Das Elflein saß auf einem dicken Buchenast am Waldrand. Er ragte weit über die große Wiese hinaus, die sich zwischen den letzten Häusern des Dorfes und dem Wald ausbreitete. Staunend blickte es auf die Menschenmenge, die sich dort tummelte. Das dichte Laubwerk verbarg es vor den Blicken der Menschen. Doch die Blätter nahmen dem Elflein auch selbst die Sicht. Es konnte immer nur einen kleinen Abschnitt der Wiese sehen, je nachdem, wo es durch das Blattwerk lugte.
Ärgerlich darüber erhob sich das Elflein in die Luft, flog über den Ast hinweg bis ganz nach vorne zu seiner Spitze. Hier war er nur noch ein dünner Zweig. So konnte das Elflein sich sogar rittlings daraufsetzen. Nun war es zwar nicht mehr versteckt, aber die Menschen müssten schon sehr genau hinsehen, um den kleinen Körper, der nicht größer als eine Menschenhand war, so hoch oben erkennen zu können.
Neugierig sah es sich um. Offensichtlich feierten die Menschen ein Fest. Manche hatten Decken mitgebracht, die sie auf dem Gras ausbreiteten, ebenso Körbe mit Essen und Trinken. Sie lachten und unterhielten sich. In Richtung des Dorfes waren mehrere große Tische aufgebaut worden. Anscheinend wurde dort weiteres Essen angeboten. Das Elflein zog die kleine Nase kraus. Die Gerüche, die der Wind herantrug, waren fürchterlich. Doch die Menschen schienen es zu mögen. Vor allem die Kinder umlagerten diese Tische begierig.
Das Erstaunlichste dieses eigenartigen Festes jedoch stand mitten auf der Wiese: ein völlig kahler Baum. Das Elflein war sich völlig sicher, dass dort noch nie ein Baum gestanden hatte, noch dazu ein solch hässlicher, halb zerstörter Baum. Ja, eigentlich war es nur der Stamm, ohne jeden Ast, sogar ohne Rinde.
Die Menschen mussten ihn dorthin gebracht haben. Doch warum? Allerdings, so wirklich kahl war der Baum nicht, überlegte das Elflein sich. Denn oben, an der Spitze des Stammes befanden sich große Ringe, an denen Bänder angebracht waren. Bunte Stoffstreifen, die rings um den Stamm bis hinunter auf den Boden fielen und sich dort im Gras ringelten. Auf irgendeine Art fand das Elflein diese Bänder hübsch.
Plötzlich erscholl ein neues Geräusch, es übertönte selbst das laute Stimmengewirr der Menschen. Ein dumpfes Pochen, dass sich immer wiederholte. Das Elflein erschrak so sehr darüber, dass es fast vom Ast gefallen wäre. Weitere Geräusche erklangen. Das war Menschenmusik, begriff es. Das Elflein erkannte nun, gar nicht weit weg von seinem Ast, eine Gruppe junger Leute, die verschiedene Musikinstrumente bearbeiteten. Fasziniert hörte das Elflein zu, es war laut und für seine kleinen Ohren auch schrecklich misstönend. Doch schon bald konnte es eine Melodie erkennen. Das Elflein begann zu lächeln, eigentlich klang es sogar ganz hübsch, gab es für sich zu.
Eine große Anzahl junger Leute stellte sich nun um den Baum auf. Sie bildeten zwei Kreise, einer mit jungen Mädchen und ein etwas größerer um sie herum mit jungen Männern. Jeder der Menschen ergriff eines der bunten Stoffbänder, die an dem Baum befestigt waren. Dann begannen sie um den Baum herumzulaufen. Allerdings nicht gleichmäßig. Die Mädchen liefen in die eine Richtung, die Männer genau entgegengesetzt.
Erst nach einer Weile erkannte das Elflein, dass sie sich nicht einfach um den Baum herumgingen. Ihre Beine hoben und senkten sich im Takt zu der seltsamen Musik, die Arme und Hände schwangen gleichmäßig durch die Luft, hoch und runter. Dabei drehten sie sich immer wieder um sich selbst, mal rechts herum, mal links herum. Das Elflein staunte. Diese Menschen tanzten. Nun ja, zumindest, was die Menschen tanzen nannten. Es konnte sich absolut nicht mit den schwerelosen Tänzen der Elfen vergleichen.
