Cover

Einleitung

Liebe Leserinnen und Leser

 

Dieses Buch wird in sich abgeschlossene Kurzgeschichten enthalten. Sie handeln alle von Elfen und ihrer Welt, meist heiter und amüsant, vielleicht manchmal auch etwas besinnlich. Gedacht sind sie als 'Pausenfüller' für zwischendurch oder einfach, um sich bei einer Tasse Kaffee etwas zu amüsieren. Natürlich werden noch weitere Geschichten folgen, aber in unregelmäßigen Abständen.

 

 

 Viel Freude beim Lesen

 

Anne Grasse

 

Das Pärchen

Der Wald war im Sommer wunderschön. Zwischen den Bäumen wuchsen auf den kleinen Lichtungen überall bunte Blumen. Die Fußwege führten an diesen fast märchenhaften Blumeninseln vorbei, von einem der kleinen Dörfer zum anderen.

Doch es gab auch Dickichte im Wald – undurchdringlich für die Menschen. Hier lebten seit langer Zeit die Blumenelfen. Sie waren so klein, dass sie in den Nestern schlafen konnten, die von den Ästen und Zweigen im Dickicht gebildet wurden. Schön weich gepolstert mit Blättern der Bäume und weichen, leichten Decken aus den Blütenblättern der vielen Blumen. Natürlich konnten sie – wie alle Elfen – ihre Größe nach Belieben verändern. Aber sie wollten nicht größer sein.

Jetzt lugte das kleine Elflein durch die dichte Blätterwand hinaus auf die Lichtung. Neugierig beobachtete es die beiden Menschen, die dort saßen. Das Elflein wunderte sich – alle Menschen hier in der Gegend wussten doch, dass der Stein, an dem sie saßen, heilig war.

Denn dieser Stein war der Eingang zum königlichen Elfenpalast, der sich riesig und weitverzweigt unter dem sanften Hügel ausbreitete, auf dem das Dickicht wuchs. Hier lebten die Elfen, die sich um den mächtigen König ihrer Art scharten. Diese Elfen zogen die Größe der Menschen vor, im Gegensatz zu den Blumenelfen.

Doch jetzt saßen die beiden jungen Menschen einfach so dort an dem Stein. Das Elflein ließ sich in das hohe Gras sinken und flog um die vielen Halme herum dorthin. Erschrocken hielt es jedoch Abstand, als das Menschenmädchen hektisch mit den Händen in der Luft herumwedelte.

„Oh, selbst hier gibt es diese schrecklichen Schnaken. Hast du das Sirren gehört?“

Der Junge schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich glaube, du hast einfach irgendeine Biene oder so was gehört, Ellen. Hier ist es viel zu trocken und warm für Stechmücken.“

Das Elflein prustete leise vor Vergnügen. Das Menschenmädchen hatte wohl seine Flügel gehört. Für Menschen mit ihren großen, unförmigen Ohren hörten diese sich wohl wie das ärgerliche Sirren der Stechmücken an.

Das Elflein hingegen konnte sehr wohl den großen Unterschied zwischen seinen Flügeln und dem Sirren der anderen Insekten unterscheiden. Denn seine Flügel waren nicht so einfach wie die von Bienen, Fliegen oder Mücken. Oh nein, Elfenflügel glitzerten im Sonnenlicht und an den Rändern befanden sich unzählige, in allen Regenbogenfarben schimmernde, glasartige Härchen. Beim Fliegen raschelten und berührten sie sich und klangen wie feine, zarte Glöckchen. Doch das konnten die Menschen nicht wahrnehmen.

Vorsichtig huschte das Elflein noch näher an den Stein. Es achtete nun aber darauf, so wenig wie möglich die Flügel zu benutzen, damit das Menschenmädchen nicht wieder mit den Händen in der Luft herumschlug. Sonst würde es das Elflein womöglich noch treffen. Es wäre nicht auszudenken, was mit ihm geschehen würde, wenn diese riesigen Pranken auf den zarten, kleinen, grazilen Körper des Elfleins trafen.

Es war etwas riskant, so nah an die Menschen heranzugehen. Doch das Elflein wollte zu gerne erfahren, wieso diese beiden hierher zu dem heiligen Stein gekommen waren. Natürlich waren die Geschichten über den Elfenpalast hier für die Menschen nur Märchen und Mythen. Doch sie erzählten diese Legenden immer wieder, wie das Elflein genau wusste.

Die Elfenarbeiter, die nachts über die Wiesen huschten und den Tau einsammelten, hörten oftmals zu, wenn die Menschen die Märchen von den Elfen und Kobolden erzählten. Und lachend berichteten sie dann im Dickicht, wie diese großen Wesen sich gegenseitig versicherten, dass alles nur erfundene Geschichten wären. Und doch glaubten sie im tiefsten Inneren daran, nur zugeben würden sie es niemals.

Das Mädchen blickte sich um, und das Elflein duckte sich rasch hinter einen Grasbüschel. „Und du bist dir ganz sicher, dass es hier Elfen gibt, Nat?“

Der Junge nickte wichtig: „Völlig sicher. Ich beobachte sie manchmal in der Dämmerung. Dann kommen sie aus dem Dickicht und huschen im Wald umher. Sie sehen aus wie Libellen oder Schmetterlinge.“

Das Mädchen wandte sich um und studierte aufmerksam das dichte Gestrüpp, das sich nur wenige Meter von ihr entfernt ausbreitete. Dies nutzte der Junge, um ihr einen Kuss auf den Hals zu drücken.

„Nat! Lass das! Oh, du bist abscheulich. Du hast mich hierhergelockt, um zu knutschen. Ich habe dir gesagt, dass ich das nicht will.“

„Nein, Ellen. Ehrlich, es gibt hier Elfen.“

Doch das Mädchen sprang wütend auf. „Ich glaube dir nicht. Das war nur ein Vorwand, damit ich mitkomme.“ Zornig lief sie fort.

„Warte doch, Ellen“, rief der Junge ihr hinterher. Doch sie hörte nicht auf ihn. Er seufzte. Das hatte er wohl völlig verbockt. Dabei wusste er genau, dass er Recht hatte. Hier lebten Elfen. Er musste jedoch – ganz heimlich aber nur – zugeben, dass er schon gehofft hatte, die Abgeschiedenheit hier im Wald würde ihm auch erlauben, ein wenig zärtlich zu werden. Er rannte dem Mädchen hinterher, um es zu versöhnen.

Und das Elflein lachte, dass ihm der kleine Bauch wehtat. So tollpatschig konnte auch nur ein Mensch handeln. Kichernd flog es wieder in das Dickicht zurück. Es würde den anderen sein kleines Abenteuer mit den Menschen erzählen und alle würden sich amüsieren.

 

Die Holzfäller

Übermütig flog das Elflein hoch in den Baumwipfeln und drehte sich im Sonnenschein. Seine Flügelchen glitzerten wie Sternenstaub und brachen das Licht in tausend winzig kleine Regenbögen. Drei Tage lang hatte der Nebel den Wald in Watte gepackt, die Farben verschluckt und die Welt trist und grau aussehen lassen. Nun genoss das Elflein den goldenen Schein auf den letzten Blättern der Bäume. Bald würde der Winter kommen und Kälte und Dunkelheit würden vorherrschen. Doch daran dachte das kleine Blumenelflein jetzt nicht.

Es tanzte auf den dünnen Ästen und zupfte an den gelben und roten Blättern, die der Wind noch nicht von den Bäumen gerissen hatte. Lachend rannte es über den Ast auf den Baumstamm zu, dort quollen kleine Harztropfen heraus, die süß schmeckten. Nicht so wie der Honig der Bienen oder der Nektar in den Blütenkelchen, aber das Elflein liebte seinen Geschmack.

Gerade schob es die kleine, schmale Zunge hervor, als grauenhafter Lärm über das Elflein hereinbrach. Schrill und kreischend wurde jedes andere Geräusch übertönt, die Schallwellen trommelten auf den kleinen, zartgliedrigen Körper ein. Das Elflein krümmte sich zusammen und fiel in die kleine Kuhle zwischen Ast und Baumstamm.

Panisch presste es die Hände auf die Ohren, doch das furchtbare Kreischen ließ sich nicht abwehren. Wimmernd und hilflos lag das Elflein dort, weit oben in der Baumkrone. Erst nach langen Minuten brach der schrille Lärm ebenso abrupt ab, wie er begonnen hatte.

Das Elflein rang nach Atem, noch immer perlten Elfentränen aus seinen Augen, rannen über das feine Gesicht und tropften auf den Ast. Dort wurden sie zu winzig kleinen Kristallen, die wie Diamanten glitzerten.

Langsam richtete sich das Elflein wieder auf. Ängstlich und neugierig zugleich suchte es den Wald ab. Jetzt hörte es auch laute, tiefe Stimmen: Menschen. Das Elflein sah nach unten. Dort standen drei Männer. Das Elflein flog – durch den Stamm vor den Menschen verborgen – hinunter, bis es die Männer verstehen konnte.

„Du bist sicher, dass der Baum nicht falsch fällt? Er ist ziemlich krumm gewachsen.“

„Ich mache das doch nicht zum ersten Mal. Er wird genau so fallen, wie ich es möchte. Schau dort, das Dickicht. Da wird er reinkrachen. Keine Sorge, es wird kein anderer Stamm getroffen werden.“

Das Elflein erschrak. Der Mann zeigte genau auf das Elfendickicht. Wenn der Baum dort hineinstürzte, würden die Nester und Behausungen der Elfen zerstört werden. In größter Eile flog es hinüber und drang durch die kleinen Öffnungen hindurch.

„Das Dickicht ist in Gefahr!“ rief es dem Anführer der Blumenelfen zu. „Habt ihr den schrecklichen Lärm gehört? Das sind die Menschen, sie fällen einen Baum.“

Aus einer großen Gruppe löste sich einer der Elfen. Er war etwas größer als die anderen und seine Haare, fein und seidig, glänzten golden. „Dann war das eine ihrer Maschinen? Wir haben rasch einen Schutzzauber um das Dickicht gelegt. So konnten wir nicht erkennen, was dieses Gekreische verursacht hat. Und hinaus hat sich niemand gewagt.“

Das Elflein nickte. „Ja, und sie werden bestimmt gleich weiterarbeiten und den Baum vollends fällen.“

„Wir bilden einen Elfenring“, befahl der Anführer. „Du“, er zeigte auf das kleine Elflein, „beobachte die Menschen und vor allem den Baum und berichte, was geschieht. Aber pass auf, dass du innerhalb des Schutzzaubers bleibst.“

Die Elfen sammelten sich so rasch sie konnten im inneren freien Raum des Dickichts. Sie nahmen sich an den Händen und bildeten so einen großen Ring. Dann verbanden sie ihre Kräfte miteinander, um ihr Heim zu schützen. Unsichtbar hoben und stützten sie die Büsche und Sträucher, die das Dickicht bildeten.

