ich war mir nicht ganz sicher, ob er traurig oder wütend war.

Mit einem Mal jedoch riss er sich von ihr los und rückte zurück. Dann fiel sein Blick auf Keanu und mich, woraufhin er aufstand und sich in unsere Richtung bewegte. Als Keanu das sah, ließ er mich los, damit ich Teddy entgegen kommen konnte.

„Ist alles okay?“, fragte ich ihn aufmerksam und schlang die Arme um ihn.

Er seufzte tief, legte mir einen Arm um die Taille und eine Hand auf den Schopf, wobei er die Stirn an meinen Scheitel lehnte. „Ja, alles okay.“

„Bist du sicher?“

„Ganz sicher.“

„Was hat sie gesagt? Wollte sie mit dir über euch reden?“

Keanu erreichte uns und blieb mit höflichem Abstand zu uns stehen.

„Sie sagte, sie könne alles erklären, fing dann aber nahtlos mit Tevin an, also kann ich nicht einmal sagen, ob sie uns meint oder euch.“

Ich strich ihm das Haar aus der Stirn. „Es tut mir leid.“

„Ich weiß.“

„Ev, wir sollten uns wieder auf den Weg machen!“, ertönte kurz darauf hinter Teddy eine Stimme.

Dieser erstarrte sofort und sah sich über die Schulter, spannte sich immer mehr an.

„Teddy... nein.“, warnte ich ihn halblaut und hielt ihn etwas stärker fest.

Er atmete tief durch. „Er hat dich verletzt, Vilija.“

„Ja, Evelyn dich auch. Trotzdem verprügle ich sie nicht.“

„Du bist auch ein Mädchen.“

„Hey...“

Er sah auf mich herab. „Es ist eine Sache, wenn Kerle sich prügeln. Aber Mädchen sind nicht so handgreiflich. Und du schon gar nicht.“

Ich hob eine Braue. „Ach, ist das so?“

„Ja. Ob du es willst oder nicht, aber du kannst Menschen nicht weh tun.“

„Eigentlich schlage ich keine Menschen, weil ich es für sinnlos halte. Das löst das Problem nicht.“

Er seufzte erneut und sah sich wieder über die Schulter. Als ich an ihm vorbei sah, sprach Evelyn gerade mit Tevin, der abwesend zu uns herüber sah.

„Er hat es verdient.“, murmelte er halblaut, brodelte innerlich vor Wut.

„Du würdest also wollen, dass ich Evelyn eins verpasse, ja?“

„Großer Gott, nein.“ Verstört sah er auf mich herab. „Du würdest dir dabei eher selbst weh tun.“

„Dann solltest du- Hey.“ Ich schlug ihm gegen die Schulter. Als Keanu nun direkt zu uns trat, löste sich Teddy etwas von mir, was jedoch nicht bedeutete, dass ich ihn losließ. „Wir sollten nach hause fahren.“, verkündete ich an Keanu gewandt, „Oder wir gehen etwas essen und dann nach hause.“

Keanu musterte Teddy einen Moment, ehe er nickte. „Ich kenne ein nettes kleines Restaurant hier in der Nähe.“ Er klopfte Teddy auf den Rücken und schob ihn in Richtung Auto, wobei er selbst die Stelle ansteuerte, an der er die Boards gestellt hatte. „Geht schon mal zum Wagen, ich komme gleich nach.“

Widerwillig folgte Teddy mir zu Keanus Wagen. „Ich hoffe du weißt, dass es nichts gebracht hätte mich festzuhalten, wenn ich es darauf angelegt hätte.“, bemerkte er halblaut.

„Ja. Aber ich denke, Keanu hätte mir geholfen, wenn es nötig gewesen wäre.“

Er nickte zustimmend, ging jedoch nicht weiter darauf ein, woraufhin ich zu Keanu sah, der gerade die Surfboards aufhob. Beim Wagen angekommen schnallte er sie auf das Dach und zog sich, wie ich, kurz etwas bequemeres an. Teddy hatte sich erst keine Badekleidung angezogen.

„Und wohin geht’s nun?“, fragte ich neugierig, als wir uns anschnallten.

„Lass dich überraschen.“

 

Erschöpft streckte ich mich auf der Couch aus und ignorierte Veit, auf dessen Beinen meine Oberschenkel lagen, als er mit gehobener Braue zu mir aufsah.

„Na, hast du ein paar Wellen bezwungen?“, fragte er mich neckisch.

„Die Wellen haben eher sie bezwungen.“, entgegnete Keanu ebenso neckisch und hob meinen Oberkörper an, um meinen Kopf auf seinem Schoß zu betten.

„Ihr seid gemein.“, beschwerte ich mich.

Teddy glitt auf den Platz unter meinen Unterschenkeln und tätschelte liebevoll mein Knie. „Du weißt, wir sagen all das mit Liebe.“

„Iiiih, Liebe.“ Veit wedelte vor seinem Gesicht herum. „Ich kaufe mir morgen ein Raumspray.“

„Wir werden nicht darauf verzichten, nur weil du ein Looser in Beziehungsangelegenheiten bist.“, bemerkte ich schnippisch.

Als er ein beleidigtes Geräusch von sich gab, lachten Teddy und Keanu ihn herzhaft aus, während ich vor mich her gähnte. Keanu hatte uns zu einem netten kleinen Lokal gefahren, wo wir gut gegessen hatten. Danach hatten wir noch gelassen geplaudert, ehe Teddy bemerkt hatte, dass es spät wurde. Nun war es etwa halb zwölf Uhr abends und ich war hundemüde.

„Dein Vater hat angerufen.“, informierte mich Veit als ich kurz davor war einzuschlafen.

Ich schielte zu ihm auf. „Was hat er gesagt?“

„Er hat dich für übermorgen zum Essen eingeladen und gesagt, dass du Keanu mitbringen kannst.“

„Tevin wird auch da sein, oder?“

„Wahrscheinlich.“

Ich murrte leise, schloss die Augen und dachte einen Moment darüber nach, wägte in Gedanken ab, ob ich bereit war mit Tevin zu sprechen. Letztendlich kam ich zu dem Entschluss, dass ich wahrscheinlich nie wirklich bereit dafür wäre.

„Na gut.“, seufzte ich schließlich, „Ich rufe morgen an und sag, dass ich komme.“ Ich zupfte an Keanus Hand. „Kommst du mit oder hast du zu tun?“

„Für dich hab ich immer Zeit.“, entgegnete er amüsiert.

Ich barg mein Gesicht an seinem Bauch. „Danke.“

Einen Moment war es still. Dann bewegte Keanu sich unter mir.

„Na kommt, Kleines. Ich bring dich ins Bett.“

Ich döste halb vor mich hin, versuchte krampfhaft Schlaf zu finden, während er mich ganz sanft hochhob und in mein Zimmer trug. Dort zog er mich vorsichtig aus, legte mich ins Bett und setzte sich zu mir an den Rand, um mir meine Schlaftablette und ein Glas Wasser zu geben.

„Danke.“, murmelte ich verschlafen und setzte mich kurz auf, um die Tablette herunter zu spülen.

„Vielleicht solltest du deshalb mal zum Arzt gehen.“, sinnierte er.

„Die Tabletten wirken doch gut.“

„War nur so ein Gedanke.“

Ich legte mich wieder hin und hörte noch, wie er begann sich auszuziehen. Kurz darauf schlief ich bereits ein.

 

Am nächsten Tag, ein Samstag, hatte ich den ganzen Tag bei Mitch zu tun und konnte daher nur kurz in der Pause bei Dad anrufen. Er bestätigte mir, dass Tevin da wäre, versicherte mir jedoch, dass er mich nicht bedrängen würde.

Sonntag war ich dementsprechend unausgeschlafen, da die Tabletten wegen meiner Nervosität nicht gut wirkten. Glücklicherweise fuhr Keanu uns mit dem Auto.

„Du willst das wirklich durchziehen?“, fragte er mich aufmerksam, als wir vom Auto zur Haustür gingen.

„Ich habe schon zugesagt.“, entgegnete ich daraufhin und holte bereits den Haustürschlüssel heraus. „Du musst nicht bleiben, das weißt du, ja?“

„Ich gehe erst, wenn du gehst.“

„Vielen Dank.“ Ich gab ihm einen sanften Kuss, ehe ich mit ihm das Haus betrat. „Wir sind da!“, rief ich herein und zog mir die Schuhe aus.

Im nächsten Moment kam bereits Mom in den Flur und begrüßte mich herzlich. Seit sie Enio gesund gepflegt hatten, er hat irgendwas mit dem Darm gehabt, war er erstaunlich ruhig und schlief sogar durch. Das war für meine Eltern natürlich eine unglaubliche Erleichterung.

„Wie geht es dir, meine Liebe?“, fragte Dad, als er mich wenig später an der Wohnzimmertür begrüßte.

„Ganz gut. Etwas gestresst und müde, aber das kennen wir ja schon.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ist es in Ordnung, dass wir schon so früh da sind?“

„Natürlich. Du bist immer willkommen.“

Ich lächelte ihn an. „Danke, Dad.“ Dann gab ich ihm einen Kuss auf die Wange, ehe ich ins Wohnzimmer ging und Cyntia begrüßte, die bereits ganz aus dem Häuschen war.

„Ist Tevin nicht da?“, fragte ich beiläufig, als ich mich mit meiner kleinen Schwester setzte.

„Er ist oben.“, entgegnete Mom, „Soll ich ihn holen?“

„Nein, ist schon in Ordnung.“, warf ich schnell ein, „Ich hab mich bloß gewundert.“

Dad setzte sich auf seinen Lieblingsplatz in den Sessel und machte es sich bequem. „Wie läuft dein Studium?“

Keanu, der sich neben mich gesetzt hatte, bat Mom um ein Glas Wasser, woraufhin sie in die Küche ging.

„Es … läuft gut.“ Ich seufzte leise. „Die Professoren sind sehr hilfsbereit und so weiter. Ich bin eine der besten in den Kursen.“

„Und deine Jobs?“

„Bei Mitch läuft auch alles gut. Nur die Shootings sind etwas anstrengend. Wir können das Geld gut gebrauchen, aber ich stehe nicht gerne vor der Linse. Auch wenn es Teddy ist, der die Fotos macht. Und ich fühle mich nicht sehr wohl dabei eine Zeitschrift durchzublättern oder durch die Stadt zu gehen und mich zu sehen.“ Erneut hob ich die Schultern. „Es ist so komisch.“

„Ich kann mit dem Abteilungsleiter sprechen. Du musst das nicht tun.“

„Ich weiß das ja. Es ist nur...“ Ich rieb mir kurz über die Stirn. „Teddy ist immer noch sehr traurig über die Sache mit Evelyn also hatte ich vor ihn mit einem Urlaub zu überraschen. Allerdings ist es sehr teuer und ich will nicht, dass er etwas ahnt.“

„Verstehe... Wohin würdest du denn gern mit ihm gehen?“

„Ich dachte an Neuseeland. Oder Australien. Er war schon ein paar Mal dort.“

„Australien?“

„Ja.“

„Dann kennt er bestimmt auch jemanden da.“

Nachdenklich kramte ich in meinem Gedächtnis herum. „Er hat eine Großmutter da, wenn ich mich nicht täusche. In der Nähe von Cairns. Sie war Meeresbiologin und hat das Great Barrier Reef erforscht.“

„Ziemlich cool.“, bemerkte Keanu.

Ich lächelte schräg. „Fand ich auch. Ich möchte mit ihm dort tauchen gehen.“

„Das ist eine schöne Idee.“, stimmte Dad lächelnd zu, „Aber du hast Recht. Eine Reise nach Australien ist sehr teuer.“

„Ich hab immerhin schon die Flüge zusammen gespart. Ich hab auch schon nach Hotels gesehen und Restaurants und so weiter.“

„Vilija.“

Ich sah zu Cyntia herab. „Ja?“

„Was ist das Great Barrier Reef?“

„Das ist ein Korallenriff.“, antwortete ich und begann ihr zu erklären, was das besondere daran war. Kurz danach erschien Tevin in der Wohnzimmertür und schien überrascht, als er mich und Keanu sah. Wortlos sah ich zu ihm herüber.

Er räusperte sich kurz. „Hi.“, murmelte er dann, gerade laut genug, und steckte die Hände in die Taschen.

„Hi.“, erwiderte ich ebenso zurückhaltend.

„Ich... wusste nicht, dass ihr schon so früh da sein würdet.“

„Es war auch eine recht spontane Sache.“

Er nickte und sah mich eine Weile einfach nur an. „Könnten wir vielleicht... reden? Allein?“ Nervös rieb er sich den Nacken.

Ich schluckte kurz und nickte schließlich. „Gut.“

Dann stand ich auf, setzte Cyntia auf meinen Platz und gab Keanu einen kurzen Kuss, ehe ich Tevin hinauf in sein Zimmer folgte. Er schloss leise die Tür hinter sich und bot mir die Couch an, während er sich auf den Drehstuhl setzte. Dann schwiegen wir.

Neugierig sah ich mich dabei um und stellte fest, dass es sich eigentlich nicht verändert hatte. Es sah aus wie damals, bevor er gegangen war.

„Ich möchte mich entschuldigen. Für mein Verhalten, als ich zurück gekommen bin.“, begann er irgendwann zaghaft, „Ich... verstehe, dass du in den zwei Jahren dein Leben weiter gelebt hast. Es war dumm von mir zu denken, dass du warten würdest, obwohl du von mir nichts hörst.“

Ich senkte den Blick. Eigentlich war das mein Plan gewesen. Zu Beginn. Auf ihn zu warten, egal wie lange es dauern würde. Aber Keanu war stur und so schwer zu knacken wie eine Kokosnuss.

„Wie ich dir bereits gesagt habe gibt es natürlich Gründe dafür, dass meine Nachrichten nie angekommen sind.“

Verwundert zog ich die Brauen zusammen, sah ihn jedoch nicht an. Dass sie nie angekommen sind... das heißt... er hat wirklich welche geschickt.

„Allerdings ist es egal was für Gründe es sind, denn du hast sie nicht gekannt, kennst sie auch jetzt nicht. Ich... Ich verstehe es, dass das jetzt schwierig für dich ist. In meiner Nähe zu sein und all das. Aber ich möchte wenigstens die Chance haben mit dir zu reden. Wir... müssen nicht gleich beste Freunde sein, aber... du sagtest mal, ich würde dich als Schwester nie verlieren.“

„Das tust du auch nicht.“, stimmte ich zu und sah nun doch zu ihm herüber. „Es war wahnsinnig schwer für mich über dich hinweg zu kommen. So schwer, dass ich gar nicht weiß, ob ich es wirklich geschafft habe. Aber ich bin glücklich mit Keanu und will das nicht wegwerfen, weil du plötzlich wieder aufgetaucht bist.“

Er nickte langsam. „Ich... verstehe das. Das werde ich auch nicht von dir verlangen, auch wenn es hart für mich ist. Ich habe einen Fehler gemacht und mit den Konsequenzen muss ich nun mal leben.“

Langsam glitt mein Blick wieder zum Boden. „Was schlägst du also vor?“

„Ich möchte einfach normal Zeit mit dir verbringen, dich ab und zu sehen. Wir haben zwei Jahre nichts voneinander gehört. Es ist viel passiert, da hast du bestimmt viel zu erzählen.“

„Das... wäre sehr schön.“, gab ich zu und wagte ein leichtes Lächeln. „Ich muss zugeben, dass ich dich sehr vermisst habe.“

Er atmete kurz freudig durch und stand dann auf, um sich neben mich zu setzen. „Ich habe dich auch sehr vermisst.“

Das Gefühl, als er mich dann in die Arme nahm, war schwer zu beschreiben. Es war schön und ich fühlte mich sicher und geborgen, als wäre ich nach hause gekommen. Doch ich fühlte mich auch rastlos, als wäre etwas... falsch und müsse korrigiert werden.

„Er ist also dein Freund, ja?“, fragte er wenig später und löste sich ein wenig von mir, um mich aufmerksam anzusehen.

„Ja.“

„Macht er dich glücklich?“

Ich lächelte schräg. „Das versucht er immerhin schon tapfer seit einem Jahr. Teddy sagt gern, ich sei eine harte Nuss.“

„Also bist du unglücklich?“, wollte er verwundert wissen.

„Oh, nein. Ich bin sehr zufrieden mit der derzeitigen Situation. Keanu liebt mich und er liegt mir sehr am Herzen, ich wohne mit den zwei besten Freunden zusammen, die man haben kann, habe eine nette Ausbildung, hänge mitten im Studium und habe einen guten Durchschnitt.“

„Und trotz all der schönen Dinge bist du nicht glücklich...“, sinnierte Tevin verwundert.

„Viele Menschen sind nicht glücklich mit ihrem Leben, sind aber dafür sehr zufrieden.“

„Das stimmt schon.“, stimmte er zu und nickte vor sich hin, ehe er tief seufzte und aufstand. „Lass uns wieder runter gehen.“, schlug er dabei vor.

„Gut.“

„Du... sagtest eben, dass du studierst.“

„Ja.“ Ich lächelte schräg. „Kunst und Spielentwicklung.“

„Spielentwicklung.“, wiederholte er überrascht, „Wie kam es dazu?“

„Ich weiß nicht. Ich hab zufällig in einen Kurs rein geschnuppert. Eigentlich hatte ich eine Vorlesung über das realistische Zeichnen, aber ich hab die Nummer falsch eingegeben und bin bei den Spielentwicklern gelandet. Ich fand es sehr interessant und hab einen der Studenten ein wenig darüber ausgefragt. Dann hab ich an ein paar Vorlesungen teil genommen und schließlich meine Fächer geändert.“

„Geht das einfach so? Und... was für eine Nummer hast du falsch eingegeben?“

Ich begann ihm alles über die SDOU zu erklären und betonte dabei die Sonderheiten der Uni, während ich mit ihm nach unten ins Wohnzimmer ging.

„Dad war anfangs total dagegen, weil sie so anders war. Alles läuft über das Internet. Du musst nicht einmal persönlich dort auftauchen. Es ist aber sehr populär geworden. Letztens hat mich in der Vorlesung jemand angesprochen, der aus Ontario kommt. Ist das zu fassen?“

„Es ist also sehr weitreichend.“, schlussfolgerte Tevin logisch, „Und du kommst damit klar?“

„Ja. Ich finde es ziemlich cool.“ Im Wohnzimmer setzte ich mich mit ihm auf die Couch, er direkt neben mir. Dad und Cyntia waren nicht mehr im Raum, doch Keanu saß noch an seinem Platz und trank von seinem Wasser.

„Was machst du noch so?“

„Ich mache nebenbei eine Ausbildung beim Tätowierer und bin Model bei Fotoshootings.“

Seine Brauen glitten in die Höhe. „Model. Du.“

„Ist das so unmöglich?“

„Ich hätte es jedenfalls nie gedacht. Du bist das schönste Wesen im Universum, keine Frage, aber Model? Dafür bist du viel zu... eigensinnig.“

Ich kam nicht umhin zu lachen. „Ich habe mich schon ernsthaft gefragt, warum ich mich dabei unwohl fühle und du redest nur ein paar Minuten mit mir und gibst mir die Antwort ohne die Frage zu kennen.“

Keanu beobachtete uns überrascht. „Habt ihr euch ausgesprochen?“, fragte er.

„Vorerst, ja.“, antwortete ich und lächelte ihn an, ehe ich zu Tevin sah. „Ich möchte dir meinen Freund vorstellen. Keanu Kahoku. Er ist ein waschechter Hawaiianer und surft wie ein Gott.“

„Jetzt übertreibst du aber.“, protestierte dieser amüsiert.

„Nein.“, warf ich ein und sah wieder zu ihm. „Ich bin mir sicher, die Hälfte der Frauen am Strand haben mich gestern wahnsinnig eifersüchtig angesehen, als sie sahen, dass du direkt zu mir gelaufen bist. Du solltest an einem World Cup teilnehmen oder so.“

Er rollte mit den Augen. „Der World Cup ist was für die ganz großen. Die sind mir alle zu versnobt und humorlos. Vor ein paar Jahren wäre das noch was gewesen, aber jetzt sind die nur noch auf den Ruhm aus. Spaß ist denen egal. Glaub mir, ich kenne ein paar von denen.“

Ich tätschelte sein Knie. „Wie auch immer. Das ist Tevin McCourtney. Oder... wie haben dich deine Eltern genannt?“, fragte ich Tevin verwundert.

„Breda Dorin Amanar, aber ich will, dass du mich Tevin nennst.“, entgegnete dieser.

Nachdenklich sah ich ihn an. „Warum nicht Breda? Das ist doch ein hübscher Name.“

„Ja. Mag sein. Aber...“ Er verzog den Mund. „Reden wir nicht darüber. Mein Name ist Tevin und das bleibt auch so.“

„In Ordnung.“ Ich sah wieder zu Keanu. „Ich hab dir nie von ihm erzählt. Meine Eltern fanden ihn auf einem Flughafen, als ich sechs Jahre alt war...“

Kapitel 9

 

Ich habe von ihm geträumt.

Es war seltsam, wie ein Traum in einem Traum.

Wir lagen auf einer Wiese und er hat mich in den Armen gehalten. Wir haben uns die Wolken angesehen und

uns etwas dazu ausgedacht. Es war alles so perfekt.

Aber das darf ich nicht denken.

Sollte Keanu das hier lesen, würde es ihm das Herz brechen. Ich kann ihm nicht sagen, dass ich ihn nicht liebe.

Ich hab zu große Angst davor, dass er mich verlässt.

- Tagebucheintrag von Vilija Kemmesies

 

Mehrere Wochen später

Seufzend lag ich im Bett und starrte an die Decke.

Morgen war Tevins Geburtstag. Ich wusste nicht genau, ob ich ihm ein Geschenk geben sollte.

Vielleicht sollte ich ihm etwas kleines schenken. Schokolade oder eine DVD.

Es klopfte an der Tür.

„Herein!“, rief ich nur, ohne den Blick von der Decke zu nehmen.

Teddy öffnete die Tür und sah herein. „Der Vollidiot ist da.“

Er sprach von Tevin. Als die beiden sich das erste mal wieder richtig getroffen hatten, war es unweigerlich zu einer Prügelei gekommen, die nur beendet werden konnte, weil mehrere Personen dazwischen gegangen waren. Bis zu dem Tag war ich mir der Größe von Teddys Wut gar nicht so genau bewusst. Tevin war eine ganze Zeit lang mit einem Veilchen und mehreren Blutergüssen herum gelaufen. Teddy dagegen hatte nur wenige Blessuren, weil Tevin sich geweigert hatte ihm weh zu tun, wo er doch wusste, wie sehr mich ihre Zwist mitnahm. Ganz abgesehen davon sah Tevin keinen Nutzen darin Teddy zu verletzen.

Nun warf ich einen Blick auf die Uhr und murrte. „Er ist drei Stunden zu früh.“

„Ich werfe ihn gern wieder raus.“

„Nein, ist schon gut.“, murmelte ich daraufhin und setzte mich vorsichtig auf, wollte Keanu nicht wecken, der neben mir ruhig schlief.

Ich dagegen hatte eine ziemlich schlechte Nacht. In wenigen Tagen fand die erste Prüfung statt und die Nervosität wirkte sich schlecht auf die Wirkung der Schlaftabletten aus. Ich betete, dass sie in der Nacht vor der Prüfung gut wirkten.

„Ich gehe nur schnell duschen und zieh mir was an. Ist Veit schon wach?“

„Der schläft wie ein Toter.“ Besorgt sah er mir ins Gesicht, als ich näher kam. „Hast du schlecht geschlafen?“

„Ich bin so nervös wegen der Prüfung.“

„Soll ich in der Apotheke nach Tabletten fragen die selbst bei Nervosität gut wirken?“

„Nein, danke.“ Ich lächelte ihn beruhigend an. „Es geht schon.“

Etwas skeptisch presste er die Lippen und Brauen zusammen und sah an mir herunter. „Willst du dir wenigstens noch was an die Beine ziehen, bevor du hier raus marschierst und der Vollidiot dich begaffen kann? Ein Shirt ist ja in Ordnung, wenn kein Besuch da ist, aber es ist ziemlich knapp.“

Ich schwieg einen Moment, ehe ich an mir herunter sah. Dann erinnerte ich mich an Keanus Versuch mich müder zu machen, damit ich die Nervosität vergaß und mich entspannte. Es hatte nicht funktioniert, aber das trübte die Schönheit des letzten Abends nicht.

„Oh.“, murmelte ich, „Das hab ich vergessen.“

„Ich frage später in der Apotheke nach.“ Als ich mich umdrehte, um zurück zu gehen, gab er mir einen kleinen Klaps auf den nackten Hintern. „Beeil dich. Ich mach schon mal Frühstück.“

„In Ordnung.“

„Vielleicht solltest du auch Keanu wecken.“

Im nächsten Moment zog er bereits die Tür zu, während ich mich neben dem Bett hinhockte, um meine Shorts aufzuheben, die ich sonst beim Schlafen trug. Die Idee, Keanu zu wecken, war plötzlich gar nicht mal so schlecht.

Leicht lächelnd beugte ich mich ein wenig über ihn und streichelte ihm übers Haar. „Hey, Schlafmütze.“, flüsterte ich halblaut, ehe ich ihm einen kleinen Kuss auf den Mund hauchte. „Wach auf. Ich brauche jemanden, der mir den Rücken schrubbt.“

Er stöhnte auf. „Ich seife dich gern von Kopf bis Fuß ein, wenn du willst.“, entgegnete er verschlafen und hob ein wenig die Lider. „Guten Morgen, Schönheit.“

Ich gab ihm einen Kuss. „Guten Morgen.

„Ich hab gehört, du brauchst Hilfe beim Duschen?“

„Willst du dich für den Job bewerben?“

„Ich habe erstaunliche Fähigkeiten vorzuweisen. Meine Fingerfertigkeiten sind auch nicht außer Acht zu lassen.“

Ich kicherte. „Ich glaube, ich hab dich gestern Abend vernachlässigt.“

„Du musst immer noch etwa ein halbes Jahr nachholen.“

Liebevoll gab ich ihm noch einen Kuss. „Wenn ich bisher bereits ein halbes Jahr aufgearbeitet habe, wird ein weiteres halbes Jahr nicht so schwer sein.“

Er lachte an meinem Mund. „Ich bin so ein notgeiler Idiot.“

„Ach was... bist du nicht.“

Seine Hände glitte an meinen Oberschenkeln hinauf auf meinen Hintern. „Nicht? Ich glaube, 95% von dem Sex, den wir hatten, war mein Verschulden.“

„Zu 99% ging es da aber immer um mich.“ Ich gab ihm noch einen kurzen Kuss, ehe ich aufstand. „Na komm, Tevin ist schon da. Wir sollten uns beeilen.“

Er blinzelte. „Schon?“ Ein kurzer Blick zur Uhr. „Aber es ist erst 8. Er sagte, er ist um 11 Uhr da. Wir sagten Mittagessen, nicht Frühstück.“

Ich zuckte mit den Schultern und zog mir die Shorts an. „Ist mir gleich.“

Er seufzte und murmelte irgendwas vor sich hin, ehe er sich ebenfalls eine Shorts anzog und mir aus dem Zimmer folgte, nachdem ich Kleidung für ihn und mich ausgesucht hatte, die wir nach der Dusche sofort anziehen konnten.

„Musst du heute arbeiten?“, fragte er nebenbei.

„Nein.“

„Gut. Du solltest dich entspannen.“

„Ich hatte vor für die Prüfung zu lernen.“

„Du machst dich nur verrückt. Sicher, lernen ist wichtig, aber du hast die letzten Wochen durchgehend nur gelernt.“

Ich zog eine Schulter hoch. „Ich bin mir halt nicht ganz sicher.“

Er rollte mit den Augen und folgte mir ins Bad. „Morgen würde ich gern mit dir ausgehen.“

Überrascht hielt ich inne und sah zu ihm herüber, während er die Tür abschloss, ehe er begann sich auszuziehen. „Morgen?“, wiederholte ich vorsichtig.

„Ja. Ich dachte an einen Kinofilm und dann Essen gehen.“

Etwas unsicher, wie ich es ihm sagen sollte, schob ich mir einige Strähnen hinters Ohr. „Weißt du...“

„Hast du morgen schon etwas vor? Außer lernen, meine ich.“

„Ich... Ich weiß, dass du Tevin nicht sonderlich magst...“

Auf dem Weg zur Dusche blieb er verwundert stehen und sah zu mir herüber. „Bist du mit ihm verabredet?“

Ich zögerte. „Ich würde es nicht als Verabredung bezeichnen.“ Einen Moment atmete ich durch. „Er... Morgen ist sein Geburtstag, weißt du.“

Irgendwas veränderte sich an seiner Mimik. Ich konnte nur nicht genau deuten was es war. „Oh. Verstehe.“ Er zögerte ein wenig, drehte dann aber das Wasser auf. „Willst du ihm etwas schenken?“, fragte er dann ohne mich anzusehen.

„Ich denke die ganze Zeit darüber nach. Vielleicht gebe ich ihm auch die beiden Geschenke der letzten beiden Jahre.“

Nun sah er doch wieder zu mir. „Du hast ihm trotzdem Geschenke gekauft?“

„Genau genommen habe ich ihm nur ein Geschenk gekauft, während er weg war.“ Langsam begann ich mich auszuziehen. „Das zweite Geschenk habe ich ihm gekauft noch bevor er gegangen ist.“ Schmerz erfasste mein Herz und schnürte mir die Kehle zu. „Ich hatte mir etwas ganz besonderes ausgedacht. Etwas, dass zu uns passte. Ich habe tagelang hin und her überlegt, ob es eine gute Idee ist und am Ende war es einfach perfekt. Am Abend seines Geburtstages wollte ich ihm sogar meine Jungfräulichkeit schenken.“ Eine Träne rollte über meine Wange. Abwesend wischte ich sie weg, während ich mir daran erinnerte, wie ich an dem Tag nach hause gekommen war. „Ich hatte bei Teddy übernachtet, weil ich wahnsinnig nervös war. Würde ihm das Geschenk gefallen? Würde er es tragen? Würde es ihm im Bett gefallen? Wäre danach immer noch alles so wie vorher? War ich vielleicht schlecht im Bett? Ich hab mir so viele dämliche Fragen gestellt und Teddy musste mich jedes Mal beruhigen. Und als es dann soweit war... Ich... kam nach hause und war eine halbe Stunde nach der Zeit da, um die er gebeten hatte.“

Einen Moment stand ich einfach nur da, ehe ich unter die Dusche stieg und mein Gesicht ins Wasser hielt. Keanu trat zu mir unters Wasser und legte liebevoll die Arme um mich.

„Was dann?“, fragte er halblaut.

„Er war weg. Er war einfach weg, ohne ein Wort, ohne ein Abschied. Ich wusste nicht sofort warum, ich wollte es erst nicht einmal glauben. Immer wieder habe ich ihn angerufen und war fest davon überzeugt, dass er nur kurz weg war und jeden Moment herein kommen würde.“ Ich lehnte mich an Keanus Brust und hielt mich an ihm fest. „Als ich begriffen habe, dass er wirklich weg war... da ist für mich die Welt zusammen gebrochen. Er war alles was ich brauchte. Selbst als wir diesen Survivalausflug mit der Schule gemacht haben. Teddy war auch dabei, aber diese eine Stunde ohne Tevin... das war wie in einem Albtraum.“ Ich hatte gewusst, dass er irgendwo dort im Wald gewesen ist. Verletzt und allein. „Ich bin orientierungslos herum gelaufen wie ein kleines Lamm.“

Warm küsste er mich auf die Schläfe, während er mich an sich drückte und mir übers nasse Haar streichelte. „Jetzt ist alles wieder gut.“

Die zweite Träne, die mir über die Wange lief wurde vom Duschwasser davon gespült.

 

Wartend saß er im Wohnzimmer auf der Couch und starrte nachdenklich an die Decke. Vilija war noch mit Keanu unter der Dusche und Theodore war in der Küche beschäftigt. Wo Veit war konnte er nur erahnen, doch das beschäftigte ihn nicht. Vielmehr machte er sich Gedanken darüber, ob Vilija ihm zu seinem Geburtstag etwas schenken würde. Gleichzeitig machte er sich, wie so viele Male in den letzten beiden Jahren, Vorwürfe, weil er sie verlassen und verletzt hatte. Außerdem fragte er sich, wie sie wohl reagiert hatte, als sie festgestellt hatte, dass er gegangen war.

Sie hat geweint, dachte er. Ganz sicher hat sie geweint. Wenn ich ihr doch nur alles erklären könnte... Vielleicht versteht sie es dann.

Aber er musste Geduld haben. Sie war noch nicht bereit darüber zu sprechen. Und niemand wusste wie lange es dauern würde, bis sie bereit war.

Wahrscheinlich niemals. Es würde die Wunden nur wieder aufreißen und derartigen Schmerz würde sie umgehen wollen.

Er seufzte leise. Wären nur seine verfluchten Eltern nicht gewesen. Oder seine Neugierde darüber woher er kam. Letztendlich hatte er nur ein fremdes Land gesehen, hatte mit fremden Menschen zusammen gelebt. Der einzige, der ihm wie ein Familienmitglied war, war Aidan und der hatte auch bewiesen, dass er für Tevin ein richtiger Onkel sein wollte. Besonders weil er dafür verantwortlich war, dass Tevin letztendlich verloren gegangen war.

Hätte ich mich sofort auf den Weg gemacht, als deine Mutter mit mir gesprochen hat, hatte er erzählt, dann wäre ich dort gewesen. Ich wäre im vorigen Flugzeug gewesen und hätte nicht den Flug erwischt, der wegen eines Sturms gecancelt wurde. Dann wärst du bei mir aufgewachsen.

Tevin nahm es ihm nicht übel, aber er selbst hatte sich deshalb jahrelang gegrämt. Mittlerweile war er dabei mit seiner Familie nach Amerika umzusiedeln, um Tevin wenigstens während dem Rest seiner Zeit zur Seite zu stehen.

Was würde Vilija wohl zu ihm sagen?

Ob er das je erfahren würde?

Er wurde jäh aus den Gedanken gerissen, als Veit verschlafen aus einem Zimmer kam und dabei lautstark gähnte. Erst dann wurde Tevin überhaupt bewusst, dass er Veit nicht einmal getroffen hatte, seit er wieder zurück war.

Nun sah Veit ihn verwundert an und blinzelte perplex. „Da soll mich doch... Tevin?“

Unwillkürlich begann Tevin zu lächeln und stand auf, um seinen alten Rivalen zu begrüßen. „Hallo Veit.“

„Lieber Himmel. Ich dachte erst ich schlafe noch.“ Immer noch etwas verschlafen kratzte er sich am Kopf und schüttelte kurz den Kopf. Dann begann er schräg zu grinsen. „Gott verdammter Hund. Hast du eine Ahnung, was du angerichtet hast? Da bin ich monatelang damit beschäftigt euch zwei zusammen zu bringen und dann machst du dich einfach vom Acker ohne auch nur ein Wort zu sagen.“

„Warum siehst du so aus, als würdest du es mir nicht übel nehmen?“, wunderte sich Tevin daraufhin.

Veit lachte kurz auf. „Zum einen bin ich mir, im Gegensatz zu den anderen, ganz sicher, dass es irgendeinen triftigen Grund gab, warum du erst gegangen und dich dann nicht gemeldet hast. Du wärst kein Mensch, der einfach so verschwindet.“

Tev seufzte nur leise und ließ sich erschöpft wieder auf der Couch nieder. „Es war ein ganz schöner Trubel. Nochmal will ich das nicht machen.“

„Das hoffe ich, alter Freund.“ Gemütlich ließ Veit sich in einen der zwei Sessel sinken. „Vilija hat sich verändert.“

„Ich weiß. Sie lächelt kaum noch und lacht fast gar nicht mehr. Sie ist so...“

„So ernst.“, beendete Veit seinen Satz, „Ja. Anfangs war sie einfach nur tieftraurig. Dann wurde sie sogar verzweifelt, besonders wenn Teddy und ich versucht haben sie raus zu holen. Aber sie hat sich distanziert und ich glaube, das tut sie jetzt auch noch ein wenig. Sie redet zwar mit uns, aber sie ist nicht mehr so offen wie damals.“ In Gedanken versunken stützte er seinen Kopf auf seine Faust und sah auf den Couchtisch. „Keanu hat ihr aus dem Loch heraus geholfen, aber ich glaube, dass sie sich trotz allen Bemühungen immer noch am Rande dieses Abgrunds befindet.“

„Du siehst immer noch Gefühle in Menschen, die sie selbst nicht wahrhaben oder verbergen.“, bemerkte Tevin.

„Nennen wir es Empathie.“ Er zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls denke ich oft über Vilija nach, aber ich habe keine Idee, wie wir ihr helfen können. Sie hat genug Kraft, um am Rand entlang zu balancieren, aber ich weiß nicht, ob sie es schafft, die Gefahrenzone zu verlassen. Vielleicht ist es auch schon zu spät.“

„Glaubst du, es könnte ihr schaden? Nicht nur emotional, sondern auch... körperlich.“

„Das will ich nicht hoffen. Aber wenn ich so darüber nachdenke, wie sie damals war... Sie war oft in Gedanken versunken und blendete alles andere aus. Gut möglich, dass sie damals nicht einmal bemerkt hätte, dass sie eine Straße überquert und ein Auto kommt.“

Bei dem Gedanken, dass ihr etwas zustoßen könnte, biss Tevin fest die Zähne aufeinander. „Gib auf sie Acht, weil ich es nicht tun kann.“

Veit lächelte sanft, schien jedoch immer noch in Gedanken versunken. „Teddy lässt sie keinen Moment aus den Augen, wenn es ihm möglich ist. Keanu zeigt sich da auch sehr kooperativ. Wir haben ihm nie erzählt, warum Vilija ist wie sie ist, aber ich bin mir sicher, dass sie jetzt, wo du wieder da bist, anfangen wird ihm Dinge zu erklären.“ Nachdenklich zog er die Brauen zusammen. „Sie wird wieder weinen.“

Es waren nur vier Worte und doch fühlen sie sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Im nächsten Moment wurde die Badezimmertür geöffnet und Vilija kam, gefolgt von Keanu, lächelnd heraus.

 

„Guten Morgen, ihr beiden.“, begrüßte ich Veit und Tevin, die in der Wohnzimmerecke saßen und offenbar ein Gespräch geführt hatten. Ein prüfender Blick in beide Gesichter verriet mir, dass sie sich offenbar verstanden und nicht aufeinander losgegangen waren. Es erleichterte mich zu wissen, dass sich zwischen ihnen kein böses Blut befand.

Veit zauste ich verspielt zum Grüß die Haare, bevor ich Tevin, der aufgestanden war, in die Arme nahm. Ich wusste, dass er mich fest an sich drücken würde. Doch dieses Mal war es irgendwie anders. Als wäre er... besorgt.

Nein. Ich muss mich irren. Er hat mich wahrscheinlich nur vermisst und macht sich Vorwürfe.

„Guten Morgen, Kleines.“, begrüßte er mich schließlich sanft und küsste mich liebevoll auf die Stirn.

Es war das erste Mal seit zwei Jahren, dass er mich mit seinen Lippen berührte. In dem Moment fühlte es sich an wie eine Mischung aus einem Elektroschlag, einem Hieb in den Magen, eine federleichte Liebkosung und dem Himmel. Es war wunderschön, tat jedoch entsetzlich weh.

„Tut mir leid, dass ich so früh da bin.“, entschuldigte er sich direkt danach und verzog ein wenig den Mund. „Ich war so früh wach und wusste nicht wohin mit mir.“ Vorsichtig lehnte er seine Stirn an meine, schien sich keine Sorgen darüber zu machen, dass ich ihn von mich stoßen könnte.

Emotional etwas desorientiert ließ ich es erst einmal einfach geschehen und starrte auf seinen Hals, in dem zwanghaften Versuch mit zu konzentrieren. Das war jedoch plötzlich furchtbar schwer mit all der Wärme und dem Geruch nach purem Tevin. Ich fühlte mich wie eine Süchtige, die sich nach einem langjährigen Entzug vor der Möglichkeit stand sich einen Schuss zu geben.

Ich konnte nur noch an ihn denken, schien nichts anderes mehr wahrzunehmen.

„Vilija?“

Eine leichte Berührung an der Wange schien dieses Gefühl von Watte umgeben zu sein für einen Moment zu durchdringen. Doch im nächsten Moment driftete ich wieder ab und merkte langsam wie in mir irgendwas wieder an seinen Platz rückte. Das etwas, das in den letzten Jahren wie ein Sturm in mir getobt hatte, war nun ruhig, wie ein See an einem windstillen Sommertag.

Oder wie eine angezündete Kerze in einer ruhigen Höhle.

„Vilija?“

„Sch sch...“, unterbrach ich sofort die Stimme und hielt mir symbolisch einen Finger an den Mund. „Horch nur.“

Tevin schwieg einen Moment, ehe er begann zu lächeln und die Augen schloss.

„Kannst du es auch hören?“, flüsterte ich.

„Was hören?“, fragte Keanu verwirrt.

„Die Ruhe.“, antwortete Tevin.

„Hat dir je jemand erzählt, dass Vilijas Schlaflosigkeit daher rührt, dass Tevin nicht da ist?“, fragte Veit nebenbei, „Unser ehemaliger Lehrer, Mr. Dawson, musste selbst erkennen, was das bedeutet. Ohne diese Schlaftabletten würde sie nachts keinen Augenblick Schlaf finden. Aber wenn Tevin bei ihr ist schläft sie wie ein Murmeltier. Interessanterweise wacht Tevin sogar auf, wenn sie vor ihm wach wird und ihn allein lässt. Einfach, weil sie dann weg ist. Als würde er ihre Abwesenheit auch im Schlaf bemerken.“

„Wie?“, fragte Keanu fasziniert.

„Ich weiß nicht. Ich vermute es ist ähnlich wie ein Zwillingsband. Die zwei klebten aneinander seit Vilija fünf und Tevin sechs war. Das hinterlässt natürlich Spuren.“

„Du klingst wie ein Wissenschaftler.“

„Ich kenne mich gut mit Gefühlen aus. Das macht meine Bilder so gut.“ Veit seufzte. „Du solltest die Bilder sehen, die ich von den beiden gemalt habe. Sie sind fantastisch.“ Er schwieg einen Moment. „Nun... andererseits sollte man aber auch nie vergessen, dass Tevin nicht der einzige ist, dem Vilija seit ihrer Kindheit wichtig ist und der sie besser kennt als sie sich selbst.“

„Tevin!“, ertönte es kurz darauf von der Küchentür, „Nimm deine Finger von ihr.“

Mit einem Seufzen registrierte ich kurz darauf, dass Tevin sich etwas von mir löste. Es fühlte sich an, als hätte man mir eine Gliedmaße ausgerissen. Ich wollte sie zurück haben, doch in diesem Falle... sollte es einfach nicht so sein.

„Von welchen Bildern sprichst du?“, fragte Keanu, den die Frage wohl beschäftigte.

