Sie hielt den Wagen gleich hinter dem Ortsschild an, auf dem in nüchternen Buchstaben der Name des Städtchens stand: Forks. Begeistert griff sie nach ihrer Kamera und stieg aus. Sie drehte sich um sich selbst, bückte sich manchmal und drückte dabei immer wieder auf den Auslöser. Diese kleine Stadt war ein herrliches Plätzchen. Ein Paradebeispiel, wie sich eine bewohnte Gegend urban präsentierte und sich gleichzeitig auf wunderbare Weise in die riesigen Wälder einfügte. Sarah sah sich mit glänzenden Augen um.
Erst ein wütendes Hupen ließ sie auffahren. Einer der vielen Holztrucks hatte hinter ihrem Wagen bremsen müssen. Das riesige Gefährt war entschieden zu breit, um an ihrem – zugegebenermaßen höchst ungünstig geparkten – Wagen vorbeizukommen. Der Fahrer gestikulierte wild und Sarah winkte ihm begütigend zu und stieg rasch wieder ein.
Im Zuckeltempo fuhr sie durch die Stadt, zum Glück gab es hier genügend Parkbuchten. Immer wieder hielt sie an und verewigte die Häuser und Geschäfte mit ihrer Kamera. Und immer die Berge im Hintergrund. Vor der High School parkte sie länger. Der Parkplatz – jetzt voller Autos, die meist schon ein gestandenes Alter aufwiesen – ging nahtlos in einen der vielen Ausläufer der Wälder über. Ein faszinierendes Motiv.
Sarah Donnin strahlte über das ganze Gesicht. Ihre dunkelblonden Haare – praktisch kurz geschnitten – umrahmten das fast runde Gesicht, das dadurch noch sehr kindlich wirkte; obwohl sie seit wenigen Wochen dreiundzwanzig Jahre alt war. Lachend griff sie wieder nach der Kamera. Gab es etwas Schöneres, als das geliebte Hobby zum Beruf zu machen? Dankbar dachte sie kurz an ihre Eltern, die sie immer darin unterstützt hatten. Ihnen und der über alles geliebten Grandma hatte sie es zu verdanken, dass sie Fotografin geworden war. Und inzwischen sogar eine sehr erfolgreiche Fotografin.
Rasch stellte sie das hochwertige Gerät ein und fing dann die Stimmung des Endes eines Schultages in vielen Bildern ein. Schülerinnen und Schüler strömten aus der High School und liefen oder schlenderten einzeln und in Gruppen zu ihren Autos oder zum Schulbus. Einige wurden von Eltern oder Bekannten abgeholt. Nur wenige verließen das Gelände zu Fuß.
Erst als ihr Magen vernehmlich knurrte, fiel Sarah ein, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sie betrat den großen Imbiss, der mit grellbunten Buchstaben aus Neonleuchten Kunden anlockte, und setzte sich an einen der kleinen Tische. Sie bestellte einen kleinen Salat und ein Steak. Als die freundliche Kellnerin die Teller brachte, fielen ihr jedoch fast die Augen aus dem Kopf. Das Steak war riesig, das würde sie nie schaffen. Die junge Frau lachte, als sie Sarahs Gesichtsausdruck sah: „Wenn Sie möchten, packe ich Ihnen einen Teil ein.“
„Das wäre sehr nett. Wo kann man hier gut und einigermaßen günstig wohnen? Ich suche ein Appartement, kein Motel. Können Sie mir da vielleicht einen Tipp geben?“
Nach dem Essen fuhr sie zu der von der Kellnerin angegeben Adresse. Das Appartement war ideal für ihre Belange. Zwei Schlafzimmer, davon würde sie eines zu ihrem Fotolabor und Büro machen. Sarah Donnin mietete es für drei Wochen. Länger wollte sie nicht hierbleiben. Die Zeit müsste genügen, um genügend Bildmaterial von der großen Halbinsel zu bekommen.
Am nächsten Tag sichtete Sarah ihre Fotos. Nur die besten würde sie verarbeiten. Und alle, auf denen Personen waren, müsste sie zuerst aussortieren. Um diese zu verwenden, brauchte sie die Zustimmung der darauf abgebildeten Leute. Das würde ein Riesenaufwand werden, aber daran war sie gewöhnt.
Peinlich genau studierte sie die einzelnen Bilder, ob und wie sie diese verwenden könnte. Dann stutzte sie. Sie griff nach dem gerade abgelegten Foto und sah noch einmal genau darauf. Das konnte doch nicht möglich sein! Sarah sprang auf und rannte ins Schlafzimmer. Hier standen auf dem Tisch neben dem Bett die Bilder von ihren Liebsten. Eltern, die beiden jüngeren Geschwister – Bruder und Schwester – und natürlich ihre Grandma. Und daneben das Jugendfoto von ihr, zusammen mit ihrem Bruder, der so früh gestorben war: Emmett.
Sie sah auf das Bild und stellte dann das Foto, das sie vor der Schule gemacht hatte, daneben. Unglaublich! Der junge Mann dort sah Emmett derart verblüffend ähnlich, sie könnten Zwillingsbrüder sein. Sarah setzte sich aufs Bett und starrte minutenlang auf die beiden Bilder. Konnte es sein? Konnte ihre Grandma Recht haben?
Sarah war mit den Geschichten über Emmett aufgewachsen. Immer wieder hatte die alte Frau von ihrem Bruder erzählt, den sie nie vergessen hatte. Und nie hatte sie die Hoffnung aufgegeben, dass er doch überlebt haben könnte.
Emmett war ein begeisterter Bergsteiger, Wanderer und Jäger gewesen. Damals, vor vielen Jahren, war er – wie so oft – tagelang in den Appalachen unterwegs gewesen. Er hatte versprochen, sich jeden dritten Tag von einer der Rangerstationen per Funk zu melden. Als die Meldung ausgeblieben war, hatten seine Eltern die Ranger alarmiert. Eine Suchaktion war gestartet worden. Nach zwei Tagen hatte man sein Zelt gefunden. Zwei Meilen entfernt hatten die Ranger dann die Überreste eines Bären gefunden.
Doch von Emmett selbst war keine Spur mehr gefunden worden. Nur Blut hatte man gefunden und die Ranger waren sich sicher gewesen, dass es nicht nur das Blut des Bären war. Doch was wirklich geschehen war, hatten sie nicht mehr herausfinden können. Sie hatten angenommen, dass Emmett von dem Bären schwer verwundet worden und dann vielleicht in den reißenden Fluss gestürzt war. Sein Leichnam war nicht gefunden worden, doch er war für tot erklärt worden.