Das Elflein schob sich wieder durch die Blätter und lugte vorsichtig zu den Menschen hinaus. Einer der Männer hob gerade die riesige Säge hoch und setzte sie an den Baum an. Wieder brüllte der Lärm los, doch der Schutzzauber der Elfen verhinderte, dass er durch das dichte, dornige Gestrüpp dringen konnte. Hier war nur ein leises, tiefes Brummen zu hören, immer noch entsetzlich misstönend für die Ohren des Elfleins, doch nicht mehr schmerzhaft.

Tiefer und tiefer fraß sich die Säge in den Baumstamm. Langsam neigte dieser sich, immer wieder entsetzlich knirschend. Dem Elflein tat der Baum unendlich leid. Ob die Menschen wussten, was sie da taten? Der Baum lebte doch noch. War es denn so schrecklich, dass er krumm gewachsen war?

Dann schließlich gab der Stamm vollends nach. Krachend riss das Holz und der große Baum stürzte um. Genau wie der Mann es gesagt hatte, fiel er auf das Dickicht. Doch der Elfenzauber hielt, und die Sträucher wurden nicht zerdrückt. Wie von einer riesigen Hand wurde der Baum sanft aufgehalten und lag dann still und ruhig auf dem Gesträuch.

Das Elflein berichtete getreulich alles, was es sah. „Die Menschen gehen zu dem Baum. Der eine schimpft, er wollte wohl, dass der Stamm tiefer fällt. So eine Gemeinheit. Ihm ist es völlig egal, dass dies unser Heim ist.“

„Sie wissen doch gar nichts mehr von uns. Die Menschen glauben schon lange ihren eigenen Mythen und Erzählungen nicht mehr.“

Das Elflein zuckte mit den kleinen Schultern. Ja, das stimmte natürlich. Und die Elfen zeigten sich den Menschen deshalb auch nicht mehr. Oder nur noch denjenigen, von denen sie genau wussten, dass sie noch immer über das alte Wissen verfügten.

Die Männer legten schwere Eisenketten um den Baumstamm und zogen ihn dann mit dem Traktor zu einem der breiten Wege im Wald. Dort wuchteten sie ihn auf den Anhänger. Zufrieden sahen die Elfen zu, wie die Menschen ihren Wald wieder verließen.

 

Der Tanz des Herzens

Übermütig drehte sich das Elflein in der Luft, schwang sich empor und zurück, wirbelte mehrmals um sich herum und landete graziös wieder auf den kleinen Füßchen. Seine Flügel sangen und klangen dabei wie silberne Glöckchen, es war wie Musik, zu dem das Elflein tanzte. Und genau das tat es auch.

Im ganzen Elfendickicht tanzten die Blumenelfen. Jeder wollte den schönsten, elegantesten Tanz beherrschen und die reinste, klarste Musik dazu hervorbringen. Denn heute Abend würde der große Wettbewerb tief unten im Elfenhügel, in dem riesigen Palast des Elfenkönigs, stattfinden.

Aber das kleine Elflein tanzte nicht im Dickicht, wie die anderen. Es hatte sich davongestohlen und übte auf der großen Lichtung, auf der unzählige Blumen wuchsen und im Sommerlicht blühten. Das Blumenelflein wollte nicht, dass die anderen seinen Tanz jetzt schon sahen.

Denn was er vorhatte, war vermessen. Nicht irgendeinen Tanz wollte er vorführen. Nein, das Elflein wollte den einen Tanz, den Tanz des Herzens, zeigen. Ob sie ihn erkennen würde? Ob das eine, ganz bestimmte Elfenmädchen sehen würde, dass dieser Tanz ihr galt? Ihr ganz allein? Das Elflein sank in das Gras hinab. Wenn nicht – es würde unendlich schmerzen. Denn das würde bedeuten, dass er sich irrte, dass ihr Herz nicht ihm gehörte.

Als die Dämmerung herabsank, füllte sich der Palast. Elfen aller Art und Größe versammelten sich in der großen Halle: Die Elfen des Palastes, groß wie Menschen; Luftelfen, halb durchsichtig; Wasserelfen, an deren heller Kleidung feinste Tröpfchen hingen; Dunkelelfen, fast schwarz und ernst blickend; und die Waldelfen, bunt und malerisch gekleidet.

Die kleinen Blumenelfen fielen in dieser großen Menge kaum auf. Meist flogen sie über den Köpfen der größeren hinweg oder saßen auf den fein gebogenen Armen der unzähligen Kronleuchter. Auch das Elflein saß unterhalb einer der brennenden Kerzen. Er wagte kaum, zu den Waldelfen hinüberzusehen. Dorthin, wo sie stand und mit ihren Brüdern und Schwestern lachte. Nur einen kurzen Blick riskierte er – oh, wie hübsch sie in den Blätterkleid aussah.

Dann erschien der Elfenkönig und begrüßte sie alle herzlich. Für jeden hatte er ein Lächeln und ein gutes Wort. Und kurz darauf begann der Wettbewerb. So viele Elfen wollten ihre Künste zeigen, dass die Nacht kaum ausreichen würde. Alle gaben ihr Bestes und wurden bestaunt und gelobt.

Die meisten Elfen mit Flügeln tanzten zu ihrer eigenen Musik. Der Palast war erfüllt von glockenklaren Klängen. Selbst das Licht der unzähligen Kerzen schien sich in dem reinen Klang zu wiegen und mit den Elfen zu tanzen.

Die größeren Elfen, die seit langer Zeit schon auf ihre Flügel verzichteten, hatten Freunde mitgebracht. Diese spielten auf kunstvollen Musikinstrumenten, deren Musik jedoch ebenso klar, schön und rein war.

Und ob groß oder klein, die Anmut der Elfen beim Tanz war kaum zu beschreiben. Kein Mensch hätte sich so wundervoll bewegen, so elegant drehen, so geschmeidig und leichtfüßig springen und kunstvolle Figuren darstellen können.

Selbst das Elflein staunte immer wieder über die herrlichen Darbietungen und jubelte mit den anderen voller Begeisterung bei besonders herausragenden Tänzen. Dabei bemerkte es kaum, dass die Reihe der vielen Elfen, die vor ihm tanzten, immer kürzer wurde.

Dann war es soweit. Der König der Elfen nickte dem Elflein zu. Jetzt galt es. Einen kurzen Moment lang verließ ihn der Mut. Bestimmt würde sie es nicht erkennen, nicht bemerken, dass es ihr Tanz war, nur für sie ganz allein. Alle Elfen konnten einen Tanz der Herzen erkennen, doch nur ein Elf konnte ihn begreifen, ihn mit dem Herzen spüren. Doch wenn sie es nicht tat? Wenn ihr Herz den Tanz nicht spürte?

Das Elflein nahm seinen ganzen Mut zusammen und begann sich zu drehen, schwang sich in die Luft und seine Flügelchen sangen. Feine Glöckchen schienen sich zu einer fast überirdischen Musik zu verbinden. Das Licht der Kerzen brach sich in den durchsichtigen Flügeln. Regenbögen und bunte Lichtreflexe bildeten wundervolle Muster auf den Wänden und allen Gegenständen.

In der riesigen Halle wurde es still. Jeder Elf sah mit großen Augen auf das kleine Blumenelflein. Dessen Füße berührten kaum noch den Boden. Hingerissen schwang es sich durch die Luft, drehte Pirouetten und Kreise. Licht und Musik umgaben es wie eine sanfte, wunderschöne Hülle.

Dann sank das Elflein wieder zu Boden, seine  Flügel verstummten. Wie es sich gehörte, verbeugte es sich vor seinem König. Der sah lächelnd zu ihm hinunter: „Ich glaube nicht, dass es heute Nacht einen Tanz geben wird, der sich mit deinem messen kann, Aleiarabindor. (Anmerkung der Verfasserin: Namen von Elfen können von Menschen nicht ausgesprochen werden, doch so ähnlich würde er klingen.) Ein Tanz des Herzens kann nicht übertroffen werden. Ich wünsche dir Glück.“

Das Elflein verbeugte sich wieder und trat zurück. Erst jetzt wagte er es, zu ihr hinüberzusehen. Und sah in große, vor Tränen schimmernde Augen. Ihre Hände lagen auf ihrem Herzen. Sie begann zu lächeln. Sein Herz wurde leicht und froh. Sie hatte seinen – ihren – Tanz erkannt.

Langsam schritt er hinüber und sah zu ihr hinauf. Waldelfen waren so groß wie ein Menschenkind, also wesentlich größer als Blumenelfen. Sie reckte ihre Hände nach unten, damit er sie ergreifen konnte. Und als sie sich berührten, veränderten sie sich beide und passten ihre Größe aneinander an. Goldenes Licht umspielte sie, als sie glücklich lachten und sich umarmten.

 

Das Menschenkind

Flink huschte das Elflein über die Wiese, sank vorsichtig auf das Blütenblatt hinab und hob einen dicken Tautropfen empor. Elfen liebten das herrlich frische Wasser, das jedoch – zumindest für Elfenzünglein – würzig nach den Blumen schmeckte, von denen es gesammelt wurde. Sanft legte es den Tropfen zu den anderen. Man musste vorsichtig mit Tau umgehen, damit die Tropfen nicht platzten und das Wasser davonlief. Das feine, spinnwebdünne Netz aus Elfenfasern war schon gut gefüllt und das Elflein flog mit seiner Last zum Dickicht zurück.

Es sah zum Himmel hinauf, der sich im Osten schon hellrosa färbte. Doch bis die Sonne über den Horizont lugen würde und den Tau trocknete, dauerte es noch eine Weile. Vor allem drüben bei den Steilfelsen. Dort brauchte die Sonne länger, um den Grund zu erreichen. Das Elflein nahm sich ein leeres Netz, es würde noch eine Ladung Tau sammeln.

„Willst du wirklich noch einmal los? Bald wird es hell, der Tau trocknet rasch ab.“

„Ja, ich fliege hinüber zu den Felsen, dort dauert es länger und der Tau schmeckt so herrlich nach dem Steinsalz.“

„Da komme ich mit.“

Zu zweit schwangen sie sich in die Luft und eilten durch den Wald und über die immer heller werdenden Wiesen. Ihre Flügel sirrten hell und klar durch den Morgen und sie stimmten ihren Flug aufeinander ab, so dass eine feine, glockenklare Musik erklang. Eine Elster schob verschlafen den Kopf unter ihrem Flügel hervor und blinzelte ein paar Mal. Ein leises Tschilpen grüßte die Elflein, die fröhlich zurückriefen: „Guten Morgen. Es wird ein herrlicher Tag heute.“

Die große Wiese vor dem steilen Felsenhang lag noch im Dunkeln. Die Blumen hatten ihre Blüten noch fest geschlossen. Auf den Blättern glitzerten dicke Tautropfen, die sie vorsichtig einsammelten. Das Elflein hob plötzlich den Kopf und sah sich um.