Veit, der sich gerade ausgiebig gestreckt hatte, verharrte einen Moment in der Bewegung und sah zu ihm herüber. „Hm? Welche Bilder?“

„Die, von denen du eben gesprochen hast.“

Die Lippen schürzend zauste er sich das Haar am Hinterkopf und sah zu mir und Tevin. „Ich habe mehrere Bilder von Vilija angefertigt, als ich sie kennen gelernt habe. Und mehrere Wochen danach. Also, genauer gesagt, in dem Zeitraum in dem ich sie kennen gelernt hab bis sie mit Tevin zusammen war.“ Er zuckte mit den Schultern, während Teddy Tevin ein Stück von mir wegzog und auf die Couch schob, wobei er ihm sagte, er solle mir nicht nochmal so nahe kommen. „Es war ein fantastisches Projekt und lässt sich auch sehr gut ausstellen. Die Menschen mögen es. Was sicher auch daran liegt, dass du einfach die schönste Frau bist, die ein Mensch je gesehen hat.“ Das Kompliment richtete Veit lächelnd an mich, woraufhin ich schräg grinste.

„Charmeur.“ Im nächsten Moment schmiegte ich mich an Keanu, versuchte unbewusst bei ihm diese Nähe zu finden, die ich soeben verloren hatte.

Im nächsten Moment bemerkte ich das Gesprächsthema zwischen Teddy und Tevin.

„Sie ist immer noch völlig außer sich und weiß nicht was sie tun soll. Sie will mir nicht verraten was vorgefallen ist, aber es scheint sie sehr mitzunehmen.“, erklärte Tevin gerade mit finsterem Blick, „Die ganze Zeit wollte sie mir nicht einmal erzählen was mir euch beiden ist. Willst du auch leugnen, dass was passiert ist oder rückst du mit der Sprache heraus?“

Teddy, den das Thema Evelyn immer mehr zusetzte, sah mindestens genauso finster zurück. „Das geht dich nichts an.“

„Du solltest dringend mit ihr reden. Ich sag es dir nicht dir zuliebe, sondern wegen ihr. Sei es nur, dass du ihr direkt ins Gesicht sagst, dass es damals geendet hat und du nichts mehr von ihr willst.“

Just in dem Moment begann Teddys Smartphone zu klingeln. Der Klingelton machte deutlich, dass es sich dabei um Evelyn handelte. Er hatte die Anruferkennung nie geändert. Gereizt holte er es lediglich hervor, wies den Anruf ab und warf es in den leeren Sessel, ehe er sich in Richtung seines Zimmers begab.

„Das Frühstück ist gleich fertig. Ich hab keinen Hunger.“

Die Tür zog er mit einer unmissverständlichen Endgültigkeit zu, die uns allen klar machte, dass er allein bleiben wollte. Einen Moment sah ich ihm noch hinterher, seufzte dann aber leise und löste mich von Keanu, um in der Küche nach dem Essen zu sehen. Teddy hatte einen Topf mit Reis aufgesetzt und eine passende Soße blubberte in einem kleineren Topf vor sich hin.

Nachdenklich vor mir her starrend rührte ich die Soße kurz um und sah nach dem Reis, wobei ich meinen Gedanken nachging.

Wir waren immerhin schon ein seltsamer Haufen. Meine Gefühle für Tevin waren noch so tief, wie an dem Tag, an dem er ging und doch war ich nicht in der Lage mich von Keanu zu trennen, konnte Tevin nicht vergeben.

Dann war da Teddy, der unsterblich in Evelyn verliebt aber zu sehr verletzt war, um sich den Problemen zu stellen. Ob er sich je davon erholen würde?

Als nächstes war da Veit, der nicht nur mein Ex, sondern auch einer meiner besten Freunde und ein sensationeller Künstler war. Nie würde ich vergessen wie er aussah, wenn er malte.

Keanu war einfach... Keanu. Vermutlich war er der normalste von uns, auch wenn er ein göttlicher hawaiianischer Surfer war. Nun, vielleicht ist er doch nicht so normal. Er sollte verboten werden.

Zu guter Letzt war da nun mal noch Tevin. Ich konnte nicht so recht deuten was er vorhatte oder ob er mit der Situation zufrieden war.

Wahrscheinlich nicht. Er liebt dich immer noch, du dummes Ding, schalt ich mich gedanklich, Aber mal ganz unabhängig davon, ob er zufrieden ist oder nicht...

Wie lange konnten wir dieses Spiel treiben?

Je öfter ich ihn sah, umso schlimmer wurden die Nächte. Ich konnte nicht schlafen und innerlich verzehrte ich mich nach ihm, war unruhig und konnte mich nur schwer konzentrieren.

Ich bin wirklich wie eine Drogenabhängige...

Unglücklich über diese Situation seufzte ich vor mich hin und lehnte meine Stirn mit geschlossenen Augen an den Oberschrank über dem Herd.

Was soll ich bloß tun?

 

Nachdem ich Keanu mühevoll dazu gebracht hatte bei Veit und Tevin in der Wohnung zu bleiben, hatte ich mich wenige Stunden nach dem Frühstück auf den Weg in die Stadt gemacht und durchforstete nun jedes Geschäft nach einem geeignetem Geschenk.

Mein Herz schlug schwer bei dem Gedanken ihm ein Geschenk zu überreichen. Selbst mein Hals schnürte sich zu. Gleichzeitig stellte sich die irrationale Angst ein, Tevin könnte weg sein, sobald ich zurück kam. Natürlich war es möglich, dass er sich dann nicht mehr in der Wohnung befand, obwohl er vorhatte die Nacht bei uns zu verbringen – niemand konnte sagen warum –, denn immerhin hatte er ja das gute Recht auf Spaziergänge oder ähnliches.

Dennoch hatte ich ständig das Bild vor Augen, wie ich nach hause kam und er nicht da war. Die Hälfte der Zeit fieberte ich im Innern mit, hatte wahnsinnige Angst, dass er einfach nicht da war. Dennoch schaffte ich es nach zwei Stunden der Suche ein Geschenk zu finden und ließ es einpacken. Nervös nahm ich es in beide Hände und machte mich unruhig auf den Weg nach hause.

Eigentlich wäre es gut für einen Überraschungsmoment, wenn Tevin nicht da wäre, wenn ich nach hause kam. So würde er das Geschenk nicht sehen und wüsste nicht, dass ich etwas für ihn hatte.

Dieser Gedanke löste ein wenig von der Nervosität. Dennoch fühlte es sich an wie eine Ewigkeit, bis ich zuhause war. Einen Moment blieb ich einfach nur vor der Tür stehen, schloss die Augen und schluckte, ehe ich tief durchatmete und die Tür öffnete. Ich schaffte es genau drei Schritte in die Wohnung, inklusive das Schließen der Tür, ehe ich inne hielt und beinahe einen Anfall bekam.

Tevin war tatsächlich nicht da.

Ich zwang mich dazu ruhig zu bleiben, wo doch kein Grund zur Besorgnis bestand, und atmete kurz durch.

„Wo ist Tevin?“, fragte ich so ruhig, wie möglich.

„Weg.“, bemerkte Keanu, der sich aufmerksam einem Spiel widmete, das er mit Veit spielte.

Es war ein Brettspiel und mir wollte beileibe nicht einfallen wie es hieß, obwohl es bekannt war. Jeder kannte es, doch ich kam nicht auf den Namen, war zu sehr von dem Wort abgelenkt, das Keanu so beiläufig fallen gelassen hatte.

Ich räusperte mich kurz. „Was... heißt weg?“, brachte ich hervor.

Keanu murmelte irgendwas undeutliches vor sich hin, während Veit die Stirn runzelte, den Kopf hob und schließlich zu mir sah. Im nächsten Moment sprang er plötzlich auf und hastete zu mir.

„Hey, alles gut, beruhige dich.“, sprach er auf mich ein und nahm mein Gesicht in seine Hände. „Er kommt ja wieder. Er hat nur etwas bei deinen Eltern vergessen und will es holen. Er müsste jeden Augenblick wieder da sein.“

Vor Erleichterung stöhnte ich leise auf, bemerkte wie eine starke Anspannung von mir abfiel und bekam im nächsten Moment einen Schwächeanfall. Veit nahm mich beruhigend in die Arme und streichelte mir über den Kopf, während mein Herz begann zu Pochen.

Alles in Ordnung. Er kommt ja wieder. Er ist gleich wieder da.

„Entschuldige.“, murmelte ich, „Ich hab überreagiert.“

„Schon in Ordnung. Das muss immerhin wie ein Deja-vu gewesen sein.“

Das war es tatsächlich irgendwie. „Es war unnötig.“, warf ich ein und löste mich von ihm. „Immerhin wohnt er ja nicht hier und-“

„Er hätte aber theoretisch hier sein müssen.“, unterbrach Veit mich, „Hätte er nicht was vergessen wäre er das ja auch.“

Langsam beruhigte ich mich wieder und sah auf das Geschenk herab, das ich noch in den Händen hielt. „Was hat er denn vergessen?“

„Ich weiß es nicht. Er sagte nur, er hätte was zuhause vergessen und ging.“ Als er daraufhin schwieg, wusste ich, dass er ebenfalls auf das Geschenk herab sah. „Was ist es?“

„Eine Kleinigkeit.“, murmelte ich.

„Für eine Kleinigkeit ist das Päckchen aber nicht sehr klein.“

Mein Mundwinkel zuckte. „Mir fiel nichts besseres ein, was angemessen wäre.“

„Soll ich es in dein Zimmer legen?“

„Das wäre nett.“

„Gut.“ Sanft nahm er mir das Geschenk aus den Händen. „Jetzt setz dich hin und ruh dich kurz aus. Keanu ist ganz durch den Wind.“

Verwundert hob ich den Kopf. „Warum?“

„Du und Tevins seid schon ein umwerfender Anblick. Im wahrsten Sinne des Wortes.“ Er beugte sich etwas zu mir herab. „Ich glaub, es nagt an ihm.“, flüsterte er mir dann zu, „Ich glaub, er weiß, dass du Tevin nicht loslassen kannst.“

Schwer schluckend sah ich zu Veit auf, woraufhin dieser bloß die Schultern hob.

„Es ist immer noch deine Entscheidung, Vilija.“

Ich seufzte schwer. „Warum hab ich mich damals nicht einfach in Teddy verliebt? Dann wären alle glücklich gewesen.“

„Das hätte doch nur halb so viel Spaß gemacht.“

Unwillkürlich begann ich leise zu lachen. „Es hat kaum Spaß gemacht, du Idiot.“

„Ach komm, gib es zu. Ich war gut im Bett.“

„Du bist ein Idiot. So langsam verstehe ich, warum Tev dich nicht leiden konnte.“

Nun lachte er leise, ehe er sich von mit löste. „Zum Glück scheint er jetzt nichts mehr gegen mich zu haben. Ich hatte Angst, er würde mich schlagen, wenn er mich wiedersieht.“ In Erinnerung an den letzten Schlag rieb er sich über den Kiefer. „Allerdings hätte er diesmal keinen Grund gehabt.“

„Tevin findet immer einen Grund.“

„Ah, ja. Das stimmt.“ Er zauste sich das Haar am Hinterkopf. „Wie auch immer. Ruh du dich kurz aus, ich bring das Geschenk weg.“

Auf mein Nicken hin machte er sich auf den Weg in mein Zimmer, woraufhin ich nochmals kurz aufseufzte und mich zu Keanu setzte. Ohne Zögern lehnte ich mich an ihn und sah zu ihm auf.

„Was ist los?“, wollte ich dann von ihm wissen.

„Was meinst du?“, fragte er zurück und sah auf mich herab.

„Mit dir ist etwas.“

„Nein, es ist alles okay.“

Ich presste die Lippen aufeinander und sah stur zu ihm auf. „Sprich mit mir.“

Er atmete tief durch und legte den Kopf in den Nacken. Dann setzte er sich richtig hin und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab. „Ich... weiß einfach nicht wie ich damit umgehen soll. Du und Tevin, ihr gehört einfach zusammen, das sieht ein Blinder mit Krückstock. Ich fühle mich wie ein Hindernis, wie eine Mauer zwischen euch beiden. Ich... sollte eigentlich gar nicht da sein.“ Einen Moment schloss er die Augen sah dann aber zu mir. „Aber ich bin zu egoistisch um dich einfach frei zu geben. Ich liebe dich und ich werde dich nicht einfach hergeben, weil er sich entschlossen hat zurück zu kommen.“

Ich lächelte leicht. „Ich habe nicht vor mich hergeben zu lassen.“

„Aber nur, weil du Tevin noch sauer bist.“ Er fuhr sich durchs Haar und starrte auf den Tisch. „Ich weiß, dass du ihm nicht ewig sauer sein kannst, was bedeutet, dass ich ein Zeitlimit habe. Irgendwann ist es soweit, dann gibt es für dich keinen Grund mehr, warum du nicht mit ihm zusammen sein solltest und dann wirst du mich verlassen.“ Er schwieg einen Moment, ehe er entschlossen auf mich herab sah. „Aber das werde ich nicht zulassen. Ich werde dafür sorgen, dass du dich genauso sehr in mich verliebst, wie ich mich in dich. Ich werde für eine faire Chance kämpfen, bis du in der Lage bist mir eine zu geben.“

Seltsam berührt von seinen Worten nahm ich sein Gesicht in meine Hände und zog ihn zu mir, um ihn sanft zu küssen.

Du glaubst nicht, wie sehr ich versuche dich zu lieben. Wie sehr ich versuche Tevin nicht zu lieben.

Als ich den Kuss nicht unterbrach, legte er mir eine Hand in den Nacken und vertiefte ihn. Als wäre das ein verborgener Schlüssel, spürte ich in mir eine kleine Flamme, die sich bemerkbar machte. Nicht wie bei Tevin. Es war... anders und noch sehr schwach. Dennoch wärmte es mich von innen, wie es lange Zeit nichts getan hatte.

Ich registrierte am Rande, dass Veit wieder ein sein Zimmer ging, ehe Keanu mich prompt hoch hob und, ohne den Kuss zu unterbrechen, in mein Zimmer trug.

Diesmal war es mein Verschulden und es ging einzig und allein um ihn.

Kapitel 10

 

 

Nie werde ich das Gefühl vergessen, das mich ergriff,

als ich feststellte, dass Tevin fort war,

dass er nicht zurück kommen würde.

Es war einer der schlimmsten Momente meines Lebens.

Niemals hätte ich damals gedacht,

dass es etwas schlimmeres geben könnte.

- Tagebucheintrag von Vilija Kemmesies

 

Gemütlich saß ich im Esszimmer meiner Eltern neben Keanu und sang mit den anderen Tevins Geburtstagslied. Keanu sang mir zuliebe mit und lächelte sogar, während ich nervös meine Hände ineinander verschränkte. Immer noch lag mein Geschenk in meiner Tasche. Ich hatte Angst vor seiner Reaktion.

Als das Lied endete, pustete Tevin die Kerzen aus, die Mom auf die selbstgemachte Torte gesteckt hatte. Es waren genau 21.

„Darf ich jetzt meine Geschenke haben?“, fragte er, wie immer, wenn er zu seinem Geburtstag die Kerzen ausgeblasen hatte.

Und wie jedes Mal, gab Mom die gleiche Antwort. „Erst wird Torte gegessen.“

Dad holte ein Messer, das er Tevin gab, damit dieser die Torte anschneiden konnte. Fünf Minuten später hatte jeder ein Stück Torte und wir begannen zu essen.

Es war wie immer eine kleine Feier, deshalb waren nicht viele anwesend. Unsere Eltern, Cyntia, Keanu und ich. Normalerweise wären Evelyn und Teddy auch hier, aber beide wollten nicht kommen, da sie davon ausgingen, das der andere da war.

„Tevin?“, hob Cyntia etwas später an.

„Ja?“

„Warum nimmst du Vilija nicht mehr so in die Arme wie früher?“

Einen Moment glitt ein verletzter Ausdruck über Tevins Gesicht, ehe er sie sanft anlächelte. „Vilija ist mit Keanu zusammen. Er übernimmt das für mich.“

„Ach so?“ Verwirrt sah sie zu meinem Freund herüber, ehe sie wieder zu Tevin sah. „Macht er es denn richtig?“

„Das hoffe ich doch. Warum fragst du ihn nicht?“

Stumm sah sie wieder zu Keanu, ehe sie wieder auf ihr Essen sah und stur weiter aß. Mom lachte leise.

„Ich verstehe das nicht.“, bemerkte Cyntia kurz darauf, „Habt ihr euch nicht mehr lieb?“ Diesmal sah sie mich an.

„Doch natürlich.“, antwortete ich liebevoll, „Tevin und ich haben uns immer noch sehr gern. Aber er war lange weg und ich hab Keanu kennen gelernt. Den hab ich auch sehr gern, weißt du?“

Nachdenklich sah sie nochmals auf ihr Stück Torte, ehe sie den Kopf schüttelte. „Nein, ich verstehe das nicht. Ihr habt immer so viel gemacht und du hast mehr gelacht. Jetzt guckt ihr immer so traurig.“

„Aber wir gucken doch gar nicht traurig.“, warf Tevin ein, „Wir gucken ganz normal.“

„Jetzt ja. Aber wenn ihr denkt, dass keiner hinsieht, dann guckt ihr traurig.“

„Cyntia, es ist schon gut.“, ging Mom sanft dazwischen, „Die beiden haben ihre Gründe.“

Als jeder wenig später genug von der Torte gegessen hatte, war es dann soweit für Tevin die Geschenke auszupacken. Wir machten es uns dafür im Wohnzimmer gemütlich, wobei Tevin, wie immer den Platz neben mir wählte. Keanu saß auf meiner anderen Seite. Dieser musste nur einen Blick auf die Geschenke werfen, um zu erkennen, dass mein Geschenk nicht dabei war.

„Was ist mit deinem?“, fragte er mich leise.

Ich biss mir leicht auf die Unterlippe, antwortete aber nicht. Tatsächlich freute Tevin sich über jedes Geschenk, als hätte er es sich schon lange gewünscht. Sogar die kleine Bastelei von Cyntia, die bei längerer Betrachtung aussah wie ein bunter Fisch, gefiel ihm so sehr, dass er schwor, sie immer auf seinem Nachttisch liegen zu haben.

„Hast du diesmal kein Geschenk?“, fragte Mom mich überrascht, beinahe ungläubig.

Ich zupfte unsicher an meinem Ohrläppchen und knabberte auf meiner Unterlippe herum.

„Soll ich es holen?“, bot Keanu leise an.

Tevin sah zwischen ihm und mir hin und her, drängte aber nicht. Als ich schließlich nickte, ging Keanu in den Flur, um das Geschenk aus meiner Tasche zu holen, während scheinbar jeder neugierig wartete. Nur Tevin war die Geduld in Person. Kurz darauf kam Keanu bereits zurück und reichte mir das kleine Päckchen, dass ich schweren Herzens an Tevin weiter gab.

Dieser nahm es so vorsichtig entgegen, als wäre es zerbrechlich. Oder etwas unbeschreiblich wertvolles. Vorsichtig öffnete er es und ließ den Inhalt in seine Hand rutschen. Es war ein Armband aus Silber, in deren Gliedern einzelne Symbole eingraviert waren. Als er las, was da stand, erstarrte er und hielt den Atem an, ehe er langsam zu mir sah.

Žvakė dega toliau.

Die Kerze brennt noch.

Da ich einen dicken Kloß im Hals hatte, konnte ich nichts anderes tun als ihn anzusehen, während er mich einfach anstarrte, als wäre ich irgendein... exotisches... heiliges... etwas. Er machte ein wenig den Eindruck, als würde er sich mir jeden Moment vor die Füße werfen.

„Tevin?“, brachte ich rau hervor und sah ihn besorgt an.

„Danke.“, murmelte er dann, sah auf das Armband herab und legte es sich an. „Es ist sehr schön.“

„Was steht da?“, fragte Cyntia neugierig.

Tevin lächelte sie schräg an. „Žvakė dega toliau.“, sagte er dann.

Cyntia zog verwirrt die Brauen zusammen. „Verstehe ich nicht. Ist das wieder so eine geheime Botschaft? Wie die zwischen Mom und Dad in letzter Zeit?“

Peinlich berührt lachte Mom auf, wobei sich ihre Wangen rot färbten, während Dad in sich hinein grinste und auf den Boden sah.

„Nein, Kleines.“, entgegnete ich und rieb mir über den Nacken. „Das ist eine Metapher, die mir und Tevin viel bedeutet.“

„Was ist eine Metapher?“ Nun sah sie hilfesuchend zu unseren Eltern.

Dad setzte sich auf und tätschelte ihr den Kopf. „Eine Metapher ist ein sprachliches Bild.“, erklärte er ihr, „Du baust mit Wörtern ein Bild, das eine Bedeutung hat. Menschen benutzen es häufig, ohne es zu bemerken.“

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel... wenn du sagst, du lachst dich kaputt. Dann lachst du dich ja nicht kaputt, du lachst nur so sehr, dass ihr der Bauch anfängt weh zu tun. Oder du sagst, du bist hundemüde, dann willst du damit nur sagen, dass du sehr müde bist.“

Verwirrt zauste sie sich ihr Haar. „Und was bedeutet das nun? Die Kerze brennt noch.“

Dad sah zu mir und Tevin herüber. „Nun... weißt du... Vilija ist Tevin sehr wichtig.“

Cyntia nickte und hörte aufmerksam zu.

„Und Tevin hat Angst im Dunkeln.“

Mit großen Augen sah sie ihren großen Bruder an. „Hast du?“

Tevin lächelte schräg. „Mittlerweile nicht mehr sehr.“

„Als wir klein waren ist er immer zu mir ins Bett gekommen.“, erklärte ich ihr, „Weil er Angst hatte. Oder ich bin zu ihm gegangen, weil ich nicht schlafen konnte.“

Dad nickte und seufzte einen Moment resigniert. „Nun, jedenfalls ist Vilija sowas wie eine Stütze für ihn. Er hatte eine sehr schlimme Kindheit und sie hat ihm geholfen. Du musst dir vorstellen, Tevin wäre in einer ganz großen Höhle, ohne Licht.“

„Dann ist es ja ganz dunkel.“, bemerkte Cyntia.

Dad nickte. „Genau. Tevin hat dann Angst und ist sehr einsam. Und jetzt stell dir vor, da steht eine Kerze mitten in der Höhle.“

„Dann hat er keine Angst mehr.“

„Richtig. In dem Zusammenhang steht die Kerze auch für Hoffnung. Und für Tevin ist diese Kerze Vilija.“

„Oh...“, hauchte Cyntia, „Aber... warum dann dieser Satz?“

Dad lächelte schräg. „Eigentlich hast du selbst schon ein Gespräch darüber angefangen. Du hast gefragt, ob sie sich nicht mehr lieb haben. Vilija sagt ihm damit, dass sie immer noch für ihn da ist.“

„Ach so.“ Sie begann mit den Beinen zu schwingen, wobei ihre Fersen gegen die Couch stießen. „Jetzt verstehe ich das.“

Als ich zu Tevin sah, lächelte er sanft auf das Armband herab, hielt es mit der anderen Hand fest.

„Wie kam Tevin eigentlich zu uns?“

Ich lachte amüsiert auf. „Das fragst du immer wieder.“

Die Lippen geschürzt sah sie mich mit funkelnden Augen an. „Ich höre die Geschichte so gern.“

„Also gut.“, hob Mom an und begann zu erzählen.

Ich bemerkte, dass Keanu ebenfalls aufmerksam zuhörte, während ich Tevin beobachtete. Dieser sah weiterhin auf das Armband, wirkte nun aber gedankenverloren.

„Tevin?“, riss Cyntia ihn schließlich aus den Gedanken.

Er riss den Kopf hoch. „Hm? Ja?“

„Du hast gar nicht erzählt, wie es in England war.“

Einen Moment sah er sie perplex an. Dann fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. „Oh, nun...“ Ganz automatisch legte er einen Arm hinter mir auf die Rückenlehne, als er sich zurück lehnte. „Ich war nicht lange in England. Nur etwa... einen Monat, denke ich. Meine... also... meine richtige Mutter...“ Er zögerte. „Das klingt so falsch.“, murmelte er dann vor sich hin, „Also, Dacianna, die Frau, die eigentlich meine Mutter wäre, hat oft davon gesprochen, dass sie und Florim, ihr Mann und mein eigentlicher Vater, sich darauf vorbereiten könnten nach Rumänien zurückzukehren. Ein Verwandter, den ich selbst nicht kennen gelernt habe, hat wohl alles vorbereitet. Ein Haus gekauft, sich nach Arbeit erkundigt und so weiter. Anfangs war es eigentlich sehr schön. Ich habe viel über die beiden erfahren. Nach dem ersten Monat waren sie dann bereit für den Umzug nach Rumänien und haben mich gefragt, ob ich sie nicht begleiten möchte, um zu helfen. Es waren irgendwie meine Eltern, also...“ Er zuckte mit den Schultern. „Also bin ich mitgekommen.“

„Tevin.“, hob Mom zaghaft an.

„Ja?“

„Was ist mit deinem Handy passiert? Damit muss recht früh etwas gewesen sein.“

Er verzog das Gesicht und rieb sich die Augen, als würde ihn das, was kam, ermüden. „Während dem Flug nach England musste ich es natürlich ausschalten. Aber als wir da waren...“ Er seufzte frustriert. „Florim wollte es sich etwas genauer ansehen, weil er sich ein neues kaufen wollte. Und als er es zurück geben wollte hat Dacianna es genommen, um es sich ebenfalls anzusehen. Wir waren gerade auf dem Weg zum Wagen und liefen über den Parkplatz. Wir waren quasi mitten auf der Fahrbahn und ein Bus kam schon angerollt, da ist sie plötzlich gestolpert und hat das Handy fallen lassen.“ Gereizt presste er die Lippen aufeinander. „Der Bus hat es überfahren. Weder das Handy, noch die Karten konnten gerettet werden. Die Daten auch nicht.“ Traurig warf er mir einen Blick zu. „Ich hab dir während dem Flug eine SMS geschrieben, die abgeschickt werden sollte, sobald ich das Handy wieder richtig einschalte. Ich nehme an, sie ist nicht angekommen.“

Langsam schüttelte ich den Kopf und zog verdutzt die Brauen zusammen. „Wie ging es weiter? Sie gingen mit dir nach Rumänien.“

Er nickte knapp und sah dann vor sich auf den Couchtisch. „Es war ein wirklich hübsches Haus. Zwei Etagen, ein netter kleiner Garten, eine hübsche Terrasse und sogar ein Wintergarten. Sie verdienten ziemlich gut. Ich half bei der Renovierung, der Möblierung und bei der Gestaltung des Gartens. Danach geschah eine ganze Weile nichts im Haus. Es gab keinen Telefonanschluss, kein Internet, nicht einmal Fernsehen oder Radio. Aber ich blieb geduldig und ging im Haushalt auch zur Hand, wollte mehr über die beiden erfahren.“

Bei der Erwähnung, dass es offenbar keine Elektronikgeräte gegeben hatte, zog Tėtis verwundert die Brauen zusammen, sagte jedoch nichts. Gerade als Tevin wieder zum Reden ansetzte, ertönten vor der Haustür laute Stimmen. Ich identifizierte sie als Evelyn und Teddy, was mich ehrlich wunderte. Ohne ein weiteres Wort standen Tevin und ich auf und gingen zur Tür.

„-dir alles erklären, aber der Herr ist sich ja zu fein dafür mit mir zu sprechen!“, fauchte Evelyn gerade, als ich die Tür öffnete.

„Als wenn es noch irgendwas zu erklären gäbe, nach dem, was ich gesehen habe! Das reicht mir schon!“, fuhr Teddy sie daraufhin an.

„Ich weiß ja nicht mal, was du gesehen haben willst!“

Mit gehobener Braue sah ich zu Tevin, während die beiden sich anschrien. Dieser sah ebenfalls zu mir, ehe wir uns beide zunickten. Zehn Sekunden später hatte ich Teddy im Schwitzkasten und Tevin hatte Evelyn die Arme auf dem Rücken verdreht, ehe wir die zwei hinein lotsten.

„Wir, äh... sind gleich wieder da.“, bemerkte ich halblaut an der Wohnzimmertür und ignorierte Teddys derbe Flüche.

Dad hatte Cyntia bereits die Ohren zu gehalten, als ich die Wohnzimmertür erreicht hatte.

Mom nickte nur und winkte ab, während sie bereits wieder an einem Stück Kuchen aß. Dad hatte sie dabei seltsam aufmerksam im Auge, beinahe als wäre er... misstrauisch. Keanu sah mich fragend an, woraufhin ich mit leichtem Blick auf Teddy den Kopf schüttelte.

Sobald das also geklärt war schleifte ich meinen besten Freund hinter Tevin her die Treppe hinauf in mein Zimmer. Evelyn war, wie ich gut hören konnte, in Tevins Zimmer. Hier angekommen ließ ich Teddy vorsichtig los und stellte mich zwischen ihm und die Tür.

„Verdammte Scheiße, was soll der Mist?“, fragte er mich wütend.

„Komisch. Dasselbe wollte ich dich auch gerade fragen.“, entgegnete ich ruhig, „Ich dachte, du wolltest nicht kommen.“

Er biss die Zähne aufeinander, wendete sich ab und ging ein paar Schritte, ehe er sich wieder umdrehte. „Ich–“ Er unterbrach sich abrupt selbst und biss erneut die Zähne aufeinander, kochte leise vor sich hin. Drei Mal setzte er zum Reden an, ohne was zu sagen, ehe ich auf mein Bett deutete, damit er sich setzte. Einen Moment schien er sich zu weigern, nahm dann aber Platz.

„Okay, jetzt atme erst Mal durch.“

Er schnaufte skeptisch, atmete aber einige Male tief durch, um sich zu beruhigen.

„Ist Veit allein zuhause?“, fragte ich nebenbei, um ihn abzulenken.

Er schüttelte den Kopf. „Er ist im Park und malt. Das sagte er zumindest.“

„Glaubst du ihm etwa nicht?“

„Er hatte keine Sachen zum Malen dabei.“

Das war wunderlich. Eigentlich schleppte Veit ständig etwas zum Malen oder Zeichnen mit sich herum, wenn er raus ging. Ob mit ihm etwas nicht stimmte?

„Okay. Und was war das nun zwischen dir und Ev?“

Tatsächlich schaffte er es von einer Sekunde zur anderen wieder fuchsteufelswild zu werden, sprang auf und ging auf und ab.

„Teddy?“

„Ich–“ Erneut biss er die Zähne aufeinander.

Ich seufzte tief. „Okay, soweit waren wir schon. Weiter?“

Einen Moment ging er noch umher, ehe er tief einatmete. „Ichwolltesiesehen!“, brach es dann frustriert aus ihm heraus, „Verdammter Dreck. Ich wollte sie nur sehen, verdammt. Ich– Ich bin zu ihr gegangen, einfach um sie zu sehen, weil ich sie so sehr vermisse.“ Da er gerade bei meinem Schrank war, lehnte er sich mit dem Rücken dagegen und barg das Gesicht in seinen Händen. „Ihre Mutter war an der Tür und sagte, Ev sei oben, also bin ich hoch gegangen und hab geklopft, aber... Ich hatte einfach wieder dieses Bild vor Augen und wollte bereits gehen, bevor sie die Tür aufmacht. Hielt es für eine dumme Idee. Ich hab es bis zur Treppe geschafft. Ich... Ich glaube, sie hat sich gefreut mich zu sehen, ich weiß es nicht genau. Hab nicht hingesehen. Sie hat gefragt, was ich dort mache und ich... dümmster Vollidiot des Jahres hab gesagt, ich hätte nur noch einmal die Erinnerungen wach rütteln wollen, damit ich den Grund nicht vergesse, weshalb ich sie ignoriere. Daraufhin ist sie völlig ausgetickt und hat mich wie verrückt angeschrien, was ich mir denn einbilde da aufzutauchen und das zu sagen und so einen Mist.“ Hoffnungslos sackten seine Schultern herab. „Ich wollte gehen und dachte mir, wenn ich schon mal da bin, kann ich auch zur Geburtstagsfeier kommen, aber ich glaube, ich hab so ziemlich alles versaut, was heute anstand.“

Ich schürzte die Lippen. „Hast du nicht. Nur bei Evelyn hast du einiges versaut.“ Leise seufzend beobachtete ich, wie er am Schrank herab rutschte und sich auf den Boden hockte. „Ich gehe mal rüber.“, murmelte ich dann und verließ leise das Zimmer.

Evelyn schien sich ebenfalls beruhigt zu haben und schrie nicht mehr herum. Als ich vorsichtig herein sah, lag sie, das Gesicht in Tevins Kissen vergraben, auf dem Bauch in seinem Bett, während Tevin neben ihr saß und leise mit ihr redete. Als hätte er gespürt, dass ich da war, hob er den Blick und sah zu mir herüber.

„Wie sieht's aus?“, fragte ich ihn.

Er sah kurz zu Evelyn, ehe er wieder mit gehobener Braue zu mir aufsah. „Glaubst du, sie fangen wieder an zu schreien, wenn wir sie beide hier einsperren?“

„Am Anfang vielleicht schon.“

Als Evelyn das hörte, setzte sie sich auf und sah uns empört an. „Wie bitte?“

Ich war bereits wieder im Flur und ging hinüber in mein Zimmer, machte mir nicht die Mühe, die Tür zu schließen. Es war nicht sonderlich einfach einen so demotivierten Kerl wie Teddy auf die Füße zu hieven und noch schwieriger war es ihn durch den Flur zu zerren, als er begriff, dass ich ihn in Tevins Zimmer bringen wollte.

„Jetzt hör doch mal auf mit dem Mist.“, fuhr ich ihn an und schob ihn vor mich. „Ihr seid beide erwachsen genug um so etwas in Ruhe zu regeln, also hör auf dich wie ein Kind zu benehmen und geh.“

„Du kannst mich mal.“

Ich boxte ihm in die Seite. „Und du mich erst!“

Als er unter dem Schlag taumelte, ergriff ich die Chance und schob ihn so gut es ging in Tevins Zimmer. Tevin dagegen stand bereits an der Tür und hinderte Evelyn daran das Zimmer zu verlassen. Es war interessant zu beobachten, wie die beiden reagierten, als sie sich sahen. Erst schienen sie sich wie zwei Magneten abzustoßen und begannen wieder sich gegenseitig anzubrüllen. Dann war es, als drehe man einen der beiden Magneten um und sie gingen aufeinander zu, bis sie so dicht voreinander standen, dass sich beinahe ihre Nasenspitzen berührten. Und die ganze Zeit brüllten sie sich so wild durcheinander an, dass man kein Wort verstand.

Tevin und ich beobachteten das von der Zimmertür aus, beide bereit die Tür im Notfall von Außen zu verriegeln. Doch dann überraschte Teddy mich. Er schien irgendwie keine Lust mehr zu haben oder vielleicht hatte seine Sehnsucht die Überhand ergriffen. Vielleicht ging ihm der Streit auch auf die Nerven. Was auch immer es war, es brachte ihn dazu einfach Evelyn zu packen und so lange zu küssen, bis sie sich nicht mehr regte.

Das sollte erst einmal reichen.

Leise verließ ich mit Tevin das Zimmer und schloss hinter mir die Tür, ehe wir uns ein wenig davon entfernten.

„Ich dachte schon die würden so lange weiter machen, bis ihre Stimmenbänder reißen.“, bemerkte Tevin und rieb sich demonstrativ das Ohr.

„Wenn ich so darüber nachdenke, hätten wir sie vielleicht erst K.O. schlagen und dann in dein Zimmer bringen sollen. Dann wären sie dort eingesperrt aufgewacht.“

Perplex sah er auf mich herab. „Sag das nochmal.“

„Ich glaub, es wäre auch schneller gegangen, wenn wir sie dabei ausgezogen und in dein Bett gelegt hätten.“, sinnierte ich, „Teddy ist ganz verrückt nach ihr, weißt du.“

Er sah nahezu schockiert an. „Wer bist du und was hast du mit Vivi gemacht?“

Ich prustete und lachte leise, ehe ich ihn leicht anstieß. „Du bist doof.“

„Oh, vielen Dank. Und ich dachte schon es gehört mehr dazu, um dich endlich lachen zu hören.“ Er rollte mit den Augen. „Hätte ich das gewusst, hätte ich dich viel früher mit Sarkasmus überhäuft.“

Ich schlug ihm halbherzig gegen die Schulter. „Ich musste Dinge verarbeiten.“

Er lächelte mich entschuldigend an. „Ich weiß. Es tut mir leid.“ Während er so da stand sah er auf den Boden und bohrte mit dem Zeh im Boden. „Ich sagte ja, ich hab dir dutzende Briefe geschrieben.“ Nun schien er etwas wütend zu werden. „Es ist nicht meine Schuld, dass sie nie angekommen sind. Oder mein Handy geschrottet wurde. Dass mein E-Mail Account gelöscht wurde. Oder jemand dafür gesorgt hat, dass das verflixte Geld für den Flug nicht überwiesen wurde.“ Er presste die Lippen aufeinander, drehte sich zu mir um und zog mich in seine Arme, hielt mich einfach nur fest. Kurz darauf schien er sich bereits wieder entspannt zu haben und drückte seine Lippen an meine Schläfe. „Ich weiß, du bist noch nicht bereit für das Gespräch, aber... ich muss es dir einfach erklären.“ Vorsichtig drückte er mich etwas enger an sich. „Jeder Brief wurde im Auftrag meiner Mutter zurück gehalten. Wenn ich sie gebeten habe einen Brief für mich zur Post zu bringen, hat sie ihn zwar hingebracht, aber zu den anderen legen lassen. Sie kennt wohl jemanden, der dort arbeitet.“

Schockiert sah ich zu ihm auf. „Was?

„So hat sie es auch mit dem Geld gemacht. Um den Schein zu wahren, sie wolle mich unterstützen und mir nur gutes tun, hat sie mir das Geld auf mein Konto überwiesen, aber dafür brauchte sie die Daten. Damit ging sie zu jemandem, den sie durch einen Kontakt bei der Bank kannte und hat ihn mit Korruption dazu gebracht technische Probleme zu erzeugen, damit das Geld nicht überwiesen wird.“

Sprachlos sah ich ihn an. „Dein E-Mail Account?“, fragte ich kurz darauf.

„Ich glaube, das ist das einzige, was nicht Dacianna zu verantworten hat. Aufgrund zu langer Inaktivität wurde der Account gelöscht. Ich hab das nicht weiter verfolgt und Aidan hat da auch nicht nachgeforscht. Es ist natürlich trotzdem gut möglich, dass sie da auch ihre Finger im Spiel hatte.“

Die ganze Zeit... hat er versucht mich zu erreichen, hat sogar versucht zurück zu kommen und all das gelang nicht, weil er von seiner Mutter betrogen wurde. „Es tut mir so leid.“ Das zu erfahren hatte ihm wahnsinnig weh tun müssen. „Wie... hast du es geschafft nach hause zu kommen?“

„Die beiden hatten Aidan offenbar lange verschwiegen, dass ich da war, aber irgendwer muss es ihm gesagt haben. Er stand irgendwann einfach vor der Tür. Er... Aidan ist ein überwältigender und intelligenter Mann, weißt du. Er traute Dacianna so schon nicht weiter, als er sie werfen konnte. Deshalb war er ziemlich misstrauisch, als er erfahren hat, dass sie mich fast zwei Jahre vor ihm geheim gehalten hatten. Mit seinen Schuldgefühlen... Er tut alles, um das wieder gut zu machen.“

An dieser Stelle fiel mir auf, dass wir hier standen, wie ein Liebespaar in einer gemütlichen Unterhaltung. Seine Hände lagen auf meinen Hüften, meine an seiner Brust, während er auf mich herab sah und erzählte. Ich wollte ihn gerade darauf aufmerksam machen, als er bereits weitererzählte.

„Wir haben uns eine Weile unterhalten und letztendlich kam die Sprache auf dich und die Briefe. Dann haben wir über den Flug und mein Handy gesprochen.“

„Dein Handy?“, fragte ich verdutzt.

„Er ist fest davon überzeugt, dass sie es absichtlich fallen gelassen hat. Er meint, sie wäre ein durchaus geschickter Mensch und würde einen Gegenstand vor Schreck eher fester packen, als es loszulassen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wie auch immer. Er hat angefangen nachzuforschen, angefangen bei den Briefen. Er muss mal Privatdetektiv gewesen sein oder so. Nach einer Woche wusste er einfach alles darüber und hatte sogar Beweise.“

„Beweise?“

„Schriftliche Geständnisse der Zeugen, Kopien von Videoaufnahmen, Aufnahmen von Zeugenaussagen und ein paar Fotos. Er hat sogar einen Ausdruck von dem Protokoll des Bankangestellten, der das technische Problem verursacht hat. Darauf ist Schritt für Schritt zu sehen was er getan hat. Ich bin froh, dass EIC so etwas erfunden hat. Sobald das alles raus kam, hab ich mein Hab und Gut genommen und bin bei ihm geblieben, bis wir zusammen herkamen. Er ist ein herzensguter Mensch und verabscheut derartige Intrigen wie die von Dacianna.“

Die Wut und Enttäuschung darüber, dass er sich all die Zeit nicht gemeldet hatte, war langsam abgeflaut, bis nichts mehr davon übrig war. Jetzt blieb nur noch eine Frage. Ich schluckte schwer und brauchte einen Moment, ehe ich sie stellen konnte.

„Warum... bist du überhaupt mit nach England geflogen?“

Die ganze Zeit hatte er sich unter Kontrolle gehabt, schien bestenfalls etwas gereizt oder wütend. Doch jetzt erschien da Schmerz in seiner Miene, was ihn unglaublich verletzlich wirken ließ.

„Ich kann nicht beschreiben wie leid es mir tut.“ Sanft lehnte er seine Stirn an meine und legte seine Hände an meine Wangen. „Es war einfach... dieser Druck und … Ich war so durcheinander. Im einen Moment war alles wunderbar und im nächsten Moment standen sie da und wollten mich mit zu sich nehmen. Mein erster Gedanke war 'Nein!', aber dann realisierte ich, dass vor mir meine Eltern standen. Die Menschen, die ich seit meiner Kindheit nicht gesehen hatte und als Kind so sehr vermisst habe. Wenn ich die Entscheidung nochmal fällen müsste, würde ich bleiben. Nichts auf der Welt würde mich je dorthin bringen können.“

Sein Haar, das bei seiner Ankunft bereits länger gewesen war, war noch ein wenig gewachsen, sodass es mich ungewohnterweise im Gesicht kitzelte. Das machte mir bewusst, wie nahe er mir schon wieder war. Im gleichen Moment schloss Tevin die Augen und zog mir ein wenig enger an sich, genoss meine Nähe.

„Ich würde alles tun, um diese eine Entscheidung ändern zu können.“, hauchte er mit schmerzerfüllter Stimme.

Überwältigt von der ganzen Situation war ich drauf und dran ihn zu küssen, wie mir klar wurde. Zwei Dinge retteten mich. Zum einen die Tatsache, dass er die Augen geschlossen hatte, so konnte er nichts davon ahnen und mir somit nicht entgegen kommen, was mir zweifellos den Rest gegeben hätte. Zum anderen war es Teddy, der gegen die Tür stieß und dabei wohl aus Versehen den Henkel hinunter drückte. Vor Schreck drehte ich abrupt das Gesicht zu ihm, während er uns einen prüfenden Blick zuwarf.

