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© Christine Eder 2023

2021 Erstausgabe: Die Farben des Lebens

Alle Rechte liegen bei der Autorin.

 

Coverdesign: © Licht Design – Kristina Licht

Korrektorat/Lektorat: Dr. Andreas Fischer & Kristina Licht

 

Handlung und alle handelnden Personen dieses Buches sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wäre rein zufällig.

Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

 

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»Seid ihr schon mal in einem

Menschen untergegangen?

So richtig mit allen Sinnen,

als ob die Welt stillzustehen schien?

Ich hatte ihn nicht nur einfach geliebt.

Ich war ihm verfallen, mit Leib und Seele.«

 

Christine Eder

 

Mein liebes Tagebuch


Nein, so fing mein Tagebuch nicht an. Aber auf der ersten Seite prangte mein Name, Elli Schwartz, als ob ich selbst nicht wüsste, wem es gehörte oder wer ich war. Es hatte ein mit Rosen verziertes Hardcover, dessen Seiten ich bei jedem neuen Kapitel ebenfalls mit Rosen bemalt hatte. Jeder Abschnitt meines Lebens hatte seine Überschrift, und ich hatte es geschrieben, als würde ich jemandem alles erzählen. Es sieht wie ein Buch aus. So erscheint es mir auch – mein eigener, persönlicher Roman.

Der Wunsch, ein Tagebuch zu schreiben, kam sehr plötzlich. Vielleicht wollte ich meine neuen Erlebnisse, meine Emotionen, meine Zukunftspläne oder meine Geheimnisse und Wünsche mit jemandem teilen. Weil ich noch niemanden kannte, um überhaupt mit jemandem zu reden. Das Bedürfnis, zu schreiben, war dann so groß geworden, als der Briefkontakt zwischen Evgenij und mir aufgehört hatte. Dazu etwas später mehr.

Ich wurde nicht in dieser Stadt geboren. Auch nicht in diesem Land. Vor einem Jahr waren meine Eltern mit mir aus Russland nach Deutschland ausgewandert. Wir hofften auf ein neues und besseres Leben. Auf ein Leben ohne Abschaltung von Strom oder Wasser und Heizung, damit die Stadt das Geld einsparen konnte. Auf ein Leben, in dem man sich nicht im Pulli ins Bett legen musste, nachdem Mama diesen vorher mit dem Bügeleisen angewärmt hatte. Auf ein Leben, in dem man nicht im Pelzmantel in der Schule sitzen musste, während einem selbst die Tinte im Kugelschreiber gefror. Und auf ein Leben, in dem man nicht die Hausaufgaben bei Kerzenlicht machen musste.

Meine Großeltern waren selbst Deutsche und während des Krieges aus Deutschland vertrieben worden. Aber vor ein paar Jahren durften sie in ihre Heimat zurückkehren.

Deutschland war das Land, wo alles besser sein sollte, wo Gerechtigkeit herrschte und es mehr Rechte und bessere Gesetze für alle geben würde. So wurde es uns zumindest angepriesen.

Aus diesen Gründen wollten meine Eltern mit uns in die Heimat ihrer eigenen Eltern zurückkehren, in das Land, wo unsere Großeltern seit fünf Jahren sehnsüchtig auf uns warteten. Nach der Auswanderung zogen wir erst mal von einem Lager zum anderen, blieben in einer Notwohnung, bis wir uns dann nach einem halben Jahr eine Wohnung in einem Hochhaus zur Miete leisten konnten. In welcher Stadt das war, überlasse ich eurer Phantasie – ich werde nur so viel sagen; irgendwo in Niedersachsen.

Allerdings wohnten wir in einem Problemviertel und man traf hier auf viele soziale Schichten unterschiedlichster Nationen. Wir konnten uns jedoch noch keine Wohnung in einem besseren Gebiet oder Viertel leisten.

In dieser Zeit wechselte ich oft die Schule. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so häufig die Schulen gewechselt wie in den letzten Monaten. Wegen meiner unzureichenden Deutschkenntnisse blieb ich sogar einmal in der sechsten Klasse sitzen, wie die meisten deutsch-russischen Kinder. Wir stießen auch noch mit dem deutschen Schulsystem zusammen. Uns wurde erklärt, dass es hier Haupt-, Realschule und Gymnasium geben würde – wobei wir in Russland nur die Gesamtschulen hatten und der Abschluss nach den höchsten Klassen abging. Meine Mutter wollte für mich natürlich die bestmögliche Bildung, also das Gymnasium, woraufhin der Schuldirektor einen Lachkrampf erlitten hatte. Er erklärte uns, dass man mit schwachen Deutschkenntnissen und ohne Englisch als zweite Sprache keine Chance hätte, ins Gymnasium zu kommen. Für mich käme nur die Hauptschule in Frage. Ich konnte mich noch an diese Situation erinnern. Eigentlich konnte ich mich noch sehr gut an alles erinnern, was in meinen vielen Tagebüchern stand – auch an den ersten Schultag, als wir unseren festen Wohnsitz hatten …


Mein erster Schultag


… (wieder mal) und ich sah an dem Tag total albern aus. Veränderungen sind gut - damit baute meine Mutter uns und sich selbst auf - und beginnen im Kopf. In dem Fall hatte ich bereits die Nase voll von Veränderungen und diese sollten an dem Tag eigentlich nicht nur in meinem Kopf beginnen, sondern insgesamt bei meinem Aussehen. Warum wollten alle Mütter ihre Töchter immer so dermaßen aufbrezeln?


August 1996


Kritisch betrachtete ich mich in der Spiegeltür meines neuen Kleiderschranks. Ich trug eine weiße Bluse mit Rüschen und einen schwarzen Faltenrock.

»Mum, ich sehe … wie eine Puppe aus«, nörgelte ich. »Und dann noch diese blöden Rüschchen!« Ich zupfte daran herum.

Sie musterte mich ganz verliebt mit ihren braunen, großen Augen und fummelte weiter an mir herum, wobei ihre dicken hellbraunen Locken auf und ab sprangen, und sprach dabei: »Elli, du siehst einfach hinreißend aus. Heute ist dein erster Schultag, da muss man–«

»Wenn es bloß mein erster in Deutschland wäre«, unterbrach ich sie. »Außerdem ist es nicht die Einschulungsparade von Russland! Heute wird ein ganz normaler Schultag sein, wie jeder andere auch.«

Doch sie begutachtete mich immer weiter und richtete bereits meine hellbraunen schulterlangen Locken, die sie mir gestern eingedreht hatte. Deshalb sah ich auch noch wie ein Pudel aus, der an einem Wettbewerb teilnehmen wollte.

Dabei bemerkte ich an ihr, dass sie wieder etwas zugenommen hatte. Wegen des Stresses der Auswanderung war sie zuvor bis auf neunundvierzig Kilo abgemagert und hatte dadurch Fältchen an den Augen bekommen.

Hach, wie oft hatten wir die ersten Monate zusammengesessen, uns aneinandergeklammert und aus tiefster Inbrunst sehnsüchtig Russland, sowie Freunden und Familie, die wir zurückgelassen hatten, nachgeweint. Wir vermissten alles und fühlten uns hier völlig fremd. Ich vermisste jedoch vor allem einen Menschen sehr – meinen besten Freund Evgenij. Mit ihm hatte ich meine gesamte Kindheit verbracht.

Evgenij, zwei unserer Freunde und ich stellten zusammen viel Blödsinn an. Ich war zwar ein Mädchen, wollte aber dennoch nie zurückbleiben und machte deshalb jeden Unsinn mit. (Manchmal dachte ich, ich war sogar schlimmer als ein Junge.) Wir saßen auf den Dächern der Garagen, waren an den Akazien hochgeklettert, die danebenstanden, bauten aus Ästen Schleudern und schossen auf Dosen oder wir spielten mit plattgedrückten Flaschendeckeln wie heute die Kinder mit Sammelkarten. Wir fuhren auch sehr viel Fahrrad und badeten in einem kleinen, nahegelegenen See, bauten aus Sand ganze Städte und die Jungs bastelten sich aus Holz kleine Autos, mit denen sie in der Sandstadt herumfuhren. Ich schuf Menschen, indem ich auf Streichhölzer die Blüte einer Stockrose – mit der Blüte nach unten – steckte und sie somit wie eine Frau im Kleid aussehen ließ. Die Knospen waren meine Männer. Wir wälzten uns oft in den wilden Wiesen und Kleefeldern oder spielten Verstecken im hohen Mais.

Im Winter war es dann immer ruhiger, zumindest schien es mir so, denn selbst wenn wir so dick eingepackt waren wie die Michelin-Männchen, was unsere Bewegungsfreiheit einschränkte, hatte es uns dennoch nicht davon abgehalten jede Menge Spaß zu haben. Wir bauten Schneemänner, führten Schneeballschlachten, fuhren Schlitten und gingen Schlittschuhlaufen auf unseren zugefrorenen Gehwegen. So eine Kindheit würde ich wieder und wieder erleben wollen.

Abends, wenn keine Hausaufgaben mehr zu erledigen waren, hatte ich natürlich, wie jedes Mädchen, mit meinen Puppen gespielt – besser gesagt, ich nähte ihnen nur die Kleider. Meine Mutter hatte mir schon mit acht Jahren Nähen und Stricken beigebracht, und auch wie man häkelt. Ich hatte keine Barbies, das war immer mein Traum, den mir meine Mutter zu erfüllen versprochen hatte, wenn wir erst mal in Deutschland wären. Ich hatte nur zwei gewöhnliche Puppen, was auch kein Problem für mich war.

Mit den Jahren wurde es dann immer schwieriger, in Russland zu leben. Die dritte Etappe der Perestroika begann, die Korruptionen fingen an, die Armut und die Arbeitslosigkeit brachen aus und die staatlichen Unternehmen schlossen nach und nach. In den Läden wurde es immer leerer, man fand dort oft nur noch ein paar Dosen mit eingelegtem Fleisch und das Brot wurde auf nur ein Stück pro Familie und Tag rationiert, falls man es überhaupt noch geschafft hatte, welches zu bekommen.

Auch meine Mutter war damals von der Arbeitslosigkeit betroffen, denn ihr Unternehmen war privatisiert worden. Mein Vater wurde zum Glück kurz zuvor in seiner Stahlfabrik zum Betriebsleiter befördert und hatte daher Arbeit bis zu unserer Abreise.

Jetzt hatten wir uns hier schon so gut eingelebt, schauten einfach nach vorn und bauten mit neuen Herausforderungen und Zielen unsere Zukunft auf. Hier sollte jetzt alles anders werden. Ein neues Land, ein Neuanfang, ein Leben von null auf – ein neues Leben!

Meine Mutter hatte heute ein stolzes Lächeln auf dem Gesicht.

»Ach ja«, sagte sie dann erfreut und lief aus dem Zimmer.

»Was ist? Willst du mir etwa noch die Schleifen ins Haar binden?«, rief ich ihr nach und sah mich im Spiegelbild an. Bähh, ich sehe so was von spießig aus … Ich werde doch ausgelacht!

Sie kam wieder mit einer dicken Kette in der Hand. »Sie passt ganz gut dazu. Wusste ich es doch«, sagte sie und hängte mir eine Art Medaillon um.

»Das ist aber zu viel für mich! Jetzt sehe ich wirklich … idiotisch aus.« Ich betrachtete unzufrieden mein Spiegelbild. »Wo ist meine lila Strickjacke?«

»Wozu?«, empörte sie sich und erwiderte sogleich: »Damit du deine Schönheit versteckst?«

»So ist es! Und damit ich mich nicht so sehr von den anderen Schülern unterscheide.« Eigentlich stechen wir so oder so heraus. Diesen Eindruck hatte ich jedenfalls ständig.

Meine Mutter schaute mich an, als würde sie mich nicht hören, sondern noch etwas suchen, was man besser machen könnte. Ich glaube, ich verschwinde lieber, bevor sie mir wirklich noch Schleifen ins Haar bindet oder Rouge auflegt.

Ich verabschiedete mich recht schnell von ihr und machte mich zu Fuß in die Schule auf, die nur zehn Minuten entfernt lag. Wie auch in den letzten Monaten fehlte mir irgendwie die Luft zum Atmen. Es war stickig und grau in der Stadt. Ich sah hier wenig Grün … Grünes – das fehlte mir auch sehr. Ständig wälzte ich in meiner Erinnerung und dachte an unsere saftigen Kleefelder, die grünen Wiesen mit den wilden Blumen wie Tulpen, Glöckchen, Kornblumen und Mohn, an die Waldsäume mit den Weißulmen, den Ahornbäumen und den riesigen Pappeln mit ihrem bauschigen Flaum, der im Frühling fast den ganzen Weg bedeckte. Doch am meisten fehlten mir die Akazien mit ihrem honigsüßen Duft.

Ich blieb stehen und atmete tief durch, bevor ich das mir unbekannte Gebäude der Haupt- und Realschule betrat. Die ersten neugierigen Blicke krochen mir sofort hinterher, weswegen ich meinen gleich senkte.

Während ich die Treppe hochging, nahm ich diese blöde Kette ab und warf sie in meine Schultasche hinein. Gleichzeitig holte ich den Infozettel heraus. So, welche Klasse? Ich schaute das Blatt an. Okay, 7.a … Klassenlehrerin Frau Meier. Ich rollte das Blatt wieder zusammen, zerknitterte es nervös in meiner Hand und ging zur Tür hinein. Das war die Hauptschule. Oh Gooott, noch mehr Blicke. Nur jetzt konnte ich nicht mehr die Augen unten halten oder hinter meinen Löckchen verstecken, ich musste meine Klasse finden.

Links von mir lagen die Unterrichtsräume, über deren Türen die Klassennummern standen. Im Vorübergehen las ich diese vor mich hin … 10.a … 8.b … 7.c … Aha, 7.a.

Vor meiner Klasse lag eine Cafeteria mit runden Tischen und Stühlen. Neben der Tür standen schon ein paar Schüler, vermutlich meine Klassenkameraden, die mich alle neugierig musterten. Mir wurde ganz heiß und meine Knie fingen an zu zittern. Ich würde das erste Mal in einer deutschen Klasse sitzen, denn bisher hatte ich in anderen Schulen nur in Deutsch-Förderunterricht teilgenommen. Okay, bloß keine Panik, mein Deutsch geht schon einigermaßen … Äh, glaube ich zumindest.

Es hatte bald geklingelt und die Schüler kamen einer nach dem anderen in die Klasse. Und ich schaute mir jeden genau an, in der Hoffnung, ein russisches Gesicht zu entdecken. Schade, keines gefunden. Katastrophe! Ich blieb alleine neben der Tür stehen und wartete, bis sich alle hinsetzten, damit ich sehen konnte, ob es noch einen freien Tisch gab. Toll, jetzt komme ich mir so vor wie auf einem Präsentierteller.

Doch dann kam auch schon die Lehrerin, die sich als Frau Meier vorstellte. Sie war eine schlanke Schwarzhaarige mit kurzem Bob, ihr Lächeln war wie angeklebt und ihre Haut war gebräunt, allerdings vom Sonnenstudio und nicht von der Sonne. Sie deutete auf zwei leere Eckplätze neben dem Fenster.

Nachdem ich meinen Platz eingenommen hatte, erzählte Frau Meier mir kurz von der Schule und erklärte, wo was zu finden wäre. Es war schwierig, so schnell mitzukommen und alles zu verstehen, aber ich hatte mir dennoch vieles gemerkt. Auf ihre Anweisung stellte sich mir dann jeder Schüler vor. Aber das waren für mich definitiv viel zu viele fremdsprachige Namen auf einem Haufen, die ich mir nicht sofort alle merken konnte. Irgendwann war auch ich an der Reihe, mich vorzustellen.

Die ganze Klasse starrte mich an. Ich musste mich echt zusammenreißen, damit meine Stimme nicht zitterte, hoffte die richtigen Worte in meinen chaotischen Gedanken zu finden und begann langsam und in starkem Akzent zu sprechen.

»Ich heiße Elli Schwartz. Ich bin dreizehn Jahre alt. Ich komme aus Russland.«

»Okay«, brachte Frau Meier heraus.

Das Geflüster der Schüler erfüllte den Raum und einige Mädels löcherten mich bereits mit ihren Blicken, während sie sich gegenseitig ins Ohr flüsterten. Worüber sie lästerten, ahnte ich bereits, nicht nur deshalb, weil ich ein bis zwei Jahre älter war als sie. Auch von meinem Aussehen und meiner Herkunft war bestimmt die Rede.

»Welche Hobbys hast du, Elli?«, fragte mich Frau Meier.

»Ich male sehr gut, ich liebe Sport, lesen und … spielen Klavier.« Ich schluckte nervös. Verdammt, ich habe mich versprochen… Davon geriet ich in Verlegenheit, wobei ich spürte, wie die Farbe mein Gesicht hochkroch.

Seit ich sechs war, nahm ich in Russland Klavierunterricht und hatte sogar ein eigenes Klavier gehabt, das mir nun unheimlich fehlte. Ich erhoffte mir sehr, dass ich das Klavierspielen auch hier weiterhin lernen würde.

Frau Meier sah mich neugierig an. »Und was willst du später mal werden, Elli? Welchen Beruf möchtest du ausüben?«

»Wirtschaftsprüferin«, antwortete ich prompt, weil ich diesen Beruf zu Hause bereits übersetzt hatte. Damit löste ich allerdings ein großes Gelächter in der Klasse aus, selbst Frau Meier kicherte. Was gibt’s denn da jetzt bitte schön zu lachen? Ich wurde noch nervöser und plötzlich bedrückte es mich. Deren Gelächter ging mir bis in die Knochen.

»Elli, entschuldige unser Lachen. Aber Wirtschaftsprüferin kann man nicht mit Hauptschulabschluss werden … Vielleicht machst du dir noch mal Gedanken über deinen Beruf.« Wieder blitzte dieses unechte Lächeln auf ihrem Gesicht auf.

Ich schmollte, aber mit einem kalten Blick, hinter dem ich meine Tränen zurückhielt, die ich auf keinen Fall jetzt zeigen wollte. Es hatte mich verletzt. Sie bemerkte, dass mir das alles nicht gefiel, und sprach den Jungen neben mir an. Dieser fing rasch an sich als Kilian vorzustellen, während ich versuchte, mich von der Situation zu erholen.

Obwohl ich sonst immer so viel Mut hatte, Kontra zu geben, verschwand dieser komischerweise total, seitdem ich in den letzten Monaten bereits so viel Spott über mich hatte hören müssen. Ich konnte nicht einmal meinen Mund aufmachen. Es demotivierte mich in meiner Persönlichkeit, an meinem Äußeren etwas Gutes zu sehen. Vielmehr war es meine Herkunft … Dabei waren es nicht einmal Begriffe wie »Das russische Schwein«, genauso hatte ich in Russland die Worte »Faschistin« oder »Hitlertochter« gehört, nachdem einige meiner Mitschüler erfahren hatten, dass in meinem Pass die Staatsangehörigkeit deutsch stand. Ich fühlte mich nun schon mehrere Monate so, als würde ich nirgendwo so richtig hinzugehören … Es kränkte ungemein und senkte mein Selbstvertrauen.

Die erste Stunde endete und in der fünfminütigen Pause traute ich mich nicht, aus der Klasse rauszugehen. Also blieb ich einfach an meinem Platz sitzen. Die Augen meiner Schulkameraden durchbohrten mich von allen Seiten und ich erntete dabei auch viele komische oder gar giftige Blicke. Einige Mädchen tuschelten und kicherten gespielt und laut auf, als sie mich ansahen. Der Druck in meiner Brust wurde größer und ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

Die nächsten Stunden verliefen dann eher ruhig. Mir wurden die Bücher ausgeteilt und Listen gegeben, was noch an Schulmaterial gekauft werden sollte. In den letzten beiden Unterrichtsstunden ging ich zum Deutsch-Förderkurs, während meine Klasse Englisch hatte. Endlich! Ich erhoffte mir, dass ich wenigstens dort nicht allein sein und vielleicht auf deutsch-russische Schüler treffen würde, um mich mit ihnen rasch anfreunden zu können.

Frau Niemann, die Sprachförder-Lehrerin, öffnete mir die Klassentür und machte mir Platz, damit ich reingehen konnte. Ich stürmte zu schnell vom Fleck, während ich meine mit den neuen Büchern vollgepackte Schultasche vom Boden hochnahm und sie zu schwungvoll über die Schulter warf. Dabei verlor ich das Gleichgewicht, sodass ich mit einem schrillen Quieken quasi hineinpolterte. Mein Gesicht wurde sofort feuerrot, als mich ein Pärchen beobachtete, das bereits an den Tischen saß. In dem Augenblick wäre ich am liebsten vor Scham im Boden versunken.

Der Junge hatte leicht gewelltes, kastanienbraunes, zur Seite gekämmtes Haar. Seine dicken Brauen verdeckten leicht seine tiefsitzenden braunen Augen. Er hatte einen normalen Körperbau, besaß aber breite Schultern. Daneben saß ein Mädchen, fast einen Kopf größer als er, mit einem schön frisierten dunkelblonden Haarschnitt und grauen Augen. Sie war dünn, aber nicht so ein Klappergerüst wie ich, das nicht mal seine vollgepackte Schultasche tragen konnte.

Beide versuchten, ihr Kichern zu unterdrücken, was mit einem typischen Grunzen langsam durchbrach. Herrlich! Lacht nur über mich. Ihr seid nicht die Ersten und womöglich auch nicht die Letzten.

Frau Niemann zeigte auf den Platz neben dem Jungen. Ich ging dahin und setzte mich, während das Pärchen sich gegenseitig etwas zuflüsterte. Ich will nach Hause!

Wieder mussten wir uns alle vorstellen. Ohne mich anzugucken, nannten die beiden trocken ihre Namen.

»Stephen.«

»Olga.«

»Elli«, schloss ich mich leise an.

Der Unterricht begann.

Wir bekamen von der Lehrerin einen Zettel mit einem Text, den wir uns durchlesen, uns merken und das Blatt anschließend wieder zurückgeben sollten. Wir sollten nun versuchen aufzumalen, was wir gelesen hatten, und anhand unserer Bilder den Text wiedergeben. Jeder von uns hatte eine andere Geschichte, meine handelte von Affen im Dschungel.

Neben dem Klavierspielen liebte ich auch noch das Malen, besonders Landschaften hatten es mir angetan. Diese beiden Hobbys waren meine Stärken und ich liebte beides abgöttisch.

Malen kann ich ja perfekt, also, das wird wohl auf keinen Fall ausgelacht. Ich malte einen schönen Dschungel mit Lianen, an denen Affen hingen und an den Bananenpalmen saßen.

Stephen schaute auf mein Bild und lachte auf. »Affen? Man sieht sofort die Ähnlichkeit.« Er blickte dann zu Olga, die auch kichernd dasaß.

Ich hätte ihn mit meinem Blick am liebsten erschossen. Doch ich atmete enttäuscht durch. Also, so würde ich mich mit niemandem anfreunden.

Ich war als Erste an der Reihe, meinen Text wiederzugeben, und Frau Niemann hatte mich nur ein wenig korrigiert und mich für mein schönes Bild gelobt. Stephen flüsterte währenddessen etwas zu Olga und guckte mich mit breitem Grinsen an.

»Was guckst du denn so?«, blaffte ich ihn auf Russisch an.

»Ach, nichts.« Er lachte wieder lautlos und ich zeigte ihm die Zunge. »Die Äffchen können auch noch zickig sein«, merkte er leise an. Ich schaute ihn aus zusammengekniffenen Augen kalt an.

»Nichts für ungut, das war nur ein Scherz!«

Als Antwort ließ ich ihn nur mein falsches Lächeln sehen. Alles klar, Stephen ist also ein Scherzkeks. Sehr witzig gewesen!


Mittags kam ich nach Hause und Mama empfing mich an der Tür mit positiven Erwartungen und einem Lächeln. Mir war jedoch überhaupt nicht nach einem Lächeln zumute und ich erzählte ihr alles. Sie beruhigte mich und redete mir gut zu, dass sich irgendwann alles legen und schön werden würde, ich würde es schaffen, Deutsch zu lernen, und etwas aus mir machen.

»Man muss nur an seine Träume glauben, erst dann werden sie wahr«, sagte sie zum Schluss. Natürlich, das wusste ich doch auch, denn ich war ein optimistischer Mensch. Nur konnte ich in letzter Zeit wenig an meine Träume glauben. «Übrigens, du hast einen Brief von Evgenij bekommen«, informierte sie mich dann lächelnd.

»Echt?«, quiekte ich und war sofort auf Wolke sieben. Sie nickte in die Richtung meines Schreibtisches.

Hastig sprang ich vom Sofa hoch, riss das Kuvert an mich und setzte mich schwungvoll wieder zurück. Während ich ungeduldig den Brief meines besten Freundes aus meiner Kindheit öffnete, ließ meine Mutter mich allein.

Doch ich stockte etwas. Der Brief war viel kürzer, als ich es sonst von ihm kannte, nur ein paar Absätze. Ich drehte das Papier um, doch die andere Seite war leer. Sehr ungewöhnlich für Evgenij, denn er schickte immer mindestens ein auf beiden Seiten beschriftetes Blatt, manchmal sogar mit Text in jeder Kästchenreihe.

»Hallo liebe Elli, ich hoffe, es geht dir gut und du hast endlich neue Freunde gefunden. Ich weiß, dass du auf jeden Fall sehr schnell gute Freunde findest, denn du bist ein großartiges und ein ungewöhnliches Mädchen. Mit dir kann man nicht anders als befreundet zu sein. Und dafür möchte ich dir in diesem Brief danken. Danke, dass du meine Freundin warst und meine Kindheit unvergesslich gemacht hast. Aber ich möchte mich von dir verabschieden. Schreib mir nicht mehr zurück, ich würde es nicht mehr lesen können. Ich gehe fort. Ganz weit weg, dorthin, wo keine Briefe mehr ankommen werden. Leb wohl. Evgenij.«

Mein Atem machte einen Aussetzer. Irgendetwas in der Brust zog sich so sehr zusammen, dass es wehtat. Ich vermisste ihn jetzt wie nie zuvor, eigentlich hatte er mir die ganze Zeit über gefehlt. Doch in diesem Moment hatte ich auch noch ein übles Gefühl in meinem Magen. Die Gedanken, die sich in meinen Kopf drängelten, wehrte ich ab und wollte es nicht wahrhaben, dass es ihm nicht gutging. Ich las immer wieder die Sätze durch. Seine Schrift war grauenvoll. Alle Jungs haben eine Sauklaue, doch hier sah es danach aus, als ob Evgenij aus letzter Kraft geschrieben hätte. Und die untersten Zeilen tanzten völlig aus der Reihe und sahen wie hingeklatscht aus, verfehlten manchmal auch die Linien auf dem Blatt, so … als hätte er die Zeile zu einer anderen Zeit, vielleicht sogar Tage später geschrieben.

Ohne lange zu überlegen, setzte ich mich an meinen Tisch und begann ihm einen Brief zu schreiben. Ich stellte keine Fragen. Ich schrieb ihm, wie sehr ich ihn vermisste, wie sehr ich mich an unsere Kindheit erinnerte, und dankte ihm ebenfalls, dass durch ihn meine Kindheit auch so wunderbar gewesen war. Ich schrieb ihm, dass ich noch wusste, wie wir im See gebadet, in Kleefeldern gekullert, wie viele Gemeinheiten wir angestellt hatten, wie wir in den Schrebergärten Früchte und Obst stibitzt hatten, wie etwa das eine Mal die Kirschen bei unserem Kinderarzt.

Dieser Kinderarzt war riesengroß – oder kam mir das damals nur so vor, weil ich noch klein war? Obwohl meine Mutter eins sechzig groß war und ihm auch nur bis an die Brust reichte, klein war er also wirklich nicht. Er hatte eine glänzende Glatze und an den Seiten schneeweiße, weiche Haare, so wie diese Angorakaninchen.

Einmal saßen wir auf seinem Baum und rissen gerade die Kirschen ab, viele davon verspeisten wir sofort, andere hoben wir für später auf und taten sie in unser T-Shirt, das wir in die Shorts gesteckt hatten. Da hatte er uns beim Klauen erwischt und wir beeilten uns, vom Baum runterzukommen. Dabei hatte ich mich in einem Ast verfangen und war auf den Bauch geknallt. Platsch, die Kirschen waren platt und klebten an meinem Bauch. Trotzdem stand ich auf und wir liefen vor ihm weg. Er folgte uns über seinen Hof bis zur Straße, mit winkenden Händen, so als würde er gerade eine seltsame Art von Kampfsport erlernen wollen, und brüllte Worte wie »Kleine Teufel«, »Rabauken« und »Nächstes Mal erwische ich euch«. Wir konnten nicht mehr vor Lachen, als wir ihm dabei zusahen. Stellt euch den weißen Hulk vor, bei dem beim Laufen die weißen Haare im wahrsten Sinne des Wortes nur so zu Berge standen.

Als wir die Wiese dann lachend und schnaufend erreicht hatten, warfen wir uns ins Gras und ruhten uns erst einmal aus. Dann kratzten wir die zerdrückten Kirschen von meinem Bauch und brachen immer wieder in Gelächter aus. Meine beiden Knie hatten Schürfwunden, was keine Seltenheit war. Ich fand einen Wegerich und drückte ihn auf meine Knie, das sollte angeblich das Blut stillen, während Jurij Hulks Bewegungen und Gebrüll nachäffte. Wir hatten schon wieder Bauchschmerzen vor Lachen.

Ich erwähnte all diese Erlebnisse im Brief, schrieb und schrieb, um ihn noch heute abschicken zu können. Meine Sicht nahm immer mehr ab, weil ich bei den Erinnerungen wehmütig weinen musste. Zum Schluss schrieb ich ihm noch, wie gern ich ihn hatte und mich von ihm auf gar keinen Fall verabschieden mochte, und es auch nie tun würde. Ich würde und könnte ihn auch nie vergessen. Ich werde ihm immer schreiben!


Die nächsten Schultage verliefen ähnlich wie der erste und ohne nennenswerte Geschehnisse. Ich freundete mich noch mit niemandem an. Bei dieser Vorhersage hatte Evgenij falschgelegen. Stephen machte weiter seine sarkastischen Bemerkungen über mich und Olga schaute auf mich herab und wollte sich nicht mit mir anfreunden – sie war ja eine Realschülerin, also etwas Besseres.

Tag für Tag wartete ich auf Antwort von Evgenij, obwohl ich wusste, dass es Wochen dauern würde, bis ich eine zurückbekommen würde. Jeden Tag vor dem Schlafengehen legte ich mich ins Bett und las seinen Brief noch mal durch. Es erschien mir alles so merkwürdig. Vielleicht wollte er sich einen Scherz erlauben. Ich hoffte es sehr.

Jeden Tag wachte ich mit neuem Optimismus auf, dass ich auch hier endlich ein paar Freunde finden würde. Am besten solche wie Evgenij.

So kam ich eines Tages zur Schule und setzte mich wie immer vor der Klasse an den Cafeteria-Tisch – allein. Ich hörte mal da, mal hier russisches Gerede der Schüler, die in Grüppchen herumstanden, zusammen quatschten und lachten. Ich sah auch Stephen mit anderen Deutsch-Russen, deren Namen ich nur heraushörte, Antonia, German und Vitali. Ich traute mich nicht, mich so unverfroren dazuzugesellen. Vielleicht sollte ich mich endlich doch überwinden?

Als ich spürte, dass mich jemand mit einem Blick durchlöcherte, schaute ich alle Gesichter links von mir an. Nein, mich beobachtete eigentlich niemand. Merkwürdig, ich fühle es doch! Ich drehte meinen Kopf nach rechts.

Und ja, ein kräftig gebauter Junge mit dunkelblonden Haaren aus der achten Klasse guckte mich an. Als er bemerkte, dass ich seinen Blick auffing, wandte er seine Augen sofort ab und stellte sich hinter seinen Freund, der ihm so als Tarnung diente, und ich sah nur noch seine dunkelblonden Haare, die wellig und unordentlich waren. Ich wandte mich ebenfalls ab, schaute nach vorn, sah ihn aber noch aus dem Augenwinkel.

Nach ein paar Minuten ging er los in meine Richtung, langsam und unsicher. Was will er denn? Will er mich etwa aus der Nähe betrachten? Oder spricht er mich an, um mich kennenzulernen?

Er ging tatsächlich so langsam, als würde er mich begutachten wollen. Irgendwie musste ich schon allein deshalb in mich hineinschmunzeln. Als er dicht vor mir war, blickte ich zu ihm hoch und blieb direkt an seinen meeresblauen Augen hängen. Ich staunte. Wow, er scheint Evgenij wie aus dem Gesicht geschnitten, nur größer. Das brachte mich noch mehr aus der Fassung.

Er hatte es allerdings nicht erwartet, dass ich ihn mit meinem Blick förmlich auffressen würde, und wurde verlegen. Prompt drehte er sich halb um und tat so, als wollte er in die Nachbarklasse gehen, hatte die Tür aber knapp verfehlt und die Wand getroffen.

Ich musste lächeln, dass ich einen Jungen so aus dem Konzept gebracht hatte. Er drehte sich wieder zu mir um, sah, dass ich ihn immer noch schmunzelnd beobachtete, drehte sich ganz um und marschierte schnell zurück zu seinem Freund, der schon zu lachen begonnen hatte.