„Was hast du?“

„Hörst du nichts?“

Beide lauschten. Ja, da war ein Ton, der nicht hierhergehörte. Leise und klagend.

„Da weint jemand. Ein Mensch.“

„Um diese Zeit schlafen die meisten Menschen doch noch“, wunderte sich das zweite Elflein.

Neugierig folgten sie dem Klang und schwebten zu den Felsen hinüber. Verblüfft starrten sie dann auf das Kind, das dort unter einem der riesigen Felsblöcke lag und leise schluchzte. Es bemerkte in seinem Kummer die kleinen Blumenelfen nicht, die sich lautlos auf dem Felsen niederließen.

„Ob es sich verirrt hat?“, wisperte das Elflein. „Das Menschendorf ist von hier nicht zu sehen. Doch wie kommt es so früh am Morgen hierher?“

Aufmerksam betrachteten sie das kleine Menschenwesen. Seine Kleidung war schmutzig und feucht. Und auch in den Haaren schimmerten kleine Tautropfen.

„Ich glaube, es ist schon die ganze Nacht hier draußen.“ Das zweite Elflein sah mitleidig auf das Kind herab. „Können wir ihm nicht helfen? Es ist noch ein Kind. Die glauben noch an uns und erschrecken nicht so rasch, wenn sie uns sehen.“

Leise flogen sie hinüber und setzten sich behutsam auf einen der vielen kleinen Steine.

„Menschenkind? Bitte, sieh doch mal zu uns. Wir wollen dir helfen“, rief das Elflein.

Das Weinen stockte, schniefend sah das kleine Mädchen auf. In seinen Augen, die jetzt ängstlich umherschauten, schwamm das Wasser. Dann erblickte es die kleinen Blumenelfen. Staunend sah es die beiden an.

„Wer seid ihr denn? Ihr seid ja ganz klein.“

„Wir sind Blumenelfen. Warum weinst du, Menschenkind?“

Die Kleine zog die Schultern hoch. „Mir ist kalt und ich habe Angst. Ich finde nicht nach Hause.“

„Lebst du in dem Dorf, drüben, hinter dem Wald?“

„Bei uns ist gleich ein Wald. Ja, ich glaube, ihr meint das richtige Dorf. Könnt ihr mir helfen?“

Die Elflein nickten beide. „Wie kommst du eigentlich hierher? Für ein kleines Menschenkind wie dich ist es doch recht weit von dort.“

Das Mädchen senkte den Kopf. Schuldbewusst nagte es an seinen Lippen. „Ich bin weggelaufen“, gestand es dann flüsternd. „Ich wollte zu meiner Oma. Aber dann wurde es dunkel und ich wusste nicht mehr, wo ich war. Irgendwann war ich dann so müde, dass ich mich zusammengerollt habe. Aber ich habe schreckliche Angst gehabt und bin immer wieder aufgewacht. Jetzt möchte ich nur noch nach Hause. Ich habe auch großen Hunger.“

Die Elflein lachten leise. „Dagegen können wir leider nichts machen. Tau wirst du kaum mögen und Menschenessen haben wir nicht. Aber wenn du uns folgst, bringen wir dich zum Dorf. Vermutlich suchen die Menschen dich schon.“

Die kleinen Blumenelfen flogen vor dem Kind her, das ihnen folgte, so rasch es seine kleinen Füße vermochten. „Ihr fliegt aber schnell.“

„Oh, entschuldige.“ Die Elflein ließen ihre Flügel langsamer schwirren.

Ängstlich sah das Kind auf den Wald. „Müssen wir dort hinein? Ich habe Angst davor. Mama hat immer gesagt, ich soll nicht alleine in den Wald, damit ich mich nicht verirre.“

„Aber da hast du doch schon“, lachten die Elflein. „Und wir sind ja bei dir. Wir kennen den Wald und bringen dich sicher hindurch. Es ist der kürzeste Weg zum Dorf.“

Schon bald durchdrangen die Sonnenstrahlen die Baumwipfel und warfen strahlende Lichtbögen bis zum Boden hinunter. Die Kleine wurde fröhlicher, obwohl ihr Magen immer stärker knurrte. Doch der frühe Morgen hier unter den  Bäumen war einfach zu schön. Sie vergaß ihre Angst und lachte mit den Elfen, die ihr die schönsten Blumen, Büsche und Bäume zeigten.

Dann hörten sie laute Stimmen. „Dort vorne kommt der Waldrand. Das sind sicher die Stimmen der Menschen, die nach dir suchen“, vermuteten die Elflein. „Wirst du ihnen von uns erzählen?“

Das Kind überlegte. „Soll ich? Ich glaube, die meisten Erwachsenen glauben nicht mehr an euch.“

„Es wäre besser, du schweigst über uns. Aber nur, wenn du das kannst.“ Das Elflein sah fragend zu dem Mädchen.

„Ich sage einfach, ich habe zufällig den Weg zurück gefunden. Wenn ich von euch erzähle, heißt es sicher nur, ich würde wieder Märchen erfinden.“ Die Kleine zuckte mit den Schultern.

Zufrieden führten die Elflein das Menschenkind noch weiter, bis sie die ersten Suchtrupps erkennen konnten. „So, dann lauf los, Kleine. Und verlaufe dich nicht wieder.“

Das Mädchen winkte noch einmal zu den Blumenelfen und rannte dann rufend auf die Menschen zu. Die Elflein hingegen warteten noch eine Weile, gut verborgen hinter den Baumstämmen. Sie beobachteten, wie die Menschen das Kind in die Arme nahmen. Erst dann flogen sie zurück zu ihrem Dickicht.

 

Ein Wintermorgen

Freudestrahlend blickten die Elflein durch die vielen kleinen Öffnungen in ihrem Dickicht. Endlich hatte es aufgehört zu schneien. In den vergangenen Tagen hatten sie es nicht wagen können, ihr schützendes Heim zu verlassen. Der dichte Schneefall mit den dicken, schweren Flocken hätte ihnen das Fliegen unmöglich gemacht. Dafür waren ihre Flügel zu fein.

Doch gegen Abend war die Sonne wieder zwischen den Wolken erschienen und je später es wurde, desto freier und heller war der Himmel geworden. Und nun sah der Wald in der klaren Winternacht wunderschön aus. Alle Bäume und Büsche trugen ein weißes Winterkleid, der Boden auf den Lichtungen war mit dickem, herrlich weichem Schnee bedeckt. Das silberne Licht des vollen Mondes schimmerte auf dem Schnee, so dass die Nacht hell wirkte.

Eine ganze Gruppe Elfen verließ das Dickicht, in den Händen die zarten und doch festen Netze aus Elfenfasern. Sie wollten zur großen Lichtung im Wald. Dort wuchsen Winterblumen und kleines Gebüsch, auf denen jetzt in der kalten, klaren Luft sicher viele Eiskristalle zu finden waren. Diese schmeckten ähnlich würzig wie der Tau im Sommer. Der von allen Elfen beliebte Elfenwein wurde daraus hergestellt.

Die Elfen schwirrten übermütig durch den Wald, es tat so gut, endlich wieder das Dickicht verlassen zu können. Sie tanzten über die Büsche hinweg, überflogen jauchzend die mit einer weißen Schneedecke bedeckten Äste der Bäume und lachten zu den glitzernden Sternen empor. Dabei stimmten sie ihren Flügelschlag ganz automatisch aufeinander ab, so dass die feinen Klänge sich zu einer klaren, süßen Musik verbanden. Allerdings konnte diese nur von den Tieren und eventuell noch von kleinen Kindern vernommen werden. Erwachsene Menschen waren dazu nicht mehr in der Lage, höchsten in ihren Träumen.

Aus der Höhe tönte ein tiefes „Schuhu“ zu ihnen herab. Gleichzeitig wurden einige der Elflein von einem starken Luftzug durcheinandergewirbelt. Ein Waldkäuzchen hatte sie erspäht, aber zuerst für einen Schwarm Insekten gehalten. Es hatte seinen Irrtum erst kurz über der Gruppe bemerkt und flog nun mit kräftigen Flügelschlägen wieder in die Höhe.

Die Elflein lachten zu ihm nach oben: „Was sollte das denn? Du hast sonst aber bessere Augen, mein Lieber.“

„Hu-schuhu. Huschu“, klang es entschuldigend zurück. Der helle Mondschein hatte den Nachtvogel irritiert.

Auf der Lichtung flogen sie von Blatt zu Blatt, von Ästchen zu Ästchen. Vorsichtig suchten sie die kleinen Eiskristalle zwischen den vielen Schneeflocken und legten sie behutsam in ihre Netze. Nur ganz leicht berührten ihre kleinen Füßchen dabei den Schnee. Gerade so, damit einige der leichtesten Flöckchen aufwirbelten und im schimmernden, silbrigen Nachtlicht zu glitzern begannen.

Die ganze Nacht sammelten sie auf diese Weise die begehrten Eiskristalle, in denen das Mondlicht eingeschlossen worden war und sie so besonders schmackhaft für die Elflein machte. Schließlich sahen sie auf. Der Horizont begann sich heller zu färben.

„Es wird Zeit. Wir müssen zurückfliegen, bevor die Sonnenstrahlen die Kristalle verdunsten lässt.“

Die Gruppe sammelte sich unter einen Baum. Die jetzt vollen und schweren Netze wurden sicher verschlossen.

Eine Windbö fegte über die Lichtung und ließ die Äste rascheln. Ein tiefes, unheilvolles Rauschen setzte ein. Im nächsten Moment fiel eine dicke Wolke aus schwerem, nassen Schnee auf die Elfengruppe herab. Die kleinen Blumenelfen wurden wild durcheinandergeworfen. Nach wenigen Augenblicken war alles wieder vorbei. Der Wald war wieder still und der Schnee lag ruhig und schimmerte.

Doch die Elflein lagen kreuz und quer in dem heruntergefallenen Schnee. Viele waren völlig unter ihm begraben.  Andere steckten bis zum Hals in der weißen Pracht – oder sogar verkehrt herum, so dass nur noch ihre zappelnden Beinchen herausragten. Ihre kleinen Hände schoben mühsam die dicken Flocken beiseite, bis sie sich wieder befreit hatten.

Pustend, keuchend und schnaubend kamen sie wieder auf die Füße. „Die Kristalle! Ist den Netzen etwas geschehen?“ 

Die Elflein wollten sich rasch in die Luft erheben, um ihre Netze zu suchen. „Oh! Was ist geschehen? Ich kann nicht fliegen!“ Eines nach dem anderen begann zu jammern. Keinem der Elflein gelang es, seine Flügel zu bewegen.

