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Neuzeit

„Tschuldigung.“ Lachend drehte sich die junge Frau um, um zu sehen, wen sie da gerade fast umgerannt hatte. Ihr Lachen verblasste, vor ihr stand eine ältere – nun eigentlich schon sehr alte Frau. „Oh, es tut mir leid, wirklich. Habe ich Sie sehr gestoßen?“

„Nein, ich stehe ja noch auf meinen Füßen. – Die Jugend hat es immer eilig, das war schon zu meiner Zeit so. Als ob einem das Leben davonlaufen würde. Gehen Sie ruhig, junge Frau, mir ist nichts passiert“, wurde sie lächelnd beruhigt. Die alte Dame sah freundlich in das junge Gesicht. Mitte zwanzig schätzte sie, und sie hat ein nettes Gesicht. Nicht jeder entschuldigt sich so freundlich und selbstverständlich.

Sheena Kereen lächelte die alte Frau noch einmal an und ging dann – etwas langsamer als bisher – weiter. Jugend, dachte sie belustigt, wenn die Gute wüsste, zu wem sie das gerade gesagt hatte.

Sie war vermutlich der älteste Mensch, den es je gab, weitaus älter als man sich einen Menschen überhaupt vorstellen konnte. Sterblich und doch unsterblich. Sie wusste selbst nicht wie alt sie war, wie viele Leben sie schon gelebt hatte. Oh, sie war menschlich und betrachtete sich als Terranerin. Sie alterte und starb wie alle Menschen – nun ja, fast alle, schließlich gab es auf Terra seit einiger Zeit die geheimnisvollen Unsterblichen um den Administrator Perry Rhodan. Allerdings starb Sheena höchst selten am Alter. Sie zog es vor zu sterben, bevor Krankheiten und andere Wehwehchen lästig wurden.

Denn der Tod war für sie nicht endgültig.

Wenn sie starb, wachte sie irgendwann und irgendwo wieder auf. Meist als junges Mädchen oder junge Frau, nur höchst selten als Kind. Ohne Vergangenheit, aber immer in Situationen, in denen sie diese fehlende Vergangenheit irgendwie erklären konnte.

Sie hatte schon an fast allen Orten dieser Welt gelebt. In allen Völkern und Reichen. Sie kannte unzählige Sprachen, Sitten und Volksbräuche. Manche ihrer Leben hatte sie geliebt, viele gehasst. Leid hatte es überall gegeben. Doch immer auch Freude.

Vor vier Jahren war sie wieder erwacht – irgendwo auf Terra, in dieser neuen Zeit, über die sie noch immer staunte. Zum ersten Mal lebte sie einer Zeit, über die sie absolut nichts wusste. Die rasante Entwicklung in das intergalaktische Zeitalter – was für eine hochtrabende Bezeichnung, dachte sie amüsiert – hatte sie überrascht und bewundernd zur Kenntnis genommen.

In dem Zeitraum, in dem sie „tot“ gewesen war – also der Zeitspanne, die zwischen ihrem letzten Tod und dem Erwachen vergangen war – hatte sich so vieles getan, so vieles geändert. Und vor allem – dieses Mal war es eine Entwicklung, von der sie nichts wusste und nichts wissen konnte. Sie hatte endlich ihre eigene Zukunft erreicht, die Zeit ihres eigenen – ursprünglichen – Lebens hatte sie hinter sich. Und sie war in dieser Zeit „tot“ gewesen.

Erinnerungen wollten in ihr aufbrechen – Erinnerungen an eine Zeit, an ein Leben, das unendlich lange her war. Und an ihren Tod – den ersten, den sie selbst verursacht hatte, und der dann doch keiner war. Denn sie war wieder erwacht, doch in einer Zeit, die sie als Steinzeit der Menschen erkennen musste. Es hatte lange gedauert, bis sie sich in dieser fremden Umwelt zurechtfand und noch länger, bis sie die Tatsache akzeptieren konnte, plötzlich in einer Zeit zu leben, die mehrere Zehntausende Jahre in der Vergangenheit lag. Eine Erklärung dafür hatte sie nie gefunden.

Irgendwann hatte sie sich damit abgefunden, dass sie anscheinend nicht wirklich sterben konnte. Seitdem lebte sie ihre vielen und seltsamen Leben. Sie lernte, sich anzupassen und die Gegebenheiten zu akzeptieren. Aber sie dachte nicht gerne darüber nach, deshalb schob sie ihre Erinnerungen auch jetzt rasch wieder beiseite.

Ihre Gedanken wandten sich eilig ihrem jetzigen Leben zu: Angeblich war sie die einzige Überlebende eines entsetzlichen Brandes, das Feuer hatte alle Beweise oder vielmehr Nichtbeweise ihrer Existenz vernichtet. Sie besaß keine Vergangenheit und auch keine Erinnerung. Nur ihren Vornamen hatte sie genannt: Sheena. Den suchte sie sich, wenn irgend möglich immer selbst aus. Alles andere hatte sie den Behörden überlassen.

Totale Amnesie nach einem furchtbaren Unglück. Die Ärzte und Behörden waren äußerst hilfsbereit gewesen. Schon wenige Wochen später hatte sie eine ID-Karte und alle notwendigen Angaben, um ein neues Leben zu beginnen.

Und seit fast drei Jahren lebte sie nun hier in Irland, genauer in Cork. Es gefiel ihr. Sie lachte leise. Was hatte die Frau gesagt? Als ob einem das Leben davonlaufen würde. Nein, ihr bestimmt nicht! Sie kicherte noch, als sie den riesigen Wohnturm erreichte, in dem sie ein gemütliches Appartement hatte.

Im siebenundzwanzigsten Stockwerk angekommen öffnete sie mit ihrer ID-Karte die Wohnungstür und ließ ihre große Reisetasche auf einen der bequemen Sessel fallen. Dann streckte sie sich auf der gut zwei Meter langen und knallroten Sitzgarnitur aus.

Sheena liebte kräftige Farben, ihre Wohnung sah dementsprechend aus. Evin, ihre Nachbarin und Freundin sagte immer wieder, man bräuchte eine Schutzbrille bevor man hier hereinkommen könne. Die vielen verschiedenen Farben würden einen sonst erschlagen. Sheena fühlte sich wohl dabei.

Wände und Boden waren weiß, das einzige Weiße, das es in ihrer Wohnung gab. Alles andere war in den verschiedensten Farben gehalten, die sich jedoch wunderbar ergänzten. Ihr Appartement wirkte lebhaft, aber dennoch gemütlich.

Sheena griff hinter sich und holte aus einem kleinen Fach eine Flasche Weißwein und ein Glas. Auspacken würde sie später, jetzt hatte sie absolut keine Lust dazu. Fast vier Monate war sie fort gewesen. Auf der kleinen wissenschaftlichen Station im Asteroidengürtel hatte sie weitaus weniger Platz für sich selbst gehabt. Sie genoss es, wieder alleine zu sein.

Obwohl sie die Zeit dort draußen nicht missen wollte. Es war hochinteressant gewesen. Ihre Firma beschäftigte sich unter anderem mit der Erforschung der geologischen Zusammensetzung des Sonnensystems. Und sie hatte ohne zu überlegen zugegriffen, als sie die Gelegenheit bekam, auf einer der wissenschaftlichen Stationen, die überall im Sonnensystem verteilt waren, arbeiten zu können. Geologie liebte sie und ihre Kenntnisse, die sie in ihren vielen Leben gesammelt hatte, waren ungemein wertvoll – obwohl sie niemals sagen konnte, woher sie diese Kenntnisse hatte.

Seufzend streckte sie sich aus und trank genussvoll den ersten Schluck während sie den Nachrichtenkanal des terrestrischen Fernsehens einschaltete. In der Station waren ihr die Geschehnisse auf Terra so fern erschienen, dass sie sich nie die Mühe gemacht hatte, sich über das Tagesgeschehen zu informieren. Doch jetzt kam die Wissbegierde zurück, und außerdem würde Evin sie für noch exzentrischer halten also ohnehin schon, wenn sie zugeben musste, dass sie keine Ahnung hatte, was in den letzten Monaten geschehen war.