Luisa, seine fünf Jahre jüngere Schwester, verwand seinen Tod nie. Sie hatte eine geheime Hoffnung, die sie allerdings niemandem erzählte. Erst ihre Enkelin Sarah, mit der sie innig verbunden war, erfuhr davon: Luisa war überzeugt davon, dass es auf der Welt nicht nur Menschen, sondern auch andere intelligente Geschöpfe gab – Vampire! Sie erzählte Sarah von unzähligen Begebenheiten, die nie aufgeklärt worden waren. Nach Luisas Meinung waren dies Beweise von der Existenz der Vampire. Sie war sicher, dass Vampire ihren Bruder gefunden hatten – vielleicht hatten sie ihn mit sich genommen.
Sarah war ein fantasiebegabtes Mädchen. Obwohl sie skeptisch war, wies sie die Behauptung ihrer Grandma nicht einfach von sich. Sie fand nur, dass diese Wesen Emmett dann wohl eher getötet hätten. Doch Luisa schüttelte nur den Kopf: „Wenn sie das getan hätten, wäre er gefunden worden. Vampire verstecken ihre Opfer nicht. Sie lassen sie liegen“.
Und jetzt starrte Sarah auf das Bild, das einen jungen Mann zeigte, der genauso aussah wie Emmett. Es gab nur einen großen Unterschied. Der Bruder ihrer Grandma war braungebrannt gewesen. Der Junge auf ihrem Foto war käsebleich. Sie vergrößerte das Bild, um mehr zu erkennen. Emmett hatte tiefblaue Augen gehabt, ein dunkles, strahlendes Blau, wie Grandma immer wieder berichtete.
Der junge Mann vor der Schule hatte dagegen eine seltsame Augenfarbe, ein sehr dunkles Gold, dunkler noch als Bernstein. Dennoch war die Ähnlichkeit verblüffend.
Sarah parkte am nächsten Tag vor der Schule, die Sache hatte ihr keine Ruhe gelassen. Sie wollte den Jungen beobachten, der Emmett so ähnlich sah. Vielleicht konnte sie in Erfahrung bringen, wer er war. Aufmerksam sah sie die vielen jungen Leute an, die aus der Schule strömten.
Da! Er kam mit einigen anderen zusammen auf den Parkplatz. Sarah staunte. Sechs junge Leute – drei Männer, drei Mädchen – und alle waren äußerst hellhäutig. Nein, regelrecht blass.
Sarah stieg langsam aus ihrem Wagen. Sie würde ihn einfach auf das Foto ansprechen und fragen, ob sie es beruflich verwenden durfte. Das war völlig unverfänglich. Innerlich fragte sie sich, ob sie begann verrückt zu werden. Selbst wenn es tatsächlich Vampire geben sollte – würden die zur Schule gehen? Das war so daneben, das konnte nicht sein. Die Ähnlichkeit des Jungen musste eine andere Erklärung haben.
Zwei in der Gruppe trennten sich von den anderen. Ein Junge und ein Mädchen, doch nach wenigen Schritten blieb der Junge plötzlich stehen. Er starrte Sarah an. Dann nahm er die Hand des Mädchens und zog sie mit sich zurück, zu den anderen. Sarah sah, wie er hastig auf den Jungen einsprach, der wie Emmett aussah.
Dann wandte sich die ganze Gruppe um und lief rasch auf zwei Wagen zu, die sich deutlich von den anderen hier unterschieden. Sie waren nicht nur größer, sondern auch wesentlich neuer und mit Sicherheit auch teurer. Die sechs jungen Leute stiegen ein und fuhren davon, noch ehe Sarah auch nur in ihre Nähe kommen konnte.
Die junge Fotografin blinzelte überrascht hinter den beiden Wagen her. Was war das? Das sah aus, als wenn sie vor ihr weggelaufen wären. Doch sie konnten doch gar nicht wissen, was sie von ihnen wollte? Nachdenklich ging sie weiter zur Schule. Im Sekretariat zeigte sie einige der Fotos und erklärte ihr Anliegen: „Ich möchte über Forks und die umliegende Gegend ein Fotobuch erstellen. Ich brauche jedoch von allen Personen, die auf den Bildern sind, deren Zustimmung. Könnten Sie mir dabei helfen? Ich benötige die Adressen oder zumindest die Namen, um sie zu fragen.“
Die Sekretärin blickte sie erstaunt an. „Nun ja, wir dürfen die Namen unserer Schüler natürlich nicht einfach angeben. Aber wenn Sie vielleicht in zwei oder drei Tagen noch einmal herkommen würden. Dann gebe ich in der Zwischenzeit bekannt, weshalb Sie hier sind. Dann können Sie sicher mit den Schülern selbst sprechen.“
Sarah war nicht ganz zufrieden. Sie hätte gerne herausgefunden, wer der seltsame Junge war. Doch vielleicht ergab sich auch so eine Gelegenheit, ungestört mit ihm zu reden.
Um sich abzulenken, beschloss sie, noch ein wenig die Umgebung des Ortes abzufahren und nach weiteren Motiven zu suchen. Sie fuhr einige Meilen in die Wälder hinaus. Am Ufer des Calawah River fand sie unzählige Stellen, die sie mit ihrer Kamera verewigte. Zwei Stunden lange wanderte sie durch den Wald, ehe sie unvermittelt auf eine große Lichtung heraustrat.
Vor ihr standen sechs Personen – die Gruppe auf dem Schulparkplatz. Sie hatten sich gerade noch leise und hastig unterhalten.
„Sie kommt hierher. Verschwinden wir.“
„Nein, wir müssen ohnehin mit ihr reden. Sie ahnt, was wir sind. Und außerdem kennt sie dich – woher auch immer.“
„Sie wird in Panik geraten.“
„Sie hat schon an der Schule versucht, mit uns zu reden.“
„Na schön, wenn sie anfängt zu schreien, ist das deine Schuld.“
Sarah stockte das Blut in den Adern. Jetzt hoffte sie plötzlich, dass ihre Grandma sich geirrt hatte. Denn wenn es wahr war – stand sie gerade Vampiren gegenüber! Und sie waren mitten in der Wildnis, meilenweit von jeder menschlichen Behausung entfernt. Wenn auch nur ein Teil von den Geschichten über Vampire stimmte, dann könnte dies ihr Tod sein. Niemand würde sie jemals finden.
Der Junge mit dem bronzenen Haarschopf sprach sie an: „Mein Name ist Edward. Sie haben von uns nichts zu befürchten. Wir möchten nur gerne wissen, was Sie von uns wollen.“
Sarah holte tief Luft und sah auf den jungen Mann mit den wilden, schwarzen Locken. „Du – Entschuldigung – Sie sehen jemandem sehr ähnlich.“
„Wem denn?“
„Emmett McCarthy. Dem Bruder meiner Grandma!“
Der blonde Junge, der Dritte von ihnen, lachte leise auf. Doch Sarah fand, dass dieses Lachen nicht ganz echt wirkte.