Erschrocken betrachteten sie sich und erkannten den Grund: der nasse Schnee hatte sich an ihren Flügelchen verklebt. Nun hingen sie schwer und mit Schnee bedeckt herunter. Selbst die feinen, glasartigen Härchen, mit denen die Elflein ihre Musik hervorbrachten, sahen dick und unförmig aus. Sie schüttelten sich immer wieder, doch der Schnee klebte fest und hartnäckig auf den zarten Flügeln.

„Was sollen wir jetzt machen?“

Eines der Elflein erhob seine Stimme: „Lasst uns als erstes unsere Netze suchen. Sie sind im Schnee. Seht die Zugfasern kann man erkennen. Wir müssen die Kristalle schützen. Bald geht die Sonne auf.“

Die Elflein krabbelten über den Schnee. So rasch sie konnten, gruben sie die leicht schimmernden Gebilde aus. Den empfindlichen Eiskristallen war nichts geschehen. Zum Glück waren die Netze schon verschlossen gewesen. Elfenfasern waren leicht und zart wie Spinnweben, doch äußerst fest. Sie konnten ihren Inhalt vor fast jedem Unbill schützen. Nur das Sonnenlicht konnte durch das feine Gespinst hindurchscheinen. Und das würde die kostbaren Kristalle verdunsten lassen.

„Seht! Dort vorne an dem Stein hat sich ein großes Schneedach gebildet. Dort können wir die Netze lagern. Bis die Sonnenstrahlen darunter gelangen, dauert es noch eine ganze Weile. Das reicht, um unsere Flügel zu trocken. Den kurzen Flug zum Dickicht werden die Kristalle dann überstehen.“

„Aber bis die Sonne hier auf den Boden scheint, und unsere Flügel trocknet, dauert es doch viel zu lange. Dann erreicht sie auch die Netze“, wandte ein anderes Elflein ein.

„Deshalb müssen wir der Sonne entgegengehen. Dort vorne ist ein Brombeerstrauch. Daran können wir hinaufklettern bis zu dem großen Ast. Seht ihr ihn? Er ragt bis weit in die Lichtung hinein. Das Ende des Astes wird schon von den ersten Strahlen der Sonne getroffen werden. Dort können wir unsere Flügel rasch trocknen.“

Es war ein mühsamer Marsch. Die Elflein, die gewohnt waren, leicht über alle Hindernisse hinwegzufliegen, oder eher zu tanzen, mussten nun über jeden kleinen Schneehügel, jeden Grasbüschel laufen und klettern. Doch am schwersten war der Aufstieg in dem Brombeerstrauch. Sie hangelten sich von Ästchen zu Ästchen, liefen auf den schwankenden Ranken so weit sie konnten immer weiter und weiter hinauf.

„Wie schaffen das nur die Tiere und vor allem die großen und schweren Menschen, immer nur mit Hilfe ihrer Füße zu laufen und vorwärts zu kommen?“, stöhnte eines der Elflein. „Das ist ja schrecklich.“

Die anderen Elfen nickten, doch die meisten pusteten und keuchten schon so stark, dass sie lieber auf eine Antwort verzichteten. Das kleinste Elflein sackte erschöpft auf eines der letzten Blätter des Strauches. „Ich muss mich ausruhen. Nur einen Moment, bitte.“

„Aber nicht lange. Der Himmel wird immer heller. Bald wird die Sonne über den Horizont kommen. Dann müssen wir auf dem Ast sein, damit wir so rasch wie möglich wieder fliegen können.“

Sie schnauften und schüttelten die müden Füße. Elfenfüße waren zum Tanzen und Herumwirbeln gedacht, aber nicht für Märsche durch Schnee oder Kletterpartien in dornigen Büschen.

„Jetzt verstehe ich endlich, warum die Vögel immer so arrogant sind und auf alle anderen Tiere herabsehen“, lachte eines von ihnen plötzlich. „Fliegen zu können, ist etwas Besonderes.

Die anderen nickten. Jeder hatte schon beobachtet, wie die kleinen Spatzen andere Geschöpfe verspotteten. Wenn diese dann wütend zu ihnen rannten, lachten die frechen Vögel nur hämisch und erhoben sich in die Lüfte.

Die Elflein kletterten weiter und hatten dann endlich den dicken Ast erreicht. Schimpfend und immer wieder abrutschend mühten sie sich durch die dicke Schneedecke, die darauf lag.  „Uff!“ Das erste Elflein lag japsend auf dem Schnee. Es streckte die Hände aus und half so den anderen herauf.

Es wurde auch höchste Zeit. Der obere Rand der Sonne war schon erkennbar. Die ersten, trotz der kalten Winterluft spürbar wärmenden Strahlen erreichten die Baumwipfel. Die Elflein rannten zur Astspitze, die schon hell erleuchtet war. Sie stellten sich mit dem Rücken zur Sonne. Schon nach wenigen Momenten konnten sie die feinen Flügel wieder bewegen. Und je mehr sie diese schwirren ließen, desto schneller trockneten sie.

Aufatmend ließ sich ein Elflein nach dem anderen in die Tiefe fallen. Über dem Schnee wirbelten und tanzten sie in den Sonnenstrahlen. Ihre Flügel glitzerten golden, das Licht brach sich immer wieder darin und bildete kleine Regenbögen.

Die Elfen sahen in ihrer Erleichterung nicht, dass eine kleine Gruppe Menschen die Lichtung betrat. Sie hatten den klaren Wintermorgen für einen frühen Spaziergang genutzt.

„Seht nur!“, stieß einer von ihnen hervor. „Was ist das denn?“

Die vier Menschen starrten auf die glitzernde Wolke aus unzähligen winzigen Regenbögen weit vor ihnen auf der Waldlichtung.

„Leuchtkäfer? Oder Glühwürmchen?“ vermutete ein anderer unsicher.

„Jetzt im Winter? Das glaubst du doch selbst nicht. Außerdem leuchten die doch nur nachts.“

Alle schüttelten ratlos, aber irgendwie fasziniert den Kopf.

Ihre Stimmen schreckten die Elflein auf. „Lasst uns verschwinden“, wisperten sie. Rasch flogen sie zu einem dichten Gebüsch, in dem sie für die Menschen nicht mehr erkennbar waren. Dann holten sie ihre Netze. So gut sie konnten, schützten sie diese mit ihren kleinen Körpern vor dem Sonnenlicht und schwirrten so schnell es nur ging zu ihrem Dickicht zurück.

 

Holunderwein

Nur ein paar Sterne blinkten am Himmel. Der Mond war durch viele Wolken verdeckt und lugte nur hin und wieder ganz kurz durch eine Lücke. Die Wiesen am Waldrand lagen im Dunkeln. Das Elflein flog an den letzten Bäumen vorbei. Leicht schwang es sich zu einem der dicken Äste hinauf und setzte sich darauf. Um das Elflein herum breitete sich schwarze Dunkelheit aus. Nur direkt vor ihm leuchtete ein helles Viereck. Aus dem Fenster des Menschenhauses fiel warmes, gelbes Licht in die Nacht.

Das Haus stand abseits des Dorfes, kaum zu erkennen in dieser mondlosen Nacht. Keine Laterne beleuchtete den Weg, der zu dem Haus führte. Nur das eine Fenster schimmerte einladend in der Finsternis.

Das Elflein überlegte. Sollte es wirklich dorthin fliegen? Es war ungemein neugierig. In dem Haus lebte eine Frau, ganz alleine. Sie kam oft in den Wald und sammelte dort Kräuter, Pflanzen und Wurzeln. Und immer nachts. Dabei waren die Menschen Tagwesen, wie das Elflein genau wusste. Nachts pflegten sie zu schlafen. Nur wenn es sein musste, waren sie dann unterwegs. Doch diese Frau war anders.

Das Elflein gab sich einen Ruck und erhob sich wieder in die Luft. Leise sangen seine Flügel, als es zu dem Haus hinüberflog. Vorsichtig – ganz vorsichtig ließ es sich auf das schmale Fensterbrett hinabsinken. Behutsam beugte es sich vor und sah durch das Glas. Aus den Erzählungen der großen Elfen, die unter dem verzauberten Elfenhügel lebten, wusste es ungefähr, wie die Menschen lebten. So wunderte es sich nicht über den großen, breiten Sessel, der mitten in dem Raum stand. Die Frau saß bequem zurückgelehnt darin. Sie schien zu schlafen.

Das Elflein wagte sich etwas weiter vor und stand nun mitten auf dem Fensterbrett, deutlich sichtbar in dem hellen Licht. Fast wäre es heruntergepurzelt, als die Frau plötzlich die Augen öffnete. Ihr Blick traf mit unglaublicher Zielsicherheit direkt das Elflein.

Die Frau lächelte: „Hallo, Elflein. Was machst du denn hier in unserem Dorf?“

Mit pochendem Herzchen stand das Elflein mitten im Licht. Die Frau schien sich nicht einmal zu wundern, das kleine Wesen zu sehen.

„Komm doch herein“, lud die Frau es freundlich ein. „Warte, ich öffne dir das Fenster.“

Das Elflein flog erschrocken ein Stückchen fort. Doch das Fenster schob sich nur ein Stück nach oben.

„Hab doch keine Angst“, beruhigte die Frau es schnell. „Ich tue dir bestimmt nichts.“

Es fasste ein wenig Mut und flog ins Zimmer.

„Such dir einen Platz, an dem es dir gefällt. Ich weiß nicht genau, was du magst.“

Langsam fand das Elflein seine Sprache wieder: „Woher weißt du, was ich bin? Wieso erschrickst du nicht? Die Menschen glauben doch gar nicht mehr an uns.“

„Ich schon“, erwiderte die Frau lächelnd. „Meine Mutter erzählte mir von euch. Und ihre Mutter hat es ihr berichtet. In meiner Familie weiß man seit Ewigkeiten von den Elfen. Früher hatten wir auch noch Kontakt mit euch, haben uns oft mit euch unterhalten und unser Wissen ausgetauscht. Aber das ist wirklich schon sehr lange her. Aber natürlich weiß ich noch, dass es Elfen gibt.“

Das Elflein setzte sich auf ein kleines Regal an der Wand. So war es ungefähr gleichauf mit dem Gesicht der Frau.

„Warum lebst du soweit weg vom Dorf?“, fragte es neugierig.

„Ach, weißt du. Ich bin ganz gern für mich allein. Und dann …“, ein wenig seufzte sie. „Die anderen Menschen meiden mich etwas. Naja, sie haben schon recht. Ich bin anders als sie.“

Das Elflein überlegte: „Weil du an uns glaubst?“

„Ach, das wissen sie gar nicht. Aber sie würden vermutlich sagen, dass es typisch für mich wäre. Nein, es ist einfach so, dass ich nichts von der heutigen Technik mag. Ich brauche keinen Fernseher und kein Handy, sondern lebe lieber einfach. Und das verstehen sie nicht.“

Das Elflein begriff nicht so richtig, was sie damit meinte. Nur, dass sie sich offensichtlich von den anderen Menschen etwas unterschied.

