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Prolog

Ich saß schweigend im Musikzimmer und starrte das Klavier an. Mein Bruder Andrej saß neben mir und sah mich einfach wartend an. Hinter ihm standen drei seiner Freunde, die ihm nicht glauben wollten, dass ich ziemlich gut spielen konnte. Doch ich wollte nicht. Schon seit Jahren spielte ich nicht mehr. Es war mit schmerzhaften Erinnerungen verbunden.

„Nur ein Lied.“, flüsterte Andrej, „Ein kleines Lied.“

Ich sah zu ihm auf, senkte dann wieder den Blick und sah auf die Tasten, doch ich bewegte mich nicht.

„Ich sag doch sie kann nicht spielen.“, bemerkte einer der Jungs.

„Du solltest nicht so große Töne spucken.“, meinte ein anderer, „Sie spricht ja nicht mal.“

„Sie spricht nicht mit anderen.“, korrigierte Andrej, „Mit mir spricht sie.“

„Na klar.“, stimmte der erste sarkastisch zu, „Sie beantwortet doch nicht mal eine Frage im Unterricht. Sie sitzt nur da wie ein Püppchen.“

„Sie sieht ja auch ein eine aus.“, stimmte der zweite zu.

Haut, weiß wie Schnee,

Augen, grau wie Schiefer,

Haare, schwarz wie Pech,

Körper, schlank und graziös.

Du bist genau so wie ich mir immer eine Tochter gewünscht habe. Wunderschön. Wage es nicht irgendwas daran ändern zu wollen. Nimm die Finger von dem Klavier. Für eine Frau wie dich ziemt es sich nicht zu musizieren. Steck die Nase in ein Buch. Aus dir wird mal eine brillante Wissenschaftlerin, wie ich.

Kapitel 1

Ein Versuch nett zu sein

 

Schweigend wartete ich in der Klasse darauf, dass der Unterricht begann. Mein Blick war auf das Meer gerichtet, das nur wenige Meter von der Schule entfernt war. Da ich einen Platz am Fenster hatte konnte ich jederzeit herüber sehen.

Der Lehrer betrat die Klasse, die anderen Schüler stellten ihre Gespräche ein. Ich hörte zwei Paar Schuhe durch die Klasse gehen.

„Guten Morgen.“, begrüßte er uns, „Das hier ist Janosh Sadevik. Er ist angehender Musiklehrer, kommt gerade von der Universität und wird ab heute an unserem Unterricht teilnehmen. Ab und zu wird auch er mal die Führung übernehmen um Erfahrung zu machen. Gibt es Fragen?“ Eine kurze Pause, in der ich ein Schiff bemerkte, dass wahrscheinlich auf den Hafen zufährt. „Gut. Setz dich am besten nach hinten. Nastja, hör auf aus dem Fenster zu starren.“

Es heißt Nastassja.

Ich sah nach vorn und bemerkte am Rande, dass sich der neue Lehrer den Platz neben mir aussuchte. Ich musste zugeben, dass man von hier einen guten Ausblick auf die Klasse hatte.

Unser Musiklehrer, Herr Morris, begann mit dem Unterricht. Klassische Musik. Mozart um genau zu sein. Ich bevorzugte modernere Pianisten. Dennoch schrieb ich schweigend alles mit, nahm jedoch nicht aktiv am Unterricht teil.

„Nastja, möchtest du nicht auch etwas zum Unterricht beitragen?“, fragte Herr Morris irgendwann.

Ich sah ihn nur an. Er versuchte es immer wieder, doch nie bekam er auch nur ein Wort aus mir heraus. Also fuhr er mit dem Unterricht fort.

Am Ende der Stunde packte ich so schweigend wie vorher meine Sachen zusammen, nahm meine Tasche und verließ die Klasse, wo Andrej offensichtlich bereits auf mich wartete.

„Da bist du ja endlich.“, meinte er, nahm mich an der Hand und zog mich sanft hinter sich her. „Komm mit.“

Ich brauchte nur zehn Sekunden um zu merken, dass er mich zum Musikzimmer zog. Er war leer, wie sonst auch.

„Spiel ein Lied für mich.“, bat er.

„Ich spiele nicht mehr.“, entgegnete ich nur.

Dennoch drückte er mich sanft auf die Bank vor dem Klavier. „Nur ein Lied.“ Er legte meine Hände auf die Tasten. „Ein ganz kurzes Lied.“ Er nahm neben mir Platz und spielte ein paar wunderschöne Töne. „Bitte.“

„Ich spiele nicht.“, wiederholte ich, nahm die Hände von den Tasten und lehnte mich an ihn. „Nicht mehr.“

Er seufzte und spielte weiter. „Du hast es geliebt. Es war für dich so leicht wie atmen und es klang so schön. Irgendwann solltest du alles, was passiert ist, hinter dich lassen.“ Er begann ein Lied von Vadim Kiselev und verzog ein wenig das Gesicht. „Das kannst du besser als ich.“

„Das Klavier müsste nur öfter genutzt werden.“, entgegnete ich.

Es war das einzige Instrument, dass seit Jahrzehnten benutzt wurde. Und auch nur sehr selten. Herr Morris fand den theoretischen Unterricht wichtiger als die Praxis. Und das fand ich gut so. Nie wieder würde ich spielen. Nie wieder.

„Nutz es.“, bot Andrej an, „Bitte.“

Ich schüttelte nur den Kopf. Dann stand ich auf und wollte den Raum verlassen, blieb jedoch direkt vor der Tür stehen, da der neue Musiklehrer den Weg versperrte.

„Also gibt es einige Instrumente an dieser Schule.“, bemerkte er und sah sich ein wenig um.

„Hallo.“, begrüßte Andrej ihn.

Herr Sadevik nickte ihm zu. „Wird das Musikzimmer nicht benutzt?“, wollte er dann wissen.

„Nein. Herr Morris macht lieber theoretischen Unterricht.“ Mein Bruder trat zu mir und nahm sanft meine Hand.

„Ich bin Janosh Sadevik, der neue Musiklehrer.“

„Oh. Machen Sie mit uns praktischen Unterricht?“

„Das hatte ich vor.“ Er trat an das Klavier und strich den Staub von der Oberfläche. „Das gute Stück.“

Ich wollte den Raum verlassen, wurde jedoch von Andrej daran gehindert, indem er mich an der Hand zurück zog.

„Wie heißt du?“, wollte Herr Sadevik von Andrej wissen.

„Andrej.“

„Hast du Lust mir zu helfen die Instrumente sauber zu machen, damit man daran spielen kann?“

„Ähm... klar. Machst du mit?“, fragte er mich und sah zu mir herab.

Ich wendete den Blick ein wenig ab.

„Na komm schon, Tassja.“

Ich seufzte leise und nickte schließlich. Es war ja nur putzen.

„Klasse, danke.“, meinte Herr Sadevik, „Dann werde ich mal Putzsachen holen.“

Mit diesen Worten ließ er uns allein, woraufhin Andrej mich lächelnd weiter in den Raum zog.

„Ist doch nichts dabei die Sachen zu putzen, oder?“

Ich hob die Schultern. „Ich werde nur nicht spielen.“

„Das habe ich ja nicht gesagt. Diesmal zumindest.“

„Und was hast du überhaupt mit meinem Namen angestellt?“

„Du meinst das Tassja?“

„Ja.“

„Ich soll also immer deinen ganzen Namen aussprechen, ja?“

„Ja. Der Rest gefällt mir nicht. Nastja, Tassja.“ Ich schauderte. „Das klingt schrecklich.“

Er grinste mich an. „Nastassja, Nastassja, Nastassja.“ Es war ein kleiner Singsang. „Er ist so lang, weißt du.“

„Er gefällt mir wie er ist.“

Er lachte leise auf. „Nastassja, Nastassja, Nastassja.“ Tatsächlich machte er ein kleines Lied daraus. „Nastassja mit dem stummen Klavier. Na, wie klingt das?“

„Grauenhaft.“

Er lachte erneut auf. „Nastassja die verlorene Pianistin. Oder die verstummte Pianistin. Besser?“

Ich verzog das Gesicht.

„Wie wäre es mit Nastassja die flinke Pianistin? Nein? Elegante Pianistin?“

„Ich bin keine Pianistin.“

„Doch bist du.“

Hinter ihm betrat Herr Sadevik wieder den Raum.

„Wie findest du Nastassja die großartige- Sieh mich nicht so an.“

„Das klingt nicht sehr originell.“, bemerkte Herr Sadevik.

Andrej drehte sich um. „Oh. Tut mir leid, ich habe Sie nicht gehört.“

„Schon in Ordnung. Hier sind Tücher, Wasser und Putzmittel.“

Lächelnd ergriff Andrej zwei Tücher und warf mir eins zu. „Na, dann fangen wir mal an, Schwester. Du putzt am besten das Klavier. Ich kümmer mich um das Xylophon.“

Ich warf ihm einen kurzen finsteren Blick zu, ging dann aber zum Klavier und begann es zu putzen.

 

Als die Pause vorbei war glänzte das Klavier in aller Pracht. Ich seufzte leise und betrachtete es ein wenig. Schwarz, glänzend... einfach wunderschön. Es war ein Konzertflügel.

„Das hast du gut gemacht.“, lobte Herr Sadevik mich lächelnd und tätschelte mir die Schulter. „Sieht ein wenig so aus als hättest du Übung darin.“

„Wir haben zuhause einen Flügel.“, bemerkte Andrej und legte das Putztuch beiseite. „Sie macht es einmal im Monat sauber.“

„Wer spielt bei euch denn?“

„Ich spiele ab und zu. Sonst ist es leider nur noch Dekoration. Er gehört Nastassja, aber sie spielt nicht mehr.“

„Warum?“

Andrej zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Sie sagt es niemandem. Wie auch immer. Wir müssen wieder zum Unterricht. Kommst du, Tassja?“

Wortlos gab ich Herrn Sadevik das Putztuch und folgte Andrej hinaus.

„Danke, dass du es ihm nicht gesagt hast.“, murmelte ich leise.

„Das ist das mindeste.“, entgegnete er, bevor wir uns trennten, um in unseren Unterricht zu gehen.

 

Als die Schule für heute vorbei war, machte ich mich schweigend auf den Weg zum Café meiner Tante. Ich war Aushilfe, kochte dort das Essen. Drei mal in der Woche.

„Ah, da bist du ja Nasti.“, begrüßte mich Alissa, meine Tante, als ich das Café betrat.

Andrej und ich zogen vor neun Jahren her nach Deutschland zu ihr und unserem Onkel Bernhard.

„Wie war die Schule?“, wollte sie wissen und nahm mir meine Tasche ab.

„Ganz okay.“, antwortete ich nur und ging direkt in die Küche.

„Ist Andrej auf dem Weg nach hause?“, fragte sie weiter.

„Ja.“

„Gut.“

Ich band mir eine Schürze um und gesellte mich zu Nadia, die andere Köchin. Ich löste sie ab, weshalb sie mir kurz sagte was noch zu tun war. Dann legte sie selbst die Schürze ab und ging. Etwa vier Stunden später kam Alissa zu mir und sagte, ich solle eine Pause machen, sie würde sich um die Gerichte kümmern.

„Ist schon okay.“, entgegnete ich nur.

„Du musst auch mal Pause machen.“

Aus dem Café ertönten Klaviertöne. Andrej war also auch schon da. Er spielte drei mal die Woche um für Unterhaltung zu sorgen.

„Na los, geh schon.“, drängte mich meine Tante.

Mit einem Seufzen ließ ich sie weiter machen, legte die Schürze ab und ging rüber. Ohne mich groß umzusehen ging ich direkt zum Klavier und setzte mich neben Andrej, um mich an ihn zu lehnen.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

„Das Leben ist so langweilig.“

„Langweilig?“, hakte er nach, „Du solltest vielleicht ein bisschen mehr lernen. Nastassja, Nastassja, Nastassja.“

Ich kam nicht umhin ein wenig amüsiert zu lächeln, als er die passenden Töne am Klavier spielte.

„Hier ist Nasti, das kleine Krokodil. Hat lange Finger und 'nen geilen Stil.“

Ich lachte leise. „Lass das.“

„Na gut. Wie klingt das?“ Er stimmte Finding Neverland an und begann im Takt Nastassja zu singen.

Ich stieß ihm in die Seite. „Du bist blöd.“

„Auch nicht?“

Er begann mit dem Lied Hier kommt Alex und sang statt Alex Nastja. Meine Cousine, die die Bedienung spielte, begann leise zu lachen.

„Hey, hier kommt Nastja.“, sang Andrej amüsiert.

„Idiot.“, jammerte ich leise.

„Ich liebe dich auch.“ Er drückte mir einen Kuss auf den Scheitel.

 

In der Pause des nächsten Tages verbrachten Andrej und ich wieder die Zeit damit Herrn Sadevik beim Putzen der Instrumente zu helfen. Dabei begann Andrej immer wieder zu singen.

Hey, hier kommt Nastja.“ oder „Ich bin Nasti, das kleine Krokodil.

Als er das vierte mal begann zu singen, bewarf ich ihn mit meinem Lappen. Er fing ihn lachend auf und warf zurück.

„Fang jetzt ja nicht eine Lappenschlacht an.“, ermahnte er mich lachend, „Ich gewinne sowieso wieder.“

Ich grinste ihn an und warf erneut. Diesmal in einem Winkel und so kräftig, dass er mit einem Klatschen in seinem Gesicht landete. Herr Sadevik lachte leise, als Andrej den Lappen nahm und mich amüsiert ansah.

„Das war gerade eine Kriegserklärung.“, erklärte er.

Dann stürzte er sich auf mich. Ich schrie einmal kurz auf und lief dann quer durch das Musikzimmer, um ihm zu entkommen. Mit einmal warf er sich auf mich, hielt mich fest und wischte mir mit dem Lappen drei mal übers Gesicht.

„Na, gibst du auf?“, fragte er lachend.

„Niemals!“, rief ich lachend aus.

Er wischte mir erneut übers Gesicht. „Meine Güte, wie schmutzig du bist.“, bemerkte er dabei, „Da muss man ja mit einem Hochdruckreiniger ran.“

„Du bist doof!“

„Gibst du auf?“

„Nein!“

Prompt schob er mir den Lappen ins Dekolletee.

„Andrej!“, rief ich aus, „Du bist wirklich blöd!“

Mein Lachen nahm dem Satz den Ernst. Dann nahm ich den Lappen aus meinem Oberteil und schmierte ihn ihm ins Gesicht. Er grinste mich an.

„Ich bringe meine Schwester zum lachen, was ist daran blöd?“ Sanft nahm er mir den Lappen aus der Hand.

„Okay, ihr zwei.“, ertönte Herr Sadeviks Stimme, „Meint ihr nicht, das reicht erst mal? Ihr werdet noch ganz schmutzig auf dem Boden.“

Ich zuckte zusammen, weil ich ganz vergessen hatte, dass er noch da war. Dann grinste ich amüsiert und stand mit Andrej wieder auf.

„Ich hab gewonnen.“, bemerkte ich dann.

Andrej zögerte ein wenig, warf Herrn Sadevik einen kurzen Blick zu und begann dann zu lächeln. „Ja.“

Das war das erste mal seit Jahren, dass ich in Gegenwart eines Menschen außerhalb der Familie gesprochen hatte.

„Du wirst nicht vielleicht ein winzig kleines Lied spielen?“, fragte Andrej dann.

„Nein.“

„Ach bitte. Nur ein einziges.“

„Nein.“

Er seufzte, versuchte es aber nicht weiter. „Irgendwann spielst du wieder, das weiß ich.“

„Vielleicht in zwanzig Jahren.“

„Ich werd dich dran erinnern.“

„Ihr habt jetzt nur noch diese eine Stunde Unterricht oder?“, fragte Herr Sadevik plötzlich.

