Weit entfernt vom Walddickicht der Blumenelfen lag eine Hügelkette. Wie Meereswogen zogen sich die mit dichtem, grünem Gras bewachsenen Erhebungen dahin, immer eine nach der anderen. Unter dem größten dieser Höcker lag ein Elfenpalast. Im Licht der Morgensonne tanzte eine der dort lebenden Elfen über die Wiesen, flog um die Insektenschwärme herum – oder auch manchmal mitten hindurch – und freute sich über die unzähligen Blumen, die langsam ihre Blütenkelche öffneten.
Urplötzlich, ohne jede Vorwarnung, wurde das Elflein von einer unglaublichen Kraft durch die Luft gewirbelt. Fast gleichzeitig hallte ein furchtbarer Knall über das Land. So laut, dass das Elflein davon regelrecht betäubt wurde. Haltlos überschlug es sich immer wieder, die Hände vor die Ohren gepresst, die Augen aber weit aufgerissen vor Schreck.
Voller Entsetzen sah es, wie der Hügel über dem Elfenreich sich emporwölbte, aufriss und in abertausend Stücke explodierte. Eine riesige Staubwolke erhob sich in den Himmel. Die Druckwelle schleuderte das Elflein erneut davon. Geschockt und taub schlug es instinktiv die zarten Flügel, schaffte es irgendwie, den tosenden Windböen zu entkommen, und floh vor dem Inferno, das sein Reich zerstörte.
Lange Zeit war das Elfchen nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Es flog einfach nur immer weiter. Der Tag wurde zur Nacht, hell folgte auf dunkel. Ohne die Sonnenauf- und -untergänge zu zählen, trieb es das Elflein vorwärts. Es spürte weder Hunger noch Durst, merkte nicht einmal, wie seine Kräfte nachließen. Nur die Flügel schwangen langsamer und langsamer auf und ab. Irgendwann, in tiefer Nacht, prallte es gegen etwas. Automatisch klammerte es sich daran fest, um nicht auf den Boden zu stürzen.
Verwirrt schüttelte es den Kopf und betastete mit den Händen dieses harte, raue Etwas. Eine Wand erhob sich vor dem Elfchen. War die Welt hier zu Ende? Noch immer krank vor dem Grauen der Erinnerung kam es gar nicht auf die Idee, einfach zur Seite zu fliegen und zu schauen, wie weit diese Mauer reichte. Wie ein Käfer ohne Flügel krabbelte es daran entlang und fand einen Spalt. Das Elflein kroch hindurch und schob dabei Spinnweben und Staub beiseite. Es fühlte warme Luft um sich herum, rollte sich zusammen und fiel in einen tiefen Schlaf.
Lärm weckte es wieder auf. Verstört und etwas verängstigt blickte das Elfchen um sich. Es lag in einer Art Höhle, die allerdings senkrechte, völlig gerade Wände besaß. Über ihm befand sich eine ebenso glatte Decke. Es drehte sich um. Da war der Spalt, durch den es hereingekommen war. Jetzt bemerkte das Elflein, dass es mehrere schmale, hohe Öffnungen gab, die dicht nebeneinander durch die Wand nach draußen führten.
Der Krach jedoch kam aus der anderen Richtung. Das Elfchen kroch auf Händen und Knien – obwohl die eigenartige Höhle groß genug war, um darin stehen zu können – dorthin, bis zu einer Art Gitter. Die quadratischen Aussparungen waren ausreichend, um sich bequem hinzusetzen. Mit großen Augen musterte das Elflein die Welt, die dahinter lag.
Sie war voller Menschen! Und hatte Wände, dunkle Holzwände! Ein Raum, begriff das Elfchen. Die großen Wesen saßen und standen überall darin. Entweder an den vielen Tischen, aber auch entlang eines breiten – ‚Dings‘. Erst nach einer Weile fiel dem Elflein das Wort dafür ein. Das war ein Tresen. Darauf befanden sich viele Gläser, aus denen die Menschen tranken, während sie sich lautstark unterhielten. Das war der Lärm, von dem das Elfchen wach geworden war.
Wo war es bloß hingeraten? Hier existierte keine Sonne, aber gelbliches Licht erhellte den Raum. Benommen von dem Krach – und seinem inzwischen kaum noch erträglichen Hunger und Durst –, beugte sich das Elfchen etwas vor, um besser sehen zu können.
„He! Du hast Ungeziefer in deinem Pub!“, rief da eine besonders laute Stimme und einer der Menschen zeigte nach oben. Direkt auf das Elflein!
Vor Schreck fiel es herunter und konnte sich gerade noch an einer der hellen Leuchten an der Wand festhalten.
„Was ist das denn für ein komischer Käfer“, brummte der Mann hinter dem Tresen und ging auf das Elflein zu.
Mit zusammengekniffenen Augen musterte der Mensch die kleine Gestalt. Das Elfchen hielt voller Angst die Luft an.