„Ich habe Holunderwein“, sagte die Frau plötzlich. „Ich weiß, das trinkt ihr eigentlich nicht. Aber vielleicht möchtest du ein Schlückchen probieren. Ich mache ihn selbst und trinke abends gerne ein Gläschen davon.“

Sie stand auf und holte aus einem Schränkchen eine dunkle Flasche und ein Glas. Kurz überlegte sie und griff dann leise lachend nach einem Fingerhut. „Das dürfte für dich die richtige Größe sein.“

Sie füllte ihr Glas und den Fingerhut mit der dunkel schimmernden Flüssigkeit. Neugierig besah das Elflein das fremde Getränk und schleckte daran.

„Das ist aber süß.“

„Oh ja“, lachte die Frau. „Holunderwein ist etwas richtig Feines. Ich mag es sehr.“

Sie trank genießerisch in kleinen Schlucken aus ihrem Glas und das Elflein schleckte immer wieder – und immer öfter – an dem fruchtigen Wein in seinem kleinen Fingerhut. Hm, das Zeug schmeckte aber wirklich sehr gut.

Dabei unterhielten sie sich immer weiter. Die Frau erzählte ihm ein wenig aus ihrem Leben und das Elflein hörte interessiert zu. Die Menschen lebten völlig anders, es klang wie ein Märchen.

Doch je mehr Zeit verging, desto seltsamer fühlte sich das Elflein. So, als würde es immer leichter. Es ließ die Flügel sirren – und fiel vom Regal.

„Hoppla!“ Die Frau beugte sich aus dem Sessel und hob das Elflein, das völlig verdutzt auf dem Fußboden lag, vorsichtig auf. „Was ist denn jetzt geschehen?“

„Ich weiß nicht“, stotterte das Elflein. „Das ist mir noch nie passiert.“

Wieder ließ es die Flügel sirren und hob sich ein wenig in die Luft. Sofort schloss es die Augen. „Mir ist so furchtbar schwindlig. Was habe ich nur?“

Die Frau begann leise zu lachen. „Ach, herrjeh. Damit habe ich nicht gerechnet. Es tut mir so leid, kleines Elflein.“

„Was … was ist denn mit mir?“

„Der Holunderwein. Ich fürchte, du bist ein wenig beschwipst.“

„Waaas? Aber wir Elfen werden nicht betrunken.“

„Das dachte ich auch“, beteuerte die Frau.

„Oh! Wie komme ich denn jetzt wieder in den Wald zurück? Es ist alles so seltsam“, jammerte das Elflein völlig durcheinander.

Die Frau lächelte beruhigend. „Das bekommen wir hin. Du übernachtest heute bei mir. Bis morgen früh geht es dir sicher wieder gut. Dann kannst du ganz früh, bevor die Menschen aufstehen, wieder zurückfliegen.“

Rasch richtete sie aus bunten Tüchern ein kleines Nest für das Elflein her. „Ich lasse das Fenster einen Spalt auf, dann kannst du jederzeit hinaus“, erklärte sie dabei.

Behutsam nahm sie das immer noch verwirrte Elflein in ihre Hand und legte es in das Nest. Es kuschelte sich in die dünnen, weichen Tücher, schloss erleichtert die Augen und war sofort eingeschlafen. Ein wenig lächelte die Frau noch über ihren seltsamen Gast, bevor sie sich auch zur Ruhe begab.

Als das Elflein wieder erwachte, schob sich gerade die Sonne über den Horizont. Blassgoldenes Licht fiel durch das Fenster ins Zimmer. Es fühlte sich viel besser. Vorsichtig richtete es sich auf, versuchte zu fliegen und stellte erleichtert fest, dass ihm nicht mehr schwindlig war.

Ganz kurz huschte es noch zur offenstehenden Tür, die zum Schlafzimmer der Frau führte. Doch diese schlief tief und fest.

„Nein, ich werde sie nicht wecken“, flüsterte das Elflein vor sich hin. „Sicher braucht sie ihren Schlaf.“

Es schlüpfte durch den Fensterspalt und flog in dem frühen Morgenlicht zurück zum Wald. Es würde diese nette Menschenfrau bestimmt bald wieder besuchen. Aber von dem Holunderwein trank es ganz gewiss nichts mehr.

 

Der Maitanz

Das Elflein saß auf einem dicken Buchenast am Waldrand. Er ragte weit über die große Wiese hinaus, die sich zwischen den letzten Häusern des Dorfes und dem Wald ausbreitete. Staunend blickte es auf die Menschenmenge, die sich dort tummelte. Das dichte Laubwerk verbarg es vor den Blicken der Menschen. Doch die Blätter nahmen dem Elflein auch selbst die Sicht. Es konnte immer nur einen kleinen Abschnitt der Wiese sehen, je nachdem, wo es durch das Blattwerk lugte.

Ärgerlich darüber erhob sich das Elflein in die Luft, flog über den Ast hinweg bis ganz nach vorne zu seiner Spitze. Hier war er nur noch ein dünner Zweig. So konnte das Elflein sich sogar rittlings daraufsetzen. Nun war es zwar nicht mehr versteckt, aber die Menschen müssten schon sehr genau hinsehen, um den kleinen Körper, der nicht größer als eine Menschenhand war, so hoch oben erkennen zu können.

Neugierig sah es sich um. Offensichtlich feierten die Menschen ein Fest. Manche hatten Decken mitgebracht, die sie auf dem Gras ausbreiteten, ebenso Körbe mit Essen und Trinken. Sie lachten und unterhielten sich. In Richtung des Dorfes waren mehrere große Tische aufgebaut worden. Anscheinend wurde dort weiteres Essen angeboten. Das Elflein zog die kleine Nase kraus. Die Gerüche, die der Wind herantrug, waren fürchterlich. Doch die Menschen schienen es zu mögen. Vor allem die Kinder umlagerten diese Tische begierig.

Das Erstaunlichste dieses eigenartigen Festes jedoch stand mitten auf der Wiese: ein völlig kahler Baum. Das Elflein war sich völlig sicher, dass dort noch nie ein Baum gestanden hatte, noch dazu ein solch hässlicher, halb zerstörter Baum. Ja, eigentlich war es nur der Stamm, ohne jeden Ast, sogar ohne Rinde.

Die Menschen mussten ihn dorthin gebracht haben. Doch warum? Allerdings, so wirklich kahl war der Baum nicht, überlegte das Elflein sich. Denn oben, an der Spitze des Stammes befanden sich große Ringe, an denen Bänder angebracht waren. Bunte Stoffstreifen, die rings um den Stamm bis hinunter auf den Boden fielen und sich dort im Gras ringelten. Auf irgendeine Art fand das Elflein diese Bänder hübsch.

Plötzlich erscholl ein neues Geräusch, es übertönte selbst das laute Stimmengewirr der Menschen. Ein dumpfes Pochen, dass sich immer wiederholte. Das Elflein erschrak so sehr darüber, dass es fast vom Ast gefallen wäre. Weitere Geräusche erklangen. Das war Menschenmusik, begriff es. Das Elflein erkannte nun, gar nicht weit weg von seinem Ast, eine Gruppe junger Leute, die verschiedene Musikinstrumente bearbeiteten. Fasziniert hörte das Elflein zu, es war laut und für seine kleinen Ohren auch schrecklich misstönend. Doch schon bald konnte es eine Melodie erkennen. Das Elflein begann zu lächeln, eigentlich klang es sogar ganz hübsch, gab es für sich zu.

Eine große Anzahl junger Leute stellte sich nun um den Baum auf. Sie bildeten zwei Kreise, einer mit jungen Mädchen und ein etwas größerer um sie herum mit jungen Männern. Jeder der Menschen ergriff eines der bunten Stoffbänder, die an dem Baum befestigt waren. Dann begannen sie um den Baum herumzulaufen. Allerdings nicht gleichmäßig. Die Mädchen liefen in die eine Richtung, die Männer genau entgegengesetzt.

Erst nach einer Weile erkannte das Elflein, dass sie sich nicht einfach um den Baum herumgingen. Ihre Beine hoben und senkten sich im Takt zu der seltsamen Musik, die Arme und Hände schwangen gleichmäßig durch die Luft, hoch und runter. Dabei drehten sie sich immer wieder um sich selbst, mal rechts herum, mal links herum. Das Elflein staunte. Diese Menschen tanzten. Nun ja, zumindest, was die Menschen tanzen nannten. Es konnte sich absolut nicht mit den schwerelosen Tänzen der Elfen vergleichen.

Was wohl auch verständlich war, überlegte das Elflein. Denn so groß und plump wie die Menschen waren, konnten sie natürlich niemals so anmutig tanzen, wie die zierlichen, grazilen Elfchen. Und doch sah es hübsch aus, wie die jungen Menschen sich um den Baum herumbewegten. Die anderen Menschen sahen ihnen zu, viele klatschten im Takt der Musik mit den Händen oder tanzten ebenfalls auf der Wiese. Andere lachten und sangen dazu.

Das Elflein begann, sich ebenfalls zur Musik hin und her zu wiegen. Schließlich erhob es sich von seinem Ast und ließ seine Flügelchen singen. Die Glöckchen und Härchen dort sangen und klangen und bildeten eine ganz eigene Musik. Das Elfein drehte Kreise und Pirouetten zu seiner Flügelmusik. Aber irgendwie hatte es keine Lust, alleine zu tanzen. Und so flog es hoch über den Menschen hinweg bis zur Spitze des kahlen Baumes und ließ sich dort nieder.

Dort ließ es wieder seine Flügel singen und tanzte dazu. Selbst wenn die Menschen ganz still gewesen wären, hätten sie diese feine, singende Melodie der Elfenflügel nicht hören können. Sie war viel zu leise für Menschenohren. Und so tanzten die Menschen unten auf der Wiese um den Baum und weit oben drehte sich das Elflein in der Luft. Im selben Takt, doch zu einer anderen Melodie.

Erst als die Menschenmusik verstummte, hörte auch das Elflein auf zu tanzen und blickte wieder hinunter. Die Mädchen und Männer standen noch immer im Kreis um den Baum und alle anderen sahen zu ihnen hin. Dann begannen alle Menschen laut zu klatschen. Das Elflein hob rasch die Hände an die Ohren, was allerdings nicht viel brachte. Der Lärm war furchtbar. Zum Glück hörten sie schon nach kurzer Zeit wieder damit auf.