„Dann müsste er doch um einiges älter sein, finden Sie nicht?“
Sarah sah alle sechs genau an – jetzt oder nie. „Nicht, wenn die Vermutung meiner Grandma stimmt.“
Edward wandte die Augen nicht von ihr ab, sprach aber zu den anderen: „Sie weiß es.“
„McCarthy“, der schwarzgelockte murmelte den Namen. „Wer ist Ihre Grandma?“
Doch Sarah hatte das Versteckspiel satt. „Sag du es mir – Emmett.“
„Mut hat sie ja.“
Sarah sah den Sprecher nicht einmal an. Sie starrte immer noch auf Emmett. Dann flüsterte sie: „Du bist es. Du bist Emmett.“
Sie lief plötzlich auf ihn zu, umarmte ihn fest und presste ihren Kopf an seine Brust. „Du lebst, Himmel, Gran wird überglücklich sein. Du lebst.“
Emmet blickte entsetzt auf die Frau. Edward murmelte hastig: „Halt die Luft an.“
Ebenso plötzlich wie sie ihn umarmt hatte, ließ Sarah ihn wieder los. Doch sie trat nur ein Schritt zurück, dann trommelten ihre Fäuste wütend auf seinen Brustkorb. „Warum hast du ihr nie ein Lebenszeichen gegeben? Warum hast du dich niemals gemeldet? Sie hat dich immer geliebt. Sie hat die Hoffnung nie aufgegeben? Warum?“
Emmet hatte die Hände gehoben, um die Frau wegzuschieben, es dann aber nicht gewagt, sie auch nur anzufassen. Was, wenn er ihr dabei wehtat?
Rosalie und Alice sahen sich fassungslos an. Bella lächelte. Edward schüttelte den Kopf und Jasper begann lautlos zu lachen. Es sah aber auch zu herrlich aus, wie sein Bruder sich von einem schwachen Menschlein verprügeln ließ. Auch wenn er die Fausthiebe mit Sicherheit überhaupt nicht spürte.
Ganz vorsichtig hob Emmett zum zweiten Mal die Hände und legte sie langsam auf Sarahs Schultern.
„Bitte, du wirst dir wehtun.“
Sarah senkte die Fäuste, kurz stand sie still an ihn gelehnt. Dann trat sie zurück und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Sie rieb sich die Hände, dann legte sie diese noch einmal auf seine Brust. Kurz drückte sie zu. Ihr Stirnrunzeln verstärkte sich.
„Du bist hart wie eine Mauer. Ist das normal bei Vampiren? Und außerdem bist du eiskalt“, beschwerte sie sich.
„Tut mir leid“, mehr brachte Emmett nicht heraus.
Seine Brüder begannen schon wieder zu kichern. Sein Gesicht war aber auch zum Totlachen. Einen derart verlegenen, fast hilflosen Emmet bekamen sie nicht oft zu sehen.
„Warum hast du es ihr nie gesagt?“ Ganz leise fragte Sarah wieder.
Emmett zuckte die Schultern. Doch ehe er etwas sagen konnte, unterbrach Edward sie: „Warte, das ist kompliziert. Wärst du bereit, mit uns zu kommen? Zu uns nach Hause? Ich verspreche dir, dass dir nichts geschehen wird. Wir möchten nur mit dir reden. Wir alle.“
Sarah sah von einem zum anderen. „Sicher komme ich mit. Aber was heißt ihr alle? Seid ihr denn noch mehr?“ Sie hatte nur einen kurzen Moment gezögert.
„Ja, unsere Eltern. Sie würden dich sicher auch gerne kennenlernen.“
„Vampire haben Eltern?“
„Nicht wirklich. Zum einen gelten wir hier bei den Menschen als ihre Kinder. Aber wir sehen in ihnen auch so etwas wie unsere Eltern. Ja, noch etwas –“, Edward lächelte. „Wie heißt du eigentlich?“
Sarah stutzte, dann lachte sie auf. „Oh, stimmt ja, ich glaube, ich habe mich noch nicht mal vorgestellt. Ich bin Sarah. Sarah Donnin.“
Sie sah in die Runde. „Du heißt Edward, hast du gesagt. Und Emmet ist klar. Und ihr?“
Edward stellte sie vor.
Sarah nickte. Dann blickte sie auf den Wald. „Tja, das wird ein weiter Fußmarsch. Ich glaube, ich bin mehrere Stunden gelaufen. Mein Wagen steht irgendwo in dieser Richtung. Seid ihr auch zu Fuß hier?“
Die fünf Vampire lachten und nickten. „Aber keine Sorge, wenn du einverstanden bist, werden wir sehr rasch bei deinem Wagen sein.“
„Wir können dich tragen. So geht es schneller. Bella kann dir bestätigen, dass es ungefährlich ist.“
Das Mädchen mit den langen, dunklen Haaren lachte auf. „Du vergisst, wie ich das erste Mal reagiert habe.“ Sie blickte Sarah an. „Ich hatte solche Angst, dass er vor einen Baum rennt, dass mir ganz schlecht wurde. Aber Edward hat natürlich Recht. Sie rennen irrsinnig schnell.“
„Ich glaube, jetzt verstehe ich nicht ganz.“
Edward riss plötzlich die Augen auf, und Alice begann zu kichern.
„Du glaubst, auch Bella …? Nein, Bella ist ein Mensch, wie du.“
„Oh. Tschuldigung.“
Bella lachte: „Kein Problem.“
„Äh, und wie geht das mit dem Tragen?“
„Huckepack.“
Sarah begann zu grinsen. Sie drehte sich wieder zu Emmett um. „Du trägst mich? Na, das passt doch. Schließlich spielen Großonkel mit ihren Großnichten doch bestimmt oft Reiterlein.“
Über sein Gesicht lachend sprang sie zu ihm und drückte ihm rechts und links ein Küsschen auf die Wange.
„Emmett!“
Der Schrei gellte über die Lichtung, gleichzeitig sprang Edward vorwärts und riss das Mädchen von seinem Bruder weg. Der Schwung ließ ihn mit ihr über die Wiese rollen, wobei er versuchte, sie mit seinen Armen zu schützen. Sarah hatte einen erschrockenen Schrei von sich gegeben. Benommen blickte sie nun vom Boden aus um sich. Noch immer lagen Edwards Arme um sie.