„Na sowas! Das gibt es doch gar nicht! – Du bist ja ein Elf!“, staunte der Mann einen Moment später. „Aber total verdreckt. Wie kommst du denn in meinen Pub?“
Verdreckt? Endlich begriff das Elfchen, warum es nicht fliegen konnte. Seine zarten, durchsichtigen Flügel, sogar die zierlichen, glasartigen Härchen an dessen Rändern, waren voller Staubflocken und klebriger Spinnweben. Das Zeug war überall, auch die Arme und Beine, selbst seine feinen, silbrigen Haare bedeckte eine graubraune Schmutzschicht. Igitt!
Es konzentrierte sich auf seine Elfenkräfte – warum fiel ihm das nur so schwer? – und säuberte sich eilig mit einigen Handbewegungen. Mit der magischen Hilfe benötigte man dazu weder Wasser noch Seife. Letzteres benutzten Elfen ohnehin nie. Nur Menschen rochen oftmals danach, sinnierte das Elflein dabei unbewusst.
Allerdings schwächte es diese Anstrengung noch mehr. Stöhnend ließ das Elfchen sich auf den gebogenen Lampenfuß sinken und legte den Kopf in die kleinen Hände.
„Was ist denn los? Du siehst irgendwie … krank aus“, fragte der Wirt verdutzt. Denn wenn es sein Pub war, musste er das wohl sein.
„Ich habe solchen Hunger“, flüsterte die kleine Elfe.
„Oh! Hm, ich weiß nicht, was du magst. Aber ich habe Erbsensuppe. Willst du nicht herunter kommen? Warte, ich helfe dir.“
Mitleidig nahm er das Geschöpfchen vorsichtig in die Hand und setzte es auf dem Tresen wieder ab. Streng blickte er in die Runde: „Dass mir keiner von euch Trampeln das zarte Dingelchen anrührt, verstanden?“
Sofort ruckten die Männer, die sich neugierig herangeschoben hatten, wieder ein Stück beiseite. Wenige Augenblicke später stieg dem Elfchen ein fremdartiger Geruch in die Nase. Es hob den Kopf, vor ihm stand ein durchsichtiger, riesiger Eimer. Er ging ihm bis zum Bauch.
„Ich habe es in ein Schnapsglas gefüllt, damit du besser drankommst. Aber so einen kleinen Löffel besitze ich nicht.“
Dem Elfchen war das inzwischen gleichgültig. Sein Magen schmerzte viel zu sehr. Es schwang sich auf den Rand und begann, die Suppe zu schlecken. Es war ganz gewiss kein frischer, wohlschmeckender Blumentau und auch kein süßer Blütennektar, aber es sättigte.
„Danke, vielen Dank“, meinte es, als es keinen Bissen mehr herunter bekam. „Das hat gut getan. Wo bin ich hier eigentlich?“
„In meinem Pub ‚Zum tanzenden Frosch‘. In Cornaglea“, erklärte der Wirt.
Das sagte dem Elfchen allerdings überhaupt nichts. Es hatte das Gefühl, sich in einer völlig anderen Welt zu befinden, die absolut keine Ähnlichkeit mit seiner gewohnten besaß. Seine Heimat existierte ja auch nicht mehr, erinnerte es sich voller Kummer.
„Ich bin so einsam. Darf ich hier bleiben?“, bat es.
Dem Wirt war das recht, und so saß das Elfchen in den nächsten Tagen und Wochen jeden Abend auf dem Tresen und unterhielt sich mit den Besuchern. Die strömten nur so in den Pub, um den seltsamen, kleinen Schützling des Wirts in Augenschein zu nehmen. Manchmal schwang es sich in die Luft und ließ seine Flügel schwirren. Selbst die Menschen konnten dann die wundersame Musik hören, die diese, zusammen mit den feinen Härchen an deren Rändern, entstehen ließen.
Tagsüber schlief es oben in der ‚Höhle‘. Der Wirt hatte ihm lachend erklärt, das sei das Gehäuse des uralten Ventilators, das nur noch da hing, weil die Schrauben festgerostet waren. Es gab längst einen neuen, wesentlich moderneren. Der gutmütige Mann machte in dem Kasten bereitwillig sauber und legte mehrere weiche Stofflappen hinein. So besaß das Elflein ein einigermaßen gemütliches Heim.
