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Ein mysteriöses Erwachen

Sie hörte ein leises Wimmern und begriff nur langsam, dass sie selbst diese Töne ausstieß. Angst und Entsetzen lähmten sie. Anscheinend war sie noch am Leben. Sie müsste doch tot sein. Sie wagte kaum zu atmen, wartete voller Furcht auf die Schmerzen, die kommen mussten. Erst als sie nach Luft rang und ihren stoßweisen Atem hörte, begriff sie, dass ihr nichts wehtat. Immer noch lag sie bewegungslos, doch sie spürte nun etwas unter ihren Händen, unter ihrem Körper.

Sie schien auf dem Bauch zu liegen. Ganz langsam begann sie zu tasten und bemerkte Pflanzen, vielleicht Gräser und Erde. Eine neue Empfindung kam hinzu: Es war kühl – und feucht. Eine Weile lag sie nur da, spürte wie sich das rasende Pochen ihres Herzens beruhigte und nahm die kleinen Geräusche wahr, die sie hörte. Rascheln, eine Art Prasseln – Wasser?

Sie wunderte sich – sie hatte immer noch keine Schmerzen. Wie konnte das sein? Die Felskante war senkrecht und entsetzlich tief gewesen. Sie konnte diesen Sturz nicht überlebt haben – und schon gar nicht unverletzt.

Erst jetzt bemerkte sie, dass die Dunkelheit, die sie umgab, daher kam, weil sie die Augen geschlossen hatte. Langsam hob sie die Lider, es wurde kaum heller. Irgendetwas war unangenehm. Kam jetzt der Schmerz? Sie wartete voller Angst. Nein, aber irgendetwas berührte sie, immer wieder. Dann begriff sie endlich. Es regnete – und zwar recht heftig.

Sie schüttelte den Kopf – es tat nicht weh. Sie hob die Hand – auch nichts. Langsam wälzte sie sich auf den Rücken – kein Schmerz. Aber nun trommelte der Regen ihr voll ins Gesicht. Sie drehte sich wieder auf den Bauch und stemmte sich hoch – und begriff schlagartig, dass sie nackt war. Sie erstarrte, dann tastete sie sich langsam ab. Nackt, nass, aber unverletzt.

Sie sah sich um. Es goss in Strömen und es war Nacht. Sie konnte nur undeutliche Schemen erkennen. Aber eines war sicher – hier gab es keine senkrechte Felswand, keine tiefe Schlucht, deren Boden sie kaum hatte erkennen können.

Stattdessen stand sie an dem Hang eines sanft ansteigenden Hügels. Unter ihren Füßen waren Gräser, in der Nähe schienen Büsche zu wachsen. Ein greller Lichtschein und fast sofortiger lauter, grollender Donner ließ sie zusammenzucken. Es blitzte, sie stand mitten in einem Gewitter.

Immer mehr Fragen tauchten in ihrem Kopf auf. Wo war sie? Was war geschehen? Und wieso hatte sie nichts an? Sie müsste tot sein. Sie hatte noch nie an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Und wenn dies hier so etwas sein sollte, dann war es äußerst seltsam. Sie musste grinsen, als sie sich vorstellte, wie die verschiedenen Religionen auf eine derartige Schilderung des Todes bzw. des Lebens nach dem Tod reagieren würden. Das Paradies war dies hier nicht, und die Hölle konnte es auch nicht sein.

Da sie keine ihrer Fragen beantworten konnte, versuchte sie, diese erst einmal zu ignorieren und an das Nächstliegende und Praktische zu denken: Sie stand nackt und pitschnass mitten in einem Gewitter. Vielleicht sollte sie erst einmal Schutz vor dem Regen suchen. Und dann brauchte sie Kleidung. Was die Frage aufwarf, wie sie ihren Zustand anderen Leuten erklären sollte. Sie seufzte, es wäre um einiges leichter, wenn sie wirklich tot wäre.

Langsam und vorsichtig tastete sie sich vorwärts, unendlich froh darüber, dass ihre Füße nicht sonderlich empfindlich waren. Der Boden war uneben und das Gras hart. Doch nachdem sie sich mehrmals empfindlich an unsichtbaren, scharfkantigen Steinen gestoßen hatte, gab sie auf und kauerte sich einfach unter einem dichten Busch nieder. Ihr schien nichts anderes übrig zu bleiben, als abzuwarten bis das Gewitter vorbei war, oder zumindest die Nacht vorüberging. Hoffentlich war es nicht erst Abend, dann müsste sie viele Stunden warten. Langsam wurde ihr empfindlich kalt.