Drei Minuten später fiel ihr fast das Glas aus der Hand. Das konnte doch nicht wahr sein. Aufmerksam lauschte sie den Worten des Sprechers, sah die Bilder und ihre Augen wurden immer größer. Mit fliegenden Fingern holte sie sich weitere Informationen aus dem allgemein zugänglichen Informationsnetz Terras.

Tatsächlich! Es gab keinen Zweifel. Er war es!

Atlan! Der ewige Wanderer durch die Zeit! Als Gefangener in Terrania City!

Das war blanker Hohn.

Wieder verlangte sie nach genaueren Informationen, doch es gab nur recht wenige Einzelheiten über die genauen Umstände seiner Gefangennahme. Offensichtlich war der Arkonide unerkannt – natürlich, was sonst – in einen Stützpunkt in der Hauptstadt von Terra eingedrungen. Nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung war er dann auf einem Stützpunktplaneten vom Administrator persönlich gefangengenommen worden.

Von Perry Rhodan? Und was zum Teufel hieß ‚gewaltsame Auseinandersetzung’? Mit welchem Recht konnten terranische Sicherheitskräfte diesen Mann überhaupt gefangen setzen?

Sheena stutzte in diesem Moment. Wenn Atlan nichts über sich gesagt hatte, konnten diese Menschen ja gar nicht wissen, wer und vor allem, was er war. Für jeden anderen Menschen außer ihr selbst war er ein Arkonide und nur das. Und Arkon durfte auf keinen Fall erfahren, dass es den Planeten Terra noch gab.

Dieses aufmüpfige Terra, das so plötzlich auf der intergalaktischen Bühne erschienen war und nicht nur die Springer herausgefordert hatte – die das Handelsmonopol im arkonidischen Großreich für sich beanspruchten –, sondern sogar Arkon selbst. Und Arkon beherrschte ein Sternenreich von riesigen Ausmaßen – und wurde inzwischen von einer Maschine regiert, da die Arkoniden nicht mehr dazu in der Lage waren.

So stark Terra in den letzten Jahrzehnten auch geworden war, gegen ein massives Aufgebot arkonidischer Robotschiffe konnten sie noch längst nicht bestehen. Und der Robotregent auf Arkon war unerbittlich!

Bedeutete das, dass Atlan über sich geschwiegen hatte? Dass er den Menschen nicht gesagt hatte, wer er wirklich war und seit wann er auf dieser Welt lebte? Obwohl, so abwegig war der Gedanke nicht. Atlans Geschichte war so ungewöhnlich, dass die meisten Menschen ziemliche Probleme damit hätten, ihm zu glauben. Andererseits, die Männer und Frauen in Perry Rhodans Umgebung waren selbst ungewöhnlich genug. Sie würden ihm bestimmt glauben.

Und was sollte diese Bemerkung denn bedeuten: Der Arkonide hatte versucht ein intergalaktisches Schiff zu stehlen, um damit nach Arkon zu fliegen. Das war vollkommener Blödsinn! Niemals würde dieser Mann Terra an Arkon verraten. Und wenn er zehnmal Arkonide war. Nie! Dazu war er einfach nicht fähig.

Ganz abgesehen davon, dass er das schon vor langer Zeit hätte tun können! Und davor ... Er hatte immer nur versucht, den Menschen zu helfen, nie hatte er ihnen Schaden zugefügt – er war ein Schutzengel der Menschen. Sheena grinste, vermutlich wäre er entsetzt über diesen Begriff. Sie wusste, dass er sich eher als Wächter ansah – oder angesehen hatte. Denn es war sehr lange her, dass sie sich begegnet waren.

Sheenas Gedanken schweiften zurück: In die Zeit und an den Ort, zu dem einen ihrer vielen verschiedenen Leben, in dem sie zum ersten Mal dem ewigen Wanderer begegnet war.

Altes Ägypten

Dieses Leben hatte recht dramatisch begonnen. Als sie wach wurde, lag sie zusammengekauert unter einem stinkenden Fell. Sie lauschte, ein gleichmäßiges Rauschen war zu hören, ziemlich laut. Das Fell um sie herum bewegte sich auch. Sie bewegte sich etwas und legte sich rasch wieder mit dem ganzen Gewicht auf die Fellenden. Fast wäre es von ihr heruntergerissen worden. Da draußen musste ein ziemlicher Sturm wüten.

Vorsichtig lugte sie durch einen Spalt nach draußen. Es war hell, aber sie konnte dennoch nichts erkennen. Nur, dass alles da draußen gelb war. Es war warm und stickig. Langsam griff sie mit einer Hand hinaus. Aua! Irritiert betrachtete sie die Hand. Dann tastete sie auf dem Boden entlang. Sand, sie lag im Sand. Noch einmal – noch vorsichtiger – schob sie die Finger unter dem Fell hindurch. Und zog sie genauso rasch wieder zurück. Doch jetzt hatte sie erkannt, was so schmerzhaft war.

Sie lag in einem Sandsturm.

Bewegungslos wartete sie. Wenn sie das Fell verlor, würde der Sand sie auf sehr schmerzhafte Weise töten. Dieses neue Leben wäre rasch wieder zu Ende. Wenn das Gewicht auf ihrem Rücken unangenehm wurde, schüttelte sie sich. Hoffentlich wurde sie nicht völlig unter dem Sand begraben – auch Ersticken war kein angenehmer Tod.

Geraume Zeit später wurde der Sturm schwächer, und irgendwann konnte sie endlich unter dem Fell hervorkriechen. Sie blickte sich um. Sie lag dicht neben einer Reihe dichter Büsche. Sie waren voller Sand, hatten aber wohl verhindert, dass sie unter dem Sand begraben wurde. Weiter vorne glitzerte etwas in der grellen Sonne. Begeistert lief sie darauf zu, das war Wasser. Ein kleiner See, jetzt ebenfalls gelb vom Sand, der darauf schwamm.

Gierig trank sie das Wasser, zumindest würde sie keinen Durst leiden müssen. Dann betrachtete sie sich gründlich. Sie trug eine Art Kleid. Nicht aus Leder, wie sie erstaunt feststellte. Nein, dies war ein gewebter Stoff. Sie musste in einer Gegend mit einer schon weit entwickelten Kultur sein.

Sie befand sich in einer Oase, wie sie feststellte, als die die Gegend erkundete. Ansonsten gab es nichts als Sand, so weit sie auch schaute. Und da sie keine Ahnung hatte, wo es weiteres Wasser und Menschen gab, konnte sie diesen Ort auch nicht verlassen. Dennoch machte sie sich keine Sorgen, bisher war sie immer an Orten aufgewacht, an denen sie überleben konnte, also würde sich wohl irgendetwas ergeben.

Am nächsten Vormittag sah sie in der Ferne dunkle Punkte auftauchen, bald konnte sie Tiere erkennen – Kamele. Sie wurden von Menschen geführt. Sie zog sich in die Nähe der Büsche zurück und achtete darauf, ängstlich auszusehen.

Die Karawane entdeckte die junge Frau sofort, als sie die Oase erreichte. Der Karawanenführer war ein Händler. Er glaubte ihr ohne weiteres, dass sie ein Mitglied einer wandernden Gruppe gewesen war, die hier überfallen wurde. Die Banditen hatten wohl geglaubt, sie wäre tot, und hatten sie einfach liegenlassen. Der Händler hatte sie mitgenommen. Er war auf dem Weg in die große, weiße Stadt am ewigen Fluss. Hier hatte sie angefangen, sich ihr neues Leben aufzubauen.

Die große Stadt an dem riesigen Fluss mitten in der Wüste war laut, voll und schön. Weiße Paläste und Tempel, viele große Häuser aus Stein, dazwischen immer wieder freie Plätze und Märkte. Und am Rand der Stadt die vielen kleinen, engen Gassen mit den Hütten aus getrockneten Lehmziegeln und Strohdächern. Und dem Dreck und Tierdung auf den Gassen.

Isarion kümmerte dies jedoch nicht. Die meisten ihrer vielen Leben hatte sie in viel schlimmeren Zuständen gelebt. Im Gegenteil, die Kultur in diesem Reich war erstaunlich, es gab eine gut entwickelte Webtechnik und sogar schon Metallverarbeitung.