Das ist ja unfassbar, wie verlegen er doch wurde. Ihm war sogar die Röte ins Gesicht gestiegen. Aber seine Verwirrtheit, seine Dusseligkeit erinnerte mich umso mehr an Evgenij. Ich schluckte hart. Hoffentlich schreibt Evgenij mir bald zurück. Ich schaute mich noch einmal nach diesem Jungen um und hörte Russisch aus dem Mund seines Freundes.

Die erste Klingel läutete gerade, also war es fünf vor acht. Zu unserer Klassentür kam ein Mädchen gelaufen und blieb neben meinen Mitschülern zum Quatschen stehen. Sie war nicht dick und auch nicht dünn, hatte meiner Meinung nach genau den richtigen Körperbau. Ihr Gesicht war weich, ihre Augen hell – ich glaube grau – und sie hatte schöne, lange blonde Haare, die ihr bis zur Taille reichten. Sie sah aus, als ob sie definitiv aus Russland stammte.

Mit dem zweiten Läuten erschien dann auch Frau Meier und öffnete die Klassentür, nachdem die Schüler zu drängeln begonnen hatten, als ob ihnen jemand ihren Platz wegnehmen könnte. Ich setzte mich derweil auf meinen. Das Mädchen ging lächelnd direkt zu mir und setzte sich links neben mich. So, Elli, jetzt oder nie. Würde ich still bleiben, würde nie etwas daraus werden.

»Hallo, ich bin Elli«, sprach ich sie an.

»Hi, ich bin Violetta«, antwortete sie auf Russisch und leise, weil der Unterricht bereits anfing.

»Ein ungewöhnlicher Name für ein russisches Mädchen«, flüsterte ich zurück.

Sie kicherte lautlos. »Ja, das höre ich oft.«

Frau Meier bat uns, auch noch sich gegenseitig vorzustellen.

Violetta war die letzten Tage krankgeschrieben und erzählte, dass sie vor zwei Jahren aus Russland gekommen war, daher hörte sich ihr Deutsch schon perfekt an. Und zu ihren Hobbys, wie sie sagte, zählte nur – Freunde zu treffen. Na, das hörte sich doch gar nicht mal so schlecht an.

Violetta und ich freundeten uns dann an und trafen uns auch nach der Schule immer öfter. Sie war sehr wachsam und abenteuerlustig. Sie hatte zwar immer viel geredet, aber damit konnte ich leben. Mit ihr würde ich nie vor Langeweile sterben. Und sie hatte tatsächlich kein Problem damit für mich neue Kontakte anzuwerben. So freundete ich mich dann mit fast allen Deutsch-Russen in der Schule an. Violetta und ich wurden sehr schnell dicke Freundinnen und man konnte jetzt schon sagen, sogar beste Freundinnen. Und so verflogen die Wochen bereits viel schneller.


Hellseherische Träume

 

Daran glaubte ich eigentlich nie. Und dass es ausgerechnet mich treffen würde, hatte ich meinen Lebtag nicht vermutet. Einige Leute, die davon wussten, fanden es spannend … »Oh wow, wie cool«, war Violetta darüber begeistert. Oh nein, so wow war es nicht – und schon gar nicht cool.

 

November 1996

 

Am Wochenende fuhr ich mit den Eltern zu meinen Großeltern, wo ich dann die Nacht über blieb. Ich liebte es dort zu bleiben, denn meine Oma verwöhnte mich mit ihren kulinarischen Köstlichkeiten. Besonders liebte ich es, Opa beim Fernsehen zu beobachten, wie er der Situation entsprechend Grimassen schnitt, mal grinsend, mal kräftig nickend, als würde er sagen: »Ja, ja, der Meinung bin ich auch!« Oder, wenn er den Kopf schüttelte: »Nein, geh da nicht hinein!« Oder er lächelte voller Freude, wovon auch ich automatisch lächeln oder gar kichern musste. Aber er hatte sich so auf das Fernsehen konzentriert, dass er nicht mal merkte, was um ihn herum passierte, oder dass er beobachtet wurde. Und was ich am meisten an ihm liebte, war, dass ich mich kuschelnd an seine Seite schmiegen durfte, er mich an sich presste, umarmte und immer sagte: »Mein Engel!« Und dabei gab er mir einen Kuss auf die Stirn. So nannten mich meine Großeltern seit meiner Kindheit. Das war das erste deutsche Wort, das ich gelernt hatte, bevor ich »Kuss« und »Gute Nacht« lernte.

Als ich nach Deutschland kam und bei ihnen das erste Mal über Nacht blieb, gab mir Oma, wie sie es früher auch immer getan hatte, einen Gutenachtkuss, als ich bereits im Bett lag, und sagte: »Meine Mutter, deine Uroma Elli, hat mir mal erzählt, dass ich mir auf einem neuen Schlafplatz wünschen soll, dass ich in einem Traum meinen Zukünftigen sehen will. Sie hatte nämlich hellseherische Träume, die sich bewahrheiteten. Sie machte sehr genaue Notizen darüber, deutete sie, klärte sie auf und verfolgte, ob sie in Erfüllung gingen.«

Ich sah sie zunächst verwundert an, denn so was hörte ich zum ersten Mal, es kam mir so komisch vor, dass ich kichern musste.

»Du lachst, ja, ich habe damals auch gelacht. Bei mir funktioniert es nicht, ich habe die Gabe wohl nicht geerbt … Sie hat mir erzählt, dass sie meinen Vater in ihrem Traum gesehen hat. Sie hat ihn danach tatsächlich getroffen. Jedes Mal wenn sie wieder an einem neuen Platz schlief, sagte sie diesen Spruch auf und sah immer und immer wieder über all die Jahre nur meinen Vater in ihren Träumen. Ihre Liebe hielt auch bis zum Schluss.«

»Das muss wohl die wahre Liebe sein«, schloss ich daraus.

»Ja, das war es wirklich, sie liebten sich sehr. Vielleicht funktioniert es bei dir, sag nur: An einem neuen Schlafplatz rufe ich in meinem Traum meinen Zukünftigen herbei.«

Dass ich es zuerst als Unsinn bezeichnete, hielt mich dennoch nicht davon ab, es auszuprobieren. Und ich sah tatsächlich in dieser Nacht nicht nur zum ersten Mal einen farbigen, klaren und deutlichen Traum, als würde ein Film in meinem Kopf ablaufen, sondern auch einen großen jungen Mann mit schwarzen Haaren und solch dunkelbraunen Augen, die wie Schokolinsen wirkten. Ich warf mich ihm um den Hals und küsste ihn leidenschaftlich, während die Apfelblüten von dem danebenstehenden Apfelbaum auf uns herabfielen. Es war ein unrealistisch schöner und romantischer Traum, den ich nicht mehr vergessen konnte. Selbst nach dem Aufwachen hatte ich das Gefühl, dass mich jemand im Arm hielt und die Blütenblätter über meine Wangen streiften, deren Geruch sogar noch in meiner Nase lag. Ich wünschte mir außerdem, dass es wahr werden würde, denn dieser tiefe Blick des jungen Mannes ging mir bereits bis in die Knochen, sodass es in mir kribbelte.

Doch in dieser Nacht sah ich einen anderen Traum, in dem ich in der Dunkelheit nach Evgenij suchte und seinen Namen rief. Aber es war still und alles schwarz. Ich bekam Panik, fing an, schreiend und weinend umherzulaufen, als würde ich mich beeilen müssen ihn zu finden, als ob mir die Zeit davonliefe. Dann sah ich ein Licht von oben nach unten scheinen, so als hätte jemand eine große Lampe eingeschaltet. Ich blieb abrupt davor stehen, als von der anderen Seite Evgenij in den Lichtkegel trat.

Ich begann schockiert zu flüstern: »Nein, nein … nicht …« und fing wieder an seinen Namen zu rufen. Er streckte mir die Hand entgegen und fragte mich leise: »Kommst du mit?« Ich wollte zu ihm laufen, aber ich war wie angewachsen und konnte mich nicht mehr vom Fleck rühren. Als ich sah, dass er im Licht nach oben schwebte und seine Gestalt langsam zu flimmern begann, fing ich an, lauthals zu weinen und schrie immer wieder seinen Namen. Er verschwand jedoch.

Mit einem riesigen Schreck wachte ich auf. Ich hörte das Gezwitscher der Vögel vor dem Fenster, und Omas Wohnzimmer, in dem ich schlief, erstrahlte im Sonnenlicht. Alles schien so friedlich und schön, aber mich bedrückte der Kummer wegen Evgenij. Immer noch zitterte ich und mein Hals brannte, womöglich hatte ich tatsächlich geschrien.

Es roch nach Omas Pfannkuchen und ich ging nach dem Waschen einfach der Nase nach. Meine Oma stand in der Küche am Herd und lächelte mich an, als sie mich sah.

»Mein Engelchen ist wach.« Sie strahlte auch wie die Sonne. »Ich habe für dich extra Pfannkuchen gemacht, bevor du heute wieder nach Hause fährst«, sagte sie liebevoll und goss den Teig für den nächsten in die Pfanne.

Ich nickte ihr noch etwas schläfrig zu und setzte mich an den Tisch. Noch immer kreiste Evgenijs Gestalt in meinem Kopf.

»Ich weiß noch, wie du in der Kindheit ungeduldig auf den ersten Pfannkuchen gewartet und ihn dann ungeschickt in deinen kleinen Händchen hin und her gewendet hast, bis er abgekühlt war und du endlich reinbeißen konntest.« Lächelnd sah sie mich über ihre Schulter an. »Was ist denn los, Liebes? Hast du dich etwa verliebt?« Sie lachte warm und legte mir dann die Pfannkuchen auf meinen Teller, den sie mir hingestellt hatte. »Du siehst so aus, als hättest du Liebeskummer.«

Ihr entging wirklich nie etwas. Ich wunderte mich. Wirklich? Bin ich verliebt? In Evgenij?

»Ich hatte nur einen merkwürdigen Traum«, fing ich an zu murmeln. »Der war so … echt, so klar … und fast real.«

Oma lächelte mich an. »Dann hast du wohl tatsächlich die Gabe deiner Uroma geerbt.«

»Kennst du dich auch mit Träumen aus?«

»Nicht sehr gut, ich habe von meiner Mutter einiges mitbekommen und manchmal las ich in ihren Deutungen.«

»Weißt du, was es bedeutet, wenn es überall schwarz ist und du jemanden siehst, der dich dann bittet mitzugehen und dann selbst … in einem Licht verschwindet?« Erwartungsvoll schaute ich sie an. Aber ihre Augen wurden starr, als hätte sie einen Geist gesehen.

»Nie, hörst du? Wirklich niemals geh mit einem Toten mit!«, brachte sie warnend hervor.

Ich schluckte hart. Nun wurden meine Augen riesengroß und ich schüttelte wie benommen meinen Kopf.

»Er ist nicht … tot!«, kam es mir fassungslos über die Lippen.

Sie seufzte nur und wandte ihren Blick ab.

»Nimm es dir nicht zu Herzen, Engelchen.« Ihre Stimme klang dennoch besorgt. Sie gab mir einen Kuss und ging aus der Küche. Mit dem Satz »Ich bin kurz einkaufen«, verließ sie dann auch das Haus.

Ich blieb wie gelähmt sitzen. Mein Inneres begann zu zittern. Diesen Gedanken konnte ich nicht mal annähernd akzeptieren. Doch je mehr ich an diesen Traum und Evgenijs letzten Brief dachte sowie daran, dass ich seit drei Wochen immer noch keine Antwort von ihm bekommen hatte, desto größer wurde der Schmerz in meiner Brust. Eine Hitzewelle nach der anderen jagte durch meinen Körper, die jedes Mal einen eiskalten Schauer hinterließen. Evgenij konnte nicht tot sein. Er war erst dreizehn, genauso wie ich. Das kann einfach nicht sein!

Abends hatten mich dann meine Eltern nach Hause geholt und auch meiner Mutter entging nicht meine Bedrücktheit. Ich erzählte ihr nichts, weder vom Traum noch von dem Gespräch mit meiner Oma. Das Einzige, was ich sie fragte, war, ob sie wusste, dass ihre Oma Elli hellseherische Träume gehabt hatte.

»Ja, ich habe oft in ihren Deutungen gelesen, weil Bücher so teuer waren, ich das Lesen aber so sehr liebte.« Sie sah mich im Auto über die Schulter an. Ich nickte nur und schaute aus dem Fenster. »Ich war und bin immer noch froh darüber, dass ich diese Gabe von ihr nicht geerbt habe«, fügte sie noch hinzu.

Ich ließ meine Stirn auf die Fensterscheibe sinken. Ich hoffe es auch, dass ich diese Gabe nicht geerbt habe. Doch danach sah es eigentlich nicht aus und ich konnte nichts dagegen tun.

 

Nach der Schule wollte ich sofort auf mein Zimmer gehen, um schnell Hausaufgaben zu machen, und dann etwas malen. Mir war so sehr danach. Ich malte immer, wenn ich mich schlecht fühlte, bekümmert oder nervös war. Malen war wie eine Beruhigungstherapie für mich oder eine Ablenkung von üblen oder bedrückten Gedanken. Womöglich war ich auch deswegen eher ein stilles Kind.

»Ach, Elli, ich habe einen Brief auf deinen Tisch gelegt«, sagte meine Mutter, als ich an ihr vorbeiging. Innerlich wallte alles auf. »Er ist von Helga.«

Meine Schultern sackten sofort nach unten.

Helga war meine zwei Jahre ältere Nachbarin in Russland, mit der ich wenig Zeit verbracht hatte. Eigentlich hatte ich nicht erwartet, dass sie mir jemals schreiben würde.

Der Brief war recht dünn, und als ich ihn öffnete, war nur ein halb gefaltetes DIN-A5-Blatt enthalten. Es war außerdem nur knapp beschriftet. Ich erwartete dort so etwas wie: »Wie geht’s dir? Mir geht’s gut!«, kurzes Blabla, »Schreib mir auch mal!« oder so ähnlich und begann daher sorglos zu lesen. Doch die ersten Zeilen lähmten mich völlig. Ich las sie noch mal. Und noch mal. Mein Atem wurde unbändig, während ich den ganzen Brief durchlas.

»Liebe Elli, ich weiß gar nicht, wie ich es dir schreiben soll. Es ist so tragisch, so traurig. Evgenijs Mutter hat mir erzählt, dass du Evgenij geschrieben hast und wohl auf seine Antwort warten würdest. Aber er ist nicht mehr da. Elli, sei jetzt stark, wenn du die nächsten Zeilen liest. So wie Evgenij das letzte halbe Jahr stark war. Evgenij hatte Leukämie. Leider hat er diesen Kampf verloren. Wir hoffen, er fühlt sich jetzt frei und ist im Himmel gut aufgehoben.«

Mir saß ein dicker Kloß im Hals, meine Augen fingen an zu brennen und ich bewegte den Kopf hin und her. Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da las. Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus und meine Knie gaben nach, bevor ich mich auf mein Sofa setzte. Ich zog die Knie zur Brust, umschlang sie, legte meinen Kopf darauf und fing an zu weinen. Oh Gott, du bist so ungerecht, so früh das Leben einem Menschen wegzunehmen. Er war doch noch ein Kind.

An diesem Abend konnte ich überhaupt nicht einschlafen. Ständig, wenn ich die Augen zumachte, sah ich in meinem Kopf die Erinnerungen an Evgenij. Wie wir meistens auf den Garagendächern lagen und einfach die Sonne genossen oder den strahlendblauen Himmel anschauten und rätselten, welcher Figur die Wolken gerade ähnelten. Wir redeten über jeden Quatsch. Es war so, als ob ich ihn neben mir liegen spüren könnte und auch den Duft der Akazienblüten riechen, die neben mir fast bis auf unsere Gesichter herunterhingen. In meiner Erinnerung sah ich Evgenij an, der mir Akazienblüten kauend den Zweig herüberreichte. Ich zupfte die Blüten ab und beförderte sie in meinen Mund. Der süße Geschmack verteilte sich auf meinem Gaumen. Genüsslich streckte ich mein Gesicht der Sonne entgegen und schaute einer kleinen Wolke zu, die am Himmel vorbeizog. So leicht und unbeschwert.

Ich öffnete meine Augen und starrte meine weiße Zimmerdecke an. »Ich gehe fort. Ganz weit weg, dorthin, wo keine Briefe ankommen«, erinnerte ich mich an die Worte in Evgenijs Brief. Das meinte er also damit – den Himmel. Meine Tränen nahmen wieder ihren Lauf.

 

Nicht nur Deutschland hatte Gesetze

 

… und Regeln, sondern auch meine Eltern hatten welche. Und was mein Vater sagte, war sowieso immer das oberste Gesetz. Auch wenn mein Vater dabei streng wirken wollte und ich es ihn auch glauben ließ, so muss ich eingestehen – das war er nicht. Aber das habe ich ihm natürlich nie verraten.

Ich wurde immer so erzogen, dass ich freundlich, respektvoll gegenüber den Erwachsenen und gehorsam und brav sein sollte. Das war ich auch. Zumal ich das auch richtig fand und auch so sein wollte. (Wir werden hier noch nicht ins Detail gehen, dass irgendwann im Leben mal ein Wendepunkt kommen würde, an dem man seine Grenzen austesten und rebellieren wollte.)

 

Dezember 1996

 

In einer Unterrichtsstunde wurden wir bereits vorab über unsere Zensuren informiert, denn in zwei Wochen würden die Weihnachtsferien beginnen. Meine Noten notierte ich für den Überblick in meinem Block. Mit jeder weiteren angekündigten Zensur wurde mir schlechter und meine Laune sank immer weiter. In Deutsch, Chemie, Biologie und Arbeitslehre hatte ich nur Dreier. Geschichte war ein totaler Reinfall, da würde es eine Vier geben. Nur in Mathematik hatte ich eine Zwei und in Sport und Kunst glänzten jeweils Einsen. Verdammt, ich bin nicht daran gewöhnt, so grottenschlecht zu sein.

In Russland hatte ich immer nur Fünfen – das wären hier Einsen. Ich hatte sechs Klassen mit Eins abgeschlossen und Urkunden dafür bekommen, auf denen noch Lenins Gesicht im Profil zu sehen war und darunter sein Spruch prangte: »Lernen, lernen und nochmals lernen«. Damit wurden früher die Musterschüler ausgezeichnet. Als ich in der sechsten Klasse war, wurden die Urkunden jedoch abgeschafft.

Nun fühlte ich mich dumm wie Stroh. Ich saß da und wurde sogar rot, schämte mich selbst für mich. Tja, und am Englischunterricht nehme ich noch nicht mal teil. Ich überlegte, ob ich mit Frau Meier reden sollte. Vielleicht würde sie mir einen Rat geben, ob ich zum Beispiel im Englischunterricht anwesend sein könnte. Mit meinen Zensuren würde ich nie ins Gymnasium kommen. Jetzt war mir auch nach Lachen zumute. Ha-Ha, Wirtschaftsprüferin! Das war genauso weit entfernt wie der Mond von mir.

Nach der Schule bat ich Frau Meier um ein Gespräch.

»Was ist los, Elli? Hast du irgendwelche Probleme?«, fragte sie mit ihrem künstlichen Lächeln.

»Ja … Meine Zensuren sind für mich ein Problem. Ich war noch nie so schlecht in der Schule«, nuschelte ich schon fast entschuldigend.

»Du bist einfach noch nicht so lange in Deutschland, Elli. Das wird schon noch werden, sprechen tust du ja schon gut.«

»Ja, aber mit solchen Noten kann ich den Beruf Wirtschaftsprüferin wirklich vergessen.«

Sie kicherte und strich dabei ihr Haar hinter das Ohr. Ich versuchte, ihr Kichern zu ignorieren, denn es klang eher spöttisch.

»Können Sie mir vielleicht irgendeinen Tipp geben … oder so etwas? Zum Beispiel, ob ich auch am Englischunterricht teilnehmen könnte, damit ich mich für das Gymnasium vorbereiten kann?«

»Nun, damit du ins Gymnasium kannst, musst du hier an der Hauptschule …«, hob sie das letzte Wort stimmlich hervor. Als hätte ich vergessen, wo ich mich befinde. »musst du einen Notendurchschnitt von zwei Komma null haben, damit du den erweiterten Realschulabschluss überhaupt bekommst. Wie viel hast du jetzt?«

»Ich glaube, ich muss nicht rechnen, ich vermute, drei Komma null. Aber mir fehlen ein paar Fächer, weil ich am Deutsch-Förderunterricht teilnehmen muss.« Ich überlegte kurz, ehe ich weitersprach. »Kann ich mit dem Deutsch-Förder aufhören? Ich werde es selbst zu Hause lernen und dafür nehme ich an den anderen Fächern teil, dann kann ich schneller den Unterrichtsstoff nachholen.«

Sie überlegte. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, war sie skeptisch. »Wenn du das so willst«, sagte sie dann leicht verunsichert. Ich nickte schwungvoll. »Und schaffst du es denn, dir Deutsch selbst beizubringen?«

»Ja, auf jeden Fall.«

»Trotzdem wäre da noch Englisch, ohne ist es schwierig, ins Gymnasium zu kommen, und ohne bekommst du nicht den erweiterten Realschulabschluss, selbst wenn du den vorgegebenen Notendurchschnitt erreichst. Außerdem musst du Mathematik und Englisch als Leistungskurse-A und nicht B belegen. In Mathematik hast du ja A, aber Englisch …«

»Und was kann man da machen?«

»Vielleicht kannst du erst mal am Englisch-Förderunterricht teilnehmen. Aber das ist vorerst auch schon alles.« Ich runzelte die Stirn und sie erklärte weiter: »In den Englischunterricht A-Kurs kann ich dich nicht dazusetzen, da würdest du nicht mithalten können.« Sie lächelte mies.

Ach ja, wie konnte ich es vergessen, sie ist ja nicht nur Deutsch-, sondern auch die Englischlehrerin. Meine Enttäuschung stand mir wohl ins Gesicht geschrieben.

»Elli, du hast wenig Chancen, in den drei Jahren … jetzt schon in zweieinhalb, zehn oder mehr Zensuren zu verbessern und noch dazu zwei Sprachen zu lernen. Ich glaube nicht, dass du es schaffen kannst.« Sie streichelte mich mitleidig an der Schulter. »Ich glaube, du solltest dir den Gedanken, aufs Gymnasium zu gehen und Prüferin zu werden, aus dem Kopf schlagen. Denk vielleicht noch einmal über deinen Berufswunsch nach, vielleicht wäre auch etwas wie Verkäuferin was für dich … oder etwas Ähnliches.«

Ich funkelte sie an und stand auf. »Danke, Frau Meier, aber an so etwas Ähnliches werde ich nicht einmal denken!«, versuchte ich nicht so scharf zu klingen, und sie sah mich erstaunt an. Ich verabschiedete mich trocken von ihr und ging nach Hause. Mir war nur noch nach Weinen, aber ich hielt meine Tränen bis zu Hause zurück.

An der Tür empfing mich schon meine Mutter. »Wo warst du?«, fragte sie mich besorgt, als ich meine Jacke auszog.

»Ich hatte noch ein Gespräch mit der Lehrerin«, brummte ich und verschwand stampfend in mein Zimmer.

Sie kam mir hinterher. »Wieso? Ist etwas passiert?«

»Ja, ist es!«, brachte ich heraus und warf vor Wut meine Schultasche in die Ecke.

»Elli!«, entsetzte sie sich. »Was ist los?«

»Ach, ist doch alles Mist. Wozu? Warum soll ich mir den Arsch aufreißen, wenn ich den Realschulabschluss eh nicht bekommen werde, geschweige den erweiterten?«

»Wieso das denn?«

»Weil ich eine Aussiedlerin bin, weil ich die Hauptschule besuche und das scheint so zu sein, als würde schon alles feststehen: Elli schafft es nicht!«, sprach ich aufgebracht und laut und gestikulierte dabei mit den Armen, während meine Mutter mit offenem Mund dastand und nichts begriff.

»Hat das etwa die Lehrerin gesagt? Warum?« Sie runzelte ihre Stirn.

»Weil sie der Meinung ist!«, blaffte ich zurück und plumpste auf das Sofa. Jetzt war der Damm gebrochen und mir schossen die Tränen in die Augen. Mutter umarmte mich, ich brabbelte völlig aufgelöst weiter und weinte dabei an ihrer Schulter, bis ich ihr alles erzählte.

Nach einer Weile richtete sie mich auf, um mich anzusehen. »Hast du eigentlich gewusst, dass Walt Disney fast neun Jahre gebraucht hatte, um Erfolg zu haben?« Mit Tränen in den Augen schüttelte ich den Kopf. »Oder dass Mendelejew eine Drei in Chemie hatte oder Albert Einstein, bis er vier Jahre alt war, nicht sprechen konnte und sein Lehrer ihn als ein geistig zurückgebliebenes Kind bezeichnet hatte?« Sie schmunzelte mich an. »Glaubst du immer noch, dass du es nicht schaffen kannst? Man kann alles schaffen, wenn man sein Ziel vor Augen hat und es auch erreichen will. Man muss sich nur weiterbewegen.« Ich schniefte mit der Nase. »Wenn du willst, kaufe ich dir Bücher, damit du lernen kannst. Aber, Liebes, mach dich nicht kaputt und vor allem lass dich nicht deswegen hängen oder entmutigen«, redete Mama auf mich ein und streichelte mich dann in ihrer Umarmung am Rücken.

»Werde ich auch nicht. Das war bloß ein kleiner Aussetzer. Sie wird noch sehen … Im Gegenteil!« Ich wischte meine letzten Tränen vom Gesicht ab.

»Du schaffst das auch, Elli«, meinte Mama lächelnd und ich zog meine Mundwinkel hoch.

»Ich weiß, Mama.« Ja, ich werde es schaffen. Ich weiß zwar noch nicht wie, aber ich werde es allen zeigen und beweisen.

 

Mein Wecker klingelte und ich tastete mit der Hand danach, um ihn auszuschalten. Oh Mann, keine Lust, aufzustehen. Aber noch etwas mehr als eine Woche, dann sind endlich Weihnachtsferien. Ich hörte meine Mutter im Bad hantieren. Wenn sie die zweite Schicht hatte, weckte sie mich immer und wir frühstückten zusammen.

Eingekuschelt im warmen Bett, lag ich noch ein paar Minuten einfach nur da und streckte mich vor dem Aufstehen genüsslich. Dabei berührte ich etwas mit der Hand hinter meinem Kopf und drehte mich überrascht um. Auf der Lehne meines Schlafsofas lag ein Geschenk – ein dickes Buch. Ich nahm es in die Hände und las die Überschrift: ›Der Brockhaus‹. Sofort kreischte ich laut vor Freude auf, als Mama schon aus dem Bad und in mein Zimmer kam.

»Mum, danke!«, rief ich und sprang winselnd auf das Sofa hoch. Als sie zu mir kam, umarmte ich sie fest.

»Herzlichen Glückwunsch zu deinem vierzehnten Geburtstag, Liebes. Ich hoffe, das wird dir weiterhelfen.« Sie küsste mich.

»Und wie! Das freut mich sehr.« Ich setzte mich hin und blätterte staunend ein paar Seiten durch.

»Das ist aber nicht dein Geschenk… eigentlich ist es das hier.« Sie deutete auf das Päckchen, das neben dem Buch lag.

»Oh ja, das habe ich auch schon bemerkt.« Ich nahm auch das in meine Hände. Es war genauso schwer und ich riss das rote Geschenkpapier herunter, während Mama sich neben mich setzte. »Maaama«, hauchte ich überwältigt, als ich die Buchtrilogie des Romans ›Tanja‹ von Susanne Scheibler in den Händen hielt. »Die waren doch teuer!«

»Ich weiß, dass ich das zu dir gesagt habe. Das war Absicht, damit du nicht mitkriegst, wie ich es besorge.«

»Ich danke dir.« Ich umarmte sie wieder und küsste sie auf die Wangen.

»Die Geschenke sind natürlich auch von Papa«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Ja, ich werde ihm heute Abend selbstverständlich auch danken. Und vor dem Schlafengehen fange ich noch mit dem ersten Roman an«, rief ich aufgeregt.

Ich stand auf und begann mich freudig für die Schule fertigzumachen.

»Wenn du öfter liest, wird dir das auch mit der Sprache helfen«, sagte sie, und ich nickte zufrieden.

Mit dem Deutschen würde es jetzt vorangehen, da war ich mir sicher. Daher musste ich mir nur noch etwas wegen des Englischen überlegen.

 

Im zweiten Halbjahr wurde ich auf meinen Wunsch vom Deutsch-Förderunterricht befreit. Meine Eltern kauften mir noch mehr Bücher, damit ich die deutsche Grammatik besser lernen konnte, und ich fing an zu Hause selbst dafür zu büffeln. Ich konnte jetzt deshalb am Englisch-Förderunterricht teilnehmen und suchte außerdem einen Privatlehrer auf. Meine Eltern waren damit sofort einverstanden, obwohl fünfzig Mark im Monat für uns noch sehr viel Geld waren. Deswegen musste ich jetzt leider auf die Klavierschule verzichten, die ich hatte wieder besuchen wollen. Natürlich war das Lernen kein Spaziergang. Und auf das Spazierengehen mit Freunden hatte ich abends im Übrigen auch verzichtet.

Am Ende des zweiten Schulhalbjahres hielt ich dann endlich mein Zeugnis in den Händen, und das giftige Lächeln von Frau Meier war mir nicht entgangen. Ich hatte noch mehr Dreier. Wegen des Ausfalls des Deutsch-Förderunterrichts konnte ich ja jetzt andere Fächer besuchen und somit hatte ich auch mehr Noten im Zeugnis. Aber zwei Zensuren hatte ich verbessert und im Englisch-Förderunterricht glänzte bereits eine Drei. Ich zeigte ihr mein erfreutes Lächeln. Dieses Zeugnis war für mich dennoch zufriedenstellend, denn ich hatte keine Vieren mehr. Weiter so, nur nicht nachlassen und die Ohren steifhalten.

Die Sommerferien hatte ich mit Violetta verbracht und manchmal trafen wir dabei auch unsere Freunde aus der Schule. Lange draußen zu bleiben erlaubten mir die Eltern eigentlich nicht. Ich respektierte das, denn ich selbst wollte ja so viel wie möglich lernen, damit mir das nächste Schuljahr nicht so schwerfallen würde.

Ich fing an, als Schülerin nebenher in einem Blumenladen zu arbeiten. Was mich dazu brachte? Ich hatte mich in ein Lederjäckchen verliebt und fragte Mama wegen des Geldes: »Mama, biiiitte. Ich verstehe, dass achtzig Mark nicht auf der Straße herumliegen, aber mein Herz sehnt sich so sehr nach dieser Jacke.«

»Wenn du dein eigenes Geld verdienen wirst …«, mischte sich mein Papa ein, »… dann kannst du dir das kaufen, wonach dein Herz sich sehnt

Was Papa sagte, daran war nichts mehr zu rütteln. Also musste ich mit meiner Niederlage erst einmal leben, – bis ich an diesem Blumenladen vorbeikam. Ich liebte Blumen, den Duft, vielleicht vermisste ich einfach unsere Blumenwiesen, die ich hier noch gar nicht entdeckt hatte. Also fragte ich einfach nach einem Schülerjob. Der Chef stellte mich sofort für vier Stunden an ein paar Tagen in der Woche nach der Schule ein. Er lehrte mich, Sträuße zu binden und Gestecke zu fertigen. Ich wusste nicht, dass mir das so viel Spaß machen würde, und schon nach drei Arbeitstagen konnte ich mir meinen Wunsch mit der Jacke erfüllen. Meine Eltern waren einerseits sehr stolz auf meine Selbstständigkeit, andererseits bemerkte ich auch eine gewisse Bedrücktheit in ihren Augen, wahrscheinlich deswegen, weil sie mich mit ihrem Verhalten zur Arbeit angetrieben hatten.

Ich hatte außerdem mein Äußeres verändert, ich hatte meine Haare zu einer modernen Stufenfrisur bis zu den Schultern abgeschnitten, wodurch ein paar Wellen in meine Haarspitzen kamen. Ich besorgte mir auch nach und nach von meinem verdienten Geld viele neue Klamotten, die momentan im Trend waren, wie beispielsweise Plateauschuhe, Jeans mit ausgeschlagenen Beinen, bauchfreie Tops und noch einige sportliche Sachen. So fühlte ich mich endlich lebendiger und so, wie ich wirklich war. Ich passte jetzt wenigstens, was die Klamotten anging, zu anderen Mädchen in der Schule und sah nicht mehr nach einem grauen Mäuschen aus.

 

Mein erster Freund


– wer hätte das gedacht – war Nick. Der Nick, der wegen mir so aus der Bahn geraten war und beinahe die Wand geküsst hatte. Bei näherem Betrachten, als er so neben mir in einer Kussreichweite stand, als ich mit ihm zufällig am Kiosk zusammengestoßen war, stach es in meiner Brust. Wehmut. Kummer. Sehnsucht. Aber vielmehr nach Evgenij. Er sah ihm aus der Nähe erschreckend ähnlich. Ich vermisste Evgenij sehr. Meinen ersten und einzigen besten Freund, den ich nicht so schnell vergessen konnte.