„Ich bin ja ganz froh darüber, dass ihr euch ganz offensichtlich wieder versteht.“, bemerkte er und zupfte sein Shirt zurecht, ohne zu merken, dass sein Mund mit Lippenstift verschmiert war. „Aber vielleicht solltest du erst alles mit Keanu klären, bevor ihr übereinander herfallt.“

Ich hatte mir angestrengt ein Grinsen verkniffen doch bei diesen Worten verging es mir. Keanu.

Hastig löste ich mich von Tevin, trat zwei Schritte von ihm zurück und fuhr mir mit beiden Händen durchs Haar.

„Nicht mehr anfassen.“, knallte ich Tevin entgegen, ehe ich auf dem Absatz kehrt machte und hinunter eilte. Fast hätte ich ihn geküsst. Nur noch einen Moment und- Wenn Teddy nicht gewesen wäre- ICH HÄTTE IHN BEINAHE GEKÜSST!!

Unten angekommen zog ich mir eilig die Schuhe an und hörte, wie Tevin mir hinterher kam.

„Du willst doch nicht schon gehen?“, fragte er enttäuscht, „Es ist doch nichts passiert. Es ist doch alles in Ordnung.“

„Ich muss nachdenken. Das war gerade alles so viel, ich-“ Ich unterbrach mich, als Keanu in der Wohnzimmertür erschien und herüber kam.

„Ist alles okay?“, fragte er besorgt.

„Ihr geht es bestens.“, antwortete Tevin für mich und sah bereits wieder zu mir. „Bleib doch noch ein wenig. Nur für... ein paar Stunden. Ein oder zwei.“

„Ich sagte doch, ich muss nachdenken. Ich... kann einfach nicht bleiben.“ Als ich zur Tür gehen wollte, stellte er sich mir in den Weg. „Tevin, bitte.“

„Nur zwei Stunden. Bitte. Ich verspreche dir auch, ich komme dir nicht einmal zu Nahe.“

„Was ist passiert?“, wollte Keanu wissen und berührte mich sanft am Oberarm.

„Wir haben uns unterhalten.“, antwortete ich.

„Willst du darüber reden?“

„Sie hat doch gesagt, sie will nachdenken.“, ging Tevin wieder dazwischen, diesmal hörbar gereizt, ehe er sich erneut an mich wendete. „Nur dieses eine Mal.“, bat er, „Zwei Stunden.“

„Tev-“

„Ich habe Geburtstag.“, erinnerte er mich, „Ich hab nur noch den einen Wunsch. Zwei Stunden.“

Ich fuhr mir erneut mit der Hand durchs Haar. „Ich brauche jetzt Zeit.“, erklärte ich ihm so ruhig wie möglich, „Ganz dringend. Ich glaub, ich bekomme ich einen Nervenzusammenbruch, wenn ich nicht etwas Zeit bekomme.“

Unsicher und etwas bedrückt sah er zur Tür. „Du hast immer noch dein Zimmer...“

„Tevin.“

Er seufzte leise. „Ich verstehe dich, wirklich, aber... Weißt du...“ Er wendete das Gesicht wieder mir zu, wich meinem Blick gleichzeitig aber aus. „Seit zwei Jahren habe ich mich darauf gefreut meinen Geburtstag mit dir zu verbringen, weil ich wissen wollte, was du mir schenken wolltest. Ich weiß, dass das hier nicht das Geschenk war und du es mir nicht geben wirst, aber ich...“ Er seufzte, schüttelte den Kopf und trat beiseite. „Ich rede nur Unsinn. Ich will einfach, dass du noch etwas hier bist, damit ich Zeit mit dir verbringen kann. Evelyn hatte verdammt nochmal Recht.“ Sein Blick fiel auf Keanu. „Dass du jemand anderem gehörst wird das schwierigste sein, das ich ertragen muss.“

Ich presste kurz die Lippen aufeinander und schluckte, ehe ich den Blick senkte. „Ich... melde mich die Tage.“, versprach ich, ehe ich dem Verlangen nach gab ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken.

Einen Moment spürte ich regelrecht sein Bedürfnis mich festzuhalten und mehr zu tun, doch er hatte sich offenbar wieder im Griff und ließ es zu, dass ich, unter seinen frustrierten Blicken, Keanus Hand nahm und ging. Unterwegs schwiegen wir uns eine Weile an, ehe Keanu den Blick zu mir hob.

„Was war das gerade eben mit dir und Tevin?“, wollte er wissen, „Ist etwas passiert?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Wir... haben bloß geredet.“ Ich seufzte tief und strich mir ein paar Strähnen zurück. „Er hat mir erklärt, warum er sich nicht gemeldet hat. Hat sich entschuldigt... Und er hat mir erklärt, warum er gegangen ist. Das war... einfach etwas viel für einen Tag. Und dann waren da noch Teddy und Evelyn.“ Tief durchatmend legte ich den Kopf in den Nacken und schloss einen Moment die Augen. „Ich hoffe diesmal setzt es keiner der beiden in den Sand.“

Keanu nickte vor sich her, dachte über das Gesagte nach. „Was... Was meinte Tevin damit, als er sagte, er komme dir auch nicht zu Nahe?“

„Es... Da war nur... das war bloß ein Missverständnis.“

Als ich den Blick sah, den er mir nun zuwarf, erkannte ich eindeutiges Misstrauen. „Ein Missverständnis? Zwischen wem?“

„Zwischen Tevin und mir und... Teddy.“

Als ich nicht weiter darauf einging, wurde er etwas langsamer. „Und weiter?“

„Tevin und ich standen etwas nahe beieinander, das ist alles. Teddy hat das falsch gedeutet.“

„Teddy deutet nie etwas falsch.“, gab Keanu zu bedenken, „Ihr müsst ja wirklich nahe beieinander gestanden haben, wenn er das falsch deutet.“

„Ja, also...“ Ich zögerte. „Weißt du...“ Ein paar Mal setzte ich zum Weitersprechen an, hielt dann aber jedes Mal inne, ehe ich schließlich sagte: „Ich hätte ihn fast geküsst.“

Seine Miene wurde steinhart.

„Ich- Ich wollte es nicht, ich hab es nicht geplant. Ich habe es auch nicht getan. Es war einfach nur...“

„Du liebst ihn immer noch genauso sehr wie damals, nicht wahr?“ Etwas verbittert sah er nach vorn und presste die Lippen aufeinander. „Du bist gar nicht in der Lage, dich richtig in mich zu verlieben, weil du ihn nie losgelassen hast. Die ganze Zeit war mir das klar, aber es ist hart, es vor Augen zu haben.“

„Aber ich bin hier. An deiner Seite.“

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, wie ich vor wenigen Minuten. „Ich hab gedacht, ich hätte noch etwas mehr Zeit.“

Mein Herz wurde mir schwer. „Was meinst du?“

„Ich weiß, dass ich gegen ihn keine Chance habe, wenn deine Gefühle für mich so schwach sind. Und die Zeit läuft mir davon.“ Langsam schüttelte er den Kopf. „Ich habe gar keine Zeit mehr.“

„Keanu?“

„Du liebst ihn, Vilija.“

„Aber-“

„Vielleicht soll es einfach so sein.“

„Wir machen doch Fortschritte!“

„Fortschritte, die bei ihm gar nicht nötig wären. Allein seine Anwesenheit macht dich glücklich und ich schaffe es nur mit Mühen dich zum Lächeln oder Lachen zu bringen. Ihn dagegen musst du einfach nur ansehen und strahlst schon vom Inneren heraus wie eine 500 Watt Birne.“

„Ich verstehe es ja, wenn du eifersüchtig bist, aber-“

„Es ist nicht bloß Eifersucht. Ich sehe, dass du bei ihm bei weitem glücklicher bist als bei mir.“

„Aber ich-“ Als mir klar wurde, was er vor hatte, traten mir Tränen in die Augen.

„Du gehörst einfach zu ihm.“

„Keanu!“

„Versuch gar nicht das abzustreiten. Es ist schwer für dich nicht an seiner Seite zu sein. Daher ist es nochmals schwerer für dich an meiner Seite zu sein.“

„Hör mir doch mal zu!“

„Ich möchte nicht einfach nur ein fester Freund sein, weil du mich nicht so lieben kannst, wie ihn. Ich... will einfach mehr.“

Gott verdammt, ihr Kerle seid doch alle gleich!“, schrie ich ihn daraufhin an, drehte mich um und ging eilig weiter, wobei ich mir die Tränen aus dem Gesicht wischte. „Was stimmt denn nicht mit mir?“

 

Stunden später fand Teddy mich zusammengekauert in meinem Bett. Es war schon recht spät und ich müsste am nächsten Tag eigentlich früh aufstehen, doch ich war nicht in der Lage zu schlafen oder überhaupt zur Ruhe zu kommen.

„Vilija?“, hob Teddy verwundert an, als er herein kam. „Ist alles in Ordnung?“

Ich zog die Nase hoch und wischte mir die Tränen weg. „Der Tag hätte besser laufen können.“, entgegnete ich daraufhin und drückte mein Kissen, um das ich meine Arme geschlungen hatte, fester an mich.

„Was ist passiert? Hast du geweint?“ Besorgt setzte er sich zu mir und berührte meine Schulter.

„Ich... muss jetzt ein wenig allein sein.“, entgegnete ich vorsichtig und zog die Schulter hoch. „Nur heute Abend. Ich erzähl dir morgen alles.“

„Vilija.“, hob er sanft an, „Du hast morgen eigentlich den ganzen Tag zu tun. Morgen früh hast du ein paar Fotoshootings, später soll ein Werbespot gedreht werden und dann wolltest du zu Mitch.“

Erneut zog ich die Nase hoch. „Sag Mitch bitte, dass ich morgen nicht kommen kann. Die Fotoshootings und den blöden Werbespot hab ich schon abgesagt.“

„Okay. Brauchst du noch etwas? Einen heißen Kakao? Tee? Vielleicht etwas zu essen?“

„Ich krieg gerade nichts runter, trotzdem danke.“

„Verstehe.“

Schweigen breitete sich aus, doch er ließ mich nicht allein, saß noch bei mir. Meine Gedanken glitten wieder zu der Frage, die ich mir gestellt hatte, ehe ich mir eine andere Stellte.

Warum bin ich nicht in der Lage einen Mann an meiner Seite zu halten?

„Was stimmt denn nicht mit mir?“, brach es wenige Sekunden später aus mir heraus, ehe ich mich zu Teddy umdrehte, das Kissen beiseite schob und das Gesicht an seiner Brust verbarg. „Was mache ich falsch, Teddy?“ Heftiges Schluchzen schüttelte mich durch, während Teddy liebevoll die Arme um mich legte und tröstend an sich drückte.

„Du bist vollkommen in Ordnung.“

„Aber warum- Warum-“

Der Heulkrampf ließ mich letztendlich wieder verstummen, woraufhin Teddy mich sanft fester an sich drückte und mir einen sanften Kuss auf die Stirn drückte.

„Keanu ruft die ganze Zeit auf dein Mobi an.“, bemerkte er wenig später, „Hat es mit ihm zu tun?“

„Irgendwas kann doch mit mir nicht stimmen.“, brach ich daraufhin hervor, „Er will die Beziehung nicht mehr, weil er nur sieht, dass ich bei Tevin glücklich bin. Er hört mir nicht einmal zu! Er will einfach nicht weitermachten.“

Heftig atmete er aus, ehe er das Gesicht halb an meinem Schopf verbarg. „Verdammt, ich drehe ihm den Hals um.“

„Was stimmt denn nicht mit mir?“, fragte ich erneut.

Er schüttelte den Kopf. „Es liegt nicht an dir.“, tröstete er mich sanft, ehe er tief seufzte und den Kopf in den Nacken legte. „Er... Also... Verdammt, ich kann es dir nicht einfach sagen. Er will einfach, dass du glücklich bist und würde dich dafür auch verlassen. Also... irgendwie wie Veit, nur dass Keanu das alles nicht geplant hat, sondern dich wirklich liebt.“

Mein Herz schmerzte bei seinen Worten. „Ich versuche wirklich alles, Teddy. Ich... Ich habe bisher immer alles versucht, aber es reicht nicht.“

Er schüttelte den Kopf. „Ist schon gut. Er ist einfach... zu verbohrt in das Vorhaben dich so glücklich wie möglich zu machen, auch wenn es heißt dich zu verlassen, damit du mit dem Volltrottel von einem Adoptivbruder zusammen sein kannst.“ Er schwieg eine Weile, ehe er erneut seufzte. „Verdammt, ich dreh ihm morgen wirklich den Hals um.“ Mit diesen Worten streckte er einen Arm aus, ehe er etwas locker ließ. „Ist bei dir 'ne Schraube locker?“, fragte er danach wütend.

Ich zuckte zusammen und sah zu ihm auf, stellte dann aber fest, dass er mein Mobi gegriffen und den Anruf angenommen hatte.

„Du kannst sowas von verdammt froh sein, dass ich Vilija so nicht allein lassen will! - Das ist mir scheiß egal! Du kannst sie nicht erst zu einer Beziehung überreden, mit dem Vorwand, dass du davon überzeugt bist, dass du sie glücklich machen kannst, nur um sie dann fallen zu lassen, weil du siehst, dass ein anderer besser ist als du! Mag sein, dass Frauen in dir den ultimativen Kerl sehen, aber ich sehe da nur pure Feigheit, weil du nicht Manns genug bist, um um sie zu kämpfen! - Tevin hat damit rein gar nichts zu tun, du Trottel! Bevor er da war, war sie mit dir glücklich genug, dann machst du alles wieder kaputt, indem du sie einfach so stehen lässt. Wenn du nicht in der Lage bist zu sehen, dass sie alles versucht, was sie derzeit kann, dann hat sie dich einfach nicht verdient. Kämpf um sie oder lass es ganz bleiben. In dem Falle, ruf nie wieder an, sonst prügel ich dich windelweich.“

Ohne ein Wort abzuwarten legte er auf und legte das Mobi beiseite, ehe er mich wieder an sich drückte.

„Gott verdammt, tut sowas gut.“, murmelte er dabei zufrieden, „Das solltest du auch mal versuchen.“

Ich schniefte leise vor mich hin. „Dir zuzuhören ist mindestens genauso beruhigend.“, murmelte ich dann und lehnte mich an ihn. „Danke.“

„Der soll bloß nicht auf die Idee kommen, ihr könntet super tolle Freunde bleiben. Veit ist eine Sache, weil da nie richtige Gefühle im Spiel waren, aber er...“ Er schnaubte. „Soll er nur versuchen.“

 

Ich brauchte drei Tage, um wieder irgendwie gesellschaftstauglich zu werden. Nach Teddys Standpauke hatte Keanu nicht wieder angerufen. Gleichzeitig hatte ich Tevin nicht angerufen.

Nun machte ich gerade Feierabend bei Mitch, der mir aufmunternd auf die Schulter klopfte.

„Das wird schon wieder.“, sprach er mir zu, „Einige Kerle sind gar nicht so schlecht und geben sich auch mehr Mühe.“

Ich verzog den Mund. „Danke.“

Er lachte kurz. „Du siehst mich an, als hätte ich dir irgendwas unpassendes Angeboten.“

„Tut mir leid.“ Ich murrte kurz. „Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich in nächster Zeit einen Freund haben will.“

„Du bist noch jung. Genieße die Zeit. Niemand verlangt von dir ständig einen Freund zu haben. Man ist ja auch ohne glücklich.“

„Ja.“, murmelte ich, wobei ich mich daran erinnerte, wie ich mich vor einem Jahr benommen hatte. „Da ist was dran.“

„Und wer weiß, vielleicht kommt er auch wieder, oder du lernst jemanden kennen, der dir den Atem raubt.“

Skeptisch sah ich ihn an. „So einen kenne ich schon, aber ich weiß nicht, was ich wegen ihm tun soll. Er wollte unbedingt mit mir zusammen sein und als es dann soweit war ist er gegangen.“

„Und wo ist das Problem, wenn er doch weg ist?“

„Er kam zurück. Vor ein paar Wochen. Und er hat sich entschuldigt und hofft, dass wir trotzdem einen guten Kontakt halten. Und wenn er erfährt, dass ich mich getrennt habe...“

„Dann macht er sich Hoffnung auf mehr.“, brachte Mitch den Setz zu Ende. „Ich bin natürlich kein guter Berater. Ich hab nur eine Frau geliebt und mit der bin ich nun verheiratet. Aber vielleicht hilft es dir ja, wenn ich dir sage, dass du darauf hören solltest, was dein Herz dir sagt. Liebst du den Burschen?“

Ich seufzte. „Ich wäre bereit ihm alles zu geben.“

„Warum tust du es dann nicht? Weiß er es nicht zu schätzen?“

„Doch. Sehr sogar. Er...“ Ich seufzte und setzte mich auf den Tätowierstuhl, weil ich nicht weiter stehen wollte. „Ich habe Angst, dass er mich wieder einfach verlässt. Beim letzten Mal war er überfordert, aber wer sagt mir, dass er beim nächsten Mal nicht auch so ist?“

Nachdenklich sah er mich an. „Nun... Ich will mich nicht zu sehr in deine Angelegenheiten einmischen, aber jeder verdient eine zweite Chance, meinst du nicht?“

Ich murrte. „Aber genau das ist ja der Grund, weshalb Keanu mich verlassen hat.“

Das verwirrte ihn noch mehr. „Ich verstehe das Problem nicht. Warum nutzt du die Chance nicht, wenn dein nun Exfreund extra dafür gesorgt hat, dass du sie nutzen kannst?“

„Weil ich nicht will, dass er sich benutzt fühlt oder nur ein Platzhalter war.“

„Aber er wusste doch von Anfang an, worauf er sich da einlässt.“

Das konnte ich Keanu wirklich nicht vorwerfen. Aber... „Ich wollte ihn doch gar nicht verlassen.“, merkte ich an, „Ich wollte mit ihm zusammen bleiben. Ich habe es ernsthaft versucht.“

„Er will dich glücklich sehen.“

Ich seufzte. „Wie soll ich denn glücklich werden, wenn die Person, mit der ich zusammen sein will, mich verlässt?“

„Dann willst du mit deinem anderen Lover nicht zusammen sein?“

Ich zögerte.

„Vielleicht solltest du dir wirklich Zeit nehmen und darüber nachdenken, was du möchtest.“

„Was ich möchte.“, murmelte ich, „Du hast Recht.“ Mit diesen Worten stand ich auf und nahm meine Tasche. „Vielen Dank. Wir sehen uns dann nach der Prüfung.“

„Ja. Ich wünsch dir viel Erfolg.“

„Danke. Bis dann.“

„Bye, Baby.“

Ich lächelte schräg über den Kosenamen und verließ den Shop, ehe ich überrascht stehen blieb, weil ich Veit neben dem Eingang erkannte.

„Hey.“, begrüßte ich ihn lächelnd und nahm ihn in die Arme. „Wie komme ich zu der Ehre?“

Er drückte mich kurz an sich, ehe er seufzte und den Kopf auf meine Schulter legte. „Ich bin ein Arsch.“, meinte er dann, „Ein riesen Mistkerl. Man sollte mich in eine Kiste stecken und nach Australien verschiffen.“

Perplex löste ich mich etwas von ihm und sah zu ihm auf. „Was redest du denn da? Ist etwas passiert?“

Er raufte sich die Haare. „Ja, ich bin zum riesen Arsch geworden. Abschaum.“

„Veit?“

Er verzog gequält das Gesicht. „Ich hab einigen Mädchen, Frauen, das Herz gebrochen. Auf ziemlich brutale Art und Weise. Und ich weiß nicht einmal warum ich das getan habe.“

Nun wich der Verwirrtheit erschrockene Überraschung. „Wovon redest du? Erzähl es mir.“

Verzweifelt fuhr er sich mit beiden Händen übers Gesicht. „Ich hab in den letzten Wochen ein paar Frauen kennen gelernt. Ich... also, ich hab mich etwas mitreißen lassen und mit ihnen geschlafen.“

Als er nicht weiter redete, sah ich ihn ungeduldig an. „Und?“

„Weißt du, ich habe von jeder ein Akt gemalt. Sie waren so verdammt schön, weißt du. Ironischerweise kommt keine von ihnen an dich heran...“ Er lächelte schräg, doch es verblasse auch sogleich wieder. „Sie haben sich viel davon versprochen, dass ich mit ihnen geschlafen habe. Für mich waren es nur Affären, aber wir haben nicht darüber gesprochen. Und dann habe ich sie alle eingeladen, weil ich ihnen die Bilder zeigen wollte und...“ Er räusperte sich. „Sie wussten nichts voneinander. Das artete im Chaos aus. Sie haben geweint, mich beschimpft und eine von ihnen hat mich sogar angegriffen.“ Reuevoll schloss er die Augen. „Ich hab mir nichts dabei gedacht, weißt du. Ich hab einfach nicht... an die Frauen gedacht. An ihre Gefühle.“

Ich musste zugeben, ich war sehr erstaunt, schockiert und entsetzt. Veit war ein so mitfühlender und nachdenklicher Mensch, er würde nie jemanden verletzen. Nicht absichtlich. Also musste ihm irgendwas zusetzen.

„Ist irgendwas passiert?“, wollte ich dann von ihm wissen.

Er zog die Brauen zusammen. „Hast du nicht zugehört?“

„Ich meine davor.“, entgegnete ich.

„Willst du nichts dazu sagen, dass ich sieben Frauen ausgenutzt habe?“

„Du hast deine Lektion gelernt, denke ich.“, murmelte ich und zog ihm am Ärmel hinter mir her, als ich mich auf den Weg nach hause machte. „Warum sollte ich dir da noch den Kopf waschen?“

„Weil du meine beste Freundin bist.“, bedachte er zu meiner Überraschung. „Du müsstest jetzt sauer sein und mich fragen, warum ich so einen Mist tue?“

„Genau das wollte ich ja herausfinden. Also, erzähl. Ist vorher irgendwas passiert?“

Er murrte kurz, dachte aber nach, ehe er den Kopf schüttelte, hielt dann jedoch inne. „Nun ja, also eine Kleinigkeit wäre da schon.“, bemerkte er dann und wurde etwas rot.

Diesmal wartete ich geduldig.

„Also, letztens war ich etwas unterwegs, einfach so. Und dann war da eine Bar und mir war langweilig, also bin ich reingegangen, um mich ein wenig umzusehen. Es war klein und nett und gut besucht und die Drinks waren auch nicht schlecht.“ Er knabberte auf seiner Unterlippe herum. „Ich hab ein wenig an der Bar gesessen und nach ein paar Songs kam so ein Typ herüber und hat sich mit mir unterhalten. Ich hatte schon ein paar Drinks intus, deshalb ist mir nicht so aufgefallen, dass er mir näher gekommen ist.“ Er räusperte sich erneut. „Wir haben uns gut unterhalten, haben Witze gemacht und es war irgendwie... cool. Angenehm. Dann... fing er an Anspielungen zu machen und kam noch näher.“ Nervös nestelte er an seinem Hemdsaumen herum. „Ich... wusste nicht genau wie ich reagieren sollte und er fing an zu flirten und... dann... hat er mich geküsst.“

Mit offenem Mund starrte ich ihn an, während er beschämt zu Boden sah.

„Das irre ist, es.... Es hat mir gefallen. Das ist so... komisch, irgendwie abgedreht, aber es hat sich so gut angefühlt und...“ Erneut fuhr er sich durchs Haar. „Wir haben also eine Weile rumgemacht und irgendwann hat er mir seine Nummer gegeben, weil er mich näher kennen lernen will.“

Immer noch erstaunt starrte ich ihn weiterhin an. „Und?“, fragte ich dann.

„Was und?“, fragte er zurück und sah zögerlich zu mir auf.

„Rufst du ihn an?“

Die Röte breitete sich bis zu seinem Hals aus. „Ich bin mir nicht sicher.“, murmelte er, „Müsstest du nicht überrascht sein? Oder schockiert?“

Ich blinzelte. „Ich bin überrascht. Aber ich sehe keinen Grund deshalb schockiert zu sein.“

Einen Moment wander sich ein wenig. „Würdest du mitkommen, wenn ich... mich mit ihm treffe?“

„Natürlich!“ Ich lächelte ihn an.

Zögerlich lächelte er zurück, ehe er tief durchatmete und das Smartphone aus er Hosentasche holte. „Wenn ich es aufschiebe, tue ich es nicht mehr, also rufe ich ihn am besten jetzt zurück.“, bemerkte er, wobei wir das Haus betraten, in dem wir wohnten.

„Hast du die Nummer schon gespeichert?“

Erneut wurde er rot. „Ja. Ich... Ich weiß nicht, ich dachte mir nur, für den Fall der Fälle...“

„Es ist in Ordnung.“, beruhigte ich ihn, „Ruf ihn nur an.“

An der Wohnungstür schloss ich auf, während er die Nummer wählte. Die Wohnung war leer. Wie ich wusste, war Teddy gerade bei Evelyn, um die verlorene Zeit nachzuholen. Wahrscheinlich hatten sie am Anfang über alles gesprochen. Vielleicht taten sie es auch jetzt noch, aber sobald ich Teddy nach einem Besuch bei Ev sah, wusste ich, dass im Moment alles in Ordnung war und er sich Mühe gab.

„Hallo?“

Überrascht sah ich zu Veit, als ich die fremde Stimme hörte. Er hielt das Smartphone vor sich, hatte den Lautsprecher eingeschaltet und sah das Gerät nun hilflos an, ehe er zu mir sah.

Na los, teilte ich ihm mittels einer Geste mit und nickte ihm aufmunternd zu.

„Hey.“, meldete sich Veit nervös, „Ist- ähm... Ist da Travis?“

„Ja.“, antwortete die Stimme, „Und du bist?“

„Es ist ein paar Wochen her, vielleicht erinnerst du dich nicht mehr. Wir haben uns in dem Club kennen gelernt. Ich bin Veit.“

Den Geräuschen nach zu urteilen atmete Travis einen Moment tief aus. „Ich hab mit deinem Anruf nicht mehr gerechnet.“

Unsicher sah Veit zu mir.

„Entschuldige dich.“, flüsterte ich ihm zu.

„Ich- Also- Es tut mir leid, ich- Es tut mir leid.“

„Erkläre dich.“, munterte ich ihn weiter auf, „Er wird es verstehen.“

„Ich war bloß etwas verwirrt.“, fuhr Veit fort, „Das war ähm... meine erste Erfahrung mit... einem... Mann.“

„Oh.“, kam es von Travis, „Ich verstehe. Also... bist du gar nicht... Entschuldige, dann habe ich mich vertan.“

„Schon okay.“

Ich stieß Veit hart in die Seite.

„Hey, wofür war das?“, fragte er mich intuitiv.

„Wie bitte?“, fragte Travis verwirrt.

„Nein, ich meine- Ich- Verdammt, ich kann das nicht.“

Als er drauf und dran war aufzulegen, nahm ich ihm das Smartphone weg.

„Du wirst nicht auflegen.“, zischte ich ihm zu, „Ich bin mir sicher, er wird es verstehen, wenn du es ihm erklärst. Es ist nur ein kleiner Satz.“

„Aber, ich-“

„Kein Aber.“

Eine gewisse Verletzlichkeit trat in sein Gesicht, etwas, das ich bisher noch nicht bei ihm gesehen hatte. Ohne Zweifel war er verwirrt. Wahrscheinlich ging es vielen Jungs und Männern anfangs so, wenn sie vorher davon überzeugt waren hetero zu sein.

„Veit? Ist da jemand bei dir?“, fragte Travis, ehe er seufzte. „Ist das irgendein Scherz, oder so?“

Panik schlich sich in Veits Gesicht. „Nein, das ist kein Scherz. Hier ist bloß- Also-“ Er schluckte einige Male, rieb sich übers Gesicht, über den Nacken.

Travis seufzte. „Also?“

„Ich bin einfach verwirrt.“, gab Veit dann zu, „Eigentlich stehe ich total auf Frauen, aber dann hab ich dich kennen gelernt und es war so... So...“ Er wurde rot und warf mir einen schüchternen Blick zu.

Veit und schüchtern... Das ich das erleben darf...

„Ich verstehe.“, bemerkte Travis und schwieg einen Moment. „Du weißt also gar nicht, ob du eher Männern angetan bist.“

Veit atmete etwas entspannter aus. „Ja.“ Als Travis daraufhin nichts mehr sagte, sah Veit zwischen mir und dem Mobilgerät hin und her. „Das... würde ich gerne ändern.“, fügte er irgendwann schließlich hinzu.

Nach einem weiteren Moment des Schweigens, hörten wir Travis erneut ausatmen. „Gut, also... heißt das... du willst dich treffen?“

„Äh- Ja. Also, wenn du auch willst, versteht sich.“

„Sehr gerne.“

Erleichtert schloss Veit die Augen und seine angespannten Schultern sackten herab, als die Anspannung von ihnen fiel. „Schön. Also... Wann passt es dir denn am besten?“

„Wie wäre es gleich morgen?“

Einen Moment sah er zu mir auf, woraufhin ich einfach nur nickte. „Das klingt gut. 14 Uhr?“

„Klar. In der Stadt gibt es dieses Eiscafé. Rositti oder so.“

„Das klingt gut.“ Er zögerte kurz. „Ich hätte nur eine Bitte.“

„Welche?“

„Darf ich jemanden mitbringen?“

Dieses Mal hielt Travis Schweigen sehr lange Zeit an. „Jemanden mitbringen?“

„Ja.“ Veit schluckte erneut. „Meine beste Freundin.“

Travis stöhnte kurz auf. „Sie ist es, die zuhört, oder?“

„Nur, weil ich zu feige bin und alles vermasseln würde.“

„Wenigstens siehst du es ein.“, murmelte ich ihm zu.

Er warf mir einen verstimmten Blick zu, ehe er wieder auf das Smartphone sah.

„Und es ist sicher kein blöder Joke oder so?“

„Nein.“, versicherte Veit, „Ich versprech's.“

Travis murrte kurz. „Ist sie irgendwie... deine... Freundin oder so?“

„Das war sie mal.“

Es ertönte ein ersticktes Geräusch von Travis.

„Es ist schon eine Weile her. Wirklich, wir sind nur noch Freunde. Wir wohnen in einer WG, aber das war's, ehrlich.“

Er stöhnte halblaut auf. „Okay. Verstehe.“

„Klasse.“, entgegnete Veit erleichtert, „Dann also morgen um 14 Uhr vor Rositti, oder wie auch immer der Laden heißt.“

„Ja.“

„Gut. Bis dann.“

„Bye.“

Sobald das Telefonat beendet war, sackten Veits Schultern herab und er atmete erleichtert aus. „Einen Moment hatte ich schon Angst, er würde mich korben.“

„Dich korben?“ Ich prustete. „Ich glaub, er würde dich nicht mal dann korben, wenn er total hetero wäre. Du bist nun mal ein heißer Feger.“

Als ich ihm bei der Aussage auf die Schulter klopfte, sah er unglücklich zu mir auf. „Das behauptest du nur, um mir Mut zu machen. Du würdest sowas nie sagen.“

„Ist doch nichts schlimmes dabei einem sehr guten Freund Mut zu machen.“

„Nein, aber dann sollte man so gut es geht bei der Wahrheit bleiben. Für dich ist Tevin ein heißer Feger und mal ehrlich...“ Er deutete auf sich. „Ich bin Tevin kein bisschen ähnlich.“ Nun zog er die Brauen zusammen. „Nach seiner Abwesenheit bin ich ihm sogar noch unähnlicher. Er ist total braun geworden und sieht plötzlich so kräftig aus.“

Ich seufzte leise und wendete den Blick ab. „Ja, das ist er. Und seine Haare sind länger. Und er hat wieder diesen Akzent wie damals, als er noch ein Kind war. Er ist nicht mehr ganz der, der er war, denke ich.“

„Findest du? Also, für mich hat er so gewirkt wie vorher. Er sieht dich immer noch an, als wärst du sein siebter Himmel.“

Ich winkte ab. „Teddy behauptet das auch von dir, also glaube ich nicht, dass das jetzt irgendwas besonderes ist.“

„Mein Blick ist mit Tevins nicht zu vergleichen.“, murmelte er vor sich her und seufzte tief. „Wie auch immer. Ich werd jetzt etwas malen, um den Kopf frei zu kriegen.“

„Bitte vergiss nicht wieder zu schlafen, sonst verpasst du morgen dein Date.“

Er zauste sich verlegen die Haare am Hinterkopf und seufzte tief. „Ja, ich geb mir Mühe.“

Kapitel 11

 

Heute hatte ich wieder diesen Albtraum.

Ich stehe in einem dunklen Raum und sehe mich um.

Dann sehe ich Vilija an einer Tür.

Sie sieht mich entsetzt an,

als hätte sie nicht mit mir gerechnet.

Tränen treten ihr in die Augen und sie kneift sie zu.

Es sieht so aus, als würde sie sich einreden wollen,

ich sei nicht da, obwohl ich doch direkt vor ihr stehe.

Warum kommt sie nicht herüber?

– Aufzeichnungen der Albträume Teil 1

von (Tevin McCourtney) Breda Amanar

 

Wenige Minuten vor Beginn des Dates erreichte ich mit Veit das Rositti und stellte mich mit ihm gut sichtbar vor das Eiscafé.

„Wie sieht er denn aus?“, fragte ich Veit, um ihn ein bisschen verbal aufzuwärmen.

„Naja, er hat schwarze Haare. Die sind etwas länger.“

„So, dass man gut rein greifen kann?“

Röte schlich sich auf seine Wangen. „Ähm... ja, kann gut sein, dass man das gut kann.“

„Und weiter?“

„Er... hat einige Piercings. Eins an der Unterlippe, eins an der Augenbraue und einige am rechten Ohr. Im Club trug er daran eine dieser Ketten, die man oben an der Ohrmuschel und unten am Ohrläppchen befestigt.“

„Oh, ja, ich weiß was du meinst. Die waren vor einer Weile mal total in Mode.“

„Naja, jedenfalls ist er auch etwas größer als ich und athletisch gebaut.“

„Ihr seid ja ganz schön auf Tuchfühlung gegangen, was?“

„Ach... naja...“ Verlegen rieb er sich den Nacken. „Travis war sehr offensiv, was das betrifft.“

„Ach so?“ Nachdenklich musterte ich Veit so ein wenig, bis er plötzlich begann zu lächeln und die Hand hob.

„Hey.“, begrüßte er jemanden, der zu der Beschreibung passte, die er mir genannt hatte.

„Hey.“, entgegnete der Mann selbstbewusst und lächelte ihn ebenfalls an, war aber offenbar unsicher, wie er ihn begrüßen sollte, weshalb er sich mit der Hand durchs Haar fuhr.

„Das hier ist Vilija.“, stellte Veit mich vor, „Meine beste Freundin. Vilija, das ist Travis.“

Ich lächelte ihn freundlich an und reichte ihm die Hand. „Nett dich kennen zu lernen.“

„Ja, ebenso.“, entgegnete er und lächelte zurück, ehe er zu Veit sah. „Wollen wir dann?“ Fragend sah er zwischen uns hin und her.

„Ja, klar.“, antwortete Veit erleichtert und machte sich mit uns auf in das Café. Wir suchten uns einen schönen Platz in einer Ecke am Fenster, wobei ich dafür sorgen wollte, dass die beiden nebeneinander saßen, aber Veit zog mich sanft vor sich, damit ich mich setzte, ehe er neben mir Platz nahm. „Ich bezahle übrigens für dich.“, bemerkte er.

Überrascht sah ich ihn an. „Willst du? Geht das denn? Ich meine, so viel verdienst du ja gerade nicht.“

„Das geht schon. Ich hab einen Auftrag drinnen, deshalb dauert es gerade etwas.“

„Okay.“, murmelte ich, „Wenn du das so sagst.“

„Halte dich nicht zurück.“

Amüsiert schmunzelte ich. „Das hättest du nicht sagen dürfen.“

Um seine Aufmerksamkeit auf Travis zu lenken, sah ich diesen an. „Ich möchte ja nicht unhöflich sein oder so, aber... naja... wie ist das so? Ich meine, schwul zu sein.“

Er zuckte mit den Schultern. „Wie ist es hetero zu sein?“, fragte er zurück und besah sich die Karte. „Ich denke, es fühlt sich genauso an, nur dass ich mich eben von Menschen angezogen fühle, die das gleiche Geschlecht haben wie ich. Findest du, das ist ein großer Unterschied?“

Ich schüttelte den Kopf. „Gar nicht. Ich verstehe auch nicht, warum alle da einen so großen Unterschied sehen.“

„Äußerlich macht es schon einen Unterschied.“, bemerkte Veit nachdenklich und sah auf die Karte. „Rein theoretisch betrachtet darf so etwas von Natur aus nicht vorkommen, aber dennoch gibt es sehr viele Menschen, die homosexuell sind.“

„Wie meinst du das?“, fragte Travis verwundert.

Veit hob eine Schulter. „Die Natur sieht vor, dass der Mensch zwei Geschlechter hat und braucht, um sich fortzupflanzen. Eine Beziehung mit einem gleichgeschlechtlichen Partner ist also gegen die Natur, wenn man so will. So wie das Fliegen. Menschen sind nicht geschaffen, um zu fliegen und doch haben wir getan was wir konnten, um wider der Natur zu handeln.“

„Vielleicht sieht die Natur vor, dass der Mensch wider der Natur handelt.“

Ich lächelte schräg und hielt mich ab dann zurück, damit sich die beiden kennen lernten. Die beiden vertieften das Thema, bis ein Kellner die Bestellungen aufnahm, dann wechselten sie das Thema und begannen über allerlei Dinge zu reden, um das zu tun, warum sie hier waren.

Dabei merkte ich auch, was genau Veit damit gemeint hatte, als er sagte, dass Travis sehr offensiv war. Er hatte schon sehr früh nach Veits Hand gegriffen, flirtete sehr heftig mit ihm und begann sogar ihn mit Eis zu füttern. Veit, der in allem noch sehr unbeholfen war, vergewisserte sich mit kleinen Blicken immer, dass ich noch da war, als würde er sich nicht trauen darauf einzugehen, wenn ich nicht da wäre.

Leider flog die Zeit schnell dahin, weshalb es sich anfühlte, als wären wir gerade mal eine halbe Stunde da gewesen, als wir bereits das dritte Eis gegessen hatten und es begann dunkel zu werden.

„Es wird Zeit nach hause zu gehen.“, bemerkte ich mit einem Blick auf mein Mobi. „Teddy fragt schon, ob wir zum Essen da sind.“

„Ist das ein Mitbewohner?“, fragte Travis neugierig.

„Ja.“ Ich lächelte schräg. „Theodore Vencino. Ursprünglich wollte ich allein mit ihm zusammen ziehen, aber seine Freundin war eifersüchtig, also hab ich Veit gefragt, ob er nicht mit in die WG möchte.“

„Wäre es nicht besser gewesen, wenn er zu seiner Freundin gezogen wäre?“

„Evelyn war noch nicht bereit dazu mit ihm zusammen zu ziehen. Und Teddy ist mein allerbester Freund seit der Grundschule. In meinem Leben gab es nur einen Mann in meinem Leben, der mir mehr bedeutet hat.“

Er zögerte. „Dein Vater?“

Ich lachte leise, „Na gut. Zwei Männer. Mein Vater und mein Adoptivbruder.“

Veit atmete tief durch. „Was ist das jetzt überhaupt mit euch? Und du und Keanu? Habt ihr euch jetzt wirklich getrennt?“ Während er fragte, sah er sich nach einem Kellner um, sah dann aber zu mir. „Ich meine, wenn du und Keanu jetzt getrennt seit, dann gibt es doch keinen Grund mehr dich von Tevin fern zu halten, oder hab ich irgendwas verpasst?“

Ich seufzte schwer und sackte etwas zusammen. „Ich weiß selbst nicht so genau, was ich nun eigentlich möchte. Keanu hat mich verlassen, ja.“

„Und warum?“

Innerhalb weniger Sekunden sank meine Laune in die Tiefe. „Weil er erfahren hat, wie sehr ich Tevin liebe und er fest davon überzeugt ist, dass ich bei ihm nie so glücklich werde wie bei Tevin.“

Beide sahen mich eine Weile an, ehe sie sich gegenseitig ansahen. Dann sah Travis wieder zu mir.

„Ich weiß nichts über deine Beziehungen und will mich deshalb auch nicht einmischen, aber ich glaube, dieser Keanu hat einfach kalte Füße gekriegt.“

Ich murrte. „Wahrscheinlich hast du Recht, aber das bringt ihn auch nicht zur Vernunft. Ich wollte ihn ja nicht mal verlassen. Er ist quasi von sich aus davon ausgegangen, dass ich zu Tevin zurück will.“

„Aber willst du das denn nicht?“, fragte Veit verwirrt.

„Nein!“, entgegnete ich, „Naja, doch. Aber ich kann noch nicht. Also nein. Ach, ich weiß auch nicht.“ Da es mir unangenehm war, dass wir nun über mich redeten, obwohl es deren Date war, winkte ich hektisch ab. „Aber das reicht erst mal von mir. Travis kriegt noch einen furchtbar schlechten Eindruck von mir.“

Dieser winkte ab. „Wenn du nichts dagegen hast, lass ich es mir gerne genauer von Veit erklären. Aber später. Wenn das Thema wichtig ist, lasst euch von mir nicht stören.“

„Also willst du ihn wiedersehen.“, bemerkte ich und lächelte erfreut. „Das ist schön.“

„Natürlich will ich.“, entgegnete er schmunzelnd und sah zu Veit. „Viele Männer, die ich kennen gelernt habe, waren nicht mein Typ oder zu dominant oder wurden schnell eifersüchtig, nur weil ich mit Freunden was unternahm.“

„Stört dich selbst sowas nicht.“

Er zuckte mit den Schultern. „Solange er mir nicht fremd geht, kann er sich mit jedem Treffen, den er treffen will. Betrogen wurde ich schon oft genug. Es ist für mich das allerletzte, wenn man fremd geht. Das ist nicht zu entschuldigen.“

Veit rieb sich den Nacken.

„Keine Sorge. Es ist mir egal, was für Fehler du in der Vergangenheit gemacht hast. Vergangen ist vergangen. Für mich ist wichtig was in Zukunft passiert.“

Daraufhin lächelte Veit schräg und sah sich dann erneut nach einem Kellner um, während ich erneut auf mein Mobi sah, da ich eine SMS bekam. Diesmal von Tevin.

 

Hallo Vilija,

ich hoffe, ich störe nicht.

Ich hab gerade an dich gedacht und dachte mir ich schreibe dir eine SMS. Du bist mir doch nicht immer noch böse, oder? Wegen der Sache an meinem Geburtstag, meine ich.

Du kannst natürlich sauer sein, weil ich einfach so gegangen bin. Das ertrage ich schweigend, aber bitte wende dich nicht wegen meinem Geburtstag von mir ab. Du fehlst mir.

Ich hoffe, es geht dir soweit auch gut.

Enio hat heute sein erstes Wort gesagt. Rate mal was es war. Cyntia kam auch mit einer sehr guten Arbeit nach hause und isst gerade ihr Stück Belohnungskuchen.