„Keine Angst, hab keine Angst, ich tu dir nichts.“
Verblüfft sah sie erst ihn an, dann wanderte ihr Blick über die anderen. Jasper und Rosalie waren bei Emmett. Jasper hielt ihn an den Armen fest, Rosalie stand mit leicht ausgebreiteten Armen vor ihm. Alice hingegen hatte sich vor Bella gestellt und hielt sie hinter ihrem Rücken fest – als wolle sie sie vor irgendeiner Gefahr schützen.
„Bist du verletzt? Sarah, ist alles in Ordnung mit dir?“ Edward blickte von ihr zu seinem Bruder. „Emmett, hast du …?“
Der schüttelte hastig den Kopf. „Nein, nein. Ich … verdammt … Danke, Edward.“
Sarah hatte sich inzwischen aufgesetzt und rieb sich den Knöchel. Edward zuckte zusammen.
„Sarah, was ist los? Blutest du?“
Die Geschwister sahen sich entsetzt an. Edward sog vorsichtig die Luft ein. Nein, es roch nicht nach Blut. Beruhigend wandte er sich den anderen zu und wehrte ab. „Ich rieche nichts.“
Immer noch blickte Sarah stumm von einem zum anderen. Ganz langsam begriff sie, ihre Augen wurden groß.
„Wolltest du …?“ Sie griff sich an den Hals, als sie Emmet ansah. Der senkte schuldbewusst den Blick.
„Ihr könnt mich loslassen, ich habe mich wieder im Griff.“ Er sprach nur leise. Rosalie strich ihm über die Arme, ehe sie zurücktrat. Jasper klopfte ihm auf die Schulter, dann suchte er Edwards Blick. Er würde am ehesten merken, ob Emmett tatsächlich wieder in Ordnung war. Edward nickte ihm zu. Erst dann war Jasper wirklich beruhigt.
Langsam – sehr langsam – bewegte Edward seine Hand in Sarahs Richtung. Würde sie schreien, wenn er versuchte, ihr aufzuhelfen?
„Ich wollte dir nichts tun. Bitte, glaub mir.“
„Das habe ich inzwischen auch begriffen.“ Ohne zu zögern, griff sie nach seiner Hand und ließ sich hochziehen.
Sie wandte sich Emmett zu: „Was sollte das? Wieso wolltest du“, wieder griff sie sich an den Hals, „mich beißen? Oder was immer du vorhattest.“
Wieder sprach Edward: „Er wollte es nicht, jedenfalls nicht wirklich. Das ist kompliziert. Wir …“.
Bella unterbrach ihn. Sie hatte Alice beiseitegeschoben und war zu Sarah getreten. „Vielleicht kann ich das besser erklären.“ Sie sah Edward liebevoll an. Sie wusste, wie schwer es ihm fiel, zuzugeben, wie sehr sie auf den Geruch eines Menschen reagierten.
„Vampire riechen viel mehr als wir. Und leider sind sie auch sehr anfällig gegen Menschengeruch. Wenn Menschen in ihrer Nähe sind, löst das ihren Durst aus. Im Allgemeinen können sie sich sehr gut beherrschen, aber du warst wohl zu nahe. Oder vor allem auch zu überraschend. Emmett konnte sich darauf nicht vorbereiten. Bitte, sei ihm nicht böse, er konnte nichts dafür.“
„Aber“, Sarah sah sie verblüfft an, „ich habe ihn doch vorhin schon umarmt.“
„Er hat rechtzeitig die Luft angehalten, um dich nicht zu riechen. Edward musste das anfangs auch immer machen.“
„Ach du meine Güte. Sieht aus, als sollte ich einen Schnellkurs in Vampireigenarten machen.“
Sarah blickte mit leicht zusammengekniffenen Augen zu Emmett. Der schluckte. Ob sie jetzt Angst vor ihm hatte? Er begann zu begreifen, wie sich Edward bei Bella gefühlt haben musste.
„Wie hast du das gemeint, mit dem Luft anhalten, Bella? Jeder muss doch atmen.“
„Vampire nicht. Sie mögen es nicht besonders, weil sie dann nichts mehr riechen können. Aber sie brauchen keine Luft wie wir.“
„Irre.“ Sarah sah wieder zu Emmett. „Dann halt die Luft an.“
Er starrte sie an.
„Na los doch“, befahl sie und trat auf ihn zu.
Emmett wich zurück.
„Wirst du wohl stehenbleiben?“ Sarah stand nun vor ihm. „Mund zu“, kommandierte sie.
Emmett presste die Lippen aufeinander. Sarah sah es grinsend und drückte ihm zwei hallende Schmatzer auf die Wangen.
Die Geschwister sahen fassungslos zu.
„Na, geht doch.“ Sarah lachte ihn an und ging dann einige Schritte zurück. „Besser mit dieser Entfernung?“
Emmett nickte, er brachte keinen Ton hervor. Er versuchte es noch einmal und krächzte: „Du, du hast keine Angst vor mir?“
Sarah schluckte die flapsige Antwort, die ihr in den Sinn kam, hinunter. Nein, Emmet hatte eine ernsthafte Antwort verdient. Freundlich, fast liebevoll sah sie ihn an. „Ich mag dich, Emmett. Wir kennen uns nicht, aber du bist dennoch kein Fremder für mich. Gran hat immer wieder von dir erzählt. Ich glaube, ich kenne dein ganzes Leben.“ Sie verbesserte sich lächelnd. „Nun, dein Leben bis 1935 jedenfalls. Nein, ich habe keine Angst vor dir. Zumindest keine richtige Angst. Auch wenn ich wohl ein wenig vorsichtiger sein sollte. Bis ich gelernt habe, auf was ich achten muss.“
Sie wurde wieder ernst. „Ich will nicht lügen. Natürlich jagt einem alleine das Wort Vampir einen gruseligen Schauer über den Rücken. Aber“, sie zuckte mit den Schultern, „du wirkst nicht gruselig. Ihr alle wirkt nicht so. Es ist eher so, dass ich wohl nicht vergessen darf, dass du kein normaler, gewöhnlicher Mensch bist, sondern ein Vampir. Ich werde es lernen.“
Edward schüttelte fassungslos den Kopf. „Und ich dachte immer, Bella sei einzigartig. Ich habe nie verstanden, weshalb sie keine Angst vor mir hat.“
Bella blickte lächelnd von ihm zu Sarah. „Du verstehst es, nicht wahr? Sie sind wundervoll. Und Edward ist der beste, freundlichste und wunderbarste Mensch, den es gibt.“
Sarah grinste, ein verlegener Edward sah hinreißend aus.
„Tja“, überlegte sie, „wie soll das mit dem Tragen dann funktionieren? Wenn wir euch nicht so nah kommen können.“
„Ich bin inzwischen daran gewöhnt und habe mich ziemlich gut im Griff. Bella weiß, dass ich sie niemals in Gefahr bringen würde.“
Diese trat hinter Edward, der leicht in die Knie ging. Mit Schwung hob er sie auf seinen Rücken. Bella klemmte die Füße in seine Seiten.