Im Schein der Blitze konnte sie Büsche, Bäume und offenes Land erkennen. Hügel, aber keine Berge. Sie war im Gebirge gewesen, als sie ihre Entscheidung traf – vor dem Sturz. Doch wo war sie jetzt? Und vor allem: Wie war sie hierhergekommen?

Sie konnte nicht sagen, wie lange sie gewartet und gefroren hatte, als der Regen nachzulassen begann. Gleichzeitig schien es unmerklich heller zu werden. Und als aus dem Gewitterguss ein feines Tröpfeln geworden war, färbte sich endlich der Horizont rosa.

Sie atmete auf. Die Dunkelheit hatte die vielen Fragen noch drängender und die Angst noch größer werden lassen. Jetzt, in der zunehmenden Helligkeit, schienen die Furcht und das Entsetzen nachzulassen. Wieder sah sie sich um und beschloss, auf den Hügel zu steigen. Von dort konnte sie – hoffentlich – eine Siedlung oder zumindest ein Gehöft, eine Straße oder sonst etwas erkennen, das ihr weiterhelfen würde.

Vorsichtig umging sie eine große Fläche niedrigen, dornigen Gestrüpps und beglückwünschte sich, dass sie in der Nacht nicht in das widerliche Zeug hineingelaufen war. Ein lautes Brüllen ließ sie erstarren. Erschrocken wandte sie sich um. Wieder ertönte ein tiefes, dumpfes Brüllen. Ganz langsam schlich sie in die Richtung und erkannte, dass sie nicht am Fuß des Hügels war, wie sie angenommen hatte. Der Abhang setzte sich fort und keine hundert Meter entfernt lagen große, dunkle Körper auf der Erde.

Sharons Augen wurden immer größer, als die Tiere sich erhoben. Sie ähnelten Rindern, waren aber wesentlich zottiger, und ihre Hörner sahen gefährlich aus. Einige Sekunden lang starrten sich die nackte Frau und die kleine Herde gegenseitig an. Dann brüllte das Leittier auf und setzte sich in Bewegung – auf sie zu. Gelähmt vor Angst war sie unfähig, sich zu bewegen. Dicht vor ihr blieb das Leittier stehen. Sie rang nach Luft, sinnlose Worte kamen über ihre Lippen: „Ich tu dir nichts, braves Vieh. Geh einfach zurück, ja? Geh einfach zurück.“

Seine Augen schlossen sich kurz, dann senkte das Tier den großen Kopf, wandte sich seitwärts und führte die kleine Herde an der Frau vorbei. Diese schüttelte sich vor Erleichterung und fragte sich, wer nun mehr Angst gehabt hatte? Gleich darauf schrie sie entsetzt auf.

Zwei Körper tauchten urplötzlich aus dem hohen Gras auf. Zwei Gesichter starrten sie an. Zwei Münder öffneten sich und ein Schwall Worte ergoss sich über sie. Erschrocken blickte sie auf die Männer, erinnerte sich daran, dass sie nackt war und wich zurück.

„Bleibt, wo ihr seid.“                                               

Die Männer blieben stehen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Würden diese Männer ihre Lage ausnutzen oder ihr helfen?

„Bitte, ich weiß nicht wo ich bin. Nicht einmal, was geschehen ist. Können Sie mir helfen?“

Mit den Händen versuchte sie, sich zu bedecken. Einer der Männer antwortete ihr, doch sie verstand kein Wort. Nun fiel ihr auf, dass deren Kleidung seltsam aussah. Sie bestand ausschließlich aus Leder. Nicht nur die Hosen, auch die Hemden waren eindeutig echtes Leder – und es sah fremdartig aus.

Und warum trugen die Männer Stangen in den Händen? Sie erbleichte, als sie erkannte, dass es in Wirklichkeit Speere oder Lanzen waren. Einer der beiden trat langsam vor. Rasch wich sie voller Furcht zurück. Seine Augen zogen sich zusammen, dann schien er zu begreifen, dass sie Angst vor ihm hatte. Er lächelte, langsam legte er die dicke Holzlanze auf den Boden und richtete sich ebenso langsam wieder auf.