Andrej sah zu ihm auf. „Ja. Zeugniskonferenz.“

Er nickte. „Ich werde bei euch gleich meine erste Musikstunde haben.“, meinte er dann an mich. Tatsächlich schien er sogar etwas nervös.

„Nastassjas Klasse ist eigentlich ganz nett.“, bemerkte Andrej, „Die ordentlichste Klasse im Jahrgang, soweit ich weiß.“

„Gut. Nun... dann solltet ihr wahrscheinlich auch langsam wieder in die Klasse, oder?“

Es klingelte.

„Ja, das sollten wir.“

Immer noch leicht grinsend nahm Andrej meine Hand und zog mich sanft aus dem Raum.

„Wie kommt es, dass du in seiner Gegenwart mit mir sprichst?“, fragte er mich, als wir den Raum verließen.

Ich zuckte mit den Schultern. „Es ist ein Versuch nett zu sein.“

Ich kannte Herrn Sadevik nicht, aber er war neu an der Schule, frisch von der Universität. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mit einem Schüler zurecht kommen würde, der nicht mit den Lehrern spricht. Außerdem unterrichtete er Musik.

Ich verzog das Gesicht. „Er wird praktischen Unterricht machen.“, bemerkte ich dann.

„Wahrscheinlich fängt er mit Singen an.“

Murrend trennte ich mich von ihm und ging in meine Klasse. Es dauerte nur wenige Minuten, bis Herr Sadevik ebenfalls in die Klasse kam. Sein Hemd war ein wenig feucht von dem Wasser. Erst jetzt begann ich ihn mir überhaupt anzusehen. Kurzes braunes Haar, blaue Augen, groß, schlank und ein wenig schlaksig. Obwohl das gar nicht so auffiel.

Herr Morris setzte sich neben Angelika, die zwei Plätze neben mir saß, und wartete mit den Schülern darauf, dass Herr Sadevik mit dem Unterricht begann. Dieser warf einen kurzen Blick auf die Uhr und suchte ein paar Zettel aus der Tasche, die er mitgebracht hatte.

„Okay, dann wollen wir mal anfangen.“, rief er zwei Minuten später.

Die Schüler wurden ruhig.

„Gut. Also als erstes würde ich euch bitten Namensschilder zu machen. Ich weiß, das klingt wie erste Klasse, aber ich denke ihr findet es auch nicht so toll, wenn ich eure Namen verwechsle oder alle zwei Minuten auf den Sitzplan gucke.“

Leises Gelächter, dann die Geräuschen von Papier und Stiften. Ich holte ebenfalls ein Blatt hervor und faltete es zurecht, bevor ich groß meinen Namen darauf schrieb, und es an die Kante meines Tisches stellte.

„Super, danke. Wie spricht man das aus?“, fragte er einen der Schüler.

Dieser sprach deutlich seinen Namen aus, woraufhin Herr Sadevik es wiederholte und lächelte.

„In Ordnung. Okay. Ich hab mir ein Lied für euch ausgesucht. Ich dachte mir es wäre am Anfang leicht für euch ein Lied zu singen. Es ist einfach, keine Sorge. Und wir singen zusammen, also wird sich auch keiner blamieren. Teilt jemand die Zettel aus?“

Ich lächelte schräg. Er war tatsächlich nervös.

Nachdem wir das Lied drei mal gesungen hatten schien Herr Sadevik sich schon etwas sicherer zu fühlen. Er hatte bemerkt, dass viele von uns die Töne nicht trafen und zeichnete gerade die Tonleiter an die Tafel.

„Okay, dann werden wir sie mal durchgehen. Singt bitte alle ein tiefes c.“ Er machte es vor, wir machten es nach. „Genau. Jetzt das d.“

Und tatsächlich schaffte er es uns bis zum Ende der Stunde nicht nur beizubringen die Tonleiter zu singen, sondern auch die Töne im Lied zu treffen.

„Wenn ihr Lieder habt, die ihr viel lieber als diese hier im Unterricht singen möchtet, könnt ihr gerne Text und Noten mitbringen.“, verkündete er am Ende der Stunde, „Ich möchte euch ja nicht dazu zwingen etwas zu singen, dass ihr nicht leiden könnt.“ Ein kleines Zwinkern und er beendete den Unterricht.

Ich packte meine Tasche zusammen und dachte ein wenig über diese Stunde nach. Natürlich war ich nicht umhin gekommen mitzusingen. Doch das störte mich nicht sehr, weshalb auch immer.

„Nastja.“

Ich hatte gerade die Klasse verlassen wollen, als Herr Morris mich rief, der bei Herr Sadevik am Lehrerpult stand. Gehorsam trat ich zu ihnen.

„Ich habe mich mit einigen anderen Lehrern unterhalten, die deine Klasse unterrichten.“, begann Herr Morris und achtete darauf, dass die anderen nicht zuhörten. „Wir machen uns ein wenig Sorgen um dich.“

Herr Sadevik, der offenbar nicht vorhatte am Gespräch teilzunehmen, sah nun überrascht auf. Ich dagegen senkte ein wenig den Kopf.

„Die Einzige Person mit der du an dieser Schule zu tun hast ist dein Bruder.“, fuhr Herr Morris fort, „Du redest mit sonst niemanden. Uns ist bekannt was euch beiden passiert ist. Wir möchte dir gerne helfen, wenn es einen Weg gibt. Du beteiligst dich nicht am Unterricht und redest nur mit Andrej. So wie es im Moment aussieht, müssen wir wahrscheinlich ein Gespräch mit deiner Tante führen.“

Ich verzog ein wenig das Gesicht.

„Ich weiß, dass dir das nicht gefällt. Aber wenn du weiterhin im Unterricht schweigst und nichts beiträgst, wirst du noch Probleme mit deinen Noten bekommen. Du bist eine intelligente junge Schülerin und könntest das beste Zeugnis der Klasse haben, aber ohne mündliche Noten liegst du nur gerade noch knapp im Durchschnitt.“

Wortlos nickte ich.

„Wir wollen nur dein bestes, Nastja.“

„Nastassja.“, korrigierte Herr Sadevik.

„Wie bitte?“

„Sie heißt Nastassja.“

Herr Morris lächelte schräg. „Stimmt. Das vergesse ich ständig, deshalb sage ich immer Nastja. Also, Nastassja... Wir wollen wirklich nur dein bestes.“

Schweigend nickte ich erneut.

„Du musst dich selbst überwinden und reden, wenn du gute Noten bekommen möchtest.“

Ein weiteres Nicken.

„Nun gut... dann kannst du jetzt nach hause. Sie auch Herr Sadevik, das wissen Sie ja.“

„Ja.“

Mit einem letzten Blick auf mich ging Herr Morris hinaus. Herr Sadevik dagegen sah mich eine Weile an, als wolle er etwas sagen.

„Du redest also nur mit deinem Bruder, ja?“

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und knabberte an meiner Unterlippe. „Mit meiner Familie.“, korrigierte ich dann.

„Und mit mir? Warum?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich... versuche nett zu sein.“

„Das ist wirklich sehr freundlich von dir.“, bemerkte er amüsiert, „Aber... warum spielst du kein Klavier mehr? Dein Bruder scheint dich ja oft zu fragen ob du für ihn etwas spielst.“

„Er tut es regelmäßig.“, stimmte ich zu, „Ich spiele schon seit 5 Jahren nicht mehr.“

„Wie alt bist du?“

„Ich wurde vor kurzem 18.“

„Und bist erst in der 10. Klasse?“

„Eigentlich komme ich aus Russland. Wir haben in Jakutsk gelebt. Als wir herzogen haben wir die Klasse wiederholt und sind auch ein mal sitzen geblieben, weil wir Probleme mit der Sprache hatten.“

„Verstehe. Und warum sprichst du nicht mit anderen?“

Ich fummelte an meinem Ärmel herum. „Ich mag einfach nicht. Ich spreche auch lieber russisch. Und es fällt mir nicht immer leicht den Akzent zu verbergen.“

„Warum verbirgst du ihn?“

„Weil man sonst kein Wort von dem versteht was ich sage.“ Und als ich das sagte, sprach ich mit Akzent.

Herr Sadevik spitzte ein wenig die Lippen. „Verstehe.“

Ein Klopfen an der Tür brachte uns dahin zu sehen. Dort stand Andrej mit unserer 6 Jahre alten Cousine Elise.

„Kommst du Tassja?“, fragte Andrej.

Mit einem Nicken hob ich meine Tasche vom Boden auf und eilte zu ihm. Elise hob bereits die Hand, woraufhin ich sie in meine nahm und sie anlächelte.

Auf dem Weg nach hause unterhielten wir uns auf russisch über den Schultag, wobei Elise begann zu lachen, als Andrej die Lieder erwähnte. Zuhause angekommen begannen wir dann mit den Hausaufgaben.

 

„Tassja?!“

Ich saß mit Andrej im Wohnzimmer, als Elise mich plötzlich rief und herein eilte.

„Bringst du mir das Klavierspielen bei?“, bat sie.

„Warum möchtest du Klavierspielen lernen?“, fragte ich sie.

„Weil es so schön ist.“

„Dann frag Andrej. Ich spiele kein Klavier.“

„Aber Mom sagte, ich darf es lernen, wenn du es mir beibringst.“

„Ich spiele aber kein Klavier.“

„Bitte Tassja. Bitte bitte.“

„Nein.“

„Ach... Manno.“ Traurig eilte sie wieder davon. Kurz darauf kam sie mit meiner Tante zurück.

„Tassja, warum bringst du ihr es denn nicht bei?“

„Weil ich nicht spiele.“, entgegnete ich.

„Aber du kannst es doch so gut.“

„Andrej kann es auch.“

„Aber nicht so gut wie du.“, murmelte er neben mir leise.

Ich stieß ihn leicht an.

„Ich hätte nichts dagegen es ihr beizubringen.“, meinte er dann an meine Tante.

Sie seufzte. „Du spielst doch schon im Café so oft.“

„Und ich koche da genauso oft.“, merkte ich an.

Sie rollte mit den Augen. „Na gut, wie ihr meint. Dann werde ich jemanden suchen, der herkommt und es ihr beibringt. Dienstags und Donnerstags.“

Elise schrie begeistert auf und lief in ihr Zimmer. Ich dagegen streckte mich auf der Couch und machte es mir darauf etwas gemütlicher. Tante Alissa blieb noch einen Moment bei uns, bevor sie schließlich auch wieder ging.

„Danke.“, meinte ich an Andrej, als ich mir sicher war, dass wir allein waren.

„Immer wieder gerne.“

 

Wie jeden Morgen war das Klingeln meines Weckers zwei Tage später das letzte was ich hören wollte. Murrend schaltete ich ihn aus, sah mürrisch auf die Uhr und zog mir das Kissen über den Kopf.

Nur noch fünf Minuten...

Eine halbe Stunde später schreckte ich plötzlich hoch und sprang aus dem Bett.

Das waren mehr als fünf Minuten.

Eilig sammelte ich ein paar Sachen aus meinem Kleiderschrank und flitzte damit ins Bad, wo ich in Rekordzeit duschte, mich abtrocknete und anzog. Am Vortag war ein Feiertag und es schien als würden es viele Familien genießen an diesem Tag Essen zu gehen. Also war ich bis spät abends im Café gewesen um auszuhelfen.

Es klopfte an der Badezimmertür.

„Tassja? Bist du drinnen?“, fragte Andrej.

„Ja, tut mir leid, ich hab verschlafen. In 5 Minuten ist das Bad frei.“, antwortete ich darauf und griff nach meiner Zahnbürste.

„Ich warte hier, okay?“

„Kein Problem.“

Drei Minuten später öffnete ich die Badezimmertür und tauschte mit Andrej, der nichts als eine Shorts trug. Dann ging ich wieder in mein Zimmer und begann schnell meine Tasche zu packen, bevor ich mir die Haare bürstete und anföhnte. Sobald ich das erledigt hatte ging ich schnellen Schrittes mit meiner Tasche hinunter und eilte in die Küche, wo ich mich auf meinen Platz setzte. Wenige Augenblicke später hörte ich Andrej auf der Treppe.

„Guten Morgen.“, begrüßte ich Alissa, die mir mein Frühstück hinstellte.

„Guten Morgen.“, entgegnete sie und richtete es sowohl an mich, als auch an Andrej, der gerade herein kam.

„Morgen.“, murmelte er und gähnte herzlich. „Bist du auch so kaputt wie ich?“, fragte er mich.

„Und wie.“ Ich biss in mein Brötchen. „Wie geht’s deinen Fingern?“ Gestern waren hatten sie ihm weh getan. Er hatte fast den ganzen Tag gespielt. Außerdem hatte sein rechtes Handgelenk geschmerzt.

„Denen gehts besser. Aber ich glaube, ich bekomm eine Sehnenscheinentzündung. Mein Handgelenk tut immer noch sau weh.“

„Im Bad haben wir eine Salbe und ein Verband. Soll ich es dir umbinden?“

„Ja bitte.“

Also gingen wir einige Minuten später hoch ins Bad, wo ich vorsichtig sein Handgelenk einschmierte und dann den Verband darum band.

„Geht es so?“, fragte ich ihn.

„Ja, so ist gut.“

Eine Zeit lang herrschte Stille.

„Musstest du dir früher auch welche umbinden? Ich erinnere mich nicht mehr so gut.“

„Dabei bist du doch der ältere.“, neckte ich ihn.

Er grinste leicht. „Ein bisschen.“

„Ab und zu musste ich es, ja. Aber mit der Zeit ging es.“

„Hm...“

Als ich fertig war lächelte ich mein Werk an und stand mit Andrej auf.

„Danke.“, meinte er lächelnd und ging mit mir wieder hinunter.

„Dafür bin ich doch da.“

Er legte mir einen Arm um die Schultern. „Meine ganz private Krankenschwester.“

Leise lachend piekste ich ihm in die Seite. „Übertreib nicht.“

Er grinste nur zurück.

 

Der Unterricht war relativ langweilig. Ein bisschen Bio, Physik, Deutsch, Mathematik und Geographie. In der Pause half ich wieder mit Andrej das Musikzimmer zu putzen, wobei wir uns ein wenig mit Herrn Sadevik unterhielten, der mir immer sympathischer wurde. Er war 23, lebte in der Stadt und liebte Musik, was der Grund dafür war, dass er es unterrichten wollte.

„Jeder Mensch ist unglaublich kreativ, solange er noch jung ist.“, erklärte er, „Wenn man diese Kreativität fördert, dann können aus ihnen Künstler oder Musiker entstehen. Vielleicht werden sie auch Autoren oder Dichter.“

„Sind Bücher und Gedichte nicht eher etwas für Deutschlehrer?“, fragte Andrej verwundert.

„Kannst du ohne Kreativität einen Fantasyroman schreiben?“, fragte Herr Sadevik zurück, „Die Fantasie wird von der Kreativität stark beeinflusst. Wenn man sie aber nicht fördert, dann verkümmert sie und es entstehen Leute, die... naja... keine Fantasie in diesem Sinne haben. Menschen, die nicht einmal die einfachsten Dinge in Wolken erkennen, verstehst du?“

„Ja. So war unsere Mutter.“

Ich hielt mit Putzen inne und warf Andrej einen Blick zu. Wir sahen uns einen Moment traurig an, dann lächelte er tapfer und putzte weiter. Ich versuchte mir ein Beispiel an ihm zu nehmen, doch das Lächeln gelang mir nicht. Dennoch putzte ich weiter, versuchte mir nichts anmerken zu lassen.

„Vermisst ihr Jakutsk?“, fragte Herr Sadevik irgendwann.