„Aha.“ Sarah besah sich das Bild und grinste. „Vampir als Lastesel, hm. In den Horrorfilmen kam das nie vor. Allerdings stimmt ja wohl so einiges nicht, sonst wärt ihr schon Asche. Es ist schließlich heller Tag.“
Emmet lachte und Alice tänzelte zu ihr. „Es ist besser, wenn Rosalie oder ich dich tragen.“
Sarah sah zu Jasper, der vorsichtshalber sofort einen Schritt zurückwich.
„Ich hab ja nichts dagegen. Es ist nur seltsam, sich von einem Mädchen tragen zu lassen. Bin ich denn nicht zu schwer?“
Die beiden Mädchen lachten. „Nein, überhaupt nicht.“
Alice trat auf sie zu.
„Das schaffst du doch nie. Du bist kleiner und viel zierlicher als ich.“
Rosalie trat plötzlich vor. „Wenn du magst, trage ich dich. Keine Sorge, du bist nicht zu schwer und ich werde vorsichtig sein.“
Sie ignorierte das Erstaunen ihrer Geschwister. Nur Edward lächelte kurz. Wenn es um Emmett ging, würde Rosalie viel tun, was sie sonst vehement ablehnen würde.
Sarah riss erst die Augen auf und kniff sie dann rasch wieder fast zu. Die Bäume rasten derart schnell an ihr vorbei, dass sie sie nur verschwommen erkennen konnte. Wie schnell rannte Rosalie? Es dauerte nur wenige Minuten, dann waren sie an ihrem Auto angekommen. Rosalie ließ sie von ihrem Rücken herunterrutschen. Aufatmend sah Sarah sich um.
„Woher wusstet ihr überhaupt, wo ich geparkt habe?“
„Wir sind einfach deinem Geruch gefolgt.“
„Geruch.“ Sarah schüttelte den Kopf, es war wohl besser, nicht zu viel zu fragen. Das musste sie erst mal verdauen.
„Alice und Bella können mit dir fahren, wenn du nichts dagegen hast. Alice kann dir den Weg zu uns zeigen.“ Edward sah sie fragend an.
Sarah nickte. „Und ihr rennt? Ich vermute mal, dass ihr sogar noch eher da seid, wie ich. Ihr seid tatsächlich unheimlich schnell.“
Sarah parkte den Wagen dicht vor dem Haus und stieg aus. Bewundernd sah sie sich um. „Wow. Ihr wohnt fantastisch. Das Haus ist eine Wucht.“
Emmet lachte. „Esme wird sich freuen, das zu hören. Sie ist eine begeisterte Innen- und Außenarchitektin. Unsere Mutter, wenn du so willst“, fügte er hinzu.
„Ich werde sie mal vorbereiten.“ Edward lief die Stufen hinauf und ins Haus hinein. Die anderen warteten, bis Sarah sich von dem Anblick losreißen konnte.
Sie betrat das Haus und sah sich wieder staunend um. Nein, für einen Horrorfilm war dies garantiert die falsche Kulisse. Ein großer Wohnraum öffnete sich vom Eingangsbereich aus. Alles war gemütlich und gleichzeitig stilvoll eingerichtet. Edward erwartete sie zusammen mit einem weiteren Paar. Sarah musterte sie. Beide waren wie erwartet äußerst blass. Und obwohl sie sehr jung aussahen – eigentlich nicht älter die anderen – wirkten sie älter. Sie konnte nicht sagen, weshalb.
Die Frau lächelte sie an. Edward stellte sie vor: „Dies ist Esme und hier ist Carlisle – unser Anführer und in gewisser Weise unser Vater.“
Der Mann lächelte sie an und trat langsam vor. Sarah blickte ihn an, ohne zu Zögern ergriff sie seine Hand. „Ich bin Sarah Donnin, Sir.“
„Carlisle, bitte. Edward sagte schon, dass du eine Verwandte von Emmett bist.“
Nun wagte sich auch Esme heran, die Frau schien sich tatsächlich nicht vor ihnen zu fürchten. „Ich bin Esme. Herzlich willkommen bei uns.“
Sarah lachte sie an. „Du hast eine Menge Kinder bekommen, scheint mir. Ich kann nur hoffen, dass sie nicht alle so frech sind wie Emmett – zumindest hat mir das Gran erzählt.“
Das Gelächter der Geschwister hallte im Raum wider.
„Ich liebe sie alle.“
Sarah blickte sie an, plötzlich musste sie blinzeln, ihr stiegen doch tatsächlich die Tränen in die Augen. „Ihr habt Emmett nicht nur gerettet, ihr habt ihm eine Familie gegeben.“ Sie konnte nicht weitersprechen und schluckte krampfhaft. Sie würde hier doch nicht etwa in Tränen ausbrechen. Esme schloss sie in die Arme und Sarah lehnte sich willig an sie und genoss den Trost und die Wärme, die die Frau ausstrahlte. Auch wenn ihr Körper genauso eisig war, wie Emmetts.
Als sie sich wieder von ihr löste, sah sie Rosalie neben Emmett stehen. Sie sah ihn auf eine so eindeutige Weise an – Sarah konnte nicht anders, als zu lächeln. „Du bist nicht seine Schwester. Ihr seid zusammen. Ihr seid ein Paar.“
Emmett nickte. „Rosalie ist mein Engel.“
„Oh“, seufzte Sarah auf. Sie schloss Rosalie fest in die Arme. „Fàilte ar teaghlach a tha thu”
Emmett riss die Augen auf, während Rosalie sie fragend ansah. Sarah sah ihn strahlend an: „Willst du es erklären?“
Emmett schluckte. Carlisle griff ein: „Sarah, das ist jetzt wahrscheinlich erschreckend für dich. Aber – wir haben nicht viele Erinnerungen an unser menschliches Leben. Sie verschwinden nicht, aber sie sind nur noch verschwommen vorhanden.“
„Was?“ Sarah sah zu Emmett, der sie unglücklich ansah. „Ich weiß, dass ich das kenne, aber ich bin mir nicht mehr sicher, was es bedeutet.“
Sie holte Luft – okay – dann musste sie diese Erinnerung neu beleben.
