Der strahlende Sonnenschein lockt mich nach draußen. Ende Februar und frühlingshafte Temperaturen, es wäre fast schändlich, diese Stunden im Haus zu verbringen. Nach wenigen Minuten habe ich Tisch, Terrassenstühle und die bequeme Liege aufgestellt. Natürlich ist es dafür eigentlich noch viel zu früh. Der Winter ist noch nicht vorbei. Egal, diesen Nachmittag möchte ich genießen.
Ich mache es mir gemütlich und lasse meinen Blick über die Büsche und Sträucher streifen. Schon bald würden die ersten anfangen auszutreiben und in vier Wochen – mit etwas Glück – blühten die frühesten von ihnen. Prompt meldet sich diese fiese innere Stimme, die es nicht leiden kann, wenn man einfach nur gemütlich rumsitzt. Die Büsche müssten dringend etwas geschnitten werden. Zumindest die alten, längst vertrockneten Blütenstände, die im Winter so schön ausgesehen hatten, wenn sie mit Reif bedeckt waren. Seufzend stehe ich wieder auf und hole den Eimer und die Gartenschere.
Ein eigenartiges Geräusch lässt mich aufhorchen. „Chrch chchch chrch chchc.“ Sofort beginnt der Nachbarshund wie verrückt zu bellen. Ein liebes Tier, aber etwas nervig. Ich drehe mich zu ihm um: „Sei still“, brülle ich.
Der Hund sieht mich erschrocken an, fiept entschuldigend und setzt sich wieder auf seine Hinterläufe. Ich muss schon wieder lächeln, sein traurig hängender Kopf sieht einfach zu ulkig aus. „Ich bin dir nicht böse“, rufe ich hinüber.
Dann wende ich mich wieder zum Haus um. Das Geräusch kommt von dort, aber nicht von drinnen. Verdutzt blinzele ich. Was ist mit der Hauswand los? Etwas schimmert dort, dann ist es wieder weg. Ich blinzele wieder. Es ist wieder da. Noch ein Blinzeln. Und dann steht da plötzlich eine blaue Kiste. Eine mir sehr gutbekannte, blaue Kiste, die genauso aussieht wie eine alte, englische Polizeinotrufzelle.
Die TARDIS des Doktors!
Ich traue meinen Augen nicht. Moment mal, das ist doch völlig unmöglich. Doktor Who ist eine Fernsehserie, keine Realität. Diese Kiste kann nicht an meiner Hauswand erscheinen! Im nächsten Moment öffnet sich die Tür und eine Frau tritt heraus. Sie ist jung, hübsch mit blonden, kinnlangen Haaren. Auch sie kenne ich: der neue Doktor!
„Der Doktor!“, krächze ich völlig perplex.
„Oh! Sie kennen mich“, lächelt die Frau. „Freut mich. Kenne ich Sie? Im Moment kann ich mich nicht erinnern. Obwohl ich eigentlich wieder völlig hergestellt bin.“
Ich schüttele den Kopf. „Nein.“ Ihr fragender Blick bleibt und ich merke, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. „Ich heiße Anne. Anne Grasse. Aber das ist völlig unmöglich. Sie gibt es doch gar nicht.“
Neugierig blickt sie sich um, bevor sie antwortet: „Hübsch hier.“ Sie zeigt auf die Sträucher, die den Garten umranden. „Bisschen kahl allerdings.“
„Es ist ja auch noch Winter“, erläutere ich etwas ungehalten.
Sie nickt: „Ach ja, mit den Jahreszeiten komme ich immer durcheinander.“ Dann sieht sie mich amüsiert an: „Und natürlich gibt es mich. Das sehen Sie doch.“
„Sie sind eine Figur aus einer Fernsehserie.“
Jetzt runzelt sie die Stirn. „Also das falsche Universum“, murmelt sie. „Einen Moment.“ Das gilt mir.
Sie verschwindet wieder in der TARDIS und ich sehe ihr sprachlos hinterher. Doch nach kaum einer Minute taucht sie wieder auf.
„Aber klar“, meint sie lapidar. „Hier hat BBC einen uralten Vertrag. Sie bekommen über punktuelle Minilöcher in den Begrenzungen der Dimensionen immer wieder ein paar Informationen und Bilder aus meinem Leben. Das senden sie dann.“
Das muss ich erst einmal verdauen. Ich taste nach einem der Stühle und setze mich mit weichen Knien.
„Ja, aber…“, weiter komme ich nicht, schlagartig schießen mir tausend Fragen durch den Kopf. Himmel, der Doktor steht vor mir! So viele Dinge waren mir in der Serie aufgefallen, so viele Fragen waren da unbeantwortet geblieben.