Mom macht sich furchtbare Sorgen, weil du einfach gegangen bist und kocht deshalb fast ununterbrochen. Dad überlegt, ob er euch deshalb einlädt, aber er hält sich wegen dir zurück. Er will dich nicht in eine unangenehme Situation bringen.

Nun, jedenfalls dachte ich mir auch, ich sag dir, dass ich jemanden kennen gelernt habe. Ich weiß ja, dass du mit Keanu glücklich bist und weil ich dir Raum lassen möchte, bin ich ein wenig spazieren gewesen. Ich hab sie schon zwei Mal getroffen und sie ist echt niedlich...

Also, ich hoffe du bist mir nicht böse. In Zukunft werde ich mich zurück halten, versprochen.

Naja, dann... wünsche ich dir noch einen schönen Abend.

Antworte bitte, sobald du kannst.

Ich mache mir nämlich auch Sorgen.

Tevin

 

Ungläubig starrte ich auf mein Mobi und las die Zeilen erneut.

Jedenfalls dachte ich mir auch, ich sag dir, dass ich jemanden kennen gelernt habe.

Ich hab sie schon zwei Mal getroffen.

Sie ist echt niedlich.

„Veit, lass mich mal bitte eben vorbei.“, bat ich ihn halblaut und war mit einem Mal erleichtert, dass er für mich bezahlen wollte.

Verwirrt sah er mich an und machte Platz. „Alles okay? Du bist etwas bleich.“

Ruhig legte ich mein Mobi beiseite und schob mich an ihm vorbei. „Ich brauche bloß etwas frische Luft. Das wird schon.“

„Was ist denn-“

Hastig eilte ich hinaus, unterdrückte angestrengt die Tränen, und ging blind weiter den Weg entlang.

Er hat eine andere kennen gelernt. Er... er ersetzt mich. Er lässt mich zurück.

Heiß glitten die Tränen über meine Wangen, wo ich sie schnell weg wischte, damit sie niemand sah.

Dummerweise merkte ich mir nicht wohin ich ging, sodass ich mich irgendwann in einer Ecke der Stadt wiederfand, die mir gänzlich unbekannt war. Einen Moment sah ich mich noch um, stellte ein weiteres Mal fest, dass mir nichts bekannt vor kam und ging dann unsicher weiter, wobei mir diesmal ununterbrochen Tränen über die Wangen liefen.

Das ist so typisch. Warum marschiere ich auch blindlings los wie ein dummes Huhn, nur weil Tevin eine neue hat?

Ein Schluchzer stieg in meiner Kehle auf und ehe ich mich versah sank ich bereits mitten auf dem Gehweg auf die Knie und vergrub das Gesicht in meinen Händen. Glücklicherweise waren nicht mehr viele Menschen unterwegs und es schien sich um eine Art Park zu handeln, sodass kaum jemand an mir vorbei kam.

Doch irgendwann kam natürlich jemand vorbei.

„Ist alles okay bei Ihnen?“, fragte ein Mann und kam heran. „Kann ich Ihnen helfen?“

Oh Gott... Vilija, reiß dich zusammen...

Doch das war schwerer als gedacht. Die Schluchzer kamen wie sie wollten und die Tränen hörten nicht auf. „Ich komme schon zurecht.“, weinte ich nur und mühte mich auf die Beine. „Machen Sie sich keine Umstände.“

„Ach was.“, entgegnete er, „Kommen Sie, da von ist eine Bank. Setzen Sie sich.“ Sanft legte er mir eine Hand in den Rücken und schob mich zur Bank, damit ich mich setzte.

„Sean, was ist nun? Kommst du noch?“, rief jemand von weiter her.

Der Mann neben mir rief zurück. „Geht schon mal vor, ich komme später nach!“ Dann holte er eine Packung Taschentücher hervor und hielt mir eins davon hin. „Tut mir leid, meine Freunde sind etwas taktlos.“

Dankend nahm ich das Taschentuch an und putzte mir die Nase. „Tut mir leid, dass ich Sie aufhalte.“

„Aber nein. Das ist schon in Ordnung. Eine Frau sollte nicht weinen.“

„Ich weiß auch nicht, warum ich das tue.“, bemerkte ich und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. „Ich meine, es ist ja nichts schlimmes passiert.“

„Nun, da Sie weinen scheint es aber schlimm genug zu sein. Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Ich hab zufällig noch etwas Wasser dabei.“

„Nein danke.“ Ich lächelte ihn kurz an und bemerkte, dass er nicht viel älter sein konnte als ich. „Es geht schon.“

„Sind Sie sicher? Sie klingen etwas heiser.“

„Ich bin sicher, danke.“

„Okay. Wenn Sie aber welches haben möchten, sagen Sie Bescheid, okay?“

„Ja, danke.“

Er lächelte beruhigt. „Gut. Okay, dann sehen wir mal. Wohnen Sie in der Gegend?“

„Wie bitte?“

„Naja, Sie wollen doch bestimmt nach hause, oder? Es ist schon sehr spät und es geht Ihnen offensichtlich schlecht.“

„Oh, ja. Das stimmt.“ Unsicher sehe ich auf den Weg vor mir.

„Also? Wohnen Sie hier in der Gegend?“

„Ich bin mir nicht sicher.“, gab ich zu, „Ich komme aus dieser Stadt, aber ich war noch nie in diesem Teil hier.“

„Ah, verstehe. Dann haben Sie sich verlaufen. Haben Sie denn Ihr Smartphone dabei? Oder ein Mobi? Sie könnten jemanden anrufen, der Sie abholt.“

„Ja, ich hab es in meiner Jackentasche.“, gab ich zurück und fasste in meine Tasche, hielt dann aber inne, als ich ins Leere griff. „Nanu.“ Verwirrt sah ich in jeder Tasche nach, erinnerte mich dann aber daran, dass ich es auf den Tisch gelegt hatte. „Nein.“, merkte ich dann an und seufzte. „Ich hab es im Café liegen lassen.“

„Ich hoffe, es wurde nicht gestohlen.“

Ich schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht. Ich war mit einem Freund und seinem Date da.“, erklärte ich und sah zu ihm auf.

„Ah. Okay, dann hat er es sicher mitgenommen.“ Nickend sah er einen Moment ziellos in die Ferne. „Okay, ich denke, eine Nummer haben Sie sich nicht gemerkt. Seit es Handys gab, tut das keiner mehr.“

„Stimmt leider.“

„Na gut. Wie wäre es dann, wenn wir zu meinem Wagen gehen und ich Sie nach hause bringe?“, bot er an, „Ich schwöre Ihnen, ich habe keine schlechten Hintergedanken.“

Ich lächelte schräg. „Das glaube ich schon, keine Sorge. Immerhin sind Sie vorher alle anderen Möglichkeiten durchgegangen.“

„Schön, dass Sie es nicht missverstehen. Na kommen Sie, bringen wir Sie schnell nach hause.“

„Vielen Dank. Sie haben sich sicher etwas besseres für den Abend vorgenommen.“

Er stand auf und reichte mir freundlich die Hand, um mir aufzuhelfen. „Das ist das mindeste, was ich tun kann. Ich hätte Sie ja nicht einfach da auf dem Boden lassen können. Wer weiß, was mit Ihnen passiert wäre.“

„Das ist sehr nett.“ Ich ließ mir von ihm aufhelfen und ging neben ihm her, als er die Richtung einschlug, in die seine Freunde gegangen waren.

„Ich hoffen jedenfalls, dass das, was passiert ist, kein Unfall war oder so. Ich meine, ich hoffe, dass niemand verstorben ist oder verletzt wurde.“

„Nein, so etwas war es nicht.“, entgegnete ich und schüttelte den Kopf. „Es war eher eine Liebessache, wenn man so will.“

„Ah, dann also ein gebrochenes Herz?“

„Ja.“

„Verstehe. Das tut mir sehr leid.“ Er zögerte kurz. „Was hat er getan, wenn ich fragen darf?“

„Ach, das ist sehr kompliziert.“

„Wenn Sie es nicht sagen wollen, ist es okay.“

„Ich-“ Ich seufzte schwer und wendete den Kopf etwas ab. „Wie soll ich sagen? Vor einigen Jahren haben wir es endlich geschafft eine richtige intakte Beziehung zu führen, dann ist er einfach gegangen. Die Umstände waren etwas... einzigartig und privat. Unglücklicherweise hat jemand verhindert, dass er Kontakt zu mir hielt, weshalb ich seit seinem Verschwinden nichts von ihm hörte.“ Mit belegter Stimme erzählte ich weiter, davon, dass ich jemanden kennen lernte, der mich glücklich machen wollte, dass Tevin zurück kam und alles andere.

Schließlich blieb er mit mir an seinem Wagen stehen und blies die Wangen auf, ehe er lange ausatmete. „Das ist tatsächlich ziemlich kompliziert. Es muss wirklich hart sein, dass er jetzt- Entschuldige. Das war taktlos.“ Er rieb sich den Nacken. „Ich hoffe, es wendet sich für Sie noch zum Guten.“ Höflich öffnete er mir die Tür und wartete, bis ich eingestiegen bin, ehe er sie schloss und um den Wagen herum ging. „Was haben Sie jetzt vor?“, fragte er, als er den Wagen kurz darauf startete.

„Erst einmal sage ich Ihnen wo ich wohne, damit Sie losfahren können.“

Er lächelte amüsiert. „Das ist ein sehr gut durchdachter Anfang. Das gefällt mir.“

Unwillkürlich glitt mir ebenfalls ein Lächeln ins Gesicht, ehe ich ihm meine Adresse nannte. „Stört es Ihre Freundin nicht, wenn Sie nachts andere Frauen heim fahren.“

„Ich wünschte, es gäbe eine Frau, die das tun würde.“, bemerkte er, „Ich könnte natürlich behaupten, dass es so wäre, aber ich bin leider Single, also müsste ich lügen.“

„Oh. Verstehe.“

„Ich weiß auch nicht. Ich habe schon viele Frauen kennen gelernt und bin mit vielen ausgegangen, aber keine einzige hatte dieses... gewisse etwas.“

„Das gewisse etwas?“, hakte ich überrascht nach.

„Ja. Sie wissen schon. Das etwas, das einem ganz komisch werden lässt. Ein Blick und man bekommt Bauchkribbeln. Das suche ich. Bisher habe ich diese Frau aber einfach nicht gefunden.“

„Vielleicht sollten Sie woanders suchen.“, bemerkte ich.

Er lachte kurz auf. „Ja, wahrscheinlich. Dummerweise gehe ich immer in dieselben Bars und Clubs. Was würden Sie mir für Orte empfehlen?“

„Kommt ganz darauf an, was für eine Frau sie suchen.“, entgegnete ich, „Intelligente findet man wahrscheinlich auch mal in der Bibliothek.“

„Und Frauen wie Sie? Wo findet man die?“

„Oh.“ Unsicher sah ich auf meine Hände herab. „Nun... Mich findet man wahrscheinlich in Modemagazinen oder an Werbetafeln.“

„Tatsächlich?“

„Skurril, nicht wahr?“

„Nur etwas überraschend. Also modeln Sie?“

„Nur, weil ich auf etwas spare. Aber das ist nun wahrscheinlich überflüssig, also werde ich das Geld einfach beiseite legen.“

„Verstehe. Was machen Sie denn noch so?“

„Ich studiere und mache eine Ausbildung bei einem Tätowierer.“

„Also sind Sie kreativ. Was studieren Sie denn?“

„Kunst und Spieleentwicklung. Ich bewege mich in Richtung Game Artist.“

„Und was genau macht man da?“

„Man kümmert sich um die grafische Gestaltung.“

„Das ist ganz schön cool.“ Er lächelte schräg. „Sie entscheiden also ob der Hund des Protagonisten schwarzes oder braunes Fell hat.“

„Genau. Ich bekomme natürlich grobe Vorlagen, wie etwas aussehen soll. Aber dann kann ich mich austoben.“

„Da ist die Kombination mit Kunst natürlich sehr praktisch.“

„Oh, Kunst habe ich eigentlich gewählt, weil ich schon immer sehr gerne und gut gezeichnet habe. Einer meiner besten Freund sagt gerne, ich bezaubere mit der Realität.“ Ich hob eine Schulter. „Ich denke, er übertreibt ein wenig.“

„Das kann ich erst sagen, wenn ich eines Ihrer Werke gesehen habe.“, bemerkte er und sah sich kurz um. „Wir müssten gleich da sein.“

Ich sah mich ebenfalls um und nickte. „Ja, hier kenne ich mich schon aus. Da vorn müssen Sie links rein.“

Nickend folgte er der Anweisung. „Wohnen Sie schon lange in dieser Stadt?“

„Schon mein ganzes Leben.“ Ich verzog das Gesicht. „Ich weiß, so ist es etwas armselig von mir einige Ecken nicht zu kennen.“

„Oh, ganz und gar nicht. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in Manhatten gelebt und trotzdem gibt es Ecken in New York, die mit gänzlich unbekannt sind. Nur, weil man in einer Stadt lebt, muss man sie nicht wie seine Westentasche kennen.“

„Schön, dass wir da einer Meinung sind.“

Als er wenig später vor dem Gebäude hielt, in dem ich wohnte, sah er hinaus zum Hauseingang und sah dann zu mir. „Das hier müsste es sein.“

Ich nickte und sah ihn dankbar an. „Ja, vielen Dank fürs Fahren. Und dafür, dass Sie sich um mich gekümmert haben.“

„Wie gesagt, das war das mindeste.“

„Ich würde das gerne irgendwie wieder gut machen.“

Wieder gut machen können Sie es zwar nicht, aber vielleicht besser.“, er lächelte schräg, „Wie wäre es mit einem Kaffee oder so?“

Ich strich mit eine Strähne hinters Ohr. „Ja, warum nicht?“

„Sehr schön. Wann darf ich Sie abholen?“

Einen Moment dachte ich nach. „Wie klingt Samstag? Um 12?“

„Wird das dann ein Mittagessen?“

Unwillkürlich begann ich leise zu lachen. „Vielleicht.“

„Das hoffe ich doch.“ Charmant sah er mich an. „Bevor Sie aussteigen habe ich noch eine letzte Frage.“

„Welche?“

„Wie heißen Sie?“

Amüsiert lachte ich auf, als mir auffielt, dass wir uns gar nicht vorgestellt hatten. „Das ist mir ja noch nie passiert.“, bemerkte ich, „Ich heiße Vilija.“

Er reichte mir die Hand. „Hat mich sehr gefreut dich kennen zu lernen, Vilija. Mein Name ist Sean.“

Lächelnd ergriff ich seine Hand. „Hat mich ebenfalls sehr gefreut.“

„Schön zu hören. Dann sehen wir uns Samstag um 12. An welcher Klingel klingle ich?“

„An er einzigen Klingel mit drei Namen.“, antwortete ich neckisch, ehe ich die Beifahrertür öffnete. „Dann bis Samstag.“

„Bis Samstag.“, entgegnete er und winkte mir zu, als ich die Tür schloss.

Leise lachend und den Kopf schüttelnd griff ich in meine Hosentasche und holte den Schlüssel hervor, während ich zur Haustür ging. Als ich eintrat, sah ich nochmals zurück und stellte fest, dass er offenbar wartete, bis ich im Haus war.

Wie aufmerksam, dachte ich mir und winkte nochmals, ehe ich mich abwendete und die Treppen hinauf stieg. Nun habe ich am Samstag eine Verabredung mit einem völlig fremden Mann.

Erneut schüttelte ich amüsiert meinen Kopf und ging im Geiste den Verlauf der ganzen Sache durch. Wäre Tevins SMS nicht gewesen...

Mit diesem Gedanken betrat ich die Wohnung.

„Hallo, Jungs. Ich bin da!“, rief ich herein, „Tut mir leid, dass ich nicht zurück gekommen bin.“

Keine fünf Sekunden später tauchte ein halbbekleideter Veit in der Tür seines Zimmers und sah mich besorgt an. „Vilija! Wo warst du denn? Wir waren verrückt vor lauter Sorge. Ich dachte, du wärst nur vor dem Eiscafé.“

„Ja, es tut mir leid. Es war dumm von mir auch noch das Mobi bei euch zu lassen. Wo ist Teddy?“

„Er sucht noch nach dir.“

Ich hörte seine Worte kaum. Stattdessen sah ich Travis überrascht an, der gerade aus Veits Zimmer kam und herüber schlenderte. Er trug lediglich seine Jeans, die gefährlich tief saß.

„Wie ich sehe, geht es dir gut.“, bemerkte er erleichtert, „Alle dachten, dir wäre was passiert.“

„Tut mir furchtbar leid, dass ich euch Sorgen bereitet habe.“ Ich fuhr mir durchs Haar. „Ich war total durch den Wind.“

„Ich hab die SMS gesehen.“, gestand Veit und nickte, „Du hast keine Tastensperre reingemacht, also dachte ich, du hast nichts dagegen, wenn ich sie lese.“

„Schon ok.“

Er verzog das Gesicht. „Wie auch immer. Ich werde die anderen anrufen und ihnen sagen, dass du heil wieder zurück gekommen bist.“

„Okay.“

Auf dem Weg in sein Zimmer drehte er sich nochmals um. „In der Küche ist noch etwas zu Essen, falls du Hunger hast.“

„Ja, danke.“

Als er schließlich in seinem Zimmer verschwand, sah ich fragend zu Travis.

Dieser hob eine Schulter. „Er war außer sich vor Sorge. Ich wollte ihn nicht allein nach hause gehen lassen.“

„Das kommt mir überaus bekannt vor.“, bemerkte ich amüsiert und ging in die Küche.

„Tatsächlich?“, hakte er überrascht nach und folgte mir.

„Ja, aber das erzähle ich später. Oder morgen. Ich bin furchtbar müde.“

„Okay. Dann iss erst einmal und leg dich dann hin. Ich geh zu Veit und sag ihm Bescheid, dann lassen wir dich erst einmal in Ruhe.“

„Vielen Dank. Du bist echt ein toller Kerl.“ Begeistert erkannte ich selbstgemachte Cepelinai und machte mir einen Teller fertig, den ich mir in die Mikrowelle stellte.

„Danke.“

„Ich hoffe, das mit dir und Veit wird was.“

„Das hoffe ich auch. Ich will es nicht bei einer kleinen Affäre lassen.“ Nervös nagte er an seinem Lippenpiercing. „Er ist noch sehr unbeholfen, was das alles betrifft. Homosexualität und so.“

„Das kann ich gut nachvollziehen. Er war total durch den Wind und nicht er selbst. Ich hoffe, das ist bald vorbei und er lebt sich in der neuen Situation ein.“

„Bestimmt. Dafür, dass er offenbar selbst so... entsetzt darüber ist, verhält er sich ziemlich souverän. Man merkt ihm kaum an, dass er bisher noch nie was mit einem Mann hatte. Mal abgesehen von seiner Nervosität im Gespräch.“

Ich lachte leise auf. „Das klingt nach Veit. Wenn er verspielt ist, ist er total selbstbewusst, aber wenn es ernst wird, wird er schnell nervös. Vorausgesetzt, er ist einer der Hauptgründe.“

Er lachte auf. „Das ist ganz schön süß.“

„Es ist mal was anderes diese Worte auf einen Mann bezogen zu hören.“

Schräg lächelte er mich an, ehe er sich durchs Haar fuhr. „Ich werde dich dann mal allein lassen.“ Im nächsten Moment pingte die Mikrowelle bereits auf. „Ich wünsche dir noch einen schönen Abend.“

„Danke, das wünsch ich euch auch.“

„Danke.“

„Oh, bleibst du über Nacht?“

„Das weiß ich noch nicht.“

„Okay. Falls wir uns morgen nicht sehen, ich bin froh, dass ich bei eurem Treffen dabei sein durfte. Ich wünsche dir und Veit wirklich alles Gute.“

„Vielen Dank.“

„Dann … gute Nacht.“

„Dir auch. Bis dann.“

Mit diesen Worten verließ er die Küche und ließ mich allein, woraufhin ich mir Besteck nahm und mich in mein Zimmer zurück zog. Dem Mobi, das Veit auf meinem Nachttisch gelegt haben muss, schenkte ich keine Beachtung.

Kaum zu glauben, was heute alles passiert ist.

Weiterhin amüsiert schüttelte ich den Kopf und grinste in mich hinein, während ich begann zu essen.

 

Am nächsten Morgen wurde ich von Teddy geweckt, der ohne Rücksicht lautstark das Zimmer betrat. Da mein Schlaf ohnehin nicht so gut gewesen war, war ich nahezu sofort wach und sah ihm verschlafen entgegen.

„Wo warst du?“, fragte er direkt und sah mich sauer an.

Ich stöhnte müde auf und rieb mir übers Gesicht. „Teddy. Bitte. Ich bin so müde. Hat das nicht noch Zeit?“

„Ich warte bereits seit gestern Abend, also nein.“

Erschöpft drehe ich das Gesicht ins Kissen, ehe ich mich auf die Seite drehte, woraufhin Teddy die Arme vor der Brust verschränkte.

„Vilija, wir haben uns alle furchtbare Sorgen gemacht. Du warst einfach weg, niemand wusste wo du warst, obwohl du eigentlich vor dem Café hättest sein müssen. Und du hattest nicht einmal dein Mobi dabei! Es hätte sonst was passiert sein können.“

„Ich weiß.“, murrte ich, „Und es tut mir leid. Wirklich.“

„Veit sagt, er weiß selbst kaum was, also erzähl schon.“

Mit einem tiefen Seufzen griff ich nach meinem Mobi, ignorierte die eingegangenen Anrufe und SMS und öffnete die SMS, die ich am Vorabend von Tevin bekommen hatte, ehe ich Teddy das Mobi reichte.

„Ich war einfach durcheinander.“, murmelte ich dann, „Ich hab nicht aufgepasst wohin ich gelaufen bin und hab mich verlaufen.“ Ich wartete, bis Teddy die SMS gelesen und sich zu mir gesetzt hatte, ehe ich ihm den Rest erzählte, bis zu dem Punkt, an dem ich die Wohnung betreten hatte.

Als ich den Bericht beendet hatte, sah er mich verwundert an. „Also hast du Samstag ein Date mit einem Wildfremden?“

„Eine Verabredung, kein Date.“, korrigierte ich, „Und er heißt Sean und ist nicht wildfremd.“

„Du kennst ihn nicht.“

„Es ist nur ein Treffen. Er holt mich ja hier ab.“

„Ich weiß nicht so recht. Vielleicht ist er ein Serienkiller.“

Skeptisch hob ich eine Braue. „Dann hätte er mich gestern Abend umbringen können.“

„Und wenn er ein Player ist?“

„Ich habe nicht vor mich auf eine Beziehung mit ihm einzulassen, Teddy. Im Moment hab ich Beziehungen erst einmal gründlich satt.“

„Verstehe. Tut mir leid, dass Tevin... Also... Tut mir leid.“

„Ist schon okay. Ich bin gerade einfach nur müde.“

„Das ist verständlich.“ Schräg lächelte er auf mich herab. „Du hast heute einen freien Tag, oder?“

„Ja, einer der wenigen Werktage, an denen rein gar nichts ansteht.“

„Gut, dann lass ich dich jetzt wieder schlafen. Ich leg dir etwas von dem Essen beiseite, okay?“

„Ja, danke.“

„Dann bis später.“

„Bis dann.“

Ehe er ging, strich er mir nochmals übers Haar. Dann schaffte ich es irgendwie wieder einzuschlafen.

 

Die folgenden Tage war das Treffen wie aus meinem Kopf gewischt, da ich kaum Freizeit hatte. Entweder ich war bei einem Shooting oder ich büffelte für die Prüfungen, wobei ich mir Aufnahmen von Lesungen anhörte und ansah. So kam es, dass ich Samstag um 10 Uhr völlig verschlafen aus meinem Zimmer kam und gar nicht mehr an Sean dachte, als ich mich an den Esstisch setzte und die anderen nuschelnd begrüßte.

„Guten Morgen.“, begrüßte mich Teddy nach den anderen, „Sag mal, Evelyn kommt gleich noch vorbei. Ich weiß nicht, wie viel Zeit du brauchst. Ist es okay, wenn ich vor dir duschen gehe? Sonst gehe ich nach dir.“

Etwas verwirrt winkte ich bloß ab und nahm mir etwas von dem Frühstück. „Mach nur.“

„Okay. Ist Travis eigentlich noch da?“, fragte er Veit.

Dieser nickte. „Ja, er schläft noch. Gestern hatte er eine lange Schicht, bis spät abends. Es gab wohl drei Notfälle. Einer im Zoo, zwei in Haushalten. Das hat wohl lange gedauert und war auch sehr anstrengend. Er war gestern total K.O., als er ankam. Er hat sich ausgezogen, dann haben wir noch etwas geredet und gekuschelt und danach war er weg.“

„Dann hat er sich den Schlaf redlich verdient.“, bemerkte Teddy darauf.

Den Rest des Frühstücks unterhielten wir uns über die Dinge, die in der kommenden Woche anfielen. Zwei Shootings, ein Werbespot, vier Lesungen und Freitag fanden die letzten Vorbereitungen für die Prüfungen statt. Da das ganze online stattfand, wird all das über den Laptop geregelt. Wie genau, wusste ich noch nicht, das erfuhren wir erst am Freitag.

Als es an der Tür klingelte, stand Teddy auf, um zu öffnen und ließ Evelyn herein.

„Okay, ich werde dann eben schnell duschen. Deckt ihr dann den Tisch ab?“

„Machen wir.“, entgegnete Veit, während Teddy und Ev im Bad verschwanden. „Vorher werde ich aber Travis wecken, damit er auch frühstücken kann.“

Ich nickte zustimmend und aß gemütlich die letzten Bissen meines Frühstücks, während Veit aufstand und in sein Zimmer schlenderte. Es klingelte gerade ein weiteres Mal an der Tür, als er wieder heraus kam.

„Er kommt gleich.“, merkte er an und ging an die Tür, um den Türöffner für die Haustür zu betätigen. „Er schläft wie ein Baby, das ist so süß.“

Erheitert sah ich ihn an. „Er sagte, er fände es süß, dass du in ernsten Dingen nervös wirst, wenn du einer der Hauptgründe bist.“

„Ach ja?“ Röte schlich sich in sein Gesicht. Dann wurde an die Tür geklopft, woraufhin er öffnete.

„Guten Morgen.“, grüßte eine, mir bekannte Stimme.

„Morgen. Kann ich helfen?“

„Ich bin etwas sehr früh dran, weil ich mich in der Uhrzeit vertan habe. Ich wollte eigentlich Vilija abholen.“

Hastig stand ich auf, als ich mich erinnerte und eilte zur Tür. Veit hatte sich bereits zu mir umgedreht und deutete auf Sean.

„Wer ist das?“, fragte er verwirrt.

Ich lächelte unsicher. „Das ist Sean.“, stellte ich ihn schnell vor, „Guten Morgen.“, begrüßte ich ihn dann, „Tut mir leid, ich hab es völlig vergessen, aber komm ruhig schon rein, ich werde nur schnell duschen und-“

„Teddy ist gerade duschen.“, erinnerte mich Veit, als ich zur Seite trat und Sean herein kam.

„Stimmt.“, murmelte ich und seufzte leise. „Es ist ja noch eine Stunde.“, hob ich dann an, „Da kann ich schon mal was raus legen und... und so weiter.“

Mit diesen Worten ging ich schnellen Schrittes in mein Zimmer und begann mir die Kleidung auszusuchen, die ich tragen wollte. Dabei fiel mir auf, dass ich noch meine Schlafkleidung trug. Eine wirklich kurze Shorts und ein Top. Freizügiger ging es kaum.

Was für ein Morgen. Erschöpft von den letzten Tagen lehnte ich meinen Kopf an die Schranktür und schloss kurz die Augen. Bald sind die Prüfungen und wenn die vorbei sind, kann ich etwas entspannen.

Wenn ich nachts schlafen könnte, würde ich mir den Gedanken sogar selbst glauben. Allerdings schlief ich so schlecht wie noch nie. Der Abstand zu Tevin war in Kombination mit dem Stress wohl alles andere als gut für mich.

Als mich ein Klopfen schließlich aus den Gedanken riss, fiel mir auf, dass ich an den Schrank gelehnt eingeschlafen sein musste.

„Vilija?“, meldete sich Teddy von der anderen Seite, ehe er die Tür öffnete und herein sah. „Alles klar?“, fragte er mich und sah herüber.

Ich winkte ab und rieb mir gähnend ein Auge. „Ja. Bin wohl tatsächlich eingenickt.“

Besorgt zog er die Brauen zusammen. „Helfen die Schlaftabletten nicht mehr?“

„Oh, ich schlafe irgendwann schon ein.“, entgegnete ich, während ich den Stapel Kleidung nahm, den ich mir zurecht gelegt hatte. „Allerdings schlafe ich nicht wirklich gut und wache viel zu früh wieder auf.“

„Wenn du willst, schau ich mich nach besseren um.“

„Ich denke, das liegt nur an dem Stress. Nach den Prüfungen dürfte sich das wieder legen.“ Ich zögerte. „Hoffe ich.“

„Und wann fangen die Prüfungen an?“

„Die erste ist übernächsten Montag. Dann Mittwoch und Freitag und nochmal Montag.“

„Verstehe. Soll ich mal Tevin anrufen?“

Hastig schüttelte ich den Kopf und schob mich an ihm vorbei. „Nein, das geht schon. Er hat sicher andere Dinge im Kopf und ich kann ihn jetzt nicht gebrauchen.“

„Aber wenn es hilft.“, gab er zu bedenken und folgte mir die paar Meter zur Badezimmertür.

Erneut schüttelte ich den Kopf. „Letztendlich wird alles nur wieder schlimmer.“

„Ich mache mir Sorgen.“

„Das musst du nicht. Mir geht’s gut.“

„Das kauf ich dir leider nicht ab.“

Ich zögerte etwas und senkte den Blick. „Nach den Prüfungen sieht es wieder besser aus. Davon bin ich überzeugt.“

„Aber wenn du sie mit so einem Schlafmangel schreibst, kannst du dich nicht konzentrieren.“

„Ich krieg das schon hin.“ Langsam öffnete ich hinter mir die Tür und trat ins Bad. „Wirklich, glaub mir. Ich nehm mir die Zeit dazwischen frei und mache nichts anstrengendes.“

„Du kannst auch versuchen eine Nacht bei mir zu schlafen, wenn es hilft.“

„Ich werde darüber nachdenken, okay.“

„Okay. Dann geh jetzt mal duschen.“

„Mach ich.“

Er lächelte mich noch aufmunternd an, ehe er sich abwendete und ich die Tür schloss. Etwa eine halbe Stunde später kam ich frisch geduscht und angezogen wieder aus dem Bad und rubbelte noch meine Haare trocken.

„Der Föhn ist kaputt.“, merkte ich an, als ich bei den anderen ankam, die es sich in der Sitzecke gemütlich gemacht hatten und sich unterhielten.

Sean saß geduldig mit in der Runde und sah auf, als er mich hörte.

„Das ist Evelyn eben auch aufgefallen.“, bemerkte Teddy, der seine Freundin auf seinem Schoß sitzen ließ und liebevoll in den Armen hielt. „Ich hab eben vergessen es dir zu sagen.“

„Ist okay. Wer kauft einen neuen? Ich weiß nicht, wann wir fertig sind.“ Ich deutete dabei auf Sean, um zu zeigen, was ich meinte.

„Travis und ich wollen gleich in die Stadt.“, merkte Veit an, der neben Travis saß. Dieser hatte seinen Arm hinter ihm auf der Rückenlehne ausgestreckt. „Ich bringe dann einen mit.“

„Okay.“ Dann sah ich entschuldigend zu Sean herüber. „Tut mir leid, dass du so lange warten musst. Ich bin gleich fertig.“

„Schon okay. Nimm dir die Zeit, die du brauchst.“

Mit einem Nicken wendete ich mich wieder ab und ging in mein Zimmer, um mir die Haare zu bürsten, doch kaum, dass die Tür hinter mir zu gefallen war, schrie ich erschrocken auf und fasste mir an die Brust.

„Tevin!“, rief ich überrascht aus, als ich meinen Adoptivbruder auf meinem Bett sitzen sah. „Was machst du hier und wie kommst du rein?“

Unsicher sah er mich an. „Du siehst etwas kränklich aus.“

„Würdest du bitte auf meine Frage antworten?“

Tief seufzend rieb er sich über den Nacken. „Veit hat mich reingelassen. Ich möchte bitte mit dir reden.“

„Es gibt nichts zu bereden. Ich habe jetzt auch keine Zeit für sowas.“

Verwirrt beobachtete er, wie ich zu meiner Kommode ging, wo ich begann mein Haar zu bürsten. „Für sowas?“

Ich ignorierte seine Frage. „Verlass bitte mein Zimmer.“

„Vilija, wir müssen reden.“

„Müssen wir nicht. Es ist alles in Ordnung.“

„Und warum sprichst du dann nicht mehr mit mir?“

„Ich- Ich habe einfach keine Zeit.“, redete ich mich heraus und sah ihn verärgert an. „Warum musstest du unbedingt jetzt hier auftauchen?“

„Was meinst du?“

Kopfschüttelnd schloss ich nur die Augen und wendete mich wieder ab. „Nein, schon gut. Das war eine blöde Frage.“

Einen Moment sah er mich einfach nur an, ehe er aufstand und herüber kam. „Was ist denn los? Du sagtest zwar, du brauchst Zeit, aber es ist schon über eine Woche her. Sprich bitte mit mir.“

„Nein, Tevin. Es gibt einfach nichts mehr zu sagen.“

„Was ist denn passiert? Ich dachte, wir würden Geschwister bleiben.“

„Ja, aber als Geschwister muss man nicht über alles reden.“

Wie versteinert sah er auf mich herab. „Das meinst du nicht ernst.“

„Warum sollte ich nicht?“

Er schüttelte den Kopf. „Vilija, sag schon. Was ist los? Hab ich irgendwas getan, was dich verletzt hat? Hast du gerade einfach zu viel Stress? Ist irgendwas mit dir und Keanu?“

Ja, ja und ja. „Tevin.“

„Sag es mir.“

„Nein, verdammt!“, fuhr ich ihn an, „Ich sagte dir, es gibt nichts zu sagen!“

„Brauchst du einfach noch mehr Zeit? Sag mir einfach irgendwas.“

Völlig fertig mit den Nerven rieb ich mir mit beiden Händen übers Gesicht und wendete mich ab. „Ich muss jetzt.“

Seine Schultern sackten herab. „Vilija, bitte. Sprich mit mir.“

„Ich habe nein gesagt!“

Als Teddy die Tür öffnete und herein sah, sah ich ihn bittend an.

„Könntest du ihn bitte hier raus schaffen?“

„Was... ist denn los?“, fragte er verwirrt.

„Das will sie nicht sagen.“, erklärte Tevin daraufhin.

Genervt ging ich einfach an Teddy vorbei.

„Warte doch mal.“, bat dieser und hielt mich am Arm fest.

„Was soll das jetzt? Ich will jetzt einfach nicht.“

Nachdenklich sah er mich eine Weile an und seufzte. „Meinst du nicht es ist besser sich auszusprechen.“

Sprachlos sah ich ihn an, ehe ich hilfesuchend zu Veit sah Dabei stellte ich fest, dass mich wirklich jeder verwirrt ansah.

„Ach, ihr könnt mich doch alle mal.“, platzte es daraufhin aus mir heraus, ehe ich mich von Teddy losriss und einfach hinaus eilte.

 

Theodore

Lautstark zog sie die Tür hinter sich zu, als sie die Wohnung verließ und ließ uns alle völlig verwirrt zurück.

„Was hat sie denn?“, fragte Evelyn in den Raum, „Sonst ist sie doch viel ruhiger.“

„Vielleicht ist es der Stress.“, sinnierte Veit, „Ich meine, das ist ja schon recht viel, was sie da gerade alles schultern muss. Mitch hat ihr zwar frei gegeben, aber in der letzten Woche hatte sie ein paar Shootings und sogar zwei Werbespots. Und wenn sie zuhause war hat sie immer den ganzen Tag gelernt. Und dann ist da noch Keanu...“

Ich wartete, bis Tevin Vilijas Zimmer verlassen hatte, ehe ich die Tür zu zog und mich zu den anderen setzte. „Sie schläft auch wieder so schlecht.“

„Was ist mit Keanu?“, fragte Tevin verwirrt, „Sie hat seit meinem Geburtstag nicht mehr mit mir gesprochen.“

Für einige Sekunden herrschte völlige Stille, bevor Travis sich räusperte und aufstand. „Also, ich mach mal etwas Tee oder so.“

Unangenehm berührt rutschte Sean auf seinem Platz hin und her. „Vielleicht wäre es besser, wenn ich wieder gehe.“

„Wer bist du überhaupt?“, wollte Tevin wissen, ehe Sean überhaupt aufstehen konnte.

„Eins nach dem anderen.“, meinte ich daraufhin und rieb mir über den Nacken. Ich wartete noch, bis Travis in der Küche war und Sean sich entschieden hatte, ob er blieb oder nicht. Als er letztendlich sitzen blieb, atmete ich kurz durch. „Nun, also... Nachdem Vilija und Keanu an deinem Geburtstag gegangen sind hat er sich von ihr getrennt...“

Kapitel 12

 

 

Der Traum kommt seit einiger Zeit immer wieder.

Diesmal hat Vilija aber geweint.

Es zerriss mir förmlich das Herz sie so zu sehen,

auch wenn es ein Traum war.

Ich kann es einfach nicht länger ertragen.

Am Ende des Traumes hat sie sich schluchzend umgedreht

und verschwand in einem dunklen Nebel ins Nichts.

– Aufzeichnungen der Albträume Teil 2

von Tevin McCourtney Breda Amanar

 

Vilija

Ich wusste nicht so recht wohin ich gehen sollte, weshalb ich mich irgendwann mal wieder im Park wiederfand.

Langsam wurde es einfach zu viel. Das Modeln, das Studium, Tevin, Keanu, der Schlafmangel... Wie viel konnte ein Mensch eigentlich auf einmal vertragen?

Ich hatte jedenfalls meine Grenze erreicht. Ich war kurz davor einfach irgendwas zu schmeißen. Ich könnte das Modeln sein lassen. Es war ja nur zusätzliches Geld, also konnte ich darauf verzichten. Es war nicht notwendig. Und die Reise die ich geplant hatte war ja nicht mehr nötig.

Nachdem ich etwa eine halbe Stunde einfach nur auf einer Bank herum gesessen hatte, setzte sich irgendwann jemand neben mich.

„Hi.“

Erschrocken sah ich auf und blickte in Keanus Gesicht. „Was machst du denn hier?“

„Ich war spazieren.“, entgegnete er zögerlich, ehe er den Blick wieder ab wendete. „Du siehst nicht gut aus.“

„Vielen Dank.“, entgegnete ich sarkastisch, „Das ist immerhin auch eine Art jemandem zu sagen, dass er scheiße aussieht.“

Er seufzte tief. „Das meine ich nicht und das weißt du auch.“

„Ach ja?“ Ich löste den Blick von ihm und rieb mir über die schmerzende Brust.

Er seufzte erneut. „Können wir reden?“

„Tun wir das nicht gerade?“

„Ich meine richtig.“

„Was ist an dieser Unterhaltung falsch?“

„Vilija, bitte. Du weißt genau, was ich meine. Ich möchte mit dir über das reden, was passiert ist.“

„Ach du meinst, dass du mich fallen gelassen hast?“, fuhr ich ihn an, „Dass du mich um Tevins Willen einfach von dich geschoben hast, weil du dachtest ich würde zu ihm zurück wollen? Dass es dir egal war, dass ich trotz seiner Rückkehr mit dir zusammen war, nicht mit ihm? Dass es dir auch egal war, dass ich mich trotz allem auch weiterhin um uns bemüht habe, während du einfach nur zufrieden damit warst und bei der kleinsten Schwierigkeit gleich verschwindest? Oh, ja. Lass uns darüber reden, Keanu. Erklär mir bitte was das ganze soll, warum dir plötzlich nichts mehr an unserer Beziehung liegt.“

Frustriert hatte er sich schweigend jedes Wort angehört, bis zum letzten Teil. Dann sah er mich entsetzt an.

„Das ist nicht wahr.“, protestierte er, „Mir lag sehr viel an unserer Beziehung und das tut es immer noch.“

Als er nichts weiter dazu sagte, hob ich skeptisch eine Braue. „Das ist alles? Mehr hast du dazu nicht zu sagen?“

Stöhnend schloss er die Augen und presste die Lippen aufeinander. „Ich liebe dich, Vilija.“

„Und warum kämpfst du dann nicht um unsere Beziehung?“

„Weil ich weiß, dass diese Liebe nur einseitig ist.“, presste er hervor, „Ich habe gesehen, wie du und Tevin euch anseht. Wir ihr miteinander umgeht. Man muss mir nicht sagen, dass ihr innig ineinander verliebt seid. Man sieht es einfach. Allein es zu wissen macht mich halb verrückt. Zu wissen, dass es immer einen anderen geben wird, dem ich nicht das Wasser reichen kann, den du immer mehr lieben wirst als mich. Wie soll das funktionieren?“

„Es kann ja nicht funktionieren, wenn du der Beziehung keine Chance gibst.“ Mit diesen Worten stand ich einfach auf und machte mich auf den Weg zurück.

„Vilija.“, rief er mir hinterher, „Jetzt... lass uns doch... Ach verdammt!“

Allein die Tatsache, dass er nicht hinterher kam, war schon aussagekräftig genug. Tief verletzt davon, dass er uns ein weiteres Mal aufgegeben hatte, senkte ich einfach nur den Kopf. Zuhause angekommen musste ich klingeln, weil ich meinen Schlüssel vergessen hatte. Als mir wenig später die Wohnungstür geöffnet wurde, stand Ev vor mir, die mich besorgt ansah, als sie mich erkannte.

„Welches Treffen?“, fragte Tevin gerade.

„Sie war eigentlich heute mit Sean verabredet.“, antwortete Teddy darauf.

„Wie bitte? Aber- Sie- Nein.“

„Dachtest du etwa sie wartet geduldig, bis du wieder Single bist?“

„Single? Wer hat behauptet ich wäre vergeben?“

„Du hast ihr eine SMS geschrieben, in der stand, dass du ein Mädchen kennen gelernt hättest, das du niedlich findest und schon einige Male getroffen hast.“

Tevin stöhnte frustriert auf. „Doch nicht so, Gott verdammt. Eine einfache Freundin. Bloß eine Freundin. Das wollte ich Vivi sagen. Sie ist niedlich, im Sinne von putzig. Wir haben ein paar Kurse zusammen.“

„Dann erwähne sowas nicht im Zusammenhang damit, dass du ihr Raum lassen willst, du Schwachkopf!“, fuhr Teddy ihn an, „Hast du eine Vorstellung davon, wie weh ihr das getan hat? Meine Güte, denk doch einfach nach, ehe du ihr etwas schreibst und lies dir die Nachricht durch, ehe du sie abschickst. Du kannst doch nicht so blöd sein-“

„Teddy!“, ging Ev dazwischen, woraufhin alle zu ihr herüber sahen und sie auf mich deutete.

