Aufgeregt beobachteten die Blumenelfen den am Horizont aufgehenden Mond. Langsam stieg er höher am Himmel hinauf und sein silbriges Licht erhellte den stillen Wald.
„Seht“, wisperte eines der kleinen, nur menschenhandgroßen Wesen und schwang sich anmutig auf ein größeres Blütenblatt. „In zwei Tagen ist er voll.“
Alle anderen nickten schweigend. Jeder dachte an die Prophezeiung ihres Königs. An Samhain, dem einen, besonderen Vollmond, sollte dieses Mal etwas Einzigartiges geschehen. Die mächtigen, kaum zu begreifenden Schranken zwischen Welten und Dimensionen würden sich öffnen. Das war seit Äonen nicht mehr vorgekommen, selbst die ältesten der Elfen kannten nur vage Erzählungen aus den Zeiten, als Derartiges normal gewesen war.
Damals kamen die ersten von ihnen aus den Gefilden der Ewigkeit zur Erde und fanden diese Welt so faszinierend, dass sie blieben – obwohl die Grenzen immer undurchdringlicher wurden. Inzwischen waren die Phänomene an Samhain selbst für sie fast ein Mythos. Manchmal konnten sie für einen winzigen Augenblick in diesen Nächten einen leichten Schimmer in der Luft erkennen, wie wenn ein Schleier sich bewegte.
Doch an diesem Vollmond wäre es wie früher, als die Welt jung war. Die Elflein bereiteten sich erwartungsvoll darauf vor. Tagsüber schwangen sie sich in die vom Sonnenlicht durchflutete Luft über den Blumen und Gräsern der Lichtungen zwischen den Bäumen. Sie fingen die goldenen Strahlen in ihren Flügeln ein und speicherten sie in den filigranen, in allen Regenbogenfarben glänzenden Härchen, die deren Ränder säumten. Dadurch klangen die glasklaren Töne, die sie beim Fliegen damit erzeugten, noch lieblicher. Sie wuschen die grünlichen, seidigen Haare mit Blumennektar und kleideten sich in die feinsten, aus Pollen und den zartesten Blütenblättern gewebten Elfengewändern.
Schließlich war es soweit. Alle versammelten sich um den großen Steinkreis herum. Unruhig schwirrten sie durch die Luft und beobachteten das heller werdende Mondlicht. Die grauen Granitblöcke begannen zu glitzern, kleine eingeschlossene Quarze warfen das silbrige Licht, Spiegeln gleich, wie funkelnde Blitze zum Himmel zurück.
Innerhalb des Ringes erhob sich ein Windhauch. Er wirbelte das Laub auf und blies es durch die Spalten bis die Fläche völlig blank dalag. Aus dem Nichts erschien eine schmale, senkrechte Lichtlinie. Sie verbreitete sich wie ein Riss und öffnete sich zu einem Torbogen. Staunend beobachteten die Blumenelfen das Wunder, keiner wagte sich zwischen die Stelen.
Sphärenhafte Musik erklang, erst ganz leise, ehe sie langsam immer lauter anschwoll. Sie versetzte die Elflein in Ekstase, derart herrliche Klänge hatten sie noch niemals gehört. Sie bewegten sich zu den paradiesisch anmutenden Melodien und tanzten graziös durch die Lüfte. Ihre Flügel sangen glockenrein, genau passend zu den Tönen und schufen eine vollkommene musikalische Welt.
Dann traten Wesen aus der überirdischen Öffnung. Sanft leuchtende Umhänge bauschten sich um die hochgewachsenen Körper. Ihre Gesichter strahlten Frieden und Glück aus. Über ihren Schultern hoben sich schneeweiße, zierliche Flügel in die Luft.
Ein fast einstimmiges „Ohhh“ erklang von den Elfen. Fasziniert betrachteten sie die märchenhaften Fremden. Zwei von ihnen traten auf sie zu und hoben lächelnd die Hände zum Gruß.
„Endlich können wir euch wieder besuchen. Ihr scheint zu den Blumenelfen zu gehören. Wir freuen uns sehr, dass ihr gekommen seid.“
Das vorwitzigste Elflein flog auf die beiden zu. „Ja, das sind wir. Und wer seid ihr?“
„Erinnert ihr euch denn nicht mehr an uns?“
„Wir kennen Mythen von den ewigen Gefilden, aus denen unsere Vorfahren stammten. Aber keiner von uns weiß Genaues darüber.“
Ein Schatten glitt über das Gesicht der geflügelten Gestalt. „Das war wohl leider zu erwarten. Ihr lebt schon so lange auf der Erde, dass ihr die absolute Unsterblichkeit verloren habt. Wir sind Engel, eure Brüder und Schwestern. Denn ihr wart einmal wie wir, doch habt ihr euch für eine andere Existenz entschieden und unsere Wege trennten sich.“
Der Sprecher hielt dem Elflein die Hand hin und dieser setzte sich darauf. „Es ist wie die Erfüllung eines Traumes, mit euch zu sprechen“, flüsterte er ehrfürchtig.
„Das ist es für uns auch. Wollen wir miteinander diese eine, einzigartige Nacht feiern?“
Da lachten die Elfen, denn ein Fest war ihnen immer willkommen. In Windeseile brachten sie Elfenwein und würzigen Tau, Beerensaft und Blütenstaub herbei. Die Engel hingegen legten auf seidig glänzende Tücher herrlich duftendes Brot und weiße, lockere Kuchen. Dann schmausten und tranken alle zusammen, jeder unterhielt sich mit jedem. Der Steinkreis wimmelte von kleinen und großen Wesen, die lachten und tanzten.
Vom Himmel fielen Sternschnuppen und der Mond leuchtete fast so hell wie die Sonne bei Tag. Erst nach Stunden, das silbrige Nachtgestirn berührte schon den Horizont, verabschiedeten die Engel sich von den Elfchen.
„Habt Dank für diese Feier. Wir werden den anderen berichten, dass ihr glücklich hier auf der Erde seid. Irgendwann wird es eine weitere Nacht geben, in der die Grenzen sich öffnen und wir uns erneut sehen können.“
Auch die Blumenelfen erhoben sich. „Wir freuen uns darauf. Niemals werden wir euch vergessen und allen von diesem Wunder erzählen.“
Sie zogen sich aus dem Ring zurück. Die Engel traten in den Lichtbogen, der mit dem schwindenden Mondlicht zusammen blasser wurde, bis er verschwand. Die uralten Granitblöcke standen wieder schlicht und dunkel auf der Lichtung.
Stumm blieben die Elflein noch eine Weile wie wartend auf der Lichtung, doch die verzauberte Zeit war vorbei. Leise miteinander flüsternd flogen sie zu ihrem Dickicht tief im Wald zurück.
Cover: Created von Anne Grasse. Steinkreis von PIRO4D auf Pixabay, Elf von Majabel Creaciones und Engel von Mary Gorobchenko, jeweils auf Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 06.05.2020
Alle Rechte vorbehalten