Aber gleich meldet sich die sogenannte Vernunft und widerspricht: ‚Du kannst doch nicht wissen, ob das stimmt.‘
„Äh, Doktor … ach so“, unterbreche ich mich selbst. „Wie soll ich Sie eigentlich nennen? Doktor oder Doktorin?“
„Was? Doktorin? Das klingt ja grässlich. Wieso denn das?“
„Na, weil Sie jetzt eine Frau sind.“
Sie überlegt. „Stimmt auch wieder. Habe mich wohl immer noch nicht ganz daran gewöhnt. Obwohl es mir wirklich gefällt. Nein, bitte Doktor, das klingt besser.“ Sie grinst: „Aber Sie wollten doch etwas ganz anderes sagen, oder?“
Oh ja. „Naja“, gebe ich etwas zögernd zu. „Es ist etwas schwer zu glauben, dass es Sie wirklich gibt. Und ich würde mich gerne vergewissern.“
„Und wie?“
„Darf ich da mal reinschauen?“ Ich zeige auf die TARDIS. „Nur einen kurzen Blick. Das würde schon genügen.“
Jetzt lacht sie fröhlich auf. „Nur zu.“ Sie schnippt mit den Fingern und die Tür öffnet sich einen Spalt.
‚Oh, das funktioniert ja noch immer‘, denke ich – und begreife, dass ich das Ganze schon längst glaube. Aber gucken möchte ich trotzdem. Ich ziehe die Tür auf. Mit untertassentellergroßen Augen starre ich dann hinein. Vor mir liegt der kurze, nur wenige Schritte lange Gang, der sich zu dem großen, runden Raum öffnet. Die Wände mit dem sechseckigen Muster, das altertümlich und futuristisch gleichzeitig anmutet. Und die kristallen wirkenden Säulen, die in dem großen Raum stehen, in dem ich auch die runde Steuerkonsole erkennen kann.
Ich kneife die Augen zu und reiße sie sofort wieder auf. Das Bild verschwindet nicht. Dies ist wirklich die TARDIS, Vernunft hin oder her.
„Wow“, entfährt es mir. „Es ist wirklich die TARDIS.“
Der Doktor grinst mich an. Sie wirkt fast etwas erwartungsvoll.
Ich grinse zurück. „Darf ich den Satz sagen?“
Wieder lacht sie fröhlich auf. „Oh bitte. Ich höre ihn echt gerne.“
„Sie ist innen wirklich viel größer als außen.“ Fast fange ich dabei an zu quietschen, weil ich ebenfalls lachen muss.
Sie bemerkt natürlich meinen sehnsüchtigen Blick. „Möchten Sie hinein, Anne?“
Ich seufze. „Nur zu gerne. Ich möchte so sehr die anderen Räume sehen. Die, die man fast nur vom Hörensagen kennt.“
„Also eine komplette Führung“, lacht sie.
Sie scheint ein sehr fröhliches Wesen zu sein. Da unterscheidet sie sich sehr von ihren Vorgängern, fällt mir auf. Deren Fröhlichkeit war oftmals nicht echt gewesen, oder zumindest eher mit einer gewissen Verrücktheit oder Schrägheit vermengt. Man hatte immer gespürt, dass sie in ihrem Inneren zu viel mit sich herumschleppten, um wirklich froh sein zu können. Das Lachen dieser Frau dagegen wirkt echt.
„Bitte“, einladend zeigt sie hinein.
Fast ein wenig ehrfürchtig betrete ich dieses fantastische Ding – Raumschiff und Zeitmaschine in einem. ‚Time and Relative Dimensions in Space‘, rekapituliere ich die ausführliche Bezeichnung in Gedanken.
Vor der Steuerkonsole drehe ich mich im Kreis, um den ganzen Raum zu sehen.
„Sie sehen ein wenig enttäuscht aus“, meint der Doktor.
Etwas schuldbewusst zucke ich zusammen. „Enttäuscht ist nicht das richtige Wort“, erkläre ich rasch. „Es sieht nur so anders aus. Diese großen Säulen sind beeindruckend, machen den Raum aber kleiner. Früher war es offener.“
Die Frau blickt sich um, dann nickt sie. „Sie haben recht, Anne. Aber mir gefällt es.“
Im Hintergrund sehe ich eine Tür und blicke fragend zum Doktor. Sie nickt und folgt mir. Wieder ein kurzer Gang, dann eine Treppe. Sie endet in einem sehr gemütlich wirkenden Raum – auch rund. Eindeutig ein Aufenthalts- oder Wohnraum. Mehrere Sessel und Stühle stehen hier vor unterschiedlich großen Tischen. An der Wand sind einige Regale befestigt, allerdings steht nichts drauf. Aus diesem Raum führen gleich mehrere Türen weg.