Vorsichtig lächelte sie zurück und wunderte sich. Ihre Nacktheit schien ihn nicht zu stören. Er wirkte weder verlegen noch verwundert. Und glücklicherweise auch nicht lüstern. Wieder sprach er, und sie versuchte, die Sprache zu erkennen, ergebnislos. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit irgendeiner ihr bekannten Sprache.

„Können Sie mich verstehen? Bitte nicken Sie, wenn Sie mich verstehen.“

Keine Reaktion. Er verstand sie also ebenso wenig wie sie ihn. Wo um alles in Welt war sie? Sie war ratlos, aber auf keinen Fall würde sie nackt mit ihnen gehen. Langsam machte sie eine Bewegung, als ob sie etwas um sich legte. Der Mann schien zu überlegen, dann nickte er endlich. Er wandte sich seinem Begleiter zu und sprach auf ihn ein.

Der andere warf ihr einen seltsamen Blick zu und lief dann fort. Der Sprecher lächelte sie wieder an und setzte sich dann langsam auf den Boden. Seine Handbewegung schien sie aufzufordern, dasselbe zu machen. Sie blickte erst misstrauisch nach unten. Der Boden war nass, aber das war sie auch. Also hockte sie sich hin, sicherheitshalber immer noch einige Schritte entfernt.

Der Mann sprach sie an, stellte ihr offensichtlich Fragen, doch sie konnte seine Gesten nicht deuten und zuckte mit den Schultern. Wieder fragte er, deutete zum Himmel und auf die Erde. Sie begriff nicht und zeigte es ihm. Schließlich gab er auf, und sie warteten.

Sie musterte ihn. Er war schlank, und dass er groß war, hatte sie vorher schon bemerkt. Sein Gesicht war leicht gebräunt, er schien viel im Freien zu sein. Die blaugrauen Augen blickten offen in die ihren. Am meisten wunderte sie sich über seine Haare. Sie waren von einem unauffälligen Braun, fielen fast bis auf die Schultern und waren ziemlich ungepflegt.

Sharn begann die Einzelheiten der Kleidung zu betrachten und schluckte plötzlich. Jetzt wusste sie, warum sie der Anblick mit Unbehagen erfüllt hatte. Sowohl Hemd wie Hose waren mit Tierfellen und Haaren verziert. Vielmehr Stücken aus Tierfellen – Pfoten, Ohren und Schwänze. Auch Krallen und Zähne waren angenäht oder auf Schnüren gezogen und als Ketten umgehängt. Und er war – barfuß!

Sie runzelte die Stirn und überlegte weiter. Gehörte er irgendeiner obskuren Natursekte an? In Amerika gab es ja schließlich die verrücktesten Leute. Auch in Montana hatte sie schon von Gruppen gelesen, die nach irgendwelchen absonderlichen Regeln zu leben versuchten. Aber wieso verstand der Mann sie nicht? Sie hatte schließlich Englisch gesprochen.

Dieser hatte die Musterung schweigend über sich ergehen lassen, sie allerdings ebenso genau betrachtet. Es war ihr peinlich und langsam kroch wieder die Angst in ihr hoch. Musste er sie so anstarren, obwohl sie nackt war?

Er begann wieder zu sprechen, sagte jedoch nur ein einziges Wort. Glücklicherweise klang es nicht bedrohlich. Sie sah ihn fragend an. Er wiederholte das Wort und zeigte auf seine Brust. Sie begriff und nickte. Beim dritten Mal versuchte sie, die Silben nachzusprechen. Es klang mehr als seltsam, doch sein Name schien „Falomar“ zu sein. Er nickte begeistert, als sie das Wort nachsprach. Einen Moment überlegte sie, ob sie ihren Namen nennen sollte. Doch warum eigentlich nicht?

„Sharon“ sagte sie deutlich.

„Schä-ronn“ wiederholte der Mann. Nun ja, vermutlich war ihre Aussprache seines Namens auch nicht besser gewesen.

Sein Begleiter tauchte wieder auf, er trug etwas in seinen Händen. Sie konnte ihre Angst kaum verbergen, als er näher kam. Falomar bemerkte es, hob die Hand und sagte etwas. Der Mann blieb stehen. Dann kam er ganz langsam näher und setzte sich behutsam neben seinen Gefährten. Er streckte die Hände aus und legte das Bündel vor Sharon auf den Boden.