„Naja, es war sehr kalt da. Und es hat ständig geschneit.“, entgegnete Andrej, „Mein Vater hat uns mal ein Lied zum ersten Schnee gespielt. Tassja hat ihn ganz verwirrt angesehen und gefragt was für ersten Schnee er meint. Da gab es einfach keinen ersten Schnee, weil der vorige einfach nie schmolz.“

Ich lachte leise. „Ich erinnere mich daran. Er hat mir Bilder gezeigt. Bilder mit grünen Landschaften. Schottland. Irland. Kanada. Bilder von der Savanne. Damals konnte ich nicht glauben, dass dort nie Schnee fiel.“

„Du warst... 8 Jahre, oder?“

„Ja. Er hat damals ein Lied für eine russische Romanze komponiert.“

Herr Sadevik lächelte schräg. „Dein Vater hat dir also beigebracht zu spielen?“

„Ja. Er liebte das Klavier. Er war so stolz auf mich, dass er mir einen eigenen Flügel schenkte. Einen schwarzen Konzertflügel. Er ließ ganz groß meine Initialen darauf eingravieren. Die Konturen wurden mit Silber hervorgehoben.“

„Gibt es den Flügel noch?“

„Es ist der, der bei uns steht.“, antwortete Andrej.

„Er muss wunderschön sein.“

„Das ist er.“, stimmte ich zu und sah zu Herrn Sadevik auf. „Mein Vater hat ihn exakt für mich anfertigen lassen. Bei dem Bau ist mein Vater zwei mal am Tag dahin gefahren um zu sehen wie weit sie gekommen sind. Er war ein unglaublicher Pianist.“

Er lächelte mich warm an. „Es klingt so, als würdest du ihn verehren.“

„Verehren ist gar kein Ausdruck dafür.“, entgegnete Andrej, „Sie ist einfach hin und weg von ihm.“

„Was ist mit ihm?“

Mein Lächeln verschwand und ich senkte den Blick.

„Das... Also... Wir reden nicht gern darüber.“, antwortete Andrej halblaut.

„Verstehe.“

Wenige Augenblicke ertönte die Klingel, woraufhin wir die Sachen zusammen suchen und den Raum verließen.

„Wir sehen uns dann morgen wieder.“, meinte Herr Sadevik und lächelte uns an.

Andrej nickte ebenfalls lächelnd. „Bis morgen.“

Dann zog er mich zu den Klassen.

 

Als ich nach der Schule zuhause ankam war ich total fertig. Die Müdigkeit machte sich wieder bemerkbar und meine Arme taten weh. Müde ließ ich mich auf die Couch im Raum hinter dem Flur nieder und machte mich lang. Es war das Wohnzimmer, das so groß war, dass auch mein Flügel hier stand.

„Müde.“, murmelte ich auf Andrejs fragenden Blick.

„Warum gehst du nicht in dein Zimmer?“, fragte er neugierig.

„Zu müde.“, entgegnete ich und zog mir ein Kissen zurecht.

Wenig später kam Alissa herein. „Ah, ihr seid es. Habt ihr Bernhard gesehen?“

„Nein.“

„Wo ist er nur wieder? Wie auch immer... In einer halben Stunde soll Elises Klavierlehrer hier sein. Herr Sahnevnik oder sowas.“

„Sahnevnik?“, hakte Andrej verwirrt nach, „Wer hat denn so einen Nachnamen?“

„Spinne ich oder steckt in dem Namen das Wort Sahne?“, bemerkte ich amüsiert.

Mein Bruder kicherte.

„Hört auf euch darüber lustig zu machen. Karuvkovnewic ist nun wirklich nicht besser.“

„Du hast Recht.“, entgegnete ich, „Karuvsahnewic wäre viel besser.“

Andrej brach in Gelächter aus. „Karuv- Karuvsahnewic? Stell dir vor jemand mit diesem Nachnamen geht nach Russland. 'Wie ist Ihr Name? Karuvsahnewic?'“ Den letzten Teil sprach er in Russisch mit Akzent.

Ich fiel vor Lachen fast von der Couch. Tante Alissa rollte mit den Augen.

„Ihr zwei Quälgeister.“

Andrej hielt sich vor lachen den Bauch, während Alissa den Raum kopfschüttelnd wieder verließ.

„Fand sie den nicht gut?“, fragte ich verwundert, „Findest du Sahneheimer besser? Oder Rosensahne?“ Abgeleitet von Rosenheimer.

Andrej musste sich setzten und lachte sich die Seele aus dem Leib.

 

Eine halbe Stunde später, ich hatte es doch irgendwie geschafft zu schlafen, wurde ich vorsichtig von Andrej geweckt, der vor mich auf dem Boden hockte und mich leicht schüttelte.

Murrend blinzelte ich ihn ein paar Mal an und drehte mich dann weg. „Geh weg. Lass mich schlafen.“, murrte ich müde.

„Elises Lehrer ist da. Er hat gerade geklingelt.“, meinte Andrej darauf.

„Der Mann mit der Sahne?“, fragte ich, etwas benebelt vom Schlaf.

Andrej prustete los. „Alissa spekuliert übrigens die ganze Zeit wie er wohl nochmal heißt. Sie kam mit Namen wie Sandevonik und ein Wort, dass sich angehört hat wie Salathering.“

Lachend drehte ich mein Gesicht ins Kissen, wobei ich bemerkte, wie es ein zweites Mal klingelte. „Ich werd verrückt.“

„Vergiss nicht, alles ist besser als Karuvkovnewic.“

„Und Sandevkovnewic?“

Er fiel vor Lachen auf den Boden. Im selben Moment hörte ich, wie die Haustür geöffnet wurde.

„Oh... Pssst, er ist da.“ Ich hielt einen Finger an meinen Mund.

„Hallo Herr...“ Tante Alissa zögerte kurz.

Ich hörte nebenbei, wie Elise die Treppe hinunter hastete.

„Herr Savnedik?“

Andrej und ich prusteten wieder los.

„Fast.“, antwortete eine Männerstimme, die ich vor Lachen kaum verstand. „Mein Name ist Sadevik. Joshua Sadevik.“

Sofort hörten Andrej und ich auf zu Lachen. Ich hörte wie er den Flur betrat.

„Entschuldigen Sie. Ich habe den Zettel mit dem Namen verlegt und bin nicht gut darin mir Namen zu merken.“

„Kein Problem, Frau Rosenheimer.“

Andrej und ich sahen uns gegenseitig ungläubig an. Dann sahen wir gespannt zur Tür, während sich die Schritte dieser näherten. Die erste Person die herein kam war Tante Alissa, die uns natürlich ebenfalls sofort sah.

„Ihr seid ja immer noch hier.“, bemerkte sie überrascht, „Habt ihr eure Hausaufgaben schon gemacht?“

„Wir hatten keine auf.“, meinte Andrej darauf nur und stand mit mir auf.

Im nächsten Moment kam Eilse durch die Tür zur Küche hinein gesaust. „Ist er da? Ist er da? Ist er da?“, fragte sie aufgeregt.

„Ja, er ist da. Geht ihr zwei bitte woanders hin? Ihr habt noch nicht gegessen. Na los.“

Andrej und ich rollten mit den Augen und gingen rüber in die Küche.

„Glaubst du, es ist unser Janosch Sadevik?“, fragte ich ihn dort halblaut.

„Ich weiß nicht. Er hat sich so angehört.“

Nachdenklich schnappte ich mir zwei Äpfel und begann sie klein zu schneiden. „Ja... Und ich vermute mal so ganz spontan, dass es nur einen Joshua Sadevik in der Stadt gibt. Ich meine, wir sind hier in Deutschland. Ich glaube kaum, dass so ein Name hier weit verbreitet ist.“

„Du hast Recht. Aber wenigstens wissen wir jetzt, dass er mit Sahne nichts am Hut hat.“

Ich lachte leise. „Zumindest nicht, was seinen Namen betrifft. Wie kam Tante Alissa nur auf Sahnevnik?“

„Ich habe keinen blassen Schimmer.“

Ich setzte mich zu ihm an den Tisch und begann meinen Apfel zu essen. Im selben Moment hörte ich wie Herr Sadevik begann mit Elise zu sprechen.

„Wollen wir mal gucken?“, schlug Andrej vor.

Einen Moment kaute ich langsam auf meinem Apfel herum und dachte nach. Dann stand ich mit meiner kleinen Schüssel auf, nickte und ging mit ihm leise zur Tür die ins Wohnzimmer führte.

„Mein Cousin hat mir schon ein bisschen was gezeigt.“, erklärte Elise gerade und setzte sich eifrig an den Flügel.

Herr Sadevik – er war es tatsächlich! – setzte sich neben sie. „Dann zeig doch mal, was du schon alles kannst.“

Sie begann ein paar kurze Lieder zu spielen, die Andrej ihr mal gezeigt hatte. Ich beobachtete es aufmerksam und begann zu lächeln.

„Sie macht das gut.“, flüsterte ich Andrej zu.

„Stimmt.“

„Hast du ihr gut beigebracht.“

„Hab mir alle Mühe gegeben.“

Dann spielte sie ein Lied, das eigentlich an einigen Stellen im Mol gespielt wurde. Ich verzog leicht das Gesicht. Sie spielte Dur, statt Mol.

„Das hättest du ihr besser zeigen können.“, bemerkte ich an Andrej.

„Sie verwechselt Dur mit Mol... ab und zu.“, entgegnete dieser.

„Das höre ich.“

„Was macht ihr zwei da?“, ertönte plötzlich hinter uns Bernhards Stimme.

Andrej und ich drehten uns überrascht um.

„Hallo Bernhard.“, meinte Andrej überrascht.

„Ich dachte du wärst Angeln.“, bemerkte ich verwundert.

„War ich auch.“, meinte unser Onkel darauf.

„Keine Sorge, ich hab Tante Alissa nichts gesagt.“, meinte ich lächelnd, „Hast du was gefangen?“

„Kleine Fische. Ich musste sie zurück werfen. Also hab ich unterwegs nach hause ein paar Filets gekauft. Wer spielt Klavier? Als ich rein kam hab ich gedacht es wäre Andrej.“

„Ach so?“, meinte dieser und hob eine Braue.

„Ja. Wenn Nastja spielen würde, würde es sich ganz anders anhören.“

Er spähte an uns vorbei ins Wohnzimmer. „Ah. Elises Klavierunterricht.“

Ich spürte, wie jemand hinter mich trat.

„Ich bin Janosh Sadevik.“

„Bernhard Rosenheimer.“

„Freut mich Sie kennen zu lernen.“

„Mich ebenfalls.“ Bernhard sah wieder zu uns herab. „Warum nochmal wolltet ihr nicht Elises Lehrer sein?“

„Ich spiele schon drei mal in der Woche im Café.“, antwortete Andrej.

„Ich koche da genauso oft und spiele kein Klavier.“, fügte ich hinzu.

„Ich habe mich doch nicht verhört.“, bemerkte Herr Sadevik, „Ich wusste gar nicht, dass ihr zwei hier wohnt.“

Andrej und ich drehten uns zu ihm um.

„Hallo Herr Sadevik.“, begrüßte ich ihn.

Er lächelte schräg. „Hallo. Du hattest Recht. Der Flügel ist wirklich schön. Ich frage mich nur, warum da NK steht.“

Ich räusperte mich. „Nastassja Karuvkovnewic.“, erklärte ich dann, „Tante Alissa hat den Namen von Onkel Bernhard übernommen. Deshalb heißt sie Rosenheimer.“

„Verstehe. Ein schöner Name.“

Ich blinzelte überrascht. „Danke.“

„Nun... ich werde mal besser weiter machen.“ Er deutete auf Elise. „Immerhin möchte sie ja etwas lernen.“

„Ja, tun Sie das. Wenn Sie etwas trinken möchten, sagen Sie einfach Bescheid.“

„Vielen Dank.“

Mit diesen Worten wendete er sich ab und setzte sich wieder zu Elise. Dann begann er richtig mit dem Unterricht.

 

Es waren einige Wochen vergangen, seit Herr Sadevik Elise das erste Mal unterrichtet hatte. Mittlerweile war er ein Freund der Familie und aß ab und zu sogar mit zu Abend. Heute war Donnerstag. In zwei Wochen war Weihnachten. Da Herr Sadevik keine Familie hatte, ein tragisches Unglück, hatte Tante Alissa ihn eingeladen mit uns zu feiern. Er hatte zögerlich eingewilligt.

„Nastja, konzentriere dich bitte auf den Unterricht.“

Herr Morris' Stimme holte mich aus meinen Gedanken, woraufhin ich mein Blick von dem Meer auf ihn richtete, der vorn an der Tafel stand. Herr Sadevik saß wieder neben mir.

Herr Morris wendete sich wieder an die Tafel, an der er allerlei Daten über Beethoven aufgelistet hatte. Etwas gelangweilt schrieb ich mir alles sortiert auf. Sobald das fertig war schrieb ich am Rand die Noten eines seiner Stücke hin. Doch auch das ließ die Zeit leider nicht schneller vergehen. Auch nachdem zweiten Stück war die Stunde nicht vorbei. Oder nach dem dritten. Ich schrieb gerade die Namen der Stücke dazu, als Herr Morris bemerkte, dass ich nicht mehr abschrieb, was an der Tafel stand.

„Nastja, bring mir bitte deinen Zettel.“, forderte er mich auf.

Ich sah überrascht auf, stand dann aber damit auf und ging nach vorn. Er sah sich die Stücke ein paar Augenblicke lang an, dann sah er wieder zu mir auf.

„Nastja, ich bin wirklich beeindruckt, dass du all das aus dem Kopf notiert hast, aber ich wünsche mir du könntest trotzdem dem Unterricht folgen.“

Ich senkte den Blick und nickte.

„Gut.“ Er gab mir den Zettel zurück. „Setzt dich wieder.“

Ich ging wieder auf meinen Platz und schrieb die dazu gekommenen Daten von der Tafel ab.

„Kannst du die Lieder auch spielen?“, fragte Herr Sadevik plötzlich leise.

Ich sah kurz zu ihm auf und dann auf die Lieder. „Ja.“, murmelte ich dann leise, „Einige von ihm waren die ersten, die mein Vater mir beigebracht hat.“

„Du musst eine wirklich talentierte junge Frau sein.“

Als ich wieder zu ihm aufsah, er blickte bereits wieder nach vorn, stellte ich ein zweites Mal fest, dass er gut aussah. Dann stellte ich etwas fest, dass ich als Schülerin nicht bemerken durfte. Er sah sogar verdammt gut aus.

Ich schluckte kurz und sah wieder nach vorn. Dann bemerkte ich noch etwas. Das war das erste mal, dass ich mich mit ihm während dem Unterricht unterhielt.

 

Ich eilte durch den Schulflur Richtung Bibliothek. Die Instrumente im Musikzimmer und das Zimmer an sich waren nun wieder in einem Top Zustand, weshalb ich die Pause wieder für mich hatte... was ich schon irgendwie schade fand, denn es hatte Spaß gemacht mit Andrej und Herr Sadevik zu putzen.

Widerwillig glitten meine Gedanken wieder zu dem Grund für meine Eile. Ich brauchte Geschenke. Ich erinnerte mich wage daran, wie Alissa mir sagte, sie hätte so gerne ein Buch mit Gedichten. Mit den schönsten Gedichten. Am Vortag war ich auf dem Weg vom Café nach hause extra zu einem Schreibwarenladen gegangen, um ein leeres Buch zu kaufen. Außerdem hatte ich einen Füller gekauft, mit dem es sich gut, sauber und schön schreiben ließ. Beides hielt ich gerade in den Händen. Da einige Lehrer krank waren, fielen für mich die letzten Stunden aus, was bedeutete, dass ich nun ab der Pause drei Stunden Zeit hatte Gedichte abzuschreiben.

Hastig lief ich die Treppe in den ersten Stock hinunter, passte einen Moment nicht auf und lief in jemanden hinein. Dieser jemand legte einen Arm um mich, damit ich nicht fiel, stolperte dann aber über seine eigenen Füße und riss mich mit zu Boden. Ich landete etwas hart auf dem Rücken und stieß mir den Hinterkopf ein wenig am Boden an. Die Person über mir, ich bemerkte nebenbei das sie männlich, groß und ziemlich schwer war, stieß dabei mit dem Kinn an meine Stirn.

