Es war spät. Draußen war es schon stockduster. Glücklicherweise war meine Schicht bald zu Ende, denn um 22 Uhr schloss unser Café. Noch anderthalb Stunden. Ich wollte gerade mein Trinkgeld zählen, eine Beschäftigung, um der Langeweile zu entgehen, als die Glocke der Tür läutete. Ein Gast.
Schnell steckte ich mein Geld ein und trat lächelnd zu ihr, als sie sich setzte.
„Willkommen im Stacey's. Was darf ich Ihnen bringen?“, fragte ich freundlich.
Der Gast, eine junge Frau, sah etwas zerstreut zu mir auf. Ihr Make up war verlaufen, sie hatte geweint.
„Einen Tee.“, bat sie mit heiserer Stimme.
„Welche Sorte darf es sein?“
„Haben Sie Pfefferminze?“
Ein Nicken meinerseits. „Ja, den haben wir.“
„Dann Pfefferminze, bitte. Mit vier Stück Zucker.“
„Kommt sofort.“
Sie brachte ein zittriges Lächeln zustande, woraufhin ich mich umdrehte und in die Küche ging. Ich hörte, wie sie sich die Nase putzte und fragte mich, was ihr passiert war. Als ich ihr den Tee brachte, sah sie schon etwas besser aus.
„Ein Pfefferminztee mit vier Stück Zucker.“, verkündete ich und stellte ihn vorsichtig auf den Tisch.
„Vielen Dank.“, sprach sie immer noch heiser.
Ihr Hut verdeckte ihr Gesicht, als sie den Kopf senkte, um einen Schluck zu trinken. Ich trat wieder an die Kasse und bemerkte nun ihre Kleidung. Ein langer grüner Mantel, darunter ein rotes Kleid.
Seltsam, dachte ich, ist es für ein Kleid nicht zu kalt?
Hier in Seattle wurde es nachts ziemlich kalt. Vielleicht kam sie von einer Party.
„Wurden Sie versetzt?“, kam es mir über die Lippen, bevor ich nachdachte. „Tut mir leid.“, entschuldigte ich mich schnell, „Das geht mich nichts an.“
Sie winkte ab. „Ist schon gut. Ist ja nicht das erste Mal.“
„Was ist nicht das erste Mal?“
„Ich wurde verlassen.“ Traurig zuckte sie mit den Schultern. „Das war nicht das erste Mal.“
„Das tut mir leid.“
„Es ist ja nicht Ihre Schuld.“ Traurig sah sie in ihre Tasse.
Es sah trostlos aus, wie sie so allein vor dem großen Fenster saß, das ganz schwarz von der Dunkelheit der Nacht war. Der einzige frohe Farbtupfer waren die Bananen und Äpfel hinter ihr in der Schüssel, die auf der Fensterbank stand. „Bei dem Anblick fiel mir mein trauriges Leben ein. Als Waisenkind hatte ich es immer schwer. Wirklich gut lief mein Leben erst, seit ich den Job hatte. Ich bekam nicht viel Geld, aber es reichte mir.
„Sie sehen so jung aus.“
Ich schreckte aus meinen Gedanken auf und blinzelte die Frau an. „Bitte?“
„Für eine Kellnerin meine ich.“, erklärte sie.
Verwirrt sah ich an mir herab. Ich trug die Arbeitskleidung, ein hübsches blaues Kleid und eine beigefarbene Schürze.
„Sie sehen in dem Kleid aus wie 16.“, bemerkte die Frau.
„19.“, entgegnete ich, „Ich bin 19.“
„Ein schönes Alter.“ Dabei sah sie selbst noch sehr jung aus. Vielleicht 27 Jahre, schätzte ich.
Sie atmete tief durch und sah aus dem Fenster. „Morgen soll die Sonne scheinen.“, verkündete sie.
„Ja. Endlich ein Lichtblick nach all dem vielen Regen.“, stimmte ich zu.
Mir fiel auf, dass sie nun so aussah, als hätte sie einfach nur schlecht geschlafen.
„Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles.“, bemerkte sie, „Sogar an den Regen.“
Das klang, als wäre sie fest davon überzeugt. Mein Blick fiel auf die Uhr an meinem Handgelenk. Wie doch die Zeit verflog. Schon 21 Uhr.
„Was bekommen Sie für den Tee?“, fragte sie freundlich.
„2 Dollar.“, antwortete ich.
Mit der Tasse und der Untertasse in der Hand erhob sie sich und kam herüber, stellte beides neben der Kasse ab. Sie reichte mir 5 Dollar.
„Passt so.“, merkte sie an.
Die Glocke läutete. An der Tür stand ein Mann, groß und gut aussehend.
„Kommst du?“, fragte er die Frau, „Du solltest schlafen.
Plötzlich sah sie wieder so traurig aus, beinahe gequält. „Wir haben doch Zeit. Die Bestattung ist erst in 4 Tagen.“
Inspiriert durch
'Automat' von Edward Hopper
Texte: © Copyright 2014 – Alle Inhalte, insbesondere Texte sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten, Lisa Irmer
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2014
Alle Rechte vorbehalten