Falomar nickte ihr auffordernd zu. Sharon zog es zu sich, es schien eine Art Decke zu sein. Ebenfalls aus Leder, aber erstaunlich weich. Dankbar wickelte sie sich darin ein und lächelte den beiden zu. Sie fühlte sich gleich um einiges besser und seltsamerweise auch sicherer, obwohl das unsinnig war.

Falomar zeigte auf seinen Begleiter: „Tenizin“.

„Tenizin“, wiederholte sie und wurde mit einem strahlenden Lächeln der beiden belohnt.

Falomar zeigte in eine Richtung, dann auf sie und blickte sie fragend an. Sharon nickte. Wenn die beiden sie überwältigen wollten, hätten sie dies schon lange tun können. Außerdem brauchte sie dringend Hilfe. Vielleicht konnten die Männer sie irgendwohin bringen, wo man Englisch sprach.

Sie gingen Stunden. Sharon staunte, wie rasch die Männer über den unebenen Boden liefen. Und sie hatte sich eingebildet, gut barfuß laufen zu können. Doch die beiden erkannten schnell, dass sie kaum mithalten konnte und passten sich ihrem Tempo an.

Offenes Grasland mit unzähligen – ziemlich kalten – Bächen wechselte mit kleinen Baumgruppen. Immer wieder blickte sie sich verwirrt um. Wo war das Gebirge geblieben? Sie war tief in die Glacier-Berge hineingefahren und hatte sich eine der schroffsten, steilsten Gegenden ausgesucht. Doch hier waren nur Hügel, kleinere und größere.

Obwohl es keinen erkennbaren Weg gab, schienen die Männer genau zu wissen, in welche Richtung sie einschlagen mussten. So weit Sharon sehen konnte, gab es nicht die geringsten Anzeichen auf Straßen, geschweige denn Ortschaften. Endlich wandte sich Falomar um, lächelte und deutete nach vorne. Sharon suchte, doch sie sah kein Haus oder irgendein sonstiges Gebäude. Vor ihr ragte ein Berg auf, vielleicht auch nur ein größerer Hügel. Jedenfalls war er steiler und höher als die bisherigen. Auf halber Höhe schien sich etwas zu bewegen.

Jetzt konnte sie auch eine Art Weg erkennen, der hinauf führte. Dort war ein großes Felsenband zu erkennen, das wie eine tiefe Terrasse im Berg aussah. Langsam folgte sie ihren Führern und beobachtete die Menschen, die dort oben waren und nun auf sie aufmerksam wurden. Unwillkürlich zog sie die Decke enger um sich. Tenizin lief voraus und schien ihre Ankunft anzukündigen.

Sharon blieb stehen, als eine Frau auf sie zukam. Auch sie trug Lederkleidung. Ihre Haare wirkten ungepflegt und sie war ebenfalls barfuß. Falomar sprach rasch auf sie ein. Die Frau lächelte, nickte und winkte. Skeptisch betrachtete Sharon die Menschenmenge. Sie zuckte zurück, als einer der Fremden nach ihr griff. Falomar stieß einige Worte aus, und der Mann riss erschrocken die Augen auf und trat zurück.

Sharon schluckte, was ging hier vor sich? Langsam und verängstigt folgte sie der Frau. Die Felsen bildeten hier einen riesigen Überhang, der die ‚Terrasse‘ überdachte. Wie eine riesige Höhle, die jedoch nach vorne offen war. Sharon riss ungläubig und staunend die Augen auf, als sie die seltsamen Bauten sah, die hier errichtet waren. Mit aufgeschichteten Steinen oder Holzstangen, zwischen denen große Lederdecken gespannt waren, hatte man hier Kammern errichtet.

„Au!“ Sie rieb sich den Fuß. Die Steinchen, die hier herumlagen, waren unangenehm scharf. Die fremde Frau sah sie fragend an. Sharon schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. Doch als die Frau sie in eine der Kammern winkte, zögerte Sharon. Langsam drehte sie sich um sich selbst und versuchte zu begreifen, was sie sah.