Ich stöhnte leise vor Schmerz auf und fasste mir an den Hinterkopf. Die Tatsache, dass meine Hand dabei frei war ließ mich erkennen, dass mir das Buch aus der Hand gerutscht sein musste.

„Tut mir leid.“, meinte ich dann und sah zu dem Mann auf. „Ich hab Sie nicht gesehen.“

Er sah zu mir herab und... ich riss die Augen auf. Ich musste ausgerechnet in Herrn Sadevik hinein laufen.

„Alles okay?“, fragte er mich leicht besorgt, „Hast du dir den Kopf gestoßen? Tut mir leid, dass ich dir weh getan habe.“

Mir blieb beinahe die Luft weg. „N-n-nein, alles in Ordnung.“, presste ich hervor und wedelte unsinnig mit den Händen herum.

Dabei fiel mir auf, dass ich wenigstens noch den Füller festhielt. Ein Füller, der sogar teurer gewesen ist als dieses verdammte Buch. Das wiederum sah ziemlich hübsch aus.

„Bist du dir sicher? Ich meine gehört zu haben, wie du dir den Kopf am Boden gestoßen hast. Lass mal sehen. Du könntest verletzt sein.“

Mein Gesicht brannte wie Feuer, als er eine Hand in mein Haar schob und meinen Hinterkopf abtastete. Als er die Stelle berührte, die versucht hat den Boden zu zerstören, zuckte ich vor Schmerz zusammen.

„Aua.“, jammerte ich kläglich.

„Tut mir leid.“, meinte er schnell, „Ist aber nur eine Beule. In ein paar Tagen ist sie weg.“

„Danke.“, murmelte ich und sah kurz zu ihm hoch.

Dann senkte ich wieder den Blick, wusste jedoch nicht wohin ich sehen sollte. Da war seine Brust, sein Hals, seine Schultern. Überall war er. Erneut begann mein Gesicht zu brennen. Dann bemerkte ich einen Duft und stellte fest, dass er es war, der so gut roch.

Plötzlich ging ein Ruck durch ihm und er setzte sich schnell auf, bevor er aufstand.

„Tut mir leid.“, wiederholte er, „Ich war wahrscheinlich ziemlich schwer.“ Hilfsbereit hielt er mir eine Hand hin, um mir aufzuhelfen.

Ich ergriff sie und ließ mir von ihm aufhelfen. „Es ist alles in Ordnung.“, murmelte ich darauf und wich seinem Blick aus.

Dann entdeckte ich das Buch neben uns und wollte mich bücken, um es aufzuheben. Er schien genau dasselbe im Sinn zu haben, denn ehe ich mich versah stieß ich mit meinem Kopf an seinem.

„Tut mir leid.“, kam es ihm ein weiteres mal über die Lippen, bevor er sich erneut bückte und das Buch aufhob. Dann wischte er noch einige Male darüber und sah es sich an. „Hübsch.“

Als ich nun doch zu ihm aufsah, stellte ich fest, dass er etwas unsicher auf das Buch sah. „Es wird ein Geschenk.“, erklärte ich schüchtern, „Für Tante Alissa.“

„Oh. Darf ich?“ Er machte Anstalt es zu öffnen.

„Es ist noch leer.“, meinte ich darauf nur und rieb mir über den Nacken, der immer heißer zu werden schien.

„Leer?“, hakte er nach und öffnete es, um hinein zu sehen.

„Ja. Ich wollte gerade in die Bibliothek. Alissa wünscht sich ein Buch mit den schönsten Gedichten. Ich wollte so viele heraus suchen wie ich finden kann.“

„Und dann schreibst du sie alle eigenhändig hier rein?“ Er sah zu mir auf.

„Ja.“

„Das ist ein sehr schönes Geschenk.“ Ein warmes Lächeln. „Wenn du möchtest, helfe ich dir bei der Auswahl der Gedichte.“

„Tatsächlich?“ Ich war sprachlos über dieses Angebot.

„Ja.“

„Aber... Ich meine... Du- Sie sind doch Musiklehrer.“

Sein Mundwinkel zuckte amüsiert. Warum? „Stimmt. Aber meine Mutter liebte Gedichte aller Art. Es gibt da einige, von denen ich denke, dass sie unbedingt in dieses hübsche Buch hier gehören.“

Ohne es wirklich zu merken lächelte ich ihn an. „Vielen Dank.“

„Kein Problem. Komm.“ Er deutete mit einer Kopfbewegung Richtung Bibliothek, woraufhin wir uns gemeinsam auf den Weg machten. „Wie bist du auf die Idee gekommen alles eigenhändig hinein zu schreiben?“, fragte er unterwegs neugierig.

„Ich war in einigen Bücherläden aber ich habe nie ein passenden Buch mit Gedichten gefunden.“, antwortete ich, „Ich habe mir auch welche in russisch und englisch angesehen, aber sie waren nicht... das richtige.“ Ich ließ mir von ihm das Buch geben, dass er noch festhielt. „Hier sollen nur die schönsten Gedichte stehen.“

„Ich verstehe.“

Zusammen betraten wir die Bibliothek und gingen direkt zu den Regalen mit den Gedichten.

 

Als die Schulzeit vorüber war hatten wir bereits siebzehn Gedichte, die ich aufschreiben wollte. Drei davon hatte ich bereits abgeschrieben und mir ein großes Lob über die schöne Schrift verdient.

Die Klingel unterbrach schließlich unsere Arbeit, woraufhin wir beide auf die Uhr sahen und uns darüber wunderten, wie schnell doch die Zeit vergangen war.

„Das ging schnell.“, bemerkte ich überrascht.

„Ja.“, stimmte Herr Sadevik zu und lächelte schräg. „Pack du ruhig deine Sachen zusammen. Ich frage die nette Frau dort vorn, ob du dir die Bücher ausleihen darfst.“

Erleichtert lächelte ich zurück. „Danke.“ Ich hatte schon damit gerechnet am nächsten Tag die Gedichte allein suchen zu müssen.

Zehn Minuten später verließ ich mit ihm das Schulgebäude.

„Sind sie nicht zu schwer?“, fragte er aufmerksam.

„Es geht schon.“, entgegnete ich und rückte meine Schultasche zurecht, die wirklich ziemlich schwer war.

„Ich kann dich auch fahren.“

Mit großen Augen sah ich zu ihm auf. „Fa-fahren?“

Einen Moment schwieg er verwundert. Dann erschien tatsächlich eine zarte Röte auf seinen Wangen. „Das sollte jetzt kein Flirt sein oder so.“, meinte er daraufhin hastig, „Ich dachte nur, ich fahre ja gleich sowieso zu dir-“ Er stoppte und wurde noch roter. „Also, zu eurem Haus, weil ich doch deiner Cousine den Unterricht gebe. Ich dachte, ich könnte dich doch mit dem Auto mitnehmen. Dann musst du die schwere Tasche nicht tragen. Ich meine, als Lehrer muss man doch auf das Wohlergehen seiner Schüler achten.“ Er wurde immer roter und hatte begonnen, wie ich zuvor, meinem Blick auszuweichen.

Als ein ziemlich kalter Wind aufkam, fröstelte ich einen Moment und zog den Kragen meiner Jacke etwas höher.

„Komm, ich denke es wäre wirklich besser, wenn ich dich fahre.“

Mit diesen Worten legte er mir eine Hand auf den Rücken und schon mich Richtung Lehrerparkplatz. Obwohl diese Geste eigentlich nichts persönliches an sich hatte, spürte ich wieder eine gewisse Röte in meinem Gesicht und senkte ein wenig den Kopf.

An seinem Auto angekommen nahm er mir die Tasche ab, legte sie auf die Rückbank und hielt mir dann die Beifahrertür auf. Etwas unsicher stieg ich ein und schnallte mich an, während er um den Wagen herum ging und sich ans Steuer setzte. Wenige Momente später fuhr er auch schon los. Ich bemerkte, wie ich begann nervös an meinen Fingern herumzufummeln.

„Ich hoffe ihr besteht nicht darauf mir etwas zu Weihnachten zu schenken.“, bemerkte er plötzlich.

Ich sah zu ihm auf. „Hm? Ach so. Ich weiß es nicht. Tante Alissa macht gerne Geschenke. Aber ich wüsste nicht, was ich Ihnen schenken sollte.“ Mein Blick fiel auf eine daumengroße Plüschkatze, die am Rückspiegel hing. „Mögen Sie Katzen?“

„Warum fragst du?“

„Neugierde.“, entgegnete ich und deutete auf das kleine Plüschtier.

„Ah. Also... Katzen mag ich schon, ja. Eigentlich nur keine Plüschkatzen.“

Ich hob eine Braue und sah zum besagten Stück. „Ach nein?“

Er lachte leise. „Nein. Das da war ein Geschenk.“

„Ein... Geschenk?“

„Ja. Von meiner Nichte.“

„Ich dachte, Sie hätten keine Familie.“

„Habe ich auch nicht. Nicht mehr, zumindest. Sie war 7 Jahre alt.“ Er zögerte. „Sie ist ertrunken. Auf einem Schulausflug hat die Lehrerin sie aus den Augen verloren und sie ist in einen See gefallen. Nani war Nichtschwimmerin, so wie alle anderen Kinder in der Klasse. Ein Klassenkamerad hat sie schreien hören und ist hin gelaufen. Als er Nani gesehen hat rannte er sofort zu seiner Lehrerin, doch als sie sie fanden war es zu spät.“

„Das tut mir leid.“

„Ist schon in Ordnung. Es ist schon 8 Jahre her. Ich war noch jung und habe nicht viel mit ihr gemacht. Sicher war es hart es zu hören, aber... ich habe es verkraftet.“

Unschlüssig sah ich hinab auf meine Hände, traute mich nicht etwas zu sagen. So blieb es still, bis er mit dem Wagen bei mir hielt und den Motor ausstellte.

„Da wären wir.“, bemerkte er und schnallte sich ab, um auszusteigen.

Ich tat es ihm gleich und stieg aus. Noch bevor ich die Hintertür öffnen konnte um meine Tasche zu nehmen, hatte er sie bereits hervor geholt und schulterte sie für mich. Etwas unsicher trat ich vom einen Fuß auf den anderen, wendete mich dann aber ab und ging die Auffahrt hinauf. Die Tatsache, dass sie leer war, verriet mir, dass Alissa und Bernhard nicht zuhause waren. Da der Unterricht gerade erst vorbei war, würden Andrej und Elise sicher auch noch nicht da sein.

Immer noch unsicher schloss ich die Tür auf und ging gefolgt von Herrn Sadevik hinein. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, zogen wir uns die Jacken und Schuhe aus. Sobald das erledigt war, stand ich nervös da und betrachtete den Boden.

„Wo ist dein Zimmer?“, fragte er plötzlich.

„W-w-was?“, brach es perplex aus mir heraus.

Er blinzelte, überrascht von meiner Situation und wurde wieder ein wenig rot, als er erkannte, warum ich so reagierte. „Wegen deiner Tasche.“, stellte er dann schnell fest, „Damit ich sie dir hoch bringen kann. Ich meine, sie ist wirklich schwer.“

„Oh. Also... Es ist oben.“ Ich deutete auf die Treppe am anderen Ende des Flures, stand einen Moment nur da und drehte mich dann um, um vor zu gehen.

Es war ein seltsames Gefühl mit ihm allein zu sein.

Er ist dein Lehrer, Nastassja.

Vielleicht war es deshalb so seltsam.

Im ersten Stock angekommen ging ich die nächste Treppe hinauf und betrat mein Zimmer, das direkt neben der Treppe war. Herr Sadevik folgte mir wortlos, warf einen Blick auf das Regal, in denen einige Bücher standen und stellte dann meine Tasche neben der Tür ab.

„Danke.“, murmelte ich halblaut und stellte sie zu meinem Schreibtisch, bevor ich die Bücher mit den Gedichten heraus holte und sie auf den Tisch legte.

Als ich mich umdrehte, stellte ich fest, dass er vor meiner kleinen Musiksammlung stand.

Yiruma.“, bemerkte er, „Das ist doch ein Pianist, nicht wahr?“

„Ja.“

„Und... wer ist Clint Mansell?“

„Ein Komponist.“

Welcome to Lunar Industries.“, las er vor sich her.

„Das ist ein Soundtrack.“, erklärte ich.

„Also hörst du auch gern Orchester?“

„Einige, ja.“

Jesper Kyd.“ Er sah sich den Titel des nächsten Albums an und hob eine Braue. „Ultimatum?“

Ich beobachtete ihn schweigend.

Resident Evil... Ich hab dich gar nicht für gewalttätig gehalten.“

„Bin ich auch nicht.“, entgegnete ich und zog das Album Ultimatum aus dem Regal, um mir die Hülle anzusehen. „Die Lieder haben sehr schöne Klänge.“, erklärte ich dann.

„Schöne Klänge?“, hakte er vorsichtig nach.

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und ging dann zu meiner Stereoanlage, wo ich die CD des Ablums einlegte und das Lied Aphelion abspielte.

Die Boxen in meinem Zimmer waren so verteilt und eingestellt, dass man jeden Ton regelrecht spüren konnte. Ich stellte die Lautstärke etwas hoch, drückte auf Play und sah dann zu Herr Sadevik, der aufmerksam hinhörte. Nur ca. eine halbe Minute später bekam er eine Gänsehaut. Eine weitere halbe Minute später schloss er die Augen. Ich sah, wie er immer wieder eine Gänsehaut bekam, bis das Lied vorbei war. Ich drückte auf Stopp und nahm die CD heraus. Als nächstes zeigte ich ihm schweigend das Lied And The Dead Were At My Feed. Es hatte eine ähnliche Wirkung, obwohl es aggressiver klang als Aphelion. Zu guter Letzt konnte ich einfach nicht anders, als ihm das Lied Kanade zu zeigen. Dieses Lied ging mir jedes Mal so unendlich nahe, dass ich den Tränen nahe war.

„Dieses Klavierstück hat mein Vater mir gerne vorgespielt.“, erklärte ich Herrn Sadevik halblaut, als es vorbei war. „Immer dann, wenn etwas trauriges passiert ist. Als mein Kater verstorben ist. Meine Großmutter. Und als unser Hund eingeschläfert werden musste.“

„Es ist wunderschön.“ Seine Stimme war rau, was mir einen Schauer über den Rücken jagte.

„Als ich alt genug war, haben wir es zusammen gespielt. Dann hab ich ihn damit aufgemuntert.“ Ich wischte hastig eine Träne von meiner Wange.

„Was hat er dir noch für Stücke beigebracht?“

„Ach... nicht so viele. Sie sind auch nicht sehr bekannt.“

„Ich würde dich gerne mal spielen hören.“

Ich wurde kurz etwas starr, nahm dann aber schnell die CD aus der Anlage und stellte das Album zurück in das Regal. „Ich spiele nicht mehr.“

„Ich weiß. Was ziemlich schade sein muss, wenn man daran denkt, dass du so etwas spielen kannst.“

Ich seufzte tief. „Andrej sagt ständig, es sei eine Verschwendung. Ich kann einfach nicht mehr spielen.“

„Warum?“

„Weil... Es ist einfach so.“ Ich drehte mich zu ihm um, wich jedoch seinem Blick aus, wobei ich die Hände in die Hosentaschen steckte. „Ich bin einfach nicht dazu in der Lage.“

Unten fiel die Haustür zu. Es blieb einen Moment still, dann ertönte Alissas Stimme.

„Nastja? Bist du schon da?“, rief sie durchs Haus.

Ohne Umschweife verließ ich das Zimmer und achtete nicht darauf, ob Herr Sadevik mir folgte. Das er das tat, wusste ich nur, weil ich hörte, dass er die Tür schloss. Ich ging mit ihm hinunter und fand meine Tante in der Küche, wo sie gerade ihren Einkauf wegstellte.