Nick und ich kamen zusammen. Nein, es war nichts Besonderes. Es war mein erstes Willst du mit mir gehen? – dieser Satz bringt mich noch heute zum Schmunzeln – die ersten Berührungen, Händchen halten oder engumschlungen nebeneinanderzusitzen und natürlich der erste Kuss, … der voll in die Hose ging. Außer etwas Fummelei hatte ich mit ihm keinen Sex. Er würde das erst dann tun, wenn ich ihn darum bitte, meinte er damals zu mir. Ich hatte kein Verlangen, ihn darum zu bitten. Nick war sehr sanft und liebevoll zu mir – obwohl, wie es sich rausstellte, er sonst eher ein Problemschüler war und viel Unsinn machte. Es erschien mir wie eine klischeehafte Beziehung – bad Boy meets good Girl. Obwohl er zu mir oder in meiner Gegenwart nie so frech war, dass ich seine schlechten Manieren bemerkte. An ihm konnte ich sehen, dass er mich wirklich liebte, besonders meine braunen Rehaugen, wie er mir sagte, hatten es ihm ziemlich angetan und er mochte es sehr, darin zu versinken. Und ich? Ich mochte ihn als Mensch, sein sanftes Lächeln, dem man nicht widerstehen konnte und automatisch zurücklächeln musste, und ich mochte seine handwerkliche Geschicklichkeit, wie er mit seinen siebzehn Jahren aus Schrottteilen ein Moped selbst zusammenbauen konnte. Als ich ihn fragte, ob er mich damit mitfahren lassen wolle, war er perplex …

»Ich liebe halt Adrenalin«, erklärte ich ihm damals.

»Irgendwann mal, ganz bestimmt«, antwortete er mit einem sanften Lächeln. »Aber nicht mit dem Schrottteil … Sondern wenn ich ein richtiges Motorrad habe. Okay?«

Ich grinste. »Okay … Ich erinnere dich daran.«

»Brauchst du nicht. Ich verspreche es dir!« Sein Blick versprach es mir auch.

Das hatte er auch wirklich gehalten – nur wesentlich später, viele Jahre später. Genau dann, als ich es am wenigsten erwartet hatte.

Aber so wie er für mich fühlte, konnte ich für ihn nichts empfinden. Viele erzählten von einer Explosion, Feuer, einem Ausbruch der Gefühle, wenn sie von der Liebe sprachen, und bei mir war einfach … nichts … Okay, Schmetterlinge im Bauch waren schon da. Mir war warm und heiß, vielleicht brannte da ein kleines Feuerchen, aber ohne Explosion. Meine Liebe zu ihm konnte sich einfach nicht entwickeln, sosehr ich es mir auch wünschte. Noch nicht, dachte ich damals, vielleicht war es einfach so, dass die Liebe mit der Zeit erst mal wachsen musste.


Dezember 1997


Draußen lagen zehn Zentimeter Neuschnee und es war richtig frostig. Im Vergleich zu Russland war es hier eher ein milder Winter mit nur wenig Schnee. Hier gab es aber eine feuchtere Luft und man bibberte dadurch mehr als bei minus zwanzig Grad und trockener Kälte.

Ich ging mit Violetta in die Klasse, und bevor es zum Unterricht klingelte, wollten wir uns für das nächste Halbjahr noch eine Nachmittags-AG aussuchen. Ich schrieb mich für Selbstverteidigung für Mädchen ein.

»Was?«, quiekte Violetta entsetzt, als sie sah, was ich angekreuzt hatte.

»Ja, Vi. Ich finde, das ist eine nützliche Sache«, erklärte ich es bedeutend.

»Warum denn nicht Kunst?«, fragte sie verdutzt.

»Ich kann schon malen! Und wie sagte mir die Kunstlehrerin, es ist ungerecht den anderen Schülern gegenüber, da die anderen nicht mit mir mithalten können, weil bei mir alles zu perfekt ist, und mehr als eine Eins kann sie mir nicht geben … Den anderen muss sie wegen mir eine Zwei geben, es ist ungerecht … Also, was soll ich da?«

»Das klang überhaupt nicht überheblich!«, meinte sie.

Ich stieß sie mit dem Ellbogen in die Rippen. »Ich bin nur ehrlich.«

»Ok-kay … dann, warum nicht Schwimmen? Oder Volleyball?«

»Kann ich auch schon«, brummte ich.

Sie schielte mich an. »Ach sooo, du willst also nur das, was du noch nicht kannst.«

»Eben! … Mach, was du willst, aber ich bleibe dabei. Weißt du, was noch gut wäre?« Sie nickte fragend. »Boxen für Mädchen.« Ich ballte die Fäuste. »Stell dir vor in den Sandsack zu schlagen … Bum, Bum-Bum«, machte ich die Boxbewegung nach, während mich Violetta kopfschüttelnd ansah.

»Du bist echt nicht normal, Elli!«

»Das wäre doch geil … Bam-Bam-Baaammm …« Meine Stimme sank, als plötzlich Nick, der gerade vorbeiging, meine Bewegungen sah und mit großen Augen an der Tür stehen blieb.

Sofort ließ ich meine Hände brav auf den Schoß fallen, presste beim Lächeln die Lippen zusammen und schaute ihn an. Violetta kippte schon beinahe vom Stuhl vor Lachen.

»Was war denn das?«, fragte Nick lächelnd und laut, damit ich ihn über die Entfernung hörte.

»Nichts!« Verlegen biss ich an meiner Unterlippe und versuchte, mein Lachen zu unterdrücken.

»Ich hoffe, du hast dir dabei nicht mich vorgestellt«, scherzte er. Ich schüttelte nur lächelnd den Kopf und er ging mir mit der Hand winkend zu seiner Klasse, weil es bereits läutete.

»Also, Selbstverteidigung?« Violetta seufzte noch müde vom Lachen, und ich nickte. »Gut, dann ich auch … Ich kann dich da ja nicht alleinlassen.«

Ich kicherte. »Ooh, wie nett von dir.«

Herr Dierks, unser Mathematiklehrer, kam in unser Klassenzimmer und die Stunde begann.

Die Pause verbrachte ich quatschend mit Freunden und neben Nick sitzend, während er mich fest umarmte. Danach gingen wir zu einer Doppelstunde Sport. Nick begleitete mich zu der Sporthalle und wir standen umarmend vor dem Eingang.

»Ich will dich nicht loslassen«, flüsterte er sanft und kuschelte sich an meinen Hals.

»Danach ist die große Pause und wir sehen uns wieder«, sagte ich schmunzelnd.

»Wo treffen wir uns?« Er schaute mich an, und ich an ihm vorbei auf Frau Günther, die zur Sporthalle kam.

»Vielleicht unten am Kiosk?«, schlug ich ihm vor.

Er nickte, gab mir einen Kuss und ließ mich los. Eilig lief ich die Treppen hoch, hinter Frau Günther her und drehte mich noch mal um, bevor ich reinging. Nick stand noch da und sah mir nach.

»Geh! Sonst kommst du zu spät zum Unterricht«, rief ich mit gerunzelter Stirn. Doch er zuckte nur lächelnd mit der Schulter, so nach dem Motto: Ist mir doch egal. Einfach unverbesserlich, dachte ich kopfschüttelnd und ging rein.

Ich flog förmlich in den Umkleideraum und fing an, mich schnell umzuziehen. Oh Mist, krümmte ich mich etwas. Irgendwie bekam ich Unterleibsschmerzen und es zog etwas nach. Das ist echt ein komisches Ziehen … Ich ging Richtung Toilette.

»Wo willst du jetzt noch hin?«, rief Violetta. »Alle sind schon in die Halle gegangen.«

»Eine Minute«, sagte ich eilig, schloss mich ein und schrie durch die Tür. »Warte auf mich, muss nur kurz mal.« Obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich wirklich musste.

»Mach hin!«, hörte ich sie.

Ich bekam einen Schock. Blut! Woher, verdammt noch mal, kam das? Was zum Teufel

Aber dann erinnerte ich mich an meine Mama, die immer wieder versucht hatte, mich davor zu warnen und in Gesprächen darauf vorzubereiten. Diese hatte ich natürlich alle abgelehnt, indem ich ihr sagte, dass ich alles schon wusste, darüber gelesen hätte und sie nicht ins Detail zu gehen bräuchte. Die Sache war mir peinlich. Auch, dass ich in dieser Entwicklungsphase eindeutig zurückblieb. Alle hatte bereits ihren Busen bekommen, wurden langsam zu jungen Frauen und ich fühlte mich wie eine rotznäsige Göre.

Scheiße … was nun?

»Violeeeetta«, rief ich durch die Tür.

»Was wühlst du da noch herum?«, brabbelte sie los.

»Äh … Ich habe, glaube ich, … Gäste«, sagte ich leise. Es verging nicht mal eine Minute, bis sie mir schon das Nötigste unter der Tür durchschob. »Oh, danke dir.«

Wir gingen in die Sporthalle und Violetta hielt mir schnatternd eine Predigt. »So was, Elli, musst du immer dabeihaben. Okay, man kann es ja mal vergessen, dann leg dir lieber zwei in die Tasche rein.«

»Vi«, krächzte ich, doch sie ignorierte mich.

»Stellt dir vor, ich wäre nicht in der Nähe gewesen. Verstehe ich nicht. Nein, es ist nicht so, dass es mir was ausmacht, oder so. Nur das –«

»Vi, das ist das erste Mal!«

»Was?« Sie blieb kurz mit großen Augen stehen und ging wieder los. »Ist nicht wahr? Du bist doch fast schon fünfzehn!« Ich nickte, ohne sie anzugucken. »Du Glückliche! Ich erdulde das schon, seit ich zwölf bin.«

»Klar, Glückliche!«, schnaubte ich. »Deshalb wächst wahrscheinlich auch meine Brust nicht. Vielleicht fängt sie jetzt wenigstens an zu wachsen.«

»Du weißt, dass du jetzt nach Hause kannst«, merkte sie an, als wir in die Halle traten, wo Frau Günther gerade erklärte, dass wir zwei Mannschaften für das Volleyballspiel bilden sollten. Violetta flüsterte mir währenddessen weiter ins Ohr: »Wenn du ihr sagst, du hast deine Tage, lässt sie dich nach Hause.«

Mit einer gehobenen Augenbraue sah ich sie an. »Ich verstehe nicht. Warum?«, flüsterte ich zurück.

Sie war überrascht. »Hast du etwa keine Schmerzen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Nein.«

»Du kannst ihr das auch sagen, wenn du keine hast. Sie weiß es ja nicht.« Sie zuckte mit den Schultern. Ich beobachtete, wie Kilian und Loren aufgefordert wurden, die Mannschaften zusammenzustellen. »Du kannst ruhig zu Hause deine Füße hochlegen und Glotze anschauen«, flüsterte Violetta weiter.

»Nein, es geht schon.« Ich horchte in mich hinein. Mir ging´s wirklich gut. Nur etwas im Inneren fühlte sich anders an als sonst. Als ob mein Körper anders tickte. Wie genau, konnte ich mir auch nicht erklären.

»Lerne, solange ich noch lebe!«, flüsterte Violetta mir zu und ich zog kurz meine Mundwinkel hoch.

Ich hörte Kilian meinen Namen rufen und Loren rief verärgert: »Oh Mann!« Kilian grinste sie an und sie streckte ihm die Zunge heraus.

Ich stand auf und ging zu ihm in das Team. Mich wollte jeder als Erster in seiner Mannschaft haben, denn ich konnte wirklich gut Volleyball spielen. In ein paar Minuten kam auch Violetta in unser Team und stellte sich zu mir.

»Und, wie hast du dich entschieden? Gehst du nach Hause?«

»Neeeiin, alles gut«, erwiderte ich, jetzt aber etwas genervt. »Willst du mich etwa loswerden?«

»Spinnst du? Nein!«, empörte sie sich. Ich lächelte etwas müde und sie tat es mir gleich. Warum ich plötzlich gereizt war, konnte ich mir auch nicht erklären.

Wir fingen endlich an zu spielen. Aber bereits nach fünfzehn Minuten zog sich mein Unterleib so heftig vor Schmerz zusammen, dass ich nicht mehr laufen konnte. Hinter dem Ball herzuspringen wurde immer schwieriger und beim erneuten Blockversuch sprang ich zum Ball, schlug auf, landete aber auf dem Boden und blieb auf den Beinen zusammengekauert sitzen.

Der Krampf in meinem Unterleib war so stark, dass ich mich nicht mehr aufrichten konnte. Dadurch wurde mein Atem flacher. Frau Günther war sofort bei mir und fragte, was los sei. Violetta flüsterte ihr ins Ohr, was mein Problem war, und die Lehrerin schickte mich nach Hause. Ich atmete durch und widersetzte mich jetzt auch nicht mehr. Hätte ich doch bloß gleich auf Vi gehört, aber ich habe mit solchen Schmerzen einfach nicht gerechnet.

Nachdem ich mich nur sehr langsam umgezogen hatte, warf ich mir meine Tasche über die Schulter. Scheiße, ist die schwer geworden. Der Weg nach Hause erwies sich ebenfalls länger als sonst. Auch meine Tasche wurde mit jedem Schritt schwerer. Von den blitzartigen Schmerzen fühlten sich mein Becken und die Oberschenkel taub an und schwächelten.

Nachdem ich die Tür zu unserer Wohnung geöffnet hatte, konnte ich kaum noch meine Füße heben und schleifte meine Tasche hinter mir über den Fußboden. Warum habe ich das hinterste Zimmer bekommen? Dort angekommen legte ich mich auf mein Sofa und streckte alle viere von mir. Mein Schädel fing an zu hämmern, aber um wieder aufzustehen und mir eine Tablette zu holen, fand ich keine Kraft mehr, deshalb blieb ich einfach liegen. Nach einer erneuten Welle des Schmerzes zog ich die Beine an, was nur eine geringfügige Erleichterung brachte.

So blieb ich den ganzen Tag in Embryostellung liegen, bis meine Mutter nach Hause kam. Als sie mich dort so kauern sah, stürmte sie sofort zu mir.

»Elli, was ist los mit dir? Du bist weiß wie eine Wand.«

Ich erzählte ihr alles und sie erklärte mir noch die Einzelheiten. Diesmal hörte ich zu, was blieb mir auch anderes übrig? Flüchten konnte ich ja nicht mehr.

»Was für ein Graus!«, stöhnte ich. »Mein Gott, und das jeden Monat, mehrere Tage lang … Da trockne ich doch in wenigen Tagen bereits wie eine Rosine aus!«

Sie lachte und streichelte mich an der Schulter. »Willst du morgen zu Hause bleiben?«

»Nein, ich versuche morgen in die Schule zu gehen. Bald sind Klassenarbeiten und ich möchte den Stoff nicht verpassen«, murmelte ich, während ich meine Hand auf die Stirn legte, als würde es so das Pochen da drinnen stoppen.

»Ich hole dir eine Schmerztablette.« Sie küsste mich mit einem Lächeln, als würde sie erleichtert sein. Ich war jedenfalls auch sehr froh – abgesehen von den Schmerzen –, dass ich mich jetzt auch wie ein normales Mädchen fühlen konnte, das zu einer jungen Frau heranwuchs.


Am nächsten Tag ging ich zur Schule, und als Nick mich am Eingang sah, eilte er sofort zu mir. Upps, ich habe ihn ja gestern ganz vergessen. Tolle Freundin bin ich!

»Was war gestern mit dir los?« Er umarmte mich rasch und drückte mir einen Kuss auf den Mund. »Violetta sagte mir, dir ging’s nicht gut«, sprach er aufgeregt.

Schuldig presste ich meine Lippen aufeinander. »Mir war nicht gut. Es geht mir schon viel besser.«

»Wirklich? Und so plötzlich ist dir schlecht geworden?« Ich nickte und er legte wieder los. »Mann, ich habe mir Sorgen gemacht, warum du nicht gekommen bist, habe dich nirgendswo gesehen, wartete und wartete auf dich am Kiosk. Violetta konnte ich auch nicht finden, im Unterricht habe ich keine Ruhe gefunden, bis mich Herr Dierks aus der Klasse geworfen hat, weil ich zu schusselig war.«

Es war ja nicht das erste Mal, dass er aus dem Unterricht geflogen war. Wie oft ging ich aufs Klo und er saß neben seiner Klasse. Obwohl das viel häufiger zu der Zeit vorgekommen war, als wir noch nicht zusammen waren.

»Dann wartete ich vor deiner Klasse, bis es geläutet hat. Erst dann hat mir Violetta erzählt, dass du nach Hause entlassen wurdest. Ist jetzt wirklich alles gut?«

»Ja, wirklich«, versicherte ich schmunzelnd und er küsste mich sanft.

»Na gut.« Nick umarmte mich. Wir gingen zusammen die Treppe hoch. Nach einem tiefen Durchatmen fragte er mich: »Was machst du an deinem Geburtstag?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nichts.«

»Wie nichts? Und ich dachte, du lädst mich zu deinem Geburtstag ein.« Er presste mich beim Gehen fester an sich.

»Ich werde nicht feiern«, sagte ich lächelnd.

»Wie? Ist fünfzehn etwa keine Zahl zum Feiern?« Er schaute mich von der Seite an.

»Doch, aber ich will nicht feiern.« Ich lächelte verlegen, als wir vor meiner Klasse stehen blieben. »Bist du jetzt eingeschnappt?«, bemerkte ich seinen trüben Gesichtsausdruck.

»Nein, gar nicht. Ich dachte nur, dass ich dich an deinem Geburtstag auch abends sehen kann.«

Ich biss auf meine Lippe. »Tja, ein doofer Geburtstag wird es sein. Ich muss sogar noch für die Geschichtsarbeit lernen. Also wird es keine Feier geben, kein Ausgehen.«

»In zwei Wochen sind Ferien … und wir werden uns dann seltener sehen. So sehen wir uns wenigstens in der Schule«, sprach er, während er in Gedanken an mir vorbeischaute.

»Ich versuche so viel wie möglich in den Ferien rauszukommen, Nick«, wandte ich ein. Er hob lächelnd seinen Blick und nickte leicht. Als die Klingel ertönte, gab er mir einen Kuss und wir verabschiedeten uns bis zur nächsten Pause.

An diesem Tag dachte ich oft an meinen Geburtstag, aber eigentlich viel mehr an das Gespräch mit Nick und an ihn selbst. Auch daran, ob ich ihn liebte oder nur lieb hatte, ob es eine Zukunft für uns gab oder ob das bloß nur eine Verliebtheit war. Ich fand leider keine Antworten. Dafür hatte ich einen Traum gesehen.

Das war nicht mein erster, nachdem ich von Evgenij geträumt hatte. Viele hatte ich mittlerweile schon gehabt und einige waren bisher wahr geworden. Ich kaufte mir daher einen Ratgeber zur Traumdeutung, um sie etwas besser verstehen zu können. Manche deutete ich selbst und nicht nach dem Buch. Wenn ich allerdings unsicher war, was meine Traumbilder ausdrückten, zog ich es lieber zu Rate. Viele meiner Träume brachte ich auch zu Papier, gerade dadurch verstand ich sie manchmal auch leichter. Auch diesmal hatte ich einen klaren Traum und ich wusste jetzt schon, dass kein Weg an ihm vorbeiführen würde. Dies würde passieren, ob ich es wollte oder nicht.

In meinem Traum sah ich, wie Nick und ich draußen waren, auf irgendeiner Hügelwiese mit einem vertrockneten Baum in der Mitte. Es war stürmisch und der Himmel war zugezogen und dunkelgrau. Vor dem Baum stand ein gedeckter Tisch mit Kuchen, Süßigkeiten und Tee, an dem wir saßen. Ich wusste, dass wir meinen Geburtstag feierten. Aber Nick versteckte ständig sein Gesicht vor mir, während ich immer wieder versuchte, ihn anzugucken, um mit ihm zu sprechen.

Als ich aufwachte, schmunzelte ich erst mal. Ich kam mir vor wie Alice im Wunderland, besonders der volle Tisch mit verschiedenen süßen Köstlichkeiten erinnerte mich daran. Nur statt des Hasen saß da Nick bei mir. Warum versteckte er sein Gesicht?

Ich nahm mein Traumdeutungsbuch und schaute nach. Erst mal suchte ich nach dem trockenen Baum, der Kummer bedeutete, dann schlug ich nach ›Freund‹ nach und las laut, als ich das Passende fand: »Ein Freund, der sein Gesicht versteckt – seien Sie bereit und wappnen Sie sich für Lügen, die Ihnen aufgetischt werden.« Verdammter Mist. Verschweigt Nick mir etwas? Ufff … mein Geburtstag. Ich blätterte im Buch nach dem Stichwort ›Geburtstag‹, das in meinem Traum auf einen Verrat hindeutete. Ich atmete tief durch und etwas in meinem Inneren begann sich auf mich zu drücken. Hätte ich gedacht, dass das hier alles nur ein Unsinn wäre, hätte ich natürlich nie daran geglaubt. Aber neeeiiin, ich musste ja diese Fähigkeit erben.


Mein Geburtstag war wie jeder andere Tag in der Woche. Mit einer Ausnahme – Nick war heute nicht in der Schule, ihn hatte die Grippe erwischt. Nach der Schule eilte ich nach Hause. Dort angekommen, gratulierten mir meine Eltern herzlich.

Ich stellte meine Tasche in meinem Zimmer ab, nahm meinen Bademantel, um in die Dusche zu steigen, aber meine Eltern standen immer noch davor, lächelnd und erwartungsvoll. Ich blieb stehen, denn beide grinsten mich auch an.

»Äh … Ist was?«, flüsterte ich beinahe auf die Stille.

Papa hob fragend die Augenbrauen. »Hast du etwa dein Geschenk nicht bemerkt?«

Ich drehte mich um, um zurück ins Zimmer zu schauen. Alles beim Alten, auf dem Sofa lag nichts. Ich guckte sie wieder lächelnd an. »Ich sehe nichts.«

»Das kann man doch gar nicht übersehen!«, meinte Papa und Mama kicherte auch schon. Papa drehte mich an den Schultern noch einmal um, aber so, dass ich ganz ins Zimmer gucken konnte. Und da sah ich auf meinem alten Schreibtisch eine große Verpackung stehen, die genauso groß war wie der Tisch selbst.

»Der arme Tisch bricht ja gleich zusammen«, witzelte ich und ging zum Geschenk, beide kamen hinter mir her.

Das Paket war nicht so schwer, wie es schien oder ich angenommen hatte. Beinahe sterbend vor Neugierde packte ich es aus. Als ich sah, was drinnen war, fing ich vor Freude an zu springen und zu kreischen.

»Wir dachten, wenn wir schon dir kein –«, fing Papa an. Doch ich warf mich ihm bereits an den Hals und ihm entrang sich ein leichtes Grunzen, weil er meinen Ansturm nicht erwartet hatte.

»Daaankeee!«, kriegte ich mich gar nicht mehr ein und Mutter beendete den Satz lachend: »Ja, wenn wir dir kein echtes Klavier kaufen können, dann vielleicht wenigstens ein Keyboard.« Und schon umarmte ich sie und küsste sie auch immerzu ab. »Somit vergisst du wenigstens die Noten nicht.«

Sofort zog ich es aus der Verpackung und setzte mich davor. Mich überkam Kummer, weil ich mich an mein wunderschönes Klavier in Russland erinnerte. Aber ich versuchte es den Eltern nicht zu zeigen. Denn es war kein Klavier, manche Stücke wie die ›Mondschein-Sonate‹ würde ich darauf nicht spielen können, dafür reichten die Oktaven leider nicht aus. Aber ich war dennoch sehr froh darüber. Im Geiste versuchte ich mich an die Etüden, Sonaten oder Airs zu erinnern, aber mein Kopf blieb leer. Tja drei Jahre … wirken sich eben aus.

Nachdem meine Eltern mich alleingelassen hatten, damit ich meiner Freude nachgehen konnte, suchte ich sofort in meinem Bücherschrank, wissend, dass ich mal ein paar Notenbücher gekauft hatte, in der Hoffnung, dass ich irgendwann doch noch einmal spielen werde. Oh klasse, gefunden!

Ich fing an, mich damit zu beschäftigen und meine Erinnerungen aufzufrischen, dass ich alle anderen Dinge um mich herum total vergaß. Mama erinnerte mich an die Dusche und das Essen, und ich selbst erinnerte mich noch an die Geschichtsarbeit. Also musste ich irgendwann damit aufhören und das Keyboard beiseitestellen, spielte aber voller Freude das ganze Wochenende über.


Am Sonntag merkte ich, dass ich selbst die Grippe bekam, und blieb die ganze letzte Woche vor den Weihnachtsferien zu Hause.

Violetta besuchte mich am letzten Tag vor den Weihnachtsferien nach der Schule. Sie hatte seit Kurzem einen neuen Freund – sie wechselte sie wie ihre Handschuhe. Deswegen sahen wir uns fast nur noch in der Schule. Aber als sie Zeit hatte – das war, wenn ihr Freund keine Zeit hatte –, dann hatte sie einfach erwartet, dass ich für sie Zeit haben musste.

Sie brabbelte den ganzen Nachmittag, wie toll ihr neuer Freund war, und ich hörte ihr nur zu, während die Musik von ›Ace of Base‹ in meinem Kassettenrekorder lief. Auf meine Frage, wie es wohl Nick ging, weil wir noch keine Telefonnummern getauscht hatten, schnatterte sie nur kurz, dass er fast durchdrehen würde ohne mich, und fing wieder an von ihrer tollen Beziehung zu schwärmen.

Ich vermisste Nick schon etwas, aber irgendwie schien mir das unzureichend zu sein. Wenn ich hörte, wie Violetta von ihrer Beziehung sprach, so bemerkte ich den Unterschied zu mir. Ich konnte mich einfach nicht über beide Ohren in Nick verlieben und wegen ihm den Kopf verlieren. Es war nicht genug Feuer in mir. Das alles schien mir nicht richtig.

Am Abend kamen meine Großeltern zu Besuch, und als sie wieder nach Hause fuhren, wollte ich unbedingt mit zu ihnen, um dort zu übernachten. Ich blieb das ganze Wochenende über bei ihnen und ließ mich wie immer verwöhnen. Als ich am Sonntag dann wieder nach Hause kam, beschloss ich, endlich Nick zu treffen. Irgendwie hatte ich schon ein schlechtes Gewissen. Aber ich musste zugeben, ich vermisste ihn auf einmal.

Ich half Mama beim Abendessen und schnitt Gemüse.

»Mama, kann ich heute raus, aber für länger?«, fragte ich sie mit bettelndem Ton. Darüber würde sich Nick echt freuen. Sie blickte mich ernst an. »Biiittee … Es sind doch Ferien.«

Sie seufzte. »Nur eine Stunde länger, bis neun!«, sagte sie streng und ich nickte erfreut. »Und nur heute!«

»Ja gut, nur heute«, war ich einverstanden und schnippelte lächelnd weiter das Gemüse.

Nach dem Abendessen machte ich mich fertig und ging raus. Das gibt’s nicht, ich kann sogar kaum erwarten, Nick wiederzusehen. Vielleicht bräuchte es wirklich nur Zeit bis ich mich in ihn verliebe.

Draußen war es schon längst dunkel, aber das Gebäude der Schule war beleuchtet und ich konnte bereits Stimmen auf dem Hof hören. Ich sah, wie Harry mit noch einem Kumpel draußen auf der Vorterrasse des Kellers, der als Jugendtreff arrangiert war, am Tisch saß und Karten spielte, während Nick mit dem Kopf auf seinem Arm auf dem Tisch lag und dabei gelangweilt rauchte.

Sein Kumpel Harry bemerkte mich als Erster, stieß Nick in die Rippen. »Guck, wer da kommt! Endlich hört dein Gesülze auf: ›Na, wo ist Elliii?‹«, äffte er ihn spielerisch weinend nach.

»Ach, halt doch die Klappe«, zischte Nick schmunzelnd und ging zu mir rüber. Mit einem müden Lächeln begrüßte er mich und gab mir einen Kuss auf die Lippen. »Wo warst du denn?«, fragte er mich sanft, umarmte mich, ließ mich aber erst mal nicht los.

Ich sah in seine Augen, die eine gewisse Traurigkeit ausstrahlten. »Ich war krank … Du doch auch?«

Nach einem Nicken, fing er behutsam an mein Gesicht abzuküssen. »Ich habe dich vermisst«, hauchte er eingekuschelt in meinen Haaren und nahm mich rasch an der Hand. »Komm, gehen wir ein Stück spazieren.« Er zog mich beinahe hinter sich her. Ich schaffte es, nur kurz seinen Freunden zur Begrüßung zu winken, und schon verschwanden wir um die Ecke.

Er führte mich zu einer Bank, setzte sich und zog mich zu sich auf den Schoß. Eine Hand legte er mir auf den Rücken und die andere auf meinen Oberschenkel, als würde er mich so festhalten, damit ich nicht runterrutschte.

Wir redeten über sinnloses Zeug, ich eigentlich mehr als er. Vielleicht aus Nervosität oder einfach, um ihn davon abzuhalten beim Kuscheln nicht weiter zu gehen. Nick hörte mir nur zu, während er mir in die Augen sah. Auch wenn ich wusste, dass er das so sehr mochte, machte es mich immer leicht nervös. Nach einiger Zeit verstummte ich, weil er mich zu verliebt anschaute.

»Gib mir deine Hand«, bat er mich ruhig. Ich tat es. Er drehte sie um, legte etwas Kaltes und Kleines auf meine Handfläche und machte sie wieder zu. »Alles Gute zum Geburtstag nachträglich«, flüsterte er mir zu.

»Was ist das?«, fragte ich atemlos, und ohne meine Hand zu öffnen. »Ich habe doch gesagt, du sollst mir kein Geschenk kaufen.« Nick hatte auch nie Geld, daher wollte ich nicht, dass es ihn noch zum Klauen verleiht, um mir ein Geschenk zu besorgen.

»Ich habe auch nichts gekauft. Es kommt von Herzen«, meinte er schmunzelnd.

Vorsichtig öffnete ich meine Hand. Dort lag ein poliertes Steinchen in Herzform, den ich verblüfft betrachtete und dann zu Nick blickte.

»Hast du es selbst gemacht?«

»Was sollte ich sonst machen, du wolltest ja nicht, dass ich dir was kaufe.«

Ich lächelte. »Danke, das ist sehr lieb von dir.«

»Kommt er dir bekannt vor?«

Ich schaute wieder auf den Stein. Stein wie Stein. Okay, das Besondere ist die Herzform … Ich hielt es ins Laternenlicht und schüttelte dann den Kopf.

»Weißt du noch, als wir letzten Monat an unserem kleinen See standen und die Steinchen in ihn hineingeworfen?« Ich sah kurz mit gerunzelter Stirn zu ihm auf und nickte anschließend. »Ein Stein gefiel dir, weil er flach, glatt und rund war … Und seine Farbe hatte es dir ganz besonders angetan.«

Ich erinnerte mich an den runden, platten, dunkelgrauen Stein mit weißer Marmorierung. Genau dieser Stein, abgeschliffen und poliert, lag jetzt in meiner Hand – als Herz.

»Ah, du hast ihn bearbeitet und geschliffen?!« Er nickte.

Fasziniert lächelte ich ihn an. Er ist so süß und rührend … Und ich kann meine Gefühle für ihn nicht zeigen. Warum bloß? Ich steckte das Geschenk in meine Hosentasche und Nick lehnte sich mit seinen Lippen an meine Wange.

»Elli, ich … ich liebe dich!«, flüsterte er plötzlich.

Völlig geplättet saß ich nur da und sein toller Kuss machte mich sprachlos. Ich war froh, dass er auf keine Reaktion oder Antwort von mir wartete, denn ich konnte ihm nicht das Gleiche sagen.

Er brach langsam und sanft den Kuss ab und schaute auf die Uhr, dann zu mir. »Mist, du musst in einer Stunde schon nach Hause.« Seine Stimme hörte sich leicht gereizt und dennoch erdrückend an.

Ich zog meine Mundwinkel hoch. »Nein, ich bleibe heute bei dir, bis neun.« Nick weitete erstaunt seine Augen auf und lächelte, dann presste er mich in seiner Umarmung wieder an sich. Deswegen wollte er mit mir allein sein, weil er dachte, wir hätten nur noch ganz wenig Zeit.

Er küsste mich stürmisch. Wärme hatte meinen ganzen Körper überflutet und ich legte meine Hände um seinen Hals. Vorsichtig kroch er langsam mit den Händen unter meine Jacke, dann unter meinen Pulli und wartete kurz. Als ich nichts erwiderte, weil ich selbst rausfinden wollte, was ich für ihn empfand und ob ich etwas fühlen würde, streichelte er sanft über meinen Rücken, ohne aufzuhören mich zu küssen. Ich empfand kein großartiges Verlangen nach ihm. Nichts, außer einem wohltuenden Kribbeln.

Doch als ich etwas Hartes unter meinem Po spürte und er sich auch noch mit einer Hand weiter nach oben zu meiner Brust tastete, bekam ich Panik und brach verlegen zuerst den Kuss ab, dann seine Berührungen und bat ihn, nicht weiterzugehen, was er ohne Widerworte akzeptierte. In seinem Gesicht merkte ich so etwas wie Erleichterung, dass ich ihn aufgehalten hatte. Er atmete nun ungleichmäßiger und setzte mich so auf seinen Schoß, dass meine Beine an beiden Seiten herunterhingen, und legte seinen Kopf an meine Schulter.