Ein Großteil der Felsenterrasse war in diese Kammern aufgeteilt worden. Auf dem freien Platz dazwischen waren mehrere offene Feuerstellen. Diese Leute konnten nur einer Sekte angehören. Anscheinend versuchten sie, wie in der Steinzeit zu leben. Wie konsequent waren sie wohl? Sharon seufzte, hoffentlich konnte sie bald Kontakt mit zivilisierten Gegenden bzw. Leuten aufnehmen. Sie hielt nicht viel von solchen Sekten.

Schließlich folgte sie der Frau in die Kammer. Sie war nicht besonders groß. Im vorderen Bereich gab es die offene Feuerstelle, daneben einige Steine, die wohl Sitzgelegenheiten darstellen sollten. Ansonsten konnte Sharon nur mehrere der großen Lederdecken erkennen, die wieder an Stangen befestigt waren.

Die Frau schlug eine der Decken zurück. Sharon erkannte, dass auf diese Art ein Schlaflager abgetrennt worden war. Die Frau griff in eine Art Korb und hielt ihr ein Bündel entgegen. Fragend sah Sharon sie an, die Frau drückte ihr das Bündel in die Hand und zeigte auf das Lager. Dann setzte sie sich auf einen der großen Steine und nannte ihren Namen: „Lefimor“.

Sharon setzte sich auf die Felldecke, nickte der Frau lächelnd zu und sagte ihren eigenen Namen. Langsam strich sie dabei mit der Hand über das Lager – und schluckte wieder. Das schien ein echtes Fell zu sein. Sie schüttelte das Bündel aus und erkannte eine Art Kleid. Nun ja, Sackkleid wäre die passendere Bezeichnung. Und natürlich aus Leder. Sie öffnete den Mund – und schloss ihn wieder. Nach Unterwäsche zu fragen, schien sinnlos zu sein. Ebenso konnte sie sich die Frage nach Schuhen wohl ersparen. Niemand hier trug Schuhe.

Sie schlüpfte in das Kleid. Das Rockteil ging ihr etwa bis zu den Knien, das Oberteil war weit, konnte aber mit Schnüren zusammengebunden werden. Sharon musste kichern, als sie an sich herabsah. Es sah unmöglich aus. Und war erstaunlich schwer. Aber es war Kleidung, und so sah sie die Frau dankbar lächelnd an.

Danach versuchte sie den Leuten klarzumachen, dass sie eine Siedlung suchte. Doch obwohl die Frau und die beiden Männer, die sie gefunden hatten, sich redliche Mühe gaben, konnte Sharon sich nicht verständlich machen. Die Leute schienen nicht zu verstehen, was sie meinte. Frustriert gab sie nach einer Weile auf.

Stattdessen sah Sharon sich aufmerksam um. Immer wieder kamen einige Menschen in die Nähe der Kammer und versuchten, einen Blick auf sie zu erhaschen. Doch zu ihrer Erleichterung kam niemand herein. So konnte sie diese seltsamen Leute in Ruhe beobachten.

Die meisten waren mit verschiedenen Arbeiten beschäftigt, die Sharon nur aus Fernsehsendungen kannte. Sie bearbeiteten Leder und Holz, einige Frauen schienen Gräser zu flechten. Sharon staunte, wie schnell ihre Hände arbeiteten. Sie seufzte, eindeutig eine dieser verrückten Sekten. Aber anscheinend harmlos. Vielleicht war ihre Philosophie ähnlich der der Amish, dann würde ihr mit Sicherheit nichts geschehen. Aber wieso verstanden sie kein Englisch?

Zwei Kinder rannten auf sie zu, blieben jedoch ruckartig vor der Kammer stehen und sahen sie mit großen Augen an. Unwillkürlich lächelte Sharon. Beide hatten lange, hellbraune Haare, die ihnen strähnig auf die Schultern fielen. Der Junge mochte vielleicht zehn Jahre zählen, das Mädchen schätzte Sharon auf zwölf. Die beiden lächelten zurück.

„Hallo“, sagte Sharon versuchsweise.

Der Junge schien mutiger zu sein, er schluckte kurz, dann sprudelte er einen Schwall Worte heraus. Er wirkte jedoch enttäuscht, als Sharon nur langsam und bedauernd mit den Schultern zuckte. Das Mädchen runzelte die Stirn und überlegte. Dann stupste sie den Jungen an und bedeutete ihm, still zu sein. Sie wandte sich wieder an Sharon. Langsam sagte sie ein Wort, zeigte auf sich und wartete. Sharon lächelte.

