Cover

CHRISTINE EDER

 

 

 CHRISTINE EDER

 

 

 

Breath

of Heart

 

 

 

 

 

 

Band 1

 

 

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© Christine Eder 2023

2018 Erstausgabe:

Die Farben des Lebens – Ein Hauch von Frühling

Alle Rechte liegen bei der Autorin.

 

Coverdesign: © Licht Design – Kristina Licht

Korrektorat/Lektorat: Dr. Andreas Fischer

 

Handlung und alle handelnden Personen dieses Buches sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wäre rein zufällig.

Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

 

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»Seid ihr schon mal in einem

Menschen untergegangen?

So richtig mit allen Sinnen,

als ob die Welt stillzustehen schien?

Ich hatte ihn nicht nur einfach geliebt.

Ich war ihm verfallen, mit Leib und Seele.«

 

Christine Eder

 

Mein liebes Tagebuch

 

Nein, so fing mein Tagebuch nicht an. Aber auf der ersten Seite prangte mein Name, Elli Schwartz, als ob ich selbst nicht wüsste, wem es gehörte oder wer ich war. Es hatte ein mit Rosen verziertes Hardcover, dessen Seiten ich bei jedem neuen Kapitel ebenfalls mit Rosen bemalt hatte. Jeder Abschnitt meines Lebens hatte seine Überschrift, und ich hatte es geschrieben, als würde ich jemandem alles erzählen. Es sieht wie ein Buch aus. So erscheint es mir auch – mein eigener, persönlicher Roman.

Der Wunsch, ein Tagebuch zu schreiben, kam sehr plötzlich. Vielleicht wollte ich meine neuen Erlebnisse, meine Emotionen, meine Zukunftspläne oder meine Geheimnisse und Wünsche mit jemandem teilen. Weil ich noch niemanden kannte, um überhaupt mit jemandem zu reden. Das Bedürfnis, zu schreiben, war dann so groß geworden, als der Briefkontakt zwischen Evgenij und mir aufgehört hatte. Dazu etwas später mehr.

Ich wurde nicht in dieser Stadt geboren. Auch nicht in diesem Land. Vor einem Jahr waren meine Eltern mit mir aus Russland nach Deutschland ausgewandert. Wir hofften auf ein neues und besseres Leben. Auf ein Leben ohne Abschaltung von Strom oder Wasser und Heizung, damit die Stadt das Geld einsparen konnte. Auf ein Leben, in dem man sich nicht im Pulli ins Bett legen musste, nachdem Mama diesen vorher mit dem Bügeleisen angewärmt hatte. Auf ein Leben, in dem man nicht im Pelzmantel in der Schule sitzen musste, während einem selbst die Tinte im Kugelschreiber gefror. Und auf ein Leben, in dem man nicht die Hausaufgaben bei Kerzenlicht machen musste.

Meine Großeltern waren selbst Deutsche und während des Krieges aus Deutschland vertrieben worden. Aber vor ein paar Jahren durften sie in ihre Heimat zurückkehren.

Deutschland war das Land, wo alles besser sein sollte, wo Gerechtigkeit herrschte und es mehr Rechte und bessere Gesetze für alle geben würde. So wurde es uns zumindest angepriesen.

Aus diesen Gründen wollten meine Eltern mit uns in die Heimat ihrer eigenen Eltern zurückkehren, in das Land, wo unsere Großeltern seit fünf Jahren sehnsüchtig auf uns warteten. Nach der Auswanderung zogen wir erst mal von einem Lager zum anderen, blieben in einer Notwohnung, bis wir uns dann nach einem halben Jahr eine Wohnung in einem Hochhaus zur Miete leisten konnten. In welcher Stadt das war, überlasse ich eurer Phantasie – ich werde nur so viel sagen; irgendwo in Niedersachsen.

Allerdings wohnten wir in einem Problemviertel und man traf hier auf viele soziale Schichten unterschiedlichster Nationen. Wir konnten uns jedoch noch keine Wohnung in einem besseren Gebiet oder Viertel leisten.

In dieser Zeit wechselte ich oft die Schule. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so häufig die Schulen gewechselt wie in den letzten Monaten. Wegen meiner unzureichenden Deutschkenntnisse blieb ich sogar einmal in der sechsten Klasse sitzen, wie die meisten deutsch-russischen Kinder. Wir stießen auch noch mit dem deutschen Schulsystem zusammen. Uns wurde erklärt, dass es hier Haupt-, Realschule und Gymnasium geben würde – wobei wir in Russland nur die Gesamtschulen hatten und der Abschluss nach den höchsten Klassen abging. Meine Mutter wollte für mich natürlich die bestmögliche Bildung, also das Gymnasium, woraufhin der Schuldirektor einen Lachkrampf erlitten hatte. Er erklärte uns, dass man mit schwachen Deutschkenntnissen und ohne Englisch als zweite Sprache keine Chance hätte, ins Gymnasium zu kommen. Für mich käme nur die Hauptschule in Frage. Ich konnte mich noch an diese Situation erinnern. Eigentlich konnte ich mich noch sehr gut an alles erinnern, was in meinen vielen Tagebüchern stand – auch an den ersten Schultag, als wir unseren festen Wohnsitz hatten …

 

Mein erster Schultag


… (wieder mal) und ich sah an dem Tag total albern aus. Veränderungen sind gut - damit baute meine Mutter uns und sich selbst auf - und beginnen im Kopf. In dem Fall hatte ich bereits die Nase voll von Veränderungen und diese sollten an dem Tag eigentlich nicht nur in meinem Kopf beginnen, sondern insgesamt bei meinem Aussehen. Warum wollten alle Mütter ihre Töchter immer so dermaßen aufbrezeln?


August 1996


Kritisch betrachtete ich mich in der Spiegeltür meines neuen Kleiderschranks. Ich trug eine weiße Bluse mit Rüschen und einen schwarzen Faltenrock.

»Mum, ich sehe … wie eine Puppe aus«, nörgelte ich. »Und dann noch diese blöden Rüschchen!« Ich zupfte daran herum.

Sie musterte mich ganz verliebt mit ihren braunen, großen Augen und fummelte weiter an mir herum, wobei ihre dicken hellbraunen Locken auf und ab sprangen, und sprach dabei: »Elli, du siehst einfach hinreißend aus. Heute ist dein erster Schultag, da muss man–«

»Wenn es bloß mein erster in Deutschland wäre«, unterbrach ich sie. »Außerdem ist es nicht die Einschulungsparade von Russland! Heute wird ein ganz normaler Schultag sein, wie jeder andere auch.«

Doch sie begutachtete mich immer weiter und richtete bereits meine hellbraunen schulterlangen Locken, die sie mir gestern eingedreht hatte. Deshalb sah ich auch noch wie ein Pudel aus, der an einem Wettbewerb teilnehmen wollte.

Dabei bemerkte ich an ihr, dass sie wieder etwas zugenommen hatte. Wegen des Stresses der Auswanderung war sie zuvor bis auf neunundvierzig Kilo abgemagert und hatte dadurch Fältchen an den Augen bekommen.

Hach, wie oft hatten wir die ersten Monate zusammengesessen, uns aneinandergeklammert und aus tiefster Inbrunst sehnsüchtig Russland, sowie Freunden und Familie, die wir zurückgelassen hatten, nachgeweint. Wir vermissten alles und fühlten uns hier völlig fremd. Ich vermisste jedoch vor allem einen Menschen sehr – meinen besten Freund Evgenij. Mit ihm hatte ich meine gesamte Kindheit verbracht.

Evgenij, zwei unserer Freunde und ich stellten zusammen viel Blödsinn an. Ich war zwar ein Mädchen, wollte aber dennoch nie zurückbleiben und machte deshalb jeden Unsinn mit. (Manchmal dachte ich, ich war sogar schlimmer als ein Junge.) Wir saßen auf den Dächern der Garagen, waren an den Akazien hochgeklettert, die danebenstanden, bauten aus Ästen Schleudern und schossen auf Dosen oder wir spielten mit plattgedrückten Flaschendeckeln wie heute die Kinder mit Sammelkarten. Wir fuhren auch sehr viel Fahrrad und badeten in einem kleinen, nahegelegenen See, bauten aus Sand ganze Städte und die Jungs bastelten sich aus Holz kleine Autos, mit denen sie in der Sandstadt herumfuhren. Ich schuf Menschen, indem ich auf Streichhölzer die Blüte einer Stockrose – mit der Blüte nach unten – steckte und sie somit wie eine Frau im Kleid aussehen ließ. Die Knospen waren meine Männer. Wir wälzten uns oft in den wilden Wiesen und Kleefeldern oder spielten Verstecken im hohen Mais.