»Werden wir uns morgen wiedersehen?«, brummte er mir an den Hals.

»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht nach Weihnachten. Ich muss in den Ferien wirklich viel für die Schule machen, weißt du doch, es kommen noch Arbeiten vor der Zeugnisausgabe.«

Schmunzelnd sah er mich an. »Kommst du überhaupt irgendwann mal ganz aus deinen Büchern raus?«

»Also, dir würde es auch nicht schaden«, entgegnete ich lächelnd, mit einer Note Sarkasmus. »Sonst bleibst du immer auf deinen Fünfen sitzen!« Wir lächelten uns nur an.

Nick schaute mich einfach die ganze Zeit an, streichelte dann mit seinem Daumen über meine Lippen. »Du bist so wunderschön, weißt du das?«, sagte er so ruhig und sanft, dass mein Atem stockte, bevor er mich an sich drückte.

Er war so weich und warm, ich fühlte mich wirklich wohl bei ihm. Nur eins verstehe ich nicht: Warum lodert die Liebe bei mir nicht im Flammen auf? Vielleicht ist sie nun mal so, diese komische Liebe.

Nachdem wir noch lange über dies und jenes gequatscht hatten, bemerkte ich, dass seine Kumpels auf ihn warteten, die ganze Zeit über hinter meinem Rücken flüsterten und tuschelten. Rauchend traten sie Steinchen, als ob sie nicht zufrieden waren, dass ich länger blieb als sonst und Nick nicht losließ. In deren Blicken war eine gewisse Gereiztheit zu erkennen, und Nick versuchte sie mit seinen Augen abzuwimmeln.

»Habt ihr noch was vor?«, hielt ich es nicht mehr aus. Nicks Blick wanderte zu mir. »Eilt es euch, irgendwohin zu kommen?«

»Nein«, entgegnete er irgendwie unsicher.

»Na, sie gucken so, als würden sie auf dich warten. Oder hast du nach mir dann immer noch ein Date mit denen?«, witzelte ich. Er lachte leise und schüttelte den Kopf. Ich schaute auf die Uhr auf seiner Hand. »Eigentlich ist es zwanzig vor neun. Du kannst mich schon nach Hause begleiten.« Ich stand auf.

Er hielt mich aber an der Hand auf. »Bist du jetzt angepisst?«

»Nein, wieso?«

»Warum bist du dann so spontan und schnell aufgestanden?« Er erhob sich ebenfalls. »Wir haben doch noch Zeit«, sagte er ruhiger und umarmte mich an der Taille.

»Ganz ehrlich?« Ich sah ihm direkt in die Augen. »Ich habe diese bohrenden Blicke in meinem Rücken satt. Und ich muss mich ja wirklich langsam auf den Weg machen.«

»Gut, gehen wir … aber seeehr laaangsam«, deutete er die Bewegung wie in Zeitlupe an und ich lachte los.

Nick streckte mir seine Hand entgegen, ich nahm sie und wir gingen in Richtung meines Hauses los. Die Jungs standen immer noch genervt da und verfolgten uns mit ihren Blicken.

»Kommst du noch?«, rief Harry Nick hinterher. »Sollen wir auf dich warten?«

»Wie ihr wollt«, rief Nick zurück, ohne sich dabei umzudrehen.

Ich wandte mich aber um, sah, wie sie auf einer Bank Platz nahmen, um wohl auf ihn zu warten.

»Was macht ihr noch so? Also, … wenn ich nicht da bin.«

»Ach … nichts.« Nick zuckte mit den Schultern. Seine Nervosität dabei entging mir nicht.

»Ich hoffe doch keinen Unsinn wie Drogen oder klauen.«

»Denkst du wirklich, dass wir –«

»Nein nur, … man hört ja so einiges«, fing ich an, zu nuscheln, weil es von ihm gereizt rüberkam und er mich mit seinem Blick löcherte. »Okay, gut, vergiss es … entschuldige bitte«, versuchte ich die Situation zu retten.

Er blieb stehen. »Hör zu. Wir nehmen keine Drogen und stellen auch kein Unsinn an. Wirklich.«

»Aber sie haben so gewartet, als –«

»Elli!«, brach er streng ab, lächelte mich jedoch anschließend an.

»Gut. Hab verstanden!«, lenkte ich ein und wir gingen weiter.

Vor meiner Haustür haben wir uns wie immer zärtlich verabschiedet. Doch die Blicke seiner Kumpels gingen mir nicht mehr aus dem Kopf und Nicks Verhalten schien mir dennoch verdächtig. Tja, der Traum wird wohl auch wahr werden, er verheimlicht mir etwas.


Bloß Verliebtheit


Nick füllte bloß ein paar kleine Kapitel in meinem Leben. Wir waren nur drei Monate zusammen. Drei Monate, in denen ich versucht hatte, ihn zu lieben. Es gelang mir nicht. Manchmal dachte ich sogar, dass ich vielleicht gar nicht fähig war, jemanden zu lieben. Ich schrieb meine Gefühle in meinem Tagebuch nieder, in der Hoffnung selbst darüber klarzuwerden, was ich überhaupt empfinden konnte und wer ich war. Vielleicht war ich bloß nach außen so ein braves, schüchternes Mäuschen und im Kern eine arrogante Zicke.


Januar 1998


Wir saßen bestimmt zu fünfzehnt nach Schulschluss in der Cafeteria. Alle redeten kreuz und quer, scherzten und lachten. Stephen verabschiedete sich gerade und ging mit seinen engen Freunden nach Hause, dann noch ein paar weitere und wir wurden immer weniger. Antonia, mit schulterlangen, hellen und ungleichmäßigen Locken, fing an mit Violetta über die Schuldisko am Freitag zu sprechen.

»Gehst du hin?«, wollte ich von Nick wissen, der mit baumelnden Beinen am Tisch hockte. Ich saß daneben und schaukelte mit meinen Beinen.

Er zog seine Nase kraus. »Ich hasse Diskos!«, zischte er, doch lächelte mich lieblich an. Mit diesem Lächeln beschenkte er nur mich.

»Aber du gehst trotzdem immer hin«, merkte Antonia lachend an.

»Ach, doch nur so …«

»Um Quatsch zu machen«, beendete ich schmunzelnd seinen Satz.

Er lächelte. »Nein… nur zum Gucken und Abhängen.«

»Na dann, kannst du ja auch mich dort angucken.« Ich streckte mein Gesicht zu seinem und er gab mir einen zarten Kuss.

»Okay, wenn du es so willst, dich würde ich gerne anschauen«, sagte er leise. Er sprang dann vom Tisch, stellte sich zwischen meine Beine, legte seine Hände auf meine Oberschenkel und fing an, mich zu küssen. Ich hörte, wie Antonia »Ok-kay« durch die Lippen zog, sich schnell verabschiedete, um zusammen mit Violetta nach Hause zu gehen.

»Nach Hause?«, fragte Nick leidend und nahm mich an der Hand, als ich ihm nickte.

»Aber wir sehen uns heute … Und ich denke, sogar das ganze Wochenende«, informierte ich ihn munter. Sein Lächeln erhellte sich noch mehr. Er hob mich an und sagte, wie toll er das finde. Er empfand so viel für mich, dass ich es in jeder seiner Geste, in jedem Wort, in jedem seiner Atemzüge spüren konnte … Ich konnte hingegen außer Freundschaft nichts für ihn empfinden. Es schein mir so ungerecht ihm gegenüber. Das quälte mich immer mehr.

Bei Mama hatte ich nicht um mehr Zeit für die Disko gebettelt, man konnte auch bis acht viel Spaß haben. Ich zog mir meine weiße Bluse zu den Jeans an und machte mich auf den Weg zum Schulkeller, wo unser Schuldirektor jeden Freitag für die Schüler eine Disko veranstaltete.

Nick traf ich dort, und auch viele andere Freunde aus unserer Schule. Die Disko an sich war sehr klein und überschaubar. Nick saß den ganzen Abend nur am Tisch und betrachtete mich immerzu, während ich mit den Mädels tanzte. Ich genoss seinen verliebten Blick auf mir und tanzte nur für ihn. Hin und wieder lief ich zu ihm rüber, um mit ihm etwas zu quatschen oder zu kuscheln, oder mir einen seiner sanften Küsse abzuholen. Ich versuchte, alles dafür zu tun, dass sich meine Liebe wenigstens ein kleines bisschen entfachte, denn ich mochte ihn ja sehr.

Irgendwann ging er nach draußen, um zu rauchen, und blieb länger als sonst. Also zog ich meine Jacke an und folgte ihm. Am Diskoeingang, der beleuchtet war, blieb ich stehen. Nick war jedoch schon fast im Dunkeln und wandte mir den Rücken zu. Vor ihm saß Harry auf einer Bank, sodass ich dessen Gesicht hinter Nick nicht sehen konnte.

Ich schlich mich an, wollte Nick die Augen zuhalten, blieb aber abrupt stehen, als ich Harrys Stimme zischen hörte: »Wir haben bereits die Zusage«, meinte er. »Aber ohne dich kriegen wir es nicht auseinander! Verstehst du nicht, dass wir dadurch Geld verlieren würden, wenn du dich abseilst.«

Was?

»Ja, weiß ich doch«, krächzte Nick. »Heute aber eher nicht …«

»Mann, ist es jetzt etwa wegen ihr?«, hörte sich Harry genervt an.

Nick pustete stark den Rauch aus, dass man allein daran heraushören konnte, wie sehr er sich zu beherrschen versuchte. »Und wenn schon«, antwortete er streng.

»Boah!«, würgte Harry heraus, richtete sich auf und bemerkte mich dabei. Stöhnend schaute er Nick an und ging an mir vorbei zur Disko.

Nick wollte sich auf die Bank setzen, drehte sich um, sah mich endlich und hielt mit einem erschrockenen Blick mitten in der Bewegung inne.

»Hi, entschuldige, ich wollte euch nicht stören«, sagte ich und setzte mein unschuldiges Lächeln auf, obwohl mich dieses Gespräch ziemlich kribbelig machte.

Nicks Körperhaltung war angespannt. »Wie lange stehst du schon da?«

Ich biss mir auf die Unterlippe. »Boah«, log ich.

Seine Schultern entspannten sich merklich und er lächelte, als ob er erleichtert wäre. Ich kam näher, während er sich setzte und mich dann um meine Taille umarmte. Jetzt machte es mir seine Reaktion eindeutig, er verheimlichte mir etwas. Nur was?

Ich schaute auf die Uhr: 19:40.

Nick setzte mich auf seinen Schoß und kuschelte sich an mich. »Was ist das für ein Parfüm, das du immer trägst?« Er streichelte mit seinen Lippen meinen Hals.

»›Deep Red‹ von Hugo Boss.«

»Riecht ziemlich gut.«

»Ich habe mir das Geld dafür wie ein Stück vom Herzen entrissen«, sagte ich schmunzelnd.

»Wieso?«, fragte er und schaute mich an.

Ich hob eine Augenbraue. »Ich musste dafür zwei Tage arbeiten, um es mir leisten zu können.«

Er nickte verständnisvoll, obwohl er vermutlich nicht wusste, was es hieß zu arbeiten.

Ich bemerkte Harry mit einem Kumpel zusammen aus der Disko kommen. Sie hielten ein paar Meter vor uns an und Harry fragte Nick genervt: »Gehst du nun mit?« Nick rollte mit den Augen und sein Blick blieb auf mir hängen.

»Wenn ihr was vorhabt, geh«, meinte ich leise zu ihm. »Ich muss ja eh schon nach Hause.«

Er stand mit mir zusammen auf. »Aber ich bringe dich noch –«

»Brauchst du nicht, die Straßen sind gut beleuchtet«, beeilte ich mich schmunzelnd zu sagen, obwohl ich doch Angst hatte, in unserem Viertel alleine im Dunkeln nach Hause zu gehen. Aber ich wollte zu gern wissen, was sie verheimlichten. Neugier siegte bei mir immer.

»Gut. Dann begleite ich dich wenigstens bis zur Straße.«

Seine Kumpels hörten alles mit und Nick brachte mich bis zur Straße, während die beiden in Richtung Waldstreifen an der Schule vorbeigingen.

Wir verabschiedeten uns zärtlich und ich lief die Straße weiter runter. Nick ging dann zurück. Nach ein paar Metern drehte ich mich um und tastete mich vorsichtig wieder zurück. Ich lugte um die Ecke.

Nick ging in der Dunkelheit in dieselbe Richtung wie die Jungs, auf dem beleuchteten Gehweg am Waldrand entlang. Jetzt konnte ich ihn sehr gut beobachten, schlich tiefer in die Dunkelheit und lief langsam hinter ihm her. Selbst wenn er sich umdrehen würde, würde er mich nicht sehen können. Vor dem Weg, der in den Wald führte, blieb ich stehen. Nick ging direkt zu den Sträuchern, sah sich dort ein paarmal um und verschwand darin.

Ein Blick auf die Uhr: 19:55. Scheiße, ich riskiere meine Wochenendausgänge, wenn ich zu spät komme. Ich wartete trotzdem, dass wieder jemand aus den Sträuchern rauskam, aber niemand verließ sie. Es jagte mir Angst ein, weiter in die Dunkelheit einzudringen. Tja, da muss ich jetzt wohl durch. Langsam setzte ich mich in Bewegung und hoffte nur, dass ich von niemandem anfallen würde. Aber ich kannte schon ein paar Griffe und Würfe aus der Selbstverteidigungsgruppe. Ich konnte mich aus der Blockade von Handgriffen schnell befreien, und werfen, wenn mich jemand von hinten am Hals packte … Ach ja, und natürlich schnell nach den Eiern greifen und hochziehen. Nur alles in Panik nicht vergessen!

Langsam und zitternd ging ich den Weg entlang. Je näher ich dem Waldstreifen kam, desto deutlicher hörte ich die Stimmen in den Büschen. Vor den Sträuchern stand eine Laterne, ich trat in das Licht und blieb da auch stehen.

»Nick!«, rief ich und alle Stimmen verstummten sofort. Ich schüttelte augenrollend den Kopf. Kinderkacke! »Nick, ich habe dich gehört … Komm bitte da raus!«, sagte ich lauter und wartete ab.

Als er es nicht tat, trat ich schnell und wütend in die Sträucher. Nach ein paar Metern sah ich Harry mit einer Taschenlampe stehen und Nick vor einem zerlegten Moped hocken. Mir leuchtete sofort alles ein, zumal hatte ich bereits die Vermutung. Sie klauten Motorräder, um die auseinanderzubauen und die Kleinteile zu verkaufen.

Ich starrte Nick entsetzt an. Wortlos ließ er dann seine Augen auf den Boden sinken, seine Hand mit dem Schraubenschlüssel hängen und atmete laut – und beschämt, schuldbewusst? – aus, keine Ahnung, wie ich es in dem Moment einordnen sollte. Ich war jedenfalls sehr enttäuscht von ihm.

Rasch drehte ich mich um und lief nach Hause. Wut kochte plötzlich in mir, wodurch ich schnell und stampfend ging. Ich konnte es nicht fassen, dass ich so naiv gewesen war und es selbst nicht glauben wollte. Das ist ja zum Verrücktwerden! Ich bin mit einem Motorraddieb zusammen!

Als ich nach Hause kam, sahen mich meine Eltern streng an und Mama blickte vielsagend zur Wanduhr.

»Ich weiß!«, antwortete ich schnaufend und nickte ihr zu. »Entschuldigung, ich habe die Zeit vergessen, kommt nicht mehr vor und … Und am Wochenende bleibe ich auch zu Hause.« Mein Ärger kochte mir noch im Blut, sodass meine Worte wie aus der Pistole geschossen kamen.

Meine Eltern nickten beide nur leicht und sehr erstaunt über mein Geständnis, ich aber verschwand sofort in meinem Zimmer … und das für länger, als ich es angenommen hatte.

Das Wochenende verlebte ich tatsächlich zu Hause. Ich brachte mir eine ›Romantische Etüde‹ auf dem Keyboard bei. Als ich Violetta anrief, erzählte ich ihr, dass ich mit ihr über Nick reden wollte. Aber sie gab mir zu verstehen, dass sie lieber die Zeit mit ihrem Freund verbringen wollte: »Aber ich will alle Einzelheiten am Montag wissen!«, schnatterte sie in den Hörer. Ich wollte ihr auf einmal keine Einzelheiten mehr schildern und damit womöglich Nick Probleme bereiten, falls sich Violetta bei jemandem verplappern würde. Enttäuscht und bekümmert verzog ich mich wieder in mein Zimmer.


Am Montag wollte ich überhaupt nicht in die Schule gehen, aber nur aus dem Grund, weil ich nicht wusste, wie ich mich Nick gegenüber verhalten sollte. Soll ich ihm eine scheuern? Ihn anschreien? Wieso eigentlich? Nichts dergleichen würde etwas ändern. War doch sein Problem, was er mit seinem Leben anstellte. Und es blieb mir natürlich auch nichts anderes übrig, als in die Schule zu gehen. Ich saß regungslos auf dem Sofa und wartete nur darauf, bis es kurz vor acht war, damit ich gerade noch pünktlich zum Unterricht erscheinen konnte.

Vor dem Eingang der Schule stand Nick und hatte wohl schon auf mich gewartet. Ich ging entschlossen weiter, guckte ihm kalt und direkt in die Augen, zeigte ihm damit meine ganze Bitterkeit und Enttäuschung über ihn. Sein weicher Blick hing an mir, der aber auch entschuldigend wirkte. Nein, ich bleibe standhaft. Mir schien es wie eine Ewigkeit, an ihm vorübergehen zu müssen.

Schnell flog ich die Treppe hoch, verschwand dann in der Klasse, setzte mich auf meinen Platz und schaute zur Tür, während ich begann meine Sachen herauszuholen. Nach ein paar Minuten ging Nick langsam an meiner Klasse vorbei und sah mich dabei an. Ich zog das Lehrbuch aus meiner Tasche und knallte es wütend auf den Tisch. Vorbeigegangen. Ich atmete aus.

Violetta ließ die Unterlippe sinken und ihre Augenbrauen schossen nach oben. »Elli! Was war das eben? Ist es zwischen dir und Nick … etwa aus?«

»Ja!«, antwortete ich scharf.

»Aber ihr seid doch so ein süßes Paar«, schnatterte sie.

»Vi! Punkt. Aus. Vorbei!«, erhob ich leicht meine Stimme. Sie pustete die Luft aus und drehte sich um. Mehr hatte sie auch nicht nachgefragt.

Der Unterricht hatte begonnen und ich versuchte, mich zu konzentrieren, was mir komischerweise leichter fiel, als ich es erwartet hatte. In den kleinen Pausen verließ ich meine Klasse nicht, erst als ich zur Chemiestunde musste, in den anderen Raum. Ausgerechnet der war das Nachbarzimmer von Nicks Klassenraum. Wir warteten vor der verschlossenen Tür auf den Lehrer und Nick löcherte mich mit seinen Blicken, während ich auf dem Boden saß. Es war offenbar schon in der Schule rumgegangen, dass wir nicht mehr miteinander redeten, und alle Freunde flüsterten hinter meinem Rücken.

Antonia kam zu uns Freunden herüber, mit ihrer neuen Klassenkameradin Veronika, die sehr hübsch und gertenschlank war. Sie hatte eine schöne Figur mit langen Beinen, prallem Busen und hatte große Augen. Ihre vollen, dunkelbraunen Haare lagen auf ihren Schultern. Die Mädels guckten sie neidisch an und die Jungs sabberten bei ihrem Anblick.

Antonia beugte sich ein Stück zu mir. »Was machst du bloß mit diesem Jungen?«, sagte sie und deutete mit ihrem Blick auf Nick.

Ich schaute zu ihm auf, doch wandte meine Augen sofort wieder ab, als ich sah, dass er mich immer noch musterte. Was ich mache? Und was macht er? Erzählen, warum das gerade so war, wollte ich auch ihr nicht, eigentlich niemandem. Ich zog ein Bein zu mir an die Brust und legte mein Kinn auf das Knie.

Antonia ging vor mir in die Hocke und begann leise auf mich einzureden: »Elli, er liebt dich wirklich.« Ich seufzte nur. »Sprich doch mit ihm.« Stur schüttelte ich den Kopf und sie ließ mich in Ruhe, als ich sie weiter ignorierte.

An uns gingen Stephen und Gerhard vorbei. Gerhard, unser Charmeur, blieb fast an seinem Sabber erstickend bei Veronika stehen. Wenn man sein breites Lächeln mit den vollen langen Lippen sah, würde jede sofort zurücklächeln. Er war dürr, hatte ebenfalls lange Beine, war dunkelblond und hatte einen frechen Schnitt, die Haare hinten waren sehr kurz, vorne aber etwas länger und strubbelig gestylt. Ich musste allein bei dem Anblick schmunzeln, wie alle sich um Veronika drehten und in ihrer Gegenwart weich wurden. Und bei Gerhards Ausdrucksweise tauchten in solchen Situationen bestimmte Suffixe auf. Er scherzte dann noch mehr, obwohl man nie wusste, ob es wirklich ein Scherz war oder nicht.

»Veronikchen, kann ich dir dein Täschchen abnehmen, damit deine zarten Händchen nicht müde werden«, sprach er fast singend zu ihr und nahm ihr die Tasche ab. Sie wurde rot und schmunzelte, während alle schon amüsiert lachten.

»Was?«, maulte er lächelnd zurück. »Kann ich mich etwa nicht wie ein Gentleman verhalten?« Als Antwort erhielt er aber nur noch mehr Lachen.

Als unser Lehrer kam, gingen alle zu ihren Klassen und Nick begleitete mich mit den Augen bis in den Raum hinein. Worum sich der Unterricht drehte, konnte ich nicht sagen, mir schwand die Konzentration. Ständig musste ich an Nicks Blick denken und überlegte, ob ich nicht doch mit ihm reden sollte. Doch was würde es bringen?

Nach der Chemiestunde verließ ich den Raum, und da stand Nick bereits, der dann langsam auf mich zuging. Vielleicht sollte ich ihn wirklich anhören? Hin- und hergerissen blieb ich stehen. Wir schauten uns an, bis alle neugierigen Blicke und unerwünschten Zuhörer aus unserer Nähe verschwunden waren. Aber auch danach blieb er still. Sucht er nach den richtigen Worten? Ich habe sie schon gefunden.

»Und du hast mir weisgemacht, dass ihr keinen Unsinn anstellt!«, begann ich bitter.

Er sah mich weiterhin still an. Na, wenn er dazu nichts zu sagen hat, dachte ich mir und wollte schon losgehen. Er hielt mich jedoch auf, indem er nach meinem Handgelenk griff. Ich hasste es, wenn sich jemand an mich klammerte, und riss mich aus seinem Griff los.

»Geh bitte nicht«, bat er. Ich blieb stehen, sah ihn durchdringend an. »Es tut mir leid, Elli.«

»Es reicht mir nicht. Jetzt, Nick, bin ich echt angepisst!«, erwiderte ich und wollte wieder gehen, doch diesmal nahm er mich fester an der Hand.

Sein Blick wurde noch reumütiger. »Ich liebe dich … und will dich nicht verlieren.«

Ich entriss mich aus seinem Griff. »Und ich will nicht mit jemandem zusammen sein, der …«, brauste ich auf und suchte nach den richtigen Worten, wobei ich mit den Armen in der Luft herumfuchtelte, als ob mir das helfen könnte, die Worte zu fassen zu bekommen. »Was wird dann, Nick?«, erhob ich die Stimme, schaute umher, um mich wieder zu vergewissern, dass uns niemand zuhörte, und entdeckte eine Schülerin nur ein paar Meter entfernt, die uns anstarrte. »Süße, soll ich dir das vielleicht alles haargenau aufschreiben?«, spuckte ich giftig aus.

Sie wurde verlegen, drehte sich um und ging weg. Verdammt … wenn ich wütend bin, werde ich zu einer giftspritzenden Schlange. Als ich sicher war, dass niemand mehr da war, sah ich wieder Nick an.

»Was dann, Nick? Klaut ihr dann womöglich Autos? So was kann ich einfach nicht dulden. Ich werde nicht mit einem Verbrecher zusammen sein!«

»Ich versichere dir, dass das das letzte Mal war«, sagte er ruhig, wandte aber bei diesen Worten den Blick ab. Glaube ich nicht!

»Nein, Nick …«, ich schüttelte den Kopf, »… ich kann dir nicht glauben und nicht mehr vertrauen. Es ist Schluss zwischen uns.«

»Was?«, atmete er mit starren Augen aus, und ich nickte.

»Ja!« Ich ließ ihn einfach stehen und ging in meine Klasse.

Es tat mir weh, ihn so zu sehen. Aber wenn ich ihm jetzt verzeihen würde, würde er sich denken: »Wenn sie mir einmal verziehen hat, dann wird sie es auch noch mal tun.« Obwohl er mir leidtat, wollte ich keine Beziehung mehr mit ihm. Ich konnte das einfach nicht … Ich liebe ihn ja auch nicht richtig, ich kann es nicht. Ich wusste nach wie vor nicht, was ich eigentlich für ihn gefühlt hatte. War das die tatsächliche Liebe gewesen, bei der man eigentlich die Schmetterlinge spüren sollte und ein Feuer der Emotionen in einem entfacht wurde? Oder war das alles nur so ein oberflächliches Geplänkel? Und wann war bei mir dieses Gefühl überhaupt zu spüren gewesen? Entweder hatte ich es verpasst oder ich war einfach nicht fähig so zu empfinden. Vielleicht kann ich gar nicht einen Menschen lieben?


Nervös und zappelig wartete ich auf mein Zeugnis, das mir Frau Meier nach einer gefühlten Ewigkeit auf den Tisch legte. Endlich hatte ich es in der Hand und konnte mir alle Zensuren genau anschauen. Im Großen und Ganzen waren es fast nur Dreier, im Englisch-Förderunterricht glänzte inzwischen eine Zwei, was mich sehr freute, und in Politik hatte ich mich auch auf eine Zwei verbessert. Sehr schön!

Es waren kleine Erfolge und kleine Schritte nach vorn, aber immerhin tat sich etwas. Weiter so, vielleicht verbessere ich mich noch zum Ende des Jahres. Meine Durchschnittsnote war statt drei jetzt zwei Komma sechs. Ich musste noch sechs Zensuren verbessern, um auf den Durchschnitt von zwei Komma null zu kommen oder noch mehr, damit ich aufs Gymnasium konnte. Vor allem habe ich jetzt niemanden mehr, mit dem ich mich treffen muss, ich habe also Zeit in Hülle und Fülle. Violetta abends oder am Wochenende zu sehen, war auch zur Seltenheit geworden, weil sie momentan versuchte, einen Neuen an Land zu ziehen, denn ihr vorheriger Freund hatte sie verlassen, was sie nicht sonderlich störte. Das Mädel konnte wohl nicht ohne Liebe leben.


Mein persönlicher Liebesroman


… handelte aber nicht von Nick, – obwohl er noch mehr als einmal meinen Lebensweg kreuzen würde. Diese Geschichte handelte von genau dem, über den mehrere meiner Tagebücher vollgeschrieben waren. In ihnen war all meine Liebe verborgen. Es war ein ganzer Roman zusammengekommen, wie man ihn nur aus Büchern kannte. Und selbst wenn man noch einige Bände dazulegen würde, würde es immer noch nicht ausreichen, um das zu beschreiben, was ich für ihn empfunden hatte, was er mir bedeutete und wie sehr ich ihn liebte. Er hatte mein Herz bis zum obersten Rand mit seiner Liebe gefüllt … und sie dort verankert.

Die Liebe zu ihm war eine auf den ersten Blick und glich einer Explosion. Plötzlich und unerwartet, so farbenfroh und beflügelnd, so unbeschreiblich und faszinierend. Noch heute spürte ich dieses Kribbeln in mir, wenn ich mich daran erinnerte …


März 1998


Übers Wochenende kamen Papas Cousin und seine Frau mit ihren Kindern zu uns und heute war das Haus auch noch mit meinen anderen Verwandten voll. Aus diesem Grund wollte ich nicht zu Hause rumsitzen. Heute war wieder Schuldisko und ich hatte überlegt, hinzugehen, obwohl ich es vermeiden wollte, Nick zu quälen, der mich immer noch mit einem Dackelblick anschaute.

Trotzdem entschied ich mich dafür, denn zu Hause herrschten durch die Kinder genauso viel Dezibel wie in einer Disko. Ich zog ein langärmliges Shirt in Lila und eine schwarze Stoffhose an, nahm mein Lederjäckchen, das ich immer noch voller Stolz trug, und sagte meiner Mama, dass ich wie immer bis acht wegbleiben würde.

Bereits auf dem Schulhof sah ich, wie Nick mit seinen Freunden herumalberte, und als er mich bemerkte, blieb sein Blick an mir kleben. Es machte mich super nervös. Ich steckte meine Hände in die hinteren Jeanstaschen und versuchte, seinen Blick zu meiden, den ich auf mir spürte.

Mir kam eine Bekannte entgegen, Anja – eine Blondine mit langem Haar bis zum Po. Bei ihr trafen die Witze über die Blondinen echt alle zu, schlau war sie wirklich nicht. Sie blieb zum Quatschen stehen und erzählte mir von ihrem neuen Freund, der älter war als sie, nicht aus unserer Stadt stammte, und dass sie gerade ungeduldig auf ihn wartete. Sie war so aus dem Häuschen, dass ihr albernes Verhalten bei mir im Kopf Sarkasmus auslöste. Ich stellte sie mir gerade wie einen freudigen Pudel vor, der mit dem Schwanz in Erwartung seiner Leckerli wedelte. Ich unterdrückte mein Kichern.

»Oh, da ist er!«, rief Anja und lief, mir noch zum Abschied winkend, davon.

Ich wollte nicht so neugierig sein und Anjas neuen Freund begutachten, also ging ich mit gesenktem Blick in die Disko. Beim Reinkommen entdeckte ich Antonia mit Veronika, die an einem Stehtisch lehnten. Zum Lied von Mr. President ›Coco Jambo‹ ging ich zu ihnen über die Tanzfläche. Wir hatten gleich ein Gesprächsthema gefunden, worüber wir uns dann unterhielten. Dabei musterten wir die anderen tanzenden Mädchen, die versuchten ihre neuen Modeerrungenschaften, zum Beispiel die bunte, knappe und glitzernde Kleidung, zu präsentieren.

Nach einer Weile sah ich zur Eingangstür, als Anja gerade hereinkam, ihren Freund hinter sich herziehend, und mich anlächelte. Sie wies mit den Augen auf ihren Freund, so nach dem Motto: Wie ist er? Ich hob den Daumen hoch, was Super ausdrücken sollte. Sie grinste breit, dabei zeigte sie ihre grünen Zähne, die durch das schwarze Licht leuchteten. Ich musste lachen, doch dann lähmte es mich auf einmal. Ein Gefühl, das ich bisher nicht kannte, breitete sich in meinem Inneren aus.

Hinter den beiden stand ein junger Mann, der fast zwei Köpfe größer war als Anja. Er hatte schwarze Haare, die zur Seite gekämmt waren, und sein Gesicht wirkte sehr erwachsen. Dieser Bursche löste eindeutig irgendetwas in mir aus, sodass ich ihn angucken musste, als er an uns vorbeiging. Seine aufrechte Haltung wirkte sehr männlich. Anja setzte sich mit ihrem Freund auf eine Bank und der Fremde stellte sich seitlich an die Wand gelehnt zu mir.

Mein Gott, war der groß. Ich würde ihm bestimmt nur bis zur Brust reichen. Er war um die eins achtzig, neunzig … oder sogar zwei Meter? Mm, aber mir gefällt er, das würde echt schön aussehen, mit ihm an meiner Seite … Wenn ich ihn mir nur genauer anschauen könnte. Dreh dich doch mal um! Verdammt, was ist los mit mir? Er stand nicht mal mit dem Gesicht zu mir und ich bildete mir bereits ein, dass er mir gefiel. Vielleicht sind das Frühlingsgefühle, die mich so irre machen?

Ich überlegte mir, vielleicht selber zu ihm rüberzugehen. Nein, mir fehlt der Mut. Mann, dreh dich doch mal um! Und dann, als hätte er mich gehört, drehte er sich langsam um und sah sich die Tanzfläche mit den feiernden Leuten an.

Mir war, als würden sämtliche Gefühle in mir explodieren. Es knisterte und kribbelte innerlich. Mein Herz fing an zu rasen. Von diesem unerklärlichen und unbekannten Gefühl wurde ich sogar schwach. Ich wusste vorerst nicht, wo ich diese Empfindung einordnen sollte.

Er guckte zwar ernst, aber so, als wollte er das alles nicht, so als fühlte er sich hier unwohl. So gesehen hätte ich mich auch unwohl gefüllt, wenn mir jeder in den Bauchnabel atmen würde. Wow, ich kann mich an ihm gar nicht sattsehen. Er schaute alle Gesichter in seiner Nähe an und wandte sich erneut ab. Hey, und ich? Mein Gesicht hast du vergessen!