Murrend schloss Teddy daraufhin die Augen und rieb sich mit der Handfläche über die Stirn. Dann riss er die Augen wieder auf und sah herüber. „Hast du geweint?“

Im nächsten Moment sprang Tevin bereits auf und eilte herüber. „Was ist passiert? Ist alles okay? Es tut mir leid, dass es so falsch bei dir ankam. Ich wollte dich nie verletzen.“ Besorgt zog er mich herein, schloss die Tür hinter mir und zog mich einfach an sich. „Es tut mir alles so leid. Ich wusste nicht, dass du so sehr unter Druck stehst. Wie geht es dir?“

Etwas überrumpelt ließ ich seine Umarmung zu und stammelte einen Moment vor mich hin. Dann seufzte ich tief und schloss die Augen. Wenn ich jetzt abwehrend reagieren würde, würde er nicht locker lassen und mich wahrscheinlich nicht einmal loslassen.

„Schlecht.“, murmelte ich dann und senkte den Kopf. „Ich habe gerade Keanu getroffen.“

Sein gesamter Körper spannte sich an. „Hat er dich wieder verletzt? Ich prügel ihn windelweich, wenn ich ihn treffe. Hat er dich verletzt?“

„Lass das, Tevin.“ Schwach drückte ich gegen seinen Arm, damit er mich aus der Umarmung entließ, aber er ließ nicht locker. „Das ist was zwischen Keanu und mir.“

„Ich will nicht, dass dich irgendwer verletzt.“

„Aber du darfst das?“

Er verkrampfte sich etwas mehr. „Nein. Und das tut mir auch unendlich leid. Ich würde alles tun, um das rückgängig zu machen. “

„Ich weiß.“

„Kannst du mir verzeihen?“

„Ich brauche einfach noch mehr Zeit.“

Tief seufzend blickte er einen Moment nur auf mich herab, ehe er nickte. „Okay. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, kannst du mich jederzeit anrufen. Egal worum es geht.“

„Danke.“

Jemand im Raum atmete hörbar tief aus. „Dann wird wohl nichts mehr aus dem Essen?“, hörte ich Sean fragen.

Ohne auf nur eine Antwort von mir abzuwarten, sah Tevin ihn finster an. „Nein.“

„Tevin!“, tadelte ich ihn, konnte mir ein leichtes Grinsen jedoch nicht verkneifen. Es war immer dasselbe mit ihm.

„Willst du etwa wirklich noch?“, fragte er zurück.

„Naja...“ Unsicher ließ ich den Blick wandern.

„Na also.“

Als ich Schritte hörte, sah ich auf und blickte Sean entgegen, als er sich zu uns gesellte. „Es ist in Ordnung.“, merkte er an und lächelte mich freundlich an. „Wie ich sehe hast du genug Kerle in deiner Nähe. Noch einer würde es wahrscheinlich nur schwieriger machen.“

Von Travis ertönte ein leises Lachen.

„Vielleicht sieht man sich ja irgendwann nochmal.“, fuhr Sean fort und schob sich die Hände in die Hosentaschen. „Ich hoffe, dass das mit euch zwei noch was wird. Man kann die Funken fast sehen.“

„Beeindruckend, nicht wahr?“, merkte Teddy an, „Und trotzdem kriegen die zwei es einfach nicht gebacken.“ Mit einem Seufzen schüttelte er den Kopf und öffnete erneut die Tür. „Wenigstens muss ich mir nicht zusätzlich Gedanken darüber machen, ob du ihr gut tust oder nicht.“

„Bisher tat ich jeder Frau gut, der ich begegnet bin.“, entgegnete Sean amüsiert, verließ dann aber die Wohnung. „Bis dann, „Vilija.“

Zum Abschied winkte ich noch kurz, ehe Teddy die Tür hinter ihm auch schon schloss.

„Also eins muss man dir lassen, Vivi.“, hob Veit an, „Du ziehst heiße Kerle geradezu an.“

Als Travis ihn mit gehobener Braue ansah, grinste Veit daraufhin zurück.

„Sie muss einen guten Einfluss auf mich haben, sonst wäre ich dir nie begegnet.“

„Schleimer.“, merkte Teddy an, „Und ich dachte Vilija ist die einzige, die so viel Liebe versprüht.“

„Vielleicht sollte ich mich wieder in mein Zimmer begeben und schlafen.“, sinnierte ich, ehe ich herzhaft gähnte.

„Nimmst du Tevin mit?“, fragte Teddy aufmerksam, „Ich meine, wenn er schon da ist, kann man das doch gleich nutzen, damit du auch mal ein Auge zukriegst.“

„Das ist nicht nötig.“, protestierte ich sofort und löste mich hastig von Tevin. „Die Schlaftabletten wirken ja noch.“

„Du musst Tabletten nehmen?“, hakte Tev daraufhin entsetzt nach.

Frustriert stöhnte ich auf und rieb mir über die Stirn. „Nur zum Schlafen.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass es für dich so schlimm ist. Ich meine, ich habe auch Schlafstörungen aber nicht … so schwere. Ich leide stattdessen zwar unter Albträumen, was das ganze nicht besser macht, aber... das ist ja was völlig anderes.“

Er leidet unter Albträumen? „Seit wann?“

Er öffnete gerade den Mund, um zu antworten, als es an der Tür klopfte. Da Teddy noch an der Tür stand, öffnete er sie überrascht und verkrampfte sich, als er Keanu erkannte. Dieser warf Teddy einen kurzen Blick zu, ehe er leise seufzte und sein Blick auf mich fiel. Als er sah, dass ich bei Tevin stand, wurde er etwas starr.

„Vilija.“, hob er mit rauer Stimme an und zögerte kurz, schloss einen Moment die Augen und senkte dann etwas den Blick, ehe er erneut zu mir sah. „Kann ich mit dir sprechen? Allein?“

„Du hattest deine Chance heute schon.“, entgegnete Teddy finster.

„Halt dich da raus.“, murrte Keanu daraufhin, ohne den Blick von mir zu nehmen. „Ich habe Vilija gefragt, nicht dich.“

Unsicher brachte ich kein Wort über die Lippen, merkte aber wie mein Herz schmerzte. „Worüber?“, kam es mir schließlich über die Lippen.

„Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss, ehe ich... ehe ich gehe. Aber ich möchte es dir unter vier Augen sagen. Bitte.“

Ich dachte noch einen Moment darüber nach, ehe ich schließlich resigniert seufzte und ihn dann mit einer vergleichsweise schlaffen Handbewegung herein bat. „Der Tag ist eh schon im Eimer.“

Mit gesenktem Kopf trat er ein und folgte mir, als ich in mein Zimmer ging.

„Ich schwöre, wenn er ihr nur noch ein einziges Mal weh tut-“ Teddys Stimme wurde von der Tür unterbrochen, die ich hinter Keanu zuschob.

Müde vom Tag lehnte ich mich nur dagegen und sah zu Keanu. „Also los. Was willst du mir sagen?“

„Du solltest dich setzen, du siehst müde aus.“, sagte er daraufhin aufmerksam.

„Bisher hat es dich doch auch nicht mehr gekümmert wie es mir geht.“

Er kam auf mich zu und stützte sich mit einer Hand neben mir ab, ehe er die andere an meine Wange hob, um mein Gesicht zu sich zu drehen. „Vilija, es hat mich immer gekümmert wie es dir geht. Ich liebe dich mehr als ich je eine Frau geliebt habe.“

Bittere Tränen stiegen wieder in mir auf. „Und doch weist du mich ab, weil du denkst ich wäre lieber bei Tevin.“

Traurig sah er auf mich herab und lehnte seine Stirn an meine. „Es gibt noch einen Grund, warum ich das getan habe. Ich hatte Angst es dir zu sagen, weil ich... Ich wollte einen glatten Bruch, um es dir zu ermöglichen schnell über mich hinweg zu kommen.“ Er schloss kurz die Augen. „Es ist so, dass...“ Er atmete kurz durch. „Auf seinem Geburtstag, als du mit ihm oben warst, da habe ich einen Anruf bekommen.“ Erneut schloss er die Augen, sah diesmal aber gequält aus. „Meine Eltern liegen im Krankenhaus.“

Entsetzt riss ich die Augen auf. „Was?“, hauchte ich.

„Sie hatten einen schweren Autounfall und liegen seitdem im Koma. Niemand weiß, ob sie es schaffen. Selbst wenn sie überleben, so werden sie die Folgen des Unfalls bis an ihr Lebensende mit sich tragen. Mein Vater verlor sein Bein. Meine Mutter ihren rechten Arm.“ Tränen rollten seine Wangen herab. „In den Testamenten stehe ich als einziger Sohn als Alleinerbe. Es gibt sonst keine Angehörigen, die die Firma meines Vaters übernehmen könnte oder etwas mit dem Haus, dem Vermögen, anrichten kann.“ Mit tiefem Schmerz in den Augen sah er mich an. „Ich weiß, dass du es nicht ertragen könntest eine Beziehung mit mir zu führen, wenn so viele Meilen zwischen uns liegen. Als ich den Anruf bekam, wusste ich sofort, dass meine Eltern das nicht überleben würden. Ich wusste, dass ich dich nicht würde halten oder glücklich machen können, wenn ich zurück gehe. Aber ich habe keine andere Wahl. Die Firma, der Besitz... das Lebenswerk meiner Eltern...“ Er schüttelte den Kopf und schloss wieder die Augen. „Ich musste mich entscheiden zwischen dir und dem, was meine Eltern ihr Leben lang für mich vorbereitet haben. Ich würde dich niemals bitten können bei mir zu bleiben, wenn ich so weit von dir entfernt lebe. So könnte ich dich niemals glücklich machen.“

„Keanu...“, kam es mir mit gebrochener Stimme über die Lippen.

„Ich dachte, wenn ich dich einfach von mir stoße, würde es dich schwer genug verletzen, damit du schnell über mich hinweg kommst, damit du bald wieder glücklich sein kannst. Aber dann sah ich dich da allein auf der Parkbank.“

Als ich ihm eine Hand an die Wange legte, kam er einen Schritt näher, sodass ich mich beinahe an ihn schmiegen konnte.

„In dem Moment, in dem ich den Anruf bekam, wusste ich, dass unsere Beziehung keine Chance mehr hatte. Also habe ich diese armselige Behauptung wieder aufgegriffen. Noch nie im Leben musste ich etwas so schweres, etwas so schmerzhaftes tun. Dabei weiß ich, dass der schwierigste Teil noch bevor steht.“ Langsam öffnete er abermals die Augen und sah in meine. „Ich muss dich gehen lassen, Vilija. Ich muss dich endgültig gehen lassen. Und bei Gott, es tut so weh.“

Ein Schluchzen brach aus mir heraus und ich warf mich so fest an ihn, dass er zwei Schritte zurück treten musste. „Bitte geh nicht.“, flehte ich ihn mit erstickter Stimme an, „Bleib bei mir. Ich kann das nicht nochmal, bitte.“ Als meine Stimme brach, schlang er fest die Arme um mich und drückte mich an seine Brust, vergrub das Gesicht in meinem Haar.

„Ich würde dir diesen Wunsch so gern erfüllen, aber es soll einfach nicht sein. Er sollte von Anfang an nicht sein. Wäre ich nicht gewesen hättest du weiter auf Tevin gewartet. Du wärst jetzt glücklich mit ihm, statt wegen mir zu weinen. Ich habe alles nur schlimmer gemacht. Ich hätte nicht hier sein sollen.“

„Sag das nicht. Hör auf damit.“

„Es tut mir so leid. Vergib mir bitte. Ich hätte auf deine Worte hören sollen.“

Wir standen noch eine Weile so da, ehe er sich langsam von mir löste. Ich versuchte ihn festzuhalten, so gut ich konnte, wollte ihn nicht gehen lassen, aber er löste sanft meine Hände von seinem Oberteil.

„Versprich mir bitte etwas.“, bat er mich liebevoll.

Mit von Tränen gerötetem Gesicht schüttelte ich den Kopf.

„Gib Tevin eine Chance. Er liebt dich so abgöttisch. Ich weiß, dass er für dich ohne Zögern die Hand ins Feuer legen würde. Er würde jeden Schmerz ertragen, nur um bei dir sein zu können. Selbst jetzt, wo er doch weiß, dass du einen anderen liebst, ist er an deiner Seite. Er ist es, der dorthin gehört, nicht ich. Und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dich glücklich zu wissen.“

„Keanu, bitte.“

„Wenn ich dich wiedersehe will ich, dass du glücklich bist, okay. Ich verspreche dir, wir sehen uns wieder.“ Sanft nahm er mein Gesicht in seine Hände. „Ich werde irgendwann zurück kommen und dann will ich sehen, wie fantastisch du die Wellen reiten kannst, einverstanden?“ Als er mir die Tränen von den Wangen wischte, liefen ihm selbst zahlreiche Tränen übers Gesicht. „Ich will dich lachen sehen, Vilija. Ich will dich mit strahlenden Augen, einem umwerfenden Lächeln und einem bezauberndem Lachen sehen und hören, wie ich es nie konnte. Tu mir diesen Gefallen, okay?“

Gequält schloss ich die Augen. „Bitte... nicht.“

„Ich komme wieder. Versprochen.“ So zart wie noch nie küsste er mich auf die Stirn. „Und ich will, dass du dein Versprechen hältst.“ Sanft und warm lehnte er seine Stirn auf meinen Schopf, während die Schluchzer mich leicht schüttelten. „Ich liebe dich, Vilija. Das werde ich immer tun.“

Als er sich mit diesen Worten gänzlich von mir löste und das Zimmer verließ, sank ich langsam zu Boden und war nicht mehr in der Lage meinen Schmerz und den Kummer zurück zu halten.

 

Als ich langsam aufwachte, lagen schwere starke Arme um meinem Körper und drückten mich an eine wundervolle starke Brust. Ich musste nicht darüber nachdenken wer es war. Tevin würde ich immer und überall erkennen. Allein der Duft der ihn umgab ließ mich sofort wissen, dass er es war. Nachdem Keanu das Zimmer verlassen hatte, hatte ich gehört, wie er jemandem sagte „Jetzt gehört sie endgültig dir.“, ehe er ganz gegangen war. Nur wenige Augenblicke später war Tevin an meiner Seite und drückte mich tröstlich an sich. Er tat alles, von dem er wusste, dass es mich trösten würde, hielt mich in den Armen, flüsterte mir tröstliche Worte zu, streichelte mir über Haar und Rücken... es hatte nicht lange gedauert, bis ich, eingelullt von ihm und seiner Nähe, eingeschlafen war. Daher wunderte es mich nicht, dass er nun neben mir im Bett lag. Viel eher wunderte es mich, dass ich noch alles trug, was ich gestern getragen hatte. Nicht einmal die Schuhe hatte er mir ausgezogen. Ich hätte eher damit gerechnet, dass er mich bis auf die Unterwäsche auszog.

Dennoch, ich war so ausgeschlafen wie seit Jahren nicht mehr. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es zwei Uhr morgens war. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass sich all das gegen Mittag zugetragen hatte. Murrend rieb ich mir kurz übers Gesicht und versuchte mich vorsichtig aus Tevins Armen zu befreien. Ich wollte ihn nicht wecken, denn immerhin litt er ebenfalls.

Auf leisen Sohlen verließ ich mein Zimmer und ging in die Küche, um mir einen Snack zu machen. Außer dem Frühstück vor mehr als 12 Stunden hatte ich nichts gegessen und mein Magen schrie nach Nahrung. Ich gab mir Mühe nicht sonderlich laut zu sein, als ich mir ein bisschen Ei machte, weshalb ich sofort hörte, dass jemand ein Zimmer verließ. Kurz darauf war Veit in der Tür.

„Hey.“, begrüßte er mich halblaut und lächelte leicht. „Kannst du nicht schlafen?“

Ich hob eine Schulter. „Ich habe den ganzen Tag geschlafen und jetzt bin ich wach. Was ist mit dir?“

„Ich warte auf Travis.“

„Um diese Uhrzeit?“

Er hob eine Schulter. „Eigentlich hab ich die ganze Zeit gemalt und hab deshalb nicht bemerkt wie die Zeit vergeht. Travis hat mir eben eine SMS geschrieben und gefragt, ob ich noch wach bin.“ Er zuckte mit den Schultern. „Er ist gleich da.“

„Verstehe. Hast du Hunger?“

„Um ehrlich zu sein war es der Geruch nach Ei, der mich hergebracht hat.“, entgegnete er schmunzelnd, „Ich sterbe vor Hunger.“

„Dann mach ich dir und Travis auch noch was.“

„Du bist ein Engel.“ Überschwänglich zog er mich so an sich, dass ich mit dem Rücken zu ihm stand und drückte mich eine Weile.

„Bist du nervös?“, fragte ich ihn überrascht, als er mich nach zwei Minuten nicht losgelassen hatte. Da ich gut an die Pfanne heran kam, was das glücklicherweise kein Problem.

„Woher weißt du das?“

„Du hältst mich so lange fest. Für gewöhnlich suchst du nur so viel Nähe, wenn du nervös bist.“

Er seufzte tief. „Wir hatten einen kleinen Streit und er musste zur Arbeit, ehe wir uns versöhnen konnten. Danach haben wir nicht darüber geredet.“

„Worum ging es denn?“

Zögerlich drückte er seinen Mund an meine Halsbeuge, während er mir wohl über die Schulter sah. „Er hat gesehen, dass eines der Bilder, an denen ich gerade arbeite, ein Akt ist.“

Als ich mich daran erinnerte, was er mir über sich und den Frauen erzählt hatte, hielt ich inne und sah zu ihm auf. „Noch ein Akt?“

Er seufzte tief. „Es ist nicht so wie bei den Frauen.“, erklärte er, da er wohl geahnt hatte, welche Richtung meine Gedanken nahmen. „Es ist ein einfacher Auftrag, aber er wollte natürlich wissen wie ich an das Motiv kam und warum ich ausgerechnet ein Akt male. Da er weiß, dass ich wohl bisexuell bin, nicht schwul, macht er sich wohl Sorgen ich könnte mich von der Frau angezogen fühlen.“

„Ist seine Sorge berechtigt?“

Ich vernahm ein Murren, als er erneut zögerte und seufzte leise.

„Sie sind berechtigt, oder?“

„Ich bin ein Mann.“, murmelte er, „Wenn ich eine nackte Frau sehe lässt mich das nicht kalt, aber ich will nicht mit ihr ins Bett.“

„Hast du ihm das gesagt?“

„Natürlich.“

„Und was sagte er?“

„Dass er das schon oft gehört hat und es dann doch passiert ist.“

Zögerlich wendete ich mich wieder dem Ei zu. „Klingt nicht gut. Wahrscheinlich erwartet er jetzt, dass es wieder passiert.“

„Wahrscheinlich, ja. Aber seit ich mit ihm zusammen bin, finde ich Frauen immer weniger aufregend. Nicht, dass ich Männer dafür immer aufregender finde, aber...“

„Ich verstehe schon.“ Liebevoll tätschelte ich ihm die Arme, die an meinem Bauch lagen, weil er mich immer noch fest umschlungen hielt. „Das hast du ihm wohl auch gesagt.“

„Ja, aber an Zweifel kommt man eh nicht so gut vorbei. Bevor er gegangen ist, sagte er, dass es doch immer das gleiche ist und er die Nase langsam voll hat.“

„Ich bin mir sicher, dass er damit nicht dich meinte.“

„Ja, aber es tut trotzdem weh.“ Seufzend legte er das Kinn auf meine Schulter. „Ich hab Angst, dass er Schluss macht.“

„Dafür gibt es doch keinen Grund. Er macht sich Sorgen, das ist alles.“

„Vielleicht sollte ich aufhören Akte zu malen.“, sinnierte er, „Ich mache es einfach wie vorher.“

„Das wäre eine gute Idee, um ihn zu beruhigen. Ich finde, du solltest ihm das auch sagen, damit er sich keine Gedanken darüber macht, ob du vielleicht morgen auf einem Meeting wieder eine nackte Frau siehst, um sie zu malen.“

Er stöhnte auf. „Ich hab gar nicht daran gedacht, dass er es so sehen könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es wäre zu denken, er könnte jederzeit auf der Arbeit eine nackte Frau sehen.“

Ich schmunzelte. „Ich glaube, das einzige nackte, das er auf der Arbeit sehen könnte ist ein Nacktmull.“

Er lachte leise. „Er sagte mal, dass das eines der wenigen Tiere ist, die er äußerlich nicht sonderlich gut leiden kann. Er versteht nicht, warum man so etwas als Haustier hält. Es ist ja nicht so, dass man damit etwas tun könnte.“

„Ist das bei seinen haarigen Verwandten was anderes?“

„Mit Hamstern kann man kuscheln oder sie streicheln. Er sagt, ein Mädchen hätte mal ein Meerschweinchen vorbeigebracht, dem sie die Haare geflochten hat.“

Ich lachte herzhaft auf, schlug dann aber die Hand vor den Mund, um nicht zu laut zu sein. „Er muss ja die seltsamsten Dinge sehen, wenn es solche Menschen gibt.“

„Eine Hundebesitzerin hat einem ihrer Hunde Flecken gefärbt, weil sie es langweilig fand, dass er einfarbig war.“

„Ist das erlaubt?“

„Ich weiß es nicht.“, gestand er nachdenklich, „Das werde ich ihn wohl irgendwann mal fragen.“

„Das riecht lecker.“, ertönte es plötzlich von der Küchentür.

Überrascht hob Veit den Kopf und sah mit mir herüber, wo Travis erschöpft am Rahmen lehnte. Sofort ließ Veit mich los, machte sich wohl Sorgen, dass Travis das falsch verstehen könnte.

„Ich hab nicht gehört, wie du rein gekommen bist.“, bemerkte er dann unsicher.

Dieser legte den Schlüsselbund, den er noch in der Hand hielt, neben sich auf eine kleine Ablage, auf der eine Schüssel mit Obst stand, und kam herüber. „Ich dachte, dass die anderen schlafen und war so leise, wie ich konnte.“

Als Veit dazu nichts weiter sagte, lächelte ich Travis an. „Das ist sehr aufmerksam von dir. Hast du Hunger? Wie du sehen kannst, hab ich Unmengen Ei gemacht.“

Sein Blick fiel auf die Pfanne und er lächelte leicht. „Ich hab einen Bärenhunger, danke.“

„Kein Problem.“ Ich schob die Pfanne von der heißen Fläche, schaltete den Herd aus und holte Teller und Gabeln hervor, während die beiden sich anschwiegen. Als ich nach dem Toast griff, um ihn in den Toaster zu schieben, nahm Travis ihn mir aus der Hand.

„Ich mach das. Du hast das Ei gebraten.“

„Oh, das ist kein Problem. Ihr könnt euch ja schon setzen. Im Gegensatz zu euch bin ich eben erst aufgestanden.“

„Sicher?“

Ich nickte. „Ja. Und wenn ihr euch weiter so anschweigt sehe ich mich gezwungen euch zu schlagen. Das macht mich nervös.“

Veit seufzte. „'tschuldige, Vivi.“

Ich winkte ab, während Travis wieder an seinem Lippenpiercing nagte.

„Wie war die Arbeit?“, fragte Veit schließlich, verließ aber nicht die Küche. Stattdessen lehnte er sich neben mich an die Küchenzeile, als hätte er Angst allein mit Travis zu sein.

„Anstrengend.“, entgegnete dieser und nahm sich ein Glas, füllte es mit Saft. „Wir mussten etwas weiter raus aufs Land. Eine Stute hat ihr Fohlen geboren. Eigentlich war ein anderer Arzt zuständig, aber der ist schwer erkrankt und hat deshalb unsere Klinik angerufen. Wir sind die nächste, also haben wir das übernommen.“ Er rieb sich den Nacken, trank einen Schluck und zog sich dann das Hemd aus, da ihm wohl warm war. „Die Geburt war das leichteste. Das Problem waren zwei Füchse, die später auftauchten. Sie hatten die Tollwut und einer von beiden hatte sich in das frisch geborene Fohlen verbissen. Das andere hatte es auf den Hund abgesehen. Wir mussten die Füchse fangen, einsperren, die Tiere untersuchen, das Fohlen und die Mutter in eine Pferdebox bringen und den Hund auch noch mitnehmen, als wir zurück zur Klinik fuhren. Dann mussten wir alle genauestens untersuchen, um herauszufinden, ob sich der Hund oder die Pferde infiziert haben. Die Füchse mussten eingeschläfert werden und das Mutterpferd und den Hund haben wir erst einmal geimpft. Das Fohlen war etwas schwieriger. Es ist neu geboren, deshalb möchte Dr. Sandings noch keine Medikamente verabreichen. Für den Biss musste sie also eine örtliche Betäubung geben und es nähen, während ich es festhalten musste. Und dann mussten wir warten, bis die Betäubung nachgelassen hat, weil die Wunde sich am rechten Hinterbein befand und es selbst auf Vieren noch unsicher steht.“ Er streckte sich ausgiebig und gähnte. „Später hab ich frei und morgen auch, also kann ich erst mal entspannen.“

„Gut.“, gab Veit zurück und nahm zwei Teller mit Ei entgegen, als ich sie ihm reichte. „Dann kannst du später ausschlafen.“

Travis nickte, ehe er zögerlich fragte: „Und wie läuft es mit dem Bild?“

„Gut.“ Veit hielt kurz inne. „Es... ist fast fertig. Ich warte noch bis die Schicht trocken ist, dann kommen die letzten Details. Sie ähm... möchte es morgen Nachmittag abholen. Also von der Galerie.“

„Verstehe. Dann... triffst du sie morgen nochmal.“

„Nur kurz.“, versicherte Veit, „Danach komme ich wieder her, also können wir den Tag zusammen verbringen, wenn du möchtest.“

„Ja, das wäre schön.“

Als ich den letzten Teller nahm und mich zu beiden umdrehte, deutete ich auf die Tür. „Dann lasst uns mal essen.“

Travis nahm Veit seinen Teller ab, ehe wir rüber gingen. Wir machten es uns auf der Couch gemütlich, weil die beiden keine Lust hatten sich auf die Stühle zu setzen. Da wir niemanden wecken wollten, redeten wir nur sehr leise. Nach dem Essen standen wir schließlich wieder in der Küche, ich am Waschbecken, Travis mit dem Geschirrtuch neben mir und Veit stellte alles zurück.

„Was macht ihr zwei jetzt noch?“, fragte ich, als ich das Wasser wieder abließ.

Nachdem Veit die Gabeln zurück gelegt hatte, griff Travis nach seiner Hand. „Ich denke, wir werden nur noch ins Bett gehen.“, überlegte Travis, „Es ist für uns wirklich spät.“

Ich nickte. „Verständlich. Dann wünsche ich euch noch eine gute Nacht.“

Als die beiden sich bedankten, warf ich Veit noch einen bedeutungsvollen Blick zu, woraufhin er leicht lächelte und nickte. Er würde noch vor dem Schlaf mit Travis reden. Als ich die Tür hinter ihnen hörte, seufzte ich tief und sah mich ein wenig um, ehe ich begann etwas aufzuräumen. Dabei fand ich Travis Schlüsselbund, weshalb ich mit diesem in der Hand kurz darauf leise an Veits Tür klopfte. Offenbar hatten sie wirklich noch geredet, denn ich hatte Stimmen gehört.

„Ja?“, rief Veit halblaut, woraufhin ich öffnete und den Kopf herein streckte.

„Tut mir leid, dass ich störe.“, merkte ich sofort an.

Travis winkte ab, der nur mit Shorts bekleidet Veit gegenüber saß und somit in meine Richtung sah. „Kein Problem.“

„Was gibt’s?“, wollte Veit wissen und drehte sich dafür zu mir um.

„Nur eine Kleinigkeit.“ Ich hielt Travis Schlüsselbund hoch. „Den hast du in der Küche liegen lassen. Ich wollte nicht, dass du ihn vergisst oder lange suchen musst.“

„Oh, ja.“, erinnerte sich dieser, woraufhin ich herein kam, um ihn ihm zu geben. „Danke.“

Als ich neben den beiden am Bett stand, fiel mir ein Bild auf, dass neben dem Fußende an der Wand lehnte. Eigentlich sollte es nicht sehr hervorstechen, weil überall im Zimmer Bilder herum standen und lagen und dieses war sogar teilweise mit einem Tuch verhüllt, aber offenbar war das Tuch zur Hälfte herunter gerutscht, weshalb ich erkennen konnte, dass auf der einen Hälfte Tevin abgebildet war. Überrascht deutete ich auf das Bild und sah zu Veit, als ich Travis die Schlüssel reichte.

„Was ist das für ein Bild?“, fragte ich ihn.

Veit folgte meinem Blick und hielt inne. „Das... ähm... das male ich über, das ist nicht so-“ Er brach ab, als ich zum Bild herüber ging und sah noch, wie er das Gesicht verzog. Dann seufzte er tief. „Vilija...“

Als ich das Tuch von dem Bild zog, stellte ich fest, dass es auf der Seite stand. Eigentlich müsste es horizontal stehen, denn Tevin lag auf dem Bild. In einem Bett. Hinter mir. Naja, liegen war nicht ganz richtig, er stützte sich mit einem Ellenbogen ab und sah auf mich herab, während er mir liebevoll das Haar aus dem Gesicht schob. In seinem Gesicht nichts als Liebe und tiefe Anbetung, als wäre ich ein heiliges Objekt. Ich selbst schlief tief und fest, sah aber todtraurig aus, das Gesicht verweint. Und ich war bekleidet. Als ich an mir herunter sah, entdeckte ich genau dieselbe Kleidung und starrte dann wieder das Bild an.

Es war gerade mal wenige Stunden alt.

„Veit, wann... Warum...“ Sprachlos sah ich ihn wieder an und stellte fest, dass er das Gesicht in den Händen vergraben hatte.

Er stöhnte auf, als er mich hörte und ich fragte mich warum. „Ich hab damit einige Stunden nach Keanus Abgang angefangen. Also... da hab ich euch so gesehen und danach angefangen und...“ Er rieb sich das Gesicht. Irgendwas stimmte damit also nicht.

Verwirrt sah ich das Bild wieder an und drehte es richtig herum. Hatte ich irgendwas übersehen?

„Ich hab es einfach so gemalt, weil ich den Anblick mochte.“, murmelte Veit.

Dann fiel mir das Bild dahinter auf. Er hatte sie voreinander an die Wand gelehnt, was mir wegen dem Tuch wohl nicht aufgefallen war. Als ich das zweite Bild sah, fiel mir genau auf, was ich auf dem anderen offensichtlich übersehen hatte. Auf dem zweiten Bild lagen wir genauso wie auf dem ersten, nur dass Tevin mich auf die Schläfe küsste, was ich aber übersehen hatte, war der Bluterguss auf seiner Brust. Auf dem ersten fiel es nicht sofort auf, weil sein Arm davor war, doch auf dem zweiten hatte er ihn ausgestreckt, um sich besser vorbeugen zu können.

„Er hat einen Bluterguss?“, bemerkte ich überrascht, „Weißt du woher?“

Er schwieg. Als ich ihn fragend ansah, schloss er resigniert die Augen. „Ja.“

Ich wartete und hob eine Braue.

„Tevin hat...“ Er zögerte.

Travis fuhr sich mit der Hand durchs Haar, was Veit einen Moment ablenkte.

„Veit.“, bohrte ich etwas ungeduldig nach.

„Er hat sich mit Keanu geprügelt.“

Langsam ließ ich das Bild in meiner Hand sinken und sah ihn ungläubig an. „Wann? Wie und... warum?“

„Vilija, es ist spät, ich-“

„Veit, sag es mir.“

Er rieb sich mit dem Handballen über die Stirn. „Er kam irgendwann aus deinem Zimmer und wollte Keanus Telefonnummer haben. Teddy hat sie ihm gegeben. Dann ist Tevin gegangen und kam so zurück. Naja, nicht so.“ Er zögerte. „Sein Shirt war zerrissen, deshalb trägt er es nicht und er hat noch andere Blutergüsse und Schrammen und-“

„Veit, du schweifst ab.“, bemerkte Travis.

Veit atmete daraufhin tief durch. „Er hat Keanu angerufen, ihn um ein Treffen gebeten und dann haben sie wohl geredet, was dann in einer Prügelei ausgeartet ist, aber genaueres weiß ich auch nicht. Er hat die meiste Zeit vor Schmerz gestöhnt, weil Keanu ihm wohl die Schulter ausgekugelt hat. Drew war kurz da und hat ihn behandelt. Und dann war da noch dieser fremde Mann, Aidan, glaube ich. Der hat noch ein ernstes Wort mit Tevin gesprochen und dann ging er auch wieder und Drew hat ihm eine Standpauke gehalten. Als er auch weg war ist Tevin wieder in dein Zimmer gegangen.“

Sprachlos sah ich auf das Bild herab. „Aber warum?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil Keanu dich verletzt hat.“

„Aber er... ich meine...“ Verwirrt stellte ich das Bild ab. „Keanu hat mir alles erklärt, er hatte Gründe und es ist ja nicht so, als wenn er mir weh tun wollte. Naja, zumindest nicht gestern.“

Veit hob die Schultern. „Mehr weiß ich leider nicht, tut mir leid.“

„Frag ihn doch einfach selbst.“, schlug Travis vor.

Ich seufzte tief und fuhr mir durchs Haar, wollte mich gerade wieder in mein Zimmer begeben, als ich Tevin an der Tür sah. Verschlafen rieb er sich gerade mit dem Handballen das Auge.

„Ich hab dich gesucht.“, erklärte er auf meinen überraschten Blick. „Du warst nicht im Bett.“

„Ich bin überrascht, dass du noch so lange geschlafen hast.“, merkte Veit an.

Tev zuckte mit den Schultern. „Ich hatte erst einen Albtraum, dann hab ich versucht weiter zu schlafen, hab dann aber aufgehört mir was vorzumachen.“ Er kratzte sich abwesend die Brust und gähnte. „Ist etwas passiert oder warum seid ihr alle hier?“

„Du hast Keanu verprügelt.“, gab ich zu bedenken.

Veit stöhnte auf. „Könnt ihr das in deinem Zimmer besprechen? Bitte.“

„Entschuldige.“, murmelte ich daraufhin und verließ eilig das Zimmer. „Gute Nacht.“

„Nacht.“, gaben die zwei gleichzeitig zurück, ehe ich die Tür hinter mir schloss. Dann ging ich mit Tevin wieder in mein Zimmer, wo wir uns aufs Bett setzten.

„Also.“, hob ich an und sah ihn bedeutungsvoll an. „Veit sagte mir, du hättest Keanu verprügelt.“

Als ich das sagte, fiel mein Blick auf den Bluterguss auf seiner Brust. Dann besah ich mir seinen Körper genauer und fand tatsächlich einige Wunden. Sein Knie war aufgeschürft, die Knöchel seiner linken Hand waren ebenfalls verletzt und die linke Seite seines Kiefers schillerte blau. Seine rechte Schulter war ebenfalls mit kleinen Wunden übersät, kleine Schnitte und Schrammen, als wäre er irgendwo rüber gerutscht.

Tevin atmete tief durch und rieb sich den blauen Unterkiefer. „Ich hab ihn zur Rede gestellt, weil ich wissen wollte warum du zusammengebrochen bist. Also hat er geredet. Aber ich habe nicht ihn verprügelt. Ich hätte es gern getan.“, gab er zu, „Weil er so feige war nicht einfach mit dir darüber zu reden. Er hat die Entscheidung getroffen den einfachen Weg zu gehen und dich zu verlassen, statt einen Weg zu suchen, der es euch ermöglicht hätte zusammen zu bleiben. Selbst ein Surfer sollte sich daran erinnern können, dass du an einer Online-Universität studierst. Er hätte dir wenigstens anbieten können, dass du die Möglichkeit hast ihn zu begleiten.“

Als er das so sagte fühlte ich mich tatsächlich ein wenig betrogen und verlassen.

„Natürlich ist es möglich, dass er dafür noch nicht bereit war und du vielleicht selbst auch nicht bereit bist, aber er hat darüber nicht nachgedacht. Er sagte, als er den Anruf bekam, wusste er, dass die Beziehung am Ende war. Er hat es nicht einmal versucht.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß, ich gehe nicht mit bestem Beispiel voran, aber ich versuche alles was mir einfällt, ohne dich bedrängen zu wollen.“

„Aber-“

Er schüttelte den Kopf, weshalb ich inne hielt. „Das war einfach mein Gedankengang, aber ich hab ihn trotzdem nicht verprügelt.“

Ich blinzelte verwirrt. „Wen dann?“

„Sean.“

„Was?“ Nun sah ich ihn fassungslos an. „Sean? Warum?“

„Ich wusste, dass ich ihn irgendwo schon mal gesehen habe, also hab ich Keanu auf ihn angesprochen. Dem schien es ähnlich zu gehen, also hat er seinen Kumpel Seth angerufen.“ Er rollte mit den Augen. „Letztendlich kam heraus, dass Sean mit vollem Namen Sean Villain heißt und der Bruder von dem Kerl ist, der Ev betrogen und Gabriella ausgespannt hat.“

„Und warum hast du ihn nun verprügelt?“

„Er ist der ältere Bruder.“, fuhr er fort, „Und bei weitem schlimmer. Seth wusste wo er wohnt, also sind Keanu und ich dort vorbei gegangen und was wir sahen gefiel uns gar nicht.“ Er schloss kurz die Augen und schüttelte erneut den Kopf. „Er und Michael waren dabei eine junge Frau zu belästigen und zu nötigen. Sean hielt sie fest, während Michael kurz davor war sie zu vergewaltigen. Keanu ging sofort dazwischen. Ich rief erst die Polizei, ehe ich ebenfalls dazwischen ging. Und so hat sich dann die Prügelei ergeben.“

„Oh mein Gott.“, hauchte ich.

„Ich konnte nur noch daran denken was passiert wäre, wenn du mit ihm ausgegangen wärst.“ Er ballte die Hände fest zu Fäusten. „In meinem Kopf sah ich immer dieses Bild wie sie die junge Frau nötigten. Aber in meinem Kopf warst du das.“ Hilflos griff er nach meiner Hand, hielt sie ganz sanft zwischen seinen. „Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn es so weit gekommen wäre.“

Als ich plötzlich begriff, schlug ich mir die andere Hand vor den Mund. „Tevin.“, kam es mir über die Lippen. „Wärst du nicht gewesen...“ Wäre er nicht gewesen, wäre ich nicht hinaus gestürmt. Ich wäre Keanu nicht im Park begegnet und demzufolge wäre er auch nicht her gekommen. Ich wäre nicht hiergeblieben. Ich wäre mit Sean gegangen.

Tevin, der offenbar irgendwie wusste, was in meinem Kopf vorging, zog mich einfach in seine Arme und drückte mich so fest an sich, dass es fast weh tat. „Ich war unkontrolliert, als ich die beiden verprügelt habe. Die Polizei musste mich mit Gewalt von ihnen trennen. Deshalb durfte ich mir von Aidan und Drew einen Vortrag anhören.“

Zitternd hielt ich mich an ihm fest, begriff immer mehr wie knapp es für mich selbst gewesen war. „Tevin.“

„Ja?“

„Lass mich nie wieder allein.“

Er vergrub das Gesicht an meinem Haar. „Nie wieder. Versprochen.“

Kapitel 13

 

 

Das erste Mal seit langem fühle ich mich nicht,

als müsse ich nach Atem ringen

oder ums Überleben kämpfen.

Das erste Mal seit Jahren fühle ich mich lebendig.

– Tagebucheintrag von Breda Amanar Tevin McCoutney

 

einige Tage später

Veit

Entspannt ging ich händchenhaltend neben Travis her und sah mir ein wenig die Geschäfte an. Um Vilija etwas zu entspannen haben wir, Tevin, Evelyn und Teddy uns vorgenommen mit ihr shoppen zu gehen, damit sie nicht immer an die Prüfungen denken musste. Die erste hatte sie gestern geschrieben, die nächste kam übermorgen.

Ich war froh, dass sie und Tevin sich mittlerweile wieder so gut verstanden, dass sie ihn in ihrem Bett schlafen ließ, damit sie ausgeruht war. Aber vergeben hatte sie ihm offensichtlich noch nicht, denn jedes Mal, wenn er versuchte sich ihr zu nähern, blockte sie nahezu verzweifelt ab.

„Lass uns doch mal hier rein schauen.“, schlug Travis vor und deutete auf eine Modeboutique an der wir gerade vorbei gingen.

Da niemand was dagegen hatte gingen wir hinein und teilten uns auf, um uns umzusehen. Travis und ich bewegten uns zu den Hosen, weil ihm vor kurzem eine gerissen war.

„Was hältst du von der hier?“, fragte er wenig später und hielt sich eine bequeme dunkle Jeans an die Beine. „Oder eher was aus Stoff?“

Ich lächelte ihn schräg an. „Ich finde, dir steht beides gut.“

Er grinste neckisch zurück. „Und was ziehst du mir lieber aus?“

Ein Kerl, der gerade an uns vorbei gehen wollte, sah ihn perplex an und ging hastig weiter. Als Travis das bemerkte zuckte ein Muskel unter seinem rechten Auge. Ich seufzte schwer und ging zu ihm herüber.

„Mach dir nichts draus.“, redete ich ihm zu, „Was andere denken ist egal.“

„Es ist die Einstellung der allgemeinen Bevölkerung, die mich stört.“, entgegnete er und besah sich erneut die Hosen, ehe er nach einer noch dunkleren Jeans griff. „Offiziell gibt es keinen Sexismus mehr in der Bevölkerung, aber wenn zwei Männer in der Öffentlichkeit Hände halten wird an jeder Ecke getuschelt. Das wird sich wahrscheinlich nie ändern.“

Um ihn aufzumuntern legte ich ihm einen Arm um die Taille und zog ihn an mich. „Noch ein Grund die anderen zu ignorieren. Wir fühlen uns wohl damit, oder nicht?“

Er schnalzte mit der Zunge. „Da hast du Recht.“, entgegnete er und sah die wenigen Zentimeter auf mich herab. „Aber man kann es nicht einfach ignorieren. Es ist schwer einen einfachen männlichen Freundeskreis aufzubauen, wenn alle denken du könntest sie anbaggern.“

Ich gab ihm einen liebevollen Kuss auf den Mund. „Das werden wir schon ändern.“

Seufzend lehnte er seine Stirn an meine und schloss entspannend die Augen. „Ich bin froh, dich zu haben.“

„Das bin ich auch.“

Amüsiert lächelnd gab er mir ebenfalls einen Kuss, diesmal jedoch länger. Einen Moment fühlte ich mich wie damals, als ich ihn das erste Mal getroffen hatte. Noch immer war ich nicht vorbereitet auf das Gefühl, die Wärme und das Prickeln, als er die Hose einfach fallen ließ, die Arme um mich legte und an sich zog, um den Kuss zu vertiefen. Doch mittlerweile war ich in der Lage den Kuss nicht unerwidert zu lassen. Er seufzte erleichtert und knabberte ein wenig an meiner Unterlippe, wobei mir wieder auffiel, wie kühl sich sein Piercing dabei anfühlte.