Im Winter war es dann immer ruhiger, zumindest schien es mir so, denn selbst wenn wir so dick eingepackt waren wie die Michelin-Männchen, was unsere Bewegungsfreiheit einschränkte, hatte es uns dennoch nicht davon abgehalten jede Menge Spaß zu haben. Wir bauten Schneemänner, führten Schneeballschlachten, fuhren Schlitten und gingen Schlittschuhlaufen auf unseren zugefrorenen Gehwegen. So eine Kindheit würde ich wieder und wieder erleben wollen.

Abends, wenn keine Hausaufgaben mehr zu erledigen waren, hatte ich natürlich, wie jedes Mädchen, mit meinen Puppen gespielt – besser gesagt, ich nähte ihnen nur die Kleider. Meine Mutter hatte mir schon mit acht Jahren Nähen und Stricken beigebracht, und auch wie man häkelt. Ich hatte keine Barbies, das war immer mein Traum, den mir meine Mutter zu erfüllen versprochen hatte, wenn wir erst mal in Deutschland wären. Ich hatte nur zwei gewöhnliche Puppen, was auch kein Problem für mich war.

Mit den Jahren wurde es dann immer schwieriger, in Russland zu leben. Die dritte Etappe der Perestroika begann, die Korruptionen fingen an, die Armut und die Arbeitslosigkeit brachen aus und die staatlichen Unternehmen schlossen nach und nach. In den Läden wurde es immer leerer, man fand dort oft nur noch ein paar Dosen mit eingelegtem Fleisch und das Brot wurde auf nur ein Stück pro Familie und Tag rationiert, falls man es überhaupt noch geschafft hatte, welches zu bekommen.

Auch meine Mutter war damals von der Arbeitslosigkeit betroffen, denn ihr Unternehmen war privatisiert worden. Mein Vater wurde zum Glück kurz zuvor in seiner Stahlfabrik zum Betriebsleiter befördert und hatte daher Arbeit bis zu unserer Abreise.

Jetzt hatten wir uns hier schon so gut eingelebt, schauten einfach nach vorn und bauten mit neuen Herausforderungen und Zielen unsere Zukunft auf. Hier sollte jetzt alles anders werden. Ein neues Land, ein Neuanfang, ein Leben von null auf – ein neues Leben!

Meine Mutter hatte heute ein stolzes Lächeln auf dem Gesicht.

»Ach ja«, sagte sie dann erfreut und lief aus dem Zimmer.

»Was ist? Willst du mir etwa noch die Schleifen ins Haar binden?«, rief ich ihr nach und sah mich im Spiegelbild an. Bähh, ich sehe so was von spießig aus … Ich werde doch ausgelacht!

Sie kam wieder mit einer dicken Kette in der Hand. »Sie passt ganz gut dazu. Wusste ich es doch«, sagte sie und hängte mir eine Art Medaillon um.

»Das ist aber zu viel für mich! Jetzt sehe ich wirklich … idiotisch aus.« Ich betrachtete unzufrieden mein Spiegelbild. »Wo ist meine lila Strickjacke?«

»Wozu?«, empörte sie sich und erwiderte sogleich: »Damit du deine Schönheit versteckst?«

»So ist es! Und damit ich mich nicht so sehr von den anderen Schülern unterscheide.« Eigentlich stechen wir so oder so heraus. Diesen Eindruck hatte ich jedenfalls ständig.

Meine Mutter schaute mich an, als würde sie mich nicht hören, sondern noch etwas suchen, was man besser machen könnte. Ich glaube, ich verschwinde lieber, bevor sie mir wirklich noch Schleifen ins Haar bindet oder Rouge auflegt.

Ich verabschiedete mich recht schnell von ihr und machte mich zu Fuß in die Schule auf, die nur zehn Minuten entfernt lag. Wie auch in den letzten Monaten fehlte mir irgendwie die Luft zum Atmen. Es war stickig und grau in der Stadt. Ich sah hier wenig Grün … Grünes – das fehlte mir auch sehr. Ständig wälzte ich in meiner Erinnerung und dachte an unsere saftigen Kleefelder, die grünen Wiesen mit den wilden Blumen wie Tulpen, Glöckchen, Kornblumen und Mohn, an die Waldsäume mit den Weißulmen, den Ahornbäumen und den riesigen Pappeln mit ihrem bauschigen Flaum, der im Frühling fast den ganzen Weg bedeckte. Doch am meisten fehlten mir die Akazien mit ihrem honigsüßen Duft.

Ich blieb stehen und atmete tief durch, bevor ich das mir unbekannte Gebäude der Haupt- und Realschule betrat. Die ersten neugierigen Blicke krochen mir sofort hinterher, weswegen ich meinen gleich senkte.

Während ich die Treppe hochging, nahm ich diese blöde Kette ab und warf sie in meine Schultasche hinein. Gleichzeitig holte ich den Infozettel heraus. So, welche Klasse? Ich schaute das Blatt an. Okay, 7.a … Klassenlehrerin Frau Meier. Ich rollte das Blatt wieder zusammen, zerknitterte es nervös in meiner Hand und ging zur Tür hinein. Das war die Hauptschule. Oh Gooott, noch mehr Blicke. Nur jetzt konnte ich nicht mehr die Augen unten halten oder hinter meinen Löckchen verstecken, ich musste meine Klasse finden.

Links von mir lagen die Unterrichtsräume, über deren Türen die Klassennummern standen. Im Vorübergehen las ich diese vor mich hin … 10.a … 8.b … 7.c … Aha, 7.a.

Vor meiner Klasse lag eine Cafeteria mit runden Tischen und Stühlen. Neben der Tür standen schon ein paar Schüler, vermutlich meine Klassenkameraden, die mich alle neugierig musterten. Mir wurde ganz heiß und meine Knie fingen an zu zittern. Ich würde das erste Mal in einer deutschen Klasse sitzen, denn bisher hatte ich in anderen Schulen nur in Deutsch-Förderunterricht teilgenommen. Okay, bloß keine Panik, mein Deutsch geht schon einigermaßen … Äh, glaube ich zumindest.

Es hatte bald geklingelt und die Schüler kamen einer nach dem anderen in die Klasse. Und ich schaute mir jeden genau an, in der Hoffnung, ein russisches Gesicht zu entdecken. Schade, keines gefunden. Katastrophe! Ich blieb alleine neben der Tür stehen und wartete, bis sich alle hinsetzten, damit ich sehen konnte, ob es noch einen freien Tisch gab. Toll, jetzt komme ich mir so vor wie auf einem Präsentierteller.

Doch dann kam auch schon die Lehrerin, die sich als Frau Meier vorstellte. Sie war eine schlanke Schwarzhaarige mit kurzem Bob, ihr Lächeln war wie angeklebt und ihre Haut war gebräunt, allerdings vom Sonnenstudio und nicht von der Sonne. Sie deutete auf zwei leere Eckplätze neben dem Fenster.

Nachdem ich meinen Platz eingenommen hatte, erzählte Frau Meier mir kurz von der Schule und erklärte, wo was zu finden wäre. Es war schwierig, so schnell mitzukommen und alles zu verstehen, aber ich hatte mir dennoch vieles gemerkt. Auf ihre Anweisung stellte sich mir dann jeder Schüler vor. Aber das waren für mich definitiv viel zu viele fremdsprachige Namen auf einem Haufen, die ich mir nicht sofort alle merken konnte. Irgendwann war auch ich an der Reihe, mich vorzustellen.

Die ganze Klasse starrte mich an. Ich musste mich echt zusammenreißen, damit meine Stimme nicht zitterte, hoffte die richtigen Worte in meinen chaotischen Gedanken zu finden und begann langsam und in starkem Akzent zu sprechen.

»Ich heiße Elli Schwartz. Ich bin dreizehn Jahre alt. Ich komme aus Russland.«

»Okay«, brachte Frau Meier heraus.

Das Geflüster der Schüler erfüllte den Raum und einige Mädels löcherten mich bereits mit ihren Blicken, während sie sich gegenseitig ins Ohr flüsterten. Worüber sie lästerten, ahnte ich bereits, nicht nur deshalb, weil ich ein bis zwei Jahre älter war als sie. Auch von meinem Aussehen und meiner Herkunft war bestimmt die Rede.

»Welche Hobbys hast du, Elli?«, fragte mich Frau Meier.

»Ich male sehr gut, ich liebe Sport, lesen und … spielen Klavier.« Ich schluckte nervös. Verdammt, ich habe mich versprochen… Davon geriet ich in Verlegenheit, wobei ich spürte, wie die Farbe mein Gesicht hochkroch.

Seit ich sechs war, nahm ich in Russland Klavierunterricht und hatte sogar ein eigenes Klavier gehabt, das mir nun unheimlich fehlte. Ich erhoffte mir sehr, dass ich das Klavierspielen auch hier weiterhin lernen würde.