Die Mädchen und Jungen, die um den Baum getanzt waren, liefen wieder zu den anderen Menschen. Alle unterhielten sich wieder, aßen oder saßen einfach da und genossen den Sonnenschein. Die Kinder lachten und spielten, kaum einer der Menschen sah noch zu dem Baum hin.

Aber weshalb hatten die Menschen diesen Tanz aufgeführt? Wieder sah das Elflein hinunter. Irgendetwas hatte sich verändert, stellte es fest. Wo waren die bunten Bänder geblieben? Gerade eben waren sie noch vom Baum heruntergehangen bis zur Erde. Jetzt schienen sie verschwunden zu sein. Das Elflein sah sich noch einmal um. Nein, sie konnten nicht weg sein. Denn hier oben, an der Spitze des Baumes waren alle Bänder noch da. Sie begannen an den großen Ringen, die hier an dem Stamm befestigt waren.

Das Elflein kniete sich hin und sah dicht am Stamm hinunter. Und dann erkannte es, dass die Stoffstreifen tatsächlich noch da waren. Aber sie hingen nicht mehr lose herunter, sondern waren kreuz und quer um den Stamm herumgewickelt. Das Elflein flog auf den Buchenast zurück, um sich das Ganze aus der Ferne anzusehen.

Dort stand es und staunte – und lachte plötzlich auf. Deshalb hatten die Menschen diese Stoffstreifen an dem Baum angebracht. Nun, nach dem Tanz, war der Baum zwar immer noch kahl, aber nicht mehr schmucklos. Die bunten Bänder umwanden ihn bis fast zum Boden hinunter und leuchteten in der Sonne wie ein Regenbogen. Allerdings einer, in dem die Farben völlig durcheinander waren. Dem Elflein gefiel dies aber, es sah sehr hübsch aus.

Was für seltsame Ideen die Menschen doch hatten, dachte das Elflein. Es beschloss, seinen Kameraden von dem seltsamen Tanz zu erzählen, den die Menschen heute aufgeführt hatten, und auf welch nette Weise sie dadurch den kahlen Baumstamm geschmückt hatten. Immer noch völlig unbemerkt flog das Elflein wieder in den Wald hinein.

 

Eine verzauberte Nacht

Aufgeregt beobachteten die Blumenelfen den am Horizont aufgehenden Mond. Langsam stieg er höher am Himmel hinauf und sein silbriges Licht erhellte den stillen Wald.

„Seht“, wisperte eines der kleinen, nur menschenhandgroßen Wesen und schwang sich anmutig auf ein größeres Blütenblatt. „In zwei Tagen ist er voll.“

Alle anderen nickten schweigend. Jeder dachte an die Prophezeiung ihres Königs. An Samhain, dem einen, besonderen Vollmond, sollte dieses Mal etwas Einzigartiges geschehen. Die mächtigen, kaum zu begreifenden Schranken zwischen Welten und Dimensionen würden sich öffnen. Das war seit Äonen nicht mehr vorgekommen, selbst die ältesten der Elfen kannten nur vage Erzählungen aus den Zeiten, als Derartiges normal gewesen war.

Damals kamen die ersten von ihnen aus den Gefilden der Ewigkeit zur Erde und fanden diese Welt so faszinierend, dass sie blieben – obwohl die Grenzen immer undurchdringlicher wurden. Inzwischen waren die Phänomene an Samhain selbst für sie fast ein Mythos. Manchmal konnten sie für einen winzigen Augenblick in diesen Nächten einen leichten Schimmer in der Luft erkennen, wie wenn ein Schleier sich bewegte.

Doch an diesem Vollmond wäre es wie früher, als die Welt jung war. Die Elflein bereiteten sich erwartungsvoll darauf vor. Tagsüber schwangen sie sich in die vom Sonnenlicht durchflutete Luft über den Blumen und Gräsern der Lichtungen zwischen den Bäumen. Sie fingen die goldenen Strahlen in ihren Flügeln ein und speicherten sie in den filigranen, in allen Regenbogenfarben glänzenden Härchen, die deren Ränder säumten. Dadurch klangen die glasklaren Töne, die sie beim Fliegen damit erzeugten, noch lieblicher. Sie wuschen die grünlichen, seidigen Haare mit Blumennektar und kleideten sich in die feinsten, aus Pollen und den zartesten Blütenblättern gewebten Elfengewändern.

Schließlich war es soweit. Alle versammelten sich um den großen Steinkreis herum. Unruhig schwirrten sie durch die Luft und beobachteten das heller werdende Mondlicht. Die grauen Granitblöcke begannen zu glitzern, kleine eingeschlossene Quarze warfen das silbrige Licht, Spiegeln gleich, wie funkelnde Blitze zum Himmel zurück.

Innerhalb des Ringes erhob sich ein Windhauch. Er wirbelte das Laub auf und blies es durch die Spalten bis die Fläche völlig blank dalag. Aus dem Nichts erschien eine schmale, senkrechte Lichtlinie. Sie verbreitete sich wie ein Riss und öffnete sich zu einem Torbogen. Staunend beobachteten die Blumenelfen das Wunder, keiner wagte sich zwischen die Stelen.

Sphärenhafte Musik erklang, erst ganz leise, ehe sie langsam immer lauter anschwoll. Sie versetzte die Elflein in Ekstase, derart herrliche Klänge hatten sie noch niemals gehört. Sie bewegten sich zu den paradiesisch anmutenden Melodien und tanzten graziös durch die Lüfte. Ihre Flügel sangen glockenrein, genau passend zu den Tönen und schufen eine vollkommene musikalische Welt.

Dann traten Wesen aus der überirdischen Öffnung. Sanft leuchtende Umhänge bauschten sich um die hochgewachsenen Körper. Ihre Gesichter strahlten Frieden und Glück aus.  Über ihren Schultern hoben sich schneeweiße, zierliche Flügel in die Luft.

Ein fast einstimmiges „Ohhh“ erklang von den Elfen. Fasziniert betrachteten sie die märchenhaften Fremden. Zwei von ihnen traten auf sie zu und hoben lächelnd die Hände zum Gruß.

„Endlich können wir euch wieder besuchen. Ihr scheint zu den Blumenelfen zu gehören. Wir freuen uns sehr, dass ihr gekommen seid.“

Das vorwitzigste Elflein flog auf die beiden zu. „Ja, das sind wir. Und wer seid ihr?“

„Erinnert ihr euch denn nicht mehr an uns?“

„Wir kennen Mythen von den ewigen Gefilden, aus denen unsere Vorfahren stammten. Aber keiner von uns weiß Genaues darüber.“

Ein Schatten glitt über das Gesicht der geflügelten Gestalt. „Das war wohl leider zu erwarten. Ihr lebt schon so lange auf der Erde, dass ihr die absolute Unsterblichkeit verloren habt. Wir sind Engel, eure Brüder und Schwestern. Denn ihr wart einmal wie wir, doch habt ihr euch für eine andere Existenz entschieden und unsere Wege trennten sich.“

Der Sprecher hielt dem Elflein die Hand hin und dieser setzte sich darauf. „Es ist wie die Erfüllung eines Traumes, mit euch zu sprechen“, flüsterte er ehrfürchtig.

„Das ist es für uns auch. Wollen wir miteinander diese eine, einzigartige Nacht feiern?“

Da lachten die Elfen, denn ein Fest war ihnen immer willkommen. In Windeseile brachten sie Elfenwein und würzigen Tau, Beerensaft und Blütenstaub herbei. Die Engel hingegen legten auf seidig glänzende Tücher herrlich duftendes Brot und weiße, lockere Kuchen. Dann schmausten und tranken alle zusammen, jeder unterhielt sich mit jedem. Der Steinkreis wimmelte von kleinen und großen Wesen, die lachten und tanzten.

Vom Himmel fielen Sternschnuppen und der Mond leuchtete fast so hell wie die Sonne bei Tag. Erst nach Stunden, das silbrige Nachtgestirn berührte schon den Horizont, verabschiedeten die Engel sich von den Elfchen.

„Habt Dank für diese Feier. Wir werden den anderen berichten, dass ihr glücklich hier auf der Erde seid. Irgendwann wird es eine weitere Nacht geben, in der die Grenzen sich öffnen und wir uns erneut sehen können.“

Auch die Blumenelfen erhoben sich. „Wir freuen uns darauf. Niemals werden wir euch vergessen und allen von diesem Wunder erzählen.“

Sie zogen sich aus dem Ring zurück. Die Engel traten in den Lichtbogen, der mit dem schwindenden Mondlicht zusammen blasser wurde, bis er verschwand. Die uralten Granitblöcke standen wieder schlicht und dunkel auf der Lichtung.

Stumm blieben die Elflein noch eine Weile wie wartend auf der Lichtung, doch die verzauberte Zeit war vorbei. Leise miteinander flüsternd flogen sie zu ihrem Dickicht tief im Wald zurück.

Das Pusteblumenfest

 

Noch war die Sonne nicht aufgegangen, aber der Himmel leuchtete schon hell und die goldene Morgenröte lag über der großen Wiese am Waldesrand. Dort, unter den Büschen und kleineren Bäumen versammelte sich die Schar der Blumenelfen. Aufgeregt flogen sie hin und her.

„Sieht man die Sonne denn immer noch nicht?“

„Wann beginnt es denn endlich?“

„Sei nicht so ungeduldig. Es geht bestimmt gleich los.“

So tönten ihre feinen Stimmen durcheinander. Ein etwas größerer Elf, nun ja, minimal größer, ein Mensch würde den Unterschied nicht bemerken, flog auf einen der niedrigen Äste und stellte sich in Positur.

„Hört mir kurz zu!“, rief er laut.

Es wurde still. Alle Elfen blickten erwartungsvoll zu ihm.

„Also“, begann er, wurde jedoch von einem schrillen Krächzen unterbrochen.

„Kr kr kr, gägägägägägägägägä!“, gellte eine Elster genau über ihm.

„Hmpf! Bist du wohl ruhig?“, schimpfte der Elf und sah zu ihr hinauf.

Der schwarzweiße Vogel war größer als der Blumenelf und spottete: „Was willst du kleiner Wicht denn? Pass auf, dass ich nicht nach dir picke.“

„So eine Frechheit“, empörte der Elf sich und reckte sich so hoch er konnte. Seine kleinen Äuglein funkelten wütend. „Mit dir werde ich doch allemal fertig.“

Er hob die Hand, konzentrierte sich auf seine Elfenkräfte und jagte einen heftigen Luftstoß zu dem Vogel. Die Federn der Elster wurden zerwühlt, fast wäre sie von ihrem Ast gefallen. Erschrocken flatterte sie mit den Flügeln und verschwand eilends.