„Veit, sieh mal, was hältst du- Oh.“ Vilija unterbrach sich abrupt selbst, als sie uns sah, während Travis sich ein wenig von mir löste und überrascht zu ihr sah. „Tut mir leid, ich- Ähm.“ Beschämt wurde sie rot bis zum Ansatz ihrer schönen Haare und stammelte vor sich hin.

Travis biss sich fest auf die Lippe, um nicht zu lachen, während mir ein amüsiertes Lächeln ins Gesicht glitt. Gleichzeitig spürte ich die Röte, weil sie uns dabei ertappt hatte, wie wir öffentlich herum gemacht hatten.

„L-l-lasst euch nicht von mir stören. Macht einfach weiter, ich warte so lange ähm... da vorn.“ Sie deutete auf eine Ecke, zwei Meter weiter und war bereits dabei einen Schritt darauf zuzumachen, als Travis sie leise lachend am Handgelenk nahm und zwischen uns zog.

„Alles okay.“, sagte er, „Na los, zeig uns, was du gefunden hast.“

Prompt wurde sie noch roter. „Oh, also... ähm... du weißt ja, dass Veit und ich mal zusammen waren, also fragte ich ihn ab und zu, was er von der Unterwäsche hält, die ich so kaufe.“

„Zeig her.“ Er deutete auffordernd auf die Kleidungsstücke, die sie in der Hand hielt. „Ist das Spitze?“

„Ähm... ja.“ Zögerlich breitete sie einen Slip so aus, dass wir ihn erkennen konnten.

„Hübsch.“, bemerkte Travis und befühlte den Stoff. „Aber etwas rau. Das reizt die Haut und ist auf Dauer ungemütlich.“

„Oh.“ Überrascht sah sie darauf herab und befühlte ihn ebenfalls.

Nun neugierig geworden griff ich nach einem anderen Slip. „Zeig mal den hier.“

Aufmerksam betrachteten wir jedes Stück, nicht nur Slips, sondern auch BHs, sehr genau und gaben ihr einen Rat nach dem anderen.

„Kaufst du die für Tevin?“, fragte ich sie letztendlich, als sie mit der frisch bezahlten Ware zu uns schlenderte.

Unsicher seufzte sie leise und rieb sich den Nacken. „Ich weiß es nicht genau. Ich habe so große Angst davor, dass er wieder geht.“

„Meinst du nicht, es wäre besser jeden Moment auszukosten?“

Ein weiterer Seufzer kam ihr über die Lippen. „Ich weiß nicht. Was, wenn ich mich darauf einlasse und eine Woche später verschwindet er wieder?“

„Dann solltest du in dieser Woche jeden Moment genießen.“, entgegnete Travis, „Du liebst ihn doch, oder nicht? Und du weißt, er würde zurück kommen, egal, wie lange es dauert. Abgesehen davon, warum sollte er gehen? Gibt es irgendwas, das ihn dazu veranlassen könnte dich nochmal zu verlassen? Sagte er nicht, er würde es sofort rückgängig machen, wenn er könnte? Er sieht dich an, als wärst du alles, was er zum Leben braucht.“

Ihr blieb die Luft weg und ich sah, wieder einmal, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Ausgerechnet in dem Moment kam Tevin mit Teddy und Ev zu uns. Als er sah, dass sie den Tränen nahe war, sah er uns finster an.

„Was habt ihr gemacht?“, verlangte er sofort zu wissen.

„Wir haben ihr lediglich einen Ratschlag gegeben.“, verteidigte ich uns sofort.

Im nächsten Moment war Tevin bereits an ihrer Seite und sah sie besorgt an. „Ist alles okay?“

Ihre Unterlippe bebte, doch sie nickte und brachte ein Lächeln zu Stande. „Ja, ich... ich weiß auch nicht warum ich in letzter Zeit so viel weine.“ Hastig wischte sie sich die Tränen weg, als sie ihr über die Wangen liefen, woraufhin Tevin sich vor sie stellte und mir die Sicht nahm.

„War ich zu harsch?“, fragte Travis leise.

„Ich denke nicht.“, entgegnete ich daraufhin ebenso leise, „Ich glaube, es ging ihr nur nahe.“

„Wie wäre ein Mittagessen?“, fragte Teddy einen Moment später und sah zu Travis. „Die Einkäufe können wir so lange doch sicher in deinen Wagen legen, oder?“

„Klar.“, entgegnete er freundlich, „Gebt mir einfach die Tüten, ich bringe es schnell rüber.“

„Ich komme mit.“ Ich nahm die Tüten von allen entgegen und Travis nahm Vilija sanft ihre Tüten ab, ehe wir uns auf den Weg machten. „Wir treffen uns dann gleich an der Kreuzung da vorn.“ Ich deutete auf besagte Kreuzung, woraufhin Teddy nickte und zu Tevin und Vilija sah, um herausfinden, wie es ihr ging.

Travis und ich verließen derweil das Geschäft, wobei er wieder meine Hand ergriff. „Ich hoffe, sie nimmt es mir nicht übel.“

„Wird sie nicht, keine Sorge. Ich denke, im Grunde weiß sie, dass du Recht hast. Sie hat einfach nur Angst. Er ist alles für sie, weißt du. Und sie ist alles für ihn. Als er damals einfach ging, war sie zutiefst verletzt und bestürzt. Sie war nicht einmal in der Lage zu lächeln. Sie zog sich immer mehr von uns zurück. Wir haben uns alle große Sorgen um sie gemacht. Besonders Teddy.“

Mitfühlend drückte er kurz meine Hand. „Verstehe.“

Den Rest des Weges schwiegen wir und warteten schließlich fünf Minuten später am ausgemachten Treffpunkt. Da die Kreuzung gerade mal ein paar Meter von dem Geschäft entfernt war, hatte ich bereits damit gerechnet, dass die anderen schon da waren, aber ich konnte keinen von ihnen sehen. Kurz darauf kam schließlich Teddy mit Evelyn, die Vilija hinter sich herzog. Diese wiederum wirkte seltsam verwirrt.

„Was ist los?“, fragte ich verwundert und sah zu Vilija.

„Da ist plötzlich dieses Mädchen aufgetaucht und fiel Tevin um den Hals.“, erklärte Evelyn skeptisch, „Sie ging mit ihm um, als wäre sie frohlockend seine Freundin und hing an ihm wie eine Klette.“ Sie schüttelte den Kopf und verzog den Mund. Ich hatte mich oft gefragt, was Teddy an ihr fand. Sie war eine der gröbsten Frauen, die ich je kennen gelernt hatte. „Ich schwöre dir, man hätte sie nicht einmal mit einer Brechstange von ihm los gekriegt. Dann hat sie Vilija gesehen. Tevin hatte sie kurz zuvor umarmt und deshalb lag sie noch halb in seinen Armen. Sie ist total ausgerastet.“ Sie gestikulierte überschwänglich mit den Armen und Händen, um ihre Abneigung Kund zu tun und fuchtelte in Richtung Geschäft. „Jetzt stehen die beiden noch in dem Laden. Tevin versucht ihr zu erklären, dass es nie eine Beziehung zwischen ihnen gab, dass er sie nur nett findet und unsterblich in Vilija verliebt ist und so weiter, aber sie scheint das gar nicht zu hören. Ich glaub, sie hat sich total in den Gedanken verrannt in Tevin die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben und weigert sich nun etwas anderes zu glauben.“ Sie schnaubte ein letztes Mal und zog Vilija am Handgelenk zurück, als sie zurück zum Geschäft gehen wollte.

„Lass mich los.“, forderte sie.

„Was willst du denn machen? Ihn einfach wegschleifen?“

Missmutig verzog sie das Gesicht.

Dann sah ich wie Tevin, gefolgt von einem niedlichen kleinen blonden Mädchen, aus dem Geschäft kam.

„Wie alt ist sie?“, fragte Travis verstört.

„Sie ist nur ein Jahr jünger als ich.“, antwortete Evelyn daraufhin, „Zumindest biologisch.“

Skeptisch beobachtete ich, wie sie Tevin weiter folgte und offensichtlich beschimpfte, bis sie nach seiner Hand griff und ihn dazu zwang stehen zu bleiben. Sichtlich ungeduldig sah er auf sie herab und hörte sich offenbar ihr Gerede an. Mitten auf dem Zebrastreifen. Dann schlug sie ihm gegen die Brust. Ich warf Vilija einen prüfenden Blick zu, doch diese reagierte überraschend ruhig. Als ich wieder zu Tevin sah, konnte ich gerade noch beobachten, wie das Mädchen wütend das Armband packte, dass Vilija ihm geschenkt hatte, es mit einem Ruck abriss und ihm an die Brust warf.

Ich hatte Tevin noch nie so wütend gesehen. Ich konnte seine Stimme bis hierher über den Lärm hinweg hören, als er sie anbrüllte, was ihr denn einfiele sich derartigen Schwachsinn einzubilden, dass er nie auch nur ansatzweise Interesse an einer Beziehung gezeigt hatte und sie keinerlei Recht hatte auch nur ansatzweise eifersüchtig auf eine Frau zu sein, an die sie nicht einmal mit der Zehenspitze heran reichte.

Offensichtlich tief verletzt von seinen Worten drehte sie sich daraufhin weinend um und lief davon, woraufhin er sich einfach nur hinhockte und begann die einzelnen Teile des Armbandes einzusammeln. Wir warteten geduldig, wobei Evelyn Vilija immer wieder zurückhielt, damit sie nicht zu ihm lief. Tevin musste das allein tun.

Und dann änderte sich alles. In dem einen Moment steckte Tevin gerade das letzte Teil des Armbandes ein und sah sich aufmerksam um, als wolle er sicher gehen, dass er nichts übersehen hatte. Die Autos, die in der Zeit in die Einbahnstraße hatten fahren wollen, schienen mit unendlicher Geduld zu warten, als würden sie merken, dass es etwas wichtiges war, das er da tat. Dann kam das Auto.

Theoretisch hätte es nicht dort sein dürfen, weil es in die falsche Richtung durch die Einbahnstraße fuhr. Noch dazu fuhr es viel zu schnell. Letzteres war der Grund dafür, dass es nicht schnell genug bremsen konnte, als der Fahrer Tevin sah. Es war auch der Grund dafür, dass der Wagen bis auf die viel befahrene Straße schlidderte, ehe es endgültig anhielt.

Ich hörte Vilijas entsetzten Schreie und beobachtete wie betäubt, wie Tevin, der nicht wusste, wie ihm geschah, von der Motorhaube des Wagens rutschte und im nächsten Moment von einem weiteren Wagen erfasst wurde, dass gerade mit relativ hoher Geschwindigkeit auf der Straße unterwegs war und den bremsenden Wagen aufgrund der Autos, die an der Kreuzung auf Tevin gewartet hatten, nicht gesehen hat.

Evelyn war nicht mehr in der Lage Vilija zurückzuhalten, die in endloser Panik zu Tevin laufen wollte. Teddy packte sie jedoch sofort und hielt sie fest. Wahrscheinlich wollte er verhindern, dass sie Tevin in aller Hast und Angst weh tat, auch wenn sie es eigentlich nicht beabsichtigte.

Langsam kam ich wieder zu mir und spürte, wie blass ich offensichtlich geworden war. Evelyn hatte beide Hände vor den Mund geschlagen und weinte, während Travis mit hastigen Schritte herüber zu Tevin lief. Dank seiner medizinischen Ausbildung wusste er immerhin etwas, was er anwenden könnte, auch wenn er sich eigentlich auf Tiere spezialisierte.

Ich musste schwer schlucken, ehe ich darüber nachdenken konnte, was ich wohl tun könnte. Im nächsten Moment holte ich bereits mein Smartphone hervor und wählte eine Nummer, von der ich immer gehofft hatte, dass ich sie nie wählen musste, von Vilija aber bekommen hatte, falls irgendwann mal was passierte.

Ruf nicht den Krankenwagen, hatte sie mir eingebläut, Ruf diese Nummer an. Andrew ist der beste Arzt Amerikas und er würde alles tun was er kann.

Ich wusste wie gut er war. Daher hatte ich keinerlei Gewissensbisse, als ich seine Nummer, statt einem Krankenwagen rief.

„Wyler.“, meldete sich eine tiefe Stimme.

Ich räusperte mich kurz. „Spreche ich mit Andrew Wyler?“, fragte ich unsicher, weil ich diesem Mann noch nie begegnet war.

„Ja. Wer ist da?“

„Ich bin ein sehr guter Freund von Vilija und sie hat mir Ihre Nummer für den Notfall gegeben.“

Einen Moment war es still. „Was ist passiert? Wo seid ihr?“

Schnell gab ich ihm den Namen der Kreuzung durch. „Tevin wurde zwei Mal angefahren. Mein Freund sieht ihn sich gerade an, aber er ist kein richtiger Arzt. Gott verdammt, er wird Tierarzt. Er weiß nicht genug über Menschen.“

„Ganz ruhig. Verlier nicht die Nerven, ich bin schon auf dem Weg. Geh bitte zu Tevin.“

Ich rieb mir über das Gesicht und ging eilig herüber, ignorierte die Menschen und Stimmen um mich herum. „Okay. Und jetzt?“, wollte ich wissen und kniete mich neben Travis zu Tevin, der offenbar zwar bei Bewusstsein war, aber sehr benommen wirkte.

„Ist er wach?“

„Es sieht so aus, ja.“

„Versuch mit ihm zu sprechen. Er darf auf keinen Fall einschlafen. Gib mir deinen Freund.“

„Okay.“ Ohne ein weiteres Wort hielt ich das Smartphone Travis hin. „Das ist Dr. Wyler.“

Mit großen Augen sah er mich einen Moment an, ehe er das Smartphone entgegen nahm. „Hallo.“ Er hörte einen Moment zu, ehe er sich Tevin näher ansah und dann begann die Verletzungen zu schildern.

Ich dagegen wendete mich an Tevin und beugte mich über ihn. „Tevin?“, sprach ich ihn an, „Kannst du mich hören?“

Er stöhnte kurz auf. „Ja. Was... Was ist passiert?“

Ich verzog kurz das Gesicht. „Du wurdest ziemlich übel erwischt, aber Dr. Wyler ist schon unterwegs.“

Ein weiteres Stöhnen kam über seine Lippen.

„Kannst du dich bewegen? Fühlst du deine Beine?“

„Nur zu gut.“, entgegnete er und bewegte leicht den einen Fuß. „Die Wirbelsäule ist in Ordnung.“, presste er dann hervor und wurde blasser. „Wo ist Vilija?“

Ich konnte ihre Schreie hören, aber Tevin scheint davon nicht viel mitzubekommen. „Es geht ihr gut. Ich meine, sie hat Angst, aber-“

„Ist sie unverletzt? Hat sie etwas abbekommen?“

„Nein, sie ist unverletzt. Es geht ihr gut.“

„Gut.“ Er schloss die Augen.

„Tevin, sieh mich an.“

Wieder stöhnte er auf.

„Tevin, du musst mich ansehen.“ Ganz leicht klopfte ich an seine Wange, woraufhin er träge die Augen öffnete.

„Mir ist kalt.“

„Verdammte Scheiße!“, rief Travis plötzlich aus.

Abrupt sah ich zu ihm herüber und stellte fest, dass er entsetzt eine Blutlache anstarrte, die sich gerade so weit vergrößert hatte, dass sie unter Tevins Hüfte hervorquoll.

„Er blutet. Ich habe keinen Schimmer wie viel Blut er verloren hat.“, erklärte er am Smartphone, „Die Wunde muss sich unter ihm befinden. Wahrscheinlich hat seine Kleidung eine beträchtliche Menge Blut aufgesaugt. Fuck!

„Was?“, fragte Tevin und blinzelte langsam. „Was ist los?“

Ich sah zu ihm hoch. „Nichts. Alles okay. Dr. Wyler ist gleich hier.“

„Drew?“, wiederholte er verwundert, „Ist er nicht auf einem Familienausflug?“

Ich hörte, wie ein Auto mit quietschenden Reifen bremste und Autotüren geöffnet wurden. Wenige Momente später hörte ich den Krankenwagen und die Polizei.

„Lasst mich vorbei!“, rief eine tiefe Stimme, die ich zuvor am Smartphone gehört hatte. „Ich bin Arzt!“

Natürlich machten die Leute Platz. Ebenso wie ich, als er sich zu Tevin kniete.

„Hey, Großer.“, begrüßte er ihn.

„Hey Drew.“, grüßte er zurück.

„Hast du nicht aufgepasst?“ Mit schnellen geübten Blicken und Handgriffen untersuchte er Tevin von Kopf bis Fuß, bis er schließlich unter ihn greifen musste.

„Ich war auf dem Zebrastreifen. Ich dachte, wenn ich da stehe, sollte ja nichts passieren. Es ist ja ein Zebrastreifen. Die Autos müssen da halten, wenn ein Fußgänger über die Straße geht.“

„Du jagst uns allen gehörige Angst ein, weißt du das?“

„Wo ist Vilija?“

Tatsächlich ließ Drew von ihm ab, um sich umzusehen. Dann kniete er sich wieder neben ihn. „Unversehrt an der Kreuzung. Du kennst sie ja. Sie schreit und tritt nach Teddy damit er sie loslässt, weil sie zu dir will.“

Tevin lachte leise auf und begann zu lächeln. „Ja. Ja, das... das klingt ganz nach ihr.“

„Sollen wir sie holen?“

„Nein. Sie macht sich nur noch mehr Sorgen. Später, wenn du mich so weit wiederhergestellt hast, dass ich nicht aussehe wie jemand, der gleich stirbt... Dann möchte ich sie sehen. Lass sie dann zu mir, okay. Mir egal, ob mir nach der OP Besucher verweigert sind. Lass sie zu mir.“

„In Ordnung.“ Er zog eine blutige Hand unter Tevin hervor und sah bedrückt auf das Blut herab.

„Sorg bitte dafür, dass sie wieder lächeln kann.“

„Das werde ich.“ Es klang wie ein eisernes Versprechen. Im nächsten Moment war jede beeinträchtigende Emotion aus seinem Gesicht gewischt. „Das werde ich.“, wiederholte dann ernst. Dann sah er zu einem der Sanitäter, die aus dem Krankenwagen kamen. „Warum hat das so lange gedauert?“, fuhr er ihn an, „Das Krankenhaus ist keine fünf Minuten entfernt. Ich war weiter weg und vor euch hier.“

Verdattert und offensichtlich eingeschüchtert stand der, sichtbar ältere Herr, einfach nur da und starrte ihn stotternd an.

„Steh nicht einfach so rum, der junge Mann muss sofort in die Notaufnahme. Wirds bald!“

Wie ein aufgescheuchtes Kaninchen eilte er wieder zum Krankenwagen, um die Transportliege zu holen. Dann wendete sich Dr. Wyler an Travis und mich.

„Okay, wer von euch beiden war nun Veit?“

Ich hob die Hand. „Das bin ich, Sir.“

„Sehr gut, dass du mich angerufen hast. Die meisten Sanitäter würden viel zu gelassen an so eine Situation heran gehen und ich setze niemals das Leben meiner Familie aufs Spiel. Travis.“ Er wendete sich meinem Partner zu. „Sehr gute Arbeit, die du geleistet hast. Das erleichtert mir gleich im OP die Arbeit.“ Er kontrollierte kurz Tevins Puls und sah dann wieder zu mir. „Sei bitte so gut und sorg dafür, dass Theodore Vilija in meinen Wagen bringt. Dani nimmt sie mit ins Krankenhaus. Und ich denke Rin wird eine gute Ablenkung für sie sein.“

„Natürlich.“

Als die Transportliege Tevin erreichte, fuhr Dr. Wyler den Mann an, weil er so lange gebraucht hatte, ohne auch nur einen Moment inne zu halten, als er Tevin mit Travis Hilfe vom Asphalt auf die Liege bugsierte. Als ich sah, wie viel Blut Tevin verloren hatte, wurde mir einen Moment schwindelig. Auch Dr. Wyler fluchte vor sich her und bugsierte die Liege so schnell es ging zum Krankenwagen. Ich dagegen eilte hinüber zu Teddy, der tatsächlich schwer mit Vilija zu kämpfen hatte. Diese war vollkommen aufgelöst und schrie ihn an, er solle sie loslassen.

„Er bringt ihn jetzt direkt in die Notaufnahme und operiert ihn. Er sagt, du sollst Vilija zu seinem Wagen bringen. Eine gewisse Dani bringt sie hin.“, erklärte ich ruhig und wich ihren Beinen aus, als Vilija sich aufbäumte und versuchte Theodores Griff zu entkommen.

„Wurde auch endlich Zeit.“, keuchte er und verzog das Gesicht etwas mehr, als sie ihm den Ellenbogen in die Seite rammte.

Ihr Gesicht war von Tränen verschmiert und es zeichnete sich nur allzu deutlich ihre Verzweiflung ab.

„Lass mich gehen!“, schrie sie, „Ich muss zu ihm! Teddy, bitte!“

Dieser bewegte sich mit ihr schwerfällig in die Richtung eines schwarzen Autos, an deren Türen eine Frau mittleren Alters und eine junge Frau standen. Letztere schien etwas jünger zu sein, als wir.

Aufgewühlt von den Ereignissen blieb ich einfach stehen und sah zu. Evelyn saß am Boden und schluchzte still. Travis kam herüber und zog mich in seine Arme. Es war nicht so, als wenn Tevin und ich uns immer gut verstanden hätten. Aber er war ein guter Freund und würde Vilija auf Händen tragen, wenn sie ihn ließe.

„Die beiden so zu sehen macht mich völlig fertig.“, brachte ich hervor und lehnte meinen Kopf an Travis' Schulter.

„Mich auch. Das ist okay.“

Am Rande nahm ich wahr, wie das Auto hinter dem Krankenwagen her fuhr und Theodore zurück kam. Dann löste Travis sich von mir.

„Wir sollten jetzt schnell unsere Kontaktdaten bei den Polizisten hinterlassen und nach hause fahren.“ Er deutete auf die genannten Polizisten, die sich gerade um den Mann kümmerten, der den ersten Wagen gefahren ist, der Tevin erwischt hatte. Im Gegensatz zu Tevin schien er, bis auf eine kleine Platzwunde über der rechten Braue, gänzlich unversehrt.

Am Ende mit den Nerven nickte ich einfach nur und folgte ihm, als er hinüber ging.

 

Vilija

Völlig panisch vor Angst saß ich neben Rin im Wartezimmer vor dem OP-Saal und stützte meinen Kopf an meinen Händen ab, während ich wartete. Und wartete. Und wartete.

Ich wusste, Andrew war ein fantastischer Arzt und vollbrachte täglich Dinge, die anderen Ärzten bei weitem seltener gelang. Das Risiko unter seinen Händen zu sterben war verschwindend gering. Dennoch bestand immer noch eine winzige Wahrscheinlichkeit, dass es passierte. Und diese noch so winzige Wahrscheinlichkeit jagte mir mehr Angst ein, als alles andere.

Was, wenn Tevin nicht überlebte?

Wieder schüttelte mich ein Schluchzen und Rin rieb mir aufbauend den Rücken, während Dani mir tröstende Worte zuredete.

„Er wird schon wieder. Du weißt doch, Drew lässt seine Familie nicht im Stich. Er würde eher sein eigenes Herz spenden, als ihn sterben zu lassen.“

Sie hatte Recht. Andrew würde tatsächlich lieber seine eigene Gesundheit gefährden, wenn das bedeutete einem Familienmitglied das Leben zu retten. Wir waren zwar nicht blutsverwandt, aber er war für mich immer wie ein Onkel, also wird er immer mein Onkel sein. Immerhin war er sogar mein Patenonkel.

Und trotz allem, trotz all der Fakten und Erfahrungen, trotz all der Tatsachen, bestand dennoch die Möglichkeit, dass Tevin starb, dass er nicht überlebte. Und diese Angst brachte mich schier um. Ich hatte das Gefühl, ich würde wahnsinnig vor Angst werden, als endlich die Türen des OP-Saals geöffnet wurden und Andrew heraus kam. Ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, aber es waren Stunden. Sehr viele Stunden. Sie Sonne war schon lange untergegangen und es waren kaum noch Menschen vor Ort. Und Drew sah so müde aus wie noch nie.

Als ich ihn sah sprang ich sofort auf. „Wie geht es ihm? Kommt er durch? Wie schlimm ist es?“

„Ganz ruhig.“, sprach er mit sanfter Stimme auf mich ein und entledigte sich seinem Mundschutz und den Handschuhen. Es sah so aus, als sei er sofort aus dem Saal gegangen. Überall war Blut. „Ich habe getan was ich konnte.“, hob er an.

Mein Herz krampfte sich einen Moment zusammen, voller Angst es könnte nicht genug gewesen sein.

„Da er gleich zwei Mal getroffen wurde, sind einige Knochen nicht nur einfach gebrochen. Sie haben sich auf absurde Weise in seinen Körper gebohrt. Es ist ein Wunder, dass seine Wirbelsäule unversehrt blieb.“ Er seufzte tief. „Es gab einen wirklich schlimmen Bruch am Beckenknochen. Der zweite Aufprall hat ihn durch seine Rückenmuskulatur und durch die Haut geschoben und dabei beträchtlichen Schaden angerichtet. Er hat sehr viel Blut verloren und bekommt immer noch eine Infusion. Ich habe jeden Knochen wieder an seinen Platz geschoben und mit Edelstahlschienen gerichtet. Neben dem Becken hatte er noch zwei Brüche im rechten Oberschenkel, einen im rechten Unterschenkel, einen im rechten Oberarm, einige in der rechten Hand und ein paar Rippen hat es auch erwischt. Außerdem hat er eine Schädelfraktur am Hinterkopf erlitten. Das ist vermutlich beim zweiten Aufprall passiert.“

„Eine Schädelfraktur?“, wiederholte ich wie betäubt.

Er verzog den Mund und entledigte sich dem Rest der OP-Kleidung. „Sie war nicht allzu schwer, aber wie schlimm sie genau ist, können wir leider erst sagen, wenn er wieder aufgewacht ist. Das dürfte nicht sehr lange dauern.“

„Also hat er es überstanden?“

Liebevoll lächelte er mich an. „Sein Zustand ist stabil. Momentan bekommt er noch-“

Er brach abrupt ab, als ich mich schluchzend in seine Arme warf und legte nur wenig später sanft die Arme um mich. „Ich hatte solche Angst.“

„Ich weiß. Und das zu Recht. Tevins Verletzung am Rücken, die durch den Hüftknochen verursacht wurde, war tödlich. Sie hat sich nicht einfach durchs Fleisch gebohrt, sondern auch eine Hauptschlagader durchtrennt. Noch vor wenigen Jahren hätte man ihn nicht mehr retten können.“

Fest klammerte ich mich an ihn.

„Aber jetzt ist es vorbei. Bald geht es ihm wieder gut. Okay?“

Da ich nicht in der Lage war mich von ihm zu lösen, nickte ich einfach nur.

„Na komm. Du sagtest, du möchtest ihn nach der OP sehen. Möchtest du nicht bei ihm sein, wenn er aufwacht?“

„Doch.“, brachte ich hervor und schaffte es irgendwie meine Finger lockern.

„Ich bringe dich hin.“

Immer noch leise schluchzend ließ ich mich von ihm durch die Flure zu Tevins Zimmer führen, wo er mich dann mit einem kleinen Kuss auf die Stirn allein ließ. Einen Moment stand ich einfach nur an der Tür, die Drew hinter mir geschlossen hatte, und sah zu dem noch schlafenden Tevin. Sein Kopf war in ein Verband gewickelt und sowohl sein rechtes Bein, als auch sein rechter Arm waren in Gips gehüllt, die Hand mit kompliziert aussehenden Schienen gerichtet und stabilisiert. Ich vermutete, dass er unter dem blauen Shirt ebenfalls ein Verband um seinem Brustkorb trug.

Tief durchatmend wischte ich mir einige Tränen weg und ging herüber zum Bett, um mich mit einem Stuhl an seine Seite zu setzen. Dann nahm ich seine gesunde Hand in meine und drückte sie kurz, ehe ich sie an meine Wange hob. An seinem Unterarm lag der Zugang, an dem eine Bluttransfusion hing, weshalb ich darauf achtete den Arm nicht zu sehr zu bewegen, um ihn nicht zu verletzen.

So saß ich eine Weile und sah ihn einfach nur an, während ich darauf wartete, dass er aufwachte. Doch je mehr Zeit verging, umso ruhiger wurde ich, auch wenn ich mich immer noch um ihn sorgte. Ich hörte mal von jemandem, der als Folge einer Schädelfraktur einige Jahre im Koma lag.

„Tevin.“, flüsterte ich und legte den Kopf auf seinen Bauch. „Wach bitte wieder auf.“

 

Als ich irgendwann aufwachte, fühlte ich mich innerlich leer und kalt. Mein Herz tat mir weh und ich wollte nichts anderes, als dass Tevin wieder aufwachte.

Als ich den Kopf hob, um nach ihm zu sehen, stellte ich fest, dass er regungslos mit nachdenklichem Blick an die Decke sah. Mein Herz machte einen Satz und ich sprang sofort auf.

„Tevin, du bist wach!“, kam es mir über die Lippen und spürte bereits die Tränen der Erleichterung in meinen Augen.

Dann sah er mich an. Es war nicht die Tatsache, dass er mich ansah, sondern eher wie. Ich hatte ihn schon in endlos vielen Situationen erlebt und doch hatte er mich nie mit diesem Blick angesehen. Mit solcher... Verwirrung und derartigem Unverständnis, als wüsste er nicht wovon ich sprach.

Hinter mir hörte ich die Tür, als Andrew eintrat. Offenbar hatte er mich gehört und wollte ihn nun untersuchen.

„Hallo Tevin.“, begrüßte er meinen Adoptivbruder mit einem Lächeln. „Wie geht’s dir?“

Tevins verwirrter Blick glitt von mir zu Drew, ehe er noch verwirrter aussah. „Ich...“, hob er an und sah sich um, als wüsste er nicht wo er war. „Wo...“ Dann sah er langsam an sich herab und er zog angestrengt die Brauen zusammen. „Was ist passiert?“, fragte er dann, „Und...“ Sein Blick glitt zu uns herüber, während ich, bereits ahnend, was mit ihm war, einen Schritt zurück machte. „Wer... Wer seid ihr?“

Langsam glitt das Lächeln aus Andrews Gesicht.

Der Schmerz, der mich mit einem Mal erfasste, traf mich mit ganzer Wucht. Es gab nichts wovor ich mehr Angst gehabt hatte, als Tevin erneut zu verlieren, doch dass er sein Gedächtnis verlor...

„Erinnerst du dich an irgendwas?“, fragte Andrew vorsichtig und warf mir einen besorgten Blick zu.

Erneut zog Tevin die Brauen zusammen, schien angestrengt nachzudenken.

„Kommt dir ihr Gesicht bekannt vor.“, fragte Drew weiter und legte mir eine Hand auf den Rücken, als ich erneut einen Schritt zurück machte.

Tevin öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, hielt aber inne und starrte mich lange an. „Ich... Ich weiß nicht.“ Er wollte die rechte Hand heben, hielt dann jedoch inne und sah zu seinem rechten Arm.

„Tevin.“, versuchte es Drew vorsichtig.

Langsam schüttelte dieser den Kopf und sah mich erneut an. „Ich weiß nicht. Ich glaub, ich hab sie irgendwann mal irgendwo gesehen, aber...“ Scheinbar versuchte er sich noch stärker zu konzentrieren. „Ich... kann mich wirklich nicht erinnern. Wer ist sie? Und wer sind Sie?“ Sein Blick glitt zu Drew.

Dieser jedoch sah zu mir und beobachtete, wie mir die Tränen in kleinen Bächen über die Wangen glitten. Einen Moment stand ich noch an Ort und Stelle, ehe ich mich auf dem Absatz herum drehte und aus dem Raum eilte. Im Flur hörte ich, wie einige Menschen aufstanden und mich ansprachen, doch ignorierte alle und lief weiter, den Flur hinab, hinaus aus dem Gebäude, einfach fort, soweit ich konnte.

Ich fühlte mich, als wäre ein Albtraum wahr geworden. Der einzige Mensch, der mir mehr bedeutete als alles andere war für immer fort. Er hatte sein Gedächtnis verloren und würde nie sein wie er mal war.

Er würde nie wieder der Tevin sein, der mit mir aufgewachsen war und mich so liebte, wie ich ihn.

Der Junge, der dort im Krankenhaus lag war ein Fremder, der nur aussah wie er.

Ich hatte ihn verloren.

Und diesmal würde er wahrscheinlich nicht wieder zurück kommen.

Kapitel 14

 

Ich fühle mich seltsam.

Ich blättere durch dieses Buch und lese jeden Eintrag,

doch es ist, als würde ich das Buch eines fremden lesen.

Bin ich das wirklich?

Ist mir diese Frau wirklich so wichtig?

Ich fühle mich,

als würde ich das Leben eines anderen leben.

– Tagebucheintrag von (Breda Amanar) Tevin McCoutney

 

zwei Monate später

Schweigend starrte ich auf meine Mahlzeit herab, stocherte darin herum, stützte meinen Kopf an meiner linken Hand ab und horchte lustlos den Gesprächen meiner Familie. Tevin saß neben mir und hörte aufmerksam zu, beteiligte sich aber kaum.

„Vilija, Liebes.“, hob Mom an und seufzte leise. „Hast du keinen Hunger?“

Ich sah kurz zu ihr auf. „Nicht wirklich.“, entgegnete ich, legte die Gabel weg, schob den Teller von mich und stand auf. „Tut mir leid, aber ich denke, ich werde hoch gehen. Ich muss noch dieses Bild fertigstellen.“

„Vilija-“

„Ist schon okay, Dad.“, unterbrach ich meinen Vater, ehe ich die Küche verließ.

In meinem Zimmer setzte ich mich an meinen neuen Zeichentisch. Dad hatte ihn irgendwann als Geschenk ins Zimmer gestellt, ohne es mir zu sagen. Nun saß ich hier, klemmte ein neues Blatt ein und starrte die weiße Seite an.

Der Schmerz saß immer noch tief. Gleichzeitig war ich wütend. Wütend auf dieses Mädchen, dass das Armband zerstörrt hatte. Wütend auf den Fahrer, der Tevin angefahren hatte. Ich war wütend auf Tevin, weil er sich nicht erinnerte und wütend auf mich, weil ich auf alles wütend war. Ich hasste das Schicksal und war wütend auf mein eigenes Leben.

Vor wenigen Jahren hatte ich noch gedacht, dass eine wunderschöne Zukunft mit Tevin ein realistischer Wunsch war, der sich in naher Zukunft erfüllen könnte. Doch mit jedem Tag, der verstrich, an dem Tevin nicht einmal den Schatten einer Erinnerung aufgriff, wurde mir immer klarer, dass dieser Wunsch von Anfang an nur ein Traum war.

Jeder wusste, dass Träume da waren, zu geträumt zu werden, nicht, um Realität zu werden.

Mit diesem Wissen griff ich nach einem meiner Bleistifte und begann zu zeichnen.

Seit über einem Jahr versuchte ich Tevin gehen zu lassen.

Nun blieb mir keine andere Wahl.

Es dauerte nicht lang, bis ich mich in der Zeichnung verlor. Mir wurde klar, was Veit verspürte, wenn er malte und konnte nun nachvollziehen, warum er es so gerne tat.

Ich fühlte mich, als würde alles um mich herum verblassen, während die Zeichnungen vor meinen Augen immer mehr Gestalt annahm. Die Körper, die Gesichter, die Augen, die mich anstarrten.

Irgendwann wichen den Körpern und Gesichtern Wälder. Toten Bäumen, verdorrten Seen, Bächen und Flüssen und verwesten Kadavern.

Ich nahm nur schwach am Rande wahr, dass jemand klopfte und murmelte ein dahingesagtes „Herein“, beachtete es aber nicht, als jemand eintrat.

„Vilija.“, ertönte einige Minuten später die Stimme von Tevin.

Abrupt hielt ich inne, mein ganzer Körper spannte sich an, verkrampfte sich beim Klang seiner Stimme. Die Spitze meines Bleistifts brach ab.

„Ja?“, brachte ich hervor, ohne mich zu bewegen.

„Du scheinst mir die einzige, die nicht mit mir redet.“, merkte er an, „Dabei sagt jeder, dass wir...“ Er beendete den Satz nicht, als wüsste er, dass es nur alles komplizierter machen würde. „Also, ich frage mich bloß, warum ausgerechnet du mich... ignorierst und mir aus dem Weg zu gehen scheinst.“

Der einzige Grund, warum ich noch in diesem Haus war, war der, dass Andrew die Vermutung geäußert hatte, er könne sich vielleicht eher erinnern, wenn wir ihm etwas vertrautes gaben. Wie zum Beispiel, dass alle unter einem Dach lebten, zusammen aßen, sich unterhielten...

Meine Hände zitterten, als ich den Stift weglegte und mich zu Tevin umdrehte.

„Was willst du wissen? Was soll ich dir erzählen?“, fragte ich ihn, „Ich glaube nicht daran, dass du dich erinnern wirst.“, gab ich zu, „Es ist, als würde ich es einem Fremden erzählen, der aussieht wie mein-“ Ich unterbrach mich selbst und wendete den Blick ab.

„Wie dein was?“, fragte Tevin und wollte sich einen Stuhl heran ziehen, hielt dann aber inne und sah auf den Boden, wo überall Zeichnungen lagen. „Stört es dich, wenn ich sie einsammle?“

„Tu, was du nicht lassen kannst.“, entgegnete ich daraufhin nur und seufzte tief. Ich rieb mir einen Moment die Augen, ehe ich ihm dabei zusah, wie er eine Zeichnung nach der anderen aufhob und sich jede einzelne ansah.

„Ich verstehe derzeit logischerweise nicht viel vom Zeichnen.“, hob er nach einer Weile an, „Aber die Bilder sehen wirklich... gut aus. So echt... und...“

„Detailreich.“, half ich nach.

„Ja.“

„Ich weiß.“, murmelte ich und nahm den Stapel Zeichnungen entgegen, den er mir reichte, legte ihn jedoch nur auf die Ablage neben dem Zeichentisch. „Also?“

Er zog sich den Stuhl heran und setzte sich. „Also was?“

„Was willst du wissen?“

Einen Moment zögerte er und dachte nach. „Ich weiß, dass wir nicht blutsverwandt sind. Trotzdem sind wir irgendwie Geschwister. Aber irgendwie auch nicht. Ich... verstehe das irgendwie noch nicht so ganz.“

Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du und ich, wir- Nein...“ Einen Moment schloss ich die Augen. „Tev... Tev und ich...“ Irgendwas in mir hinderte mich daran ihn als denselben Mann zu sehen, der er vor dem Unfall war. „Das erste mal traf ich ihn auf einem Flughafen. Ich war fünf.“ Nachdenklich glitt mein Blick zu Boden. „Wir wuchsen als Geschwister auf. Als Bruder und Schwester, die alles miteinander teilten, über alles miteinander sprachen und nie etwas ohne den anderen machten.“

„Wie bei... Zwillingen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Das, was wir hatten war etwas völlig anderes. Ich war 17, als ich feststellte, dass ich mich in ihn verliebt habe.“

„Ich nehme an, mir ging es genauso?“

„Ihm...“, korrigierte ich, verwirrt von dem Gedanken, er könne immer noch diese Gefühle hegen, wenn er sich nicht einmal an mich erinnern konnte. „Ihm ging es genauso, ja. Tev ist- Er war jedoch... Verwirrt von seinen eigenen Gefühlen und hat es erst viel später begriffen. Diese Liebe war etwas besonderes.“

Verwundert zog er die Brauen zusammen. „Ich würde denken, dass jede Liebe etwas besonderes ist.“

„Nein.“, entgegnete ich verbittert, „Ganz und gar nicht.“

„Was hast du an mir- Ich meine... an ihm... Was hast du an ihm geliebt?“

Einen Moment sah ich ihn sprachlos an. Dann erinnerte ich mich daran, wie er früher war und kam nicht umhin warm zu lächeln. „Einfach alles. Er behandelte mich immer, als wäre ich etwas besonderes. Er hörte mir immer zu, egal worum es ging, war immer für mich da und... er gab mir das Gefühl, er könne ohne mich nicht leben, als wäre ich ein lebenswichtiger Teil seines Lebens.“

„Ist das nicht erdrückend?“

„Nein. Nicht, wie er das tat. Er wollte nichts anderes, als mein Glück. Mein Lachen. Mein Lächeln. Er war nicht glücklich, wenn ich es nicht war und tat alles, um mich glücklich zu machen.“

Nachdenklich sah er mich eine Weile an. „Klingt sehr einseitig.“, gab er dann zu, „Er muss doch irgendwas gesehen haben, dass er so sehr geliebt hat, dass er all das wollte.“

„Das hat er mir nie gesagt.“, gab ich zu, „Für ihn war ich immer... Hoffnung. Ich nehme an, Mom und Dad haben dir die Geschichte erzählt.“

Er nickte.

Ich tat es ebenfalls. „Wir hatten eine Bindung, die über die von Bruder und Schwester weit hinaus ging. Er sagte mir mal, er könne es nicht ertragen, wenn ich mich von ihm abwenden würde.“

„Wenn er dich liebte, macht das doch durchaus Sinn.“

Ich schüttelte den Kopf. „So wie er es sagte, klang es, als würde allein er Gedanke bereits körperliche Schmerzen bei ihm hervorrufen.“

Nun zog er die Brauen wieder zusammen, lehnte sich zurück und sah mich einfach nur an. Irgendwann griff er sich an die Schläfe, wie früher, als hätte er Schmerzen. „So sehr ich es auch versuche.“, murmelte er, „Ich kann mich nicht erinnern.“

Mein Lächeln schwand langsam. „Das hab ich mir schon gedacht. Weißt du, als ich gesehen habe, wie ihn das erste Auto erfasst hat...“ Ich zupfte an nicht vorhandenen Fusseln an meiner Hose. „Ich dachte, er würde sterben.“

„Du hast es gesehen?“

„Ja. Das waren die schrecklichsten Minuten meines Lebens.“ Ich presste die Lippen aufeinander und sah zu ihm auf. „Dann bist du aufgewacht und ich wusste, die schlimmsten Minuten werden für den Rest meines Lebens andauern.“

Einen Moment sah ich Schmerz und so etwas wie Selbsthass in seinem Gesicht aufblitzen. Dann senkte er den Blick. „Verstehe. Es... ist für dich die reinste Qual.“

„Ich bin mir nicht sicher, was es ist.“, gab ich zu, „Bei diesem Unfall war mir klar geworden, dass ich nicht damit weiter leben könnte, wenn ich nicht versuchen könnte ihm zu vertrauen und uns nochmal eine Chance zu geben. Mir ist klar geworden, wie vergänglich das Leben ist. Ich-“ Ich schluckte schwer, als mein Hals begann auf Grund von unterdrückten Tränen zu brennen. „Ich habe ihn für immer verloren. Ohne meine Chance genutzt zu haben. Das einzige, was ich mir je von ganzem Herzen gewünscht habe, ist nun außerhalb meiner Reichweite.“

„Das... tut mir sehr leid.“

Ich atmete zitternd ein. „Dafür kannst du am wenigsten. Es sind ja deine Erinnerungen, die verschwunden sind, nicht meine.“

Bedauernd sah er mich an. „Ich würde mich gern erinnern.“, gestand er, „Ich fühle mich fremd, als würde ich im Körper eines anderen Menschen stecken. Ich kenne hier niemanden, kenne nicht mal meine eigenen Freunde. Ich weiß nichts über die Sachen in meinem eigenen Zimmer. Ich weiß nicht einmal, was ich am liebsten mag.“

„Mir ist klar, dass du natürlich von uns beiden das Opfer bist. Aber ich kann dir nicht helfen. So gern ich Tevin auch zurück haben möchte, ich kann ihn nicht zurück holen.“

Er nickte langsam. „Du leidest genauso unter meinem Gedächtnisverlust wie ich. Nur auf eine andere Art.“

„In einer Sache sind wir uns einig.“, merkte ich an, „Du bist hier fremd. Mein Bruder zwar, aber fremd.“

Er nickte langsam, woraufhin ich leise seufzte.