Frau Meier sah mich neugierig an. »Und was willst du später mal werden, Elli? Welchen Beruf möchtest du ausüben?«

»Wirtschaftsprüferin«, antwortete ich prompt, weil ich diesen Beruf zu Hause bereits übersetzt hatte. Damit löste ich allerdings ein großes Gelächter in der Klasse aus, selbst Frau Meier kicherte. Was gibt’s denn da jetzt bitte schön zu lachen? Ich wurde noch nervöser und plötzlich bedrückte es mich. Deren Gelächter ging mir bis in die Knochen.

»Elli, entschuldige unser Lachen. Aber Wirtschaftsprüferin kann man nicht mit Hauptschulabschluss werden … Vielleicht machst du dir noch mal Gedanken über deinen Beruf.« Wieder blitzte dieses unechte Lächeln auf ihrem Gesicht auf.

Ich schmollte, aber mit einem kalten Blick, hinter dem ich meine Tränen zurückhielt, die ich auf keinen Fall jetzt zeigen wollte. Es hatte mich verletzt. Sie bemerkte, dass mir das alles nicht gefiel, und sprach den Jungen neben mir an. Dieser fing rasch an sich als Kilian vorzustellen, während ich versuchte, mich von der Situation zu erholen.

Obwohl ich sonst immer so viel Mut hatte, Kontra zu geben, verschwand dieser komischerweise total, seitdem ich in den letzten Monaten bereits so viel Spott über mich hatte hören müssen. Ich konnte nicht einmal meinen Mund aufmachen. Es demotivierte mich in meiner Persönlichkeit, an meinem Äußeren etwas Gutes zu sehen. Vielmehr war es meine Herkunft … Dabei waren es nicht einmal Begriffe wie »Das russische Schwein«, genauso hatte ich in Russland die Worte »Faschistin« oder »Hitlertochter« gehört, nachdem einige meiner Mitschüler erfahren hatten, dass in meinem Pass die Staatsangehörigkeit deutsch stand. Ich fühlte mich nun schon mehrere Monate so, als würde ich nirgendwo so richtig hinzugehören … Es kränkte ungemein und senkte mein Selbstvertrauen.

Die erste Stunde endete und in der fünfminütigen Pause traute ich mich nicht, aus der Klasse rauszugehen. Also blieb ich einfach an meinem Platz sitzen. Die Augen meiner Schulkameraden durchbohrten mich von allen Seiten und ich erntete dabei auch viele komische oder gar giftige Blicke. Einige Mädchen tuschelten und kicherten gespielt und laut auf, als sie mich ansahen. Der Druck in meiner Brust wurde größer und ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

Die nächsten Stunden verliefen dann eher ruhig. Mir wurden die Bücher ausgeteilt und Listen gegeben, was noch an Schulmaterial gekauft werden sollte. In den letzten beiden Unterrichtsstunden ging ich zum Deutsch-Förderkurs, während meine Klasse Englisch hatte. Endlich! Ich erhoffte mir, dass ich wenigstens dort nicht allein sein und vielleicht auf deutsch-russische Schüler treffen würde, um mich mit ihnen rasch anfreunden zu können.

Frau Niemann, die Sprachförder-Lehrerin, öffnete mir die Klassentür und machte mir Platz, damit ich reingehen konnte. Ich stürmte zu schnell vom Fleck, während ich meine mit den neuen Büchern vollgepackte Schultasche vom Boden hochnahm und sie zu schwungvoll über die Schulter warf. Dabei verlor ich das Gleichgewicht, sodass ich mit einem schrillen Quieken quasi hineinpolterte. Mein Gesicht wurde sofort feuerrot, als mich ein Pärchen beobachtete, das bereits an den Tischen saß. In dem Augenblick wäre ich am liebsten vor Scham im Boden versunken.

Der Junge hatte leicht gewelltes, kastanienbraunes, zur Seite gekämmtes Haar. Seine dicken Brauen verdeckten leicht seine tiefsitzenden braunen Augen. Er hatte einen normalen Körperbau, besaß aber breite Schultern. Daneben saß ein Mädchen, fast einen Kopf größer als er, mit einem schön frisierten dunkelblonden Haarschnitt und grauen Augen. Sie war dünn, aber nicht so ein Klappergerüst wie ich, das nicht mal seine vollgepackte Schultasche tragen konnte.

Beide versuchten, ihr Kichern zu unterdrücken, was mit einem typischen Grunzen langsam durchbrach. Herrlich! Lacht nur über mich. Ihr seid nicht die Ersten und womöglich auch nicht die Letzten.

Frau Niemann zeigte auf den Platz neben dem Jungen. Ich ging dahin und setzte mich, während das Pärchen sich gegenseitig etwas zuflüsterte. Ich will nach Hause!

Wieder mussten wir uns alle vorstellen. Ohne mich anzugucken, nannten die beiden trocken ihre Namen.

»Stephen.«

»Olga.«

»Elli«, schloss ich mich leise an.

Der Unterricht begann.

Wir bekamen von der Lehrerin einen Zettel mit einem Text, den wir uns durchlesen, uns merken und das Blatt anschließend wieder zurückgeben sollten. Wir sollten nun versuchen aufzumalen, was wir gelesen hatten, und anhand unserer Bilder den Text wiedergeben. Jeder von uns hatte eine andere Geschichte, meine handelte von Affen im Dschungel.

Neben dem Klavierspielen liebte ich auch noch das Malen, besonders Landschaften hatten es mir angetan. Diese beiden Hobbys waren meine Stärken und ich liebte beides abgöttisch.

Malen kann ich ja perfekt, also, das wird wohl auf keinen Fall ausgelacht. Ich malte einen schönen Dschungel mit Lianen, an denen Affen hingen und an den Bananenpalmen saßen.

Stephen schaute auf mein Bild und lachte auf. »Affen? Man sieht sofort die Ähnlichkeit.« Er blickte dann zu Olga, die auch kichernd dasaß.

Ich hätte ihn mit meinem Blick am liebsten erschossen. Doch ich atmete enttäuscht durch. Also, so würde ich mich mit niemandem anfreunden.

Ich war als Erste an der Reihe, meinen Text wiederzugeben, und Frau Niemann hatte mich nur ein wenig korrigiert und mich für mein schönes Bild gelobt. Stephen flüsterte währenddessen etwas zu Olga und guckte mich mit breitem Grinsen an.

»Was guckst du denn so?«, blaffte ich ihn auf Russisch an.

»Ach, nichts.« Er lachte wieder lautlos und ich zeigte ihm die Zunge. »Die Äffchen können auch noch zickig sein«, merkte er leise an. Ich schaute ihn aus zusammengekniffenen Augen kalt an.

»Nichts für ungut, das war nur ein Scherz!«

Als Antwort ließ ich ihn nur mein falsches Lächeln sehen. Alles klar, Stephen ist also ein Scherzkeks. Sehr witzig gewesen!


Mittags kam ich nach Hause und Mama empfing mich an der Tür mit positiven Erwartungen und einem Lächeln. Mir war jedoch überhaupt nicht nach einem Lächeln zumute und ich erzählte ihr alles. Sie beruhigte mich und redete mir gut zu, dass sich irgendwann alles legen und schön werden würde, ich würde es schaffen, Deutsch zu lernen, und etwas aus mir machen.

»Man muss nur an seine Träume glauben, erst dann werden sie wahr«, sagte sie zum Schluss. Natürlich, das wusste ich doch auch, denn ich war ein optimistischer Mensch. Nur konnte ich in letzter Zeit wenig an meine Träume glauben. «Übrigens, du hast einen Brief von Evgenij bekommen«, informierte sie mich dann lächelnd.

»Echt?«, quiekte ich und war sofort auf Wolke sieben. Sie nickte in die Richtung meines Schreibtisches.

Hastig sprang ich vom Sofa hoch, riss das Kuvert an mich und setzte mich schwungvoll wieder zurück. Während ich ungeduldig den Brief meines besten Freundes aus meiner Kindheit öffnete, ließ meine Mutter mich allein.

Doch ich stockte etwas. Der Brief war viel kürzer, als ich es sonst von ihm kannte, nur ein paar Absätze. Ich drehte das Papier um, doch die andere Seite war leer. Sehr ungewöhnlich für Evgenij, denn er schickte immer mindestens ein auf beiden Seiten beschriftetes Blatt, manchmal sogar mit Text in jeder Kästchenreihe.