Bisher hatte sie zwar hin und wieder in kleinen Siedlungen gelebt, deren Bewohner kaum noch wanderten. Sie sammelten Pflanzen nicht nur, sondern bebauten kleine Ackerflächen. Und obwohl die Jagd sehr wichtig war, wurde auch das Fleisch mancher Tiere gegessen, die gezielt in Pferchen gehalten wurden. Einige Male hatte sie sogar schon in einer Stadt gelebt, mit festen Häusern und Brunnen, Straßen, Plätzen und Märkten. Doch in den meisten Gebieten der Welt lebten die Menschen noch als wandernde Jäger und Sammler – und sie konnte sich ja nicht aussuchen, wo sie nach einem Tod wieder erwachte.

Anfangs hatte sie geglaubt, diese unglaublich schöne Stadt sei in dem Land zwischen zwei großen Flüssen – Jahrtausende später würde man dieses Gebiet Mesopotamien nennen. Doch es gab nur einen Fluss und auch andere Informationen passten nicht dazu. Schließlich erkannte Isarion, dass sie sich mit ziemlicher Sicherheit in Nordafrika befand. Genauer gesagt im sogenannten Alten Ägypten. Irgendwann viel später würde man den Fluss Nil nennen und die Stadt Memphis. Immer wieder war sie froh über ihre guten Geschichtskenntnisse. Sie halfen ihr, sich in ihren vielen verschiedenen Leben zurechtzufinden.

Seit zwei Jahren lebte sie nun in einer der kleinen Hütten am Stadtrand. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich als Tuschemalerin. Tagaus, tagein saß sie mehrere Stunden in ihrer Hütte und beschriftete und verzierte Vasen, Krüge, Teller und Ähnliches. Sie arbeitete konzentriert und schnell. Und niemand ahnte, dass sie die Tusche, die sie auf den Märkten erstand, noch verfeinerte. Dadurch verlief sie nicht mehr so stark.

Gerne hätte sie diese Kenntnis weitergegeben. Doch das war unmöglich. Es war schon auffällig genug, dass sie als Frau die komplizierte Schrift beherrschte, naturwissenschaftliche bzw. chemische Kenntnisse konnte eine Frau nicht haben. Die Fragen, die man ihr dann stellen würde, könnte – nein, dürfte – sie nicht beantworten. Also behielt sie ihr Geheimnis für sich. Es war ohnehin manchmal schwierig für sie, sich hier zu behaupten. Sie war eine Frau, doch da sie als Witwe galt, konnte sie wenigstens alleine leben und für sich sorgen. Normalerweise war eine Frau von ihrer Familie oder ihrem Mann abhängig.

Isarion reckte sich ausgiebig. Ihre Arbeit für heute war fertig, der Tonwarenhändler würde zufrieden sein. Sorgfältig wusch sie die Pinsel aus, verschloss das kleine Gefäß, in dem sie die Tusche aufbewahrte und stellte alles auf eines der Wandbretter, die an allen Wänden der kleinen Hütte angebracht waren.

Die Hütte hatte nur einen Raum und einen Anbau, in dem Isarion die fertigen Keramiken aufbewahrte. Ihr Wohnraum war jedoch geschickt in drei Teilräume getrennt worden. Den Arbeitsbereich, in dem sie gerade saß und der mit den verschiedensten Keramiken vollgestellt war. In der Mitte dann der Wohnbereich. Hier lagen bunte gewebte Teppiche, ein Tisch war vorhanden und zwei Stühle. Auf den Wandbrettern lagen Geschirr und andere Gerätschaften und an der Außenwand war der Kochbereich. Ein dünner Vorhang aus Holzperlen trennte den Schlafbereich ab.

Isarion lächelte, als sie sich umsah. Ihre Hütte gefiel ihr, sie lebte gerne hier. Memphis war eine geschäftige Stadt, auf den Märkten wurden vielfältige Waren angeboten. Sie war nicht reich, ganz gewiss nicht, aber inzwischen verdiente sie gut genug, um sich hin und wieder auch etwas von den teureren Angeboten leisten zu können.

Als es an der Türe schabte und jemand klopfte, stand sie rasch auf.

„Komm herein“, rief sie, und wie erwartet trat Henera ein. Isarion erschrak als sie die Freundin sah. Das Gesicht war zugeschwollen, an den Unterarmen zeigten sich große Blutergüsse. Sie hielt den kleinen, kaum vierjährigen Pokar an der Hand, der nun weinend auf Isarion zulief. Über seinen Handrücken lief ein tiefer, noch immer blutender Schnitt. Sie schloss den Kleinen fest in die Arme.

„Komm, Pokar, wir verbinden deine Hand, dann wird es schnell wieder heil und schmerzt auch weniger.“

Sie sah zu ihrer Freundin hoch. „Setz dich, Henera, und ruhe dich aus. Ich kümmere mich um Pokar.“

Dankbar sah die junge Frau sie an.

„Was soll ich nur machen, Isarion? Pokar hat doch nicht Böses getan. Ihm fiel der Becher hinunter, das war alles. Er ist sofort auf den Jungen losgegangen und hat mit dem Messer auf die Hand geschlagen. Und als ich den Kleinen wegzog, damit er ihn nicht noch schlimmer verletzte, hat er mich verprügelt.“ Schluchzend stieß sie die Worte hervor.

Isarion presste die Lippen aufeinander damit ihr kein unbedachtes Wort entschlüpfte, während sie vorsichtig die kleine Hand des Kindes wusch und verband. Henera kam nicht zum ersten Mal in einem derartigen Zustand zu ihr. Immer wieder wurde sie von ihrem Mann verprügelt, meistens wegen Nichtigkeiten.

Eine Frau war das Eigentum ihres Mannes. Er versorgte sie und konnte somit über sie bestimmen. Nur wenn die Misshandlungen zu schwer wurden, hatte sie das Recht, sich zu schützen. Dann konnte sie zu einem der Recht sprechenden Gelehrten gehen und darum bitten, von ihrem Mann geschieden zu werden.

Doch das ging nur, wenn sie in der Lage war für sich selbst zu sorgen, oder eine Familie hatte, die sich um sie kümmerte. Henera jedoch kam aus einer sehr armen Familie, sie würde nicht für die junge Frau und deren kleinen Sohn sorgen können. Und sie hatte auch nie etwas gelernt, hatte keinerlei besonderen Fähigkeiten und Kenntnisse, um sich ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Damit war sie gezwungen, bei ihrem Mann zu bleiben.

Isarion wusste das, davon abgesehen würden die Rechtsgelehrten eine Tracht Prügel mit Blutergüssen vermutlich nicht als schwerwiegend genug ansehen, um eine Scheidung zu rechtfertigen. Jeder Mann hatte das Recht, seine Frau mit Prügel zu bestrafen, wenn er unzufrieden mit ihr war.

So schluckte sie die zornigen und bitteren Worte hinunter, damit würde sie der Freundin nicht helfen können. Mitleidig aber wortlos versorgte sie auch die Prellungen der jungen Frau. Ihre Hand war gebrochen.

„Du brauchst einen Heiler, den Bruch kann ich nicht richtig versorgen. Wenn die Hand schlecht heilt, wirst du sie nicht mehr richtig gebrauchen können.“

„Isarion, ich habe nichts. Wie soll ich den Heiler bezahlen? Bitte, verbinde die Hand, es wird schon gehen.“

Resigniert nickte Isarion dazu und gab beiden zu essen. Schließlich schlief der Kleine erschöpft vom Weinen ein. Isarion überlegte.

„Bleib heute Nacht hier, Henera. Du kannst auch länger bleiben, das weißt du. Es ist genug Platz da.“

„Ich kann nicht, er würde mich wieder bestrafen. Vielleicht heute Nacht, ich glaube nicht, dass er das bemerken würde. Er ist aus dem Haus gelaufen. Vermutlich ist er in einem der Wirtshäuser und trinkt.“

Isarion nickte. Es stimmte ja, Heneras Mann würde nicht dulden, dass seine Frau mehrere Tage weg blieb. Dann fiel ihr etwas ein.