Was wohl auch verständlich war, überlegte das Elflein. Denn so groß und plump wie die Menschen waren, konnten sie natürlich niemals so anmutig tanzen, wie die zierlichen, grazilen Elfchen. Und doch sah es hübsch aus, wie die jungen Menschen sich um den Baum herumbewegten. Die anderen Menschen sahen ihnen zu, viele klatschten im Takt der Musik mit den Händen oder tanzten ebenfalls auf der Wiese. Andere lachten und sangen dazu.
Das Elflein begann, sich ebenfalls zur Musik hin und her zu wiegen. Schließlich erhob es sich von seinem Ast und ließ seine Flügelchen singen. Die Glöckchen und Härchen dort sangen und klangen und bildeten eine ganz eigene Musik. Das Elfein drehte Kreise und Pirouetten zu seiner Flügelmusik. Aber irgendwie hatte es keine Lust, alleine zu tanzen. Und so flog es hoch über den Menschen hinweg bis zur Spitze des kahlen Baumes und ließ sich dort nieder.
Dort ließ es wieder seine Flügel singen und tanzte dazu. Selbst wenn die Menschen ganz still gewesen wären, hätten sie diese feine, singende Melodie der Elfenflügel nicht hören können. Sie war viel zu leise für Menschenohren. Und so tanzten die Menschen unten auf der Wiese um den Baum und weit oben drehte sich das Elflein in der Luft. Im selben Takt, doch zu einer anderen Melodie.
Erst als die Menschenmusik verstummte, hörte auch das Elflein auf zu tanzen und blickte wieder hinunter. Die Mädchen und Männer standen noch immer im Kreis um den Baum und alle anderen sahen zu ihnen hin. Dann begannen alle Menschen laut zu klatschen. Das Elflein hob rasch die Hände an die Ohren, was allerdings nicht viel brachte. Der Lärm war furchtbar. Zum Glück hörten sie schon nach kurzer Zeit wieder damit auf.
Die Mädchen und Jungen, die um den Baum getanzt waren, liefen wieder zu den anderen Menschen. Alle unterhielten sich wieder, aßen oder saßen einfach da und genossen den Sonnenschein. Die Kinder lachten und spielten, kaum einer der Menschen sah noch zu dem Baum hin.
Aber weshalb hatten die Menschen diesen Tanz aufgeführt? Wieder sah das Elflein hinunter. Irgendetwas hatte sich verändert, stellte es fest. Wo waren die bunten Bänder geblieben? Gerade eben waren sie noch vom Baum heruntergehangen bis zur Erde. Jetzt schienen sie verschwunden zu sein. Das Elflein sah sich noch einmal um. Nein, sie konnten nicht weg sein. Denn hier oben, an der Spitze des Baumes waren alle Bänder noch da. Sie begannen an den großen Ringen, die hier an dem Stamm befestigt waren.
Das Elflein kniete sich hin und sah dicht am Stamm hinunter. Und dann erkannte es, dass die Stoffstreifen tatsächlich noch da waren. Aber sie hingen nicht mehr lose herunter, sondern waren kreuz und quer um den Stamm herumgewickelt. Das Elflein flog auf den Buchenast zurück, um sich das Ganze aus der Ferne anzusehen.
Dort stand es und staunte – und lachte plötzlich auf. Deshalb hatten die Menschen diese Stoffstreifen an dem Baum angebracht. Nun, nach dem Tanz, war der Baum zwar immer noch kahl, aber nicht mehr schmucklos. Die bunten Bänder umwanden ihn bis fast zum Boden hinunter und leuchteten in der Sonne wie ein Regenbogen. Allerdings einer, in dem die Farben völlig durcheinander waren. Dem Elflein gefiel dies aber, es sah sehr hübsch aus.
Was für seltsame Ideen die Menschen doch hatten, dachte das Elflein. Es beschloss, seinen Kameraden von dem seltsamen Tanz zu erzählen, den die Menschen heute aufgeführt hatten, und auf welch nette Weise sie dadurch den kahlen Baumstamm geschmückt hatten. Immer noch völlig unbemerkt flog das Elflein wieder in den Wald hinein.
Cover: Bild von Anastacia Cooper auf Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 31.01.2020
Alle Rechte vorbehalten