„Halt die Luft an.“ Sie ließ ihm kaum Zeit dafür, umarmte ihn und wiederholte den Satz. Dann wandte sie sich an Rosalie: „Unsere Vorfahren stammen aus Schottland. Es ist Tradition in unserer Familie neue Familienmitglieder auf diese Weise bei uns aufzunehmen. Es heißt ‚Willkommen in unserer Familie‘.“
„Du hasst mich nicht dafür? Sarah, ich habe Emmett in dieses Leben gezwungen. Ich habe ihn damals gefunden und zu Carlisle gebracht, damit er ihn für mich verwandelt.“
„Du warst das? Rosalie, warum soll ich dich dafür hassen? Ich danke dir. Ich habe die Berichte der Ranger gelesen, Grandma hat alles von damals aufbewahrt. Der Bär muss Emmett entsetzlich zugerichtet haben. Er wäre tot ohne dich. Du hast ihn gerettet. Du hast ihm ein neues Leben geschenkt.“
„Was Rosalie wirklich meint, ist“, Carlisle war erstaunt. Diese Frau reagierte seltsam. Konnte sie wirklich so selbstverständlich hinnehmen, dass Emmett kein Mensch mehr war? „dass sie ihm keine Wahl gelassen hatte. Vielleicht hätte er den Tod diesem Nicht-Leben vorgezogen. Wir sind keine Menschen, wir sind – Monster.“
Sarah schnaubte. „Als nächstes wirst du mir sagen, dass ihr Geschöpfe der Hölle seid oder so, ja? Geschaffen vom Teufel aus den Tiefen der Verdammnis. Das ist doch völliger Unsinn.“
„Wir ernähren uns von Blut.“
„Ach nee“, wandte sich Sarah wieder Emmett zu. „Dann stimmt ja wenigstens etwas von den Geschichten. Ach, Emmett. Und ich esse Blutwurst und halbrohes Steak.“
„Aber nicht von Menschen.“
Sarah seufzte. „Sieht so aus, als müssten wir mal eine Grundsatzdebatte führen.“ Sie sah sich um. „Darf ich mich setzen?“
Esme sprang vor. „Entschuldige bitte. Natürlich. Komm, dort drüben ist es sicher bequemer für dich.“ Sie führte Sarah zu einem großen Sofa. Diese sah von einem zum anderen. „Ihr glaubt tatsächlich, ihr wärt – ich weiß nicht – Verdammte oder so was?“
„Wir töten Menschen. Wir trinken ihr Blut.“
Sarah nickte. „Was ziemlich eklig ist – also für Menschen. Für euch vermutlich nicht.“ Sie seufzte. „Natürlich werdet ihr gefürchtet – auch wenn kein normaler Mensch an Vampire glaubt. Aber das ist doch völlig natürlich. Jede Beute fürchtet sich doch vor dem Jäger. Und Menschen sehen sich nun mal seit langer Zeit schon nicht mehr als Beute an. Im Gegenteil, wir stehen – unserer Meinung nach – an der Spitze der Ernährungsleiter. Wir sind diejenigen, die andere töten, um zu leben. Dadurch wird der Schrecken noch größer, dass wir doch noch Beute sein können.“
Sie schüttelte sich kurz. „Aber ganz ehrlich. Ihr kommt mir nicht wie Jäger vor. Edward ist mit Bella befreundet – einem Menschen. Ihr lebt unter Menschen, geht sogar zur Schule. Das ist nicht besonders erschreckend.“
„Wir versuchen es. Wir wollen keine Monster sein.“ Edward setzte sich ebenfalls, an das andere Ende des Sofas.
„Aber wir sind es dennoch.“ Emmett bleckte die Zähne.
„Sehr erschreckend“, kam es knochentrocken von Sarah. „Soll ich jetzt eine Gänsehaut bekommen, weil du lächelst?“ Sie stutzte. „Mach das nochmal!“
„Was?“
„Deine Zähne. Zeig sie mir nochmal.“
Sarah stand auf und trat dicht vor ihn hin. Emmett zog die Lippen hoch, ratlos was sie damit bezweckte.
„Das darf ja wohl nicht wahr sein“, stöhnte die junge Frau. „Ihr habt nicht mal spitze Zähne? Wieso nicht? In allen Filmen und Büchern haben Vampire lange, spitze Eckzähne.“
„Das soll nicht erschreckend genug sein?“ Zum dritten Mal bleckte Emmett die Zähne.
„Nö.“ Sarah drehte sich zu Bella um. „Findest du ihre Zähne gruselig?“
Bella schmunzelte. „So nicht, da gebe ich dir Recht. Noch dazu, wenn Emmet dabei diese Grimassen zieht. Aber ich weiß, wie erschreckend sie sein können.“ Unbewusst rieb sie sich die Narbe an ihrer Hand.
Edward nahm zärtlich ihre Hand in seine und streichelte sie. „Denk nicht mehr daran, Bella.“ Er sah Sarah an, die interessiert auf Bellas Hand schaute. „Sie ist gebissen worden.“
„Oh“, jetzt schauderte Sarah doch zusammen. „Das heißt, wenn Emmett mich heute aus Versehen gebissen hätte, würde ich auch so eine Narbe bekommen?“
Edward schüttelte den Kopf: „Wenn ein Mensch gebissen wird, gibt es nur noch zwei Möglichkeiten. Er stirbt – oder er verwandelt sich in einen von uns. Der Biss überträgt unser Gift in das Blut, damit beginnt die Verwandlung.“
Sarah blieb der Mund offen stehen.
Bella strich über Edwards vor Schmerz verzerrtes Gesicht. „Du hast eine dritte Möglichkeit gefunden.“
Edward nickte mühsam, die Erinnerung war schrecklich. Bella wandte sich an Sarah: „Edward hat das Gift herausgesaugt. Und er hat wieder aufgehört. Und das, obwohl er meinem Blut kaum widerstehen konnte.“
Sarah sah ihn an. „Behaupte nie wieder, dass ihr Monster wärt. Ihr seid es nicht.“
Sie blieb bis in die Nacht hinein. Die Cullens waren fasziniert von ihr. Diese junge Frau schien sie tatsächlich mühelos akzeptieren zu können. Sie lachte und scherzte mit Emmett und Rosalie, diskutierte mit Esme über Teppichmuster und tanzte übermütig mit Alice zu einem Walzer durch den Raum. Es war fast elf Uhr als sie sich verabschiedete, zusammen mit Edward, der Bella nach Hause brachte.
Sarah rannte durch den kleinen Flur in das Wohnzimmer. „Mom, Dad, hallihallo, da bin ich wieder.“ Sie umarmte die Eltern stürmisch. „Wo sind Ben und Mirjam?“
„Mit Freunden unterwegs.“ Ihre Mutter drückte sie an sich. „Was für eine Überraschung. Warum hast du nicht Bescheid gesagt, dass du kommst? Dann wären sie bestimmt hiergeblieben.“
„Ich hatte einfach Sehnsucht nach euch.“ Das stimmte zwar, war aber nicht der Hauptgrund, weshalb sie ungeplant ihre Fototour unterbrochen hatte. Doch den wirklichen Grund durfte sie ihren Eltern nicht verraten.