„Henera, ich könnte den Heiler für dich bezahlen.“ Sie wehrte rasch ab, als die Freundin widersprechen wollte. „Ich besitze genug dafür, aber ich weiß, dass du das nicht willst. Aber es geht auch anders. Morgen ist der fremde Heiler wieder in der Stadt. Du weißt, er kommt alle acht Tage zum großen Markt und hilft den Kranken, ohne Bezahlung zu verlangen.“

Isarion lächelte: „Wie gehen morgen dorthin. Er wird dir die Hand richten können. Es heißt, dass er ein sehr guter Heiler ist.“

Sie machten sich gleich nach Sonnenaufgang auf den Weg. Es war weit bis zum großen Markt. Als sie dort ankamen, standen und saßen schon viele Menschen vor dem offenen Haus, in dem der Fremde seine Kunst ausübte.

Der fremde Heiler lebte in der oberen Stadt, in direkter Nähe des Gottkönigs, des Pharaos. Und doch kam er immer wieder hierher und kümmerte sich um die Armen. Er musste wohl ein gutes Herz haben, überlegte Isarion.

Sie beobachtete ihn neugierig. Er war hochgewachsen, größer als die meisten Männer und eindeutig ein Fremder. Sie selbst sah schon anders aus, als die Menschen hierzulande. Ihre Haare und Augen waren dunkel aber nicht schwarz und auch ihr Gesicht wirkte etwas anders, vor allem heller. Die Menschen hier in der Wüste hatten eine samtbraune Haut, die ihre war lediglich von der ständigen Sonne gebräunt. Sie wusste, dass sie in Wirklichkeit sehr hellhäutig war.

Doch dieser Mann sah völlig anders aus: Langes, silberweißes Haar fiel glatt auf seine Schultern. Sein Gesicht war länglicher als gewöhnlich und seine Augen – sie schimmerten rötlich, als wären sie entzündet oder vom Sand wund gerieben. Aber müsste er nicht Heilmittel dagegen kennen?

Seine Kleidung war sehr kostbar gearbeitet. Es hieß, er sei ein Fürst aus fernen Ländern, der dem Pharao seine Dienste angeboten hatte. Er habe wundersame Kenntnisse. Isarion überlegte. Wo gab es zu dieser Zeit eine Kultur, die höher entwickelt war als das Land am Nil?

Sie lebte jetzt irgendwann zu Beginn der ägyptischen Hochkultur. Es gab noch viele einzelne Stadtstaaten, das später so bekannte und berühmte ägyptische Großreich musste sich erst noch bilden. Doch die Stadtstaaten waren schon sehr hoch entwickelt. Ähnlich hochstehende Kulturen gab es noch in Vorderasien und dorthin gab es auch vielfältige Handelsbeziehungen. Doch von dort kam der Fremde nicht, die Menschen dort sahen anders aus.

Indien? Konnte es sein, dass die frühen indischen Hochkulturen jetzt schon existierten? Nach Isarions Kenntnissen entwickelten sich die Kulturen von Harappa jedoch erst später. Außerdem sah der Fremde auch nicht aus wie ein Inder.

China? Noch unwahrscheinlicher.

Die hellen Haare deuteten auf nördliche Länder hin, doch dort lebten nur Jäger- und Sammlervölker. Und selbst wenn die Haarfarbe täuschte, Isarion wollte keine Gegend einfallen, die so früh schon eine Hochkultur entwickelt hatte und in der derart hochgewachsene Menschen lebten.

Endlich, der Mittag war schon lange vorbei, kamen sie an die Reihe. Ängstlich zeigte Henera ihm ihren Arm. Der Mann lächelte sie beruhigend an.

„Du brauchst keine Angst zu haben.“

Vorsichtig tastete er die Hand ab. Als Henera schmerzhaft zusammenzuckte, runzelte er die Stirn. Isarion beobachtete jede seiner Bewegungen. Er hatte große, kräftige Hände mit langen, schlanken Fingern.

„Ich muss den Knochen richten. Du wirst keine Schmerzen haben, junge Frau.“

Der Mann griff nach einem seltsamen Ding. Es war länglich und nicht dicker als ein Finger. Er hielt es an Heneras Arm. Dann tastete er wieder ihr Handgelenk ab. Er drückte kurz und kräftig darauf, Isarion hörte das widerliche Knacken, als die Knöchelchen sich verschoben. Verblüfft blickte sie auf die Freundin. Diese hatte nicht einmal aufgeschrien. Sie sah nur erstaunt auf ihre Hand. Rasch und geschickt schiente und verband der Fremde die Hand und lächelte wieder.

„Schone die Hand noch eine Weile. Es wird etwa einen Mond dauern, bis du sie wieder wie früher bewegen kannst. Wechsle den Verband hin und wieder, doch achte darauf, dass du die Hand dabei nicht bewegst.“

Verwirrt stand Henera auf, und Isarion starrte den Mann an.

„Ich … ich … danke“, stammelte Henera, während Isarion den Mann immer noch stumm ansah. Sie konnte nicht glauben, was sie gerade gesehen hatte. Der Heiler nickte ihnen noch einmal zu, dann wandte er sich an den nächsten Kranken.

Während des ganzen Heimwegs schwärmte Henera von den Künsten des fremden Heilers: „Sicher hat er Zauberkräfte. Auf jeden Fall stecken wundersamen Kräfte in seinen Händen. Er muss ein Liebling der Götter sein.“

Isarion schwieg dazu. Ihr ging das seltsame Ding nicht aus dem Kopf, das der Fremde so beiläufig an den Arm der Freundin gehalten hatte. Wenn sie daran dachte, dass Henera danach keine Schmerzen mehr gefühlt hatte, gab es nur eine Erklärung. Aber genau die war unmöglich. Es gab hier und jetzt keine Schmerzmittel und schon gar keine Spritzen. Und es hatte auch nicht genau wie eine solche ausgesehen, ähnlich ja, das schon.

Was war das gewesen? Was hatte der Fremde gemacht?

In den nächsten Tagen versuchte sie, mehr über den Fremden zu erfahren. Doch niemand schien viel über ihn zu wissen. Er war aus dem Nichts aufgetaucht, ein großartiger Heiler, und ein noch besserer Krieger. Außerdem schien er mehr Wissen zu besitzen, als alle Gelehrten dieses Reiches zusammen. Aber woher er kam, wusste so genau niemand.

Isarion konnte nur erfahren, dass er angeblich ein mächtiger Fürst aus einem fernen Land weit nach Sonnenuntergang war. Dort wo das große, scheinbar endlose Wasser begann. Noch weit dahinter sollte das Land dieses Fürsten liegen.

Hinter dem Atlantik?

Im Atlantik gab es ein paar vereinzelte Inseln, auf denen ganz gewiss kein mächtiges und hochstehendes Volk lebte. Und dahinter? Dort lag Amerika, von dem zu dieser Zeit noch kein Mensch eine Ahnung hatte. Nach dem Glauben der Menschen war das große Wasser das Ende der Welt.

Von Amerika konnte niemand hierher kommen. Und außerdem lebten dort Indianer, die zu der jetzigen Zeit gerade einmal anfingen, erste Siedlungen zu bauen. Nicht einmal die hochentwickelten süd- und mittelamerikanischen Indianerkulturen gab es jetzt schon. Und niemals hatten sie einen Weg über das Meer in die alte Welt gekannt!

Und dazu sah der Fremde auch nicht aus wie ein Indianer.

Seine Angaben über seine Herkunft konnten nicht stimmen.

Einige Tage später kam Henera wieder zu Isarion und zeigte ihr einige kleine Tongefäße. „Ich habe sie gekauft. Der Heiler hat viele solcher kleiner Flaschen und Vasen. Meinst du, er würde sie als Dank annehmen?“

„Er verlangt nichts für seine Heilkunst, Henera. Das weißt du doch.“

„Ja, aber ich möchte ihm gerne danken. Meine Hand schmerzt kaum noch. Und selbst Renempa ist beeindruckt. Er hat mich nicht mehr geschlagen. Er sagt, er habe mich nie verletzen wollen. Vielleicht habe ich das auch dem Heiler zu verdanken. Er hat gewiss Zauberkräfte.“

Isarion seufzte innerlich. Renempa hatte schon oft so gesprochen. Aber die kleinen Gefäße brachten sie auf eine Idee.