„Äh, gibt es hier einen Lageplan oder so etwas? Sonst verlaufe ich mich garantiert, bei diesen vielen Türen.“
Kichernd meint sie: „Keine Sorge, ich komme mit. Sie wollen ja vermutlich auch ein paar Erklärungen, zumindest sehen Sie so aus.“
„Sieht man mir die Neugier so sehr an?“
„Sicher, aber das ist in Ordnung“, lacht sie.
Also öffne ich aufs Geratewohl eine weitere Tür. Ein Gang erstreckt sich vor mir. Auf beiden Seiten sind mehrere Türen. Kleine Schildchen fallen mir auf. Oh, links alles Männer, rechts Frauen. Hm, zwei Bäder oder Toiletten würde ich noch verstehen. Aber es gibt vier Türen auf jeder Seite.
Vorsichthalber wähle ich eine mit dem Schild ‚Frauen‘. Weitere Türen…nein, diesmal sind es Schranktüren, begreife ich. Riesige Schränke stehen hier an allen Wänden – und es gibt mehr als vier davon. Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf: ‚Ob es hier auch ganz normale Räume mit vier Wänden gibt?‘
Ich schiebe ihn beiseite und sehe mich genauer um. Einige der Schranktüren sind Spiegel. Und in mehreren Eckchen, die ich bisher übersehen habe, stehen Anziehpuppen. Keine zum Spielen natürlich. Die Kleidung an ihnen wirkt altmodisch, wie für einen Kostümball.
Ich begreife und grinse. „Ein Ankleidezimmer.“ Gierig sehe ich die Schränke an. „Darf ich reinschauen?“
Kaum nickt der Doktor, reiße ich die erste Tür auf. Unzählige verschiedene Kleider, Roben, Umhänge und Sonstiges, von dem ich nicht einmal die Bezeichnungen kenne, hängen da. In Schubläden darunter liegen die dazugehörige Wäsche, Strümpfe und Accessoires. Fasziniert stöbere ich darin herum.
Ein Kleid fällt mir plötzlich auf. Ist das nicht das wunderschöne, blaulila Gewand, das Donna in Pompeji trug? Ich hüte mich jedoch, die Frage zu stellen. Ich möchte keine schmerzhaften Erinnerungen wecken. Der Doktor musste Donna ja jede Erinnerung an seine Existenz vergessen lassen, weil sie sonst gestorben wäre.
Ein weiterer Kleiderbügel sticht mir ins Auge. Kurzer schwarzer Rock mit einem knallroten Shirt. Das kenne ich auf jeden Fall. Amy hatte es in einem ihrer vielen Abenteuer getragen. Sie mochte sexy Kleidung. Auch jetzt tue ich so, als würde ich es nicht erkennen. Zu gut kann ich mich an die Verzweiflung in des Doktors Gesicht erinnern, als er begriff, dass er nicht nur Rory, sondern auch Amy verlieren würde – endgültig verlieren.
Wieder im Gang blicke ich nachdenklich auf die vier Türen für Männer. „So viele Klamotten für Sie? Sie tragen doch ohnehin meistens immer Ihre eigenen Sachen.“
„Nicht immer“, berichtigt der Doktor mich. „Manchmal ist es sinnvoller, sich der herrschenden Mode anzupassen. Und es gibt ja auch männliche Begleiter. Die brauchen auch Kleidung.“
Das hatte ich einen Augenblick vergessen. Ich verlasse den Gang. Dahinter kommt wieder eine Treppe, diesmal rauf, und ich stehe vor einer orangefarbenen Tür. Die TARDIS ist nicht nur ein Labyrinth, sie scheint auch sehr exzentrisch zu sein. Oder ist das eher der Geschmack des Bewohners bzw. der Bewohnerin?
Diesmal habe ich das Bad gefunden. Es sieht recht gewöhnlich aus. Der Whirlpool allerdings hat ziemlich große Ausmaße. „Auf Gallifrey gibt es Whirlpools?“ Ein wenig wundere ich mich doch, dass das Ding genauso aussieht, wie ich es gewohnt bin.
„Nein, Sprudelbäder“, der Doktor grinst. „Das da habe ich mir von eurer Welt geholt. Mir gefällt es einfach.“
Aha. Nun, dass der Doktor eine sehr große Affinität zur Erde hat, ist ja nichts Neues. Heimlich schmunzele ich, da ich an die Erklärung dafür denken muss, die ich mir in meiner Geschichte über den Doktor ausgedacht habe. Oder ausdenken werde? Das Kapitel darüber muss ja erst noch geschrieben werden. Ob es überhaupt stimmt?