Emmet hatte zugestimmt, Luisa zu besuchen. Er hatte zwar Bedenken gehabt, wie sie das verkraften würde, schließlich war sie inzwischen vierundachtzig Jahre alt. Und zudem musste Sarah zugeben, dass Luisa seit Jahren herzkrank war. Doch genau dies war der Grund, weshalb es sie so sehr freute, dass Emmett ihre Grandma aufsuchen würde. Luisas Krankheit war so weit fortgeschritten, dass sie nicht mehr lange leben würde. Sarah wollte, dass sie vor ihrem Tod noch ihren Bruder wiedersehen konnte.
Am nächsten Nachmittag ging sie zu ihrer Grandma. Voller Vorfreude betrat sie das gemütliche Wohnzimmer.
„Hallo Gran. Wie geht es dir?“
„Sarah, Liebes. Ja, das ist eine Überraschung. Ich denke, du bist in diesem Nest im Norden?“
„Ich habe eine Überraschung für dich, Gran. Doch vorher muss ich wissen, dass es dir gutgeht. Was macht das Herz?“
„Ach je, so lala. Komm her und setz dich. Und dann erzähle.“
Doch Sarah ging zum Kamin und nahm das Foto dort in die Hand. Dann erst setzte sie sich zu der alten Frau. Zusammen betrachteten sie das Bild, das Luisa als junges Mädchen zeigte – zusammen mit ihrem Bruder Emmett.
Luisa sah sie jetzt gespannt an. „Was hast du mir zu sagen, Sarah?“
„Gran, du darfst dich nicht aufregen. Aber es ist ein Wunder geschehen.“
Sarah konnte nicht weitersprechen, die alte Frau umklammerte ihren Arm. „Emmett? Sarah, hast du Emmett gefunden?“
Sarah nickte. Luisas Augen füllten sich mit Tränen, lautlos rannen sie ihr die faltigen Wangen hinab.
„Er lebt“, flüsterte sie. „Ich wusste es, ich wusste es. Sarah, bitte, sag, geht es ihm gut?“
Die junge Frau lächelte und nickte. „Du hattest mit allem Recht, aber du weißt, dass du niemals darüber sprechen darfst. Dass es sie gibt, darf nicht bekannt werden.“
Luisa nickte weinend. Sarah streichelte ihre nassen Wangen. „Schaffst du es, Gran?“
Die alte Frau schluckte krampfhaft. „Erzähl mir von ihm. Oh, warum lebt er so weit weg. Ich würde ihn so gerne wiedersehen.“
„Er ist hier, Gran.“ Sarah sah sie besorgt an, würde das nicht doch über ihre Kräfte gehen? Doch sie hatte sich geirrt. Luisas Tränen versiegten schlagartig. Sie richtete sich auf und sah ihre Enkelin freudestrahlend an.
„Hier? Sarah, wo ist er?“
Sarah stand auf und ging zur Terrassentür. Sie öffnete sie und flüsterte: „Emmett?“ Ein Schatten löste sich von den Büschen und näherte sich. Aus dem Schatten wurde ein Mann. Luisa stand zitternd auf und blickte gebannt zur Tür.
„Luisa“, Emmett trat rasch auf sie zu.
„Emmett“, Luisa sank auf das Sofa zurück und Emmett kniete sich vor sie hin. „Du lebst.“ Mehr konnte sie nicht denken, mehr war nicht wichtig. „Lieber Gott, ich danke dir, dass du ihn beschützt hast.“
Sarah ging leise aus dem Zimmer. Diese Zeit sollte einzig den beiden Geschwistern gehören. Erst nach über zwei Stunden betrat Emmet die Küche. Wortlos zog er sie vom Stuhl hoch und lehnte seine Stirn an ihre. „Danke, Sarah.“
Zusammen gingen sie hinüber. Luisa umarmte ihre Grandma herzlich.
„Meine Kleine. Ich bin so glücklich.“ Sie wandte sich an Emmett: „Ich möchte nach Forks kommen. Ich möchte deine Rosalie kennenlernen und deine Familie. Sie müssen wunderbare Menschen sein, so wie du von ihnen sprichst.“
Emmett senkte den Kopf. „Luisa, sieh mich doch an. Wir sind keine Menschen mehr.“
„Ach, das ist doch völlig egal“, unwirsch schob die alte Frau den Einwand beiseite. „Sarah, meinst du, du kannst für mich diese Reise organisieren?“
„Das schaffen wir, Gran.“
„Aber bald, Liebes. Ich weiß doch nicht, wie viel Zeit ich noch habe. Das alte, alberne Herz wird nicht mehr allzu lange arbeiten. Ich bin ja bereit, aber jetzt habe ich noch etwas zu tun. Ich muss das noch schaffen.“
Sarah schluckte schnell, es tat immer weh, wenn Gran von ihrem Tod sprach. Auch wenn sie es wusste, es seit Wochen und Monaten gewusst hatte – es tat immer wieder weh. Und sie schwor sich, den Wunsch ihrer Gran zu erfüllen.
Es ging viel einfacher als gedacht. Emmett sprach mit Carlisle und innerhalb von drei Tagen waren Flüge gebucht, die lange Fahrt zum und vom Flughafen organisiert und eine bequeme Unterkunft für Luisa vorhanden. Sarah staunte, doch Emmett lachte nur. „Du kennst Alice und ihr Organisationstalent nicht.“
Sarah stoppte den Wagen und half ihrer Grandma vorsichtig heraus. Dann holte sie den Rollstuhl, da die alte Frau, außer in ihrer Wohnung, kaum noch laufen konnte. Selbst kleinste Unebenheiten ließen sie taumeln. Sie schob Luisa zu den Stufen und bemerkte verblüfft die Rampe daneben.
Emmett stürmte aus dem Haus. „Da seid ihr ja.“ Er umarmte seine Schwester und Sarah. Die zeigte auf die Rampe.
„Die war das letzte Mal noch nicht da.“
„Wie wissen doch, dass Luisa kaum noch läuft.“
„Und da habt ihr mal ganz kurz euer Haus rollstuhlgerecht gemacht.“ Sarah lachte auf.
Luisa sah zu Emmett hoch. „Das hat deine neue Familie einfach so gemacht? Für mich?“
„Sie wissen, wie wichtig es für mich ist, dass du dich hier wohlfühlst, Luisa.“
„Sie müssen dich sehr lieben“, flüsterte die alte Frau ergriffen.