„Das bedeutet wohl...“, murmelte ich, „Dass dir jemand die Stadt zeigen muss.“ Tief seufzend rieb ich mir über die Stirn und murrte, als mein Mobi klingelte. Eine SMS. Ich holte mein Mobi hervor und sah mir die Nachricht an.

 

Ob du nun willst oder nicht, aber ich komme jetzt rein, auch wenn es mitten in der Nacht ist.

 

T.

 

Teddy...

„Bist du nicht müde?“, fragte Tevin mich.

Ich schüttelte langsam den Kopf. „Ich werde auch so bald noch nicht schlafen.“ Seit dem Unfall plagten mich Albträume, wenn ich überhaupt einschlafen konnte.

Ich hörte, wie unten die Tür geöffnet wurde. Schnelle Schritte auf der Treppe. Vor meiner Tür hielten sie inne, dann wurde die Tür geöffnet.

Teddy war allein, sah aus, als hätte er zwei Nächte nicht geschlafen und hatte einen Ausdruck tiefster Sorge im Gesicht.

„Vilija?“ Fragend sah er mich an, kam herein und sah dann verwirrt zu Tevin, ehe er die Tür hinter sich schloss. „Was ist los mit dir?“, fragte er mich dann, „Ich dachte erst, Tevin wäre vielleicht gestorben. Niemand sagt mir was los ist. Aber er sitzt hier quicklebendig.“

Schweigend sah ich zu ihm auf und er wusste, dass etwas nicht stimmte.

„Vilija...“, wiederholte er, „Was ist los?“

Tevin räusperte sich. „Ich ähm... Ich hab mein Gedächtnis verloren.“

Teddy starrte ihn an. „Wie bitte?“

„Ich erinnere mich an nichts. Nicht an den Unfall, nicht an sie... Ich weiß nicht einmal wer du bist.“

Fuck.“, kam es Teddy über die Lippen und er schloss die Augen. „Vilija-“

„Ist schon okay.“, unterbrach ich ihn, „Ich weiß es schon zwei Monate. Ich hab mich daran gewöhnt.“

Leise fluchend ging er zu meinem Bett und setzte sich, ehe er die Hände vor dem Mund verschränkte und zu Tevin sah. „Ich kann es irgendwie nicht glauben.“

Dieser sah lediglich zwischen Teddy und mir hin und her. „Seid ihr Freunde?“

Plötzlich erschöpft deutete ich auf Theodore. „Das ist Theodore Vencino, mein allerbester Freund und Freund deiner besten Freundin Evelyn.“

„Verstehe...“ Er rieb sich den Nacken. „Dann habe ich eine beste Freundin.“

Teddy stöhnte auf. „Ev wird durchdrehen, wenn ich es ihr sage.“

„Verstehst du jetzt, warum ich nicht mit dir gesprochen habe?“, fragte ich ihn, „Seit zwei Monaten.“

„Ja und ich bin auch froh, dass ich jetzt gekommen bin und nicht früher, sonst hätte ich Veit nicht davon abhalten können mitzukommen.“

Tevin sah uns fragend an.

„Noch ein sehr guter Freund und mein Ex.“, erklärte ich und winkte ab. „Er hat einen Freund.“

„Du meinst, eine Freundin.“, korrigierte Tevin.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Einen Freund.“

Daraufhin starrte er mich eine Weile an, ehe er nickte. „Okay.“

„Was sagt Andrew?“, wollte Teddy wissen, „Wann erinnert er sich?“

„Das steht in den Sternen. Ich vermute, gar nicht.“ Mit diesen Worten stand ich auf und ging ein wenig auf und ab.

Teddy beobachtete mich besorgt. „Vilija... Wie viel hast du in den letzten zwei Monaten geschlafen?“

„Im Durchschnitt?“ Ich schnaubte. „Eine Stunde vielleicht. Manchmal gar nicht.“

„Und wann hast du zuletzt geschlafen? Hast du deine Tabletten genommen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Vor drei Tagen oder so.“

„Du solltest dich hinlegen.“, riet mit Tevin, „Sonst kippst du noch um.“

„Ich bin nicht müde.“, log ich.

„Er hat Recht.“, merkte Teddy an, „Du musst schlafen.“

„Ich kann nicht schlafen.“, entgegnete ich darauf nur, setzte mich aber mit nervös zitterndem Bein neben ihn. „Und wenn ich schlafe, habe ich Albträume.“

Teddy atmete tief durch und rieb mir über den Rücken. „Okay. Dann werde ich morgen in die Apotheke gehen.“

Ich massierte mir den Nasenrücken. „Ich glaube nicht, dass Tabletten helfen.“, murmelte ich dabei.

Teddy schien jedoch bereits nicht mehr auf mich zu achten. „Wir sollten darüber nachdenken, wie wir dir helfen können deinen Erinnerungen zurück zu holen. Aber fürs erste sollten wir uns hinlegen. Ich bleibe über Nacht hier.“ Liebevoll streichelte er mir tröstlich über den Rücken.

„In Ordnung.“, kam es darauf von Tevin, „Dann gehe ich mal wieder rüber. Gute Nacht.“

„Nacht.“, murmelte ich, ehe Teddy ihm ebenfalls eine gute Nacht wünschte.

Dann verließ Tevin den Raum und Teddy zog mich in seine Arme. Die Anspannung fiel langsam von mir ab und Tränen traten in meine Augen.

„Ich habe ihn für immer verloren, Teddy.“

„Sag das nicht. Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass er sich irgendwann erinnert.“

„Seien wir doch realistisch. Das wird nie passieren!“

Er seufzte tief. „Selbst wenn das der Fall ist, im Grunde ist es doch trotzdem Tevin.“

„Ich weigere mich von ihm als der Tevin zu denken, den ich kannte.“

„Vilija-“

„Der Tevin, den ich kenne sieht mich nicht so an.“ Die Tränen begannen nun wieder über meine Wangen zu gleiten. „Mein Tevin liebt mich über alles und würde alles tun, damit es mir besser geht.“

„Vilija...“

„Er kann sich nicht mal an mich erinnern.“

„Aber es ist trotzdem Tevin.“

„Wenn er es ist, würde es das nur schlimmer machen.“

„Warum?“

„Weil das bedeuten würde, dass er nichts für mich empfindet. Nicht einen einzigen Funken Liebe. Das würde bedeuten, dass ich für ihn bedeutungslos bin.“

„Vilija-“

„Nein, Teddy. Das kann einfach nicht der Tevin sein, den ich kannte.“

„Du bist aber immer noch du. Tevin hat sich bereits einmal restlos in dich verliebt.“ Er küsste mich auf den Schopf. „Warum sollte er es nicht auch ein zweites Mal können?“

 

Egal wie sehr ich es drehe und wende,

egal wie sehr ich darüber nachdenke,

ich kann ihn einfach nicht als Tevin betrachten.

Für mich wird er nie so sein wie der Mann,

für den ich ausnahmslos alles tun würde.

Dieser Mann ist ein Fremder.

 

Ich wünschte, er wäre nie aufgewacht.

– Tagebucheintrag von Vilija Kemmesies

 

Tevin

Ich wusste irgendwie, dass es sich nicht gehörte anderen Menschen zu belauschen, doch diese Frau... Vilija... Seit ich nach meinem Aufwachen ihr Gesicht gesehen habe, musste ich immer wieder an diesen Blick denken. Ich wollte wissen, warum sie mich so ansah.

Ich hatte keinen Vergleich, weil ich mich an keine andere Frau erinnern konnte, doch... irgendwie wusste ich, dass sie eine außergewöhnliche Schönheit war. Irgendwas in mir schien sie wiederzuerkennen.

Während ich hier vor ihrer Zimmertür stand und ihrem und Theodores Gespräch lauschte, unterdrückte ich diesen seltsamen Drang wieder hinein zu gehen und sie zu trösten.

Aber weder hatte ich das Recht das zu tun, noch wusste ich, warum ich mir wünschte sie zu halten, bis sie aufhörte zu weinen.

Stattdessen wünschte ich mir, mich zu erinnern.

„Tevin McCourtney.“, murmelte ich vor mich her, „Wer auch immer ich war... ich wünschte, ich könnte mich erinnern.“

Als sie schließlich nur noch weinte und keiner von beiden mehr ein Wort sprach, ging ich in mein Zimmer und holte dieses seltsame Tagebuch hervor, in dem ich offenbar alles mögliche festgehalten hatte und las mir einen weiteren Eintrag durch.

 

Heute habe ich versucht herauszufinden was an Vilija so anziehend ist. Ich habe sogar Veit und Teddy gefragt, doch sie sahen mich nur an, als wäre ich blind.

Sie ist eine Augenweide.“, hatte Veit gesagt.

Ich bezweifle nicht, dass er sie, da er doch Künstler war, nur wegen ihres Aussehens, wegen ihrer Schönheit vergötterte.

Es ist Teddys Antwort, die mich nachdenken ließ.

Es ist ihr Naturell. Sie hat eine Ausstrahlung, wie ich sie sonst nie gespürt habe. Es ist ein bisschen als wäre sie ein Licht, das Motten anzieht.“

Ich habe lange darüber nachgedacht. Diana ist schrecklich eifersüchtig deshalb, aber es interessiert mich nicht, ob sie Vilija nicht leiden kann. Sie gehört in mein Leben, das muss Diana verstehen.

Es hat sehr lange gedauert bis ich es begriffen habe.

Vilija ist mein Licht. Ein Licht in tiefster Dunkelheit ohne Sterne oder Mond. In so vollkommener Dunkelheit.

 

Ich las mir diesen Eintrag drei Mal durch, verstand aber nicht, was ich damit ausdrücken wollte. Vilija hatte von Hoffnung gesprochen, nicht von Licht.

Seufzend blätterte ich die nächste leere Seite auf und griff nach einem Stift, ehe ich darüber nachdachte, was ich überhaupt schreiben könnte.

 

Die Einträge des Tagebuchs sind weiterhin ein Rätsel für mich, wie alles andere um mich herum. Ich habe Vilija gebeten mir von sich und mir zu erzählen, aber ich verstehe nicht, warum ich sie so geliebt habe.

Sie sprach von Hoffnung, aber im Tagebuch lese ich nur von einem Licht.

All das ist verwirrend, wie meine unerklärlichen Bedürfnisse ihr gegenüber.

Erst heute verspürte ich diesen unvergleichlichen Drang sie in die Arme zu schließen. Ich verstehe es einfach nicht.

 

Am nächsten Morgen ging ich zur Frühstückszeit hinunter. Ich verstand nicht warum, aber mich plagten dieselben Schlafprobleme wie Vilija.

„Guten Morgen Tevin.“, begrüßte mich Mom.

Ich lächelte sie unsicher an. „Guten Morgen.“ Als ich mich setzte, stellte sie mir einen Teller mit einem seltsamen Gericht hin. „Was ist das?“

„Koldunai.“, antwortete sie, „Ich weiß, du erinnerst dich nicht, aber es ist dein Lieblingsfrühstück.“

Ich besah mir die Teigtaschen eine Weile in der Hoffnung mir käme irgendwas vertraut vor, doch das Gefühl blieb weiterhin aus. Frustriert begann ich zu essen und stellte mich Überraschung fest, dass diese Teigtaschen verdammt lecker waren.

„Morgen.“, murrte Vilija, als sie, begleitet von Theodore, den sie immer Teddy nannte, die Küche betrat.

„Guten Morgen. Hallo Theodore.“

„Guten Morgen Mrs. Kemmesies.“

Verwirrt zog ich die Brauen zusammen. Mir war bisher nie so richtig aufgefallen, dass meine Familie einen anderen Nachnamen hatte als ich.

„Mom.“, hob ich verwundert an.

„Ja?“ Sie sah mich fragend an.

„Warum... Warum habe ich eigentlich einen anderen Nachnamen?“

„Oh, nun...“ Sie verzog etwas den Mund. „Als Levin und ich dich adoptierten hielten wir es für eine gute Idee, wenn du deinen Namen behalten würdest, weil wir dachten, dass deine Eltern dich so vielleicht leichter finden würden, wenn sie dich suchen.“

„Verstehe.“

Vilija setzte sich mit Theodore gegenüber von mir und lächelte leicht, als sie sah, was es zu essen gab.

„Das ist lieb von dir, Mom.“, bemerkte sie, als die beiden ihr Frühstück bekamen.

„Naja, ihr seht beide sehr erschöpft aus, da dachte ich mir, ich mache euch euer Lieblingsfrühstück, damit ihr etwas zu Kräften kommt.“

Also isst sie es auch sehr gern. Langsam weiter kauend sah ich auf meine Mahlzeit herab. Wenn ich so drüber nachdachte, fiel mir auf, dass all die Dinge, die ich probiert hatte, mir aber nicht geschmeckt hatten, Dinge waren, die auch Vilija nicht aß. Entweder ist das ein riesiger Zufall oder ich bin mehr von ihr Abhängig, als das Tagebuch es hergibt.

Ich war mir nicht sicher, wie sehr mir das gefiel.

„Alles in Ordnung, Tevin?“, fragte mich Mom.

„Ja.“, entgegnete ich darauf sofort und winkte ab. „Ich habe bloß nachgedacht.“

„Okay. Wenn du etwas wissen möchtest, dann frag einfach.“

„Mach ich.“

„Wo ist Dad?“, fragte Vilija und sah zur Küchentür. „Und Cyntia.“

Mom seufzte, als wäre sie furchtbar müde. „Cyntia ist heute Nacht aufgewacht und hat über Bauchschmerzen geplagt. Levin ist mit ihr ins Krankenhaus gefahren.“

„Warum ist Drew nicht einfach hergekommen?“

„Weil es einen Notfall in der Notaufnahme gab. Hausbrand.“

„Oh.“

Mir fiel auf, dass sie noch nicht viel gegessen hatte und das Essen bereits wieder herum schob, wie sie es bereits die letzten Wochen tat. „Isst du eigentlich immer so wenig, Vilija?“

Als würde ihr erst jetzt auffallen, was sie da tat, hielt sie inne und schloss kurz die Augen. „Eigentlich nicht.“

Sie wirkte seltsam angespannt. Tatsächlich glaubte ich, sie noch nie entspannt gesehen zu haben.

Mit einem Mal hatte ich diesen seltsamen Drang sie zu trösten, verstand aber nicht warum. Sie machte auf mich keinen traurigen Eindruck. Sie wirkte eher... erschöpft. Sie hatte abgenommen und war blasser geworden.

Als mein Herz plötzlich begann seltsam weh zu tun, hielt ich mit Kauen inne. Es schien fast so, als... Nein. Es tut mir nicht weh, dass es ihr schlecht geht. Wie soll es auch? Dennoch ließ dieser seltsame Schmerz nicht nach, der sich anfühlte, als würde sich etwas kaltes um mein Herz legen und langsam zudrücken.

Vorsichtig aß ich weiter, machte mir Sorgen, es könnte sich verschlimmern, wenn ich zu schnell aß. Dabei fiel mir auf, dass mein Appetit plötzlich nachgelassen hatte, als hätte mir jemand in den Bauch geschlagen. Überaus verwirrt von meinem eigenen Körper starrte ich auf das Essen herab.

„Tevin, ist wirklich alles in Ordnung?“, fragte Mom erneut.

„Ich... bin mir nicht sicher.“, murmelte ich, „Ich glaube schon, aber... Ich weiß auch nicht, mir... ist der Appetit vergangen.“

„Stimmt etwas nicht mit dem Essen?“

Theodore, der bereits fast fertig war, schüttelte den Kopf. „Es ist hervorragend.“

Mom lächelte ihn an. „Danke, Theo.“ Dann sah sie wieder zu mir. „Beschäftigt dich etwas? Außer deinen Erinnerungen.“

Alles. „Nein, ist schon in Ordnung. Ich... gehe an die frische Luft, vielleicht hilft das etwas.“

„In Ordnung. Ich stell es dir beiseite.“

Ich nickte daraufhin nur, stand auf und verließ die Küche, ging durch den Flur rüber ins Wohnzimmer und von dort in den Garten, wo ich erst einfach nur stehen blieb und ihn mir ansah. Dann fiel mein Blick fasziniert auf das Baumhaus, woraufhin ich herüber ging und den Eingang suchte. Als ich ihn nicht fand, stand ich einfach nur darunter und sah ihn mir an.

„Ich habe die Strickleiter abgenommen.“, hörte ich hinter mir Dads Stimme.

Ich drehte mich überrascht um. „Hallo Dad.“

Er lächelte schräg und kam herüber, steckte die Hände in die Hosentaschen. „Als ihr das Baumhaus nicht mehr betreten habt, habe ich die Strickleiter abgenommen. Cyntia hatte nie Interesse daran und Enio ist noch zu klein.“

Ich sah wieder hinauf. „Das ergibt natürlich Sinn. Sind Vilija und ich oft dort oben gewesen?“

„Nicht sehr oft. Vilija hatte immer Angst allein hinunter zu gehen. Du musstest sie immer erst trösten, weil sie fürchterlich geweint hat, wenn sie es versucht hat.“

„War ich es nie leid?“

„Ganz und gar nicht. Du hast es geliebt an ihrer Seite zu sein. Du bist ihr auf Schritt und Tritt gefolgt. Und du hast immer gewusst, wenn du weggehst, würde sie dir folgen. Zusammen ward ihr immer ruhig.“

„Ich verstehe das immer noch nicht.“, gab ich zu, „Wie sie mir so wichtig sein konnte.“

Er lächelte traurig. „Sie war deine Hoffnung, Tevin. Dein Licht in der Dunkelheit.“

„Ich erkenne keinen Zusammenhang.“

Einen Moment starrte er mich an. Dann schloss er die Augen und lächelte amüsiert. „Natürlich nicht. Als Kind hattest du furchtbare Angst im Dunkeln. Ich weiß nicht, wie es jetzt ist, aber vor dem Unfall mochtest du Dunkelheit immer noch nicht.“

„Ich habe Angst im Dunkeln?“, wiederholte ich verdutzt.

„Nur noch ein wenig. Du fühlst dich unwohl, das ist alles.“

Das sollte ich nachprüfen. „Und... Vilija?“

„Ist dein Licht im Dunkeln. Oder war es zumindest.“

Es dauerte einen Moment, ehe ich begriff. Allerdings verstand ich danach immer noch nicht warum.

„Du siehst nicht sehr zufrieden aus.“

„Ich... begreife es einfach nicht.“, gab ich zu, „Man erklärt es mir und ich lese es in meinem eigenen Tagebuch, aber ich verstehe es einfach nicht. Gibt es so etwas wie bedingungslose Liebe?“

Er lachte leise. „Ich glaube nicht. Wir vermuteten, dass sie dir wegen deiner Kindheit so wichtig war. Du weißt schon, der Flughafen und all das.“

„Das erklärt die Abhängigkeit, aber nicht die Liebe.“

„Tevin, nichts kann die Liebe erklären.“ Sein Blick glitt zum Haus. „Ich liebe Violeta so sehr, dass es fast weh tut und würde alles für sie tun. Aber wenn ich daran denke, was in unserer Jugend passiert ist, verstehe ich selbst nicht, wie ich es geschafft habe, sie für mich zu gewinnen.“

Ich seufzte. „Ich dachte, wenn ich das verstehe, könnte ich vielleicht verstehen, warum ich immer den Drang habe sie... zu trösten.“

Dad sah mich bedeutungsvoll an, ehe er den Mund verzog. „Das ist Zuneigung, mein Sohn. Sie bedeutet dir etwas und du spürst, dass es ihr nicht gut geht.“

Besorgt zog ich die Brauen zusammen und sah zu Haus, wie er vor wenigen Momenten. „Ich verstehe, dass sie unter meinem Gedächtnisverlust leidet, aber... so sehr?“

„Glaub mir, wenn ich Violeta verlieren würde-“ Er hielt inne, als würde ihm bereits der Gedanke weh tun. „Ich wüsste nicht, was ich tun sollte. Sie ist alles für mich. Und das war Vilija auch für dich.“

„Aber warum erinnere ich mich nicht daran? Wenn es mir so wichtig ist... sollte ich dann nicht wenigstens irgendwas fühlen?“

„Aber das tust du doch.“

Verwirrt sah ich ihn an.

„Du verspürst immer noch den Drang sie zu trösten und zu beruhigen. Du willst immer noch, dass es ihr besser geht.“

„Aber warum? Ich... kenne sie nicht, ich liebe sie nicht, ich-“

„Nur weil dein Verstand sich nicht erinnert, heißt das nicht, dass dein Körper es nicht tut.“, unterbrach er mich sanft.

„Mein Körper...?“ Weiterhin verwirrt dachte ich eine Weile darüber nach, ehe ich wieder zum Haus sah. „Dieser Schmerz in der Brust.“, murmelte ich und rieb mir über die Brust. „Er ist immer noch da.“

 

Ich hatte noch einige Stunden im Garten verbracht und mir Geschichten von Dad angehört, ehe er mich dort allein gelassen hatte. Bis zum Abendessen hatte ich dann im Wohnzimmer gesessen und über die Dinge nachgedacht, die Dad mir erzählt hatte.

Als ich nun in die Küche ging, um zu Abend zu essen, stellte ich fest, dass Vilija nicht da war.

„Sie schläft.“, erklärte Dad auf meinem Blick hin.

Nachdenklich blieb ich stehen und sah auf ihren leeren Patz. Dann drehte ich mich um und verließ die Küche wieder.

„Tevin?“ Mom folgte mir bis zur die Küchentür. „Möchtest du nicht essen?“

„Ich esse später.“, antwortete ich, bereits auf der Treppe.

Ich wusste noch nicht genau, was ich hier eigentlich tat. Es war ein unwiderstehlicher Drang, der mich zu ihr führte. Um sicher zu gehen, ob sie nicht vielleicht doch noch wach war, klopfte ich zaghaft, ehe ich leise die Tür ihres Zimmers öffnete und herein sah. Mein Herz blieb bei diesem Anblick beinahe stehen.

Als ich sie das erste Mal sah, war sie verweint und traurig. Danach hatte ich sie lediglich mit diesem finsteren angespannten Blick gesehen. Doch nun war sie vollkommen entspannt. Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht Richtung Zimmer gedreht.

Ich merkte erst, dass ich ihr Zimmer betreten und die Tür geschlossen hatte, als ich mich direkt neben ihr Bett kniete und die Hand nach ihr ausstreckte.

Sofort zog ich die Hand zurück, wollte nicht riskieren sie zu wecken und sah sie einfach nur an. Ihr Shirt war ein gutes Stück hoch gerutscht und entblößte ein Tattoo auf ihren Rippen auf dem Rücken. Es war lediglich mein Vorname umrandet von Worten in einer anderen Sprache. Eine Sprache, die mir bekannt vorkam.

Aš esu jūsų dalis.

Jūs esi mano dalis.

Ich wusste nicht, was es hieß, aber es schien ihr sehr viel zu bedeuten. Die Schrift selbst war so filigran und künstlerisch gestaltet, dass ich mir sicher war, dass sie die Vorlage selbst gezeichnet hatte.

Haben die Sätze vielleicht mit mir zu tun?

Unwillkürlich streckte ich die Hand aus und berührte das tiefschwarze T meines Namen. Allein das Wissen, dass sie meinen Namen auf ihrem Körper trug, ließ mein Herz noch mehr schmerzen als zuvor. Ich seufzte leise und sah wieder auf in ihr Gesicht. Als mich plötzlich das gewaltige Verlangen überwältigte sie zu küssen, hielt ich den Atem an und ließ mich zurück sinken.

Es war nicht abzustreiten, dass sie eine Schönheit war. Keine Frage. Sie war auch sehr attraktiv, das erkannte ein Blinder. Und doch verstand ich nicht, warum das Verlangen sie zu küssen, so unglaublich groß war. Sie war immer noch fremd für mich, auch wenn ich seit einigen Wochen mit ihr im gleichen Haus wohnte. Sie sprach kaum mit mir, sah mich selten an.

Leise seufzend stand ich auf und verließ leise ihr Zimmer. Als ich aufsah, stand ich Theodore gegenüber. Schweigend sah er mich eine Weile an, ehe er den Flur herab sah.

„Was hast du in ihrem Zimmer gemacht?“, wollte er wissen und sah mich wieder an.

„Ich hab versucht etwas zu verstehen.“

„Hast du es geschafft?“

„Nein. Stattdessen habe ich noch mehr Fragen, die keiner beantworten kann.“ Frustriert ah ich an ihm vorbei und starrte an die Wand. „Kannte mich denn keiner?“

Er lachte auf. „Wenn dich keiner gut genug kannte, dann musst du verdammt viel für dich behalten zu haben, denn besonders Vilija dachte, sie würde dich besser kennen als alle anderen.“

„Was weißt du über mich?“

Er starrte mich einen Moment an, ehe er lange ausatmete und sich etwas wand. „Manchmal hatte ich fast das Gefühl, du wärst von ihr wie besessen. Du hast sie geliebt, wie kein anderer und war sogar an ihrer Seite, als sie nicht mit dir zusammen sein wollte. Als sie es nicht ertragen konnte.“ Nachdenklich betrachtete meine Schulter, als müsste er sich auf einen Punkt fixieren, um sich besser konzentrieren zu können. „Du warst ein klasse Kerl. Eigentlich. Es gab nichts wichtigeres als ihre Gefühle, als ihr Glück, auch wenn das für dich bedeutete dich von ihr fernzuhalten. Trotzdem warst du immer genau dann da, wenn sie dich brauchte. Als würdest du es spüren. Naja fast immer.“ Er seufzte tief. „Wie soll ich sagen? Wie alle anderen hier bist du mit Englisch und Litauisch aufgewachsen. Außerdem hast du rumänische Eltern. Du bist sehr besitzergreifend gegenüber Kerlen, die sich Vilija zu sehr nähern, wenn du mit ihr zusammen warst, konntest dich aber zügeln, wenn das nicht der Fall war. Du hast, wenn ich so drüber nachdenke, nur einen riesigen Fehler gemacht und den hast du so sehr bereut, dass...“ Zögerlich senkte er den Blick auf den Boden. „Evelyn erzählte mir, dass du vor hattest ihr einen Antrag zu machen, um ihr zu zeigen, wie viel sie dir bedeutet. Und um ihr Sicherheit zu geben.“

„Ich... wollte sie... heiraten?“ Fassungslos starrte ich ihn an und dachte erneut über diese Gefühle nach, die sich ständig in mir regten.

„Ja. Ev bewahrt für dich den Ring auf. Du sagtest, du wartest nur noch auf den geeigneten Moment.“

„Aber... Wir sind doch erst 21 und 22 Jahre alt.“

„Wie gesagt, du hast sie geliebt. Und zwar... abgöttisch. Mir fällt kein besseres Wort ein, um es zu beschreiben. Wenn ihr euch angesehen habt, war es fast so, als könnte man es sehen. Es berühren.“

„Was?“

„Eure Verbindung.“ Er lächelte schräg und lachte leise. „Keiner von euch war je glücklicher als in den Momenten, in denen ihr zusammen ward. Nie.“

Mit diesen Worten griff er an mir vorbei nach der Tür und betrat Vilijas Zimmer, schloss hinter sich wieder die Tür. Das letzte Wort hing noch seltsam präsent in der Luft, blieb mir noch so fest in Gedanken, dass ich nur mit Mühe an etwas anderes denken konnte.

Langsam glaubte ich zu verstehen, wie tief diese Gefühle gegangen waren. Nun hatte ich auch das Gefühl zu verstehen, warum mich trotz des der verlorenen Erinnerungen weiterhin diese Bedürfnisse quälten.

Nun sollte ich versuchen irgendeine Verbindung zu meinen Träumen zu finden.

Nachdenklich ging ich die Treppe hinab, um zu Abend zu essen.

 

drei Tage später

Resigniert folgte ich Vilija und Theodore in die Wohnung, in der die zwei offenbar wohnten und sah mich beiläufig um.

„Sieht hübsch aus.“, bemerkte ich kurz darauf.

Vilija sah mich nur einen Moment an, dann wendete sie sich wieder ab und ging in eines der Zimmer.

Theodore seufzte still. „Sie kommt nicht so gut damit zurecht. Gib ihr noch etwas Zeit.“

„Wenn du das sagst.“ Ich begutachtete einen Moment ein Gemälde, das neben der Tür an der Wand hing. Das Motiv war Vilija. Und ich hatte sie noch nie so fröhlich gesehen. Ich spürte, wie sich mein Herz schmerzhaft zusammen zog und wünschte mir unwillkürlich, sie würde wieder so lächeln, wie auf dem Bild.

„Tevin!“

Bei dem weiblichen Ausruf wendete ich überrascht den Blick ab und sah zu der Frau herüber, die nun auf mich zu eilte.

Das muss Evelyn sein.

Diese prallte mit einer überraschenden Wucht gegen mich und schlang fest die Arme um mich. Einen Moment stand ich nur unschlüssig da, legte ihr dann aber eine Hand auf den Rücken und sah zu Theodore.

„Du weißt, was ich dir erzählt habe.“, merkte dieser an und streckte die Hand nach seiner Freundin aus.

Diese löste sich jedoch im nächsten Moment von mir und sah zu mir auf. „Erinnerst du dich wirklich nicht?“

Lange sag ich sie an, suchte nach irgendwas, das mir bekannt vor kam. Dann holte ich tief Luft. „Nein.“

Die darauffolgende Ohrfeige kam so plötzlich, dass ich mich einen Moment nicht bewegte.

„Wie kannst du es wagen dich nicht an deine beste Freundin zu erinnern?!“, schrie sie mich an.

Verdutzt fasste ich mir an die Wange und sah auf sie herab. „Das... Wie bitte?“

Sie stieß mich an. „Erst lässt du es zu, dass du überfahren wirst und dann erinnerst du dich einfach nicht! Ich fasse es nicht. Du sagtest, du hättest vor mir ein unglaubliches Geburtstagsgeschenk zu machen. Das kann ich nun bestimmt vergessen.“

Theodore verkniff sich ein lachen, woraufhin sie ihm gegen die Schulter boxte. Als er sich daraufhin nicht mehr zurück halten konnte, schlug sie ihn erneut, bis er ihre Hände festhielt.

„Lass das.“, lachte er amüsiert.

„Das ist nicht komisch.“, fuhr sie ihn an, doch ihn schien es nicht zu stören. „Hier steht ein völlig verwirrter Tevin, der alles vergessen hat, was ihm lieb und wichtig ist. Und du lachst mich aus.“

„Das verstehst du falsch.“ Doch sein Lachen galt eindeutig ihr.

„Wir müssen ihm umgehend helfen sich zu erinnern. Ich werde mit Veit sprechen, er hat sicher hunderte Bilder von den beiden, die Tevin sich ansehen kann.“

„Du kannst tun was du willst.“, hob ich an, „Ich habe mir schon sehr viele Bilder angesehen, aber ich erinnere mich nicht.“

„Halt den Mund!“, fuhr sie mich daraufhin an und boxte mich ebenfalls.

Wie um mich zu warnen, bedeutete Theodore mir zu schweigen, als Ev gerade nicht hinsah.

„Vilija und ich werden uns schon darum kümmern.“, besänftigte er sie, „Wir haben schon angefangen Pläne zu machen. Du musst dich um etwas anderes kümmern.“

„Und das ist?“, wollte sie wissen und sah ihn finster an. „Warum darf ich nicht helfen?“

Er beugte sich zu ihr herab und flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie die Hände in die Luft warf und davon rauschte. „Männer.“, schimpfte sie dabei aufgebracht vor sich her, protestierte glücklicherweise aber auch nicht mehr.

„Tut mir leid.“, entschuldigte sich Theodore, „Ich hätte dich vielleicht vorbereiten sollen.“

„Ist schon in Ordnung.“

Eine der anderen Türen ging auf und ein Kerl streckte den Kopf heraus. „Ist die Luft rein? Ist sie weg?“

Theodore lachte erneut leise. „Ja.“

„Gott sei Dank.“ Er zog die Tür weiter auf und kam, gefolgt von einem anderen Kerl, aus dem Zimmer. Hinter ihnen sah ich nichts als Bilder. „Seit der Sache mit der Abtreibung ist sie so-“

„Nein, sie war schon immer so.“, unterbrach Theodore ihn.

Als die beiden bei uns waren, lächelte der eine der beiden Kerle mich erleichtert an. „Hallo Tevin. Ich bin echt froh, dass es dir gut geht.“

Zögerlich betrachtete ich die zwei. „Und wer seid ihr? Noch mehr Freunde?“

„Oh, ähm... Ja! Ich bin Veit. Wir verstehen uns sehr gut.“

„Lügner.“, merkte Theodore amüsiert an und sah zu mir. „Du bist immer noch sauer auf ihn, weil er was mit Vilija hatte. Aber du willst ihn nicht mehr am laufenden Band verprügeln.“

Veit rollte mit den Augen. „Spielverderber.“ Er griff nach der Hand des Mannes hinter ihm. „Das hier ist Travis.“

Er nickte mir lächelnd zu. „Schön zu sehen, dass es dir wieder gut geht. Wobei gut wahrscheinlich relativ ist.“

„Ja.“, stimmte ich zu und verzog ein wenig den Mund. „Und ihr beiden seid zusammen, wenn ich das richtig verstanden habe?“

Nun begann Veit richtig zu lächeln. „Ja. Es sind nun fast drei Monate.“

Travis biss auf seinen Lippenpiercing und lächelte ebenfalls.

„Wo ist eigentlich Vilija hin?“, wollte Veit wissen und sah zwischen mir und Theodore hin und her.

„Sie ist in ihr Zimmer gegangen.“ Theodore deutete auf die Tür, hinter der Vilija verschwunden war. „Warum?“

„Ich wollte ihr mein neustes Bild zeigen. Wie geht’s ihr?“

Theodore verzog das Gesicht. „Nicht gut.“

Veit sah ihn einen Moment stumm an. „Wie bitte?“

„Ihr geht’s sehr schlecht.“

Nun stöhnte er auf, schloss die Augen und ließ die Schultern sinken. „Nicht zu fassen. Da haben wir es fast geschafft, sie glücklich zu machen und dann... Das.“

Travis ließ seine Hand los und legte sie ihm auf den Rücken. „Das wird sicher wieder.“

„Natürlich wird das wieder.“, stimmte Veit zu, „Aber ich hatte meinem Manager eine neue Kollektion versprochen. Eine Kollektion, in der sie lächelt. Sie muss dafür lächeln.“

„Dann ruf ihn an und sag ihm, dass sie nicht lächeln wird.“

„Aber ich kann nicht wieder eine Ausstellung machen, in der nur Bilder sind auf denen sie traurig ist. Das ist als würde ich jeden Tag dasselbe essen.“

„Warum malst du zur Abwechslung nicht jemand anderen?“

Veit sah ihn an, als hätte er ihm vorgeschlagen den Beruf zu wechseln und öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als Vilija aus ihrem Zimmer kam. Ihr Gesicht hellte sich etwas auf. „Veit! Du musst mir helfen. Ich muss Comics zeichnen.“ Sie fuchtelte mit den Hände herum. „Comics!“

Verdutzt zog Veit die Brauen zusammen. „Comics? Wie soll ich dir da helfen?“

„Sag mir bitte, dass du das kannst. Ich dachte, du zeichnest Mangas.“

„Das ist Jahre her.“ Er rieb sich den Nacken. „Und die sehen auch etwas anders aus als Comics.“

Missmutig verzog sie das Gesicht und ging wieder in ihr Zimmer.

„Das Studium fordert sie gerade ganz schön.“, bemerkte Theodore halblaut.

Veit nickte nur.

„Was studiert sie denn?“, fragte ich neugierig.

„Kunst und Spielentwicklung.“

„Spielentwicklung?“, wiederholte ich verwundert.

„Game Arts.“, ergänzte er, „Das dreht sich hauptsächlich um die graphischen Designs.“

Ich schnaubte amüsiert und lächelte. „Alles drehst sich bei ihr um Kunst.“, bemerkte ich dann, „Ihr Studium, ihre Ausbildung, ihr Beruf, ihr Hobby. Sogar ihre Freunde.“ Ich seufzte tief und sah auf die Tür zu ihrem Zimmer. „Vielleicht sollte ich wieder gehen.“, sinnierte ich dann, „Ich glaube...“ Tief atmete ich ein und sah zu Theodore auf. „Ich glaube, ich habe eigentlich gar kein Platz in ihrem Leben. Ich passe nicht hier her.“

Verwirrt sah dieser mich an. „Was meinst du?“

„Ich weiß nicht, wie ich vorher war. Vielleicht hat es da gepasst. Aber nun... Ich bewundere ihre Werke zwar, aber... Ich habe nicht das Gefühl, dass ich an ihre Seite gehöre. Sie ist eine großartige Künstlerin, dafür geschaffen, Dinge zu erschaffen. Und ich bin... eine leere Hülle. Ich weiß kaum, was ich wirklich mag und was nicht und ich befürchte, wenn ich mich zu sehr von ihr beeinflussen lasse, wäre ich am Ende nur ein weiteres ihrer Kunstwerke.“

„Aber... sie hält sich doch von dir fern.“, merkte Theodore an.

Ich verzog leicht den Mund. „Bisher ja. Und jetzt bin ich ihr sogar irgendwie dankbar. Ich habe keinerlei Bindungen zu irgendwem und die Bindungen, die die Menschen hier zu mir haben, hängen an einem Menschen, der mit meinen Erinnerungen verschollen ist. Ich glaube, ich sollte für eine Weile gehen und-“

„Moment.“, fuhr Veit dazwischen, „Du willst gehen?“ Er schloss die Augen, als hätte ihn die Nachricht irgendwie schockiert. „Jetzt, da... Ich meine... Du bist ja irgendwie gerade erst zurück gekommen.“

Ich zog die Brauen zusammen. „Ich bin bereits vor zwei Monaten aus dem Krankenhaus entlassen worden. Ich wusste nichts von euch, sonst wäre ich schon früher hergekommen.“

Er schüttelte bereits den Kopf, ehe ich ausgeredet hatte. „Ich spreche von den zwei Jahren davor.“

Travis zog verwirrt die Brauen zusammen. „Aber das ist doch bereits ein paar Monate her.“

„Was sind drei, vier Monate im Vergleich zu zwei Jahren.“, murmelte Theodore, „Mal im Ernst, es setzt Vilija schon genug zu, dass du dein Gedächtnis verloren hast. Ich glaube, wenn du ganz gehen würdest, würde das ihre Hoffnung vollends zerstören.“

Zweifelnd sah ich ihn an. „Ich denke, Vilija weiß genauso gut wie ich, dass ich mich nicht erinnern werde, egal was wir versuchen.“

„Wir haben noch nicht alles versucht.“, hob Theo an, „Wir könnten-“

„An die Orte gehen, an denen ich häufig war?“, unterbrach ich ihn, „Ich habe mein ganzes Leben offenbar in diesem Haus gelebt und konnte mich nicht einmal daran erinnern in welchem Zimmer ich geschlafen habe. Jetzt, nach zwei Monaten, nachdem man mir lang und breit meine Lebensgeschichte vorgetragen hat, denke ich, dass...“ Ich bemerkte Vilija, die gerade wieder ihre Zimmertür geöffnet hatte. Sie trug einen Karton in den Armen und sah uns überrascht an.

„Ihr steht ja immer noch da.“, bemerkte sie, „Könnt ihr euch nicht wenigstens hinsetzen? Es ist ja nicht so, als hätten wir keine Couch oder so. Oder Stühle.“

Veit sah resigniert zu mir herüber und klopfte mir auf die Schulter, während Travis bereits zur Couch ging.

„Was hast du da?“, fragte er, während Vilija den Karton auf den Couchtisch stellte.

„Zeug.“, entgegnete sie murrend, „Teddy ist offensichtlich so nett gewesen mir Keanus Paket ins Zimmer zu stellen.“ Sie bedachte ihm mit einem bedeutungsvollem Blick. „Nur erwähnen konnte er es offenbar nicht. Ich habe es eben erst gesehen.“ Sie wendete sich wieder dem Karton zu, woraufhin Veit, Theodore und ich nun auch herüber gingen. „Keanu hat uns allen etwas geschickt.“ Das Erste, was sie aus dem Karton hervor holte, war eine dieser Wackelfiguren. Eine Hula tanzende Frau. „Das ist wohl ganz offensichtlich für Veit.“

„Für mich?“, wiederholte er, „Bist du sicher?“

Sie drehte ein Schild um, das der Tänzerin um den Hals hing und auf dem groß Veits Name stand. „Ja, bin ich.“

„Dein Ex ist furchtbar, weißt du das?“

Sie grinste ihn an. „Du solltest ein bisschen mehr Selbstvertrauen haben. So schlimm bist du nicht.“

Theodore begann zu lachen, woraufhin Veit die Augen verdrehte. „Was ist für mich drin?“, wollte Theodore dann neugierig wissen. „Eine Blumenkette?“

„Nein, die ist für Ev.“, widersprach Vilija und reichte Theodore eine bunte Blumenkette. Dann holte sie einen Fotoapparat hervor. „Eine Einwegkamera.“, bemerkte sie und sah sie sich etwas an. „Offenbar ist der Film schon voll...“

„Wow.“, murmelte er und zog eine Braue hoch. „Eine benutzte Einwegkamera.“

Sie zuckte die Schultern. „Vielleicht schenkt er dir ja die Bilder.“

„Super.“, murmelte er.

„Bist du sicher, dass du die Geschenke nicht vertauscht hast?“, fragte Veit und zeigte auf die Kamera.

Sie wedelte bloß mit der Hand, als sei er eine lästige Fliege. „Dir, mein großer John Doe, schenkt er dieses... kuriose... Ding.“, murmelte sie und hielt mir etwas hin.

Unschlüssig nahm ich es entgegen und betrachtete es etwas. Eigentlich war es ein Würfel. Ein einfacher schwarzer glatter Würfel, etwa so groß wie meine Handfläche. „Und was mache ich damit?“, fragte ich verwirrt, „Hat er vielleicht irgendwo eine Bedienungsanleitung dazu gelegt?“

Sie sah in den Karton und schüttelte den Kopf. „Nein.“

Veit sah auf den Würfel. „He.“, murmelte er, „Wollen wir tauschen.“

„Vergiss es.“, entgegnete ich.

„Ist noch etwas drin?“, fragte Theodore, als Vilija lange in den Karton sah.