Eines Abends öffnete sich wieder die Eingangstür des Pubs und eine wohlbeleibte, schon etwas ältere Frau trat ein. Sie wurde von den Menschen mit freundlichen Rufen begrüßt: „Aber hallo, das Kräuterweiblein ist wieder im Lande. Wie geht es Ihnen, Miss Hullywing?“
„Hervorragend, ich habe in Dublin gute Geschäfte gemacht. Aber jetzt bin ich froh, wieder daheim zu sein“, gab sie zurück. „Machen Sie mir ein Guiness, Wirt! In der Stadt schmeckt das Gebräu scheußlich, musste ich feststellen.“
Dann blieb ihr der Mund offen stehen. „Was ist das denn?“, entfuhr es ihr. „Ein Elf! Ja, wie kommt denn ein Elfchen in Ihren Pub?“
Stolz berichtete der Wirt, wie das kleine Wesen eines Nachts erschienen war. „Und nun lebt es bei mir“, schloss er. Leise fügte er hinzu: „Ich bin mir nur nicht sicher, ob es wirklich gesund ist. Es ist gut, dass Sie wieder hier sein. Vielleicht wissen Sie, was ihm fehlen könnte. Ich habe immer gehört, dass Elfen fröhliche Geschöpfe sind. Aber dieses wirkt meist traurig.“
„Das wundert mich überhaupt nicht“, versetzte die Frau, die sich mit der Natur auskannte, sofort. „Elfen gehören nicht in geschlossene Räume und ganz gewiss leben sie nicht in einem Pub.“ Sie wandte sich dem kleinen Elfchen zu. „Erzähl doch einmal, wie es dazu kam, dass du hier aufgetaucht bist.“
Prompt begann das Elflein zu weinen und berichtete schluchzend, dass sein Elfenhügel von einer grauenhaften Explosion zerstört worden war. Und nun sei es völlig allein. Deshalb wäre es dankbar, dass die Menschen es bei sich aufgenommen hätten.
„Aber es gibt doch überall Elfen“, meinte die Frau sofort. „Du armes Ding. Wahrscheinlich war der Schock so groß, dass du dies vergessen hast. In gewisser Hinsicht bist du vermutlich krank. Du musst dich erinnern! Aber hier kannst du das nicht. Du brauchst die Natur dazu. Weißt du was? Gleich morgen früh komme ich und bringe dich hinaus in den Wald. Dort fühlst du dich garantiert besser.“
„Gibt es denn wirklich andere Elfen?“
„Ganz sicher!“, bestätigte die Kräuterfrau.
Der Wirt war allerdings überhaupt nicht begeistert, seinen kleinen Gast wieder zu verlieren. Das Elflein sorgte für einen beständigen Zustrom an neugieriger Kundschaft, die ihm gutes Geld einbrachten. Die Frau sah ihn streng an, als er das vorbrachte. „Wollen Sie dem Elflein helfen oder nicht?“
„N..n…natürlich will ich das“, stotterte er verlegen.
„Warte einen Moment“, sagte da das Elfchen. „Ich schenke dir etwas. Als Dank für deine Hilfe und Freundlichkeit.“
Es zupfte eine Handvoll der feinen Härchen vom Rand seiner Flügel. Dann flog es hinauf in die Nähe des ständig laufenden Ventilators und klebte sie in dem Luftstrom davor fest. Die Bewegungen der glasartigen Fäden verursachten Töne, die lieblicher klangen als die reinsten, klarsten Glocken und bildeten wunderschöne Melodien. Mit seiner Magie verstärkte das Elflein die Lautstärke, damit Menschenohren diese Musik vernehmen konnten.
Der Wirt staunte mit offenem Mund. „Das ist das herrlichste Geschenk, das ich jemals bekam.“ Seine Augen begannen zu glänzen. „Danke, Elflein.“
Am nächsten Morgen setzte sich das Elflein auf die Schulter der Kräuterfrau. Diese wanderte mit ihm zum nahegelegenen Wald. Mit jedem Schritt, der es näher zu den Bäumen brachte, fühlte das Elfchen sich kräftiger und gesünder. „Oh! Das tut gut! Es ist, als würde ich aus einem Traum erwachen.“
„Siehst du! Du brauchtest nur die Natur um dich herum“, lachte die Kräuterfrau.
Sie lief weiter bis zu den heiligen Steinen, unter denen, laut uralter Menschenlegenden, ein Elfenpalast lag. Als das Elflein das große Elfentor erblickte – denn nichts Anderes waren diese Steine – flog es freudig rufend darauf zu. „Das sieht aus wie zu Hause!“
„Hier in der Nähe soll es auch ein Elfendickicht geben“, meinte die Menschenfrau. „Ich kenne es nicht, aber sicher wirst du es leicht finden. Lebe wohl, mein kleiner Freund.“
„Warte!“
Aber die Frau hatte sich schon umgewandt und ging wieder zum Dorf zurück. Mit glänzenden Augen sah das Elflein ihr hinterher. „Hab Dank, liebe Menschenfrau“, flüsterte das Elfchen und hob die Hand. „Sei gesegnet!“ In diesem Moment fiel ein Sonnenstrahl hell auf die Frau und hüllte sie ein. „Du wirst immer eine Elfenfreundin sein.“
Dann flog es unter die Bäume. Schon von weitem erkannte es das Dickicht. Die Blumenelfen staunten, als es das fremde Elfchen erblickten. Sie umringten es und brachten es zu ihrem Anführer. Dort bat es darum, in diese Gemeinschaft aufgenommen zu werden, was ihm gerne bewilligt wurde. Damit hatte das Elflein endlich wieder ein Zuhause.
Der Wirt des Pubs jedoch sägte, malte und lackierte drei Tage lang an einem neuen Schild für seine Gaststätte. Nun hieß sie: ‚Pub zur Elfenmusik‘. Es wurde in weitem Umkreis bekannt und ständig kamen Besucher, um die wunderschönen Klänge darin zu hören.
Cover: Bildmaterial aus Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2022
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