„Hast du etwas dagegen, wenn ich mit dir komme? Ich könnte ihm anbieten, die Vasen zu beschriften.“

„Das würdest du tun? Isarion, du schuldest ihm doch nichts.“

„Aber du bist meine Freundin, und ich möchte ihm gerne ebenfalls danken“, lächelte die junge Frau. „In zwei Tagen ist er wieder in der Stadt. Wir gehen am besten erst recht spät zum Markt. Dann können wir ihn sprechen, wenn er seine Sachen zusammenräumt.“

Sie mussten doch noch eine Weile warten, bis der letzte Kranke für diesen Tag versorgt war. Zögernd trat Henera auf den großen Mann zu. Der musterte sie erstaunt.

„Du brauchst Hilfe?“

Henera schüttelte den Kopf. Zaghaft streckte sie ihm ihre Hand entgegen.

„Nein, Herr. Meine Hand heilt sehr gut. Ich möchte Euch gerne danken. Vielleicht könnt Ihr dies gebrauchen.“

Sie zeigte ihm schüchtern die kleinen Tonwaren.

Der Fremde lächelte. „Ich verlange nichts für meine Hilfe, junge Frau.“

„Ich möchte es so gerne“, flüsterte Henera. „Ihr habt Zauberkräfte. Renempa hat mir zugesichert, dass er mich nicht mehr so hart strafen wird. Das habe ich Euch zu verdanken. Ich weiß es.“

Verblüfft hatte der Fremde zugehört. Einen Moment lang blitzte es in seinen Augen hart und zornig auf. Isarion gab dies zu denken. Verurteilte er Gewalt gegen Frauen? Auch dies war seltsam. Gewalt und Schmerz gehörte zum Leben wie Geburt und Tod.

„Ich weiß nicht, ob ich dir wirklich habe helfen können. Ich kann dir auch nicht sagen, ob dein Mann zukünftig geduldiger sein wird.“

Immer noch zögerte der Mann, doch die junge Frau sah ihn so flehentlich an, dass er die kleinen Gefäße annahm.

„Gut. Ausnahmsweise nehme ich deine Gabe an.“

Henera verbeugte sich tief. Isarion trat näher, dies war ihre Chance. Der Heiler sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Du willst mir doch nicht etwa auch danken?“

„Doch“, lächelte sie. „Henera ist meine Freundin. Ich habe gesehen, dass Eure Gefäße mit Zeichen versehen sind. Ich bin Tuschemalerin und eine sehr gute. Wenn Ihr gestattet, würde ich Euch die Gefäße gerne nach Euren Anweisungen beschriften.“

„Kannst du denn schreiben?“

Isarion nickte lächelnd. Der Fremde überlegte. Es war lästig, die vielen kleine Gefäße zu beschriften, auch wenn er nicht die leicht verlaufende Tusche benutzte. Warum sollte er diese junge Frau nicht für sich arbeiten lassen? Doch würde sie es wirklich können? Arkonidische Schriftzeichen hatten keinerlei Ähnlichkeit mit den ägyptischen Hieroglyphen. Atlan, der Ewige der Zeit, zuckte mit den Schultern.

„Glaubst du, du könntest diese Zeichen abschreiben? Sie sind dir fremd.“

„Ich werde mir Mühe geben.“

Abschreiben hatte er gesagt. Es war also eine Schrift und nicht irgendwelche Zeichen.

„Gut, dann komm morgen Mittag zu mir. Weißt du, wo ich lebe?“

Isarion nickte. Wenn sie geschickt vorging, konnte sie vielleicht ihre Neugier befriedigen. Dieser Fremde war mehr als seltsam. Sie wollte gerne etwas über ihn erfahren. Woher kam er? Welche Kultur war – entgegen allem, was sie wusste - in dieser Zeit so hoch entwickelt?

Am nächsten Tag näherte sie sich kurz vor Sonnenhöchststand einem der großen Tore, die in die obere Stadt führten. Die Wachen blickten Isarion neugierig an, ließen sie jedoch ungehindert passieren, als sie sagte, dass der fremde Heiler sie erwartete.

Langsam ging sie durch die breiten Gassen. Hier gab es keinen Schmutz und nur wenige unangenehme Gerüche. Die Häuser waren viel größer und prächtiger, obwohl sie ebenfalls meist aus getrockneten oder gebrannten Ziegeln bestanden. Doch sie waren kunstvoll verziert und hatten schwere Dächer aus Holz. Immer wieder hörte Isarion das Klatschen der Sandalen auf dem glatten Steinboden, wenn die vielen Bediensteten über die Wege hasteten.

Dann stand sie vor dem großen Haus, in dem der Fremde lebte. Haus? Es wirkte eher wie ein Palast. Ein breiter offener Gang führte ringsherum, nur durch Säulen von dem Platz abgetrennt, der dann auf die breiten Gassen führte. Mehrere Türen führten in das Innere.

Zögernd klopfte Isarion an einer dieser Türen und erklärte dem streng blickenden Mann, der ihr öffnete, ihr Anliegen. Ohne dass dessen Miene freundlicher wurde, nickte er.

„Atlan-Anhetes erwartet dich. Folge mir!“

Sie schritt hinter ihm durch Gänge und Zimmer. Eindeutig Wirtschaftsräume, doch war jeder Raum größer als ihre ganze Hütte und weitaus prächtiger und aufwändiger eingerichtet. Dann schlug der Mann einen Vorhang zurück, und Isarion starrte staunend in den Raum hinein. Schwere, große Sessel mit Holzrahmen und dicken Fellen darin standen hier. Ein geradezu riesiger Tisch beherrschte den hinteren Teil des Raumes. Truhen, kunstvoll geschnitzt und verziert, standen überall. Ein wertvoller Wandschirm verhinderte die Sicht auf einen ganzen Bereich des Raumes. Der Schlafbereich, vermutete sie.

Isarion spürte den weichen Stoff des Vorhanges in ihrem Rücken, ging jedoch nicht weiter. Die Schönheit des Raumes wollte sie erst einmal langsam in sich aufnehmen. Der große, weißhaarige Mann hatte bei ihrem Eintritt an der langen Tischplatte gestanden und wandte sich nun zu ihr um. Er sah ihre staunenden Augen und lächelte.

„Komm ruhig näher, Isarion. Du bist pünktlich, wie ich sehe.“

Beim Klang seiner Stimme bemerkte sie plötzlich eine Bewegung und erblickte voller Freude einen Wolf, der aufmerksam zu seinem Herrn sah.

„Ein Wolf! Wie schön. Darf ich ihn streicheln?“

Im selben Moment hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Wölfe waren keine Streicheltiere, verdammt! Beide Männer, Bediensteter wie Gebieter, sahen sie auch erstaunt an.

„Wenn du möchtest“, kam die verblüffte Antwort.

Nun konnte sie nicht mehr zurück, es wäre noch auffälliger, wenn sie jetzt nichts tat. Atlan beobachtete, wie sie ihre Tasche auf den Boden gleiten ließ und sich vor dem Tier – das kein Tier war – hinkniete. Langsam streckte Isarion die offene Hand aus. Der Wolf sah sie starr an, erst auf den Befehl seines Herrn schnupperte er an der Hand und ließ sich dann auch bereitwillig kraulen und streicheln.

„Du magst Wölfe wohl sehr“, schmunzelte Atlan.

„Ja.“ Obwohl ihre Hände fröhlich das Fell des Tieres kraulten, schaffte sie es, verlegen auszusehen. „Ich weiß, es ist – albern.“

„Es zeugt von einem guten Herzen.“

Er betrachtete die Wölfe als nützliche Werkzeuge, doch er wusste ja schließlich auch, dass es keine wirklichen Lebewesen waren – sondern Maschinen, hergestellt in der Unterwasserkuppel am Meeresgrund.

Isarion stand bedauernd wieder auf. „Verzeiht, Herr. Ich bin hier, um zu arbeiten, nicht um Euch zu belästigen.“

„Das tust du nicht.“

Mit einer leichten Handbewegung schickte er den Bediensteten hinaus. Dann legte er mehrere Stücke Pergament vor die junge Frau. Auf einem waren viele kleine Zeichen zu sehen.