„Doktor, sagen Sie, warum haben Sie eigentlich so eine große Vorliebe für die Erde?“ Die Frage rutscht mir einfach so heraus.
„Ach. – Einfach so. – Ihr seid interessant. Und eure Geschichte ist faszinierend.“
Die Pausen sagen mir, dass sie lügt. Nun, auch das ist nichts Neues beim Doktor. Ok, richtig gelogen war es vermutlich nicht, aber sie will die wirkliche Antwort eindeutig nicht sagen.
‚Schade‘, denke ich, ‚ das hätte ich gerne in meiner Story berichtet. So bleibt es halt bei meiner eigenen Idee.‘
Ich gehe weiter. Die nächste Tür ist fast schwarz. Ich schaue hinein und mache sie sofort wieder zu. Dies ist eindeutig das Schlafzimmer des Doktors. So neugierig ich auch bin, da gehe ich nicht hinein. Das wäre schon fast unverschämt, finde ich.
Nun geht es wieder eine Treppe rauf. Für meinen Geschmack hat die TARDIS zu viele Treppen. Diesmal stehen zwei Türen zur Auswahl.
„Warten Sie, Anne. Die führt wieder in den Hauptraum.“
Ich habe nicht bemerkt, dass ich im Kreis gegangen bin. Dann nehme ich natürlich die andere Tür.
„Ohh!“ Ich stehe im Eingang und staune. Was für eine riesige Küche – und äußerst interessant eingerichtet. Unter einem fast mannsgroßen Rauchabzug liegt eine offene Feuerstelle, komplett mit Spieß zum Drehen. Keine zwei Schritte daneben dann ein riesiger Kohleherd mit acht! Kochstellen darauf. Die moderneren Geräte daneben sehen dagegen fast langweilig aus. Und dann folgen noch Gerätschaften, die ich noch nie gesehen habe. Zumindest nicht in Wirklichkeit. Aber ich kann mir denken, wie sie funktionieren. Habe ja schon genug Sci-Fi-Sendungen gesehen. Aus diesen Dingern bekommt man auf Knopfdruck sein fertiges Essen – vermutlich in Riegelform oder so.
Irritiert blicke ich wieder zum Eingang hinaus. Die Küche liegt direkt neben der Tür, die zu dem großen Steuerungsraum führt?
„Das ist aber seltsam“, wende ich mich an den Doktor. „Ich dachte, in diesem TARDIS-Typ liegt die Küche sehr abseits. So wurde es einmal beschrieben.“
„Jaaa. Das stimmte bisher auch.“ Der Doktor wirkt plötzlich etwas verlegen.
Fragend sehe ich sie an.
Sie zuckt mit den Schultern. „Meine Vorgängerversionen hat es anscheinend nie gestört. Schließlich habe ich sie ja auch kaum benutzt.“
„Haben Sie denn nicht hier gegessen? Selbst Timelords müssen doch essen.“
„Sicher“, nickt der Doktor. „Aber ich esse am liebsten auf den Welten, die ich besuche. Ich mag die unterschiedlichen Nahrungsvarianten. Um ehrlich zu sein, in der TARDIS habe ich nur dann gegessen, wenn es gar keine andere Möglichkeit gab.“
„Und was hat sich nun geändert?“
Sie guckt etwas seltsam, dann gibt sie zögernd zu: „Ich habe einfach Lust bekommen, selbst zu kochen. Und da es ziemlich umständlich war, wegen jeder Kleinigkeit so weit zu laufen, habe ich die TARDIS gebeten, die Küche zu versetzen.“ Sie runzelt die Stirn. „Die TARDIS kann Räume nach Bedarf umgestalten oder auch völlig neu schaffen, müssen Sie wissen.“
Ich nicke nur, das weiß ich natürlich schon. Es wurde in der Serie immer mal wieder erklärt. „Und warum macht diese doch so einfache Erklärung Sie so verlegen?“
Sie windet sich regelrecht, dann jedoch prustet sie plötzlich los. Immer wieder stockend vor Lachen bringt sie schließlich heraus: „Weil das Ergebnis meiner Kochversuche grauenvoll war. Die Küche war schwarz vom Rauch und das Essen absolut ungenießbar.“
Automatisch lache ich mit. Die Vorstellung ist zu köstlich. Dabei fällt mir endlich ein, dass ich Fotos machen könnte. Sozusagen als Beweis, dass ich wirklich und wahrhaftig in der TARDIS war. Das würde mir doch sonst niemand glauben. Ich suche das Handy heraus, aber der Doktor legt ihre Hand darüber.