„Hier bin ich.“, meldete ich mich halblaut und lächelte Onkel Bernhard an. „Hallo Bernhard.“, begrüßte ich ihn dann.

„Hallo Nastja.“, begrüßte er mich ebenfalls und lächelte zurück. „Wie war die Schule?“

„Wie immer.“, entgegnete ich und besah ein paar Kekse, die Alissa auf die Küchenzeile gelegt hatte, während die beiden Herr Sadevik begrüßten. „Kokosnuss?“ Skeptisch schob ich die Kekse beiseite und zog eine andere Packung zu mir. „Ah, schon besser.“

Ich konnte regelrecht spüren, wie Herr Sadevik neben mich trat und mir über die Schulter sah. „Schokoladenkekse?“

„Sie schmecken sehr lecker.“, meinte ich darauf nur.

„Ich weiß. Ich esse sie auch sehr gerne.“

„Ach so?“ Überrascht sah ich zu ihm auf.

Das Telefon klingelte. Bernhard ging sofort in den Flur und hob ab.

„Ja. Ich esse sie wirklich gern.“, wiederholte Herr Sadevik, „Als ich klein war habe ich jeden Tag eine ganze Packung verputzt.“

„So viel esse ich nicht.“, warf ich amüsiert ein, „Wir essen sie alle sehr gerne, deshalb bleibt keinem von uns so viel.“

„Ich wette, wenn wir sie stibitzen, dann bemerkt niemand was davon.“, flüsterte er amüsiert.

„Meinen Sie?“ Mein Mundwinkel zuckte, als er leise nach der Packung griff und sie von der Küchenzeile zog.

„Versteck sie.“, raunte er mir zu, „Wir essen sie später.“

Ich nickte nur und nahm sie entgegen, wobei ich sie so hielt, dass Alissa sie nicht sah. „Ich räum schon mal das Wohnzimmer auf.“, meinte ich an meine Tante und ging gemütlich hinüber.

Sie murrte nur eine Zustimmung und beachtete mich nicht weiter. Im Wohnzimmer schlich ich mich zum Flur und eilte dort leise die Treppen hinauf, um Bernhard nicht auf mich aufmerksam zu machen. Oben angekommen versteckte ich die Kekse in der Kommode im Flur und ging dann leise wieder runter, um wirklich das Wohnzimmer aufzuräumen. Gerade als ich unten ankam, verließ Alissa hastig das Haus.

„Was ist los?“, fragte ich meinen Onkel verwirrt, als ich in die Küche ging.

„Elise hat sich den Arm gebrochen und wurde ins Krankenhaus gebracht.“, erklärte er, bevor er sich an Herrn Sadevik wendete. „Die nächsten Klavierstunden werden wohl ausfallen.“

„Das ist kein Problem.“, entgegnete dieser.

„Wenn du möchtest, kannst du natürlich trotzdem herkommen.“

Nanu? Sie duzen sich schon? Das ist mir wohl entfallen.

Weil ich seit einiger Zeit nicht mehr gegessen hatte, schnappte ich mir zwei Äpfel und schnitt sie mir zurecht. Als ich mich damit zu Bernhard und Herrn Sadevik an den Tisch setzte, schnappte sich mein Musiklehrer einfach ein Stück und schob ihn sich in den Mund.

„He.“, beschwerte ich mich, „Das war mein Apfel.“

Er grinste nur frech. „Die Betonung liegt auf war.“

Schmunzelnd wendete ich mich an meine Äpfel und begann zu essen, wobei ich sie immer wieder vor meinem ausgehungerten Lehrer beschützen musste. Onkel Bernhard ging derweil hinunter in den Keller, wo er Möbelstücke aus Holz baute. Irgendwann ging es so weit, dass einer von Herr Sadeviks Arme um mich herum nach meiner Hand griff, während die andere meine andere Hand, die das Stück Apfel hielt, an seinen Mund führte, um abzubeißen. Weil er nun mal kräftiger war als ich gelang es ihm auch mit Leichtigkeit. Ich zog einen Schmollmund, woraufhin er leise lachte, mir den Rest aus der Hand nahm und an meinen Mund hielt.

„Die Hälfte darfst du behalten.“, neckte er mich.

Ich öffnete bereits den Mund, um abzubeißen wurde mir dann aber der Position bewusst und erstarrte mit rotem Gesicht. Er war mir furchtbar nahe. Mein Blick wurde von seinem geradezu angezogen. Als ihm selbst bewusst wurde, wie intim unsere Positionen waren, wurde er ebenfalls etwas rot, wendete den Blick jedoch nicht ab. So saßen wir eine gefühlte Ewigkeit, bevor er sich schließlich dazu zwang den Blick abzuwenden und ein Stück abzurücken.

„Entschuldige.“, murmelte er schnell und legte dabei das Stück Apfel in meine Hand. Dann stand er auf und verließ eilig die Küche.

Ich dagegen blieb sitzen und brauchte ein paar Momente, bis ich mich wieder bewegen konnte. Dann sah ich auf den Apfel herab und blinzelte einige Male. Schließlich schob ich ihn mir langsam in den Mund und bemerkte wage, dass an ihm ein anderer Geschmack haftete. Zumindest an einem Teil davon. Ich weigerte mich jedoch länger über diesen Geschmack nachzudenken und aß die Äpfel weiter.

 

Später am Abend saß ich mit Elise im Wohnzimmer und passte darauf auf, dass sie nicht versuchte Klavier zu spielen. Obwohl kein Unterricht stattfand, war Herr Sadevik hiergeblieben, um ihr wenigstens ein bisschen Theorie beizubringen. Als sie nun sehnsüchtig zu dem Flügel sah räusperte ich mich tadelnd, woraufhin sich leise vor sich hin jammerte.

„Was soll denn passieren?“, fragte sie weinerlich.

„Dein Arm ist gebrochen.“, antwortete ich darauf nur, „Der Arzt sagt, du darfst nicht spielen, bis wieder alles verheilt ist.“

Als ich tatsächlich Tränen in ihren Augen sah, stand ich auf, holte sie zu mir auf die Couch und zog sie an mich, um die Arme um sie zu legen.

„Als ich kleiner war habe ich mir zwei Finger meiner linken Hand gebrochen.“, erzählte ich ihr, „Ich durfte nicht nur nicht, ich konnte auch nicht spielen. Es waren die schrecklichsten Wochen meines Lebens für mich.“

„Wenn du weißt, wie es mir geht, warum lässt du mich dann nicht?“

Ich lächelte schräg und drückte sie etwas enger an mich. „Als ich versucht habe zu spielen, obwohl ich es nicht konnte, hab ich meinen kleinen Finger damit so sehr belastet, dass er nochmal gerichtet werden musste.“

„Aber meine Finger kann ich doch bewegen. Ich verstehe nicht, wo das Problem ist.“

Ich nahm ihren gesunden Arm und streckte ihn aus, wobei ich auf ihren Unterarm deutete. „Die Sehnen für deine Finger gehen hier entlang.“, erklärte ich, „Ich glaube, wenn du versuchen würdest zu spielen, und sie damit zu sehr belastest, dann könnte es sein, dass vielleicht etwas falsch verwächst.“ Tatsächlich vermutete ich, dass der Arzt nur wollte, dass sie den Arm schonte.

„Aber ich möchte spielen.“ Sie schniefte leise.

„Das kannst du doch bald wieder. Sobald dein Arm verheilt ist. Ich überrede Andrej auch, dir Stunden zu geben, wenn Herr Sadevik nicht da ist.“

„Wirklich?“

„Wirklich wirklich. Aber nur wenn du brav bist und den Anweisungen deines Arztes folgst.“

„In Ordnung.“

Ich wischte ihr die Tränen weg. „Na also. Jetzt geh wieder rüber und lass dir weiter die langweilige Theorie beibringen.“

Herr Sadevik lachte leise über meinen Tonfall. „Wenn dir die Theorie so wenig gefällt, dann schlag was besseres vor.“

„Du kannst ihr ja was vorspielen. Sobald sie wieder spielen kann, wird sie die Lieder üben, wenn du nicht da bist.“

„Ach ja?“

Ich zuckte mit den Schultern. „So hab ich das zumindest damals gemacht.“

Sanft schob ich Elise in seine Richtung, woraufhin sie sich zu ihm setzte und zusah, als er kurz überlegte und begann zu spielen. Er spielte das Lied Für Elise, weshalb ich leise in mich hinein lächelte. Als die Stunde vorbei war, setzte er sich zu mir auf die Couch, wie er es öfters mal machte.

„Soll ich in den Ferien auch vorbei kommen?“, fragte er Elise, „Oder willst du da unterrichtsfreie Tage haben?“

„Nein, du musst auch dann kommen.“

Er lächelte schräg.

„Und zu Weihnachten auch. Dann auf jeden Fall. Mommy stellt heute den Weihnachtsbaum auf und fängt an ihn zu schmücken.“

Genauer gesagt, sie und Bernhard kauften ihn gerade.

„Wie läuft Weihnachten bei euch eigentlich immer ab?“, fragte er dann mich.

„Nun ja... Wie ein Heiligabend, eben. Wir essen alle zusammen und dann werden die Geschenke ausgepackt. Hinterher wird ein wenig gefeiert. Mit Weihnachtsmusik, Keksen, heißem Kakao und dem leider noch fehlendem Schnee.“ Mit finsterem Blick sah ich aus dem Fenster, durch das ich das grüne Gras in unserem Garten sehen konnte. „Er lässt wirklich lange auf sich warten.“

„Aber es schneit doch noch, oder?“, fragte Elise zaghaft, „Ich will kein Weihnachten ohne Schnee.“

„Natürlich schneit es noch.“, beruhigte ich sie, „Immerhin haben wir Winter. Und wir sind ganz nahe bei den Alpen. Hier gibt es zu Weihnachten immer Schnee. Ganz viel. Und wenn er erst mal liegt, dann bauen wir einen Schneemann, machen Schneeengel und eine Schneeballschlacht, okay?“

„Super!“ Sie stürzte sich auf mich und machte es sich auf meinem Schoß gemütlich.

„Aber erst musst du natürlich einen riesigen Haufen Geschenke auspacken.“

„Hast du auch eins für mich?“, fragte sie mit großen Augen.

„Natürlich. Sogar zwei.“ Ich hielt zwei Finger hoch und wackelte lächelnd damit.

„Du auch?“ Sie sah Herrn Sadevik mit großen Augen fragend an.

„Vielleicht.“, entgegnete er amüsiert.

„Ja oder nein?“

„Sei nicht so gierig.“, ermahnte ich sie amüsiert und kitzelte sie ein wenig.

Sie lachte ein wenig auf.

„Wenn er keins für dich hat, dann stell dir vor, das zweite von mir sei von ihm.“

„Ist das denn dasselbe?“

„Natürlich.“

„Aber wenn ich eins von ihm bekomme und beide von dir, dann bekomme ich ein Geschenk mehr.“

„Gieriges Kind. Wenn du weiter so machst, dann stehst du am Ende noch auf der Liste mit den bösen Kindern und bekommst gar keine Geschenke.“

Sie machte große Augen und schlug die Hände vor den Mund. „Ich bin ganz artig.“, widersprach sie dann ganz hastig, „Und es macht auch überhaupt nichts, wenn Herr Sadevik kein Geschenk für mich hat.“

Sowohl er, als auch ich, mussten leise lachen, als sie das sagte. Die Tür wurde geöffnet und ich hörte, wie Alissa und Bernhard schwer schnauften.

„Der Baum ist da!“, rief sie dann aus.

Wir standen sofort auf und halfen den beiden dabei ihn in die bereits vorbereitete Ecke zu stellen und von dem Netz zu befreien. Dann holten wir gemeinsam den Weihnachtsschmuck. Herr Sadevik setzte sich schüchtern wieder auf die Couch und sah ein wenig dabei zu, wie Alissa mit Elise den Baum schmückte. Ich stand einen Moment nur daneben und griff dann nach einer Kugel, um sie aufzuhängen, womit ich dann begann, ebenfalls zu helfen. Irgendwann hielt ich inne und sah zu Herrn Sadevik herüber.

„Möchtest du auch helfen?“, fragte ich ihn lächelnd und bemerkte nicht, dass ich begonnen hatte ihn zu duzen.

Er dagegen schien es offensichtlich sofort zu merken, denn er sah mich einen Moment mit offenem Mund ab, bevor er leicht lächelte und aufstand, um zu helfen. An diesem Abend kamen wir uns ein bisschen näher. Wir lachten ausgelassen miteinander, alberten herum und erzählten Dinge aus unserer Vergangenheit. Wir amüsierten uns so viel, dass wir glatt die Zeit vergaßen.

„Da haben wir jetzt schon 22 Uhr.“, bemerkte er irgendwann überrascht, „Ich sollte langsam nach hause. Morgen ist der letzte Tag vor den Ferien.“

„Oh ja.“, erinnerte ich mich.

„Bringst du ihn zur Tür?“, fragte Alissa.

„Kein Problem.“

Ich stand mit Herrn Sadevik auf und begleitete ihn zur Tür, wo ich wartete, dass er sich Jacke und Schuhe wieder angezogen hatte.

„Nun... wir sehen uns morgen in der Schule.“, meinte er an mich und lächelte schräg.

„Das hoffe ich zumindest. Dein Musikunterricht macht mehr Spaß, als der von Herr Morris. Außerdem könnte ich noch ein bisschen Hilfe mit den Gedichten gebrauchen.“

„Kein Problem. Treffen wir uns dann in der Bibliothek?“

„Direkt am Eingang?“

„In Ordnung.“ Er lächelte etwas herzlicher. „Dann bis morgen.“

„Bis morgen.“

Ich sah ihm noch ein wenig hinterher, als er in den Wagen stieg und los fuhr. Dann verkündete ich, dass ich mich nun ins Bett legte und ging nach oben, wo ich mich fürs Bett fertig machten und mich dann mit einem Seufzen hinlegte.

Kapitel 2

Erster Schnee und erste Schritte

 

Die nächsten Tage vergingen viel zu schnell. Andrej und ich halfen fleißig im Café aus und ich hatte zuhause viel damit zu tun die Gedichte abzuschreiben. Ich wollte das ganze Buch füllen, das zufällig 200 Seiten hatte. Das war schwerer, als ich gedacht hatte. Herr Sadevik hatte mir eine Nummer aufgeschrieben, unter der ich ihn erreichen konnte, falls ich weiter Hilfe damit brauchte. Da ich Samstag und Sonntag damit verbrachte im Café zu helfen und die bereits gefundenen Gedichte abzuschreiben, kam es dazu, dass ich erst am späten Montagabend mit der Nummer in der Hand auf meinem Bett saß und darüber nachdachte, ob ich ihn anrief. Aber am nächsten Tag würde er sowieso herkommen. Warum dann anrufen?

Vielleicht hat er selbst Bücher mit Gedichten und könnte sie mitbringen.

Dieser Gedanke machte durchaus Sinn. Also nahm ich mir mein Handy und begann die Nummer einzutippen, rief jedoch nicht an. Stattdessen starrte ich mein Handy einfach nur eine Weile an und bemerkte, dass ich nervös wurde. Ich atmete einmal tief durch, drückte den grünen Knopf und begann auf meiner Unterlippe herum zu kauen. Es tutete.. einmal... zweimal...

„Sadevik.“, meldete er sich etwas verschlafen.

Mein Herz setzte einen Schlag aus, wobei ich auf die Uhr sah. 22:37Uhr.

„Hallo?“, meldete er sich erneut.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Hier ist Nastassja.“, brachte ich schließlich hervor.

Er schwieg einen Moment. „Warte kurz.“ Im Hintergrund hörte ich etwas rascheln und wurde rot, als ich erkannte, dass er tatsächlich schon im Bett gelegen hatte. „Okay, was gibt’s?“, fragte er dann.