Sie sah abrupt zu ihm auf. „Hm?“ Dann blinzelte sie. „Oh, ja.“ Diesmal zog sie ein Hawaiihemd heraus und reichte es Travis. „Er hat einen furchtbaren Geschmack, was Kleidung betrifft, tut mir leid.“

„Nicht weiter schlimm.“, entgegnete er und nahm es entgegen, „Das kann ich tragen, wenn ich das nächste Mal einer Kuh bei der Geburt helfe.“

Veit verkniff sich das Lachen. Dann hob er die Braue, als Vilija den Karton zuklappen wollte. „He, was hast du bekommen?“

„Ähm...“ Sie presste die Lippen aufeinander. „Nichts weiter.“

„Na zeig schon.“ Er nahm ihr den Karton ab und sah hinein, ehe er ihn wieder zu klappte. „Das hat er nicht wirklich.“

„Was?“ fragte Theodore.

„Nichts.“, entgegnete Vilija hastig konnte Veit den Karton jedoch nicht schnell genug weg nehmen.

Dieser schob ihn zu Theodore, woraufhin dieser hinein sah und seltsam steif wurde. Dann sah er aus dem Augenwinkel zu Vilija. „Das ist ein echt teures nichts.“

Sie presste die Lippen aufeinander und sah weg, als Theodore einen eingerahmten Vertrag herausholte und ihn umdrehte, sodass wir ihn sehen konnten.

„Er hat dir... eine Therapeutin geschenkt.“

Gereizt nahm sie es ihm ab. „Ich kann lesen.“

Er sah wieder in den Karton. „Und offensichtlich hat er dir auch noch ein paar Lernstunden geschenkt.“

„Lernstunden?“, wiederholte Travis.

„Surfen.“, bemerkte Veit, „Das ist Keanus Leben. Ich erzähle es dir später.“

„Es gibt nichts zu erzählen.“, entgegnete Vilija, legte den Vertrag zurück in den Karton und nahm ihn an sich. „Und falls es jemanden interessiert, ich hab den beiliegenden Brief gelesen. Die Lernstunden sind von Keanu. Der Therapeut nicht.“

„Er?“, hakte ich verdutzt, „Bei Theodore war es noch eine Frau.“

„Ja, da steht Tracey.“, stimmte er zu, „Tracey Whitney.“

„Noch nie was gleichgeschlechtlichen Namen gehört?“, entgegnete Vilija.

„Und von wem ist das Geschenk nun?“, wollte Veit wissen, „Seinem Bruder?“

„Von seinen Eltern.“, murmelte sie, gerade laut genug, dass wir es hören konnten.

„Wow.“, merkte ich an, „Die müssen ja einen guten Eindruck von dir haben.“

Sie lachte mich ironisch an. „Sehr witzig.“ Mit diesen Worten schob sie den Karton in ihr Zimmer, schloss die Tür und ging in die Küche. „Haben wir Saft?“, fragte sie unterwegs, wartete jedoch nicht auf eine Antwort.

Theodore folgte ihr dennoch in die Küche, woraufhin ich ein weiteres Mal seufzte, setzte und mir den Würfel ein wenig ansah.

Kapitel 15

 

 

Ich stand an dieser Straße.

Sie war leer, als hätte nie ein Mensch hier gelebt.

Ich stand dort ganz allein und sah mich um,

suchte nach anderen Menschen.

Ich versuchte zu gehen,

doch ich konnte meine Beine nicht bewegen.

Und dann war sie da.

Vilija.

Sie kam auf mich zu,

lächelte,

als wäre ihr größter Wunsch in Erfüllung gegangen.

Ich sah genau, wie sie direkt auf mich zukam,

doch mit jedem Schritt entfernte sie sich von mir.

Irgendwann war ich wieder allein.

Allein in dieser riesigen leeren Stadt,

auf dieser langen leeren Straße.

– Aufzeichnungen der Albträume Teil 3

von (Tevin McCourtney Breda Amanar) Tevin McCourtney

 

Ein Schrei riss mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf.

Es war spät geworden, deshalb hatte mir etwa die Hälfte der Bewohner dieser WG angeboten hier auf der Couch zu schlafen. Vilija war zwar nicht dabei, aber die Mehrheit hatte offensichtlich dafür entschieden.

Und so wurde ich Zeuge, wie Vilija keuchend aus ihrem Zimmer trat und mit hastigen Schritten und zitternden Händen in Richtung Küche ging.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich sie.

Ihre Reaktion war ein erschrockenes Zucken gepaart mit einem überraschten kleinen Schrei.

„Entschuldige.“ Ich setzte mich weiter auf, damit sie mich besser erkennen konnte, und schaltete die kleine Lampe auf dem Beistelltisch neben der Couch an. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“

Daraufhin stöhnte sie auf, schloss die Augen und strich sich die Haare aus der Stirn, fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Warum ist das alles hier nicht einfach ein Traum, aus dem ich aufwachen kann?“

„Wie der Traum gerade eben?“ Aufmerksam musterte ich sie ein wenig. Ihre Haut war bleich, ein dünner Schweißfilm zog sich über ihren Körper. Ihr Shirt klebte verschwitzt an ihr. „Ein Albtraum. Du hast geschrien.“

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.“

„Willst du drüber reden?“

Es schob sich ein seltsamer Blick auf ihre wunderschönen Augen, ehe sie in die Küche ging.

Das ist wohl ein nein. Daraufhin zuckte ich nur mit den Schultern und legte mich wieder hin, sah an die Decke.

Wenig später erschien dann aber Vilija neben mir und klopfte mir seitlich gegen die Schulter. „Mach Platz, wenn du was davon hören willst.“, murrte sie verstimmt, „Und wage es nicht dabei einzuschlafen.“

Ich lächelte amüsiert, setzte mich dann aber hin und machte ihr Platz. „Ich werde nicht einmal die Augen schließen.“

Resigniert rollte sie mit den Augen und reichte mir ein Glas Mineralwasser. „Ich habe von dem Unfall geträumt.“

Auf halbem Weg mit dem Glas zum Mund hielt ich inne und sah zu ihr. „Oh, ich... wenn du nicht darüber reden möchtest-“

Sie hob die Hand, um mich zu unterbrechen. „Wenn ich es nicht wollen würde, würde ich es auch nicht tun.“ Ich meinte sie noch etwas wie Männer vor sich hinmurmeln zu hören, ehe sie etwas trank und das Glas abstellte. „Ich weiß, dass man dir noch nicht erzählt hat, wie sich der Unfall abgespielt hat. Wahrscheinlich, weil dich niemand damit unter Stress setzen wollte oder so. Aber ich finde, du solltest wissen, was genau passiert ist, was der Grund dafür ist, dass du dich nicht mehr erinnern kannst.“

„Verstehe.“ Einen Moment starrte ich auf das Glas in meinen Händen. „Danke.“

Leicht wie eine Feder legte sie ihre Hand auf mein Knie und tätschelte es kurz. „Wir sind irgendwie im selben Boot. Du erinnerst dich nicht mehr und ich habe damit den Mann verloren, den ich liebe.“ Nun starrte sie einen Moment vor sich her, aber während ich bestenfalls bedrückt ausgesehen hatte, sah sie aus, als wäre ihr ein Teil ihres Lebens genommen worden.

„Das tut mir wirklich leid.“ Ich stellte mein Glas ebenfalls auf den Tisch und nahm tröstlich ihre Hand. „Ich weiß, ich bin wahrscheinlich der Letzte, von dem du Trost möchtest und ich verstehe deine Situation wahrscheinlich auch am wenigstens von allen, die in deinem Leben irgendeine Rolle spielen und ich weiß auch, dass du mich nicht sonderlich magst, weil ich zwar Tevin bin aber nicht mehr der, den du dein genannt hast, aber...“ Zögerlich presste ich kurz die Lippen aufeinander und sah auf die Hand in meinen Händen. Sie sah dort so winzig und zart aus, als könnte ich sie mit bloßen Händen zerbrechen. „Ich mag dich.“, gab ich dann zu, „Ich habe einerseits das Gefühl, dass einige meiner Gefühle zu dir noch aus der Zeit vor dem Unfall stammen, aber ich weiß, dass die Zuneigung, die ich zu dir hege, nach dem Unfall entstanden ist. Ich kenne dich noch nicht sehr gut, aber was ich bisher von dir kenne ist, dass du eine sehr liebenswerte junge Frau bist, die es verdient hat geliebt zu werden.“

Als ich ihr aufmerksam in die Augen sah, stellte ich fest, dass sie feucht von unvergossenen Tränen waren.

„Ich wollte nicht, dass du weinst.“, versuchte ich unbeholfen sie zu beruhigen, „Habe ich etwas falsches gesagt? Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe, das ist das Letzte, was ich tun will.“

Sie lächelte schwach und schüttelte den Kopf, senkte ein wenig den Blick. „Nein, hast du nicht. Es ist nur...“ Die Nase leise hoch ziehend wich sie kurz meinem Blick aus, ehe sie zu mir auf sah. „Danke, dass du mir das gesagt hast. Das... bedeutet mir derzeit sehr viel.“ Als ihr eine Träne über die Wange lief, wischte sie sie schnell fort. „Du erinnerst dich nicht, aber... ich hatte... habe eine sehr schwere Zeit hinter mir und versuche nun auch noch dich zu verarbeiten.“ Sie versuchte zu lachen, doch dabei liefen ihr immer mehr Tränen über die Wangen.

„Vilija...“, hob ich an, doch sie schüttelte hastig den Kopf.

„Nicht. Wenn du jetzt noch mehr sagst, fange ich richtig an zu weinen.“, warnte sie, „Aber ich will dir von dem Unfall erzählen. Es... Es war nicht deine Schuld. Da war... Du hattest...“ Sie unterbrach sich selbst und schloss kurz die Augen. „Warte einen Moment.“

Mit diesen Worten stand sie auf und ging in ihr Zimmer, kam aber nach kurzer Zeit zurück und setzte sich wieder neben mich. In der Hand hielt sie ein Armband aus einzelnen silbernen Gliedern, auf denen einzelne Buchstaben graviert waren. Zwischen den Worten war je ein Glied leer. Sie betrachtete es einen Moment und atmete dann kurz durch.

„Dieses Armband habe ich dir zu deinem letzten Geburtstag geschenkt. Es war ein Symbol dafür, dass du mich nie verlieren solltest.“

Als sie mir das Armband zeigte, las ich neugierig die Worte und zog nachdenklich die Brauen zusammen.

Žvakė dega toliau.

„Kommt dir das irgendwie bekannt vor?“, fragte sie leise.

„Also...“ Žvakė dega toliau. „Die Sprache kommt mir bekannt vor, aber leider sagt mir der Satz nichts. Tut mir leid.“

Sie lächelte nachsichtig und nickte. „Das ist immerhin ein Anfang. Sie Sprache ist Litauisch. Wie du weißt ist Dad aus Litauen, also sind wir halb litauisch. Nachdem du zu uns kamst bist du, wie ich, mit der Sprache aufgewachsen und konntest sie wie deine Muttersprache, die damals, glaube ich, Rumänisch war. Aber du hast auch Englisch gesprochen. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube einer deiner Elternteile war Engländer.“

Wage Schemen einer Frau kamen mir plötzlich vor Augen. „Ich glaube, meine Mutter.“, murmelte ich und versuchte mich an irgendetwas zu erinnern, doch je mehr ich es versuchte, umso blasser wurde das Bild. Frustriert schloss ich die Augen und massierte mir die Stirn, als leichte Kopfschmerzen auftraten. „Jedes Mal, wenn ich wirklich versuche mich an irgendwas zu erinnern, bekomme ich Kopfschmerzen.“

„Das ist okay, dann versuche es nicht weiter. Offenbar funktioniert es gut, wenn wir mit Nebensächlichkeiten anfangen, ohne uns darauf zu konzentrieren deine Erinnerungen zurück zu holen.“, sinnierte sie und sah ziellos an mir vorbei, als sie nachdachte.

Sie sah einfach hinreißend aus. Ihr Haar noch vom Schlaf zerzaust, die Lippen ein wenig feucht vom Wasser und der Blick verträumt, weil sie offenbar in Gedanken versunken war. Ich konnte sehr gut nachvollziehen, warum Kerle sich für sie interessierten, aber das, was ich wusste, schien mir noch nicht genug, um sie so zu lieben, wie ich es wohl getan hatte. Ich bezweifelte nicht, dass es dieses etwas an ihr gab und ich sie wirklich und wahrhaftig geliebt hatte, aber bisher hatte ich es nicht gesehen.

„Ich werde dir einfach die Dinge erzählen.“, fuhr sie fort und sah mich wieder an. „Und du hörst einfach zu, ohne dich zu konzentrieren. Hör einfach zu, als wäre es irgendeine Geschichte und nicht gerade etwas, das mit dir und deinem Leben zu tun hat.“

„Ich werde es versuchen.“

„Okay, also...“ Sie hielt das Armband hoch. „Žvakė dega toliau. Das bedeutet Die Kerze brennt noch.“ Als ich eine Braue hob, wedelte sie mit der Hand, als wolle sie meine Gedanken vertreiben. „Das erkläre ich dir vielleicht in fünf Jahren, wenn ich Lust drauf habe. Ich habe dir dieses Armband geschenkt und du hast es getragen, als wäre es ein lebenswichtiges Körperteil. An dem Tag waren wir in der Nähe in einer Boutique einkaufen. Da tauchte dann dieses Mädchen auf und hat dich belagert, als wärst du ihr Eigentum.“

Mir entfiel nicht, wie eifersüchtig sie klang und konnte mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen, versteckte es aber hinter meiner Hand, damit sie nicht dachte, dass ich sie nicht ernst nahm und nicht zuhörte.

„Ich hab mich ein kleines bisschen darüber aufgeregt und da hat mich Evelyn dann aus der Boutique gezogen, weil Veit mit Travis draußen auf der anderen Straßenseite warteten. Teddy begleitete Ev und mich. Wir haben auf dich gewartet und dann kamst du, gefolgt von diesem Mädchen, aus der Boutique. Sie lief dir hinter her und hat dich beschimpft.“ Sie machte eine kurze Pause und betrachtete das Armband ein wenig. „Du warst nie jemand, der andere Menschen in aller Öffentlichkeit bloß stellt, auch wenn du es damals mit Diana getan hast, aber sie hatte das verdient. Aber du warst immer ruhig und gefasst und immer so... freundlich. Zumindest zu Frauen. Veit hast du geschlagen, weil er mich zu lange angesehen hat.“ Sie warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, woraufhin ich unschuldig die Hände hob.

„Ich weiß von nichts.“ Dann hob ich amüsiert die Brauen. „Ich habe ihn wirklich geschlagen? Ich dachte, es wäre nur ein Scherz, dass ich ihn verprügeln wollte.“

„Du hast ihn wirklich und wahrhaftig geschlagen.“

„Weil er dich angesehen hat?“

Ich hob einen Finger. „Ich trug nur Unterwäsche, weil wir im Wald in einem See gebadet haben. Und du und ich haben kurz zuvor ein bisschen geknutscht... Vielleicht hatte er es ein bisschen verdient. Aber zurück zur Geschichte.“ Wieder hob sie dieses Armband hoch. „Du warst total gelassen, ruhig und gefasst, bis dir dieses kleine Mädchen“ – So wie sie es sagte klang es wie eine furchtbare Beleidigung – „dir das Armband von deinem Handgelenk gerissen hat.“ Besorgt zog sie die Brauen zusammen. „Du hast sie furchtbar laut angebrüllt und ihr deine Haltung ihr gegenüber klar gemacht. Und dann ist sie weinen davon gelaufen.“

„Habe ich sie beleidigt?“ Tatsächlich fühlte ich mich ein wenig schlecht, dass ich offenbar ein kleines Mädchen zum Weinen gebracht hatte. „Wie alt war sie?“

„Alt genug, sie war in einigen deiner Kurse. Und soweit ich mich erinnere, hast du nur Fakten genannt, sie aber böse bloß gestellt.“ Als sie das sagte, klang sie keineswegs so, als fände sie falsch, was ich getan hatte, weshalb ich leise Zweifel hegte, ob sie eine korrekte Moralvorstellung hatte. Dann seufzte sie traurig und sah erneut auf das Armband herab. „Sie hatte das Armband leider völlig zerstört. Es hat Tage gedauert, bis der Goldschmied, der es für mich angefertigt hat, es wieder repariert hat. Du hast dich mitten auf dem Zebrastreifen auf die Straße gekniet und hast jedes einzelne Teil des Armbandes aufgelesen und eingesteckt, als wäre jedes einzelne Stück unersetzbar.“

Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen und ich fühlte mich, als lägen Tonnen von Steinen auf meiner Brust, weil ich sie nicht trösten konnte. „Wenn du mir dieses Armband geschenkt hast und ich dich so abgöttisch geliebt habe, wie man es so schön formuliert hat, dann waren sie wahrscheinlich auch alle unersetzbar für mich. Jedes Teil gehörte zu einem Ganzen. Einem Ganzen, das du mir als ganzes, als ein Symbol unserer Verbindung, geschenkt hast. Das ist unersetzbar, Vilija.“

Sie schlug mich gegen die Schulter. „Ich hab dir gesagt, du sollst mir sowas nicht mehr sagen.“, tadelte sie mich mit von Tränen feuchten Wangen.

Ich lächelte sanft. „Es tut mir leid. Erzähl weiter.“ Doch dann begann sie zu Schluchzen und ich begann mir Sorgen zu machen.

„Du hattest gerade alle eingesteckt, als da dieses Auto aus der falschen Richtung in die Einbahnstraße fuhr.“ Als würde sich all das nochmals vor ihr abspielen, hob sie die Hände an ihr Gesicht und umklammerte das Armband. „Du konntest nicht reagieren. Er fuhr zu schnell und du warst gerade erst dabei aufzustehen. Du hattest ihn nicht einmal gesehen und da... Da hatte es dich bereits erwischt.“

Hilflos sah ich zu, wie die Tränen in kleinen Bächen über ihre Wangen flossen und sich ihre wunderschönen Augen vor Schmerz verzogen.

„Er fuhr so schnell und sah dich zu spät. Der Bremsweg war zu lang, sodass ihr auf der zweiten Spur der Fahrbahn gelandet seid, in der die Straße mündete. In dem Moment, in dem du von der Motorhaube des ersten Autos gerutscht bist, hat dich ein zweites Auto erfasst.“ Sie schluchzte schwer auf und atmete schwer, als würde sie all das direkt vor sich sehen.

Ich kämpfte mit dem unermesslichen Drang sie einfach in meine Arme zu ziehen und zu trösten, doch ich hielt mich zurück. Sie war noch nicht fertig und wahrscheinlich würde sie nicht weiter erzählen können, wenn ich sie tröstete. Ich wusste nicht, woher ich das wusste, aber... es war einfach da.

„Ich fing an zu schreien.“, fuhr sie fort, „Ich rief nach dir und wollte zu dir, aber Teddy hat mich festgehalten. Irgendjemand hat Andrew angerufen und Travis ist zu dir gelaufen, um dir erste Hilfe zu leisten. Ich... Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie ich nach dir geschrien habe und versucht habe zu dir zu kommen, aber ich wurde festgehalten und kam dir keinen Schritt näher. Irgendwann kam Andrew und ohne mich auch nur einen Moment in deine Nähe zu lassen hatte er dafür gesorgt, dass du ins Krankenhaus gebracht wurdest.“

Sie kniff die Augen zusammen und begann nun hemmungslos zu weinen, woraufhin ich meinem Drang nachgab und sie einfach an mich zog. Verzweifelt hielt sie sich an mir fest und verbarg ihr Gesicht an meiner Brust. So sehr es auch weh tat, dass sie weinte, so war es doch ein Balsam sie so trösten zu können, sie in den Armen zu halten.

„Ist schon gut.“, sprach ich ihr zu und streichelte ihr über den Schopf und ihrem Rücken. „Ist schon gut. Es ist vorbei.“

„Ich hatte so große Angst davor, dass du sterben würdest. Ich habe die ganze Zeit im Krankenhaus gewartet, als du im OP warst und war die erste, die zu dir gelassen wurde, aber dann bist du einfach nicht aufgewacht. Ich hatte solche Angst.“

„Jetzt ist es wieder in Ordnung. Er hat mich prima zusammen geflickt und gesundheitlich geht es mir bestens.“

„Aber du erinnerst dich nicht.“

Bedauernd schloss ich die Augen und drückte sie etwas fester an mich. „Ja. Und ich wünschte, es wäre anders. Du bist eine wirklich unglaubliche junge Frau.“ Ich lächelte schräg, auch wenn sie es nicht sehen konnte. „Jeder Mann sollte sich glücklich schätzen von einer Frau wie dir geliebt zu werden. Ich meine, obwohl du mich eigentlich überhaupt nicht magst, versuchst du mir zu helfen. Es muss ein bisschen so für dich sein, als würdest du einem Doppelgänger helfen, so zu sein wie das Original. Und doch tust du es, obwohl es dir weh tut. Das ist etwas, das dich zu einem wundervollen Menschen macht.“

Als sie daraufhin nur noch mehr weinte, seufzte ich leise, schloss die Augen und lehnte meine Stirn an ihren Scheitel.

„Ich wünschte, du würdest aufhören zu weinen.“, murmelte ich, „Ich bin vielleicht nicht dein Tevin, aber ich wäre trotzdem sehr gerne mit dir befreundet und außerdem... bist du irgendwie meine Schwester, also habe ich das gute Recht sagen zu dürfen, dass es mir nicht gefällt, wenn du weinst. Also komm. Hör auf deinen Bruder und hör auf zu weinen, okay?“

Das brachte sie ein wenig zum Lachen, woraufhin ich leise lächelte und sie erneut etwas fester an mich drückte. Ich wollte sie gerade wieder loslassen, sie sich etwas enger an mich rückte.

„Halte mich bitte noch ein bisschen fest.“, bat sie leise und schniefte noch ein wenig vor sich hin. „In deiner Nähe fiel es mir schon immer leichter zu schlafen. Eigentlich kann ich ohne deine Nähe überhaupt nicht wirklich schlafen.“, gab sie zu und drehte den Kopf, sodass ihre Wange an meiner Brust lag. „Es ist ein seltsamer Gedanke, dich als Bruder anzusehen.“

„Ach ja?“, hakte ich nach.

„Ja.“

„Weil wir Sex hatten?“

Sie lachte leise und wurde tatsächlich rot. „Wir haben nicht miteinander geschlafen.“

„Haben wir nicht?“ Verwundert sah ich auf sie herab.

Sie sah den Blick nicht, lachte aber trotzdem. „Nein.“

„War ich etwa so schlecht?“

„Nein, keine Sorge. Ich war einfach nicht soweit. Und als ich dann soweit war, bist du urplötzlich mit deinen richtigen Eltern nach England gefahren und ich habe Keanu kennen gelernt. Viel später.“

Nachdenklich stützte ich mein Kinn wieder auf ihrem Schopf. „Also hast du mit ihm geschlafen?“

„Nein.“ Sie stieß mir leicht in die Seite. „Ich bin Jungfrau.“

„So richtige?“

Sie lachte erneut. „Ich hatte Sex, aber nie richtigen Verkehr.“

„Ah, verstehe. So eine Jungfrau.“

Als ich nichts weiter dazu sagte, sah sie zu mir auf und stellte fest, dass ich wohl nachdenklich aussah. „Worüber denkst du nach?“

„Naja, ich dachte gerade... Also... Erst dachte ich, jetzt wo ich mich nicht mehr erinnern kann, bin ich sicher wieder Jungfrau, aber ich weiß nicht einmal, ob ich es überhaupt mal nicht war.“

„Oh.“ Nachdenklich sah sie auf meine Brust, als würde ihr erst jetzt auffallen, dass ich kein Oberteil trug. „Vor mir warst du nur mit Diana zusammen. Danach hattest du, soweit ich weiß, keine Freundin.“

„Habe ich mit ihr geschlafen?“

„Soweit ich weiß nicht.“

Ich seufzte leise. „Irgendwie bedauerlich. Ich bin 23 Jahre alt und immer noch Jungfrau.“

„Ich bin 22 und immer noch Jungfrau.“

„Ja, aber du bist eine Frau.“

Mit skeptischem Blick sah sie zu mir auf. „Soll das heißen, weil ich eine Frau bin, ist es normal mit 22 Jahren Jungfrau zu sein?“

„Nein.“, entgegnete ich vorsichtig, „Ich wollte damit nur andeuten, dass es wesentlich unüblicher ist als Mann mit 23 noch Jungfrau zu sein. Du weißt schon, Hormone und so.“

„Ah, verstehe. Das macht Sinn.“

Langsam breitete sich Schweigen aus und eine Weile sagte keiner von uns etwas. Wir saßen einfach nur da, umarmten einander und genossen das Gefühl beieinander zu sein.

Warum auch immer es mir so sehr gefällt, ich werde es nicht weiter hinterfragen.

„Sag mal...“, hob ich irgendwann an und wartete, bis sie mich ansah. „Wenn du ohne meine Nähe kaum Schlaf bekommst, warum schläfst du dann nicht hier bei mir auf der Couch?“

Sie hob eine Braue. „Vielleicht, weil die Couch sehr unbequem ist. Im Vergleich zu meinem Bett.“

„Und... warum schlafe ich dann nicht bei dir im Bett?“

Wieder dieses traurige Seufzen. „Du bist zwar Tevin, aber... du bist immer noch ein Fremder.“

„Ja, verstehe.“, murmelte ich und sah an uns herab. „Du kuschelst also gerne mit Fremden.“

Als sie mir diesmal in die Seite stieß, lachte ich leise. „So fremd bist du mir auch wieder nicht.“

„Aber so fremd, dass du dich weigerst mich zum Wohle deiner Gesundheit neben dir schlafen zu lassen? Ich schwöre dir bei meiner Mutter, die ich nicht kenne, dass ich meine Finger bei mir lassen werde.“

„Bei deiner Mutter, die du-“ Leise lachend schüttelte sie den Kopf und ließ ihren Kopf an meine Brust fallen. „Okay. Eine Nacht. Und dann sehen wir weiter.“

„Gut.“

Ohne noch länger zu warten, hob ich sie auf meine Arme und stand einfach auf. Überrascht schrie sie kurz auf, hielt sich dann aber an mir fest und sah mich finster an.

„Tu das nie wieder.“, tadelte sie mich, konnte sich ein kleines Verziehen der Mundwinkel aber nicht verkneifen.

„Ich werde sehen, was ich tun kann, Ma'am.“

 

Es ist seltsam.

Einfach alles.

Die Firma ist hiesig und ich habe keine Ahnung,

was ich überhaupt tun soll.

Das ist einfach überhaupt nicht meine Welt.

Ich wünschte, ich wäre bei dir geblieben

– aus einem Brief von Keanu Kahoku an Vilija Kemmesies

 

Vilija

Der Tag war bereits zur Hälfte vorbei, als ich langsam aus diesem ungewohnt tiefen Schlaf erwachte. Die Wärme an meinem Rücken verriet mir, dass Tevin immer noch hinter mir im Bett lag und schlief.

Es fühlte sich irgendwie falsch an hier zu liegen. Natürlich hatte er Recht gehabt, er war nun mal Tevin, aber er war nicht mehr... mein Tevin. Er war nicht mehr der Mann, in den ich mich verliebt hatte und das machte mir zu schaffen.

Mit diesem Gedanken setzte ich mich vorsichtig auf und schwang die Beine aus dem Bett, ehe ich Tevin über meine Schulter hinweg ansah und ihn nachdenklich anstarrte.

„Du liegst auf dem Rücken.“, bemerkte ich leise, „Du schläfst nie auf dem Rücken.“ Lange beobachtete ich ihn dabei, wie er einfach da lag und schlief, sich keinen Zentimeter bewegte. „Dreh dich auf die Seite.“, murmelte ich, „Du schläfst nie auf dem Rücken.“

Seine einzige, sichtbar unbewusste, Reaktion war, dass er sich verschlafen seufzend an der Brust kratzte und weiter schlief. Allein von dem Wissen, dass er auf dem Rücken lag, durcheinander gebracht, wendete ich mich ab und saß noch einen Moment still da, ehe ich aufstand und mein Zimmer verließ.

Die anderen vier saßen bereits am Tisch und aßen, soweit ich es erkennen konnte, zu Mittag. Etwas durch den Wind ging ich bloß herüber und nahm mir einen der Teller, um mir Essen zu nehmen, wobei ich nur ein halblautes Morgen vor mich hinmurmelte und am Rande registrierte, dass mich die anderen ebenfalls begrüßten.

„Gut geschlafen?“, fragte Teddy gut gelaunt.

„Ja.“, entgegnete ich finster, stellte meinen Teller grob auf den Platz vor mir und setzte mich, woraufhin Teddy Veit einen vielsagenden Blick zuwarf, ehe er wieder zu mir sah.

„Geht's dir gut?“

„Klar.“

Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Veit mich von der Seite ansah und langsam aufhörte zu essen, als ich damit begann. Teddy sah ebenfalls zu.

„Schläft Tevin noch?“, fragte Ev.

„Ja.“, murrte ich und stützte meine Stirn in meine Hand, während ich aß.

„Ich hab doch gesagt, er schläft bei ihr.“, murmelte Veit Teddy zu.

Dieser räusperte sich ein wenig. „Vilija, du... sagtest, du hast gut geschlafen.“

„So gut, wie schon lange nicht mehr.“, stimmte ich zu.

„Ähm... Ja.“ Er zögerte. „Warum malträtierst du dann den Auflauf, statt ihn zu essen?“

Abrupt hielt ich inne und starrte mein Essen eine Weile an, ehe ich begriff, dass er Recht hatte. Als mir das auffielt, legte ich die Gabel unruhig neben meinen Teller und lehnte mich etwas zurück, biss mir auf beide Lippen.

„Was ist los?“

Tief atmete ich ein und sah zu ihm auf, ehe ich nochmals das Essen anstarrte. „Er liegt auf dem Rücken.“, erklärte ich dann.

Als ich ihn ansah, sah er verwirrt zurück. „Okay.“

Ich ließ die Schultern sinken und schloss kurz die Augen. „Er schläft nie auf dem Rücken.“, erklärte ich dann, „Partout nicht. Er sagt immer, er bekommt dann schlechter Luft und findet es unbequem. Das ist, als würdest du mich plötzlich unwiderstehlich finden.“

Evelyn hüstelte leise.

„Ich dachte, wir wären uns einig, dass er nicht mehr der ist, der er war.“, gab Teddy zu und zog die Brauen zusammen. „Da ist es doch kein Wunder, dass dann auch sein Verhalten vom früheren abweicht.“

„Das weiß ich ja.“, entgegnete ich und knabberte an der Spitze meines rechten Daumen. „Aber es zu wissen und eine Bestätigung zu bekommen sind unterschiedliche Dinge. Es... bringt mich durcheinander. Das ist für mich, als würde ich in ein bereits fertiges Gemälde Elemente einfügen, die einfach nicht ins Bild passen.“

Veit verzog das Gesicht. „Das zerstört das ganze Werk.“

Ich deutete auf Veit. „Genau das meine ich.“

„Du solltest dir vielleicht ein zweites Gemälde von Tevin anfertigen.“, sinnierte Travis daraufhin, „Ein aktuelles. So, als wäre das erste Bild aus dem Mittelalter und das neue aus der Gegenwart.“

„Ich soll... eine Art... Kopie anfertigen?“, hakte ich nach.

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ein ganz neues Bild. Äußerlich betrachtet gleich, die gleichen Strukturen, aber inhaltlich völlig neu.“

Zögerlich sah ich auf meine Mahlzeit herab. „Ich... weiß nicht, ob ich das kann.“

Veit betrachtete mich einen Moment, ehe er seine Gabel hinlegte und aufstand. „Komm mal mit.“

Überrascht sah ich zu ihm auf, stand dann aber hastig auf und folgte ihm, als er in sein Zimmer ging. Dort durchsuchte er mehrere Sammlungen von Bildern, ehe er einige hervor zog und auf sein Bett legte. Nachdem er irgendwann genug gesammelt hatte, stellte er sich mit mir vor sein Bett und sah mit mir auf die Bilder herab.

„Sieh sie dir an.“, sagte er zu mir, „Was siehst du?“

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, betrachtete dann aber die Kunstwerke. Eines war eine wunderschöne Landschaft mit einem Gebirge im Hintergrund. Auf der linken Seite zog sich ein Fluss durch das Land, mündete in einen See und ging dann wieder in einen Fluss über. Dahinter begann ein dichter Wald. Auf der rechten Seite sah man nichts als eine endlos weite Wiese.

Das Bild darunter zeigte eine Stadt. Im hinteren Teil ragten Wolkenkratzer hervor und bildeten eine wunderschöne Skyline. Eine breite Straße trennte die Stadt in zwei Teile. Auf der Linken große und pompöse Gebäude, wie in einem Adelsviertel oder ähnlichem. Auf der rechten glich es eher einem Slum.

Fasziniert sah ich mir das Bild daneben an.

Ein wunderschöner weiter Strand zum Sonnenuntergang. An der Stelle, an der das Wasser das Land küsste, saß ein Paar aneinander gelehnt und betrachtete was sich ihnen bot.

Das Bild darüber zeigte einen furchtbaren Sturm. Das Land war in den dunkelsten Farben getaucht und zwei Tornados richteten Zerstörung an, schienen sich dabei aber regelrecht aneinander zu schmiegen, wie ein lang vertrautes Liebespaar, das miteinander tanzte.

„Das sind Adaptionen.“, stellte ich fest und betrachtete erneut das erste Paar. „In vielerlei Hinsicht.“ Ich deutete auf das erste Paar. „Hier hast du die Strukturen übernommen. Die Skyline ragen hervor, wie das Gebirge. Die großen Gebäude zur Linken sind das Äquivalent zum Wald, die Straße der Fluss und der Slum ist die Wiese.“

Er lächelte mich schräg an, woraufhin ich auf das zweite Paar deutete.

„Hier drückst du Verbundenheit zweier gleicher Arten aus. Ein glückliches Paar, dass sich gemeinsam den Sonnenuntergang ansieht und zwei Tornados, die, wie ein ungestümes Ehepaar, gemeinsam tanzend Verwüstung anrichteten, als wäre es ihr liebstes Hobby.“

„Siehst du noch mehr?“

Ich deutete auf die oberen Bilder. „Diese hier zeigen ausschließlich Natur. Es ist keine Adaption, aber sie haben eine gemeinsame Kategorie.“ Dann deutete ich auf die unteren. „Diese hier zeigen schlichte Menschlichkeit. Eine Stadt und ein Paar. Mir fällt nichts ein, was menschliche Aspekte besser vermittelt als die Verbreitung durch Städte und... naja... Menschen.“

„Ja.“ Er folgte meinem Blick auf die Bilder und deutete auf das erste Bild mit der wunderschönen Landschaft. „Das war Tevin, als du ihn kennen gelernt hast. Seine Natur war gänzlich unangetastet.“

„Naja, fast.“, korrigierte ich mit den Gedanken an dem, was er in so jungen Jahren bereits erlebt hatte.

Er winkte ab und deutete auf die Stadt. „Das ist aus ihm geworden. Ein vielfältiger Mensch mit verschiedensten Aspekten. Größe, Stärke, Schwäche, Chaos, Ordnung und natürlich auch Verbundenheit.“

„Du hast Tevin als Landschaft und eine Stadt dargestellt?“, hakte ich überrascht nach.

Er hob einen Finger, ehe er auf die Tornados deutete. „Das ist der Unfall.“

Unwillkürlich weiteten sich meine Augen.

„Zwei Naturgewalten, die ihn vollkommen zerstört haben.“, erklärte er und kam damit zum letzten Bild. „Und das ist es, was du tun sollst.“

Ich schluckte. „Von vorn anfangen?“

„Ganz genau. Dieses Bild ist das, wie es in Naher Zukunft für Tevin sein sollte. Er muss ganz von vorn anfangen und du“ Er deutete auf die Person, die, dank der langen Haare, als Drau des Paares zu erkennen war. „solltest dabei an seiner Seite sein und ihm helfen.“

Sprachlos sah ich auf die Bilder herab, ehe ich zu ihm aufsah. „Veit...“, hob ich verblüfft an, ehe ich wieder auf die Bilder herab sah. „Du hast Tevins Leben mit vier verdammten Bilder zusammen gefasst!“

„Ich hab das auch bei dir versucht.“, gab er zu und blies kurz seine Wangen auf. „Das ist bei Weitem schwerer. Du machst mehr Phasen durch, als viele anderen Menschen.“

„Wenn man es so sieht, müsste Tevin dann nicht noch zwei Bilder bekommen? Immerhin war er zwei Jahre weg.“

Er tippte auf die Stadt. „Chaos, Vilija. Eine Großstadt ist voll damit.“

„Aber auch mit Ordnung, nehme ich an.“

„Natürlich. Eine richtige Großstadt ist voller Gegensätze. Du lebst in einer, du solltest das wissen.“

„Ich lebe hier nur. Ich analysiere sie nicht.“, stimmte ich daraufhin zu und lächelte schräg. „Aber ich glaube, ich weiß, was du mir sagen möchtest.“

„Gut.“

„Und jetzt zeig mir die Bilder von mir.“

„Nein.“, weigerte er sich sofort und begann die Bilder zurück zu bringen. „Die sind ein Reinfall, ich werde sie übermalen.“

„Ach komm.“

„Nein.“

Ich murrte ihn ein wenig an, erntete dafür jedoch nur ein amüsiertes Lächeln, ehe er mich aus seinem Zimmer schob, um mit mir weiter zu essen. Vor seiner Zimmertür blieb er jedoch stehen, weil ich überrascht stehen geblieben war.

Tevin hatte sich in der Zwischenzeit zu den anderen gesetzt und unterhielt sich lächelnd mit Evelyn.

„Mal im Ernst.“, flüsterte ich Veit zu, „Ich weiß nicht, ob ich das kann.“

„Das findest du erst heraus, wenn du es versuchst.“ Aufmunternd zwinkerte er mir zu, ehe er mich voran schob.

Von plötzlicher Unruhe gepackt seufzte ich leise und setzte mich wieder auf meinen Platz, um zu essen.

Letzten Endes malträtierte ich es wieder.

 

Seth

Faul lag ich auf der Liege in der Sonne und genoss das Gefühl, einfach entspannt herumliegen zu können. Keanu lief unterdessen nachdenklich auf und ab.

„Du solltest dich auch etwas entspannen.“, riet ich ihm.

Er murmelte etwas vor sich her, das ich nicht verstand. Dann blieb er stehen und sah zu mir. „Glaubst du, es geht ihr gut?“

Ich schnaubte. „Tevin wurde von zwei Autos angefahren. Von zwei. Nacheinander.“

„Du hast Recht.“ Er begann wieder auf und ab zu gehen. „Und ich kann hier nicht weg. Ich bin ja erst seit kurzem hier.“

„Das ist richtig. Du kannst nichts tun, um der Frau, die du liebst, zu helfen. Das wissen wir beide. Du musst dich hier auf die Firma konzentrieren.“

„Scheiß Firma.“, murmelte er vor sich her, ehe er wieder stehen blieb. Dann stöhnte er auf. „Verdammt, ich muss morgen zu einem dieser ätzenden Meetings.“

„Dein Leben wird in Zukunft nur noch aus solchen ätzenden Meetings bestehen.“, offenbarte ich, „Du solltest das Beste draus machen.“

„Ich sollte das ganze Teil verkaufen. Ich kann damit eh nichts anfangen.“

„Du wirst es aber nicht verkaufen. Es ist das Lebenswerk deiner Eltern. Das ist, als würdest du eine einzigartige, unersetzbare Skulptur zerstören.“

„Eher verkaufen. Die Firma ist so viel wert, dass meine Familie für mehrere Generationen keinen Finger mehr rühren müsste, ohne auf irgendeinen Luxus zu verzichten.“

„Ja, aber das Geld ist irgendwann auch ausgegeben. Sieh es ein, Keanu. Du kannst nicht zu ihr. Du musst dich um die Firma kümmern.“

„Aber ich muss sie wiedersehen.“

„Das muss warten, bis du alles im Griff hast. Sowas braucht nur etwas Zeit.“

„Etwas Zeit.“, wiederholte er spöttisch, „Einen ganzen Haufen Zeit wohl eher. Ich bin froh, wenn ich abends Zeit zum Surfen finde.“

„Dafür lässt du auch dein Abendessen sausen.“

Er seufzte tief und ließ die Schultern sinken, starrte auf das offene Meer hinaus, dass sich vor uns ausbreitete. „Du hast Recht.“

„Ich weiß.“

„Aber es gefällt mir nicht.“

„So ist das leider mit der Realität. Sie ist ein verdammtes Miststück.“

„Tust du mir einen gefallen, wenn du zurück fliegst.“

Neugierig hob ich eine Braue. „Welchen?“

„Richte ihr aus, wenn sie irgendwann genug davon hat, wie ihr Leben läuft, ist sie herzlich willkommen mit einem Privatjet herzukommen und sich hier zu erholen.“

„Du bietest ihr also einen kostenlosen Urlaub an, den sie sich nehmen kann, wann immer sie will? Auf deine Kosten?“

Er hob eine Braue. „Von Geld habe ich ja nun wirklich mehr, als ich ausgeben kann.“

„Das ist wohl wahr.“ Ich machte es mir etwas gemütlicher. „Na gut, ich werde es ihr ausrichten.“

Epilog

 

 

Unbekannt

Mit vollster Zufriedenheit las er sich den Zeitungsartikel erneut durch, der den Unfall mit Violetas Jungen schilderte. Als er den Mann beauftragt hatte, dem Jungen Schaden zuzufügen, hatte er lediglich an eine Tracht Prügel gedacht, aber der Unfall war perfekt. Niemand, der die Nachricht nicht lesen würde, die er nun schrieb, würde je auf die Idee kommen, dass all das inszeniert war.

Er hätte nur zu gern über seinen Plan gelacht, seinen Triumph nur zu gern ausgekostet, doch dank dieser verdammten Schlampe waren seine Stimmenbänder so sehr beschädigt worden, dass er nicht einen einzigen verständlichen Laut von sich geben konnte.

Aber er würde die Rache bekommen, die er wollte. Diese Frau würde leiden, wie sie noch nie gelitten hatte.

Sie würde erfahren, was es bedeutet etwas zu verlieren, das dich zu einem vollkommenen Menschen machte.

Voll freudiger Erregung faltete er seinen Brief und schob ihn in einen Umschlag, der ihr morgen überbracht werden würde. Dann würde er sich an ihrem Entsetzen laben und zusehen, wie sie nach und nach vor Angst zerbrach.

Nun konnte das Spiel weitergehen, das vor so vielen Jahren vor einem dunklen einsamen Wald seinen Anfang gefunden hatte.

 

All die Jahre dachte ich, ich hätte ihn umgebracht.

Ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein soll,

weil ich ihn nicht auf dem Gewissen habe,

oder ob ich schockiert sein soll,

weil er es jetzt auf meine Kinder abgesehen hat.

– aus einem Telefonat zwischen Violeta und Levantin

Impressum

Texte: © Copyright 2016 – Alle Inhalte, insbesondere Texte sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten, Lisa Irmer
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2016

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