„Nein, bitte nicht fotografieren. Ich habe nichts dagegen, Sie herumzuführen. Im Gegenteil, es macht Spaß. Aber keine Fotos.“
Etwas enttäuscht stecke ich das Handy wieder ein. Aber andererseits sollte man die Privatsphäre anderer Leute ja respektieren. Also lasse ich mir das nicht anmerken – hoffe ich jedenfalls.
Nach einem weiteren kurzen Gang stehe ich vor einer unglaublich hohen Doppeltür. Ich lege den Kopf in den Nacken. Sie ist mindestens zweimal so hoch wie ein Mensch. Und demensprechend schwer, stelle ich bei dem Versuch, sie zu öffnen, fest.
„Halt, warten Sie“, wirft der Doktor ein. „Das geht eigentlich ganz leicht.“
Sie zieht an einem unscheinbaren Hebel in der Wand. „Jetzt.“
Federleicht lassen sich die Türen nun aufschieben. Interessanter Trick, aber ich frage nicht nach. Vermutlich würde ich ohnehin keine Antwort bekommen – oder eine, von der ich kein Wort verstehe.
Gespannt trete durch die Türen. Eine Halle, so groß wie ein Dom, mit unzähligen Bücherregalen, hohen Säulen und mindestens vier Stockwerken präsentiert sich mir. Ich habe die Bibliothek entdeckt! Seufzend drehe ich mich im Kreis. So viele Bücher – hier könnte ich Jahre verbringen und würde mich nicht langweilen.
„Stehen die hier nur rum, oder haben Sie die wirklich gelesen?“
„Jedes einzelne“, bestätigt der Doktor mir.
„Ehrlich?“
Sie nickt. „Eigentlich brauche ich sie nur noch, um hin und wieder etwas nachzuschlagen. Aber da wir nichts vergessen, kommt das selten vor.“
Ich weiß genau, wenn ich anfange, in die Bücher zu schauen, komme ich hier nicht mehr heraus. Also bezwinge ich mich und verlasse diese imposante Herrlichkeit. Wieder steige ich Treppen hoch und wieder runter, bis eine weitere Tür auftaucht.
Hier brauche ich auch nicht zu fragen. Obwohl ich mit vielen der Geräte in diesem Raum nichts anzufangen weiß, stehen doch genügend Kolben, Schälchen, Teller etc. herum, um seinen Zweck zu verdeutlichen. Dies ist das Labor. Mit dem Finger streiche ich über eines der Geräte. Es ist ziemlich verstaubt.
„Das benutzen Sie wohl wenig?“, wundere ich mich.
„Inzwischen nicht mehr“, gibt der Doktor zu.
Ich überlege einen Moment. „Der Schallschraubenzieher?“, frage ich dann. „Macht er jetzt die Arbeit?“
„Sie begreifen schnell, Anne“, lächelt sie. „Ja, seit ich den habe, hat das Labor praktisch ausgedient. Nur bei wirklich sehr speziellen Fragen benötige ich den Analysator.“
Sie zeigt auf eines der kastenförmigen Geräte, die mit unzähligen Knöpfen, Tasten und Hebeln deutlich sagen: Finger weg, nur für autorisiertes Personal!
Die nächste Tür ist überraschenderweise verschlossen.
„Diesen Raum möchte ich nicht zeigen.“ Der Doktor wirkt ernst und ich gehe sofort weiter. Doch meine Gedanken natürlich nicht. Sie suchen nach einer Erklärung. Ich drehe mich zu der Tür um und dann zum Doktor.
„Es ist das Erinnerungszimmer, nicht wahr? Das mit den vielen Andenken darin.“
„Woher wissen Sie davon?“
Jetzt ist sie nicht mehr nur ernst, sondern eindeutig verärgert. Hätte ich nur meinen Mund gehalten. Ich möchte nicht rausgeworfen werden.
„Es kam in einer Episode vor. Aber nur ganz kurz“, versuche ich, den Doktor zu beschwichtigen.
„Woher hat BBC diese Informationen? Meine Privaträume sind nicht freigegeben“, schimpft die Frau. „Da muss irgendwo ein Leck sein. Ich werde es herausfinden!“
Sie scheint nicht auf mich wütend zu sein, sondern auf den Sender. Hoffentlich hat das keine größeren Folgen. Es wäre zu schade, wenn BBC keine Episoden mehr bringen könnte, weil der Doktor diesen Vertrag kündigt. Obwohl ich immer noch nicht verstehe, wie das zusammenhängt.
„Sieht man deshalb so selten etwas über das Innere der TARDIS?“, wage ich zu fragen.