„Menora“, wiederholte sie.

Das Mädchen lächelte strahlend. Sharon zeigte auf den Jungen.

„Towiron“.

Sie wiederholte auch dieses Wort, dann seufzte sie.  Sie kannte Namen aus vielen Sprachen, aber derartige Namen hatte sie noch nie gehört. Was war das bloß für eine seltsame Sekte? Langsam hatte Sharon den Verdacht, dass diese Leute sich eine eigene Sprache geschaffen hatten. Aber irgendjemand musste doch Englisch sprechen können. Auf irgendeine Weise mussten sie doch Kontakt mit der normalen Welt aufnehmen können.

Lefimor kehrte zurück und sprach rasch auf die Kinder ein. Sharon vermutete, dass sie schimpfte. Das Mädchen schien sich zu verteidigen, zeigte auf Sharon und lächelte. Sie lächelte zurück, um die Frau zu beschwichtigen. Lefimor schien zu zögern, dann nickte sie. Die Kinder hüpften fröhlich in die Kammer und setzten sich auf den Boden. Die Frau setzte sich ebenfalls und legte etwas auf einen der großen Steine.

Sharon sah ein flaches Brett, fast weiß, auf dem sich mehrere große Stücke Fleisch befanden. Daneben lagen flache, braungelbe, runde Fladen – war das Brot? Die Frau nickte ihr auffordernd zu, und zögernd griff Sharon nach einem dieser Fladen. Vorsichtig biss sie ab. Es schmeckte seltsam. Irgendetwas aus Teig war es wohl, aber anscheinend waren auch Früchte darin. Der leicht süßliche, fruchtige Geschmack zusammen mit dem entfernt brotähnlichen Teig war gar nicht so übel. Sharon kaute, schluckte und biss rasch noch einmal zu. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig sie war.

Das Fleisch jedoch war im ersten Moment ein Schock. Völlig ungesalzen und anscheinend auch ohne jedes andere Gewürz. Vorsichtig und langsam kaute Sharon den Bissen durch. Ganz ohne Geschmack war der Brocken jedoch nicht. Eigentlich schmeckte es nicht einmal schlecht. Sie begriff, dass sie zum ersten Mal den eigentlichen Geschmack von Fleisch wahrnahm.

Sharon runzelte die Stirn. Sie wusste, warum Fleisch nur gewürzt schmeckte –  die übliche Massentierhaltung verdarb jeden Eigengeschmack. Dieses Fleisch stammte eindeutig von einem Tier, das noch natürlich gelebt hatte. Gab es Gebiete, in denen man noch legal jagen durfte, um eine ganze Gruppe von Menschen zu ernähren? Aber vielleicht hielten die Leute hier Tiere auf natürliche Weise, ohne künstliches Zusatzfutter.

Sharon nahm sich noch ein Stück Fleisch und auch von dem brotähnlichen Fladen. Lefimor lächelte, sie freute sich anscheinend über ihren Appetit. Doch Sharon vermisste noch etwas und versuchte ihr klarzumachen, dass sie Durst hatte. Die Frau begriff schnell. Sie wandte sich an die Kinder, die beide aufsprangen und wegliefen. Lefimor holte von einem Regal einen Holzbecher und stellte ihn vor Sharon. Kurze Zeit später waren auch die Kinder wieder da, sie schleppten eine Art Sack oder Beutel mit sich, aus dem sie Wasser in den Becher schütteten. Sharon dankte ihnen und trank durstig. Limonade oder Säfte würde sie hier wohl nicht bekommen, überlegte sie amüsiert.

Als das Brett leer gegessen war, sah Sharon es sich genauer an. Die Maserung war seltsam. Sie strich vorsichtig über die glatte Fläche, ihre Augen weiteten sich. Das war kein Holz. Sharon schluckte, nahm das ‚Brett‘ hoch und untersuchte es. Das war ein Knochen, ein flacher, fast weiß gescheuerter Knochen. Sie schauderte. Sie wusste, dass Steinzeitkulturen Knochen als Werkzeug benutzt und auch Gerätschaften für den täglichen Gebrauch daraus hergestellt hatten. Es war jedoch etwas anderes, darüber zu lesen, als so etwas in den Händen zu halten. Diese Sekte war offensichtlich sehr konsequent.