»Hallo liebe Elli, ich hoffe, es geht dir gut und du hast endlich neue Freunde gefunden. Ich weiß, dass du auf jeden Fall sehr schnell gute Freunde findest, denn du bist ein großartiges und ein ungewöhnliches Mädchen. Mit dir kann man nicht anders als befreundet zu sein. Und dafür möchte ich dir in diesem Brief danken. Danke, dass du meine Freundin warst und meine Kindheit unvergesslich gemacht hast. Aber ich möchte mich von dir verabschieden. Schreib mir nicht mehr zurück, ich würde es nicht mehr lesen können. Ich gehe fort. Ganz weit weg, dorthin, wo keine Briefe mehr ankommen werden. Leb wohl. Evgenij.«

Mein Atem machte einen Aussetzer. Irgendetwas in der Brust zog sich so sehr zusammen, dass es wehtat. Ich vermisste ihn jetzt wie nie zuvor, eigentlich hatte er mir die ganze Zeit über gefehlt. Doch in diesem Moment hatte ich auch noch ein übles Gefühl in meinem Magen. Die Gedanken, die sich in meinen Kopf drängelten, wehrte ich ab und wollte es nicht wahrhaben, dass es ihm nicht gutging. Ich las immer wieder die Sätze durch. Seine Schrift war grauenvoll. Alle Jungs haben eine Sauklaue, doch hier sah es danach aus, als ob Evgenij aus letzter Kraft geschrieben hätte. Und die untersten Zeilen tanzten völlig aus der Reihe und sahen wie hingeklatscht aus, verfehlten manchmal auch die Linien auf dem Blatt, so … als hätte er die Zeile zu einer anderen Zeit, vielleicht sogar Tage später geschrieben.

Ohne lange zu überlegen, setzte ich mich an meinen Tisch und begann ihm einen Brief zu schreiben. Ich stellte keine Fragen. Ich schrieb ihm, wie sehr ich ihn vermisste, wie sehr ich mich an unsere Kindheit erinnerte, und dankte ihm ebenfalls, dass durch ihn meine Kindheit auch so wunderbar gewesen war. Ich schrieb ihm, dass ich noch wusste, wie wir im See gebadet, in Kleefeldern gekullert, wie viele Gemeinheiten wir angestellt hatten, wie wir in den Schrebergärten Früchte und Obst stibitzt hatten, wie etwa das eine Mal die Kirschen bei unserem Kinderarzt.

Dieser Kinderarzt war riesengroß – oder kam mir das damals nur so vor, weil ich noch klein war? Obwohl meine Mutter eins sechzig groß war und ihm auch nur bis an die Brust reichte, klein war er also wirklich nicht. Er hatte eine glänzende Glatze und an den Seiten schneeweiße, weiche Haare, so wie diese Angorakaninchen.

Einmal saßen wir auf seinem Baum und rissen gerade die Kirschen ab, viele davon verspeisten wir sofort, andere hoben wir für später auf und taten sie in unser T-Shirt, das wir in die Shorts gesteckt hatten. Da hatte er uns beim Klauen erwischt und wir beeilten uns, vom Baum runterzukommen. Dabei hatte ich mich in einem Ast verfangen und war auf den Bauch geknallt. Platsch, die Kirschen waren platt und klebten an meinem Bauch. Trotzdem stand ich auf und wir liefen vor ihm weg. Er folgte uns über seinen Hof bis zur Straße, mit winkenden Händen, so als würde er gerade eine seltsame Art von Kampfsport erlernen wollen, und brüllte Worte wie »Kleine Teufel«, »Rabauken« und »Nächstes Mal erwische ich euch«. Wir konnten nicht mehr vor Lachen, als wir ihm dabei zusahen. Stellt euch den weißen Hulk vor, bei dem beim Laufen die weißen Haare im wahrsten Sinne des Wortes nur so zu Berge standen.

Als wir die Wiese dann lachend und schnaufend erreicht hatten, warfen wir uns ins Gras und ruhten uns erst einmal aus. Dann kratzten wir die zerdrückten Kirschen von meinem Bauch und brachen immer wieder in Gelächter aus. Meine beiden Knie hatten Schürfwunden, was keine Seltenheit war. Ich fand einen Wegerich und drückte ihn auf meine Knie, das sollte angeblich das Blut stillen, während Jurij Hulks Bewegungen und Gebrüll nachäffte. Wir hatten schon wieder Bauchschmerzen vor Lachen.

Ich erwähnte all diese Erlebnisse im Brief, schrieb und schrieb, um ihn noch heute abschicken zu können. Meine Sicht nahm immer mehr ab, weil ich bei den Erinnerungen wehmütig weinen musste. Zum Schluss schrieb ich ihm noch, wie gern ich ihn hatte und mich von ihm auf gar keinen Fall verabschieden mochte, und es auch nie tun würde. Ich würde und könnte ihn auch nie vergessen. Ich werde ihm immer schreiben!


Die nächsten Schultage verliefen ähnlich wie der erste und ohne nennenswerte Geschehnisse. Ich freundete mich noch mit niemandem an. Bei dieser Vorhersage hatte Evgenij falschgelegen. Stephen machte weiter seine sarkastischen Bemerkungen über mich und Olga schaute auf mich herab und wollte sich nicht mit mir anfreunden – sie war ja eine Realschülerin, also etwas Besseres.

Tag für Tag wartete ich auf Antwort von Evgenij, obwohl ich wusste, dass es Wochen dauern würde, bis ich eine zurückbekommen würde. Jeden Tag vor dem Schlafengehen legte ich mich ins Bett und las seinen Brief noch mal durch. Es erschien mir alles so merkwürdig. Vielleicht wollte er sich einen Scherz erlauben. Ich hoffte es sehr.

Jeden Tag wachte ich mit neuem Optimismus auf, dass ich auch hier endlich ein paar Freunde finden würde. Am besten solche wie Evgenij.

So kam ich eines Tages zur Schule und setzte mich wie immer vor der Klasse an den Cafeteria-Tisch – allein. Ich hörte mal da, mal hier russisches Gerede der Schüler, die in Grüppchen herumstanden, zusammen quatschten und lachten. Ich sah auch Stephen mit anderen Deutsch-Russen, deren Namen ich nur heraushörte, Antonia, German und Vitali. Ich traute mich nicht, mich so unverfroren dazuzugesellen. Vielleicht sollte ich mich endlich doch überwinden?

Als ich spürte, dass mich jemand mit einem Blick durchlöcherte, schaute ich alle Gesichter links von mir an. Nein, mich beobachtete eigentlich niemand. Merkwürdig, ich fühle es doch! Ich drehte meinen Kopf nach rechts.

Und ja, ein kräftig gebauter Junge mit dunkelblonden Haaren aus der achten Klasse guckte mich an. Als er bemerkte, dass ich seinen Blick auffing, wandte er seine Augen sofort ab und stellte sich hinter seinen Freund, der ihm so als Tarnung diente, und ich sah nur noch seine dunkelblonden Haare, die wellig und unordentlich waren. Ich wandte mich ebenfalls ab, schaute nach vorn, sah ihn aber noch aus dem Augenwinkel.

Nach ein paar Minuten ging er los in meine Richtung, langsam und unsicher. Was will er denn? Will er mich etwa aus der Nähe betrachten? Oder spricht er mich an, um mich kennenzulernen?

Er ging tatsächlich so langsam, als würde er mich begutachten wollen. Irgendwie musste ich schon allein deshalb in mich hineinschmunzeln. Als er dicht vor mir war, blickte ich zu ihm hoch und blieb direkt an seinen meeresblauen Augen hängen. Ich staunte. Wow, er scheint Evgenij wie aus dem Gesicht geschnitten, nur größer. Das brachte mich noch mehr aus der Fassung.

Er hatte es allerdings nicht erwartet, dass ich ihn mit meinem Blick förmlich auffressen würde, und wurde verlegen. Prompt drehte er sich halb um und tat so, als wollte er in die Nachbarklasse gehen, hatte die Tür aber knapp verfehlt und die Wand getroffen.

Ich musste lächeln, dass ich einen Jungen so aus dem Konzept gebracht hatte. Er drehte sich wieder zu mir um, sah, dass ich ihn immer noch schmunzelnd beobachtete, drehte sich ganz um und marschierte schnell zurück zu seinem Freund, der schon zu lachen begonnen hatte.

Das ist ja unfassbar, wie verlegen er doch wurde. Ihm war sogar die Röte ins Gesicht gestiegen. Aber seine Verwirrtheit, seine Dusseligkeit erinnerte mich umso mehr an Evgenij. Ich schluckte hart. Hoffentlich schreibt Evgenij mir bald zurück. Ich schaute mich noch einmal nach diesem Jungen um und hörte Russisch aus dem Mund seines Freundes.

Die erste Klingel läutete gerade, also war es fünf vor acht. Zu unserer Klassentür kam ein Mädchen gelaufen und blieb neben meinen Mitschülern zum Quatschen stehen. Sie war nicht dick und auch nicht dünn, hatte meiner Meinung nach genau den richtigen Körperbau. Ihr Gesicht war weich, ihre Augen hell – ich glaube grau – und sie hatte schöne, lange blonde Haare, die ihr bis zur Taille reichten. Sie sah aus, als ob sie definitiv aus Russland stammte.

Mit dem zweiten Läuten erschien dann auch Frau Meier und öffnete die Klassentür, nachdem die Schüler zu drängeln begonnen hatten, als ob ihnen jemand ihren Platz wegnehmen könnte. Ich setzte mich derweil auf meinen. Das Mädchen ging lächelnd direkt zu mir und setzte sich links neben mich. So, Elli, jetzt oder nie. Würde ich still bleiben, würde nie etwas daraus werden.