Der Doktor nickt. „Ein bisschen Privatleben möchte ich schon behalten.“
Das verstehe ich gut und drehe der verbotenen Tür endgültig den Rücken zu. Der nächste Raum ist völlig leer. Verdutzt gucke ich mich um. Nichts.
„Das sind Gästezimmer“, erklärt die Frau lächelnd. „Die drei gegenüber sind belegt. Graham, Ryan und Jasmin schlafen dort. Aber Sie verstehen sicher, dass ich die nicht öffne.“
Natürlich. Doch schon bei der übernächsten Tür stutze ich. Neben dem Öffner hängt ein Schildchen mit meinem Namen. Auch der Doktor staunt. Ich drücke die Tür auf und schaue mich um. Was für ein Traum von einem Zimmer. Ein gemütliches Sofa lädt zum Hineinkuscheln ein. Davor ein Tischchen und in angenehmer Greifweite ein Bücherregal. Voll mit Büchern! In der Ecke ein Schreibtisch mit Laptop, Monitor etc. Sogar eine Getränkebar steht dort. Und – der Raum hat vier Wände mit rechten Ecken.
„Die TARDIS mag Sie, Anne. Das ist eindeutig.“
„Wie schön“, seufze ich. „Aber ich kann nicht bleiben.“
„Das weiß die TARDIS. Sie wollte Ihnen wohl nur zeigen, wie sehr ihr Ihre Bewunderung für alle Räume hier gefällt“, erklärt der Doktor humorvoll. „Sehen Sie genau hin. Es gibt kein Bett“, fügt sie hinzu.
„Vielen, vielen Dank“, sage ich in die Luft hinein. Fast ein wenig traurig verlasse ich das Zimmer. Ich liebe mein Leben hier und ich möchte nichts daran ändern. Nicht das Geringste. Dennoch kann ich jeden verstehen, der begeistert die Chance ergreift, mit dem Doktor zu reisen.
Der nächste Raum ist wieder völlig dem Geschmack der TARDIS angepasst. Er ist achteckig und steht voller Musikinstrumente. Ein Flügel thront in der Mitte, drum herum findet sich alles, was zu einem Orchester gehört. Zusätzlich kommen noch Instrumente hinzu, von denen ich nur vermute, dass man mit ihnen Musik macht. Von der Erde scheinen sie nicht zu sein.
„Ich habe einfach zu wenig Zeit dafür“, gibt die Frau zu. „Sonst würde ich öfters hier sein. Aber das da müssten Sie kennen.“
Sie zeigt auf eine Gitarre und ich kichere. „Oh ja. Ihr Vorgänger gefiel sich ja hin und wieder als Rocksänger.“
„Gitarrist“, verbessert der Doktor schmunzelnd. „Gesungen habe ich nur sehr selten. Nun, ich glaube, wir sind fast durch. Kommen Sie, Anne.“
Sie führt mich wieder zu einer Doppeltür. Diesmal ahne ich, was dahinter ist. Und ich habe recht: Der Swimmingpool. Das Becken ist wirklich beeindruckend groß. Ich überlege, ob ich die bunten Liegen daneben schon mal gesehen habe. Aber ich bin mir sicher, dass die in der einen Episode, in der der Pool kurz vorkam, nicht da waren.
Der Doktor grinst mich an. „Nun fragen Sie schon“, fordert sie mich auf.
„Wenn Sie die Frage schon kennen…“
„Nein, Sie müssen sie erst stellen“, verlangt sie.
Ich muss lachen. „Nun gut. Hat das Becken wirklich olympische Maße?“
Sie grinst über beide Ohren. „Manchmal.“ Und amüsiert sich königlich über mein verblüfftes Gesicht. Dann bequemt sie sich zu einer Erklärung: „Ich schwimme sehr gerne, aber dafür reicht eine normale Größe völlig aus. Aber manchmal trainiere ich gezielt. Dann sind mir die langen Trainingsbahnen lieber. Schließlich muss ich fit bleiben.“ Ein wenig lacht sie. „Ich renne sehr viel, wie Sie wissen.“
Ich schmunzele. Oh ja. Eine der häufigsten Anordnungen des Doktors an seine jeweiligen Begleiter ist ja nicht umsonst das ‚Lauft!‘. Sie nickt ernsthaft, als ich das auch ausspreche und meint: „Ich bin mit dieser Strategie bisher immer sehr gut gefahren.“
Schließlich führt sie mich wieder zurück, doch an einer Abzweigung stockt sie. „Anne, einen Raum möchte ich Ihnen noch zeigen. Mein ganz persönliches Refugium. Ich bin sicher, Sie können es würdigen.“
Geschmeichelt folge ich ihr. Sie öffnet eine hellgrüne Tür – und ich stehe im Freien. Zumindest macht es den Eindruck. Helles Sonnenlicht fällt auf eine wunderschöne Wiese. Gras und Blumen wetteifern hier mit ihren Farben. Im Hintergrund sieht man hohe Berge, ihre Gipfel sind schneebedeckt. Und gleich vor mir ist ein kleiner Platz mit einem Bistrotisch und einem ebensolchen Stuhl.