Nachdenklich beäugte Sharon den Wasserbeutel und strich mit dem Finger darüber. Sie konnte nicht ausmachen, woraus er hergestellt war, aber sie befürchtete, dass sie es auch gar nicht so genau wissen wollte.

Das seltsame Dorf

Den Rest des Tages beobachtete Sharon diese seltsamen Menschen. Dankbar bemerkte sie, dass die beiden Kinder bereitwillig mit ihr kamen, wenn sie durch das Lager ging. Erst nach einer Weile begriff sie, dass die Kinder sie ganz bewusst begleiteten. Die Leute hatten verstanden, dass sie sich fürchtete. Die Kinder halfen ihr, diese Furcht zu überwinden. Sharon hätte nicht einmal sagen können, weshalb ihr diese Menschen so unheimlich waren. Sie waren freundlich und hilfsbereit, doch sie verhielten sich eigenartig.

Insgesamt zählte sie achtundzwanzig Menschen, vom Kleinkind bis zum Greis. Jede Familie schien eine der Kammern zu bewohnen. Dann gab es noch mehrere große Feuerstellen, die gemeinschaftlich genutzt wurden. Etwas abseits lagen Bereiche, die für bestimmte Arbeiten vorgesehen waren. Das meiste konnte Sharon zuordnen, sie hatte sich schon immer für alte Kulturen interessiert.

Ganz am Ende der Felsenterrasse, sie ragte hier schon weit aus dem überdachten, höhlenartigen Teil heraus, war ein Arbeitsbereich, der Sharon faszinierte. Hier wurden Feuersteine bearbeitet. Eine Weile setzte sie sich dazu und sah staunend, wie aus kopfgroßen Steinen schmale, feine Klingen gefertigt wurden. Einer der Männer hob die Hand, in der ein faustgroßer Stein lag. Sie sah ihn erschrocken an, was wollte er von ihr? Die Kinder sprachen kurz mit ihm, dann lächelte der Mann entschuldigend. Sharon atmete auf, einen Moment hatte sie geglaubt, er wolle sie angreifen.

Der Mann nahm einen Holzschlegel und hieb damit mehrmals kurz und kräftig auf den Stein. Bei jedem Schlag sprangen fast völlig gleichförmige Splitter ab. Sharon vergaß vor lauter Verblüffung ihr Misstrauen. Die Frau neben ihm lachte, als sie Sharons Gesicht sah und schob ihr mit einem ermunternden Blick eines der Schlagwerkzeuge zu. Neugierig griff sie zu – und ließ es entsetzt sofort wieder fallen. Das war ja ein Knochen! Anscheinend ein Beinknochen, jedenfalls war er länglich und endete in einem runden Gelenk. Menora kicherte, doch Sharon weigerte sich beharrlich, das unheimliche Werkzeug noch einmal anzufassen.

Gegen Abend war Sharon fasziniert und frustriert zugleich. Diese Menschen besaßen ausschließlich Dinge, die aus der Natur stammten, und sie kamen damit wunderbar aus. Es gab eigentlich alles. Kleidung, Werkzeug, sogar Spielzeug für die Kinder hatte sie gesehen. Niemand schien Mangel zu leiden. Essen war mehr als genug da. Wann immer sie Hunger verspürt hatte, bot man ihr bereitwillig verschiedene Speisen an. Das Wenigste davon hätte Sharon benennen können, Fleisch war immer dabei gewesen, aber auch verschiedene Pflanzen und Früchte, die sie nicht kannte. Alles hatte seltsam und fremdartig geschmeckt, gewöhnungsbedürftig, aber nicht schlecht.

Allerdings hatte Sharon nichts, aber auch gar nichts Bekanntes erkennen können. Es war, als sei sie in einer anderen Welt. Und niemand verstand sie. Sharon konnte sich zwar einigermaßen mit Gesten und Zeichen verständigen und die Menschen bemühten sich sehr, diese zu verstehen. Aber die Worte waren für sie völlig unverständlich und hatten nicht einmal eine entfernte Ähnlichkeit mit irgendeiner Sprache, die sie kannte.

Sehr gewöhnungsbedürftig war das schwache Licht. Sobald die Sonne unterging, gab es nur noch die Feuerstellen und einige wenige, kleine, teelichtähnliche Lämpchen. Wobei dies nur kleine Steinschälchen waren, in denen irgendetwas brannte. Etwas das ziemlich intensiv roch.