»Hallo, ich bin Elli«, sprach ich sie an.

»Hi, ich bin Violetta«, antwortete sie auf Russisch und leise, weil der Unterricht bereits anfing.

»Ein ungewöhnlicher Name für ein russisches Mädchen«, flüsterte ich zurück.

Sie kicherte lautlos. »Ja, das höre ich oft.«

Frau Meier bat uns, auch noch sich gegenseitig vorzustellen.

Violetta war die letzten Tage krankgeschrieben und erzählte, dass sie vor zwei Jahren aus Russland gekommen war, daher hörte sich ihr Deutsch schon perfekt an. Und zu ihren Hobbys, wie sie sagte, zählte nur – Freunde zu treffen. Na, das hörte sich doch gar nicht mal so schlecht an.

Violetta und ich freundeten uns dann an und trafen uns auch nach der Schule immer öfter. Sie war sehr wachsam und abenteuerlustig. Sie hatte zwar immer viel geredet, aber damit konnte ich leben. Mit ihr würde ich nie vor Langeweile sterben. Und sie hatte tatsächlich kein Problem damit für mich neue Kontakte anzuwerben. So freundete ich mich dann mit fast allen Deutsch-Russen in der Schule an. Violetta und ich wurden sehr schnell dicke Freundinnen und man konnte jetzt schon sagen, sogar beste Freundinnen. Und so verflogen die Wochen bereits viel schneller.


Hellseherische Träume

 

Daran glaubte ich eigentlich nie. Und dass es ausgerechnet mich treffen würde, hatte ich meinen Lebtag nicht vermutet. Einige Leute, die davon wussten, fanden es spannend … »Oh wow, wie cool«, war Violetta darüber begeistert. Oh nein, so wow war es nicht – und schon gar nicht cool.

 

November 1996

 

Am Wochenende fuhr ich mit den Eltern zu meinen Großeltern, wo ich dann die Nacht über blieb. Ich liebte es dort zu bleiben, denn meine Oma verwöhnte mich mit ihren kulinarischen Köstlichkeiten. Besonders liebte ich es, Opa beim Fernsehen zu beobachten, wie er der Situation entsprechend Grimassen schnitt, mal grinsend, mal kräftig nickend, als würde er sagen: »Ja, ja, der Meinung bin ich auch!« Oder, wenn er den Kopf schüttelte: »Nein, geh da nicht hinein!« Oder er lächelte voller Freude, wovon auch ich automatisch lächeln oder gar kichern musste. Aber er hatte sich so auf das Fernsehen konzentriert, dass er nicht mal merkte, was um ihn herum passierte, oder dass er beobachtet wurde. Und was ich am meisten an ihm liebte, war, dass ich mich kuschelnd an seine Seite schmiegen durfte, er mich an sich presste, umarmte und immer sagte: »Mein Engel!« Und dabei gab er mir einen Kuss auf die Stirn. So nannten mich meine Großeltern seit meiner Kindheit. Das war das erste deutsche Wort, das ich gelernt hatte, bevor ich »Kuss« und »Gute Nacht« lernte.

Als ich nach Deutschland kam und bei ihnen das erste Mal über Nacht blieb, gab mir Oma, wie sie es früher auch immer getan hatte, einen Gutenachtkuss, als ich bereits im Bett lag, und sagte: »Meine Mutter, deine Uroma Elli, hat mir mal erzählt, dass ich mir auf einem neuen Schlafplatz wünschen soll, dass ich in einem Traum meinen Zukünftigen sehen will. Sie hatte nämlich hellseherische Träume, die sich bewahrheiteten. Sie machte sehr genaue Notizen darüber, deutete sie, klärte sie auf und verfolgte, ob sie in Erfüllung gingen.«

Ich sah sie zunächst verwundert an, denn so was hörte ich zum ersten Mal, es kam mir so komisch vor, dass ich kichern musste.

»Du lachst, ja, ich habe damals auch gelacht. Bei mir funktioniert es nicht, ich habe die Gabe wohl nicht geerbt … Sie hat mir erzählt, dass sie meinen Vater in ihrem Traum gesehen hat. Sie hat ihn danach tatsächlich getroffen. Jedes Mal wenn sie wieder an einem neuen Platz schlief, sagte sie diesen Spruch auf und sah immer und immer wieder über all die Jahre nur meinen Vater in ihren Träumen. Ihre Liebe hielt auch bis zum Schluss.«

»Das muss wohl die wahre Liebe sein«, schloss ich daraus.

»Ja, das war es wirklich, sie liebten sich sehr. Vielleicht funktioniert es bei dir, sag nur: An einem neuen Schlafplatz rufe ich in meinem Traum meinen Zukünftigen herbei.«

Dass ich es zuerst als Unsinn bezeichnete, hielt mich dennoch nicht davon ab, es auszuprobieren. Und ich sah tatsächlich in dieser Nacht nicht nur zum ersten Mal einen farbigen, klaren und deutlichen Traum, als würde ein Film in meinem Kopf ablaufen, sondern auch einen großen jungen Mann mit schwarzen Haaren und solch dunkelbraunen Augen, die wie Schokolinsen wirkten. Ich warf mich ihm um den Hals und küsste ihn leidenschaftlich, während die Apfelblüten von dem danebenstehenden Apfelbaum auf uns herabfielen. Es war ein unrealistisch schöner und romantischer Traum, den ich nicht mehr vergessen konnte. Selbst nach dem Aufwachen hatte ich das Gefühl, dass mich jemand im Arm hielt und die Blütenblätter über meine Wangen streiften, deren Geruch sogar noch in meiner Nase lag. Ich wünschte mir außerdem, dass es wahr werden würde, denn dieser tiefe Blick des jungen Mannes ging mir bereits bis in die Knochen, sodass es in mir kribbelte.

Doch in dieser Nacht sah ich einen anderen Traum, in dem ich in der Dunkelheit nach Evgenij suchte und seinen Namen rief. Aber es war still und alles schwarz. Ich bekam Panik, fing an, schreiend und weinend umherzulaufen, als würde ich mich beeilen müssen ihn zu finden, als ob mir die Zeit davonliefe. Dann sah ich ein Licht von oben nach unten scheinen, so als hätte jemand eine große Lampe eingeschaltet. Ich blieb abrupt davor stehen, als von der anderen Seite Evgenij in den Lichtkegel trat.

Ich begann schockiert zu flüstern: »Nein, nein … nicht …« und fing wieder an seinen Namen zu rufen. Er streckte mir die Hand entgegen und fragte mich leise: »Kommst du mit?« Ich wollte zu ihm laufen, aber ich war wie angewachsen und konnte mich nicht mehr vom Fleck rühren. Als ich sah, dass er im Licht nach oben schwebte und seine Gestalt langsam zu flimmern begann, fing ich an, lauthals zu weinen und schrie immer wieder seinen Namen. Er verschwand jedoch.

Mit einem riesigen Schreck wachte ich auf. Ich hörte das Gezwitscher der Vögel vor dem Fenster, und Omas Wohnzimmer, in dem ich schlief, erstrahlte im Sonnenlicht. Alles schien so friedlich und schön, aber mich bedrückte der Kummer wegen Evgenij. Immer noch zitterte ich und mein Hals brannte, womöglich hatte ich tatsächlich geschrien.

Es roch nach Omas Pfannkuchen und ich ging nach dem Waschen einfach der Nase nach. Meine Oma stand in der Küche am Herd und lächelte mich an, als sie mich sah.

»Mein Engelchen ist wach.« Sie strahlte auch wie die Sonne. »Ich habe für dich extra Pfannkuchen gemacht, bevor du heute wieder nach Hause fährst«, sagte sie liebevoll und goss den Teig für den nächsten in die Pfanne.

Ich nickte ihr noch etwas schläfrig zu und setzte mich an den Tisch. Noch immer kreiste Evgenijs Gestalt in meinem Kopf.

»Ich weiß noch, wie du in der Kindheit ungeduldig auf den ersten Pfannkuchen gewartet und ihn dann ungeschickt in deinen kleinen Händchen hin und her gewendet hast, bis er abgekühlt war und du endlich reinbeißen konntest.« Lächelnd sah sie mich über ihre Schulter an. »Was ist denn los, Liebes? Hast du dich etwa verliebt?« Sie lachte warm und legte mir dann die Pfannkuchen auf meinen Teller, den sie mir hingestellt hatte. »Du siehst so aus, als hättest du Liebeskummer.«

Ihr entging wirklich nie etwas. Ich wunderte mich. Wirklich? Bin ich verliebt? In Evgenij?