„Naja... ich hab jetzt alle Gedichte abgeschrieben, die wir ausgesucht haben. Meine Hand tut jetzt zwar sau weh, aber immerhin habe ich schon 100 Seiten voll.“

„Wenn es zu sehr weh tut, kannst du sie mit einer Salbe eincremen.“

Ich blinzelte überrascht. „Okay, mach ich.“

„Ich komme morgen wieder vorbei.“, hob er dann an, „Ich werde ein paar Bücher meiner Mutter mitbringen. Wir könnten uns nach Elises Klavierstunde irgendwo treffen, damit deine Tante nicht misstrauisch wird.“

Mir wurde heiß. Er will dir nur helfen. Er macht das nur, um zu helfen, mehr nicht. „Das klingt gut.“

„In Ordnung.“ Im Hintergrund hörte ich etwas scheppern. „Warte mal kurz, mir ist gerade ein Glas runter gefallen.“

Mein Mundwinkel zuckte amüsiert. „Kein Problem.“, antwortete ich und wartete dann zwei Minuten. Währenddessen hörte ich ihn einmal laut fluchen und konnte ein Grinsen nicht mehr verhindern. Ob er sich wohl geschnitten hatte?

„So, bin wieder da.“, meldete er sich dann plötzlich wieder, „Und somit bist du nicht mehr die einzige, der die Hand weh tut.“

„Geschnitten?“

„Ja.“ Das Geräusch von fließendem Wasser ertönte. „Wie war dein Wochenende?“, fragte er dann.

Ich war etwas überrascht, weil ich damit gerechnet hatte, dass er sich von mir verabschieden würde, sobald alles geplant war. „Etwas stressig.“, antwortete ich nach kurzem Schweigen, „Ich helfe mit Andrej im Café meiner Tante aus und da ist jetzt viel los.“

„Du hilfst im Café aus?“

„Ja. Ich hab da Montags, Mittwochs und Freitags eine Schicht nach der Schule als Köchin. Und am Wochenende bin ich auch kurz da.“

„Klingt interessant. Ich wusste gar nicht, dass ihr ein Café habt.“

„Oh... ja... Wir unterhalten uns nicht viel darüber. Es ist eher eine Sache zwischen Alissa und Bernhard.“

„Verstehe.“

„Und... wie... war dein Wochenende?“ Ich musste die Worte raus quetschen, weil ich so nervös war.

„Etwas weniger stressig. Ich war im Museum und ein wenig in der Stadt. Ich hab mir überlegt, ob ich nicht doch ein Geschenk für Elise kaufe, damit sie nicht traurig ist.“

„Sie hat dich manipuliert.“, lachte ich amüsiert.

Er lachte ebenfalls. „Das kann sein. Sie erinnert mich sehr an Nani.“

„Oh...“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

„Es ist schon okay.“, meinte er wenig später mit sanfter Stimme. „Ich finde es eher angenehm. Ich kann mir vorstellen so die Jahre mit Nani nachzuholen.“

Nun lächelte ich. „Das ist schön.“

Es blieb eine Weile still, wobei ich im Hintergrund wieder das Rascheln hörte. „Warum bist du so spät eigentlich noch wach?“

„Ich hab bis eben noch die letzten Gedichte abgeschrieben.“

„Liegst du denn schon im Bett?“

Ich wurde rot. „Ich-ich-ich- äh...“

„Das sollte jetzt nicht irgendwie... intim rüber kommen.“, meinte er schnell und seufzte tief. „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht belästigen.“

„Sch-sch-schon okay. Ich-ich mach mich gleich f-f-fertig fürs Bett.“

Er räusperte sich einige Male. „Gut... Ich meine... In Ordnung.“

„Also...“

„Wir sehen uns morgen.“

„Ja.“

Eine Weile sagte keiner von uns etwas, was mich deutlich nervöser machte.

„Dann... Gute Nacht.“, meinte er irgendwann.

„G-g-gute Nacht.“

„Träum was schönes.“ Seine Stimme klang bei diesen Worden so weich, dass mir Hitze in die Wangen stieg.

„Du auch.“, kam es mir über die Lippen, bevor mein Hirn wieder begann zu arbeiten. Dann hielt ich mir selbst die Hand vors Gesicht, weil mir das unglaublich peinlich war.

Im nächsten Moment hatte er bereits aufgelegt, woraufhin ich mein Handy beiseite legte, mich aufs Bett fallen ließ und mein Gesicht ins Kissen drückte.

Er ist dein Lehrer Nastja.

Und trotzdem fühlte ich mich immer so anders, wenn er da war oder ich mit ihm sprach.

„Aaaaah...“, machte ich halblaut in mein Kissen und zerzauste mir mit beiden Händen das Haar. „Was mach ich nur? Was mach ich nur? Was mach ich nur?“ Ich musste immerhin noch eine ganze Weile mit diesem Gefühl zurecht kommen müssen. Und an Weihnachten...

Ich jammerte vor mich hin. Alissa liebte es Mistelzweige Aufzuhängen und bestand darauf, dass die Tradition, die damit zusammen hing, eingehalten wurde. Sie liebte Traditionen. In diesem Falle bedeutete es... wenn Herr Sadevik und ich unter einem Mistelzweig stehen würden...

Mein Gesicht wurde heiß.

„Mensch, Nastja.“, murmelte ich ins Kissen, „Du bist doch idiotisch. Er ist dein Lehrer. Gut, er ist nur Referendar, aber trotzdem ein Lehrer.“

Ich ließ mein Kissen los und zauste mir mit beiden Händen die Haare. Dann drehte ich mich auf den Rücken.

Ich sollte schlafen. Gute Idee... Ich werde jetzt schlafen.

 

Da ich in der Nacht einfach nicht schlafen konnte, war ich mal wieder auf der Couch eingeschlafen. Was mich irgendwann weckte waren Klaviertöne. Während mich diese weckten, bemerkte ich, dass jemand vor mir auf dem Boden saß und sich mit dem Rücken gegen die Couch lehnte.

„Hör lieber auf, sonst weckst du sie noch.“, hörte ich jemanden leise sagen.

„Das macht nichts, sie schläft schon seit Stunden.“, entgegnete ein anderer.

In dem Versuch eine Position zu finden, in der das Klavier nicht so laut klang, drehte ich ein wenig den Kopf. Im nächsten Moment legte man mir eine Hand an die Wange.

„Vielleicht hat sie schlecht geschlafen.“, sinnierte die Person vor mir.

„Dann soll sie ins Bett gehen.“

Ich gab mich geschlagen und öffnete blinzelnd die Augen... um sie dann aufzureißen, als ich Herrn Sadevik ganz nah vor mir sah. Sein Gesicht war nur vielleicht zwanzig Zentimeter entfernt und sah Richtung Klavier. Als er nun zu mir sah, seufzte er leise.

„Jetzt ist sie wach.“

„Und wenn schon...“ Es war Andrej am Klavier.

„Gut geschlafen?“, neckte Herr Sadevik mich amüsiert und nahm die Hand von meiner Wange.

Ich rieb mir müde das rechte Auge und setzte mich auf. Dann nickte ich stumm und rieb mir übers Gesicht.

Er setzte sich neben mich. „Wie kommt es, dass du hier auf der Couch geschlafen hast?“

„Ich hab heute Nacht kaum Schlaf bekommen.“, entgegnete ich und gähnte herzlich.

„Wie kommt das?“

„Ich hab zu viel nachgedacht.“ Was in der Tat stimmte.

„Wenn das so ist.“ Er sah auf seine Armbanduhr. „Ich muss jetzt auch los.“ Dann warf er mir kurz einen Blick zu und stand wieder auf. „Ich hab noch einen Termin.“

Elise, die auf der anderen Seite des Couchtisches saß, sah zu ihm auf. „Ein Termin?“

„Ja. Routinebesuch beim Zahnarzt.“

Ihre Antwort war ein Murren.

„Ich komme Donnerstag wieder, okay?“

„Ich werde es Alissa ausrichten.“, antwortete Andrej.

„Bis Donnerstag.“, meinte er dann an mich und lächelte leicht und etwas amüsiert.

Verwirrt blinzelte ich zurück. „Bis Donnerstag.“, entgegnete ich dann, woraufhin er das Haus verließ. Keine fünf Minuten später gab mein Handy ein Zeichen von sich, das besagte, dass ich eine SMS bekommen hatte. Andrej warf mir einen überraschten Blick zu, während ich mein Handy heraus holte, um die SMS zu lesen. Von Joshua Sadevik.

Ich warte zwei Straßen weiter im Auto. Ich dachte, wir könnten uns zusammen einen Ort aussuchen, an dem wir das Buch füllen können.

Ich atmete kurz durch und schrieb schnell, dass ich mich sofort auf den Weg machen würde.

„Du bekommst SMS?“, fragte Andrej überrascht und stand auf, um zu mir zu kommen.

Schnell schloss ich die Nachricht und steckte das Handy wieder ein. „Die war vom Anbieter. Irgendein Angebot. Wenn ich in den nächsten Tagen soundsoviel Geld auflade bekomme ich dies und jenes.“

„Ach, so ein Mist, ja?“ Er rollte mit den Augen.

Ich gähnte lange. „Ich glaube, ich gehe ein bisschen spazieren.“

„Spazieren?“

Ein Nicken. „Ja. Zum Wachwerden. Das hat Papotschka auch gern gemacht.“

„Stimmt. Nun... viel Spaß.“

Mit einem weiteren Nicken stand ich auf und ging in mein Zimmer, um mir Jacke und Schuhe anzuziehen. Dabei steckte ich auch das Buch und den Stift für die Gedichte ein. Dann verließ ich das Haus und ging die Straße hinunter. Fünf Minuten später stieg ich in Herrn Sadeviks Auto, woraufhin er losfuhr.

„Also...“ Er lächelte mich leicht an. „Wohin solls gehen?“

Ich bließ kurz die Wangen auf und atmete dann lange aus. „Ich weiß nicht. In ein Café? Oder nein, ich kenne eine Bar, die ist etwas weiter weg.“

Er hob eine Braue und sah mich überrascht an. „Du kennst Bars?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Andrej verschleppt mich manchmal. An Feiertagen oder zum Geburtstag. Manchmal auch einfach so am Wochenende.“

„Das macht Sinn. Aber es wundert mich trotzdem. Du kommst mir nicht vor wie ein Mädchen, dass in Bars geht.“

„Ich bin Russin.“, erinnerte ich ihn, „Ich hab schon mit 13 getrunken. Aber nicht sehr viel.“

Er schien noch überraschter. „Du trinkst wirklich?“

„Zu Anlässen. Aber nicht viel, wie ich bereits gesagt hab.“

„Und in den Bars?“

„Ich war bisher nur wenige Male betrunken.“, antwortete ich wahrheitsgemäß, „Abgestürzt bin ich noch nie.“

„Und wie viel trinkst du dann?“

Ich sah zu ihm herüber. „Warum fragst du?“

„Einfach aus Neugierde. Es heißt ja, Russen seien ziemlich trinkfest.“

„Oh, ja. Mein Cousin Ivan trinkt Wodka pur und parkt seinen Wagen fehlerfrei ein.“

„Du hast also noch mehr Verwandte?“

„Nicht viele. Ivan wohnt allein in Moskau, Jegor wohnt mit seiner Freundin in St. Petersburg und Olga wohnte in unserer Nähe.“

„Hast du Kontakt zu ihnen?“

„Ich vermeide es. Bei Jegor und Olga zumindest. Warum sag ich dir lieber nicht.“

„Und Ivan?“

„Ivan ist ganz in Ordnung. Er kommt ein paar mal im Jahr zu Besuch. Er verdient ja genug Geld, da kann er sich das gut leisten. Bieg hier links ab.“

Er tat was ich sagte. „Wir fahren jetzt also in die Bar, ja?“

„Ja. Sie ist etwas weiter weg, also besteht auch nicht das Risiko, Alissa oder Bernhard könnten da auftauchen. Sie kennen die Bar auch gar nicht. Andrej hat sie mal gefunden.“

„Und was ist das für eine Bar?“

„Eine einfache kleine Bar.“ Ich zögerte. „Na gut, sie gehört einem Russen. Zufällig ein Bekannter von Ivan. Du weißt schon, er kennt jemanden, der einen kennt und so weiter.“

Er nickte langsam. Ich dagegen atmete kurz durch. Offenbar hatte ich angefangen sinnloses Zeug vor mich her zu brabbeln, wenn ich in seiner Gegenwart nervös wurde.

„Trinkst du Alkohol?“, fragte ich plötzlich und schlug mir innerlich gegen die Stirn. Tolle Frage, Nastja.

„Manchmal.“, gab er zu.

„Oh.“ Ich zögerte etwas. „Hier rechts.“

Er bog ab. Etwa zehn Minuten später hatten wir das Ziel erreicht, einen Parkplatz gefunden und das Lokal betreten. Der Barkeeper kannte mich. Das tat er allerdings nur, weil ich Ivans Cousine war. Mehr wollte ich auch nicht wissen.

„Hallo Nastassja.“, begrüßte er mich auf russisch und lächelte mich an. „Bist du diesmal allein hier?“

„Nein, mit einem... Freund. Gibt es hier eine ruhige Ecke?“

Er hob eine Braue. „Eine ruhige Ecke in einer Bar? Wie alt warst du noch gleich?“ Er warf Herrn Sadevik einen Blick zu.

„Oh bitte nicht. Wir haben nichts dergleichen vor. Wir bereiten nur ein Geschenk für meine Tante vor.“

„Wenn es weiter nichts ist... Wartet einen Moment, dann schließ ich euch das Büro auf.“

„Danke.“

Er winkte ab und gab einem Gast sein Getränk, bevor er um die Bar herum ging und mich hinter sich her winkte.

„Komm.“, meinte ich an Herrn Sadevik, „Hinten ist ein Büro, da ist es ruhiger.“

„Kennt er dich?“

„Alle die hier arbeiten kennen mich. Wegen Ivan.“

„Wie kommt das?“

„Nun...“ Ich seufzte. „Ivan besitzt ein paar Teile dieser Bar. Er und der Sohn des Besitzer sind quasi Partner.“

„Er kennt jemanden, der jemand kennt, ja?“

Ich grinste ihn an. „Es ist, wie es ist.“

Der Barkeeper führte uns durch eine Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift 'Nur für Personal' hing. Dann ging er einen winzigen Flur hinunter und schloss eine Tür auf.

„Hier.“, grummelte er auf russisch, „Macht keinen Unsinn, okay?“

„Auf die Idee würden wir nie kommen.“, entgegnete ich, „Ich sag dir Bescheid, wenn wir fertig sind und du wieder abschließen kannst.“

„Klar.“

Damit wendete er sich ab und ging wieder nach vorn, woraufhin ich mit Herrn Sadevik das kleine Büro betrat und die Tür hinter mir zu zog. Es gab zwei kleine Fenster, einen breiten Schreibtisch und eine Couch mit einem kleinen Tisch. Genau dort setzte ich mich hin, zog mir dabei die Jacke aus und legte sie über die Couchlehne.

„So.“, meinte ich und wartete darauf, dass Herr Sadevik sich gesetzt hatte.

„Praktisch.“, bemerkte er, „Hier ist es wirklich ziemlich ruhig.“

„Sag ich doch.“ Ich holte das Buch und den Stift aus meiner Jackeninnentasche und schlug das Buch auf. „Hier. Es ist bereits zur Hälfte voll.“

„Wow. Sind das immer kurze Gedichte für eine Seite?“

„Nein. Ich hab auch längere, die teilweise bis zu vier Seiten einnehmen. Ich versuche am Beginn des Gedichts die linke Seite frei zu halten und dann auf der rechten anzufangen.“

„Das sieht schöner aus.“

„Ja.“

Er hatte eine Umhängetasche dabei, aus der er nun ein Buch hervor zog, das schon ziemlich alt aussah. „Hier. Das Deutsch ist schon ziemlich alt und an der Rechtschreibung mangelt es deshalb ein wenig, aber das macht ja nichts. Wir sind ja intelligente Menschen.“

Ich lächelte schräg und begann mit ihm die Gedichte durchzusehen.