„Zeige mir, was du kannst. Zeichne diese Zeichen auf das Pergament!“

Sie nickte, setzte sich auf einen der kleinen Schemel und unterzog die eigenartigen Schriftzeichen einer genauen Begutachtung. Isarion schluckte, als sie begriff, was sie da sah. Das waren keine Bilderzeichen wie die komplizierten Hieroglyphen in diesem Land. Diese Zeichen waren Buchstaben!

Es gab hier und jetzt nicht einmal ein Wort dafür! Schrift, ja, dieses Wort gab es, doch nicht: Buchstaben. Und doch waren diese Zeichen genau das!

Ihre Hände wollten zu zittern beginnen, nur mühsam unterdrückte sie es. Sie prägte sich den ersten Buchstaben ein und begann langsam zu zeichnen. Sie brauchte mehrere Anläufe, doch dann sah Isarion zufrieden auf das Pergament. Genauso sah der Buchstabe aus. Sie malte einen zweiten Buchstaben, dann einen dritten.

Atlan blickte überrascht auf die junge Frau, die konzentriert arbeitete und jeden Buchstaben nach nur wenigen Versuchen geradezu perfekt wiedergab.

„Du hast großes Talent, Isarion. Wo hast du das gelernt?“

Ihre Hände erstarrten. Leise antwortete sie: „Mein – Mann – hat es mich gelehrt.“

„Er ist Tuschemaler und du hilfst ihm?“

Sie schüttelte den über das Pergament gesenkten Kopf. „Er ist tot.“

„Es tut mir leid“, murmelte Atlan betroffen. „Ich wollte mit meinen Worten keine Wunde berühren.“

„Es ist schon Jahre her.“ Endlich hob sie den Kopf.

Er war froh, keine Tränen zu sehen. Rasch holte er einige seiner Tiegel und Vasen und stellte sie in einer bestimmten Reihenfolge vor sie auf. Auf einem weiteren Pergament hatte er die Wörter geschrieben, die er brauchte.

„Diese Zeichen müssen in genau der richtigen Reihenfolge auf die Gefäße übertragen werden. Kannst du das?“

„Sicher.“

„Es dürfen keine Fehler darin sein“, warnte er sie.

Isarion lächelte: „Ich werde keine Fehler machen, Herr.“

„Ich habe noch zu tun. Man wird dir Essen und Trinken bringen. Du brauchst nicht alles auf einmal zu machen. Höre auf, wenn es zuviel wird. Allerdings hätte ich gerne, dass du auf mich wartest, es kann jedoch Abend werden.“

„Ich werde warten, Herr.“

„Ich heiße Atlan, Isarion. Nenne mich so. Ich bin nicht dein Herr.“

Sie lächelte, obwohl diese Worte sie wieder nachdenklich machten. „Ich werde warten, Atlan.“

„Schon besser.“ Er grinste.

Als Isarion alleine war, machte sie sich an die Arbeit. Die Gefäße waren klein und sie musste die Buchstaben eng setzen, damit sie darauf passten. Und obwohl sie ihre ganze Konzentration dafür brauchte, kreisten ihre Gedanken immer wieder darum, woher der Fremde kam. Welches Volk kannte eine Schrift, die aus einzelnen Buchstaben bestand?

Sie hatte sich immer für Geschichte interessiert, vor allem für Altertumsgeschichte – früher, damals ...

Sie war sich sicher, dass ihre Einschätzung, wann sie jetzt gerade lebte, richtig war. Und das Land am Nil gehörte mit zu den ersten Hochkulturen der Erde. Mit einer komplizierten, hochentwickelten Bilderschrift – den Hieroglyphen. Die Kulturen weiter im Osten, in Vorderasien, benutzten ebenfalls eine Bilderschrift – die Keilschrift. Es gab noch nirgendwo eine Schrift, die aus echten Buchstaben bestand.

Zu Beginn der Nilkultur gab es nach ihrem Wissen kein weiteres Volk, das noch höher entwickelt war. Die am höchsten entwickelten Kulturen dieser Zeit waren alle in Vorderasien und Ägypten – und der Fremde kam ganz gewiss aus keiner davon. Isarion zermarterte sich den Kopf nach einer Erklärung: Buchstaben, Schmerzmittel. Wie konnte das erklärt werden? Sie fand keine Lösung.

Sie sah kaum auf, als ein junges Mädchen eintrat und ein Tablett mit Essen und Wasser in ihre Nähe stellte. Abwesend dankte sie dafür, doch sie zeichnete ohne Pause weiter. Erst als sie fertig war, reckte sie sich und ließ die Schultern kreisen. Nun spürte sie auch Hunger und vor allem Durst.

Dennoch wusch Isarion erst gründlich ihre Pinsel aus und barg Tusche und Werkzeug wieder in ihrer Tasche. Dann jedoch machte sie sich über das Tablett her. Gerade als sie sich die letzten Obststücke in den Mund schob, bewegte sich der Vorhang, und Atlan trat wieder ein.

Er lachte leise, als er sah, wie sie sich genüsslich die Finger ableckte. Sie wurde rot.

„Es schmeckt so gut“, verteidigte sie sich verlegen.

Atlan klatschte in die Hände und trug dem sofort erscheinenden Mädchen auf, für ihn Essen und noch einmal Obst zu bringen.

„Ich wollte damit nicht sagen …“, Isarion brach ab, als sie sein lachendes Gesicht sah.

„Ich weiß.“ Atlan amüsierte sich über ihre Verlegenheit. „Aber ich hätte gerne deine Gesellschaft beim Essen. Und da du wahrscheinlich schon satt bist, nimmst du vielleicht wenigstens noch etwas Obst.“

Er ging zum Tisch hinüber. „Wie weit bist du gekommen?“

„Ich bin fertig, H... Atlan.“

Erstaunt beugte er sich über die Keramik.

„Vorsichtig. Es ist noch nass.“

„Ich berühre nichts, keine Sorge.“

Aufmerksam sah er sich die Gefäße an. Jedes Wort stand klar und deutlich auf dem Ton. Ohne einen Fehler. Erstaunlich! Ein Gedanke kam ihm.

„Isarion. Ich glaube, ich könnte deine Dienste gut gebrauchen. Kannst du auch Karten, ich meine Zeichen – Bilder auf Pergament abzeichnen?“

Irritiert sah sie ihn an. „Wie meint Ihr das?“

Statt einer Antwort öffnete er eine der Truhen und holte etwas heraus.

„Sieh her!“

Bereitwillig beugte Isarion sich vor. Es sah aus wie Pergament, schon alt und teilweise faltig und zerknittert. Striche und Linien waren darauf zu erkennen. Fast zehn Atemzüge lang sah sie das Papyrus an, ehe sie begriff, was sie dort sah – was dort aufgezeichnet war.

„Das ist eine Karte – eine Landkarte“, flüsterte sie.

„Du kennst Karten?“

Isarion zuckte zusammen. Verdammt! Leugnen ging jetzt nicht mehr, aber sie musste dies sofort abschwächen. Sie hatte hier noch nie eine derart genaue Landkarte gesehen.

„Ja, ich habe so etwas schon gesehen, aber … irgendwie sah es auch anders aus, nicht so wie diese hier.“

Mit gerunzelter Stirn sah Atlan die Frau an. Er kannte die einfachen Zeichnungen, mit denen die Menschen dieser Zeit Wegbeschreibungen gaben. Sie hatten kaum Ähnlichkeit mit dieser Landkarte. Und doch hatte diese junge Frau sie sofort als solche erkannt.

Diese Karte zeigte das Land am Nil, wie es aus der Luft aussah. Der Fluss, die Wüste, die Dünen und Berge, die kleinen und größeren Siedlungen. Die einfachen Karten hingegen, die hin und wieder gezeichnet wurden, zeigten das Land aus der Perspektive, wie der Mensch es sah. Diese Frau war seltsam. Atlan schob den Gedanken jedoch als unwichtig beiseite.