»Ich hatte nur einen merkwürdigen Traum«, fing ich an zu murmeln. »Der war so … echt, so klar … und fast real.«

Oma lächelte mich an. »Dann hast du wohl tatsächlich die Gabe deiner Uroma geerbt.«

»Kennst du dich auch mit Träumen aus?«

»Nicht sehr gut, ich habe von meiner Mutter einiges mitbekommen und manchmal las ich in ihren Deutungen.«

»Weißt du, was es bedeutet, wenn es überall schwarz ist und du jemanden siehst, der dich dann bittet mitzugehen und dann selbst … in einem Licht verschwindet?« Erwartungsvoll schaute ich sie an. Aber ihre Augen wurden starr, als hätte sie einen Geist gesehen.

»Nie, hörst du? Wirklich niemals geh mit einem Toten mit!«, brachte sie warnend hervor.

Ich schluckte hart. Nun wurden meine Augen riesengroß und ich schüttelte wie benommen meinen Kopf.

»Er ist nicht … tot!«, kam es mir fassungslos über die Lippen.

Sie seufzte nur und wandte ihren Blick ab.

»Nimm es dir nicht zu Herzen, Engelchen.« Ihre Stimme klang dennoch besorgt. Sie gab mir einen Kuss und ging aus der Küche. Mit dem Satz »Ich bin kurz einkaufen«, verließ sie dann auch das Haus.

Ich blieb wie gelähmt sitzen. Mein Inneres begann zu zittern. Diesen Gedanken konnte ich nicht mal annähernd akzeptieren. Doch je mehr ich an diesen Traum und Evgenijs letzten Brief dachte sowie daran, dass ich seit drei Wochen immer noch keine Antwort von ihm bekommen hatte, desto größer wurde der Schmerz in meiner Brust. Eine Hitzewelle nach der anderen jagte durch meinen Körper, die jedes Mal einen eiskalten Schauer hinterließen. Evgenij konnte nicht tot sein. Er war erst dreizehn, genauso wie ich. Das kann einfach nicht sein!

Abends hatten mich dann meine Eltern nach Hause geholt und auch meiner Mutter entging nicht meine Bedrücktheit. Ich erzählte ihr nichts, weder vom Traum noch von dem Gespräch mit meiner Oma. Das Einzige, was ich sie fragte, war, ob sie wusste, dass ihre Oma Elli hellseherische Träume gehabt hatte.

»Ja, ich habe oft in ihren Deutungen gelesen, weil Bücher so teuer waren, ich das Lesen aber so sehr liebte.« Sie sah mich im Auto über die Schulter an. Ich nickte nur und schaute aus dem Fenster. »Ich war und bin immer noch froh darüber, dass ich diese Gabe von ihr nicht geerbt habe«, fügte sie noch hinzu.

Ich ließ meine Stirn auf die Fensterscheibe sinken. Ich hoffe es auch, dass ich diese Gabe nicht geerbt habe. Doch danach sah es eigentlich nicht aus und ich konnte nichts dagegen tun.

 

Nach der Schule wollte ich sofort auf mein Zimmer gehen, um schnell Hausaufgaben zu machen, und dann etwas malen. Mir war so sehr danach. Ich malte immer, wenn ich mich schlecht fühlte, bekümmert oder nervös war. Malen war wie eine Beruhigungstherapie für mich oder eine Ablenkung von üblen oder bedrückten Gedanken. Womöglich war ich auch deswegen eher ein stilles Kind.

»Ach, Elli, ich habe einen Brief auf deinen Tisch gelegt«, sagte meine Mutter, als ich an ihr vorbeiging. Innerlich wallte alles auf. »Er ist von Helga.«

Meine Schultern sackten sofort nach unten.

Helga war meine zwei Jahre ältere Nachbarin in Russland, mit der ich wenig Zeit verbracht hatte. Eigentlich hatte ich nicht erwartet, dass sie mir jemals schreiben würde.

Der Brief war recht dünn, und als ich ihn öffnete, war nur ein halb gefaltetes DIN-A5-Blatt enthalten. Es war außerdem nur knapp beschriftet. Ich erwartete dort so etwas wie: »Wie geht’s dir? Mir geht’s gut!«, kurzes Blabla, »Schreib mir auch mal!« oder so ähnlich und begann daher sorglos zu lesen. Doch die ersten Zeilen lähmten mich völlig. Ich las sie noch mal. Und noch mal. Mein Atem wurde unbändig, während ich den ganzen Brief durchlas.

»Liebe Elli, ich weiß gar nicht, wie ich es dir schreiben soll. Es ist so tragisch, so traurig. Evgenijs Mutter hat mir erzählt, dass du Evgenij geschrieben hast und wohl auf seine Antwort warten würdest. Aber er ist nicht mehr da. Elli, sei jetzt stark, wenn du die nächsten Zeilen liest. So wie Evgenij das letzte halbe Jahr stark war. Evgenij hatte Leukämie. Leider hat er diesen Kampf verloren. Wir hoffen, er fühlt sich jetzt frei und ist im Himmel gut aufgehoben.«

Mir saß ein dicker Kloß im Hals, meine Augen fingen an zu brennen und ich bewegte den Kopf hin und her. Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da las. Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus und meine Knie gaben nach, bevor ich mich auf mein Sofa setzte. Ich zog die Knie zur Brust, umschlang sie, legte meinen Kopf darauf und fing an zu weinen. Oh Gott, du bist so ungerecht, so früh das Leben einem Menschen wegzunehmen. Er war doch noch ein Kind.

An diesem Abend konnte ich überhaupt nicht einschlafen. Ständig, wenn ich die Augen zumachte, sah ich in meinem Kopf die Erinnerungen an Evgenij. Wie wir meistens auf den Garagendächern lagen und einfach die Sonne genossen oder den strahlendblauen Himmel anschauten und rätselten, welcher Figur die Wolken gerade ähnelten. Wir redeten über jeden Quatsch. Es war so, als ob ich ihn neben mir liegen spüren könnte und auch den Duft der Akazienblüten riechen, die neben mir fast bis auf unsere Gesichter herunterhingen. In meiner Erinnerung sah ich Evgenij an, der mir Akazienblüten kauend den Zweig herüberreichte. Ich zupfte die Blüten ab und beförderte sie in meinen Mund. Der süße Geschmack verteilte sich auf meinem Gaumen. Genüsslich streckte ich mein Gesicht der Sonne entgegen und schaute einer kleinen Wolke zu, die am Himmel vorbeizog. So leicht und unbeschwert.

Ich öffnete meine Augen und starrte meine weiße Zimmerdecke an. »Ich gehe fort. Ganz weit weg, dorthin, wo keine Briefe ankommen«, erinnerte ich mich an die Worte in Evgenijs Brief. Das meinte er also damit – den Himmel. Meine Tränen nahmen wieder ihren Lauf.

 

Nicht nur Deutschland hatte Gesetze

 

… und Regeln, sondern auch meine Eltern hatten welche. Und was mein Vater sagte, war sowieso immer das oberste Gesetz. Auch wenn mein Vater dabei streng wirken wollte und ich es ihn auch glauben ließ, so muss ich eingestehen – das war er nicht. Aber das habe ich ihm natürlich nie verraten.

Ich wurde immer so erzogen, dass ich freundlich, respektvoll gegenüber den Erwachsenen und gehorsam und brav sein sollte. Das war ich auch. Zumal ich das auch richtig fand und auch so sein wollte. (Wir werden hier noch nicht ins Detail gehen, dass irgendwann im Leben mal ein Wendepunkt kommen würde, an dem man seine Grenzen austesten und rebellieren wollte.)

 

Dezember 1996

 

In einer Unterrichtsstunde wurden wir bereits vorab über unsere Zensuren informiert, denn in zwei Wochen würden die Weihnachtsferien beginnen. Meine Noten notierte ich für den Überblick in meinem Block. Mit jeder weiteren angekündigten Zensur wurde mir schlechter und meine Laune sank immer weiter. In Deutsch, Chemie, Biologie und Arbeitslehre hatte ich nur Dreier. Geschichte war ein totaler Reinfall, da würde es eine Vier geben. Nur in Mathematik hatte ich eine Zwei und in Sport und Kunst glänzten jeweils Einsen. Verdammt, ich bin nicht daran gewöhnt, so grottenschlecht zu sein.

In Russland hatte ich immer nur Fünfen – das wären hier Einsen. Ich hatte sechs Klassen mit Eins abgeschlossen und Urkunden dafür bekommen, auf denen noch Lenins Gesicht im Profil zu sehen war und darunter sein Spruch prangte: »Lernen, lernen und nochmals lernen«. Damit wurden früher die Musterschüler ausgezeichnet. Als ich in der sechsten Klasse war, wurden die Urkunden jedoch abgeschafft.