 

Mehrere Stunden später klingelte mein Handy. Ich zuckte zusammen, konnte mich gerade noch davor bewahren mich zu verschreiben und legte den Stift beiseite.

„Ich geh schnell ran.“, murmelte ich, setzte mich auf und holte mein Handy heraus. „Ja?“, meldete ich mich, als ich abnahm.

„Wo bist du?“, fragte Andrej besorgt, „Du bist jetzt schon seit Stunden weg.“

Ich zögerte ein wenig. „Ich guck mir grad ein paar Läden an.“, log ich und verzog das Gesicht, weil es sich schrecklich anfühlte. „Sag Alissa, ich bin noch vor 20 Uhr zuhause.“

Er stöhnte. „Wir haben bereits 21:39 Uhr.“

„Oh, das tut mir leid. Ich sehe, dass ich schnell nach hause komme, okay? Esst ohne mich, ihr müsst auch nichts übrig lassen.“ Herr Sadevik und ich hatten uns nebenbei den einen oder anderen kleinen Drink genehmigt und etwas gegessen, damit wir nicht betrunken wurden, weshalb ich keinen großen Hunger hatte. „Ich ess unterwegs etwas.“

Er seufzte tief. „Okay, aber pass auf ja? Es ist so dunkel.“

„Ich pass auf mich auf, versprochen.“

„Gut. Wenn ich dich irgendwo abholen soll, dann ruf mich an.“

„Mach ich.“

„Bis gleich.“

„Bis gleich.“

Ich legte auf und steckte mein Handy wieder ein, woraufhin Herr Sadevik mich fragend ansah.

„Das war Andrej.“, antwortete ich auf die unausgesprochene Frage und schilderte ihm kurz das Gespräch, während ich die Sachen zusammen packte. Wir waren zwei Bücher durchgegangen und drei weitere hatte er noch mitgebracht.

„Schon so spät?“, bemerkte er überrascht, „Die Zeit vergeht ja wie im Fluge.“

Ich schüttelte meine Hand aus, die jetzt noch mehr schmerzte, obwohl ich seinen Rat von voriger Nacht nachgekommen war. „Ja, kaum zu glauben, oder?“

„Nun ja. Soll ich dich noch nach hause bringen?“

„Kannst du denn fahren? Oh, das tut mir leid.“ Ich schloss die Augen. „Wegen mir hast du Alkohol getrunken und kannst nicht fahren.“

„Lass das mal meine Sorge sein. Ich kann gut fahren und ich bin ja auch nicht angetrunken.“

„Aber wenn du angehalten wirst-“

„Ist schon okay.“, unterbrach er mich sanft und lächelte mich warm an.

„Es tut mir leid.“, murmelte ich kleinlaut.

„Ist in Ordnung. Ich habs immerhin freiwillig gemacht.“

„Aber ich hab die Bar überhaupt vorgeschlagen und dich dazu gebracht herzufahren.“

Als wir aufstanden zog ich mir meine Jacke an und verstaute das Buch und den Stift in der Jackeninnentasche. Plötzlich legte er die Hände auf meinen Schultern und zog mich an sich, legte warm die Arme um mich. Von einem Moment zum nächsten begann mein Herz zu rasen und mir wurde die Luft knapp. Eine seiner Hände lag an meiner linken Schläfe, drehte dort leicht meinen Kopf und lehnte ihn so warm an sein Schlüsselbein. Sein Gesicht war halb in meinem Schopf vergraben, sodass ich seinen Atem spüren konnte. In meinem Bauch breitete sich eine Wärme aus und über meinem Körper zog sich vor angenehmen Schaudern eine Gänsehaut. Als mir sogar ein wenig schwindelig wurde, schloss ich die Augen und lehnte mich richtig an ihn, wobei ich meine Hände an seine Brust legte.

„Es ist alles in Ordnung.“, flüsterte er.

Da es so still im Raum war, hörte es sich viel lauter an, war jedoch nicht unangenehm. Als er sich dann jedoch wieder von mir löste, fühlte es sich an wie ein Verlust.

„Na komm, ich bring dich jetzt nach hause.“

Mit diesen Worten drehte er mich um, legte mir eine Hand auf den Rücken und schob mich hinaus.

 

Eine Viertelstunde später hielt er an der Kreuzung zu meiner Straße und schaltete den Motor aus.

„Vielen Dank, dass du mir mit dem Buch hilfst.“, meinte ich irgendwann.

„Gern geschehen.“, antwortete er und sah zu mir herüber, woraufhin ich schüchtern den Blick ein wenig ab wendete. „Es macht Spaß dir zu helfen.“

„Ach ja?“

„Ja. Außerdem erfahre ich da ein bisschen mehr über d-... über euch alle.“

Ein leichtes Lächeln legte sich in mein Gesicht. „Wir sehen uns dann... Donnerstag.“

„Spätestens dann, ja. Vielleicht solltest du aber deine Hand eine Weile schonen, bevor es noch schlimmer wird.“

Ich rieb mir über das schmerzende Handgelenk. „Ich muss die Gedichte noch fertig abschreiben.“

„Aber meinst du nicht, dass es nichts bringt mit einer schmerzenden Hand weiterzumachen? Am Ende könnte etwas schlimmes dabei raus kommen und dann hast du den Salat.“

„Du hast ja Recht.“ Ich seufzte tief. „Ich hab bis nächste Woche Mittwoch Zeit.“ Dann war Weihnachten. „Ich mache mir halt nur Sorgen, dass ich es bis dahin nicht schaffen könnte.“

„Wenn es zu schlimm wird, kann ich ja auch weiter schreiben.“

„Würdest du?“

„Warum nicht?“

„Vielen Dank.“

„Kein Problem. Jetzt geh lieber, bevor sie noch einen Suchtrupp losschicken.“

Mein Mundwinkel zuckte und ich öffnete die Tür. „Bis Donnerstag.“

„Bis dann.“

Ich stieg aus, warf die Tür hinter mir zu und machte mich auf den Weg nach hause. Er musste offenbar warten, denn ich hörte nicht, wie er los fuhr. Um mich dem zu vergewissern, sah ich zurück und lächelte leicht, als ich ihn tatsächlich weiterhin dort stehen sah. Er hatte sich vorgebeugt, die Unterarme auf dem Lenkrad verschränkt und den Kopf darauf gebettet, um mir hinterher zu sehen. Als er meinen Blick sah, konnte ich wage ein Lächeln erkennen, war mir jedoch nicht ganz sicher, weil er schon zu weit weg war. Aber ich konnte gut erkennen, dass er den Kopf ab wendete. Als ich vor unserem Grundstück war schaltete er den Motor an.

Als ich wenige Momente später durch die Haustür trat, empfing mich wohlige Wärme und ein wundervoller Geruch nach Essen.

„Ich bin wieder da!“, rief ich halblaut auf russisch. Eine Angewohnheit. Ich streifte mir Jacke und Schuhe ab und ging in die Küche, um etwas zu trinken. Es war nur noch Alissa im Raum.

„Möchtest du noch etwas essen?“, fragte sie freundlich.

„Nein Danke. Ich hab unterwegs gegessen.“

„Hast du etwas nettes gesehen?“

Ich sah sie verwirrt an.

„In der Stadt. Andrej sagte, du hättest dir Läden angesehen.“

„Ach so. Naja, ein paar Sachen waren ganz hübsch, aber... das wars schon.“

„Gut. Dann geh jetzt besser ins Bett.“

„In Ordnung. Gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Ich wendete mich ab, holte das Buch und den Stift aus meiner Tasche und eilte hinauf in mein Zimmer. Dort legte ich die Sachen auf den Schreibtisch und machte mich fertig fürs Bett.

In dieser Nacht träumte ich von Herrn Sadevik.

 

Es war so weit. Heut Abend war Heiligabend. Als ich hinunter ging, um zu frühstücken, kam mir fröhliche Weihnachtsmusik entgegen. Alissa lachte herzlich im Wohnzimmer mit Onkel Bernhard. In der Küche traf ich auf Andrej, der gerade sein Brot verputzte.

„Morgen.“, begrüßte er mich mit vollem Mund.

„Morgen.“, entgegnete ich und gähnte lange. Ich kam frisch aus dem Bett und trug noch die kurze Hose und das Shirt, in dem ich immer schlief. „Gibts was neues?“

„Wir dürfen das Wohnzimmer nicht betreten.“, erklärte er und verputzte den Rest seiner Mahlzeit. „Sie verpacken Geschenke.“

„Heute erst?“

Er zuckte mit den Schultern, während er aufstand und sein Geschirr wegstellte. Ich dagegen holte mir welches heraus und machte mir mein Frühstück. Als es klingelte, sah ich zu Andrej auf, der daraufhin mit einem Nicken in den Flur ging, um zu öffnen. In dem Moment, in dem er raus ging, kam Elise rein.

„Morgen!“, rief sie aufgeregt.

Ich lächelte sie an. „Guten Morgen, Häschen.“

„Hat es schon geschneit?“ Eifrig lief sie zum Fenster und sah hinaus.

„Leider nein.“

Sie ließ die Schultern sinken. „Warum denn nicht?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht ist es noch nicht kalt genug.“

„Ich hoffe es wird nicht kälter.“, ertönte hinter mir Herrn Sadeviks Stimme, „Ich friere mir noch die Hände ab.“

Ich drehte mich abrupt zu ihm um und wurde dann rot, als mir einfiel, was ich trug. Als es ihm ebenfalls auffiel, musterte er mich kurz. Auf seinen Wangen breitete sich ein zartes rosa aus, bevor er den Blick ab wendete.

„So spät erst frühstücken?“, fragte er dann und sah auf meine noch nicht fertige Mahlzeit.

„Ich hab lange geschlafen.“, erklärte ich darauf und beeilte mich es fertig zu kriegen.

„War der Schlaf denn gut genug? Oder eher schlecht?“

Meine Wangen wurden heißer. Ich hatte erneut von ihm geträumt. „Er war gut. Sehr gut sogar.“

„Das freut mich.“

„Ah, Joshua!“, rief Alissa, als sie herein kam, „Ich wusste doch, dass ich mich nicht verhört habe. Wie geht es dir?“

„Sehr gut, und dir?“

„Wie immer. Möchtest du etwas essen? Oder trinken?“

„Wasser, danke, ich habe schon gegessen.“

Als sie neben mich trat, um ein Glas aus dem Schrank zu holen seufzte sie. „Du läufst ja schon wieder halbnackt durchs Haus.“

„Tue ich gar nicht.“, warf ich ein, „Halbnackt wäre in Unterwäsche.“

„Das ist Unterwäsche.“

„Ist es nicht. Es ist eine kurze Hose und ein Shirt.“

Nun kam auch Bernhard herein und begrüßte Herr Sadevik freundlich.

„So kurz wie die Hose ist, könnte sie problemlos in die Kategorie Unterwäsche fallen. Und ein so knappes Shirt tut es doch nun wirklich nicht.“

„Es ist mir einige Nummern zu groß und keineswegs knapp.“

„Das schon wieder.“, murmelte Bernhard vor sich her, „Liebling, du solltest vielleicht die Geschenke beiseite stellen, bevor Elise noch auf böse Gedanken kommt.“

„Tu ich nicht.“, entgegnete diese schmollend am Tisch, „Es liegt kein Schnee. Ich will keine Geschenke, wenn draußen kein Schnee liegt. Das ist dann gar kein richtiges Weihnachten.“

„Ich bin mir ganz sicher, dass es heute Abend noch schneit.“, munterte ich sie auf, „Ganz bestimmt.“

„Und was, wenn nicht?“

Ich lächelte sie herzlich an. „Na... nun... vielleicht werde ich mich dann heute Abend bemühen und es für dich schneien lassen.“

„Kannst du sowas denn?“

„Natürlich. Das... hat mein Vater mir beigebracht, weißt du. Er konnte es wirklich gut.“

„Weil es nie aufgehört hat zu schneien?“, fragte Andrej amüsiert.

Ich lachte leise. „Stimmt doch gar nicht. Wir hatten Tage, an denen es nicht geschneit hat.“

„Ein oder zwei mal im Jahr.“, stimmte er zu.

Ich rollte mit den Augen und setzte mich mit meiner Mahlzeit zu den beiden. „Viel öfter. Durchschnittlich vielleicht... zwei, drei mal in der Woche. Und wenn es nicht schneite, und ich aber wollte, dass es schneit, dann hat Papotschka es für mich schneien lassen.“

„Hab ich nie mitbekommen.“, bemerkte mein Bruder weiter.

„Du hast mich auch immer so gut abgelenkt, dass ich nie gemerkt habe, dass es nicht schneit.“

„Wie?“, fragte Elise neugierig.

„Wir... wir haben Iglus gebaut. Und Schneemänner. Und einmal sogar ein kleines Haus.“

Andrej grinste. „Ja. Papka musste uns helfen. Ich erinnere mich noch daran, wie Mamutschka reagiert hat.“

„Oh, erinnere mich nicht daran.“

„Was hat sie gemacht?“, wollte Elise weiter wissen.

„Wie haben Hausarrest bekommen.“, antwortete Andrej, „Eine Woche.“

„Wegen einem Haus aus Schnee?“

„Ja. Nunja, das ich es gemacht habe, war nicht so schlimm. Aber Nastja sollte lernen. Mamutschka war da sehr streng. Während ihrem Hausarrest durfte Nastja nur lernen.“

„Oh.“

„Wie auch immer.“, warf ich nun ein, „Wenn es heute Abend nicht schneit, helfe ich vielleicht nach. Versprochen.“

 

„Und da hab ich ihm gesagt, wenn er sie irgendwann mal hört, dann wird es ihm den Atem verschlagen.“, beendete Andrej lächelnd eine kleine Geschichte aus der Schule, „Er glaubt mir immer noch nicht.“

Ich lächelte ein wenig. „Ich frage mich, wie lange es wohl noch dauert, bis du es endgültig aufgibst.“

„Bis du wieder spielst oder mit jedem redest.“

Ich murrte nur, woraufhin Alissa einmal in die Hände klatschte.

„Wer möchte als erster seine Geschenke?“, fragte sie lächelnd.

„Elise, was ist mit dir?“, schlug Bernhard vor.

Diese saß traurig an ihrem Platz. „Es hat immer noch nicht geschneit.“, antwortete sie nur mit trauriger Stimme.

Es war bereits dunkel und wir hatten gerade die Weihnachtsmahlzeit gegessen. Nach unserer hausgemachten Familientradition war nun die Bescherung an der Reihe. Und wir begannen immer mit der jüngsten Person. Elise.

Ich hasste es sie so traurig zu sehen. Ein Blick hinaus aus dem Fenster ließ mich erkennen, dass kein einziger weißer Fleck auf dem Rasen zu sehen war. Er war immer noch grün. Schweren Herzens stand ich auf und hielt ihr eine Hand hin.

„Komm mal mit.“ Ich lächelte sie sanft an. „Ich möchte dir etwas zeigen.“

Sie ergriff meine Hand und folgte mir träge. Als ich mich an das Klavier setzte zögerte sie etwas, bis ich auf den Platz neben mir klopfte.

„Setz dich. Hier, direkt neben mich.“

Sie tat, was ich ihr sagte.

„So. Nun schließ die Augen.“

Auch das befolgte sie.