Überhaupt hatte Sharon an diesem Tag mehr Gerüche wahrgenommen als in vielen Wochen vorher. Fleisch und Gemüse, oder was immer die Pflanzen waren, roch nicht mal schlecht. Unangenehmer empfand sie jedoch die oft recht strengen Ausdünstungen des allgegenwärtigen Leders. Und die Menschen selbst hielten offensichtlich nichts von Deodorant. Ihr Körpergeruch war Sharon sehr unangenehm, obwohl die Menschen nicht schmutzig waren.

Wirklich ekelerregend hatte es jedoch nur an einem bestimmten Ort außerhalb des Felsenvorsprungs gerochen. Die Kinder hatten Sharon dorthin geführt, als sie verzweifelt und verlegen versuchte, eine Toilette zu finden. An diesem, glücklicherweise sehr abgelegenen Platz wurde allem Anschein nach jeder Abfall entsorgt. Gleichzeitig war es die allgemeine Toilette. Wobei dieses Wort reiner Hohn war. Verschiedene Vertiefungen in den Felsen wurden für die Notdurft benutzt und dann mit Erde bedeckt.

Und Scham oder ein Gefühl für eine gewisse Intimsphäre schienen die Menschen hier ebenfalls nicht zu kennen, oder zumindest nicht für notwendig zu halten. Männer und Frauen kauerten sich nebeneinander auf den Boden, wenn sie sich erleichterten.

Eine Stelle am Fluss diente zum Waschen und auch hier waren Männer, Frauen und Kinder nicht getrennt. Niemand schien sich an Nacktheit zu stören oder deshalb verlegen zu werden. Im Gegenteil, die Menschen waren überrascht und erstaunt, als sie bemerkten, dass Sharon Hemmungen hatte, sich vor anderen zu waschen und verlegen reagierte, als sie die nackten Menschen sah.

Sharon beobachtete, dass Lefimor mit Falomar sprach und mehrmals auf sie zeigte. Sie versuchte, sich zu überwinden, beeilte sich dennoch sehr und war froh, als sie nach dem kalten Bad wieder das Kleid überstreifen konnte.

Lefimor zeigte ihr schließlich ein Lager in ihrer Kammer, wo sie schlafen konnte. Sharon untersuchte das ‚Bett‘ neugierig. In einem Rahmen aus Holz war knöchelhoch lehmartige Erde und Stroh festgestampft. Dann kamen einige Decken aus Leder, darauf mehrere Felle. Anscheinend sollte sie die Felle auch als Zudecke benutzen. Man lag hart, aber nicht unbequem, wie Sharon feststellte.

Am nächsten Morgen war es schon hell, als Sharon erwachte. Sie streckte sich und stöhnte leise auf. Unbequem war das Bett wohl nicht, aber ihre Knochen protestierten dennoch. Zögernd ging sie zum Waschplatz und hoffte, dass nicht allzu viele Leute dort waren.

Menora und Towiron rannten lachend auf sie zu. Die Kinder nahmen sie bei den Händen und führten sie zum Fluss, aber zu Sharons Erstaunen nicht direkt zum Waschplatz. Sie erklärte ihnen mit Gesten, dass sie sich waschen wollte. Die beiden nickten lachend, zogen sie jedoch weiter. Hinter einer Buschgruppe zeigten die Kinder stolz lächelnd zum Ufer.

Sharon starrte verwundert auf die Holzstangen, zwischen denen mehrere Lederdecken gespannt waren. Langsam trat sie darauf zu, schlug eine der Decken zurück und blieb staunend stehen. Man hatte für sie eine Badeecke gebaut. Hier konnte sie bequem ins Wasser gehen und war vor Blicken geschützt. Verlegen sah sie zurück auf die lachenden Kinder. Menora winkte ihr zu, und die beiden liefen fort.

Dankbar, wenn auch fast etwas beschämt, wusch sich Sharon in dem kalten Wasser. Inzwischen bekam sie große Sehnsucht nach Seife. Wenn sie sich noch mehrmals nur mit Wasser

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Lektorat: Meiner Betaleserin Kathi Bloch ein großes Dankeschön für die Zeit und Mühe
Tag der Veröffentlichung: 23.09.2017
ISBN: 978-3-7438-5987-6

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