Leise erklärt der Doktor: „Es ist natürlich keine echte Wiese und keine echte Sonne und so.“
Ich kann nur nicken, bringe kein Wort heraus. Das ist einfach zu beeindruckend – und zu schön. Immer noch stumm folge ich der Frau wieder in den Hauptraum. Endlich finde ich meine Sprache wieder.
„Vielen, vielen Dank.“ Ich möchte mich gerne revanchieren. Doch was könnte ich jemandem wie dem Doktor anbieten? Einem Wesen, das alles kennt und schon überall war. Schließlich frage ich zögernd: „Möchten Sie vielleicht mit mir eine Tasse Kaffee trinken? Oder Tee?“
Ihre sofort aufleuchtenden Augen sagen mir, dass ich genau das Richtige gefragt habe. „Unbedingt. Ja, ich will. Danke. Ich liebe Kaffee. Kaffee mit Anne in ihrem Garten. Das ist toll. Das gefällt mir.“
Fast die gleichen Sätze habe ich schon einmal gehört, ich bin mir ganz sicher. Dann fällt es mir wieder ein. So hat der neue Doktor reagiert, als Jasmin, oder besser Jas, sie zu sich einlud. Ich verzichte darauf, ihr einen Stuhl auf der Terrasse anzubieten und winke sie mit herein in die Küche. Begeistert sieht sie mir zu, wie ich die Kaffeetassen fülle und ein paar Kekse auf einen Teller lege. Ebenso erfreut ergreift sie das Tablett und trägt alles hinaus. Alltägliche Dinge, die der Doktor aber mit Sicherheit so gut wie nie machen kann.
Dann sitzen wir uns gegenüber und der Doktor sieht wieder in den Garten. „Sie freuen sich sicher schon darauf, wenn alles anfängt zu blühen“, meint sie etwas versonnen.
„Ja, das ist immer wundervoll.“ Doch in mir warten immer noch unzählige Fragen, die den Doktor betreffen. „Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen? Ich weiß, ich bin schrecklich neugierig, aber es ist einfach sensationell, hier mit Ihnen zu sitzen.“
Sie nickt, fragt aber zurück: „Muss ich antworten?“
Ich überlege. „Nun, wenn eine Frage zu privat ist, oder Sie nichts dazu sagen wollen, dann können Sie ja gelangweilt in die Gegend gucken und sie einfach überhören. Wäre das in Ordnung?“
Sie lacht erleichtert: „Das ist ein guter Vorschlag. Danke. Nun gut, dann fragen Sie.“
„Warum haben Sie weitergemacht? Ihr Vorgänger war eigentlich der letzte Doktor. Natürlich haben Sie einen kompletten, neuen Regenerationszyklus erhalten. Aber Sie wollten doch gar nicht mehr weiterleben. Warum haben Sie sich anders entschieden?“
Einen Moment sieht es so aus, als würde sie wegsehen. Dann senkt sie den Blick und starrt in ihre Tasse. Ganz leise beginnt sie zu sprechen: „Ich war bereit, zu gehen. Aber dann … Ich habe an die vielen Wesen gedacht, die ich kennengelernt habe und die meine Freunde geworden sind. Die mir so oft geholfen haben. Und ich erkannte, dass ich sie verraten würde, wenn ich gehe. Sie haben es verdient, dass ich hierbleibe. Und außerdem“, jetzt stahl sich endlich wieder ein Lächeln in ihre Augen, „es gibt noch so viel zu sehen und zu erleben. Ich würde alles verpassen.“
Ich fange an zu verstehen. „Das ist auch der Grund, weshalb Sie hierhergekommen sind, nicht wahr? Obwohl Sie ein anderes Ziel hatten. Dies hier ist nicht Ihr Universum. Es ist ein Paralleluniversum. Aber Sie wollten in ein anderes. In eines, in dem Sie eine Freundin haben. Sie wollten zu ihr.“
Sie lächelt verlegen. „Ich habe es vorhin schon gesagt. Sie begreifen schnell, Anne. Ich weiß nicht einmal, ob es möglich ist. Oder in welcher Zeit ich dort ankommen würde. Sie ...“, kurz zögert sie, dann spricht sie den Namen doch noch aus. „Rose könnte längst gestorben sein. Aber ich kann ohnehin nicht mehr dorthin. Ist vermutlich besser so, ich dürfte mich ihr ohnehin nicht zu erkennen geben. Bin ja jetzt jemand anders.“ Ein wenig seufzt sie. Dann lächelt sie rasch wieder. Doch zum ersten Mal erkenne ich das Lächeln des Doktors dabei. Dieses Lächeln, das nicht wirklich echt ist, sondern verbergen soll, wie viele Verluste und Enttäuschungen dieses Wesen schon hinnehmen musste.