Der Elf lachte hinter ihr her und wandte sich dann wieder an seine Gefährten: „Nun wird uns hoffentlich niemand mehr stören. Wie ihr alle wisst, wollen wir heute unser geliebtes Pusteblumenfest feiern. Ihr kennt die Regeln, also achtet darauf, dass nicht zu viele auf einmal auf den Stängeln tanzen, damit die Blumen nicht zu schaden kommen.“

Er blickte zur Sonne, die endlich ihre ersten direkten Strahlen über die Wiese schickte. Auf dieser wuchsen mindestens mehrere hundert Löwenzahnpflänzchen. Die Blumen spürten die Wärme und öffneten ihre hellgelben Blütenkelche. Innerhalb von Sekunden sah die Wiese aus, als leuchteten überall kleine Sonnen mit der großen am Himmel um die Wette. Und doch war das strahlende Gelb nicht die vorherrschende Farbe. Denn die meisten der Pflanzen waren schon verblüht und zu Pusteblumen geworden. Ihre hauchfeinen, zu Bällen geformten Fallschirme, an denen die Samen hingen, glitzerten wie Schnee in dem Morgenlicht.

„Und los geht es!“, gab der große Elf das Startzeichen.

Sofort schwärmten sämtliche Blumenelfen aus und verteilten sich auf der Wiese. Ihre durchsichtigen Flügel schimmerten in allen Regenbogenfarben. Die kleinen, glasartigen Fäden an ihren Rändern klangen wie Glöckchen – zumindest in den Ohren der Elfen. Je nachdem, wie sie die Flügel bewegten wurden daraus wunderschöne Melodien.

Immer drei oder vier der Elfchen schwangen sich auf den starken, kräftigen Stängel einer Pusteblume und tanzten anmutig hinauf. Ihr Gewicht bog diese wie eine Brücke. Mit den Flügeln hielten sie das Gleichgewicht, denn der runde Untergrund schwankte stark und war zudem auch noch recht glatt.

Zierlich setzten sie die Füße im Takt ihrer eigenen Flügelmusik auf die grünen, schmalen Pflanzenstiele, während sie, Balletttänzern gleich, Pirouetten drehten und sich so langsam immer weiter nach oben und vorne bewegten.

Eines der Elfchen sprang ein wenig in die Höhe, zog dabei anmutig das Knie an und kam mit den Zehen zuerst wieder auf den Stängel. Zwei, drei Schrittchen wie eine Primaballerina nur auf den Spitzen laufend folgten. Doch dann glitt das Elfchen aus, wild ruderte es mit den Armen und versuchte sich mit kräftigen Flügelschlägen zu halten.

Doch bei diesem Fest durfte während des Tanzes nicht wirklich geflogen werden und das Elfchen hielt sich daran. Mit einem quietschenden „Ihh!“ fiel es von dem Löwenzahn hinunter. Natürlich tat es sich nicht weh, der Wiesenboden war ja weich. Aber es ärgerte sich. Und noch ehe es sich wieder aufgerappelt hatte, nutzte ein anderer Elf die Chance und sprang auf die Blume hinauf, um sich den anderen Tänzern anzuschließen. Das Elfchen musste sich eine andere Pflanze suchen.

Immer öfter erklang nun ein erschrockenes „Oh!“ und „Uff!“, wenn die kleinen Elfen auf den Stängeln ausglitten. Vorsichtig balancierten auf einem besonders schmalen Stiel balancierten zwei vor Vergnügen lachende Elfchen. Sie verbeugten sich kichernd wie vornehme Edelleute, richteten sich wieder auf und sprangen ein Stückchen weiter in Richtung der weißen Samenschirme.

Das vordere Elfchen stolperte über einen Blattansatz und stürzte kopfüber hinunter. Automatisch griff es nach dem Stiel, um sich daran festzuhalten und hing nun mit baumelnden Beinen ein gutes Stück über dem Boden.

„Nicht! Du knickst ihn!“, warnte der zweite Elf erschrocken.

Die Stelle, an der sich das Elfchen festklammerte, bog sich nach unten. Es knirschte, als die Pflanzenfasern zu reißen begannen. Oh nein! Auf keinen Fall durfte eine der wunderschönen Blumen verletzt werden! Der Elf ließ los und fiel das letzte Stück auf die weichen Gräser am Boden.

Wie ein Trampolin schnellte der Stängel wieder hoch und warf das noch stehende Elfchen in die Höhe. Mit einem kichernden Quietschen stürzte auch dieses hinunter, während die umstehenden Elfen in Lachen ausbrachen.

Doch immer mehr der Blumenelfen schafften ihren grazilen Tanz bis zu den feinen, weichen Fallschirmchen, der eigentlichen Pusteblume.

Sie griffen nach ihnen und zogen sie von der Blume. Erst dann benutzten sie ihre Flügel, um sich in die Lüfte zu schwingen. Hoch über der Wiese ließen sie die Samen an ihren feinen Schirmchen dann los. Die Luftbewegungen durch die Flügelschläge der Elfchen reichten aus, um diese weiter zu treiben.

Schon bald war über der Wiese ein weißleuchtender Teppich aus fliegenden Pusteblumensamen zu sehen. Dazwischen flogen die Elfen, deren glitzernde Flügelchen das Licht der Sonne brachen und unzählige kleine Regenbögen entstehen ließen.

Dieses Schauspiel lockte die neugierigen Spatzen an. Eine große Gruppe von ihnen kreiste über den Elfchen. Verblüfft beobachteten die Vögel das Geschehen.

„Ihr stört uns“, riefen die Elfen. „Bitte, seht ihr nicht, dass wir in der Sonne tanzen wollen?“

„Aber wozu treibt ihr die Samen vor euch her?“, wollte ein Spatz wissen. Er blinzelte kurz, als eines der Fallschirmchen direkt an ihm vorbeiflog. „Schmecken die?“

„Nein!“, behaupteten die Elfen rasch. „Wir sorgen dafür, dass sie weit fortgetragen werden, dann können sie auf anderen Wiesen landen und nächstes Jahr dort wachsen. Wir lieben die sonnenhellen Blüten und möchten, dass sie überall zu finden sind.“

Ganz überzeugt war der Spatz nicht, die dunklen Samen sahen sehr appetitlich aus. Aber er kannte die Elfen und wusste, dass es nicht ratsam war, diese Geschöpfe zu verärgern.

„Na gut“, zwitscherte er. Dabei zwinkerte er seinen Genossen zu. Die piepsten ein paar Mal kichernd. Sie würden einfach warten, wo die Pustedinger landeten und sich dann an ihnen gütlich tun.

Erleichtert blickten die Elfen dem Vogelschwarm nach, als dieser wieder verschwand. Dann tanzten sie weiter, bis alle Blütenstängel von ihren Fallschirmen befreit waren und mit dem Wind weggeweht wurden.

Der Pub zur Elfenmusik

Weit entfernt vom Walddickicht der Blumenelfen lag eine Hügelkette. Wie Meereswogen zogen sich die mit dichtem, grünem Gras bewachsenen Erhebungen dahin, immer eine nach der anderen. Unter dem größten dieser Höcker lag ein Elfenpalast. Im Licht der Morgensonne tanzte eine der dort lebenden Elfen über die Wiesen, flog um die Insektenschwärme herum – oder auch manchmal mitten hindurch – und freute sich über die unzähligen Blumen, die langsam ihre Blütenkelche öffneten.

Urplötzlich, ohne jede Vorwarnung, wurde das Elflein von einer unglaublichen Kraft durch die Luft gewirbelt. Fast gleichzeitig hallte ein furchtbarer Knall über das Land. So laut, dass das Elflein davon regelrecht betäubt wurde. Haltlos überschlug es sich immer wieder, die Hände vor die Ohren gepresst, die Augen aber weit aufgerissen vor Schreck.

Voller Entsetzen sah es, wie der Hügel über dem Elfenreich sich emporwölbte, aufriss und in abertausend Stücke explodierte. Eine riesige Staubwolke erhob sich in den Himmel. Die Druckwelle schleuderte das Elflein erneut davon. Geschockt und taub schlug es instinktiv die zarten Flügel, schaffte es irgendwie, den tosenden Windböen zu entkommen, und floh vor dem Inferno, das sein Reich zerstörte.

Lange Zeit war das Elfchen nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Es flog einfach nur immer weiter. Der Tag wurde zur Nacht, hell folgte auf dunkel. Ohne die Sonnenauf- und -untergänge zu zählen, trieb es das Elflein vorwärts. Es spürte weder Hunger noch Durst, merkte nicht einmal, wie seine Kräfte nachließen. Nur die Flügel schwangen langsamer und langsamer auf und ab. Irgendwann, in tiefer Nacht, prallte es gegen etwas. Automatisch klammerte es sich daran fest, um nicht auf den Boden zu stürzen.

Verwirrt schüttelte es den Kopf und betastete mit den Händen dieses harte, raue Etwas. Eine Wand erhob sich vor dem Elfchen. War die Welt hier zu Ende? Noch immer krank vor dem Grauen der Erinnerung kam es gar nicht auf die Idee, einfach zur Seite zu fliegen und zu schauen, wie weit diese Mauer reichte. Wie ein Käfer ohne Flügel krabbelte es daran entlang und fand einen Spalt. Das Elflein kroch hindurch und schob dabei Spinnweben und Staub beiseite. Es fühlte warme Luft um sich herum, rollte sich zusammen und fiel in einen tiefen Schlaf.

Lärm weckte es wieder auf. Verstört und etwas verängstigt blickte das Elfchen um sich. Es lag in einer Art Höhle, die allerdings senkrechte, völlig gerade Wände besaß. Über ihm befand sich eine ebenso glatte Decke. Es drehte sich um. Da war der Spalt, durch den es hereingekommen war. Jetzt bemerkte das Elflein, dass es mehrere schmale, hohe Öffnungen gab, die dicht nebeneinander durch die Wand nach draußen führten.

Der Krach jedoch kam aus der anderen Richtung. Das Elfchen kroch auf Händen und Knien – obwohl die eigenartige Höhle groß genug war, um darin stehen zu können – dorthin, bis zu einer Art Gitter. Die quadratischen Aussparungen waren ausreichend, um sich bequem hinzusetzen. Mit großen Augen musterte das Elflein die Welt, die dahinter lag.

Sie war voller Menschen! Und hatte Wände, dunkle Holzwände! Ein Raum, begriff das Elfchen. Die großen Wesen saßen und standen überall darin. Entweder an den vielen Tischen, aber auch entlang eines breiten – ‚Dings‘. Erst nach einer Weile fiel dem Elflein das Wort dafür ein. Das war ein Tresen. Darauf befanden sich viele Gläser, aus denen die Menschen tranken, während sie sich lautstark unterhielten. Das war der Lärm, von dem das Elfchen wach geworden war.

Wo war es bloß hingeraten? Hier existierte keine Sonne, aber gelbliches Licht erhellte den Raum. Benommen von dem Krach – und seinem inzwischen kaum noch erträglichen Hunger und Durst –, beugte sich das Elfchen etwas vor, um besser sehen zu können.