Ich atmete tief durch. Ich glaube, ich gehe doch mal zu ihm … Dann sah ich, dass sich neben ihm etwas auffällig bewegte. Das war Anja. Sie stand mit den Armen herumfuchtelnd da und bedeutete mir, dass ich zu ihr rüberkommen sollte. Was? Ich schüttelte sofort den Kopf. Memme! Aber ich sah im Vergleich zu ihm wie eine rotznäsige Göre aus. Er war bestimmt schon viel älter als ich. Das sagte nicht nur seine Größe aus, sondern auch seine Gesichtszüge, die ernst und erwachsen wirkten.

Ich winkte Anja, damit sie rüberkommen sollte, und sie flatterte über die Tanzfläche zu mir. Ihr Freund bemerkte mich und schaute uns an, als sie mich erreichte.

»Komm mit, ich mach dich bekannt«, rief sie gegen die Musik an und hielt mich schon am Ellenbogen.

»Warte!« Ich zog sie zurück. »Wer ist das … der junge Mann dort?«, fragte ich und blickte in seine Richtung.

»Der Blonde?«, piepste sie mir ins Ohr. Der Blonde? ... Den habe ich gar nicht bemerkt. Neben diesem großartigen und männlichen Paket stand noch ein junger Mann, der wie ein hyperaktives Eichhörnchen aussah, zu den Beats heftig den Kopf bewegte und auf cool machte.

»Neeiiin, um Gottes willen«, schnaubte ich. Der sieht ja wie ein Rockjäger aus, oder sogar schlimmer. »Na der, der an der Wand steht.«

»Ach so … Das ist Edwin! Christophs Bruder«, erklärte sie mir.

Edwin … Wärme floss kitzelnd durch meinen Körper, während mein Blick immer noch an ihm hing. Allein von seinem Namen war ich wie in einem Traum gelandet. Elli und Edwin … Oh, mein Gott, ich drehe durch.

Anja bemerkte wohl meinen Gesichtsausdruck. »Aha, ich verstehe – er gefällt dir!«, durchschaute sie mich und fing an zu kichern. »Na dann komm mit, ich mache dich mit ihm bekannt.« Sie zog mich wieder an der Hand.

Diesmal schlenderte ich hinter ihr her, ohne mich zu wehren, denn ich wollte Edwin wirklich sehr gerne kennenlernen, obwohl mir vor Aufregung das Herz jetzt schon bis zum Hals schlug.

Als wir uns zu ihnen gesellten, begann Anja uns vorzustellen, angefangen natürlich bei ihrem Freund. Ich gab Christoph lächelnd die Hand zur Begrüßung und nannte meinen Namen. »Robert«, sagte sie und zeigte auf den blonden Typen. Ich sah ihn an und in mir verkrampfte sich alles. Ich glaube, den überkommen echt die Frühlingsgefühle. Der fängt ja bald an zu sabbern. Nichtsdestotrotz gab ich ihm meine Hand, die er drückte und mich musterte.

»Und Edwin!«, sagte Anja grinsend und betonend.

Es lähmte mich, als er mich kurz ansah. Das ganze Drumherum änderte seine Farben, alles um mich herum erschien leuchtender, farbenfroher. Ich hatte sogar das Gefühl, die Zeit blieb für diese wenigen Sekunden stehen. Lächelnd reichte ich ihm meine Hand. Edwin drückte sie, doch nahm seine schneller weg, als es mir lieb war. Irgendetwas plumpste in mir nach unten und die farbenfrohen Gefühle verflogen. Toll! Er hatte wohl kein Interesse an mir. Oder war er vielleicht einfach nur zu schüchtern?

Edwin hatte braune Augen, dichte, niedrig sitzende, schwarze Augenbrauen, dadurch – oder genau deswegen – sah sein Blick etwas grimmig aus. Seine Lippen waren schmal und seine Wangen rot angelaufen, wahrscheinlich war ihm das alles hier unangenehm.

Ich konnte mich nicht bewegen, ich war wie am Boden festgewachsen – und mit den Augen an ihm. Was war er sympathisch! Will er gar nicht bemerken, wie ich ihn anstarre, guckt mich nicht mal an. Vielleicht beachtete er auch gar nicht solche wie mich, die nur einen Meter fünfzig groß waren.

Ich merkte, wie Anja in Christophs Ohr sprach und er lächelte, woraufhin er mich begeistert anguckte. Jaaa, schuldig, Edwin gefällt mir! Doch Edwin merkte nicht mal, dass Christoph ihm nun Andeutungen machte, auf mich aufmerksam zu werden. Stattdessen stand er wie eine Litfaßsäule in der Halle. Darf ich eine Beschwerde draufkleben? Deine Augen werden gesucht, und zwar von mir! Als Edwin auf Christophs Gesten nicht reagierte, zog er Edwin zu sich heran.

»Was hast du zu Christoph gesagt?«, wandte ich mich an Anja.

»Die Wahrheit, dass Edwin dir gefallen hat. Wieso, wolltest du es etwa –«

»Doch, alles gut. Danke!« Ich lächelte zufrieden und schaute anschließend Edwin an.

Dieser verstand vermutlich gerade, was los war, und sah mich auf einmal verblüfft an. Doch beide wandten wir unsere Blicke sofort vor Schüchternheit ab. Aber es hatte gereicht, um in mir wieder einen knisternden Ausbruch an Gefühlen zu verursachen, den ich nun bändigen musste.

Kurze Zeit später schlug Anja vor, nach draußen zu gehen, und zog mich am Ellenbogen mit sich. Sie führte mich aus der Disko, als ob ich sonst fliehen würde. Vor uns gingen die jungen Männer her.

Ich hatte bisher nicht daran geglaubt, dass man jemanden vom ersten Augenblick an so toll finden könnte. So eine Gefühlsexplosion, das einem der Atem stockte … total verrückt! Das war wie ein Feuer, das in mir entfachte. War das etwa das Gefühl, von dem immer alle sprachen? Ist das Liebe? Konnte das sein? Scheiße, und dann noch so schnell?

Wir waren am Parkplatz angekommen und blieben vor Roberts Auto stehen. Und ich konnte mir Edwin endlich bei Tageslicht betrachten. Er hatte solch rosarote Lippen, die für einen Mann sehr zart wirkten. Er sah einfach hinreißend und total süß aus, einfach unglaublich, so stark und wie ein echter Mann. Und diese Augen, Wahnsinn, wie heiße Schokolade. Ich glaube, ich bekomme gleich einen Zuckerschock … Mann, ich drehe echt ab. Ich holte tief Luft. Wenn ich jetzt noch anfange, wegen meiner Nervosität irgendeinen Scheiß zu erzählen, dann blamiere ich mich vor Edwin.

Er schaute mich nicht an, stand nur da, mit zusammengezogenen Brauen und hörte Robert zu. Jetzt fiel mir auch auf, dass die anderen sich die ganze Zeit über unterhielten.

»Was sagst du dazu, ist er nicht ein Arschloch?«, fragte Robert Edwin.

Ich wusste gar nicht, worum es gerade ging, so vertieft war ich in meine Gedanken an Edwin und musterte jede noch so winzige Regung seiner Mimik.

»Na, soll er doch sagen, was er will, mit dem möchte ich nichts mehr zu tun haben«, antwortete Edwin.

Gänsehaut überzog meinen Körper. Oh mein Gott, seine Stimme … Meine Oma erzählte mir in der Kindheit viel aus der Bibel. Dazu stellte ich mir immer die Bilder vor, und wenn sie sagte: »Und Gott sprach«, stellte ich mir eine gedämpfte, ruhige, aber richtig männlich klingende Stimme vor. So hörte sich Edwins Stimme an. Sie ist einfach himmlisch

»Ich hätte ihm die Fresse eingeschlagen«, rief Robert lachend, während er zum Kofferraum seines Autos trat. Roberts Lachen durchdrang mich bis in die Knochen. Mann, und du hättest als Mädchen geboren werden sollen.

»Ich werde mich nicht auf sein Niveau herablassen«, erwiderte Edwin. Ich schloss meinen Mund, der mir immer noch vor Staunen über seine Stimme halb offenstand.

»Mann, du bist nicht normal, Edwin!«, warf Robert ein, worauf Edwin nur die Schultern zuckte.

Oh, nicht normal ist gut. Ich bin auch nicht normal. Das könnte gut passen. Nervös biss ich mir auf die Unterlippe. Edwins kurzer Blick streifte mich, und nachdem er sich abgewandt hatte, drehte ich enttäuscht meinen Blick Anja zu. Ich hatte das Gefühl, dass er mit mir nichts zu tun haben wollte.

Nach kurzer Zeit entfernten sich die Männer von uns, standen etwas weiter entfernt und führten eigene Gespräche. Wegen der Musik, die plötzlich aus Rudolfs Wagen dröhnte, konnte ich Edwins Stimme jedoch überhaupt nicht mehr hören. Anja begann mit mir zu sprechen, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihm zusammenzukommen – Ja, aber anscheinend er nicht. Sie redete dann davon, wie großartig ihr Christoph war, während ich enttäuscht Edwin beobachtete.

Robert holte Wodka aus dem Kofferraum und schenkte drei Kurze ein. Scheiße, ist Edwin ein Trinker? Er gab einen davon Edwin und dieser schaute wehleidig ins Gläschen, doch Robert sabbelte irgendetwas, als würde er ihm was einreden wollen, und Edwin richtete seinen Blick auf mich. Ich senkte meinen sofort. Sonst merkt er wirklich, dass ich ihn mit den Augen bereits auffresse.

Als ich mitbekam, wie Edwin das leere Gläschen in den Kofferraum zurückstellte, ertönte das Lied ›My Heart will go on‹ von Celine Dion. Bei dieser Melodie wurden meine Gefühle jetzt völlig verklärt und ich kochte innerlich in dem Verlangen, Edwin näher kennenzulernen. Und wieder schaute er kurz zu mir rüber. Mein Herz fing dermaßen heftig an gegen die Brust zu schlagen, als würde es gleich rausspringen wollen. Ich hoffe, Edwin kommt gleich zu mir rüber. Ha-Ha … Robert schenkte ihm noch einen nach und quatschte immer noch auf ihn ein. Was will er denn bloß von ihm? Edwin kippte die Flüssigkeit runter und schnitt eine Grimasse. Wusste ich es doch. Er ist kein Trinker. Bestimmt trinkt er sich nur Mut an!

Ich schaute auf meine Uhr. Mist, echt schade, ich muss gleich nach Hause. Wird wohl nichts mehr. Enttäuschend schaute ich noch mal zu Edwin rüber.

Robert deutete mit den Augen auf mich und sagte etwas zu ihm. Edwin, diesmal nun entschlossen, ging auf mich zu. Mein ganzer Körper zog sich wie ein Gummizug zusammen. Meine Knie wurden weich und ich begann komischerweise zu zittern …

Und hier steht er neben mir. Großartig, hervorragend und die Augen, ooh … Das Poltern meines Herzens betäubte jetzt fast alle anderen Geräusche und die Hitze in meinem Körper wurde so brennend, dass mein Hals trocken wurde. Ich drehte in seiner Nähe beinahe durch und würde noch wie verrückt aufkreischen, wie es die Mädchen sonst tun, wenn sie ganz aus dem Häuschen sind.

»Hi Elli«, erklang seine himmlische Stimme.

»Hi«, hauchte ich und merkte, wie atemlos ich im Moment war.

»Ich habe gehört … du willst mit mir gehen?« Er sah mir direkt in die Augen, während ich in seinen völlig unterging. Darauf nickte ich nur. Ich falle gleich in Ohnmacht, die Erde fühlt sich schon wie Watte an.

Edwin kam noch näher, nahm mich an der Taille und die Erde verschwand völlig unter meinen Füßen – entweder hob er mich an oder ich spürte es einfach nicht mehr –, als er mich sofort küsste. Na ja, er küsste mich nicht wirklich, er saugte mich förmlich ein. Dennoch schmolz ich wie Eis in seiner festen Umarmung dahin.

Als er aufhörte, mich zu küssen, sagte er etwas wie: »Ich bin es noch nicht gewöhnt zu küssen«, was ich wie im Rausch mitbekam. Oh Männer, immer müssen sie sich gleich wegen ihrer Schwächen rechtfertigen. Ich würde ihm natürlich sofort alles verzeihen, denn ich war mir jetzt ziemlich sicher, dass es Robert war, der ihm so was eingeredet hatte wie: »Hier, trink und dann saug sie einfach ein!« Was Edwin wohl wortwörtlich aufgefasst hatte.

Viel von Edwins Geschmack konnte ich wegen des Alkohols nicht bemerken und ja, der Kuss war keine Bestleistung, aber ich war mir sicher, dass der zweite dafür umso schöner sein würde.

Wir lächelten uns ungeschickt an. Seinen Arm legte er über meinen ganzen Rücken, hinab bis zur Taille. Ich konnte durch meine Jacke seine Körperwärme nicht spüren. Soll ich die Jacke ausziehen? Oh nein, lieber nicht. Ich zitterte noch am ganzen Leib, vor lauter Adrenalin im Blut, was Edwin in mir ausgelöst hatte. Scheiße, wie spät ist es denn? Vielleicht soll ich einfach nicht gucken. Würde mich dann bei den Eltern herausreden, dass ich wieder die Zeit vergessen habe. Mit ihm war es aber echt leicht, einfach alles zu vergessen. Ich wollte bis zuletzt hierbleiben. Aber wenn meine Eltern mir dann Hausarrest geben, sehe ich ihn nicht. Auf gar keinen Fall das jetzt riskieren!

Ich schaute noch mal auf die Uhr und atmete ein wenig geknickt aus, dabei sah ich zu Edwin hoch. Oh Gott, ist er groß. Seine Brust, in die ich mit meiner Nase piksen konnte, war direkt vor meinen Augen.

»Du musst nach Hause?«, unterbrach er meine Gedanken mit seiner großartigen Stimme. Ich nickte nur perplex. »Na, dann komm. Ich begleite dich«, sagte er schmunzelnd und ich nickte wieder nur. Mensch, Elli, sag doch etwas zu ihm! »Wo müssen wir hin?«

»Dorthin«, krächzte ich und merkte, dass mein Hals sich wie eine Wüste anfühlte. »Uhhh«, rief ich plötzlich und überrascht aus, weil Edwin mich rasch auf den Arm hochnahm, denn vor mir war eine riesengroße Pfütze.

Mit mir auf dem Arm überquerte er sie in einem einzigen Schritt und machte noch zwei weitere. Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht. Atmen, Elli! Atmen! … Edwin stellte mich wieder auf die Füße. Ich hatte das Gefühl, ich würde wie auf einer Luftmatratze gehen und die Buffalos an meinen Füßen wurden noch schwerer.

Er umarmte mich und ich ihn, und wir gingen langsam los. Bis zu nach Hause sind es nicht mal fünf Minuten Fußmarsch, frag ihn aus, redete ich innerlich auf mich ein. Ich hatte ein echtes Chaos im Kopf. Die Gedanken flutschten alle hin und her, bis ich dann doch endlich einen fangen konnte.

»Anja sagte mir, dass ihr nicht von hier seid«, versuchte ich so ruhig wie möglich zu sprechen.

»Ja, das stimmt«, antwortete er lächelnd. Ein sehr schönes, zartes Lächeln hatte er. Ich starrte ihn wieder an. »Wir wohnen an der Elbe.«

»Ist das weit von hier?«

»Nein. Nur dreißig Kilometer, ungefähr eine halbe Stunde Fahrt.«

Ich nickte verständnisvoll und schluckte meine Nervosität herunter, die sich einfach nicht legte. Unbemerkt versuchte ich, tief durch- und langsam auszuatmen.

»Und woher kommst du eigentlich?«

»Ich bin aus Russland«, sagte ich schon etwas gelassener und fügte noch unseren früheren Wohnort hinzu.

»Wie sieht es dort aus?«, wollte er wissen. »Ich meine, so naturmäßig. Viele sagen, dass es dort sehr viele Wälder gibt.«

Ich schaute sofort zu ihm hoch. »Ja, das stimmt. Magst du Natur?« Er nickte lächelnd. »Ich auch. Die Natur ist dort wirklich schön und vielseitig, Wälder, wilde Wiesen, Bäche, Seen, und auch Berge.«

»Ich komme ursprünglich aus Bayern, dort sind auch Berge und sehr viel Grün.« Er schaute mich beim Gehen lächelnd an.

Ich konnte mich an ihm nicht sattsehen. Doch da vorne war schon meine Haustür, aus der gerade mehrere Personen kamen, die dann stehen blieben, als sie uns entdeckten. Die Silhouetten wurden deutlicher und ich traute meinen Augen nicht. Bitte nur nicht das! Ich atmete unruhig aus und Edwin bemerkte es, sagte aber nichts. Wir ließen uns los und gingen einfach nebeneinander her. Na toll, und das gleich beim ersten Treffen!

Wir kamen vor der Haustür an. »Hi Paps«, sagte ich nervös.

»Hi Töchterchen.« Er lächelte zwar, war aber sichtlich verwundert und sah dann zu Edwin.

»Papa, das ist Edwin – Edwin, das ist mein Papa.«

Sie reichten einander die Hände und Papa nannte ihm seinen Namen. Man konnte sehen, wie Edwin aufgeregter wurde. Super, wahrscheinlich kam er zuerst meinetwegen vor Nervosität fast um und jetzt noch wegen Papa.

Edwin war sehr höflich und lächelte, als mein Onkel irgendeinen Unsinn vor sich gab. Mein Vater bedeutete mit den Augen, dass mein Onkel schon ganz schön dicht war, und meinte dann, dass er ihn nach Hause fahren wolle.

Freundschaftlich streichelte Edwin mir über die Schulter und sagte: »Bis dann. Wir sehen uns.« Ich nickte nur geplättet, und er wandte sich dann an meinen Papa. »War angenehm. Einen netten Abend noch.« Mich paralysierte es wieder, seine Höflichkeit, sein Lächeln und einfach alles, was er an sich hatte. Er war so perfekt. »Gute Nacht«, sagte er sanft.

»Gute Nacht«, hauchte ich, gerade noch so bei Verstand und schaute ihm dann nach.

Ich drehte mich wieder zu meinem Vater um, der ein wenig verloren schaute. Toll, wegen Papa musste ich auf meinen Abschiedskuss verzichten, dachte ich.

»Ich gehe rein«, meinte ich im Vorübergehen und verschwand im Treppenhaus.

Tja, jetzt werden mich die Eltern ausquetschen, wer Edwin ist. Und was sollte ich ihnen erzählen? Ich wusste doch selbst noch nichts über ihn. Jetzt musste ich erst mal Mutter alles berichten, sonst beschwerte sie sich noch: »Warum weiß Papa alles und ich nichts.«

Ich flatterte in das Chaos zu Hause rein, begrüßte noch einmal die noch anwesenden Gäste und stürmte in die Küche, in der Mama gerade alles für den Tee vorbereitete.

»Hi Mum«, rief ich und sie drehte sich überrascht um.

»Hi Elli.« Sie holte die Teetassen aus dem oberen Schränkchen. Wie soll ich ihr das erklären?

»Mum, ich habe gerade einen jungen Mann kennengelernt«, sagte ich schnell auf.

Sie stockte etwas, schaute zu mir herüber und ihre Augenbrauen hoben sich in die Höhe. »Einen jungen Mann? Keinen Jungen?«, hakte sie vorsichtig nach.

»Ja, einen jungen Mann, er heißt Edwin.«

»Und?«, wartete sie auf Einzelheiten.

»Er ist … schööön und groooß«, zog ich die Worte verträumt in die Länge, in Erinnerungen an Edwin versunken.

»Und wie als ist er?«, wollte sie wissen.

Ich biss mir auf die Unterlippe. »Keine Ahnung. Wir hatten keine Zeit mehr, um viele Fragen zu beantworten.«

Sie nahm den Kuchen und flüsterte mir zu: »Wir sprechen uns später noch. Okay?«

»Es gibt aber nichts mehr zu besprechen. Sage ich doch, die Zeit hat nicht ausgereicht. Und Papa hat uns gesehen«, meinte ich. »Das Ganze war etwas peinlich. Edwin hat mich nach Hause begleitet und mich gerade eine Stunde zuvor kennengelernt, und schon musste ich ihn mit Papa bekannt machen.«

»Aha … Gut, Elli, die Gäste warten. Willst du vielleicht mit uns Tee trinken?« Ich schüttelte nur den Kopf und ging in mein Zimmer. In mir loderte einfach alles bei der Erinnerung an Edwin. Mein Herz fing wieder an zu flattern und mir wurde wohlig warm. Diese eine Stunde war verflogen wie eine Minute und ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Auf meinem Tisch sah ich den Kalender und zog ihn zu mir. 28 März … dieses Datum muss ich mir notieren. Das ist das Datum, an dem ich diese Schokoaugen gesehen hatte und mein Herz explodiert war.

Ich zog die Schublade aus und holte mein Tagebuch heraus. Darin schrieb ich alles über das heutige Geschehen nieder. Edwins Gesicht sah ich den restlichen Abend vor meinen Augen und konnte es mir einfach nicht wegdenken. Selbst als ich schon im Bett lag, konnte ich nicht aufhören, ihn in meinen Gedanken zu malen. Ich konnte nicht einschlafen. Ich wollte so gerne mit ihm reden und seine ungewöhnlich himmlische Stimme hören, die mich derart aus der Fassung gebracht hatte. Noch immer bekam ich Gänsehaut, wenn ich sie in meinem Kopf hörte: »Hi Elli.« Wie viel Sanftheit darin lag, als er meinen Namen aussprach. Ich könnte allein davon vor Freude quietschen … und von seinen Berührungen erst recht.


Liebe auf den ersten Blick


– existierte also wirklich. Bis jetzt dachte ich mir, dass eine Liebe erst erblühen müsste, mit der Zeit wachsen, bis sie ihre Früchte trägt. Aber es schien wohl anders zu sein. Niemals hatte ich geglaubt, dass ich tatsächlich vom ersten Augenblick an Liebe verspüren konnte. Edwin verursachte in meinem Herzen plötzlich so viel Feuer, dass ich allein durch die Gedanken an ihn zu verbrennen drohte.


März 1998


Am nächsten Morgen wachte ich genauso auf, mit Edwins Augen vor meinem Gesicht. Im Körper flackerte und zitterte alles. Ich spürte das Verlangen, Edwin so schnell wie möglich wiedersehen.

Nach dem Frühstück reisten unsere Gäste ab und ich begann mit Mama die Wohnung zu putzen. Ich machte alles wie automatisch, denn meine Phantasien zauberten ständig ihren eigenen Liebesroman, den ich selbst mit Edwin erleben wollte. Den ganzen Tag wartete ich auf ein Zeichen oder eine Nachricht, nur irgendetwas von Edwin – besser gesagt, von Anja. Ich schaute ständig aus dem Fenster, kontrollierte den Telefonhörer, ob er richtig auflag, und irrte in meinem Zimmer hin und her, ohne zur Ruhe zu kommen.

Zum Abend hin kam dann allmählich der Kummer bei mir auf. Ich hielt es nicht mehr aus und suchte in meinem kleinen Telefonbuch nach Anjas Nummer, um sie selbst anzurufen. Aber unser Telefon klingelte, bevor ich wählen konnte, und ich nahm rasch ab. In den Ohren piepste mir Anjas Stimme entgegen.

Sie quasselte wie ein Wasserfall ohne Punkt und Komma: »Elli, die Jungs sind hier, Edwin ist mit Christoph gekommen, komm raus, sie warten auf uns.«

»Aha«, atmete ich nur aus und sie warf den Hörer auf die Gabel. Ich legte auch auf und rief: »Mama, Papa, ich gehe raus!« Ich lief schon zum Flur. Wie gut, dass ich schon mein blaues Lieblingskleid anhatte.

»Ist dieser … Edwin gekommen?«, wollte Mutter wissen. Ich nickte und suchte nach passenden Schuhen. Mist, muss ich denn immer nur Sportschuhe und Sneakers tragen!

»Mama, kann ich deine Ballerinas anziehen?« Ich wartete nicht mal ab, bis sie mir zugenickt oder geantwortet hatte, sondern zog sie bereits an, woraufhin sie mich anlächelte.

»Du weißt aber … Um acht –«

»Ja, um acht bin ich zu Hause!«, unterbrach ich sie, nahm mir mein ledernes Jäckchen und winkte ihr.

Wie sollte ich denn bloß die Zeit vergessen. Jedes Mal wurde ich daran erinnert. Mein Gott, nicht mal ein bisschen will sie die Einschränkungen lockern. Ich schaute auf die Uhr: 17:30. Ich rannte beinahe zum Fahrstuhl. Viel Zeit hatte ich nicht, aber ich wollte heute versuchen, so viel über Edwin zu erfahren, wie es nur möglich war.

Zappelnd vor Ungeduld drückte ich mehrmals den Fahrstuhlknopf. Normalerweise flitzte ich immer die Treppe hinunter, aber nicht heute. Ich wollte nicht keuchend, wie eine Dampflock, bei Edwin ankommen. Der Fahrstuhl fuhr hinab … Mann, bist du eine lahme Schnecke, das ist mir bis jetzt noch nie aufgefallen.

Ich sprang aus dem Lift und stieß mit solcher Wucht die Ausgangstür auf, dass diese mit dem Griff gegen die Wand knallte, während ich wie gelähmt in der Tür stehen blieb. Als diese zurückschwang und mich zu erschlagen drohte, hielt ich sie mit der Hand auf. Ich war erstarrt von diesem Anblick, wie Edwin mich mit seinen warmen Augen und mit seinem zarten Lächeln anschaute. Ich lächelte zurück und trat gelassen und langsam auf ihn zu, wobei ich mich zurückhalten musste, nicht schneller zu gehen, um ihm meine Ungeduld nicht zu zeigen. Sonst würde er noch denken, dass ich eine Irre wäre.

»Hallo«, begrüßte er mich und küsste mich auf die Wange.

In mir erblühte alles wie ein neu erwachter Frühlingstag und mein Blick hing nur noch an ihm.

»Hiii«, atmete ich aus und hatte schon weiche Knie.

Er streckte mir seine Hand entgegen, in die ich sofort mit meiner hineinrutschte, und er schloss meine in seine ein. So gingen wir zum Parkplatz. Meine Handfläche wirkte klein und zerbrechlich im Vergleich zu seiner, aber das gefiel mir sehr. Sie war so warm, etwas rau, aber das machte nichts. Wahrscheinlich hing es mit seiner Arbeit zusammen. Als was arbeitet er wohl? Dachdecker, Maurer? Bin echt neugierig … Es interessierte mich einfach alles über ihn, sein Leben, seine Gedanken, über ihn selbst.

Wir gingen langsam, uns gelegentlich anschauend, zum Parkplatz. Von diesem schönen Anblick neben mir hatte ich Atemaussetzer und mein Kopf fuhr Karussell. Heute erschien er mir noch schöner, attraktiver, sanfter, angenehmer … ach, einfach perfekt zu sein.

Wir waren am Parkplatz angekommen und blieben bei einem braunen Volvo stehen. »Das ist mein Schwälbchen«, sagte Edwin stolz und ich schmolz dahin von seiner Stimme.

»Toll«, konnte ich nur lächelnd sagen.

»Haal-looo«, piepste eine Stimme durch die Nase. Oh mein Gott! Robert stieg aus dem Auto und zeigte seine Zähne beim Grinsen. Na warum reizt er mich denn so dermaßen? Dann kamen auch schon Anja und Christoph und sie schlugen vor, in einen nahegelegenen Park zu fahren.

»Hast du was dagegen?«, wehte mir Edwins Stimme wie ein warmer Wind übers Gesicht. Ich schüttelte nur den Kopf. Ich gehe mit dir bis ans Ende der Welt, egal wohin, Hauptsache mit dir.

Edwin öffnete mir auf der Beifahrerseite die Tür. Ich setzte mich hinein, während die anderen sich hinter uns auf die Rückbank quetschten. Als Edwin einstieg, nahm ich seinen Blick auf und wir schnallten uns an. Links im Augenwinkel bemerkte ich Roberts Augen aufblitzen, der in der Mitte saß, sich nach vorne lehnte und kicherte wie ein Mädchen – womöglich wegen Edwins und meiner Blicke.

Wir fuhren los. Edwin suchte eine passende Musik aus, ließ sie aber nur so leise laufen, dass man sich noch gut unterhalten konnte. Anja und Christoph schmusten, küssten sich und flüsterten fast die ganze Zeit.

»Hörst du solche Musik?«, fragte mich die schönste Stimme der Welt.

»Ja … Eigentlich höre ich so ziemlich alles, von Pop bis Rock«, antwortete ich, ohne meine Augen von ihm zu nehmen.

Er musste aber seine kurz abwenden, um auf die Straße zu gucken. »Rock auch?«, fragte er lächelnd und erstaunt.

»Ja, und vielleicht klingt es ungewöhnlich in dieser Kombination, aber ich liebe auch Klassik.«

Er schaute mich wieder kurz an. »Ich liebe Rock-Musik! Metallica, Nirvana, Guns n’ Roses – kennst du die?« Seine Stimme klang begeistert.

»Natürlich.«

»Du hörst Rock?«, hupte die Trompete in mein linkes Ohr und ich schaute über die Schulter zu Robert.

»Ja, stell dir das mal vor!«, versuchte ich es nicht zu hart klingen zu lassen und lächelte giftig.

Edwin bemerkte meinen Ausdruck und ich biss mir nervös auf die Unterlippe. Mann, ich muss mich etwas zusammenreißen, nicht, dass ich Edwin noch mit meinem Verhalten verschrecke.

»Wie kann man so einen Mist hören?«, trötete Robert noch quietschender. Verdammt, geht mir seine Stimme auf die Nerven, da bekommt man ja Ohrensausen. Edwin rollte lächelnd die Augen. Wahrscheinlich war er das schon von ihm gewohnt. »Verstehe ich nicht, kann man nicht normale Musik hören?«

»Was ist denn bei dir normale Musik?«, hielt ich es doch nicht aus und drehte meinen Kopf zu ihm. »Schnulzen? Zum Beispiel Celine Dion?« Überrascht von meiner Reaktion bekam Robert große Augen und starrte mich an, aber sein verdutztes Lächeln trat langsam hervor. »Dich zwingt doch niemand, es zu hören. Jeder hat seinen eigenen Geschmack, oder nicht? Und außerdem sprechen wir hier nicht mit dir!« Ich lächelte ihn fuchsig an und presste mich wieder in meinen Sitz. Scheiße, ich glaube, jetzt habe ich es etwas übertrieben.

»Nichts weiter dazu zu sagen«, stammelte er und klopfte Edwin auf die Schulter. »Hast du mitgekriegt, was du für eine hast?« Er lachte und ließ sich zurück in den Sitz plumpsen.

Ich schluckte nervös und wurde angespannt. Vorsichtig schaute ich zu Edwin. Aber als ich sein begeistertes Gesicht mit einem kopfverdrehenden und großzügigen Lächeln sah, musste ich selbst schmunzeln und wandte verlegen meinen Blick ab. Okay, ich habe also nichts Schlimmes gesagt. Aber der Satz von Robert blieb in meinem Kopf hängen: »… was du für eine hast«. Als würde es schon zu einhundert Prozent feststehen, dass ich zu Edwin gehörte. Ach Gott, lass es doch bitte auch so sein.

»Also, du hörst auch Klassik?«, riss mich Edwin aus meinen Gedanken. »Ich mag auch klassische Musik, besonders Klavier.«

»Mir gefällt noch Geige«, fügte ich noch hinzu.

»Nee, das ist mir schon zu viel.« Edwin lachte, sodass seine weißen makellosen Zähne aufblitzten. »Das klingt, wie wenn man mit einer Säge durchs Hirn fährt.«

Ich musste kichern. »Klavier liebe ich sehr, ich spiele selbst.«

»Du spielst selbst? Klavier?« Seine entzückenden Schokoaugen wickelten mich wieder ein und ich nickte nur. »Das ist ja klasse. Wirst du mir mal was vorspielen?«

»Würde ich gern, wenn ich noch ein Klavier hätte. In Russland hatte ich eins.« Die Erinnerungen daran hielten mich für ein paar Sekunden gefangen, bis ich die mir allerliebst gewordene Stimme wieder hörte.

»Hast du es richtig gelernt oder dir selbst beigebracht?«, wollte Edwin wissen.

»Ich ging sechs Jahr in die Klavierschule, dann sind wir nach Deutschland gekommen. Hier habe ich noch nicht weitermachen können. Ist noch zu teuer für uns, obwohl es da auch nicht billig war. Und hier musste ich mich auch entscheiden, ob ich lieber einen Privatlehrer in Englisch oder die Klavierschule besuchen wollte«, erklärte ich, während wir am Parkplatz des Parks ankamen.

Nach dem Anhalten schaute Edwin mich noch an, während die anderen bereits ausstiegen. Er verdaute wahrscheinlich noch meine Schilderungen. Ich lächelte ihm verlegen zu und er tat es mir gleich, wobei sein Schoko in den Augen nun begeisterter aussah. Ich denke – nein ich sehe – immer mehr, dass ich ihm auch gefalle. Ich war von ihm jedenfalls vollends gefesselt.

Wir stiegen aus dem Auto. Gleich nach dem Abschließen der Türen nahm er meine Hand. Wir gingen in den Park und die drei anderen liefen voraus. Edwin und ich waren ihnen wohl zu langsam, aber es freute mich, denn so konnte ich weiterhin ungestört mit ihm reden.