Nun fühlte ich mich dumm wie Stroh. Ich saß da und wurde sogar rot, schämte mich selbst für mich. Tja, und am Englischunterricht nehme ich noch nicht mal teil. Ich überlegte, ob ich mit Frau Meier reden sollte. Vielleicht würde sie mir einen Rat geben, ob ich zum Beispiel im Englischunterricht anwesend sein könnte. Mit meinen Zensuren würde ich nie ins Gymnasium kommen. Jetzt war mir auch nach Lachen zumute. Ha-Ha, Wirtschaftsprüferin! Das war genauso weit entfernt wie der Mond von mir.

Nach der Schule bat ich Frau Meier um ein Gespräch.

»Was ist los, Elli? Hast du irgendwelche Probleme?«, fragte sie mit ihrem künstlichen Lächeln.

»Ja … Meine Zensuren sind für mich ein Problem. Ich war noch nie so schlecht in der Schule«, nuschelte ich schon fast entschuldigend.

»Du bist einfach noch nicht so lange in Deutschland, Elli. Das wird schon noch werden, sprechen tust du ja schon gut.«

»Ja, aber mit solchen Noten kann ich den Beruf Wirtschaftsprüferin wirklich vergessen.«

Sie kicherte und strich dabei ihr Haar hinter das Ohr. Ich versuchte, ihr Kichern zu ignorieren, denn es klang eher spöttisch.

»Können Sie mir vielleicht irgendeinen Tipp geben … oder so etwas? Zum Beispiel, ob ich auch am Englischunterricht teilnehmen könnte, damit ich mich für das Gymnasium vorbereiten kann?«

»Nun, damit du ins Gymnasium kannst, musst du hier an der Hauptschule …«, hob sie das letzte Wort stimmlich hervor. Als hätte ich vergessen, wo ich mich befinde. »musst du einen Notendurchschnitt von zwei Komma null haben, damit du den erweiterten Realschulabschluss überhaupt bekommst. Wie viel hast du jetzt?«

»Ich glaube, ich muss nicht rechnen, ich vermute, drei Komma null. Aber mir fehlen ein paar Fächer, weil ich am Deutsch-Förderunterricht teilnehmen muss.« Ich überlegte kurz, ehe ich weitersprach. »Kann ich mit dem Deutsch-Förder aufhören? Ich werde es selbst zu Hause lernen und dafür nehme ich an den anderen Fächern teil, dann kann ich schneller den Unterrichtsstoff nachholen.«

Sie überlegte. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, war sie skeptisch. »Wenn du das so willst«, sagte sie dann leicht verunsichert. Ich nickte schwungvoll. »Und schaffst du es denn, dir Deutsch selbst beizubringen?«

»Ja, auf jeden Fall.«

»Trotzdem wäre da noch Englisch, ohne ist es schwierig, ins Gymnasium zu kommen, und ohne bekommst du nicht den erweiterten Realschulabschluss, selbst wenn du den vorgegebenen Notendurchschnitt erreichst. Außerdem musst du Mathematik und Englisch als Leistungskurse-A und nicht B belegen. In Mathematik hast du ja A, aber Englisch …«

»Und was kann man da machen?«

»Vielleicht kannst du erst mal am Englisch-Förderunterricht teilnehmen. Aber das ist vorerst auch schon alles.« Ich runzelte die Stirn und sie erklärte weiter: »In den Englischunterricht A-Kurs kann ich dich nicht dazusetzen, da würdest du nicht mithalten können.« Sie lächelte mies.

Ach ja, wie konnte ich es vergessen, sie ist ja nicht nur Deutsch-, sondern auch die Englischlehrerin. Meine Enttäuschung stand mir wohl ins Gesicht geschrieben.

»Elli, du hast wenig Chancen, in den drei Jahren … jetzt schon in zweieinhalb, zehn oder mehr Zensuren zu verbessern und noch dazu zwei Sprachen zu lernen. Ich glaube nicht, dass du es schaffen kannst.« Sie streichelte mich mitleidig an der Schulter. »Ich glaube, du solltest dir den Gedanken, aufs Gymnasium zu gehen und Prüferin zu werden, aus dem Kopf schlagen. Denk vielleicht noch einmal über deinen Berufswunsch nach, vielleicht wäre auch etwas wie Verkäuferin was für dich … oder etwas Ähnliches.«

Ich funkelte sie an und stand auf. »Danke, Frau Meier, aber an so etwas Ähnliches werde ich nicht einmal denken!«, versuchte ich nicht so scharf zu klingen, und sie sah mich erstaunt an. Ich verabschiedete mich trocken von ihr und ging nach Hause. Mir war nur noch nach Weinen, aber ich hielt meine Tränen bis zu Hause zurück.

An der Tür empfing mich schon meine Mutter. »Wo warst du?«, fragte sie mich besorgt, als ich meine Jacke auszog.

»Ich hatte noch ein Gespräch mit der Lehrerin«, brummte ich und verschwand stampfend in mein Zimmer.

Sie kam mir hinterher. »Wieso? Ist etwas passiert?«

»Ja, ist es!«, brachte ich heraus und warf vor Wut meine Schultasche in die Ecke.

»Elli!«, entsetzte sie sich. »Was ist los?«

»Ach, ist doch alles Mist. Wozu? Warum soll ich mir den Arsch aufreißen, wenn ich den Realschulabschluss eh nicht bekommen werde, geschweige den erweiterten?«

»Wieso das denn?«

»Weil ich eine Aussiedlerin bin, weil ich die Hauptschule besuche und das scheint so zu sein, als würde schon alles feststehen: Elli schafft es nicht!«, sprach ich aufgebracht und laut und gestikulierte dabei mit den Armen, während meine Mutter mit offenem Mund dastand und nichts begriff.

»Hat das etwa die Lehrerin gesagt? Warum?« Sie runzelte ihre Stirn.

»Weil sie der Meinung ist!«, blaffte ich zurück und plumpste auf das Sofa. Jetzt war der Damm gebrochen und mir schossen die Tränen in die Augen. Mutter umarmte mich, ich brabbelte völlig aufgelöst weiter und weinte dabei an ihrer Schulter, bis ich ihr alles erzählte.

Nach einer Weile richtete sie mich auf, um mich anzusehen. »Hast du eigentlich gewusst, dass Walt Disney fast neun Jahre gebraucht hatte, um Erfolg zu haben?« Mit Tränen in den Augen schüttelte ich den Kopf. »Oder dass Mendelejew eine Drei in Chemie hatte oder Albert Einstein, bis er vier Jahre alt war, nicht sprechen konnte und sein Lehrer ihn als ein geistig zurückgebliebenes Kind bezeichnet hatte?« Sie schmunzelte mich an. »Glaubst du immer noch, dass du es nicht schaffen kannst? Man kann alles schaffen, wenn man sein Ziel vor Augen hat und es auch erreichen will. Man muss sich nur weiterbewegen.« Ich schniefte mit der Nase. »Wenn du willst, kaufe ich dir Bücher, damit du lernen kannst. Aber, Liebes, mach dich nicht kaputt und vor allem lass dich nicht deswegen hängen oder entmutigen«, redete Mama auf mich ein und streichelte mich dann in ihrer Umarmung am Rücken.

»Werde ich auch nicht. Das war bloß ein kleiner Aussetzer. Sie wird noch sehen … Im Gegenteil!« Ich wischte meine letzten Tränen vom Gesicht ab.

»Du schaffst das auch, Elli«, meinte Mama lächelnd und ich zog meine Mundwinkel hoch.

»Ich weiß, Mama.« Ja, ich werde es schaffen. Ich weiß zwar noch nicht wie, aber ich werde es allen zeigen und beweisen.

 

Mein Wecker klingelte und ich tastete mit der Hand danach, um ihn auszuschalten. Oh Mann, keine Lust, aufzustehen. Aber noch etwas mehr als eine Woche, dann sind endlich Weihnachtsferien. Ich hörte meine Mutter im Bad hantieren. Wenn sie die zweite Schicht hatte, weckte sie mich immer und wir frühstückten zusammen.

Eingekuschelt im warmen Bett, lag ich noch ein paar Minuten einfach nur da und streckte mich vor dem Aufstehen genüsslich. Dabei berührte ich etwas mit der Hand hinter meinem Kopf und drehte mich überrascht um. Auf der Lehne meines Schlafsofas lag ein Geschenk – ein dickes Buch. Ich nahm es in die Hände und las die Überschrift: ›Der Brockhaus‹. Sofort kreischte ich laut vor Freude auf, als Mama schon aus dem Bad und in mein Zimmer kam.

»Mum, danke!«, rief ich und sprang winselnd auf das Sofa hoch. Als sie zu mir kam, umarmte ich sie fest.

»Herzlichen Glückwunsch zu deinem vierzehnten Geburtstag, Liebes. Ich hoffe, das wird dir weiterhelfen.« Sie küsste mich.

»Und wie! Das freut mich sehr.« Ich setzte mich hin und blätterte staunend ein paar Seiten durch.

»Das ist aber nicht dein Geschenk… eigentlich ist es das hier.« Sie deutete auf das Päckchen, das neben dem Buch lag.