„Stell dir vor... du bist auf einer großen Wiese. Der Himmel ist weiß von all den Wolken und es ist furchtbar kalt.“

Ihre Brauen zogen sich zusammen und bevor sie eine Frage stellen konnte, ertönten die erste Klaviertöne. Es dauerte nur 20 Sekunden, bis sie den Atem anhielt und mit offenem Mund einfach nur da saß. Am Rande bemerkte ich, wie die Gespräche in der Küche verstummten. Alles war still. Bis auf das Klavier.

First Snow, hatte mein Vater gesagt, als ich fragte wie das Lied hieße.

Erster Schnee?

Ja.

Aber es schneit doch ständig.

Hier schon. In anderen Ländern nicht. In Afrika schneit es sogar nie.

Nie?

Nein. Da ist es zu heiß.

Mit geschlossenen Augen, wie Elise, hatte ich neben ihm am Klavier gesessen und gehorcht, mich an ihn gelehnt. Es ist so schön. Wie die Schneeflocken. Hast du das geschrieben?

Nein.

Wer dann?

Jemand namens Vadim.

Als das Lied verklang sah ich auf Elise herab, die einfach nur weiterhin dasaß. Dann bemerkte ich Andrej und Herrn Sadevik an der Küchentür. Andrej standen Tränen in den Augen und Herr Sadevik lächelte sanft vor sich hin, die Augen geschlossen. Als nächstes glitt mein Blick zum Fenster und ein Lächeln legte sich in mein Gesicht.

„Elise, sieh mal.“, flüsterte ich, „Es schneit.“

Und zwar in dicken weißen Flocken, als hätte der Winter all die Tage den Schnee für heute gespart. Sofort öffnete meine kleine Cousine die Augen und sah hinaus. Dann sprang sie mit einem Jubelschrei auf und lief durch die Terrassentür hinaus.

„Schnee!“, rief sie dabei laut aus.

Im nächsten Moment stand Andrej hinter mir und schlang fest die Arme um mich, das Gesicht an meinem Hals vergraben.

„Es war wunderschön.“, bemerkte Herr Sadevik, als er ebenfalls zu mir trat, und lächelte mich an.

„Nicht ich hab das Lob verdient, sondern mein Vater. Er hat es mir beigebracht.“

„Nastja!“, rief Elise aus dem Garten, „Baust du einen Schneemann mit mir?“

Ich lachte leise und drückte Andrejs Arm. „Dafür liegt noch viel zu wenig Schnee. Komm lieber rein und mach deine Geschenke auf, sonst mach ich das für dich!“

Lachend eilte sie herein und stürzte sich auf die goldenen, roten, grünen und blauen Päckchen.

 

Etwa zwei Stunden später stand ich in einem Pulli und einer relativ dünnen Jacke auf der Terrasse und sah Andrej und Elise dabei zu, wie sie Schneeengel machten. Immer wieder fragte sie, ob genug Schnee für einen Schneemann lag, doch jedes mal mussten wir verneinen. Andrej plante ein Iglu, während er beobachtete wie dick und in welcher Zahl die Flocken schneiten. Als er Elise davon erzählte, war sie begeisterter als von dem Schneemann.

Nun schien Andrej offenbar der Meinung, dass genug Schnee für ein Iglu gefallen war. Wenn ich so beobachtete, dass der Schnee schon seine halbe Wade bedeckte und es immer noch dick und zahlreich schneite, konnte ich ihm nur zustimmen.

„Frierst du nicht?“, fragte Herr Sadevik, als er neben mich trat.

„Nein.“, entgegnete ich und lächelte auf seinen überraschten Blick hin. „In Jakutst war es deutlich kälter. Man hat gehört, wie der eigene Atem in der Luft gefror.“

„Und du?“

„Eingepackt in einem Pelzmantel. Ohne wäre niemand raus gegangen.“

„Ah, verstehe.“

Eine Weile stand er einfach nur neben mir und beobachtete mit mir Andrej und Elise, die die Fläche für das Iglu vom Schnee befreiten. Nur dort wo der Eingang gebaut werden sollte trampelte Andrej den Schnee fest. Er machte die traditionelle Art. Den ersten halben Meter krabbelte man, dann stieg man über eine kleine Schneewand und dann kam der Runde Innenraum. So blieb die Kälte draußen und sobald die Sonne anfing zu scheinen wurde es darin sogar richtig warm.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Herr Sadevik zu mir herüber sah und sich dann an mich wendete. „Warum hast du aufgehört zu spielen?“, fragte er.

Ich sah überrascht zu ihm auf. Plötzlich kam ein eisig kalter Wind auf, woraufhin ich plötzlich begann zu frösteln und die Arme um mich schlang.

„Na, doch etwas kalt?“, neckte er mich amüsiert.

Ich schloss leise lachend die Augen.

„Komm her, unter meiner Jacke ist es warm.“

Mit großen Augen sah ich zu ihm auf, doch er öffnete einfach nur seine Jacke und zog mich an sich, direkt an seine erstaunlich warme Brust.

„Ich-ich-ich kann auch einfach meine Jacke holen.“, merkte ich an.

„Könntest du.“ Er legte die Arme etwas fester um mich. „Aber das willst du nicht.“

Verwirrt blinzelte ich zu ihm auf. „Wie bit- Oh nein!“

Nun war er der Verwirrte und sah mit zusammen gezogenen Brauen auf mich herab. „Was ist?“

Ich deutete nach oben, auf die Überdachung der Terrasse. „Da-da-da hängt ein Mi-Mi-Mi-Mistelzweig.“

Sein Blick glitt nach oben, erfasste den grünen Zweig und glitt dann, weiterhin verwirrt, wieder zu mir herab. „Und?“

„Alissa besteht auf jede Tradition.“, erklärte ich, „Wenn sie herausfindet, dass wir unter einem Mistelzweig standen... wird sie fragen, ob wir... Ob wir...“

„Ob wir... was?“

„Uns geküsst haben.“, presste ich mit roten Gesicht hervor, „Und wenn dem nicht so ist, wird sie darauf bestehen, dass wir es nachholen. Vor allen.“

„Und wenn wir einfach sagen, wir hätten es getan?“

Ich schüttelte hektisch den Kopf. „Sie kennt mich. Das wäre mein erster Kuss und-“

„Dein erster?“, hakte er überrascht nach, wobei seine Miene weich wurde. „Dein allererster?“

„Ja.“

„Du wurdest... noch nie von irgendjemandem geküsst?“

„Nein.“

Er schien sprachlos.

„Jedenfalls wird sie merken, dass ich lüge, wenn ich lüge. Und dann ist es schlimmer, als wenn ich einfach die Wahrheit gesagt hätte. Meine Güte, wahrscheinlich hat sie uns schon hier stehen sehen und wartet nur darauf, dass wir-“

Er legte mir den Daumen auf den Mund, seine Finger lagen unter meinem Kinn. „Ich hätte nichts dagegen.“

Mir klappte mein Mund auf. Tausende Schmetterlinge flatterten in meinem Bauch herum. Mein Puls beschleunigte sich ein wenig, die Luft wurde etwas knapper, außerdem wurde es so... warm.

„Aber, wenn es dich stört-“

Mein Kopf schüttelte sich bereits, bevor in meinem Kopf überhaupt angekommen war, was er gesagt hatte. Als es mir klar wurde, hielt ich abrupt still und wurde noch roter, als ich ohnehin schon war.

„Bist du dir sicher?“, fragte er leise.

Mein Mund öffnete sich erneut, ich schluckte kurz. „Ja.“

Dann senkte er den Kopf. Ganz langsam und vorsichtig. Mein Atem begann zu zittern und meine Hände legten sich ganz von allein auf seine Schultern. Seine dagegen legten sich, jeweils eine, auf meinen Rücken und in meinen Nacken. Als sich nach einer Ewigkeit schließlich unsere Lippen berührten, fielen ganz plötzlich meine Augen zu. Ich wusste nicht genau, was ich erwartet hatte, doch das, was ich nun erlebte, unglaublich weiche Lippen, die genau dann fester wurden, wenn sie es sein mussten, war einfach... himmlisch.

Er ließ mich nicht sofort wieder los, wie er es vielleicht hätte tun müssen. Stattdessen legte er die Hände etwas fester auf meinen Körper, während er mich etwas... mehr küsste. Warm... weich... zart. Die Hand in meinem Nacken vergrub sich ein wenig in meinem Schopf, während die Hand auf meinem Rücken weiter darüber glitt, bis er mich ganz umschlang. Dann öffnete er seinen Mund und es wurde heiß. Ich konnte hören und spüren, dass sein Atem und sein Puls so schnell gingen wie die meinen.

Als er sich plötzlich von mir löste, machte sich ein wenig Enttäuschung in mir breit. Er jedoch legte nur den Kopf auf die andere Seite, warf einen Blick in mein Gesicht und küsste mich erneut. Meine Hände glitten automatisch in seinen Nacken. Die Wärme, die sich dieses Mal ausbreitete, wärmte mich bis in die Zehenspitzen. Dann wurde mir klar, dass er Recht hatte. Ich wollte meine Jacken nicht holen, wenn ich die Chance hatte mich an ihn zu kuscheln.

Der Kuss, der etwas leidenschaftlicher geworden war, wurde langsam sanfter, leichter, bis seine Lippen meine schließlich nur noch immer mal wieder flüchtig berührten. Kurz darauf löste er sich gänzlich von mir und sah mit halb geöffneten Augen auf mich herab. Mit einem Mal wurde er etwas starr, hielt den Atem an und schloss die Augen.

„Mist.“, fluchte er leise.

„Was ist?“, fragte ich verwirrt.

Er lehnte seine Stirn an meine. „Das hätten wir doch nicht tun dürfen.“

Ein kleiner Schmerz in meiner Herzgegend. „Warum?“

„Weil du... eine Schülerin bist. An einer Schule, an der ich unterrichte.“ Er nahm die Hand aus meinem Nacken und fuhr sich übers Gesicht. Dann sah er hinauf zu dem Mistelzweig. „Eine Beziehung zwischen Lehrern und Schülern ist gesetzlich verboten.“

Ich schluckte. „Ich weiß.“

„Und trotzdem hast du...“ Er sah wieder zu mir herab. „Trotzdem hast du dich von mir küssen lassen.“

Ich senkte ein wenig den Blick, zog unsicher meine Hände zurück. „Wenn- … Wenn es dir nicht gefallen hat-“

„Großer Gott, Nastja.“ Er lächelte amüsiert auf mich herab und schüttelte den Kopf. „Darüber musst du dir keinerlei Gedanken machen.“

Ich biss mir leicht auf die vom Kuss geschwollene Unterlippe.

„Es hat mir gefallen. Sehr sogar. Ich... mache mir nur Sorgen, was es für Folgen haben könnte. Ich meine, ich bin dein Lehrer. Ich bin zwar nur Referendar, aber Lehrer. Dein Lehrer.“

„Gibst du mir denn Noten?“, fragte ich verwirrt.

Erneut schüttelte er den Kopf. „Nein, das tut Herr Morris, aber-“ Er unterbrach sich selbst und dachte einen Moment nach. „Wenn man es so sieht... Besteht eigentlich kein Risiko, dass du dir so eine bessere Leistung... erkaufst.“

Mein Gesicht brannte.

„Ich meine, selbst wenn du meine Beurteilungsfähigkeit dir gegenüber beeinträchtigst, hat es ja keinerlei Folgen, weil ich dir die Noten ja nicht gebe, sondern Herr Morris.“

Ich nickte langsam, woraufhin er einen Moment schwieg. Plötzlich traf mich ein Schneeball an der Schulter, weshalb wir beide überrascht zu Andrej sahen, der Elise ein High five gab und lachte.

„Getroffen!“, riefen sie dabei amüsiert aus.

„Oh!“, rief ich aus, löste mich von Herrn Sadevik – ob ich ihn jetzt wohl Joshua nennen durfte? - und stieg die kleinen Stufen der Terrasse herunter, um etwas Schnee für einen Schneeball aufzuheben. „Das bekommt ihr zurück. Alle beide!“

Lachend warf ich Andrej einen Schneeball an die Brust. Ein weiterer trat Elise am Unterarm. Gleichzeitig versuchte ich den Bällen von beiden auszuweichen, weshalb kurz darauf Joshua zu uns kam, um mir ein wenig zu helfen. Eine Viertelstunde später arbeiteten wir dann alle vier an dem Iglu. Es war nicht besonders einfach und Andrej und ich wollten erst aufhören, wenn er fertig war. Unterdessen schneite es immer weiter, wobei der Schnee immer dichter fiel.

„Elise, komm bitte rein!“, rief Alissa irgendwann, „Es ist spät und furchtbar kalt. Du holst dir noch eine Erkältung!“

„Aber wir sind noch nicht fertig!“, warf Elise ein.

„Du kannst doch morgen weiterhelfen.“

„Aber dann haben Nastja und Andrej ihn schon fertig gebaut.“

Alissa seufzte tief. „Dann komm und nimm wenigstens noch deinen Schal und deine Mütze.“

„Okay.“

Sie eilte hinein, während ich den nächsten Block vorbereitete. Es dauerte noch etwa eine Stunde, bis er fertig war. Ich lächelte etwas euphorisch und eilte um das Iglu herum zum Eingang.

„Ich geh als erste rein!“, rief ich begeistert aus und war bereits dabei herein zu krabbeln. Einmal drunter und dann drüber. Schon war ich in dem kleinen Raum und setzte mich an den Rand. „Die Wand muss noch etwas glatt gewischt werden.“, bemerkte ich, als die nächste Person herein kam und machte mich bereits an die Arbeit.

„Wofür ist eigentlich diese kleine Wand?“, fragte Joshua, als er herein kam. Nach mir war Elise hereingekommen.

„Es hält die Kälte draußen.“, erklärte ich.

„Und wird es warm hier drinnen? Ich meine, der Eingang ist ja offen. Wie bleibt die Kälte da überhaupt draußen?“

„Kalte sinkt immer nach unten.“, erklärte ich darauf, „Und ja, es wird warm Spätestens dann, wenn die Sonne scheint. Aber ich denke, zu vier werden wir auch so schon genug Wärmer abgeben.“

Andre grinste, als er das hörte, während er herein kletterte. „Also, nach dem, was ich eben gesehen habe, glaube ich dir gerne, dass du viel Wärme abgibst.“

Es war Alissa, die mich davor bewahrte zu reagieren. Sie rief erneut nach Elise.

„Komm jetzt rein, du solltest langsam ins Bett. Wir haben schon 2 Uhr.“

Diese seufzte tief. „Ich wollte aber noch ein bisschen hier drinnen bleiben.“, grummelte sie leise vor sich hin.

„Ach, wir gehen einfach alle rein.“, entgegnete ich, „Und morgen früh können wir ja wieder herkommen. So wie es schneit müssen wir dann aber wahrscheinlich den Eingang frei graben.“

Elise seufzte leise, stand dann aber auf – sie konnte problemlos stehen – und machte sich daran hinaus zu klettern. Zehn Minuten später betraten wir zu viert das Wohnzimmer, wo es immer noch wohlig warm war.

„Na endlich.“

Alissa sah erleichtert zu uns herüber und scheuchte Elise dann ins Bett, während ich mich in den Sessel pflanzte und Joshua sich mit Andrej auf die Couch setzte. Ohne Zögern nahm ich eins meiner Geschenke vom Tisch. Ein MP3 Player von Alissa. Ich hatte auch eine CD von Andrej bekommen, die ich mich ansah, während ich mit einem Kopfhörer Musik hörte.

Mein Bruder lachte leise und flüsterte Joshua etwas zu, dass ich nicht verstand. Unsicher warf ich den beiden einen kurzen Blick zu. Dann sah ich wieder auf die CD und seufzte leise, während ich sie umdrehte, um auf der Rückseite der Hülle die Titel der Lieder durchzulesen.

Dann kam Alissa mit Glühwein herein.

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Texte: © Copyright 2014 – Alle Inhalte, insbesondere Texte sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten, Lisa Irmer
Tag der Veröffentlichung: 21.03.2014

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