»Weißt du, gestern …«, fing Edwin nervös an, »… ging die Zeit irgendwie so schnell vorbei.«

»Ja, das stimmt. Ich habe dich nicht mal gefragt, wie alt du bist«, erinnerte ich mich und sah zu ihm auf. »Also nicht, dass es mir wichtig ist, nur so, reine Neugier …«

Von seinem Lächeln erblindete ich beinahe. »Ich bin achtzehn. Ich würde auch gerne wissen, wie alt du bist … nur so, aus reiner Neugier

Ich musste schmunzeln, doch wurde gleich wieder etwas ernster. »Fünfzehn … geworden«, antwortete ich schon mit einer gewissen Enttäuschung, dass ihn mein junges Alter erschrecken würde.

»Und wann bist du fünfzehn geworden?«, fragte er mit seinem himmlischen Bass. Anscheinend störte ihn mein Alter überhaupt nicht, was mich wieder freudig stimmte.

»Am elften Dezember.«

»Also bist du auch ein Dezemberkind?«

»Du etwa auch? Wann genau hast du denn?«, fragte ich überwältigt.

»Am ersten.« Er schaute mir in die Augen.

»Wir ergeben zusammen drei Einsen, eigentlich bringt das Glück! Und wir sind beide Schützen. Wir sind das Element Feuer«, sprach ich das letzte Wort schon viel leiser aus, weil ich seinen Gesichtsausdruck dabei sah, wie er nachdenklich wirkte. Okay, er glaubt an den Mist wohl nicht. Die Stille hüllte uns für eine kurze Weile ein und wir gingen langsam, uns an den Händen haltend, weiter.

»Vermisst du Russland?«, zerriss Edwin endlich die unangenehme Stille.

»Ja, schon. Besonders meine Freunde …« Ich hielt inne und unterdrückte die traurige Erinnerung an Evgenij. »Aber mir fehlt auch das viele Grün, eigentlich die gesamte Natur. Vor allem vermisse ich den Ausblick von unserem Fenster, der einem wie ein Foto vorkam. Man konnte die Berge sehen, deren Gipfel mit Schnee bedeckt waren. Sie standen dort jeden Morgen in einem Hauch von Nebel.« Ich schaute ihn an und er atmete tief und laut aus. Scheiße, habe ich ihn etwa vollgequatscht?

»Tja, mir fehlen auch die Natur meiner Heimat und die Berge«, sprach er ruhig und wieder hing die Stille mit einer Spur Melancholie in der Luft.

Während wir spazierten, bewegte Edwin ständig meine Hand in seiner. Oh mein Gott, seine warme Hand … Ach, warum sind die nur so rau?

»Als was arbeitest du? Oder machst du noch eine Ausbildung?« Ich blickte zu ihm hoch und er zu mir runter.

»Als Elektriker. Ich bin noch in der Ausbildung.«

»Aha, also stehst du immer unter Spannung«, scherzte ich und er schmunzelte. »Und in deiner Freizeit? Hast du Hobbys?«

»Ich habe keine Freizeit.« Das kam irgendwie trocken heraus.

Ich runzelte die Stirn. »Wie, warum das denn?«

»Meine Eltern und ich bauen ein Haus und die ganze freie Zeit fließt da rein.« Sein schönes Lächeln verschwand etwas. »Vater lässt uns nur selten raus, er möchte alles so schnell wie möglich zu Ende bringen.« Er versuchte, zu lächeln, was ihm nicht so recht gelingen wollte. »Also schuften wir jeden Tag bis zum Abend.«

Ich beschloss, dass jetzt auch die richtige Zeit dafür war, ihm zu erklären, dass ich immer eine vorgegebene Zeit hatte, zu der ich daheim sein musste. Aber er kam mir zuvor, hielt mich an der Hand fest und so blieben wir stehen.

»Deswegen werden wir uns nicht häufig sehen können«, sagte er ernst, als ob er sichergehen wollte, dass mir das klar war.

Ich zuckte mit der Schulter. »Na, bei mir ist auch nicht alles so einfach«, fing ich an und wir gingen langsam wieder los. »Ich kann auch meistens nur am Wochenende raus und das nur bis acht Uhr abends.«

Jetzt runzelte er seine Stirn, zeigte aber gleich sein rosarotes Lächeln. »Was hast du denn angestellt, dass die Eltern dich so eingeschränkt haben?«

»Eigentlich nichts«, ich kicherte, »Ich war selbst damit einverstanden, als ich meine Scheißzensuren gesehen habe. Also habe ich beschlossen, zu lernen, bis ich den erweiterten Abschluss schaffe. Klar, meine Eltern sind nun mal Eltern und haben ihre Ängste – wegen Alter, Pubertät und so was alles halt. Sie haben Angst, dass ich auf die schiefe Bahn geraten könnte, und halten mich deshalb noch zusätzlich an der Leine.«

Edwin nickte stumm, bevor er dann fragte: »Und hast du Hobbys? Außer deinem Klavier, oder ist es dein ein und alles?«

»Nein, ich habe noch andere Hobbys.«

»Was denn für welche?« Er schaute mich interessiert an.

»Ich lese viel, liebe Sport, bastele gerne und male sehr, sehr gerne … besonders die Natur.«

»Also bist du kreativ«, schloss er daraus, und ich nickte. »Und willst du in deinem Beruf später auch mal, was in dieser Richtung machen?«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Obwohl meine Kunstlehrerin so begeistert von mir ist, dass sie meint, ich solle das mit der Kunst wirklich mal überlegen, aber ich möchte irgendwie nicht in diese Richtung gehen oder mich festlegen.«

»Sondern?«, hakte er nach.

Nervös biss ich auf meine Unterlippe. »Eigentlich wurde ich dafür schon ausgelacht.«

Er kniff die Augen zusammen. »Weswegen?«

»Wegen meines Wunschberufs.«

»Ich hoffe, das ist nicht Clown, oder?«

Ich lachte auf. »Oh nein … so lustig ist es nicht.«

»Na sag schon, was ist das für ein Beruf, weswegen du ausgelacht wurdest.«

»Ich sagte in der Klasse, dass ich Wirtschaftsprüferin werden möchte, und die brüllten vor Lachen, auch die Lehrerin.« Ich presste die Lippen zusammen.

»Und was gibt’s da zu lachen? Verstehe ich nicht«, brummte er und wurde etwas ernster.

»Na, weil ich doch auf der Hauptschule bin, schlechte Zensuren, Deutsch-Russin, Mangel an Deutschkenntnissen, ein Studium würde ich also nicht schaffen. Ehrlich gesagt, genau das hat mich angestachelt, ihnen das Gegenteil zu beweisen und zu lernen, um es ihnen zu zeigen … Eigentlich nicht nur denen, sondern auch mir selbst irgendwie.«

»Das ist auch die richtige Einstellung.« Er lächelte mich an. »Lass dich bloß nicht einlullen. Meine Oma hat immer gesagt, wenn man ein Ziel vor Augen hat, schafft man alles.«

Wir schauten uns an und ich nickte lächelnd. Mann, bist du ein großartiger Mensch. Ich drückte seine Hand und er antwortete mir mit gleicher Geste, woraufhin wir beide leise lachen mussten.

Als wir am Auto stehen blieben, warteten wir auf die anderen. Edwin lehnte sich an seinen Wagen und hielt mich weiterhin an der Hand. Unsere Blicke trafen sich. Verdammt, jetzt gehe ich wirklich in seiner Schokolade unter. Edwin zog mich leicht zu sich und umarmte mich an der Taille. Das Herz fing an, wie verrückt gegen meine Rippen zu hämmern. Seine Berührungen verbrühten mich beinahe.

Ich legte meine Hände auf seine große, breite Brust und sah in sein Gesicht, als würde ich mir jede Kontur merken wollen. Man merkte gleich, dass er keine zarte Jungenhaut mehr hatte, wahrscheinlich war er auch schnell erwachsen geworden und musste sich bereits früh rasieren. Ganz genau musterte ich sein Gesicht, nichts wollte ich mir entgehen lassen und versuchte, mir alles einzuprägen. Wer wusste schon, wann wir uns wiedersehen würden.

Als ich seinen Atem an meinem Gesicht verspürte, bemerkte ich, dass er sich mir langsam näherte. Mein Herz fing noch mehr an zu pochen. Seine Umarmung wurde kräftiger und er presste mich immer enger an sich. Gänsehaut zog sich über meinen ganzen Körper und in mir knisterte es. Unsere Lippen näherten sich einander immer mehr.

»Ach, da seid ihr?«, trötete die piepsende Stimme hinter meinem Rücken.

Alles war gleich auf null. Der Teufel soll dich holen, Robert. Wir richteten uns auf, aber Edwin entließ mich nicht aus seiner Umarmung. Die anderen fingen an, sich über etwas zu unterhalten, ich aber hing fest an Edwin, körperlich und gedanklich.

Ich schaute zu Christoph hinüber. Er und Edwin sahen überhaupt nicht wie Brüder aus. Sie waren so was von verschieden. Christoph hatte dunkelblonde Löckchen, blaugraue Augen, eine gerade Nase, nur die Lippen waren genauso schmal wie die von Edwin. Irgendwie hatte er eher Ähnlichkeit mit Orlando Bloom, nur eben in Blond.

»Du und Christoph, ihr seht euch überhaupt nicht ähnlich«, sagte ich leise. »Seid ihr blutsverwandt?«

»Ja, sind wir.« Edwin lachte amüsiert. »Aber wir hören das fast von allen. Und Mark, der ist auch wieder total anders.« Verwirrt kniff ich die Augen zusammen und er erklärte es mir. »Das ist unser jüngster Bruder, der ist erst zehn Jahre alt.«

»Aha, verstehe.« Verdammt, mein Nacken … »Kann ich noch eine Frage stellen?« Denn das ließ mir jetzt keine Ruhe mehr, wenn ich meinen Kopf immerzu in den Nacken werfen musste, um ihn überhaupt anschauen zu können. »Wie groß bist du?«

Edwin musste lautlos lachen und wurde dann doch leicht verlegen. »Eins neunzig«, brummte er und schaute anschließend die Steinchen auf dem Boden an.

»Ist dir das etwa peinlich? Das braucht es nicht. Ich weiß nicht, ob dir das hilft …«, ich holte tief Luft und sammelte meinen Mut, »aber mir gefällt es … zieht mich echt zu dir hin.« Ich biss mir wieder auf die Unterlippe, denn ich war zwar offener Mensch, doch manche erschreckte es manchmal. Er blickte mich ungläubig an. »Wirklich!«, hauchte ich leicht bedröppelt, was ihn wieder amüsierte. »Obwohl ich vielleicht morgen Muskelverspannungen im Nacken haben werde.« Davon musste ich selbst kichern.

Edwin rutschte am Auto mit den Füßen etwas runter und blieb dann lächelnd auf Höhe meines Gesichts. »Ist es so besser?«

Ich sah jetzt grinsend direkt in seine Schokoaugen und nickte nur, weil mein Herz wieder Purzelbäume schlug. Wir näherten uns einander und wieder spürte ich seinen Atem ganz dicht an meinem Gesicht. Noch ein paar Zentimeter und ich schmecke endlich seine rosa Lippen …

»Na, was ist? Was machen wir noch?«, lenkte mich wieder Roberts hupende Stimme ab. Dich erschlagen!

Doch ich merkte, dass er Edwin dadurch nicht abgelenkt hatte und seine Lippen sanft meine berührten. Meine Sinne waren völlig benebelt, als ein süßer Geschmack in meinem Mund zerfloss und seine Zunge zärtlich meine liebkoste. Edwin umschloss mich fester mit seinen Händen und der Kuss vertiefte sich so, dass ich mich ganz in ihm verlor. Es war unglaublich, so herrlich, er war einfach unwiderstehlich. Das war sein echter Kuss und der war der helle Wahnsinn.

Edwin streichelte mit seinen Fingern sanft über meine Wange und hörte langsam auf. Noch mehr! Beinahe japsend nach Luft, atmete ich ein und aus. Er lächelte mich an und drückte mich wieder an sich, sodass ich meinen Kopf zu ihm auf die Schulter legte und meinen Körper an ihn schmiegte, damit ich seine Wärme noch mehr spüren konnte.

Ich erinnerte mich plötzlich an die verfluchte Uhrzeit, denn die Wolken wurden allmählich rostiger. Es war wirklich bald so weit, uns zu trennen. Ich wollte aber noch gar nicht. Ich wollte hier mit ihm in seiner Umarmung und in seiner Nähe bleiben. Nur mit ihm! Was wäre, wenn wir uns lange nicht sehen würden. Mir huschte ein Zittern über den Körper.

»Ist dir kalt?«, fragte Edwin mich.

»Ein bisschen. Ich ziehe lieber doch meine Jacke an.«

Ich ging sie holen und nahm sie aus dem Auto, wobei mein Portemonnaie aus der Tasche rutschte. Robert schnappte es sich sofort. Mensch, ich dachte, das ist nur bei den Mädchen so eine blöde Angewohnheit, darin herumzuwühlen … Und der tut das jetzt auch noch.

»Da findest du sowieso nichts Interessantes drin«, sagte ich zu Robert, während ich meine Lederjacke anzog.

»Tja, bei euch Schülern ist ja auch nie Geld da!«, gluckste er.

»Hat wer gesagt? Ich habe zwar nicht viel, aber etwas schon.«

»Woher denn? Von Papi und Mami?«, meinte Robert sarkastisch.

»Ich arbeite für mein Geld! Und du?«, gab ich zurück.

Edwin schaute mich neugierig an und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Wo arbeitest du?«

»In einem Blumenladen. Ich verdiene zwar nicht viel, aber fürs Taschengeld reicht’s.«

»Aber du bist doch noch keine sechzehn«, brachte Edwin verblüfft hervor.

»Ich war selbst überrascht, dass der Chef mich eingestellt hat. Ich wollte so gerne diese Jacke. Also kam ich rein, fragte ihn und er stellte mich ein – wie ein Schülerjob oder so ähnlich halt.« Edwin lächelte mich so an, als würde er noch mehr Bewunderung verspüren.

Robert lachte laut auf. »Guckt mal. Sie hat hier geile Mädels drinnen«, rief er und fing an, die Fotos meiner Cousine und von Violetta herumzuzeigen.

Ich entriss ihm die Fotos. Wie ich solche Deppen hasse, die die Worte wie ›geile Mädels‹ benutzen. »Was bist du eigentlich für einer? Ein wahnsinniger Freak?«, schnaubte ich und die anderen kicherten.

»Und was ist das?« Er holte ein kleines Päckchen heraus, in dem ein parfümiertes Tuch als Probe lag.

»Parfüm!«, antwortete ich trocken.

»Ach so, ich dachte schon ein Gummi«, grunzte er lachend.

Hastig nahm ich ihm alles ab und schnauzte ihn an. »Perversling!« Und alle lachten los.

Ich drehte mich zu Edwin um, der den Kopf schüttelte und vor innerlichem Lachen zitterte. Automatisch musste ich selbst lächeln, ging auf ihn zu und er öffnete schon seine Arme für mich. Ich rutschte gleich in seine Umarmung hinein, in der er mich fester an sich drückte und mich dabei auf die Haare küsste. Doch lachte leise wieder.

»Du lachst jetzt über mich, was?«, fragte ich ihn an seiner Brust und schaute zu ihm auf.

»Nein … Na, doch, irgendwie schon«, stotterte er breit lächelnd. »Wie du ihm Contra gegeben hast … eigentlich eher, wie du es gesagt hast.« Er zitterte wieder vor Lachen.

Ich legte meinen Kopf zu ihm auf die Brust. Herrlich. Es war so schön, sein Lachen zu hören und in seinen Armen zu sein. Ich hörte, wie sein Herz schlug, und schmunzelte. Es war genauso unregelmäßig wie meins und traf nicht wirklich den Takt. Er war aufgeregt, so wie ich durch ihn aufgeregt war. Alles schrie förmlich nach ihm und es fühlte sich einfach nur schön an.

Edwin atmete tief durch. »Du musst bald nach Hause, nicht wahr?«, fragte er leise, und ich hörte seine Stimme auch in seiner Brust.

Mein Magen zog sich prompt zusammen. Ich wollte es nicht, ich wollte ihn nicht loslassen. Auf einmal erinnerte ich mich an etwas ganz Wichtiges und versuchte dieses Wort nicht herauszuschreien. »Telefonnummer!«, drang es aus mir heraus.

Edwin ließ mich lächelnd los, kletterte kurz ins Auto und kam mit einem Zettel und einem Stift wieder heraus. »Sag mir deine Nummer. Ich rufe dich dann an.«

Ohne lange zu fackeln, nannte ich ihm meine Festnetznummer und er packte alles weg. Meine Augen wurden groß. »Und deine!«, forderte ich von ihm.

»Ich bin der Mann, ich werde dich anrufen.«

Meine Unterlippe sank etwas nach unten. »Was ist das denn für ein bescheuerter Unsinn!«, brummte ich mit zusammengekniffenen Augenbrauen, woraufhin er leise lachte.

»Wenn wir die neue Nummer im Haus bekommen, gebe ich sie dir sofort.« Er umarmte mich und küsste mich kurz auf die Lippen. Schon überredet

Bald stiegen wir ins Auto, um nach Hause zu fahren. Auf dem Weg kam so ein bedrückendes Gefühl auf, so etwas wie Kummer, aber zum ersten Mal empfand ich dieses das so anders, als ich es sonst kannte. In schaute ihn durchdringend an und genoss die letzten zehn Minuten. Ich hoffte, dass ich ihn sehr bald wiedersehen konnte. Eigentlich fing die neue Woche morgen an, die Chancen standen schlecht. Vielleicht würden wir uns erst am nächsten Wochenende wiedersehen. Mann, ist das bitter.

Wir kamen in meiner Wohngegend an und Edwin begleitete mich noch bis zur Haustür. Diesmal, Gott sei Dank, ohne meinen Vater.

»Du, wegen gestern«, fing ich an. »Ich wusste wirklich nicht … na, dass mein Papa hier sein würde.«

Er lächelte. »Das macht doch überhaupt nichts.«

»Ja, klar …«, ich rollte mit den Augen, »… überhaupt nichts. Da lernst du ein Mädchen kennen und nach einer Stunde auch gleich den Vater dazu … Echt amüsant!«

»Ja, echt amüsant!« Er drückte mich an sich und wir blickten uns tief in die Augen. »Du bist amüsant!«, sagte er schmunzelnd. Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht. Meine Lippen zauberten sofort ein zufriedenes Lächeln.

Jetzt waren wir endlich alleine. Ich versank wieder in seinen schokoladenbraunen Augen. Die Berührung seiner Lippen nahm mir den Atem, unsere Zungen trafen sich und er verschlang mich in seinem wahnsinnigen Kuss. Wir hörten zärtlich auf und ich schnappte leicht nach Luft.

»Wann sehen wir uns?«, fragte ich bedrückt.

»Das kann ich leider nicht sagen. Ich glaube nicht, dass wir uns in dieser Woche sehen können.« Er streichelte mir mit seinen Fingerspitzen über das Gesicht, was an dieser Stelle ein leichtes Kribbeln hinterließ. »Ich versuche es, aber ich kann dir nichts versprechen. Okay?«

Ich nickte wohlwollend und er nahm mein Gesicht in seine Hände, küsste mich dann sehr berauschend und feinfühlig. Tja, das ist wohl der Abschiedskuss! Und was für einer …

Edwin hörte auf und atmete tief aus. Jetzt sah ich, dass es ihm auch nicht leichtfiel, mich loszulassen.

»Ich rufe dich morgen an.« Seine Stimme war sehr sanft, was mich innerlich aufwühlte, und ich nickte. Er ließ mich zögerlich los. »Tschüss«, sagte er schmunzelnd und fing an, rückwärts zu gehen.

»Tschüss«, antwortete ich und betrat das Haus, während er sich dann umdrehte und zum Parkplatz lief.

Ich schaffte es kaum, noch meine Füße zum Fahrstuhl zu schleppen und nach oben zu gehen. Meine Empfindungen standen kopf und ich fühlte mich wie berauscht.

Einzuschlafen war nicht möglich. Ständig hatte ich Edwins Schokoaugen vor mir und seine himmlische Stimme. All das drehte sich ständig in meinem Kopf und ich ließ unsere Gespräche im Geist nochmals ablaufen, immer und immer wieder. Ich hoffte sehr, dass wir uns so schnell wie möglich wiedersehen würden.


Am nächsten Morgen hätte ich beinahe die Schule verschlafen. Ohne zu frühstücken, zog ich nur das an, was mir im Schrank als Erstes in die Hände fiel, und stürmte los.

Vom Unterricht bekam ich so wenig mit, dass ich mich ernsthaft anstrengen musste, um mich zu konzentrieren. Aber was ich auch anstellte, ich hatte immer nur Edwin im Kopf.

Der Tag zog sich wie Kaugummi in die Länge. Ich wollte, dass es schnell Abend wurde und ich mit Edwin telefonieren konnte oder er sogar noch vorbeikommen würde. Doch zu Hause wollten die Uhrzeiger sich überhaupt nicht mehr bewegen, und in diesem Zustand sollte ich auch noch Hausaufgaben machen – das war nicht nur unerträglich, sondern auch unmöglich. Aber all das, worauf ich wartete, blieb aus – sein Telefonanruf und Edwin selbst.

Irgendwann nach sieben Uhr abends zerriss mich die Traurigkeit auf eine dermaßen schreckliche Art und Weise, dass ich schon einen dicken Kloß im Halse hatte. An nichts konnte ich mehr denken außer Edwins Gestalt, seinem Namen, seine Stimme und seinen Augen. Mein ganzer Körper krampfte sich wie irre zusammen und es verlangte mich so sehr nach ihm. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass man sich so sehr in einen Menschen verfangen konnte und sich so nach ihm sehnen, obwohl man ihn nur zweimal gesehen hatte.

Als das Telefon in der Wohnung klingelte, lief ich stürmisch los und nahm ab.

»Hi Elli, kannst du noch rauskommen? Ich bin in einer halben Stunde bei dir.« Edwins Stimme, die mich augenblicklich erwärmte, klang aufgeregt.

Mein Inneres wallte sofort vor Freude auf. »Warte, ich frage mal kurz meine Eltern«, sagte ich, hielt den Hörer mit meiner Hand zu und drehte mich zu ihnen um. »Mama, Edwin kommt gleich. Kann ich noch rausgehen?«

»Nein«, schnitt mir Mama beinahe das Wort ab und alles, was innerlich so geflattert hatte, stürzte abrupt in sich zusammen.

»Mum, biiittee!«, krächzte ich bettelnd.

»Nein, habe ich gesagt. Du hast morgen Schule! Und es ist schon fast acht Uhr, deine Zeit ist eh abgelaufen«, meinte sie, ohne mich anzuschauen. Ich atmete tief durch. Aller guten Dinge sind drei, sagte meine Oma immer.

»Mama, wenigstens für eine halbe Stunde. Bitte!«, versuchte ich es noch einmal und meine Stimme zitterte bereits.

Sie sah zu mir auf. »Nein! Das Gespräch ist damit beendet!«, erhob sie ihre Stimme.

Ich drehte mich um, atmete tief durch und nahm den Hörer ans Ohr. »Edwin, ich kann nicht.« Ich hörte nur, wie er tief durchatmete. »Mama lässt mich nicht mehr. Entschuldige bitte.«

»Entschuldige dich bloß nicht«, erwiderte er ruhig.

Tja, Edwin, jetzt bereust du es wohl, eine Fünfzehnjährige als Freundin zu haben, der die Eltern vorschreiben, wann sie rausgehen darf.

»Dann rufe ich dich morgen einfach früher an. Das war für mich auch nicht leicht, mich bei meinem Vater durchzusetzen, um wegzufahren. Wahrscheinlich ist es besser, dass wir einfach jeden Tag telefonieren«, sagte er sanft. Ich lächelte in den Hörer. »Und machen wir uns einfach keine großen Hoffnungen, ob und wann wir uns sehen. Am Wochenende klappt es auf jeden Fall. Machen wir es so, okay?«

Ich stellte mir vor, wie er in den Hörer lächelte. Seine Stimme zu hören, war wie der Himmel auf Erden. Ich will mehr davon!

»Okay … Wie war dein Tag?«, fragte ich beruhigt, aber mit Kummer in der Stimme.

»Nichts Besonderes. Ich stand unter Spannung«, hörte ich ihn leise lachen und ich kicherte mit.

Edwin fing mir etwas mehr von seinen Erlebnissen zu erzählen, wie er zu den Kunden gefahren war und auch, was er dort im Einzelnen zu reparieren hatte. Ich verstand nicht wirklich viel davon – lag vermutlich daran, dass in mir nicht das männliche Blut floss, was dieser Techniksprache mächtig war. Aber ich hörte ihm zu, machte dabei die Augen zu und stellte mir vor, wie er neben mir saß und erzählte. Und dieses Gefühl genoss ich. Wie schön wäre es, die Augen aufzumachen und ihn zu küssen, aber … ich würde nur den kalten Kunststoff des Hörers berühren. Ich atmete tief durch und Edwin bekam das mit.

»Na, langweilt es dich, mir zuzuhören?« Ich hörte ihn leise lachen.

»Nein, überhaupt nicht. Tut mir leid … Nur, ich«, stotterte ich. Kann ich ihm das eigentlich schon sagen? Ich riskiere es einfach. »Ich möchte … bei dir sein.« Stille.

Dann hörte ich ihn wieder. »Ich wünsche mir das auch. Aber es macht nichts, wir sehen uns ja bald … Denk nicht daran, dass es erst Montag ist, sondern schon und dass wir uns bald wiedersehen«, sagte er liebevoll.

Ich schmunzelte. »Ich versuche es.«

»Und wie war dein Tag?«, wollte er wissen.

»Na ja, Schule ist halt Schule. Ich habe Hausaufgaben gemacht, dann auf deinen Anruf gewartet«, antwortete ich gelangweilt. Na, von meinen strapazierten Nerven und wie sehr ich darauf gewartet hatte, ihn zu hören, erzähle ich lieber nichts.

»Und hier bin ich schon«, sagte er lachend.

»Jaaa«, hauchte ich verträumt und einen kurzen Moment herrschte Stille. »Edwin?«

»Ja.«

»Bist du noch da?«

«Ja.« Er begann zu lachen und atmete dann stöhnend aus. »Christoph verpasst mir schon Tritte in den Hintern«, und ich hörte Christophs Brummen im Hintergrund. »Er will Anja anrufen.«

»Oh, dann müssen wir wohl Schluss machen«, sagte ich traurig.

»Tja, müssen wir wohl«, antwortete er leise. »Mann, gleich!«, fuhr er seinen Bruder an.

Ich biss mir lächelnd auf die Lippen, weil ich nicht auflegen wollte. »Na los, legen wir auf. Ich brauche dich lebendig wieder.«

Edwin lachte. »Okay … Mach‘s gut, ich rufe dich morgen an!«

»Gut, ich werde warten … Tschüss.«

»Tschüss, Elli.«

Ich atmete durch, nahm vorsichtig den Hörer vom Ohr, und als ich meinen Namen noch mal hörte, hielt ich ihn wieder hoch. »Ja!«, rief ich hinein.

»Ich … vermisse dich.«

Mein Herz ließ einen Schlag aus, doch dann schmolz ich dahin. Ein erfreutes Lächeln legte sich auf meine Lippen. »Ich vermisse dich auch«, bekannte ich mich verlegen, und wir verabschiedeten uns erneut, nur diesmal legte er wirklich auf. Ich seufzte leise in das ›Tuuut‹ der Leitung und legte den Hörer auf die Gabel. Mann, ich konnte ihm jetzt schon sagen, dass ich mich in ihn verliebt habe …

Ich drehte mich um und sah Mama auf dem Sofa sitzen. Danke Mama! Sie schaute zu mir hoch, als wäre nichts gewesen. Mich überkam die Wut. Ich erdolchte sie mit meinem Blick, ging stampfend wie ein Elefant in mein Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu.


Ein Hauch von Sehnsucht


Edwin füllte alle meine Gedanken und Träume aus. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als nur an ihn. Doch uns täglich sehen konnten wir nicht, noch nicht einmal jedes Wochenende. Obwohl er mich jeden Tag anrief. Das half mir nur, um mich für diese eine Stunde am Abend wieder glücklich zu fühlen, in der ich mit ihm zusammen sein durfte. Nach seinem Besuch verschlang mich sofort wieder die Sehnsucht nach ihm. Es war unerträglich. Besonders schlimm war es, als wir uns zwei Wochen lang nicht sehen konnten. Mal ließ sein Vater ihn nicht vom Bau oder mich meine Mutter nicht, weil es zu spät war. Je mehr er mir fehlte, desto mehr verliebte ich mich in ihn. Edwin schenkte mir so viel Freude, dass man danach süchtig werden konnte, so sehr, dass es schon seelisch wehtat. Der Kummer war schon so groß, um mich auseinanderzureißen. Es zog meine Gefühle weit nach unten bis zum Boden und ich schleppte diese Last wie ein tonnenschweres Gewicht mit mir herum.

Und dann sahen wir uns wieder. Wir wollten uns den ganzen Abend nicht loslassen. Spazierten Arm in Arm durch die Gegend, blieben stehen, um uns sinnlich zu küssen und zu umschlingen, gingen dann wieder weiter und redeten über alles Mögliche. Wir hatten nur diese zwei Stunden an einem einzigen Tag, bevor dann wieder eine lange Woche vor uns lag …


April 1998


Unser Kuss endete und ich schmeckte die Bitterkeit. Das war unser Abschiedskuss, ich erkannte ihn bereits. Noch auf die Schnelle merkte ich mir jedes Detail an Edwins Gesicht und atmete seinen Duft ein, als würde mir das helfen, die Woche zu überstehen. In meine Augen standen verräterische Tränen nahe, und bevor er sie sah, zog ich ihn zu mir herunter und küsste ihn so lange, bis sie verschwunden waren. Ich wollte ihn nicht loslassen und klammerte mich fest an ihn. Da er mich immer fester in seinen Armen zu sich drückte, bemerkte ich, dass er mich auch noch nicht verlassen wollte. Dann wurde seine Umarmung lockerer.

»Mach die Augen zu«, bat er mich flüsternd.

Ich zögerte etwas. Edwin nickte mir zu, so nach dem Motto: Tu es schon! Also schloss ich die Lider. Er nahm meine Haare, die er über meine linke Schulter strich, und etwas Kaltes legte sich um meinen Hals.

Ich spannte mich sofort an und hauchte: »Was ist das?« Gerade so hielt ich trotz der Aufregung noch die Augen zu.

»Ein kleines Geschenk. Mach deine Augen auf, dann siehst du, was es ist«, raunte er in mein Ohr, sodass ich ein Kribbeln in meinem Bauch spüren konnte.

Als ich die Augen öffnete, sah ich direkt Edwins lächelndes Gesicht vor mir. Mit meinen Fingern berührte ich die Kette und schaute sie mir genauer an. Sie war mit einem Anhänger verziert, der die Form eines kleinen Perlentropfens besaß. Er sah bezaubernd aus. Wir kennen uns doch noch gar nicht so lange und er schenkt mir schon etwas? Aber ich freute mich natürlich, weil das für mich ein Zeichen war, dass er mich auch liebte. Mit erstaunten Augen schaute ich Edwin an.

»Gefällt’s dir?«, schnurrte er.

Ob es mir gefällt? … Natürlich! Mir würde alles von ihm gefallen, sogar ein verwelktes Blatt würde ich im Buch austrocknen und es atemlos und immerzu betrachten.

»Sehr. Danke!« Ich warf mich ihm um den Hals und küsste ihn. Jetzt hatte ich ein Andenken an ihn, wodurch ich mich ihm noch näher fühlte.

Der unglaublich lange Kuss ging erneut zu Ende und wir verabschieden uns wieder für eine sehr lange Woche.

Zu Hause lief ich mit einem knappen »Hallo« an meinen Eltern vorbei ins Badezimmer. Ich betrachtete mir die Kette im Spiegel und zuckte zusammen, als ich mein Gesicht bemerkte. Oh Gott, wie sehe ich aus?! Unter meinen Augen hatte ich verschmierte Tusche und von den wahnsinnig heißen Küssen krebsrote Wangen. Ich erfrischte mein Gesicht mit kaltem Wasser, putzte mir auch gleich die Zähne und ging in mein Zimmer.

Nachdem ich meine Schulsachen zusammengepackt und im Schrank die Kleidung für morgen herausgesucht hatte, zog ich mich in mein Nachthemd um und lief ins Wohnzimmer, um den Eltern eine »Gute Nacht« zu wünschen. Das Gleiche wünschten sie auch mir und waren erstaunt darüber, dass ich so früh ins Bett gehen wollte.

Aber ich konnte es nicht erwarten, dass der nächste Tag endlich beginnen würde, obwohl ich wusste, dass ich Edwin erst in einer Woche wiedersehen würde, aber ich würde ihn morgen am Telefon hören. Also, je schneller der Tag kommt, umso schneller höre ich wieder Edwins umwerfende Stimme.