Sarah schob sie die Rampe hinauf und Emmett öffnete die Tür. Alle waren da und sahen gespannt auf die Ankömmlinge. Luisa sah von einem zum anderen. Sie lächelte, oh ja, sie sahen aus wie Menschen und doch sah sie die Unterschiede – wie bei Emmett. Dann blieb ihr Blick an Rosalie hängen.
„Du bist Rosalie, nicht wahr? Du hast meinen Bruder gerettet und bist seine Frau?“
Rosalie nickte. Sie, die immer darauf achtete tough und kühl zu wirken, wusste im Moment nicht, wie sie reagieren sollte. Konnte sie zu ihr hingehen? Würde sie keine Angst bekommen? Gleichzeitig sah sie, was sie nie sein würde – eine alte Frau am Ende ihres Lebens. Es gab in ihrem Leben keine Tränen, und doch spürte sie sie in ihrem Inneren.
Sarah fühlte den Wunsch ihrer Grandma und schob den Stuhl rasch vorwärts. Dann half sie der alten Frau aufzustehen. Luisa stand einen kurzen Moment vor der blonden, scheinbar so jungen Frau. Sie schloss sie fest und innig in ihre kraftlosen Arme.
Rosalie hielt den Atem an und stand stocksteif und still da. Es fühlte sich seltsam an. Dann löste Luisa sich wieder. Doch sie hob die Hände und strich Rosalie weich und leicht über die Wangen. Jasper spannte sich an, doch Rosalie lächelte. Nein, sie hatte nicht das geringste Verlangen danach, das Blut dieser Frau zu trinken.
„Danke, meine Liebe. Danke, dass du Emmett vor dem Tod bewahrt hast.“
„Ich glaube, ich habe ihn vom ersten Augenblick an geliebt.“ Rosalie zögerte etwas, doch sie musste es wissen. „Du bist nicht wütend, dass ich ihn in diese Existenz gezwungen habe?“
Luisa lächelte wissend, oh, Emmett kannte seine Liebste sehr genau. Er hatte ihr gesagt, dass dies ihre größte Angst war – weil sie selbst mit ihrer Existenz haderte.
„Mein liebes Kind. Wie könnte ich deshalb böse sein? Spielt es denn eine Rolle, als was man lebt? Wichtig ist meiner Ansicht nach nur eines: Dass man sich selbst treu bleibt. Dass man so lebt, wie man es vor sich selbst verantworten kann. Ängstigt es mich, dass ihr Blut trinkt? Nein. Wenn ihr Menschen töten würdet, würde ich Mitleid mit allen haben, die eure Opfer werden. Aber ich wäre auch dann nicht wütend. Wie denn auch? Es ist eure Natur. Nur wenn das Töten euch Vergnügen bereitet, wenn ihr eure Opfer quälen würdet. Das wäre verwerflich. Alles andere – ist Schicksal.“
Endlich wandte sie sich den anderen zu: „Entschuldigt, dass ich euch erst jetzt begrüße. Es ist unhöflich. Doch Rosalie war mir im Moment das Wichtigste, da Emmett sie so sehr liebt.“
Carlisle hatte genug gesehen, ohne zu zögern reichte er ihr beide Hände. Diese wunderbare Frau würde nicht davor zurückschrecken. „Sei uns willkommen, Luisa. Ich bin Carlisle. Und ich möchte dir danken – für die Worte, die du für Rosalie hattest gerade eben. Ich habe mir immer wieder Vorwürfe gemacht, dass ich sie verwandelt habe. Vielleicht findet sie jetzt – durch dich – ein wenig Frieden.“
Luisa begrüßte alle mit großer Herzlichkeit. Jasper hörte überhaupt nicht mehr auf zu lächeln. Die liebevollen Gefühle, die diese Frau ausstrahlte, waren aber auch zu ansteckend.
Drei Tage blieben Sarah und Luisa bei den Vampiren. Keiner wunderte sich mehr, dass die beiden Frauen sie so einfach akzeptieren konnten. Nur Jasper sah Sarah am letzten Tag immer wieder besorgt an. Edward nahm ihn beiseite. „Sie macht sich um Luisa Sorgen, nicht wegen uns. Ihre Grandma überanstrengt sich.“
„Sie fliegen heute Nachmittag wieder zurück. Hoffentlich wird Luisa deshalb nicht krank.“
Carlisle trat hinzu. „Es ist nicht zu ändern. Ich habe sie beobachtet und auch mit Sarah gesprochen. Ihr Herz ist verbraucht. Sie wird nicht mehr lange leben. Sie weiß es. Ich denke, sie möchte diese Zeit hier mit Emmett und Rosalie in vollen Zügen genießen. Auch wenn es sie vielleicht einige Tage kosten wird.“
„Vielleicht?“
Carlisle seufzte: „Mit ziemlicher Sicherheit.“
„Hast du es Sarah gesagt?“
„Nein. Sie wäre hin und her gerissen. Sie liebt sie und möchte sie nicht verlieren. Aber sie weiß auch, wie wichtig Luisa diese Zeit hier ist.“
Wenige Tage nach ihrer Rückkehr konnte Luisa das Bett nicht mehr verlassen. Sie wurde von Tag zu Tag schwächer. Ihre Familie war ständig bei ihr. Sarah saß traurig an ihrem Bett. Als Luisa schlief, weinte sie auf. „Es ist meine Schuld. Diese Reise hat sie zu sehr angestrengt.“
Ihr Vater nahm sie in die Arme. „Nein, Sarah. Niemand trägt irgendeine Schuld. Ich weiß nicht, weshalb, aber diese Reise hat Mom glücklich gemacht. In den letzten Tagen war sie so voller Freude.“
Vier Tage später schlief Luisa friedlich ein. Viele Bekannte und Freunde kamen zu ihrem Begräbnis. Sarah wusste jedoch als einzige, das noch andere Trauergäste da waren. Sie würden sich nicht zeigen. Doch Emmett und seine Familie waren ebenfalls gekommen. Sie hielten sich in den Schatten am Rand des Friedhofs, wo sie nicht auffielen. Erst spät am Abend konnte Sarah sich von der Trauerfeier wegstehlen. Emmett nahm das weinende Mädchen vorsichtig in die Arme. „Nicht so traurig sein, Kleines. Sie hat ihren Frieden gefunden.“
Sarah brauchte lange, um über den Tod ihrer Grandma hinwegzukommen. Doch sie fuhr, so oft sie es konnte, nach Forks. Sie wusste, dass es Gran sich so gewünscht hätte. Und sie mochte Emmett sehr und verstand sich auch mit Rosalie und den anderen immer besser. Sie hatte jetzt zwei Familien und sie liebte sie alle – Menschen wie Vampire.
- Ende-
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Tag der Veröffentlichung: 08.12.2016
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