„He! Du hast Ungeziefer in deinem Pub!“, rief da eine besonders laute Stimme und einer der Menschen zeigte nach oben. Direkt auf das Elflein!

Vor Schreck fiel es herunter und konnte sich gerade noch an einer der hellen Leuchten an der Wand festhalten.

„Was ist das denn für ein komischer Käfer“, brummte der Mann hinter dem Tresen und ging auf das Elflein zu.

Mit zusammengekniffenen Augen musterte der Mensch die kleine Gestalt. Das Elfchen hielt voller Angst die Luft an.

„Na sowas! Das gibt es doch gar nicht! – Du bist ja ein Elf!“, staunte der Mann einen Moment später. „Aber total verdreckt. Wie kommst du denn in meinen Pub?“

Verdreckt? Endlich begriff das Elfchen, warum es nicht fliegen konnte. Seine zarten, durchsichtigen Flügel, sogar die zierlichen, glasartigen Härchen an dessen Rändern, waren voller Staubflocken und klebriger Spinnweben. Das Zeug war überall, auch die Arme und Beine, selbst seine feinen, silbrigen Haare bedeckte eine graubraune Schmutzschicht. Igitt!

Es konzentrierte sich auf seine Elfenkräfte – warum fiel ihm das nur so schwer? – und säuberte sich eilig mit einigen Handbewegungen. Mit der magischen Hilfe benötigte man dazu weder Wasser noch Seife. Letzteres benutzten Elfen ohnehin nie. Nur Menschen rochen oftmals danach, sinnierte das Elflein dabei unbewusst.

Allerdings schwächte es diese Anstrengung noch mehr. Stöhnend ließ das Elfchen sich auf den gebogenen Lampenfuß sinken und legte den Kopf in die kleinen Hände.

„Was ist denn los? Du siehst irgendwie … krank aus“, fragte der Wirt verdutzt. Denn wenn es sein Pub war, musste er das wohl sein.

„Ich habe solchen Hunger“, flüsterte die kleine Elfe.

„Oh! Hm, ich weiß nicht, was du magst. Aber ich habe Erbsensuppe. Willst du nicht herunter kommen? Warte, ich helfe dir.“

Mitleidig nahm er das Geschöpfchen vorsichtig in die Hand und setzte es auf dem Tresen wieder ab. Streng blickte er in die Runde: „Dass mir keiner von euch Trampeln das zarte Dingelchen anrührt, verstanden?“

Sofort ruckten die Männer, die sich neugierig herangeschoben hatten, wieder ein Stück beiseite. Wenige Augenblicke später stieg dem Elfchen ein fremdartiger Geruch in die Nase. Es hob den Kopf, vor ihm stand ein durchsichtiger, riesiger Eimer. Er ging ihm bis zum Bauch.

„Ich habe es in ein Schnapsglas gefüllt, damit du besser drankommst. Aber so einen kleinen Löffel besitze ich nicht.“

Dem Elfchen war das inzwischen gleichgültig. Sein Magen schmerzte viel zu sehr. Es schwang sich auf den Rand und begann, die Suppe zu schlecken. Es war ganz gewiss kein frischer, wohlschmeckender Blumentau und auch kein süßer Blütennektar, aber es sättigte.

„Danke, vielen Dank“, meinte es, als es keinen Bissen mehr herunter bekam. „Das hat gut getan. Wo bin ich hier eigentlich?“

„In meinem Pub ‚Zum tanzenden Frosch‘. In Cornaglea“, erklärte der Wirt.

Das sagte dem Elfchen allerdings überhaupt nichts. Es hatte das Gefühl, sich in einer völlig anderen Welt zu befinden, die absolut keine Ähnlichkeit mit seiner gewohnten besaß. Seine Heimat existierte ja auch nicht mehr, erinnerte es sich voller Kummer.

„Ich bin so einsam. Darf ich hier bleiben?“, bat es.

Dem Wirt war das recht, und so saß das Elfchen in den nächsten Tagen und Wochen jeden Abend auf dem Tresen und unterhielt sich mit den Besuchern. Die strömten nur so in den Pub, um den seltsamen, kleinen Schützling des Wirts in Augenschein zu nehmen. Manchmal schwang es sich in die Luft und ließ seine Flügel schwirren. Selbst die Menschen konnten dann die wundersame Musik hören, die diese, zusammen mit den feinen Härchen an deren Rändern, entstehen ließen.

Tagsüber schlief es oben in der ‚Höhle‘. Der Wirt hatte ihm lachend erklärt, das sei das Gehäuse des uralten Ventilators, das nur noch da hing, weil die Schrauben festgerostet waren. Es gab längst einen neuen, wesentlich moderneren. Der gutmütige Mann machte in dem Kasten bereitwillig sauber und legte mehrere weiche Stofflappen hinein. So besaß das Elflein ein einigermaßen gemütliches Heim.

Eines Abends öffnete sich wieder die Eingangstür des Pubs und eine wohlbeleibte, schon etwas ältere Frau trat ein. Sie wurde von den Menschen mit freundlichen Rufen begrüßt: „Aber hallo, das Kräuterweiblein ist wieder im Lande. Wie geht es Ihnen, Miss Hullywing?“

„Hervorragend, ich habe in Dublin gute Geschäfte gemacht. Aber jetzt bin ich froh, wieder daheim zu sein“, gab sie zurück. „Machen Sie mir ein Guiness, Wirt! In der Stadt schmeckt das Gebräu scheußlich, musste ich feststellen.“

Dann blieb ihr der Mund offen stehen. „Was ist das denn?“, entfuhr es ihr. „Ein Elf! Ja, wie kommt denn ein Elfchen in Ihren Pub?“

Stolz berichtete der Wirt, wie das kleine Wesen eines Nachts erschienen war. „Und nun lebt es bei mir“, schloss er. Leise fügte er hinzu: „Ich bin mir nur nicht sicher, ob es wirklich gesund ist. Es ist gut, dass Sie wieder hier sein. Vielleicht wissen Sie, was ihm fehlen könnte. Ich habe immer gehört, dass Elfen fröhliche Geschöpfe sind. Aber dieses wirkt meist traurig.“

„Das wundert mich überhaupt nicht“, versetzte die Frau, die sich mit der Natur auskannte, sofort. „Elfen gehören nicht in geschlossene Räume und ganz gewiss leben sie nicht in einem Pub.“ Sie wandte sich dem kleinen Elfchen zu. „Erzähl doch einmal, wie es dazu kam, dass du hier aufgetaucht bist.“

Prompt begann das Elflein zu weinen und berichtete schluchzend, dass sein Elfenhügel von einer grauenhaften Explosion zerstört worden war. Und nun sei es völlig allein. Deshalb wäre es dankbar, dass die Menschen es bei sich aufgenommen hätten.

„Aber es gibt doch überall Elfen“, meinte die Frau sofort. „Du armes Ding. Wahrscheinlich war der Schock so groß, dass du dies vergessen hast. In gewisser Hinsicht bist du vermutlich krank. Du musst dich erinnern! Aber hier kannst du das nicht. Du brauchst die Natur dazu. Weißt du was? Gleich morgen früh komme ich und bringe dich hinaus in den Wald. Dort fühlst du dich garantiert besser.“

„Gibt es denn wirklich andere Elfen?“               

„Ganz sicher!“, bestätigte die Kräuterfrau.

Der Wirt war allerdings überhaupt nicht begeistert, seinen kleinen Gast wieder zu verlieren. Das Elflein sorgte für einen beständigen Zustrom an neugieriger Kundschaft, die ihm gutes Geld einbrachten. Die Frau sah ihn streng an, als er das vorbrachte. „Wollen Sie dem Elflein helfen oder nicht?“

„N..n…natürlich will ich das“, stotterte er verlegen.

„Warte einen Moment“, sagte da das Elfchen. „Ich schenke dir etwas. Als Dank für deine Hilfe und Freundlichkeit.“

Es zupfte eine Handvoll der feinen Härchen vom Rand seiner Flügel. Dann flog es hinauf in die Nähe des ständig laufenden Ventilators und klebte sie in dem Luftstrom davor fest. Die Bewegungen der glasartigen Fäden verursachten Töne, die lieblicher klangen als die reinsten, klarsten Glocken und bildeten wunderschöne Melodien. Mit seiner Magie verstärkte das Elflein die Lautstärke, damit Menschenohren diese Musik vernehmen konnten.

Der Wirt staunte mit offenem Mund. „Das ist das herrlichste Geschenk, das ich jemals bekam.“ Seine Augen begannen zu glänzen. „Danke, Elflein.“

Am nächsten Morgen setzte sich das Elflein auf die Schulter der Kräuterfrau. Diese wanderte mit ihm zum nahegelegenen Wald. Mit jedem Schritt, der es näher zu den Bäumen brachte, fühlte das Elfchen sich kräftiger und gesünder. „Oh! Das tut gut! Es ist, als würde ich aus einem Traum erwachen.“

„Siehst du! Du brauchtest nur die Natur um dich herum“, lachte die Kräuterfrau.

Sie lief weiter bis zu den heiligen Steinen, unter denen, laut uralter Menschenlegenden, ein Elfenpalast lag. Als das Elflein das große Elfentor erblickte – denn nichts Anderes waren diese Steine – flog es freudig rufend darauf zu. „Das sieht aus wie zu Hause!“

„Hier in der Nähe soll es auch ein Elfendickicht geben“, meinte die Menschenfrau. „Ich kenne es nicht, aber sicher wirst du es leicht finden. Lebe wohl, mein kleiner Freund.“

„Warte!“

Aber die Frau hatte sich schon umgewandt und ging wieder zum Dorf zurück. Mit glänzenden Augen sah das Elflein ihr hinterher. „Hab Dank, liebe Menschenfrau“, flüsterte das Elfchen und hob die Hand. „Sei gesegnet!“ In diesem Moment fiel ein Sonnenstrahl hell auf die Frau und hüllte sie ein. „Du wirst immer eine Elfenfreundin sein.“

Dann flog es unter die Bäume. Schon von weitem erkannte es das Dickicht. Die Blumenelfen staunten, als es das fremde Elfchen erblickten. Sie umringten es und brachten es zu ihrem Anführer. Dort bat es darum, in diese Gemeinschaft aufgenommen zu werden, was ihm gerne bewilligt wurde. Damit hatte das Elflein endlich wieder ein Zuhause.

 

Der Wirt des Pubs jedoch sägte, malte und lackierte drei Tage lang an einem neuen Schild für seine Gaststätte. Nun hieß sie: ‚Pub zur Elfenmusik‘. Es wurde in weitem Umkreis bekannt und ständig kamen Besucher, um die wunderschönen Klänge darin zu hören.

 

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Cover: Created by © HS-CoverDesign
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2017

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