„Ja, du hast Recht. Es ist eine Karte, die das Land zeigt, wie es ein Vogel in der Luft sieht. Du erkennst, dass die Karte schon alt ist. Ich möchte diese Karte auf mehrere Pergamente übertragen. Das ist eine mühselige und lange Arbeit. Du bist geschickt. Wenn du dir das zutraust, würdest du mir eine große Hilfe sein. Ich bezahle dich natürlich gut dafür.“

„Ich brauche nichts. Ich verdiene genug, um mich zu ernähren.“

Er erkannte den Stolz hinter ihren Worten.

„Du bist stolz. Aber ich habe nicht vor, dir ein Almosen zu geben. So lange du hier arbeitest, kannst du nichts verdienen. Also ist es nur recht, wenn ich dir deine Zeit bezahle. Wenn du willst, kannst du auch solange hier wohnen. Dann brauchst du nicht jeden Tag den langen Weg hierherzugehen. Und du wärest für mich immer erreichbar, falls ich dich brauche.“

Der Blick ihrer Augen war nun eindeutig misstrauisch. „Was würdet Ihr von mir verlangen?“

Er seufzte, als er die Richtung ihrer Gedanken erkannte. „Nichts, als dass du weiterhin für mich schreibst und zeichnest.“

Das Mädchen, das derzeit sein Lager teilte, war schön und willig.

Isarion blickte auf das Pergament. Es reizte sie, das Angebot anzunehmen. Und nicht nur, weil diese Arbeit interessanter war, als Vasen zu verzieren. Nein, auf diese Weise könnte sie bestimmt etwas über diesen Fremden erfahren. Sie war neugierig, doch nicht nur das. Dieser Mann beunruhigte sie, er wusste und kannte so viele Dinge, die er gar nicht wissen konnte. Weil sie noch niemandem bekannt waren!

„Ich werde für Euch zeichnen. Aber ich werde nicht hier wohnen. Ich habe ein Heim und liebe es. Ich möchte dort nicht weg. Wenn Ihr wünscht komme ich jeden Tag, bis Ihr mich nicht mehr braucht.“

„Wie du willst.“

Und so ging Isarion jeden Tag in die obere Stadt und zeichnete Landkarten. Und ging abends wieder in ihre kleine Hütte zurück, beladen mit Lebensmitteln, manchmal auch mit Stoffen für Kleider und Tücher.

An manchen Tagen war Atlan da und sah ihr zu oder unterhielt sich mit anderen Männern, die sie als Krieger und Soldaten erkannte. An anderen Tagen arbeitete sie alleine. Und je mehr Tage verstrichen, desto mehr grübelte Isarion über ihn nach. Er tat immer wieder Dinge, für die es keine Erklärung gab; sagte Worte, die nicht hierher passten.

Oft kamen auch Handwerker hierher, und Atlan erklärte und zeigte ihnen neue technische Möglichkeiten. Meist waren es Verbesserungen von bekannten handwerklichen Techniken, doch manchmal zeigte er auch Dinge, die in diesem Land noch nicht bekannt waren. Isarion staunte und musste sich immer wieder auf die Lippen beißen, um nichts zu fragen. Vor allem im Schiffbau schien der Fremde erstaunliche Kenntnisse zu haben. Woher?

Und manchmal sah sie Gegenstände, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Dingen hatten, die sie aus einem Leben kannte, an das sie sich nicht mehr erinnern wollte. Und das waren Dinge, die es hier und jetzt nicht gab und auch nicht geben konnte. Denn sie wurden erst in einer weit entfernten Zukunft entwickelt.

Ihre Neugier – und ihre Beunruhigung – wurden immer größer.

Auch die Wölfe waren seltsam. Nie sah sie die Tiere fressen. Auch rochen sie nicht nach Wolf und nirgendwo lag Kot herum. Vorsichtige und scheinbar beiläufige Fragen an die Hausmädchen machten deutlich, dass diese Tiere tatsächlich nichts fraßen. Und auch das war unmöglich!

Die Menschen in seinem Haus erkannten Atlans Eigentümlichkeiten ebenso wie sie selbst, vielleicht nicht ganz so viele, aber genug, um ihn höchst geheimnisvoll zu machen. Doch sie wunderten sich nur wenig darüber. Es gab genug Erklärungen: Er war ein Liebling der Götter – Die Götter hatten ihn hierher geschickt, um dem Pharao zu helfen – Er war ein Halbgott, schließlich tat er immer wieder Dinge, die eindeutig Wunder waren.

Diese Erklärungen genügten den meisten Menschen. Götter waren überall, alles, was unerklärlich war kam von ihnen und wurde durch sie erklärt.

Isarion jedoch glaubte nicht an Götter. Sie brauchte, wollte und suchte andere Erklärungen.

Schließlich, Atlan war an diesem Tag nicht da und sie würde ungestört sein, kniete sie sich vor einen der Wölfe. Langsam streichelte sie ihn und murmelte zärtliche Worte. Was war an dem Tier anders? Wieso fraß es nicht?

Das Tier blickte sie mit seinem eigenartig starren Blick an und gähnte. Isarion blickte direkt in den geöffneten Rachen des Wolfes. Sie sah die scharfen Zähne, glitzernd und weiß. Die schlabbrige Zunge. Den roten Rachenraum, aus dem eine feine, lange, metallisch schimmernde Spitze ragte.

Eine feine, lange Spitze, die metallisch aussah?

Der Wolf klappte das Maul wieder zu, Isarion sah ihn starr und bewegungslos an.

„Mach den Mund wieder auf.“

Sie grub die Hände zwischen die Zähne, der Wolf öffnete bereitwillig den Rachen und sie sah die Spitze glitzern. Was war das? Langsam tastete sie das Tier ab, harte Knochen und feste Muskeln. Sie spürte nichts Ungewöhnliches.

Sie lehnte sich zurück und setzte sich auf ihre Füße. Ein Wolf, der nicht aß, keinen Kot hinterließ, nicht roch und eine metallene Spitze im Rachen hatte. Und der aufs Wort gehorchte und niemals spielte oder irgendwelche Dummheiten machte; der nichts zernagte oder zerkratzte.

Solch einen Wolf gab es nicht!

Aber er saß vor ihr!

Grübelnd blickte Isarion sich um. Ihr Blick fiel auf die Truhen. Die meisten hatte sie schon geöffnet gesehen. Stoffe, Kleidung und Gerätschaften lagen darin. Nur eine Truhe war bisher immer geschlossen gewesen. Waren dort die geheimnisvollen Dinge, die sie als Geräte erkannte, die es erst in Tausenden von Jahren geben konnte?

Spionieren, heimlich in anderer Leute Sachen wühlen, war etwas Hässliches. Sie verabscheute Menschen, die so etwas taten. Langsam stand Isarion auf und ging auf die Truhe zu. Immer noch unentschlossen kniete sie davor nieder und starrte auf den Deckel. Kunstvolle Schnitzereien und Bilder waren dort zu sehen.

Alle seine Sachen waren wertvoll – und alle seine Sachen wirkten auf irgendeine Weise fremdartig, obwohl sie fast, aber eben auch nur fast so aussahen wie diejenigen hier im Land am Nil. Immer noch zögerte Isarion. Wenn sie erwischt wurde, würde sie bestraft werden. Auch wenn sie Strafe eigentlich nicht fürchtete. Sicher, es war schmerzhaft und unangenehm, aber wenn es zu schlimm wurde konnte sie jederzeit sterben.

Allerdings würde sie dann nie mehr erfahren, welches Geheimnis Atlan-Anhetes umgab. Ganz langsam und mit zusammengepressten Lippen hob Isarion den Deckel an. Die Innenseite war dunkel und leicht schimmernd. Ihre Hände glitten über den Rand der Truhe und die schimmernde Fläche. Das Dunkel bewegte sich, Isarion riss die Hände zurück und begriff im gleichen Augenblick, dass ihre Augen getäuscht worden waren. Nicht die Fläche bewegte sich. Nur die Farbe veränderte sich. Wellen- und kreisförmig wurde aus dem Dunkel ein Grau, dann war die Innenseite der Truhe fast weiß. Ein seltsames Weiß allerdings.