Ich wachte mit den Erinnerungen an Edwin auf. Stöhnend presste ich mein Gesicht in die Kissen. Oh Maaann, heute ist erst Montag. Ich roch noch seinen Duft vom gestrigen Abend in meinen Haaren und sonnte mich in der Phantasie, dass ich neben Edwin liegen und ihn küssen würde.

Oh, nein … das wird ja nur noch schlimmer bei diesen Vorstellungen. Genüsslich streckte ich mich im Bett aus und sprang auf. Nein, heute ist schon Montag, erinnerte ich mich an seine Worte. Noch vier Tage und ich kann wieder in seinen Armen sein.

Als ich auf die Uhr schaute, bemerkte ich, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb. Ich zog mich an, putzte mir die Zähne, stylte meine Haare und beeilte mich, in die Küche zu kommen. Ich übergoss meine Kelloggs Smacks mit Milch, die ich dann rasch herunterschluckte, nahm meine Tasche, zog meine Reeboks an und stürmte aus der Wohnung.

In den Schulpausen versuchte ich mich mit meinen Freunden abzulenken, aber selbst ihnen konnte ich kaum so richtig zuhören. Immer und immer wieder tauchte ich in meine Vorstellungen mit Edwin ab.

Nach der Schule trafen sich alle meine Freunde wie immer unten am Schulhof, um zu besprechen, was sie heute Abend unternehmen würden. Ich beeilte mich aber, nach Hause zu kommen, und wartete jetzt schon ungeduldig auf Edwins Anruf. Ich machte mir das Rote-Bete-Borschtsch von gestern warm und setzte mich nach dem Essen an meine Hausaufgaben.

Was? Gerade mal zwei Stunden vergangen? Die Zeit wollte wieder überhaupt nicht vorwärts laufen. Das war so was von ungerecht, gestern waren die zwei Stunden mit rasanter Geschwindigkeit verflogen … Und heute?

Gelangweilt setzte ich mich vor den Fernseher und klackerte lustlos an den Knöpfen der Fernbedienung herum. Nach einer halben Stunde schaltete ich das Gerät dann genervt wieder aus.

Die Ungeduld machte mich fast wahnsinnig und ich ging von einem Zimmer in das andere, zählte die Quadrate auf dem Teppich im Wohnzimmer, schaute alle meine gemalten Bilder durch und spitzte meine Buntstifte an. Dabei fiel mir auf, dass ich immer mehr Farben hatte. Ich wollte so viele verschiedene Farbtöne wie möglich haben. Wenn ich eine entdeckte, die ich noch nicht hatte, kaufte ich mir diese sofort. Ich schaute wieder auf die Uhr – weitere zwei Stunden waren vergangen. Scheiße!

Ich wärmte das Essen noch mal auf, denn bald kam meine Mutter von der Arbeit und eine halbe Stunde später dann auch mein Vater. Ich schlürfte die Suppe mit ihnen und quatschte, bis noch eine Stunde verging. Das Telefon klingelte endlich und ich lief los.

»Hallo!«, rief ich auf glühenden Kohlen in den Hörer.

»Guten Tag, mein Engelchen.«

»Tag, Opa«, antwortete ich freundlich, obwohl ich innerlich enttäuscht war.

Opa fragte, wie es mir ging, und als ich ihm alles erzählt hatte, gab ich den Hörer an Mama ab.

Verzweifelt ging ich zurück in mein Zimmer und warf mich wie ein Sack auf mein Sofa. Ich wartete weiter auf Edwins Anruf und studierte währenddessen das Muster meiner Tapeten.

Wieder klingelte das Telefon und ich sprang auf. Doch diesmal nahm Mutter ab, während ich noch durch das Wohnzimmer rannte. Papa schaffte es noch, mir hinterherzurufen: »Bring dich nicht um!«, als ich Mama schon den Hörer aus der Hand riss, den sie mir entgegenstreckte.

»Hallo«, sagte ich und verschwand mit dem Telefon um die Ecke.

»Hi Elli«, erwärmte mich die allerliebste Stimme der Welt. »Wie geht`s?«

»Hi, gut«, sagte ich freudestrahlend. »Jetzt aber noch besser … Ich konnte es nicht erwarten, dich zu hören.«

»Ich habe auch ungeduldig die Stunden gezählt, bis mein Arbeitstag endlich zu Ende ging und ich dich anrufen konnte. Ich bin nur so ins Haus gestürmt und gleich zum Telefon gerannt«, meinte er lachend. »Sogar meine Tasche liegt immer noch vor der Tür herum.« Ich schmolz bereits dahin.

Wir erzählten uns gegenseitig, was wir gemacht hatten. Ich berichtete ihm über die Schule und er mir über seine Arbeit; davon, dass eine Katze bei einem Kunden in den Fernseher gepinkelt und der Kunde erwartet hatte, dass er ihn reparieren würde.

Und wieder war eine Stunde so schnell vergangen.

»Wir müssen wohl wieder aufhören«, murrte Edwin in den Hörer. »Sonst werden mich meine Eltern aus dem Haus werfen, wenn sie die Telefonrechnung sehen.«

»Na, dann lass mich dich doch anrufen«, erwiderte ich munter.

»Nein. Ich bin dein Freund, ich rufe dich an.« Von seiner Sanftheit in der Stimme wurde mir wieder so warm ums Herz.

»Ich will mich nicht von dir verabschieden«, nuschelte ich und mir kamen wieder fast die Tränen. Manchmal hasse ich mich echt dafür, aber diese Sehnsucht ist nicht mehr auszuhalten.

»Ich will auch nicht«, sagte er traurig. »Ich rufe dich morgen noch mal an. Ich küsse dich.« Er schmatzte in den Hörer und ich musste lächeln.

»Ja … ich habe das schon gespürt.«

»Wie war denn mein Kuss?«, spielte er lachend mit.

»Sehr sanft, ganz süß und … echt lecker!« Ich schmatzte mit den Lippen. »Ich bin beeindruckt. Danke. Hier kommt meiner.« Ich schmatzte in den Hörer.

»Wow«, sagte er atemlos. Ich hielt unseren albernen Kitsch nicht mehr aus und lachte und Edwin fiel mit ein. »Tschüss, meine Liebe.« Oh Maaann, Edwin, meine Liebe, mir ist ohnehin schon zum Heulen zumute.

»Tschüss«, sagte ich mit zitternder Stimme, in der Hoffnung, dass er es nicht bemerken würde.

Ich hörte, dass er noch nicht aufgelegt hatte, und schluckte sofort meinen Kloß im Hals herunter.

»Edwin?«, hakte ich nach.

»Jaaaa«, erwiderte er langsam.

»Warum legst du nicht auf?«, wollte ich erstaunt wissen.

»Und warum legst du nicht auf?« Ich spürte sein Lächeln.

»Ich will noch nicht. Ich will noch deine Stimme hören.«

»Ich will das auch, und eigentlich noch mehr«, schnurrte er. »Aber, verdammt, es ist an der Zeit … Leg du zuerst auf.«

»Ach nein! Leg du zuerst auf!«

Und wir verzehrten uns fast an den Enden des Telefons. Nach einigem Hin und Her verabschiedeten wir uns doch und legten beide bei »drei« auf.

Mit gesenktem Kopf ging ich wieder in mein Zimmer und wollte schlafen gehen, damit der nächste Tag schneller kommen würde. Doch mit einem Blick zum Fenster bemerkte ich, dass es noch zu hell zum Schlafengehen war. Will dieser Tag denn nicht endlich enden?

Ich packte die Tasche für die Schule und öffnete den Schrank, um wieder die Kleidung für morgen herauszusuchen. Als ich nach dem braunen Shirt griff, fiel mir meine blaue Sporthose entgegen.

Das war gar nicht mal so schlechte Idee, etwas zu joggen … Das würde mich erstens von meinem Kummer ablenken und zweitens würde so die Zeit schneller vergehen.

Also zog ich die Hose an, die mir noch etwas zu groß war, und krempelte den Bund um, damit sie kürzer wurde. Trotzdem hing sie mir auf den Beckenknochen. Ich ging an meinen Eltern vorbei und sagte: »Ich gehe joggen.« Die beiden schauten sich gegenseitig ganz verdutzt an und ich ging meine Nikes anziehen.

Bis zum Stadion war es nicht weit, das lag gleich hinter der Schule und ich kam schnell dort an, aber ich küsste das Schloss der Tore. Macht nichts … Dann wollen wir uns mal an die Kindheit erinnern. Ich kletterte über den hohen Zaun, machte mich etwas warm und lief dann los.

Ich spürte wirklich, wie mein Kopf klarer wurde. Es war eine regelrechte Leichtigkeit. Ich lief nicht schnell, kam schon nach wenigen Minuten in einen gleichmäßigen Rhythmus, und brachte Runde für Runde hinter mich. Nach der fünften verließen mich dann allmählich die Kräfte. Aber meine Füße wollten noch weiterlaufen, als wollten sie gar nicht aufhören. Ich musste aber, denn man durfte nicht gleich so übertreiben. Deshalb blieb ich nach der sechsten Runde stehen, setzte mich auf die Bank und streckte die Beine von mir. So betrachtete ich schnaufend, wie sich am Himmel die Farbe Rosa mit hellblau vermischte. Wie wunderschön … vielleicht male ich das mal. Nach dem Ausruhen ging ich schnell nach Hause, bevor es acht wurde.

Als ich daheim ankam, saßen die Eltern immer noch da, wo sie vorher gesessen hatten. Ich ging in die Küche und stürzte erst einmal ein Glas Wasser herunter, dann schenkte ich mir noch eins ein.

»Du joggst?« Mama tauchte in der Küchentür auf, als ich das zweite Glas leer getrunken hatte, und ich nickte. »Seit wann denn?«

»Seit jetzt! Ich gehe in die Dusche und dann ins Bett.« Ich ging in Richtung meines Zimmers.

»Und die Hausaufgaben?«, fragte sie mir hinterher.

Aus der Tür schauend, flötete ich: »Sind schon erledigt!«

Nach der Dusche bekam ich die volle Ladung Müdigkeit und Schwere in meinem Körper zu spüren. Ich legte mich ins Bett mit der Gewissheit, dass ich wieder nicht pünktlich einschlafen würde, und stellte mir dabei Edwins Gesicht vor. Aber gerade als es in meinen Gedanken aufgetaucht war, fiel ich sofort in einen tiefen Schlaf, als wenn jemand einen Schalter betätigt hätte.


Morgens wachte ich unsanft auf.

»Autsch«, heulte ich, als ich mich wie jeden Morgen im Bett streckte. Ich glaube, ich habe mit dem Joggen doch etwas übertrieben.

Dennoch hielt es mich nicht davon ab weiterzumachen. Und so joggte ich an jedem Abend nach Edwins Anruf, um mich vom Kummer und meiner Sehnsucht nach ihm abzulenken. Zu Hause machte ich dann noch weiter mit Sit-ups, Liegestützen und Übungen für die Dehnung meiner Muskulatur. Das machte irre viel Spaß. Das Ganze hatte noch einen weiteren Vorteil – es wirkte wie ein Schlafmittel auf mich, ich schlief jede Nacht wie ein Murmeltier.

Ein Tag folgte dem anderen und einer war wie der andere. Wieder kam ein Wochenende. Wieder trieb der Teufel ein böses Spiel mit uns: Edwin und ich konnten uns nicht sehen. Und wieder mussten wir eine weitere quälende Woche überstehen.


Mai 1998


Am Freitag war der Erste Mai, ein Feiertag, den Edwins Vater voll zum Hausbau nutzen wollte. Auch am Samstag konnte Edwin nicht zu mir kommen. Endlich konnten wir uns am Sonntag sehen und das war wie ein Feiertag für mich.

Unser Abend verlief so wie die letzten; mit tiefen Gefühlen, Umarmungen und heißen Küssen, die in mir eine wahnsinnige Hitze auslösten.

Edwin wieder loszulassen war unerträglich und meine Tränen bemerkte er diesmal beim Abschied.

»Elli, ich bitte dich, weine nicht«, beruhigte er mich. Allein seine Stimme löste in mir eine Welle des Herzwehs aus, weil ich sie nun wieder nur am Telefon hören würde.

Ich nickte, wischte meine Wangen ab. »Ja, ja, entschuldige. Gleich ist es vorbei«, sagte ich schnell und zog mich zu ihm hoch, um ihn zu küssen.

Ohne lange zu fackeln, hielt er mich fest und ich spürte jeden seiner Finger an meinem Rücken. Er küsste mich umwerfend leidenschaftlich, sodass ich ein leichtes Stöhnen durch die Lippen nicht unterdrücken konnte. Seine Schokoaugen wurden traurig, als er sah, dass meine Tränen überhaupt nicht mehr versiegen wollten.

»Ich flehe dich an. Mich schmerzt es, dich so zu sehen«, schnurrte Edwin, nahm mein Gesicht in seine Hände und wischte mit dem Daumen die Tränen von meinen Wangen fort. Ich nickte nur und schniefte mit der Nase.

Nichtsdestotrotz mussten wir uns verabschieden. Die Sehnsucht übermannte mich völlig und ich hatte das Gefühl, dass ich gleich zu Staub zerfallen würde.

Einzuschlafen war wieder sehr schwierig und seine Augen verblassten nur langsam in der Dunkelheit meines Zimmers. Ich konnte das nicht mehr aushalten. Auch wenn ich Edwin selten sah, aber die Gefühle für ihn wuchsen mit jeder Stunde und mit jedem Mal, wenn wir uns trafen. Sie wurden immer stärker und stärker. Ich wusste nicht mehr weiter, wie ich die Woche überstehen sollte. Die Ablenkung durch den Sport bewirkte zwar viel, doch konnte ich meine Sehnsucht damit nur für diese kurze Zeit unterdrücken.


Am nächsten Samstag rief Edwin mich an und sagte mir, dass er vorbeikommen könnte. Ich jubelte und tanzte beinahe nach dem Auflegen des Hörers. Schnell zog ich mich an, wartete die halbe Stunde seiner Fahrt ungeduldig ab, bevor ich dann voller Vorfreude hinabging.

Doch als ich aus meinem Wohnhaus kam, war Edwin noch nicht da. Ich wartete, wartete und wartete … Er kam aber nicht. Was sind das denn für Späßchen? Das ist gar nicht witzig. Zwei Stunden stand ich nun schon draußen. Ich ging wieder nach Hause, denn meine Zeit war inzwischen schon abgelaufen. Vielleicht ließ ihn sein Vater doch nicht weg?

Verzweifelt und wütend auf die ganze Welt saß ich in meinem Zimmer. Halb neun kam dann ein Anruf, und meine Mutter rief mich zum Telefon.

»Hallo«, antwortete ich verbittert.

»Hi Elli. Tut mir leid, dass wir nicht kommen konnten«, sagte er in einem, mir noch unbekanntem Tonfall – traurig, angespannt – und man konnte eine unruhige Besorgnis heraushören.

»Ist etwas passiert?«, platzte es mir gleich heraus.

»Wir hatten einen Autounfall.«

Meine Augen fingen panisch an hin und her zu huschen. Zitternd suchte ich nach den passenden Worten.

»Bist du okay? Verletzt?«, sprach ich erschrocken.

»Nein, mir fehlt nichts. Alles gut«, beruhigte er mich, und ich stieß erleichtert die Luft aus. »Aber bei unserem Auto … ist die Front verzerrt«, sagte er, atmete durch und fuhr leise fort. »Wir sind in einen Wagen, der hinter einer Kurve liegen geblieben war, reingefahren … Mein Vater reißt sich schon vor Wut die Haare vom Kopf. Gleich wird er komplett kahl«, sprach er monoton, doch wirkte dann beim letzten Satz ein wenig amüsiert, was sich aber eher verzweifelt anhörte. Er seufzte schwer. »Schreit hier rum … Echt Scheiße … Und dich konnte ich auch nicht sehen … So ein Mist!«, brauste er leicht auf.

»Mach dir keine Sorgen«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen, obwohl ich einen Kloß im Hals hatte, den ich hart herunterschluckte und leise weitersprach: »Ich vermisse dich nur so sehr.«

»Ich weiß, Liebes … Ich vermisse dich auch sehr. Tut mir echt leid.«

»Es muss dir nicht leidtun, du bist nicht schuld«, erwiderte ich zitternd.

Verdammte Scheiße, was ist das für ein Teufel, der es immer wieder schafft, dass wir uns nicht sehen können. Dem hätte ich echt schon die Hörner abgebrochen. Ich schniefte mit der Nase.

»Weinst du etwa?«, wurde Edwin wachsam, fragte aber sanft.

»Mhh«, kam nur noch bei mir heraus. Ich gluckste und kämpfte mit den Tränen, versuchte, alles herunterzuschlucken. Doch es ging einfach nicht.

»Elli, Süße, bitte nicht, nicht weinen. Es ist mir auch schon so schwer genug, dich nicht sehen zu können«, bettelte er und sagte dann plötzlich etwas ernster: »Hörst du nicht auf, werde ich dich nicht mehr anrufen!«

Ich zuckte plötzlich zusammen und sammelte mich sofort. »Vorbei, vorbei, vorbei … Das war’s … Ich werde nicht mehr weinen!« Ich wischte ächzend meine Tränen ab. »Und schon weine ich nicht mehr.« Ich hörte, wie er leise lachte, während ich tief durchatmete. »Und nun?«

»Keine Ahnung … Zu dir zu fahren an diesen Tagen, kann ich jetzt wohl vergessen. Vater gibt mir sein Wagen jetzt bestimmt nicht mehr. Vielleicht lasse ich ihm etwas Zeit, damit er sich wieder beruhigt, und frage dann nächstes Wochenende noch mal.«

Wir redeten noch ein wenig und legten nach einer Stunde auf. Noch eine Woche! Das ist jetzt schon so was von unerträglich. Innerlich schrie ich. Mein Herz zog sich zusammen, ich wollte bei Edwin sein. Es quälte mich sehr.


Als die Woche endlich vorbei war, flitzte ich dieses Mal wirklich die Treppe hinunter zu Edwin. Aber als ich rauskam, verlangsamte ich erstaunt meinen Schritt. Was ist los mit ihm? Geht’s ihm noch schlecht wegen dem Unfall?

Edwin lächelte gezwungen und gab ein undefiniertes »Hallo« von sich. Hätte ich ihn nicht vor mir gesehen, hätte ich seine Stimme nicht erkannt. Er hatte einen anderen Blick als sonst, so als hätte die heiße Schokolade in seinen Augen sich abgekühlt.

Als ich ihm einen Kuss geben wollte, gab er mir nur einen Schmatzer. Schmatzer? Er nahm mich an der Hand und führte mich zu seinem Auto, so als würde er ein unartiges Kind zur Bestrafung hinter sich herziehen.

Wir setzten uns in seinen Wagen, dem jetzt die Stoßstange fehlte, und er blieb sitzen, ohne loszufahren. Mann, warum sagt er denn nichts, warum spielt er mit unserer Zeit? Wir hatten heute nur eine Stunde, saßen aber minutenlang nur rum und hörten, wie der Regen allmählich anfing, auf die Scheibe zu tropfen.

Ich hielt es nicht mehr aus und fragte ihn direkt: »Was ist los mit dir?«

Er sah zu mir rüber und in seinen Augen… – Scheiße, kein einziger Funke mehr zu sehen. Ich wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, doch meine Gemütsverfassung sank mit jeder Sekunde.

»Elli, die ganze Zeit habe ich … nur an uns gedacht«, sagte er leise und senkte den Blick.

»Ich auch!«, antwortete ich irritiert.

»Aber das alles befriedigt mich nicht …«, er blickte mich wieder an, »dass wir uns so selten sehen.«

»Mich auch nicht, aber wir können doch nichts machen«, erwiderte ich unsicher und biss mir nervös auf die Unterlippe, weil er mir immer seltsamer vorkam.

Edwin wandte sich wieder ab und ich zupfte vor lauter Nervosität am Saum meiner Jacke.

»Das geht so nicht weiter!«, meinte er in Richtung der Frontscheibe und fing an das Lenkrad hin- und herzudrehen.

Mein Herz blieb beinahe stehen. Ich begann zu zittern und mir wurde mulmig, weil ich nun meine Ahnung bestätigt sah, worauf er hinauswollte.

»Und was schlägst du vor? Trennung?« Meine Stimme war selbst für mich erschreckend ruhig. Meine Brust drückte plötzlich.

Sekundenlange Stille folgte, die mich fertigzumachen begann.

»Weiß ich nicht«, wisperte er.

Mir sank die Unterlippe nach unten und ich schaute ihn mit großen ungläubigen Augen an.

»Es ist einfach … Ich kann nicht mehr, bin müde zu warten … zu dir zu fahren, immer nur für diese kurze Zeit. Ich quäle mich jedes Mal, mich von dir zu verabschieden … Dann weinst du, dir ist schlecht, mir tut das dann alles leid … Es tut weh, dich so sehen«, sprach er leise und sanft, ohne mich anzuschauen.

»Ich werde nicht mehr weinen!«, entfuhr es mir sofort. »Edwin, mir fällt es einfach schrecklich schwer ohne dich. Ich vermisse dich sehr. Aber ich verspreche, ich werde nicht mehr weinen.«

»Verdammt!«, schnaubte er verzweifelt.

Durch die Stille hörte man wieder das monotone Trommeln des Regens.

»Dann auch noch mein Vater«, sagte er und zog seine Augenbrauen so zusammen, dass sein düsterer Blick darunter fast verschwand. »›Sie ist zu jung für dich, lässt dich sowieso fallen und du vergeudest umsonst nicht nur deinen Sprit, sondern auch deine Zeit‹ … Ich habe seine Worte echt satt.«

Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da hörte, und starrte auf den Boden.

»Und jetzt noch der Unfall … Elli, ich kann nicht mehr.«

Seinen Blick spürte ich auf mir, aber ich hob meinen nicht mehr zu ihm an.

»Verstehst du mich?«

Seine Worte gingen mir noch durch den Kopf, während mein Magen rebellierte und sich verkrampfte.

»Ja, ich verstehe. Alles klar«, antwortete ich, während ich das Gefühl hatte, dass mir der Boden unter den Füßen schwand. »Dein Vater, der Unfall. Du kannst nicht mehr«, stammelte ich vor mich hin und blickte dann zu ihm. »Du willst die Trennung.«

Er zögerte, aber sein Blick sagte bereits alles, bevor er leicht nickte. Mein Herz zog sich zusammen. Ich fing an zu zittern, keine Ahnung, warum, ob vor Kälte, Enttäuschung oder meinem Ärger, die ich allesamt zu unterdrücken versucht hatte.

»Elli, versteh bitte, so wird es besser sein«, fing Edwin wieder an, während ich schon meine Wangenknochen vor Schmerz zusammenpresste. »Wenn es beim Bau etwas ruhiger wird, dann werde ich mehr Zeit haben«, besänftigte er.

Aha, der Bau … und ich dachte, der Vater bringt ihn von mir ab. Nach dem Bau wird er nicht mehr gegen mich sein? Irgendwie kam es mir vor, dass er das nur als Vorwand benutzte, um von mir loszukommen.

»Im Sommer, wenn wir uns noch wollen werden, können wir uns wieder sehen.«

Ich schielte ihn in diesem Wirrwarr an. Ich verstand einfach die Welt nicht mehr. »Also, du willst jetzt nicht? Aber im Sommer wird sich alles ändern? Da wird es plötzlich anders sein? Das verstehe ich nicht, Edwin. Wenn du mich nicht mehr liebst, wenn ich dir nicht mehr gefalle und du mich nicht mehr willst – dann sag es! Wozu das ganze Gequatsche?«, erhob ich meine Stimme.

»Elli, mach das doch nicht noch schlimmer, als es sowieso schon für mich ist …«, flehte er, aber ich unterbrach ihn.

»Dann werde ich es dir leicht machen!«, schnaubte ich und sprang wie der Blitz aus dem Auto, knallte die Tür hinter mir zu und begann loszulaufen. Er kam zwar aus dem Wagen, blieb aber an der Tür stehen und sah mir nach.

Ich wollte schneller gehen, aber als würden meine Füße das ablehnen, konnte ich sie nur hinter mir herschleifen. Der Nieselregen spritzte mir ins Gesicht und verwischte so meine dicken Tränen. An der Haustür hob ich noch einmal kurz meinen Blick.

Edwin stand immer noch an seinem Auto. Wahrscheinlich wartete er, bis ich reingegangen war, um sicherzugehen, dass mir nichts mehr passierte. Ich schloss die Tür auf, ging ins Treppenhaus und wartete auf den Fahrstuhl. Meinen Körper überfielen kleine Erschütterungen, mein Atem wurde ungleichmäßig und auf meiner Brust lastete ein bleischweres Gewicht.

Polternd ging ich in die Wohnung und dann sofort in mein Zimmer. Gut, dass meine Eltern heute zu einem Geburtstag eingeladen waren und das nicht mitbekamen. Ich setzte mich auf mein Sofa und meine Tränen fingen unglaublich stark und unablässig an zu fließen, sodass ich gar nicht mehr hinterherkam sie mir abzuwischen.

Schon bald legte ich mich ins Bett, bevor meine Eltern nach Hause kamen. Mir war bewusst, dass es keine angenehme Nacht werden würde. Edwins Gesichtsausdruck, seine Augen und seine Worte drehten sich immer wieder in meinem Kopf, während ich unaufhörlich nach einem Sinn suchte.

Verdammt, wie soll man das verstehen? Erst sagt er »Ich vermisse dich«, dann ist alles vorbei. Was soll man da denken? Jetzt würde er sicher ein älteres Mädchen finden, womöglich noch in seiner Stadt, das er jeden Tag sehen konnte, und mit ihr glücklich werden … und sein Vater auch. Das Atmen fiel mir sehr schwer und ging wieder und wieder in ein Schluchzen über. Mein Herz ersehnte ihn und rebellierte, ich konnte den Gedanken, dass es zwischen uns aus war, nicht akzeptieren. Aber was nützte es, erfolglos nach etwas zu verlangen, das man unmöglich bekommen konnte?


Die vergangene Nacht war einfach grässlich. Ich hatte sie fast komplett durchgeweint. Noch nie in meinem Leben hatte so viel Flüssigkeit meinen Körper verlassen. Und nach dem Aufwachen ging alles von vorne los.

Aus dem Zimmer rausgehen wollte ich überhaupt nicht. Irgendwie verliebte ich mich in meine vier Wände, wo ich mich in der Stille meiner Illusionen aufhalten konnte, in der Edwin die Hauptrolle spielte, und sie genoss. Manchmal schaute Mama nach mir, der ich auf ihre Frage, was passiert sei, mit »Es ist aus!« antwortete. Sie erinnerte mich an das Essen, doch ich lehnte alles ab. Es steckte mir ein derart großer Kloß im Hals, dass ich kein Essen herunterbekam. Ich hockte einfach nur da, bis es wieder Nacht wurde und ich Edwins Gesicht in meinen Erinnerungen immer und immer wieder heraufbeschwor.


Als ich vom Weckerklingeln aufwachte, verspürte ich sofort die höllischen Schmerzen in meiner Brustgegend. Die Augen öffneten sich kaum, wahrscheinlich waren sie von dem ganzen Heulen angeschwollen.

Meine Mutter kam in mein Zimmer und setzte sich neben mich.

»Elli, du kommst zu spät in die Schule.« Sie streichelte mich am Rücken.

»Keine Kraft«, brummte ich in mein Kissen.

»Los, los, steh auf. Die Schule darfst du nicht verpassen«, sagte sie sanft.

Mich mit den Händen abstützend, stand ich träge auf. Mein Körper schwankte noch, entweder davon, dass ich noch schläfrig war, oder vor Schwäche. Ich hatte nicht mal die Kraft, um mich zu strecken.

Ich holte mir etwas zum Anziehen aus dem Schrank. Scheißegal was und wie das aussieht, es spielt keine Rolle. Die morgendlichen Rituale erledigte ich wie automatisch. Mann, lieber gar nicht in den Spiegel gucken! Ohne meine Haare zu stylen, kämmte ich sie nur – schnell weg von meinem grässlichen Spiegelbild! –, nahm meine Schultasche, die verdammt schwer war und hinter mir über den Boden schleifte.

»Und frühstücken?«, rief meine Mutter mir zu, als ich an ihr vorbeischlich.

»Will nichts, Mama. Ich habe keine Zeit mehr dafür.«

Sie stand schon bei mir. »Elli, du hast an diesem Wochenende gar nichts gegessen!«, begehrte sie auf, lief schnell weg und kam mit einem Butterbrot und einem Apfel zurück. Ich zog meine Sneakers an, während sie mir dann die Sachen in die Tasche legte und streng sagte: »So darf man nicht hungern! Dass du mir das ja aufisst, auch wenn es dich Überwindung kostet!«

Seufzend nickte ihr zu, hängte mir meine Tasche über die Schulter und ging zur Schule.

Als ich dort ankam, waren die Flure bereits leer. Zum ersten Mal in meinem Leben verspätete ich mich zum Unterricht. Entschuldigend trat ich in meine Klasse und plumpste schmollend auf meinen Stuhl.

»Was ist los mit dir?«, flüsterte Violetta. »Mann oh Mann, du siehst ja schön aus«, warf sie mir ihre Ironie entgegen.

Ich rollte mit den Augen. »Ich danke dir für das Kompliment.«

»Hast du dich etwa mit Edwin gestritten?«

»Getrennt!«, brummte ich kaum hörbar, und sie sah mich verdutzt an. »Und ich möchte nicht darüber reden«, fügte ich noch flüsternd hinzu und schlug meinen Block mit dem Buch auf. Sie nickte und drehte sich wieder um.

Es war so, als wäre ich am Unterricht gar nicht da. Ich war versunken in meine eigene Welt, in die Welt, in der ich noch mit Edwin zusammen war, dort, wo ein unendlicher Frühling mit all seinen beflügelnden Gefühlen und seinen heiteren Farben herrschte. In der Realität hatte ich das Gefühl, dass meine Farben jedoch an Intensität verloren hatten. In den Pausen saß ich genauso abwesend da und um mich herum schien alles fade zu sein. Alles schwamm an mir wie in einem Zeitraffer vorbei. Obwohl alle Freunde so laut wie immer waren. Und nach der Schule floh ich wieder in die Stille meines Zimmers.


In diesem Rhythmus verging die gesamte Woche. Ich existierte nur noch. Es kam der nächste Samstagabend – und ich hätte mich eigentlich heute über den Besuch von Edwin gefreut. Aber puff, er war weg und … nichts davon war jetzt mehr wahr. Das Einzige, außer den Erinnerungen, was mir von ihm geblieben war, war seine Kette, an der ich ständig rumfummelte und die ich auch nicht mehr abnahm. Selbst beim Schlafen trug ich sie, obwohl sie mich nachts manchmal würgte.

Mutter rief mich zum Abendessen und ich setzte mich mit an den Tisch, starrte auf meine Spiralnudeln. Aber die strengen Blicke meiner Eltern zwangen mich, zu essen. Mit Müh und Not kaute ich an diesen Nudeln.

Ich erinnerte mich plötzlich an meinen Traum, den ich während der ersten Übernachtung bei meiner Oma hatte, in dem ich auf einen großen, schwarzhaarigen jungen Mann, mit einem weißen Pulli bekleidet, zulief. Ich konnte es damals nicht glauben, dass er wahr werden würde. Aber nun hatte ich einen schwarzhaarigen jungen Mann gehabt … Hatte! Jetzt war er verschwunden.

Mein Vater war mit dem Essen fertig und ging Fernsehen. Mama war ebenfalls fertig, machte sich aber noch einen Tee. Sie blieb weiter mit mir am Tisch sitzen, während ich mein Essen im Teller quälte und die Nudeln in eine Reihe sortierte.

»Elli, man darf nicht so den Mut verlieren«, begann sie und beobachtete mich dabei. »Guck mal, ihr wart nur zwei Monate zusammen –«

»Eineinhalb«, unterbrach ich sie krächzend, während ich in meinen Teller starrte.

Sie seufzte. »Na gut, eineinhalb Monate habt ihr euch getroffen –«

»Nein, wir haben uns nur vier Mal getroffen!«, unterbrach ich sie wieder. »Obwohl, das vierte Treffen war nicht wirklich …« Ich hielt inne und überlegte, was es war. »Ach, keine Ahnung, was das war«, brummte ich. »Heißt wohl – schnell in den Wind schießen, bevor man es bereuen würde.«

»Du trauerst hier schon so heftig, als ob ihr eine Ewigkeit zusammen wart. Denk mal daran, was wäre, wenn ihr zwei Jahre zusammen gewesen wäret.«

Ich stockte, sodass meine Gabel abrutschte und klappernd auf den Tisch fiel. Scheiße, daran zu denken, tut ja schon weh. Nervös nahm ich die Gabel wieder in die Hand und fing erneut mit dem Sortieren der Nudeln an.

»Weißt du, was hier noch an der Wand fehlt?« Ich schüttelte teilnahmslos den Kopf. »Ein Bild! … Vielleicht mit einer Fruchtschale oder so«, versuchte sie mich abzulenken. Es gelang ihr aber auch. »Wie heißen diese Bilder noch mal?« Als ob sie das nicht wüsste!

»Stillleben!«, hauchte ich.

»Ja, genau. Kannst du mir so eines malen?«

»Mit Aquarellfarben?«, fragte ich sie, um ihr zu zeigen, dass ihr ihr Ablenkungsmanöver gelang.