Ich frage schnell weiter, damit sie an etwas anderes denken muss: „Und was ist mit diesem Riss? Sie können doch einfach nochmal durchfliegen oder so.“
„Der Dimensionsriss schließt sich langsam wieder. Das ist auch der Grund, weshalb ich sehr bald wieder gehen muss.“
Und der Grund, weshalb sie mir in der TARDIS so unauffällig und vorsichtig klar gemacht hat, dass sie mich auf keinen Fall mitnehmen könnte. Man kann nicht so einfach aus einem Universum in das andere wechseln, das habe ich in den Serien gelernt. Die Folgen wären vermutlich katastrophal.
„Darf ich noch etwas fragen?“
Sie seufzt ein wenig resigniert und nickt.
„Warum sind Sie nicht nach Hause gegangen? Gallifrey existiert doch. Irgendwo am Ende der Zeit.“
Plötzlich sieht sie traurig aus und hebt ein wenig die Schultern. „Ja. Ich war dort“, gibt sie dann zu. „Für eine Weile. Aber es hat sich irgendwie verändert. Vielleicht ist zu viel Zeit vergangen, ich weiß es nicht.“
Jetzt schaue ich verlegen in meine leere Tasse. Ich glaube zu verstehen. Nicht jeder Traum sollte Wirklichkeit werden. Manchmal verblassen die Traumbilder dann und werden grau und öde.
„Und jetzt reisen Sie wieder durch das Universum?“
Sie nickt und steht auf. Der Abschied ist gekommen.
„Werden Sie irgendwann wiederkommen können?“, frage ich schnell.
„Das ist sehr unwahrscheinlich“, gibt sie zu.
„Schade.“ Ich strecke ihr die Hand hin. „Aber es war fantastisch, Sie real kennenzulernen.“
Sie nimmt meine beiden Hände und drückt sie fest. „Es hat mich auch gefreut. Ich wünsche Ihnen alles Gute in Ihrem Leben.“
Dann geht sie in die TARDIS. Nur wenige Momente später höre ich das typische ‚Chrch chchch chrch chchch‘ und die TARDIS verschwindet.
Natürlich fängt der Nachbarshund wieder an zu bellen. Ich lache, lasse ihn bellen und lege mich auf die Liege. Ich möchte diesen fantastischen Besuch in Gedanken noch einmal durchgehen, um ja nichts zu vergessen. Doch die Wärme lullt mich ein und ich döse stattdessen weg.
Wütendes Bellen weckt mich. Ich setze mich auf und sehe ärgerlich in Nachbars Garten. „Sei doch endlich mal still“, schimpfe ich.
Dann erinnere ich mich und starre zur Hauswand. Natürlich ist dort nichts. Stand dort wirklich die TARDIS, habe ich wirklich Besuch vom Doktor gehabt? Oder habe ich das alles geträumt?
Den Doktor gibt es nicht, das ist nur eine Fernsehserie. Und außerdem ist das alles ohnehin Science Fiction, also erfunden. Es muss ein Traum gewesen sein.
Aber es war so wirklich, so echt. Ich kann mir die Räume, die vielen Einzelheiten, nicht einfach erdacht…erträumt haben.
Träume sind nur während des Traums logisch. Wenn man aufwacht, merkt man ganz schnell, dass nichts wirklich zusammenpasst. Doch alles bleibt völlig klar in meinen Gedanken.
Ich kann es nicht entscheiden. Ich weiß nicht, ob ich einen so unwahrscheinlichen Besuch hatte oder es doch ein Traum war. Doch wirklich wichtig ist es eigentlich nicht, stelle ich fest. So oder so – es war ein fantastischer Nachmittag und ein unglaubliches Erlebnis.
Bildmaterialien: Created by © HS-CoverDesign
Cover: Created by © HS-CoverDesign
Tag der Veröffentlichung: 07.03.2019
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Herzlichen Dank an Jimi Wunderlich, der mich mit seiner scherzhaften Bemerkung auf die Idee zu dieser Kurzgeschichte brachte.
Und auch einen besonderen Dank an Sandy Fischer für das tolle Cover
Anne Grasse