»Oh ja, das habe ich auch schon bemerkt.« Ich nahm auch das in meine Hände. Es war genauso schwer und ich riss das rote Geschenkpapier herunter, während Mama sich neben mich setzte. »Maaama«, hauchte ich überwältigt, als ich die Buchtrilogie des Romans ›Tanja‹ von Susanne Scheibler in den Händen hielt. »Die waren doch teuer!«

»Ich weiß, dass ich das zu dir gesagt habe. Das war Absicht, damit du nicht mitkriegst, wie ich es besorge.«

»Ich danke dir.« Ich umarmte sie wieder und küsste sie auf die Wangen.

»Die Geschenke sind natürlich auch von Papa«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Ja, ich werde ihm heute Abend selbstverständlich auch danken. Und vor dem Schlafengehen fange ich noch mit dem ersten Roman an«, rief ich aufgeregt.

Ich stand auf und begann mich freudig für die Schule fertigzumachen.

»Wenn du öfter liest, wird dir das auch mit der Sprache helfen«, sagte sie, und ich nickte zufrieden.

Mit dem Deutschen würde es jetzt vorangehen, da war ich mir sicher. Daher musste ich mir nur noch etwas wegen des Englischen überlegen.

 

Im zweiten Halbjahr wurde ich auf meinen Wunsch vom Deutsch-Förderunterricht befreit. Meine Eltern kauften mir noch mehr Bücher, damit ich die deutsche Grammatik besser lernen konnte, und ich fing an zu Hause selbst dafür zu büffeln. Ich konnte jetzt deshalb am Englisch-Förderunterricht teilnehmen und suchte außerdem einen Privatlehrer auf. Meine Eltern waren damit sofort einverstanden, obwohl fünfzig Mark im Monat für uns noch sehr viel Geld waren. Deswegen musste ich jetzt leider auf die Klavierschule verzichten, die ich hatte wieder besuchen wollen. Natürlich war das Lernen kein Spaziergang. Und auf das Spazierengehen mit Freunden hatte ich abends im Übrigen auch verzichtet.

Am Ende des zweiten Schulhalbjahres hielt ich dann endlich mein Zeugnis in den Händen, und das giftige Lächeln von Frau Meier war mir nicht entgangen. Ich hatte noch mehr Dreier. Wegen des Ausfalls des Deutsch-Förderunterrichts konnte ich ja jetzt andere Fächer besuchen und somit hatte ich auch mehr Noten im Zeugnis. Aber zwei Zensuren hatte ich verbessert und im Englisch-Förderunterricht glänzte bereits eine Drei. Ich zeigte ihr mein erfreutes Lächeln. Dieses Zeugnis war für mich dennoch zufriedenstellend, denn ich hatte keine Vieren mehr. Weiter so, nur nicht nachlassen und die Ohren steifhalten.

Die Sommerferien hatte ich mit Violetta verbracht und manchmal trafen wir dabei auch unsere Freunde aus der Schule. Lange draußen zu bleiben erlaubten mir die Eltern eigentlich nicht. Ich respektierte das, denn ich selbst wollte ja so viel wie möglich lernen, damit mir das nächste Schuljahr nicht so schwerfallen würde.

Ich fing an, als Schülerin nebenher in einem Blumenladen zu arbeiten. Was mich dazu brachte? Ich hatte mich in ein Lederjäckchen verliebt und fragte Mama wegen des Geldes: »Mama, biiiitte. Ich verstehe, dass achtzig Mark nicht auf der Straße herumliegen, aber mein Herz sehnt sich so sehr nach dieser Jacke.«

»Wenn du dein eigenes Geld verdienen wirst …«, mischte sich mein Papa ein, »… dann kannst du dir das kaufen, wonach dein Herz sich sehnt

Was Papa sagte, daran war nichts mehr zu rütteln. Also musste ich mit meiner Niederlage erst einmal leben, – bis ich an diesem Blumenladen vorbeikam. Ich liebte Blumen, den Duft, vielleicht vermisste ich einfach unsere Blumenwiesen, die ich hier noch gar nicht entdeckt hatte. Also fragte ich einfach nach einem Schülerjob. Der Chef stellte mich sofort für vier Stunden an ein paar Tagen in der Woche nach der Schule ein. Er lehrte mich, Sträuße zu binden und Gestecke zu fertigen. Ich wusste nicht, dass mir das so viel Spaß machen würde, und schon nach drei Arbeitstagen konnte ich mir meinen Wunsch mit der Jacke erfüllen. Meine Eltern waren einerseits sehr stolz auf meine Selbstständigkeit, andererseits bemerkte ich auch eine gewisse Bedrücktheit in ihren Augen, wahrscheinlich deswegen, weil sie mich mit ihrem Verhalten zur Arbeit angetrieben hatten.

Ich hatte außerdem mein Äußeres verändert, ich hatte meine Haare zu einer modernen Stufenfrisur bis zu den Schultern abgeschnitten, wodurch ein paar Wellen in meine Haarspitzen kamen. Ich besorgte mir auch nach und nach von meinem verdienten Geld viele neue Klamotten, die momentan im Trend waren, wie beispielsweise Plateauschuhe, Jeans mit ausgeschlagenen Beinen, bauchfreie Tops und noch einige sportliche Sachen. So fühlte ich mich endlich lebendiger und so, wie ich wirklich war. Ich passte jetzt wenigstens, was die Klamotten anging, zu anderen Mädchen in der Schule und sah nicht mehr nach einem grauen Mäuschen aus.

 

Mein erster Freund


– wer hätte das gedacht – war Nick. Der Nick, der wegen mir so aus der Bahn geraten war und beinahe die Wand geküsst hatte. Bei näherem Betrachten, als er so neben mir in einer Kussreichweite stand, als ich mit ihm zufällig am Kiosk zusammengestoßen war, stach es in meiner Brust. Wehmut. Kummer. Sehnsucht. Aber vielmehr nach Evgenij. Er sah ihm aus der Nähe erschreckend ähnlich. Ich vermisste Evgenij sehr. Meinen ersten und einzigen besten Freund, den ich nicht so schnell vergessen konnte.

Nick und ich kamen zusammen. Nein, es war nichts Besonderes. Es war mein erstes Willst du mit mir gehen? – dieser Satz bringt mich noch heute zum Schmunzeln – die ersten Berührungen, Händchen halten oder engumschlungen nebeneinanderzusitzen und natürlich der erste Kuss, … der voll in die Hose ging. Außer etwas Fummelei hatte ich mit ihm keinen Sex. Er würde das erst dann tun, wenn ich ihn darum bitte, meinte er damals zu mir. Ich hatte kein Verlangen, ihn darum zu bitten. Nick war sehr sanft und liebevoll zu mir – obwohl, wie es sich rausstellte, er sonst eher ein Problemschüler war und viel Unsinn machte. Es erschien mir wie eine klischeehafte Beziehung – bad Boy meets good Girl. Obwohl er zu mir oder in meiner Gegenwart nie so frech war, dass ich seine schlechten Manieren bemerkte. An ihm konnte ich sehen, dass er mich wirklich liebte, besonders meine braunen Rehaugen, wie er mir sagte, hatten es ihm ziemlich angetan und er mochte es sehr, darin zu versinken. Und ich? Ich mochte ihn als Mensch, sein sanftes Lächeln, dem man nicht widerstehen konnte und automatisch zurücklächeln musste, und ich mochte seine handwerkliche Geschicklichkeit, wie er mit seinen siebzehn Jahren aus Schrottteilen ein Moped selbst zusammenbauen konnte. Als ich ihn fragte, ob er mich damit mitfahren lassen wolle, war er perplex …

»Ich liebe halt Adrenalin«, erklärte ich ihm damals.

»Irgendwann mal, ganz bestimmt«, antwortete er mit einem sanften Lächeln. »Aber nicht mit dem Schrottteil … Sondern wenn ich ein richtiges Motorrad habe. Okay?«

Ich grinste. »Okay … Ich erinnere dich daran.«

»Brauchst du nicht. Ich verspreche es dir!« Sein Blick versprach es mir auch.

Das hatte er auch wirklich gehalten – nur wesentlich später, viele Jahre später. Genau dann, als ich es am wenigsten erwartet hatte.

Aber so wie er für mich fühlte, konnte ich für ihn nichts empfinden. Viele erzählten von einer Explosion, Feuer, einem Ausbruch der Gefühle, wenn sie von der Liebe sprachen, und bei mir war einfach … nichts … Okay, Schmetterlinge im Bauch waren schon da. Mir war warm und heiß, vielleicht brannte da ein kleines Feuerchen, aber ohne Explosion. Meine Liebe zu ihm konnte sich einfach nicht entwickeln, sosehr ich es mir auch wünschte. Noch nicht, dachte ich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 30.05.2018
ISBN: 978-3-7438-7069-7

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