Sie nickte schmunzelnd. »Hast du dafür welche? Ich gebe dir auch das Geld für die Farben. Du kannst dir kaufen, was du brauchst«, sprach sie liebevoll.

Ich rang mir ein Lächeln ab, doch in dem Moment rutschte mir wieder die Gabel aus der Hand. Hastig nahm ich sie vom Tisch, warf sie in den Teller und schob ihn gnatzig von mir weg.

»Elli, deine Zeit wird noch kommen. Es wird noch viel Liebe für dich geben«, redete sie wieder auf mich ein.

Ich will aber keine andere Liebe, ich will Edwin! Und er will mich nicht, das hat er einfach mal so beschlossen.

»Du bist erst fünfzehn und führst dich so auf, als wärst du schon dreißig Jahre alt.«

Ich atmete tief durch. Eigentlich hat sie ja auch recht – das Leben geht schließlich weiter, auch ohne ihn. Doch kann es überhaupt ohne ihn weiterlaufen?

»Wann warst du mit Violetta das letzte Mal spazieren? Ruf sie doch an, geht mal raus, lenk dich etwas ab.« Sie streichelte mir über die Hand, stand auf, und als ich still blieb, ging sie aus der Küche.

Vi? Hat sie denn Zeit für mich? Vielleicht war das gar keine schlechte Idee. Mama hatte recht, ich musste versuchen, Edwin zu vergessen, indem ich mich vom Schmerz ablenkte.

Ich stand auf, legte meinen Teller in die Spüle und ging in mein Zimmer. Nachdem ich meinen Lieblingsrollkragenpulli aus grauer Wolle überzog, wollte ich gerade in den Flur, blieb jedoch vor dem Telefon stehen, denn ich wusste auch, dass Violetta selten zu Hause war, besonders an den Wochenenden.

Meine Mutter machte es sich auf dem Sofa gemütlich. »Hast du dich also doch entschieden, rauszugehen?«

»Ja.« Ich nahm den Hörer ab und wählte.

»Hallo?«, keuchte Violetta ins Telefon.

»Vi, hi«, versuchte ich meine Stimme aufzuhellen.

»Hi Elli. Na, bist wieder am Leben?« Sie lachte.

»Ja, so ungefähr. Was machst du gerade? Willst du vielleicht raus?«

»Ähh … ich kann gerade nicht«, antwortete sie und flüsterte. »Ich habe jemanden kennengelernt … Wir wollen wegfahren.«

»Schon gut, kein Problem.« Ich versuchte, locker zu wirken und kicherte, klang aber eher hysterisch.

»Elli, sei mir aber nicht böse … Geh doch selbst aus, in den Schulkeller. Auf dem Schulhof triffst du bestimmt jemanden aus unserer Clique.«

»Ich bin dir nicht böse. Es ist alles okay. Gut, ich will dich nicht aufhalten. Bis dann, wir sehen uns.«

Wir verabschiedeten uns und ich legte auf, blieb aber noch neben dem Telefon stehen. Keine Lust, alleine rauszugehen. Ich drehte mich um und schlich zurück in mein Zimmer. Meine Mutter schaute mich verdutzt an, als ich an ihr vorbeikam.

»Was ist jetzt?«

»Ich habe es mir anders überlegt!«, rief ich und machte die Tür meines Zimmers zu. Sie kam mir nicht nach, ließ mich einfach alleine. Ich will auch keinen sehen! Verärgert zog ich meinen Pulli aus, schleuderte ihn auf meinen Sessel und warf mich selbst auf das Sofa.

Nach einigen Minuten merkte ich, dass alles wieder hochkam. Mir schwoll wieder der Hals an und ich war den Tränen nah. Rasch sprang ich vom Sofa auf. Nein, so geht das nicht, ich will das nicht mehr! Ich muss was machen, ich muss mich selbst ablenken.

Augenblicklich holte ich meine Buntstifte heraus und fing an, diese erst mal auf dem Boden zu sortieren, wobei ich überlegte, was ich malen könnte. Mir kam ein Gedanke. Ich wusste, dass wir noch weiße Tapeten von der Renovierung übrig hatten, und ging in den Abstellraum, wo ich diese dann auch fand. Ich maß meine Wand ab. Wird schon passen, wenn ich zwei Bahnen zusammenklebe. Super! Das machte ich dann auch.

Den ganzen Abend, bis zwei Uhr nachts, malte ich auf dem Boden an meinem Bild. Mit dem Bleistift sah es schon echt klasse aus und morgen würde ich mit den Buntstiften anfangen. Denn so kam es momentan nach meiner inneren Welt: Trist, grau und ohne Leben … Farbe musste rein. Für mein Bild brauchte ich nur fünf Töne. Hellblau für die Bettwäsche, beige für die Haut, hellbraun bis braun für die Haare, hell bis dunkellila für die Unterwäsche und rot für die Lippen. Während meiner Arbeit vergaß ich nicht nur die Zeit, sondern auch die Gedanken an Edwin und schlief natürlich zur Abwechslung schnell ein.


Am nächsten Tag holte mich der Kummer zwar wieder ein, aber bevor es mich verschlingen konnte, machte ich mich an mein Bild und malte es aus. Ich wechselte zwischen verschiedenen Hellblautönen ab, verwischte die Kanten und setzte Schattierung nach Schattierung, bis mein Werk vollkommen war.

Als meine Hand schon zu müde zum Malen war, beschloss ich, joggen zu gehen. Ein paar Runden an der frischen Luft würden mir guttun. Ich zog mich also um und lief los.

Diesmal wollte ich überhaupt nicht aufhören. Mir schien, als ob ich mich beim Laufen ganz leicht füllte. Aber als sich nach zehn Runden der Himmel in rosa Farbe tunkte, blieb ich sofort stehen und betrachtete das Naturschauspiel. Die Sonne verabschiedete sich bis morgen und die Stadt bereitete sich langsam für die Dunkelheit vor. Und ich wache morgen auf und denke nicht mehr an Edwin! Er ist gegangen, die Sonne geht auch und morgen beginnt ein neuer Tag. Ein Tag voller Farben!


Montagmorgen fühlte ich mich wieder lebendiger und frühstückte sogar vergnüglich. Gelassen machte ich mich für die Schule fertig und es blieb sogar noch die Zeit, mein Bild an die Wand zu kleben. Anschließend betrachtete ich mein Werk.

Ich hatte das gemalt, was ich mir sehr wünschte, was aber nie mehr passieren würde. Die Frau, die auf dem Bild auf Edwins Bett lag, in Unterwäsche und mit von der Bettkante hängendem Kopf, war ich. Die Haare zerflossen am Boden und mein Körper rekelte sich auf der hellen Bettwäsche. Klar, so würden dadurch die Erinnerungen an ihn nicht schneller verblassen, denn ich vermisste ihn sehr. Aber es tat gut, etwas vollbracht zu haben und damit einen Schlussstrich für mich zu ziehen.

Ich legte mir meine Tasche über die Schulter und sprang sogar im Treppenhaus voller Freude die Treppe hinunter, las im Vorbeilaufen die Schriften und Graffitis an den Wänden, die ich ohnehin schon fast alle auswendig kannte.

Im Unterricht passte ich dieses Mal viel besser auf und machte auch wieder mit, denn ich war wieder voller Elan, mich in der Schule zu beweisen.


Ein Neuling


… kam in der nächsten Woche zu uns in die Schule, Albert. Wenn er nicht diese kleine, aber feine Rolle während meiner bevorstehenden Monate spielen würde, wäre er völlig unwichtig, noch an ihn denken zu müssen oder ihn in meiner Geschichte zu erwähnen.

Alle Mädchen waren einfach verrückt nach diesem Jungen mit seinem schwarzen welligen Haar und seinen meeresblauen Augen. Äußerlich war Albert sehr gut und mit bekannten Marken gekleidet. Er freundete sich mit dem rothaarigen Brillenträger Toni aus der Parallelklasse an, in die er nun auch ging, und beide wurden beste Freunde. Eigentlich freundete sich Albert mit allen sehr schnell an, die ich kannte. Mit seinem Charme und seinen Witzen konnte er jeden bei Laune halten und schaffte es auch noch, jedes Mädchen vollzuschwatzen. Fast allen hatte er bereits den Kopf verdreht und sie sprachen seinen Namen so rollend aus, als würden sie an ihm lecken wollen. Er mochte es, er genoss die ganze Aufmerksamkeit und natürlich schwärmte er davon, dass er nur mit dem Finger schnipsen musste, und die Mädchen flogen um ihn herum wie die summenden Bienen um den Honig. Auch Violetta taute in seiner Gegenwart auf wie Eis in der Sonne. Ihr Lächeln wurde immer breiter und sie sabbelte irgendeinen Blödsinn, Hauptsache, sie stand im Mittelpunkt und hielt ihn aufmerksam an ihrer Seite.

Und warum auch immer, er wollte auch mich in seine Flirt-Gesellschaft integrieren. Ohne mich, dachte ich damals. Für mich war er nur ein Macho. Er war mir einfach viel zu schmierig, viel zu pervers und primitiv und gab sich herausragender, als er war. Ich versuchte, seine Flirtattacken einfach zu ignorieren.


Der Deutschunterricht war zu Ende und alle Schüler gingen aus der Klasse. Ich sagte Violetta, dass sie nicht auf mich warten sollte, denn ich wollte noch mit Frau Meier reden.

Als ich sie ansprach, sah sie zu mir auf, während sie weiter ihre Tasche packte. »Ich wollte Sie etwas wegen Englischunterricht fragen. Kann ich vielleicht in Ihren Kurs wechseln?«

»Du?! Ähm … Was hast du denn momentan für eine Zensur im Englischförderunterricht?«

»Eine Zwei … Nur, wenn ich einen erweiterten Realschulabschluss bekommen will, muss ich ja zwei A-Kurse haben, deshalb möchte ich –«

»Ja, aber du schaffst das nicht, Elli«, brach sie mich kopfschüttelnd ab. »Ich kann dich höchstens in einen B-Kurs versetzen lassen.«

»Mit einem B bekomme ich aber den erweiterten Abschluss nicht und kann dann nicht aufs Gymnasium«, entgegnete ich.

»Richtig! Aber in A-Kurs gebe ich dir dann eine Fünf, und mit der bekommst du deinen erweiterten Realschulabschluss auch nicht.« Sie zuckte mit den Schultern, so nach dem Motto: Es ist einfach so, da lässt sich nichts machen, du bekommst ihn so oder so nicht. Blöde Kuh!

Ich atmete tief durch. »Dann möchte ich in der neunten Klasse in den B-Englischkurs versetzt werden«, forderte ich.

»Guuut«, brachte sie unzufrieden durch ihre Lippen. »Ich teile das an der Lehrerkonferenz mit.«

»Danke«, sagte ich.

In meinen Gedanken ging ich zum Kiosk. So eine hinterhältige, blöde, arrogante … mir fehlen echt die Worte. Na gut, mal sehen, erst mal kriege ich das hin. Das ist schon mal wieder ein Schritt nach vorn.

Am Kiosk kaufte ich einen Schokopudding und Bounty und ging zu Violetta in die Cafeteria. Obwohl ich diesen Naschkrams im Laden für ein Drittel des Preises bekam, liebte ich den Pudding irgendwie nur in der Schule zu essen. Ich setzte mich neben Violetta an den Tisch vor unserer Klasse. Mit ausgestreckten und überkreuzten Beinen hielt ich auch meine Arme vor der Brust verschränkt und schlürfte meinen Pudding mit einem Strohhalm. Das war momentan voll angesagt und schien so leckerer zu sein.

Wir sahen Albert mit Toni kommen und sofort fing Violetta an zu flüstern: »Wie findest du eigentlich Albert?«

Ich zog eine Fratze. »So ein perverser Clown … und schleimig wie ’ne Schnecke. Ich kann solche Typen echt nicht ab … Und dann noch seine ganze Angeberei. Würg!«

»Hast du gemerkt, wie er dich immer anschaut?«

Beim Gedanken daran, dass er etwas von mir wollen könnte, igelte ich mich ein. »Ich glaube, er flirtet mit mir einfach wie mit jeder anderen hier auch. Das ist nur eine Masche von ihm.« Sogar mehr als das, er befummelte sie, woraufhin sie wie kranke Gänse kicherten, anstatt ihn in die Schranken zu weisen.

»Sie kommen zu uns …«, flüsterte sie, »und wieder starrt er dich so an!« Ich zuckte gleichgültig mit der Schulter und schlürfte weiter meinen Pudding.

»Mmääädels!«, rief Albert. »Halli-Hallo … Hey Violetta.« Er schaute sie an, sie kicherte schon wie eine Kranke und rief entzückt »Hiiii«.

Oh mein Gott. Ich rollte mit den Augen. Allein wie er sprach, das klang so, als wollte er einen damit schon aufziehen.

Er setzte sich neben mich auf den Stuhl und löcherte mich mit seinem Blick. Ich zeigte ihm mein Desinteresse.

»Und was machen wir heute Abend, Mädels?«, fragte er und klatschte Violetta mit der Hand auf ihren Oberschenkel.

Sie wurde sogar verlegen. Daraufhin hob ich eine meiner Augenbrauen, was das jetzt bedeuten sollte.

»Und nun Elli!«, meinte er und hob die Hand, um mir einen Klaps auf meinen Schenkel zu geben.

Mein Körper reagierte sehr schnell. »Riskier es!«, spuckte ich aus und stieß mit meinem Fuß die Beine seines Stuhls weg. Er zog seine Hand zurück und ich fügte noch hinzu: »Das nächste Mal brate ich dir so eins über, dass du vom Stuhl fliegst.«

Er ließ zuerst die Unterlippe sinken und lachte dann schallend los. Ich stellte den Becher auf den Tisch.

»Ich glaube nicht, dass du dich danach noch amüsieren wirst«, merkte ich noch an.

Irritiert blinzelte er und Toni klopfte ihm grinsend ein paarmal auf die Schulter. »Du legst dich mit der Falschen an. Elli kann einem wirklich, ohne nachzudenken, eine knallen.« Toni wusste, dass ich einen Selbstverteidigungskurs machte. Dass Albert es bereits wusste, glaubte ich nicht.

Meine Mundwinkel zuckten nicht mal, denn mir war nicht nach Lachen zumute. Ich konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man so mit Mädchen umging, als wären sie bloß ein Stück Fleisch. Ich durchbohrte Albert mit meinem kalten Blick. Seiner veränderte sich aber, wurde ernster, und dann plötzlich irgendwie weicher und matter.

Für eine Sekunde erschien er mir sympathisch. Er sah wirklich gut aus, als ob er aus einer Modelagentur stammen würde … Doch sein Gehabe und seine Ausschweifungen beeindruckten mich überhaupt nicht. In seinem Gesicht tauchte wieder dieses Macho-Grinsen auf. Ich schnalzte mit der Zunge und senkte meinen Blick.

»Schau, Violetta, auf solche wie dich stehe ich ganz und gar nicht«, meinte er und deutete dann auf mich. »Aber auf solche Weiber wie sie stehe ich total!«

Bei Violetta klappte jetzt die Kinnlade runter und sie wandte gekränkt ihre Augen ab.

»Ich bin kein Weib!«, spuckte ich scharf aus. »Pass auf, was du sagst, du Tölpel!«

»Ach, na dann Jungfrau«, korrigierte sich Albert. »Seid ihr überhaupt noch Jungfrauen?« Er lachte noch mehr auf. Ich bedachte ihn mit meinem giftigsten Blick und er wandte sich an Violetta. »Also, du hast einen Freund nach dem anderen, du bist bestimmt keine Jungfrau mehr.« Violetta reagierte gar nicht mehr auf ihn und er drehte sich wieder zu mir. »Aber du!«

In mir bebte es. Das ist ja echt nicht zu fassen. Scheißkerl! Ich merkte wieder, wie sein Blick sich veränderte, wieder sah er mich anders an.

»Na, du bist echt nicht ohne, du gefällst mir irgendwie«, sagte er völlig unverfroren.

Wenn er sich dachte, dass er mit mir spielen konnte, dann hatte er sich geschnitten. »Du täuschst dich!«, knurrte ich.

Es läutete und er stand auf, kam zu mir und ich spannte mich wie ein Bogen an. Viel zu nah für mich!

»Ich irre mich nie in Mädchen!«, flüsterte er mir fast ins Ohr und wollte mich rasch küssen. Doch ich wich schnell aus, sodass er nur mein Mundwinkel traf.

Ich schubste ihn von mir weg. »Verdammter Idiot!«, schnaubte ich und wischte meinen Mund von seinem Kuss ab. Doch er grinste mich nur schelmisch an.

Da unser Lehrer kam, ging ich hinter Violetta zur Klasse. In meinem Rücken hörte ich noch ein Pfeifen und drehte mich um. Albert zwinkerte mir zu. Daraufhin rollte ich demonstrativ mit den Augen und verschwand in meine Klasse.

»Was war das denn?«, zischte Violetta, als wir Platz nahmen. »Auf solche wie dich stehe ich nicht«, äffte sie ihn flüsternd nach.

»Vi, vergiss diesen Idioten, lass das bloß nicht zu nah an dich ran«, nuschelte ich zurück.

»Das ist alles nur, weil ich dick bin!«, meinte sie schmollend.

»Ach, so ein Quatsch … Hör auf! Der ist es nicht wert. Und du bist überhaupt nicht dick!« Momentan war bei ihr der Wahnsinn ausgebrochen, dass sie sich für zu dick hielt, was ganz und gar nicht stimmte. Ich verstand Violetta auch nicht. Ja, es hatte sie gekränkt, aber wollte sie etwa, dass er auf sie scharf wäre? Sie hatte doch jetzt einen Freund, zwar, wie Albert andeutete, wieder mal einen neuen, aber sie hatte einen und sehnte sich dennoch bereits nach einem anderen?


Nach der Schule saß ich mit Freunden auf dem Schulhof, zu denen sich auch Albert gesellt hatte. Die warmen Sonnenstrahlen streichelten uns und luden dazu ein, an der frischen Luft zu verweilen und sich zu sonnen. Wir hatten wie immer laut gelacht und Geschichten erzählt. Irgendwann gingen die Ersten nach Hause.

Violetta stand schließlich auf und verabschiedete sich von mir. Stephen und German begleiteten sie. Ich erhob mich ebenfalls und wollte gehen, doch Albert hielt mich an der Hand fest. Ich wollte mich ihm entreißen, doch er ließ von sich aus schnell los.

»Bleib noch«, sagte er plötzlich so weich. Was mich dabei auch noch irritierte, war, dass sein Blick ernst war und sein Gesicht ganz anders wirkte, so als ob er irgendeine Maske abgelegt hätte. »Nur, wenn du willst, natürlich«, fügte er hinzu in so einem ruhigen Ton, wie ich es von ihm überhaupt noch nicht kannte.

Ich blieb sitzen, während er mich eindringlich musterte. Nach einer Weile hielt ich es nicht mehr aus. »Kannst du es bitte sein lassen.«

»Was?«

»Mich so anzugucken!«

»Ich finde nur deine Augen schön.«

Ja, das habe ich schon mal gehört.

»Ach komm schon. Das ist eine echt blöde Anmache! Und fallen viele Weiber darauf rein?«, stichelte ich.

Selbst sein Lächeln schien nicht mehr schmierig, sondern auf einmal angenehm.

»Ja, aber keine Mädchen, die so sind wie du.«

Ich schielte ihn an. Er spielt mich doch nur aus, tastet sich an mich heran. »Woher willst du das denn wissen, wie ich bin? Du kennst mich doch gar nicht.«

Er zuckte mit der Schulter. »Vielleicht noch nicht wirklich, aber das, was ich schon kenne und sehe, finde ich toll.«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf und wandte meinen Blick von ihm ab. Vielleicht hatte er sich die ganze Zeit über nur verstellt und war in Wirklichkeit ganz anders? Seine Blicke und sein Verhalten waren wie Himmel und Hölle. Nicht so, wie ich es in den Pausen immer zu sehen bekommen hatte.

Ich guckte ihn wieder an, weil ich seinen Blick immer noch auf mir spürte, und bemerkte in seiner Hand eine kleine Kette mit blauen Kügelchen.

»Du hast eine Gebetskette?«, fragte ich ihn erstaunt. »Bist du muslimischer Herkunft?«

»Halb, halb, könnte man sagen. Mein Vater ist Tadschike, meine Mutter ist Deutsche … und die Kette ist für mich einfach so … nur zur Beruhigung«, antwortete er bedächtig.

Kichernd und ohne nachzudenken, gab ich von mir: »Bist du etwa gerade nervös?« Wieder dieser sein Blick. Oh-oh …

»Ja, du machst mich wirklich … nervös!«, schnurrte er irgendwie verführerisch und guckte mich auch genauso an. Er kam auf einmal mit seinem Gesicht langsam immer näher. Was? Will er mich etwa küssen?

»Ich muss jetzt nach Hause«, beeilte ich, mich zu sagen und sprang mit meiner Tasche auf, die ich mir über die Schulter hängte.

»Warte, ich muss auch in deine Richtung«, meinte er, nahm seinen Rucksack, und während ich schon losgegangen war, holte er mich ein. Er lief neben mir her. »Wo wohnst du?«

»In den Hochhäusern über der Straße«, antwortete ich trocken.

»Aha … Ich wohne auf der anderen Straßenseite.« Wir liefen nebeneinander weiter. »Was machst du gern in deiner Freizeit?«

Ich funkelte ihn an, worauf er großzügig lächelte. »Interessiert dich das wirklich?«, fragte ich ihn spitz.

Er hob verwundert die Augenbrauen. »Na, ich hätte sonst nicht gefragt … Du gehst aber nicht viel raus, oder?«

»Nein.«

»Kommst du vielleicht heute raus?«

»Du willst sagen, du willst mich heute sehen?«, hakte ich giftig nach. »Auf so einen Trick falle ich nicht rein.«

»Warum? Warum denkst du, ich würde … Was denkst du eigentlich über mich?« Er rieb sich an der Stirn und musste nun schon selbst lächeln. Ehrlich gesagt musste ich es auch.

»Siehst du, du findest es selbst schon lustig. Und was denke ich wohl, wenn ich sehe, wie du dir jeden Rock schnapst, der dir über den Weg läuft?«

»Das sind doch nur Albernheiten«, tat er lächelnd ab.

Ich blieb vor meiner Straße stehen. »Es ist deine Sache! Aber ich werde nicht eine von den vielen sein, die du anbaggerst!«

Er schaute mich schmunzelnd an und nickte dann leicht, als er meinen strengen Blick bemerkte. »Wo musst du hin?«, fragte er. Ich zeigte mit dem Gesicht über die Straße. »Vielleicht kann ich dich … noch begleiten?«

»Nein, das brauchst du nicht.« Ich musste wieder lächeln, weil er es trotzdem weiter versuchte. »Ich bin schon ein großes Mädchen und brauche keinen Führer, der mich sicher über die Straße bringt.«

»Kommst du heute vielleicht doch raus?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, okay … dann bis morgen.«

»Ja, bis morgen«, sagte ich nüchtern, und wir gingen auseinander.

Irgendwie war ich jetzt durcheinander. Mochte er mich wirklich oder spielten bei ihm nur die Hormone verrückt? Verspottete er mich? Ganz sicher!

Am nächsten Tag sprach ich mit Violetta darüber, wie Albert sich mir gegenüber verhielt, und wollte ihre Meinung über ihn und das Ganze hören. Sie brachte zum Ausdruck, dass sie selbst nicht verstand, was er an mir fand. Mann, ich war zwar nicht die Schönste, aber so hässlich war ich ja auch nicht. Die Art, wie sie das zu mir sagte, kränkte mich etwas, obwohl ich auch selbst nicht nachvollziehen konnte, warum Albert auf einmal so nett zu mir war.

Die nächsten Tage flirtete er mit mir, zog mich auf, und wenn wir alleine und unter uns waren, unterhielt er sich ganz normal mit mir und versuchte, mir näherzukommen. Mit ihm vergaß ich für eine kurze Zeit sogar Edwin, dessen Liebe noch in mir blühte. Zwar hatte ich immer noch kurze Zusammenbrüche, aber das alles tat nicht mehr so weh. Edwin ganz zu vergessen, war sowieso unmöglich. Er hinterließ in meinem Herzen so eine Art Makel, einen kleinen Klecksdarauf, der in mir aufbewahrt blieb und immer noch vor Liebe zu ihm pochte.


Am Freitag beschlossen einige unserer Freunde die anderen beim Volleyballspiel zu beobachten, und ich entschied mich auch mit hinzugehen.

Ich arbeitete noch meine letzte halbe Stunde, als unser Stammkunde Herr Becker vorbeischaute. Er sah aus wie ein Biker; mit kurzer Lederweste, Boots, einem schwarzen Shirt mit irgendeinem Heavy-Metal-Aufdruck und einem dicken Bierbauch. Wer würde bei seinem Anblick auf die Idee kommen, dass er jeden Freitag ein frisches Blumensträußchen für sein Zuhause kaufte?

»Hallo, süße Maus«, begrüßte er mich mit seiner tiefen Stimme und nachdem ich ihn begrüßt hatte, machte er seine Bestellung. »Wie immer bitte: klein, rund, bunt.«

Unvermeidlich musste ich zurückkichern, wie sein runder Bauch vor seinem Lachen zitterte, und begann für ihn die Blumen auszusuchen. Ja, das war wirklich so, sein Blumenstrauß sollte kurz, rund und chaotisch bunt gebunden sein. Bei ihm konnte ich mich mit Farben austoben und mischte ungewöhnliche Zusammenstellungen, was ihm aber stets gefiel.

Ich zupfte ein paar rosa Margeriten aus den Vasen, ein paar blaue Anemonen, gelbe kleine Kamillen, purpurne Bartnelken, helllila Iris und weißes Schleierkraut und fing an, den Blumenstrauß mit einer orangefarbenen Gerbera zu binden.

Als mein Chef hereinkam, sah ich zur Tür auf und bemerkte dann draußen Albert mit seinem Fahrrad stehen. Wartet er etwa auf mich? Zumindest beobachtete er mich ernst durch die Fensterscheibe, während ich den kleinen Strauß zu Ende band.

Ich reichte das fertige Sträußchen Herrn Becker, der mich über beide Ohren strahlend anlächelte, und kassierte ihn ab. Er verabschiedete sich und ich konnte das restliche Geld als Trinkgeld behalten. Auch der Chef bezahlte mich mit dreißig Mark aus und sagte, dass er mich heute früher nach Hause schicken wollte. Ich freute mich natürlich, fünfzehn Minuten früher gehen zu können, obwohl ich voll bezahlt worden war, und dann noch das üppige Trinkgeld von Herrn Becker dazu.

Während ich mein Geld in die oberste Tasche meiner Latzhose steckte, verließ ich den Laden und blieb bei Albert stehen, der mich mit einem »Hallo« begrüßte.

»Na hallo!«, erwiderte ich.

»Gehst du heute auch zum Volleyball?«

»Eigentlich wollte ich hingehen … Ja, ich glaube schon«, fing ich komischerweise nervös zu reden an und zupfte an meinem Pulli, den ich für den Abend mitnahm. »Und du?«

»Ich bin doch im Team, ich spiele selbst«, meinte er.

Ich schnappte leicht nach Luft, um etwas zu erwidern, mir fiel aber nichts ein. Nichts von dem, was ich sonst von Albert kannte, seine Art, seine perversen Witze, seine albernen Flirts – waren in meiner Gegenwart vorhanden. Warum verstellte er sich den anderen gegenüber immer so und bei mir nicht?

»Gehst du alleine hin?«, fragte er, und ich zuckte mit der Schulter. »Wenn du willst, können wir zusammen gehen.«

Überlegend starrte ich ihn an. Warum überlege ich es mir noch? Verdammt, Elli! Geh einfach alleine … Er kam näher zu mir.

»Kommst du mit?«, erinnerte er mich.

Was konnte mir schon passieren? Ich atmete durch und nickte mit einem leisen »Okay«.

Er nahm seine Sporttasche vom Lenkrad und zog sie wie einen Rucksack über. »Komm … spring rauf.« Ich zögerte noch einen kurzen Moment, denn bis zur Sporthalle war es nicht weit. Nach seinem Nicken setzte ich mich dann doch auf die Stange seines Fahrrads. Als er das Lenkrad nahm, strich er mir mit der Wange über meinen Hals, wovon mich an der Stelle ein prickelndes Kribbeln durchlief. Mist! Sofort funkelte ich ihn böse an, damit er bemerkte, dass er das sein lassen sollte. Er aber grinste nur flirtend, stieß sich ab und fuhr los. Würde er mich doch anmachen wollen?

»Ich habe beim Sportunterricht gesehen, dass du auch gut Volleyball spielst.« Er atmete mir in mein Haar, während ich staunte. Beobachtet er mich auch noch etwa beim Sport? Spanner!

»Vielleicht. Kann sein.« Ich schaute stur nach vorn.

»Willst du dich nicht bei uns einschreiben?«

»Ich arbeite doch bis sechs. Ich bin nur heute etwas früher gegangen … Obwohl, ich habe auch schon darüber nachgedacht.«

»Wir fangen sowieso nie pünktlich an, also, gleich nach der Arbeit könntest du doch kommen.«

»Mal sehen.« Heute hatte ich ein Gespräch von ihm und Toni mitbekommen, als er ihm erzählte, dass sie in Frankfurt Verwandte hatten und auch bald dorthin umziehen wollten. »Wann zieht ihr nach Frankfurt um?«, fragte ich nur so aus reiner Neugier.

»Nächsten Monat vielleicht.«

»Aha«, brachte ich nur heraus, als wir die Hauptstraße auf dem Radweg entlangfuhren.

»Sag mal, Elli … Isst du überhaupt etwas oder füttern dich deine Eltern nicht genug?« Ich musste lächeln. »Ich spüre gar kein zusätzliches Gewicht. Wie viel wiegst du eigentlich?«

»Keine Ahnung … vielleicht so vierunddreißig.« Ich zuckte mit der Schulter. »Ich meide eigentlich die Waage.«

Er lachte leise. »Weißt du, was mir an dir gefällt? Dass du so rebellisch bist …« Selbst das hörte sich auf einmal charmant an. Ich und rebellisch? Nee! Oder? »Was bist du vom Sternzeichen?«

»Schütze«, antwortete ich verwundert, dass er sich daran interessiert.

»Sage ich doch«, raunte er mir ins Ohr. Sein Atem kitzelte meinen Hals, sodass ich Gänsehaut bekam. Vielleicht doch nicht davon. »Das ist Feuer. Deswegen bist du so … heiß!« Ist er bekloppt, solche Worte auszusprechen. Nervös schluckte ich, als ich seinen Oberschenkel an meinem Po spürte, während er in die Pedale trat, und rückte vorsichtig und unbemerkt leicht nach vorne.

Ich räusperte mich. »Und was bist du für ein Sternzeichen?«

»Stier!«, antwortete er hochmütig. Ich aber verschluckte mich fast vor Lachen. »Was?«, rief er grinsend.

Ich lachte, weil ich mir bildlich vorstellte, wie er als Stier in einer Arena stand und um ihn herum statt Toreros die Tussis in roten Röckchen umherliefen.

»Was ist?«

»Ach, nichts.« Ich lachte lautlos über meine Gedanken.

»Glaubst du an so was etwa nicht?«

»Eigentlich nicht, aber ich muss mir mein Horoskop jeden Monat von meiner Mama anhören, wenn sie ihres liest.«

Während wir eine Straße überquerten, blieben wir still.

»Vorsichtig, Füße hoch«, warnte er, als wir zur Halle abbogen. Ich streckte meine Füße, damit sie sich nicht in den Speichen verfingen. Albert hielt immer noch das Lenkrad, obwohl wir stehen geblieben waren. So konnte ich nicht absteigen, weil er mich mit seinen Armen an den Seiten quasi einklemmte. Vorsichtig sah ich über meine Schulter zu ihm hoch und ging in seinem Meeresblau unter, so nah war sein Gesicht an meinem.

»Das ist echt fies, du duftest schön«, meinte er neckisch.

Mir wurde heiß. Ich schlug sofort meinen Blick nieder und versuchte, vom Fahrrad herunterzukommen, was er auch zuließ.

»Im Ernst?«, spielte ich um. »Ich finde, ich rieche nach meinem Arbeitstag immer nach Gras.«

Er gluckste, während er sein Fahrrad abstellte. »Nach Gras?«

Schmunzelnd rollte ich mit den Augen. »Du weißt, wie ich das meine.«

»Du riechst nach Blumen, das wolltest du sagen.«

Ich nickte nur, während Albert mit einer Kopfbewegung zur Halle deutete. Wir gingen nebeneinander die Treppen hoch.

Albert verschwand nach einem Augenzwinkern in der Umkleide, und ich ging in den Sportsaal hinein, wo das Leben tobte. Viele bekannte Gesichter aus unserer Schule trainierten gerade und bereiteten sich auf das Spiel vor. Vorbei an den fliegenden Bällen ging ich zur Zuschauertribüne, die bereits voll war und auf der ich Toni, Stephen und German sah, zu denen ich mich gesellte. Als das Volleyballspiel zwischen den Schülern unserer und einer anderen

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 17.01.2021
ISBN: 978-3-7487-7183-8

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