Dann war da plötzlich ein Gesicht. Isarion fuhr mit einem Schreckensschrei zurück. Kein Bild, nein, ein lebendes Gesicht war dort zu sehen, die Lippen bewegten sich. Und sie hörte etwas! Allerdings verstand sie kein Wort, diese Sprache war ihr völlig fremd. Das Gesicht runzelte die Stirn.

„Wer bist du? Wo ist der Gebieter?“

Isarion starrte wortlos auf das Gesicht. Nein, verdammt, wollte ihr Gehirn denn gar nicht mehr funktionieren? Natürlich war das kein Gesicht. Das war eine Person, ein Mann. Und er konnte sie ebenso sehen, wie sie ihn. Und er sprach mit ihr, in ihrer Sprache. Er hatte also erkannt, dass sie ihn gerade eben nicht verstanden hatte.

Das Ding war ein Bildschirm! Ein …

„Schon gut, Rico. Es ist nichts. Ein Versehen. Ich kläre das.“

Isarion fuhr herum und starrte totenbleich auf Atlan, der hinter ihr stand. Ruhig streckte er die Hand aus, berührte etwas an der Truhe und die Innenseite des Deckels wurde wieder dunkel und ruhig. Isarion öffnete den Mund, doch außer einem erstickten Keuchen brachte sie nichts hervor. Das konnte nicht sein. Das war unmöglich! Sie fand nur eine Erklärung, doch die war so unwahrscheinlich, so fantastisch, dass sie sie nicht glauben konnte. So etwas gab es einfach nicht! Es sprach so viel dagegen, dass so etwas überhaupt sein konnte. Und doch …

Oder war er wie sie selbst? Konnte das sein? Konnte es noch einen Menschen geben, der wie sie war – aus einer anderen Zeit? Aber woher hatte er dann all die Geräte? Isarion besaß nichts, hatte niemals etwas aus ihrer Zeit besessen. Nur ihre Erinnerungen und ihr Wissen.

„Beruhige dich. Du hast einen Schock. Es ist nichts geschehen. Du hättest allerdings auch nicht an die Truhe gehen sollen.“

„Ich …“ Isarion schloss die Augen. „Wer bist du?“

Sie öffnete die Augen wieder. Diesmal erkannte er Angst darin, Unglauben und Schrecken.

„Was bist du? Woher kommst du?“

Jetzt war es an Atlan, sie wortlos anzustarren. Er setzte sich in einen der schweren Sessel.

„Was meinst du damit: Was ich bin?“

„Du bist kein Mensch.“ Sie flüsterte nur noch, atmete keuchend, glaubte selbst nicht, dass sie diese Worte tatsächlich aussprach. Es war nicht möglich, so etwas gab es nicht. „Aber das ist unmöglich. Es gibt keine … Es kann nicht … Du kannst nicht ein – ein – von …“

Atlan registrierte, dass sie die Anredeform geändert hatte.

„Glaubst du, ich komme von den Göttern?“ Atlan kannte den Glauben der Menschen und auch ihre Art, sich seine Eigenheiten zu erklären.

„Quatsch!“

Fast hätte er über ihren Ausruf gelacht.

Isarions Gesicht bekam wieder Farbe. Obwohl ihr Herz immer noch wie wild hämmerte, begann sie endlich wieder klarer zu denken. Ohne jedoch mehr zu begreifen als bisher.

„Das ist einfach unmöglich. Ich habe nie an so eine Möglichkeit geglaubt. Es ist einfach viel zu unwahrscheinlich. Du kannst nicht – von einer anderen Welt kommen.“

Noch immer waren ihre Augen starr auf ihn gerichtet.

„Woher weißt du, dass es andere Welten gibt?“

Sie keuchte, war es tatsächlich so? Obwohl allein der Gedanke schon so fantastisch war?

„Das Schmerzmittel, der Wolf, die Schrift. Es würde alles erklären. Aber das ist doch völlig unmöglich. Du siehst aus wie ein Mensch. Wie kann das sein?“

Eines der Mädchen trat durch den Vorhang, ein großes Tablett in der Hand.

„Das Essen, Herr.“ Sie verstummte, als sie die Tuschemalerin sah, die totenbleich auf dem Boden saß und ihren Herrn voller Entsetzen anstarrte.

Atlan mühte sich um einen ruhigen Ton. „Stell es bitte einfach ab. Danke, und sorge dafür, dass wir nicht mehr gestört werden.“

Das Mädchen nickte verwirrt und verschwand eilig. Atlan war inzwischen nicht weniger durcheinander als die Frau vor ihm.

„Du hast Recht, ich bin kein Mensch. Ich komme von einer fernen Welt. Aber es würde mich interessieren, wie du solche Dinge wissen kannst. Du weißt also, was die Lichter nachts am Himmel in Wirklichkeit sind?“

Isarion nickte, seine Ruhe wirkte ansteckend.

„Sonnen, wie unsere, und …“ Sie suchte nach einem Wort für Galaxien. „Dinge – Gebilde, für die es nicht einmal ein annehmbares Wort gibt.“

„Und woher hast du dieses Wissen? Wer bist du?“

Ihr Gesicht, eben noch verschreckt und entsetzt, verschloss sich. „Ich habe dieses Wissen einfach.“ Isarion schüttelte den Kopf. „Aber ich kann es nicht glauben. Wie ist es möglich, dass andere Wesen so aussehen wie wir? Oder ist das eine Maske?“

„Nein, ich – wir sehen so aus. Eine Erklärung habe ich nicht, außer, dass es erstaunlich viele Wesen gibt, die zumindest so ähnlich aussehen.“

Atlan seufzte. „Dann bist du ebenfalls kein Mensch. Woher kommst du?“

„Ich bin ein Mensch.“

„Kein Mensch auf dieser Welt kann wissen, dass es andere Welten gibt. Nicht einmal, dass die Sterne in Wirklichkeit Sonnen sind.“

Isarion blickte ihn schweigend an. Seine Ruhe half ihr, sich selbst zu beruhigen. Sie hatte schon vieles erlebt, doch diese Situation war neu. Natürlich war es theoretisch möglich, dass auf anderen Planeten Leben, auch intelligentes Leben, existierte. Doch Wesen, die genauso aussahen wie Menschen? Das war einfach zu unwahrscheinlich. Dennoch, es war die einzige Erklärung, auf die alles passte.

Sie atmete tief ein, tausend Fragen lagen ihr auf der Zunge, doch etwas hielt sie zurück. Denn wenn sie Fragen stellte, würde sie auch Fragen beantworten müssen. Dazu war sie nicht bereit. Aber ihre Neugierde brachte sie jetzt schon fast um.

„Ich bin ein Mensch dieser Welt. Und ich weiß diese Dinge.“ Isarion grinste schief. „Auch wenn das nicht zusammen passt.“

Atlan sah sie mit hochgezogenen Brauen an. „Und du hast nicht vor, mir eine Erklärung dafür zu geben.“

„Nein.“

„Hm.“

„Atlan-Anhetes. Ist das dein richtiger Name?“

„Atlan.“

Sie nickte. Er sah die brennende Neugier in ihren Augen und wartete. Doch sie schwieg.

„Warum fragst du nicht weiter?“

Isarion biss sich auf die Lippen. Schulterzuckend gab sie zu: „Ich habe mehr Fragen als mir im Moment einfallen. Aber so lange ich selbst keine beantworten will …“

Atlan lachte. „Frage! Vielleicht bin ich ja bereit, zu antworten.“

Einen Moment sah sie ihn nur an, dann verzogen sich ihre Mundwinkel. „Und indem man Fragen beantwortet, kann man vieles erfahren, auch wenn der andere eigentlich gar nichts sagt“, murmelte sie.

Seine Antwort bestand aus einem zustimmenden Grinsen. Isarion brauchte nicht weiter zu überlegen.

„Woher kommst du? Kann man deine Sonne von hier sehen?“

Atlan schüttelte den Kopf. „Nein. Arkon – meine Welt – liegt auf der anderen Seite des Zentrums.“

Auch er kämpfte darum, die passenden Worte in dieser Sprache zu finden, um Dinge auszudrücken, die hier unbekannt waren.

„Uh, das ist reichlich weit.“ Isarion schüttelte sich. „Hinter dem – Pfad der Milch.“

Atlan nickte. Isarion überlegte. Doch nach technischen Dingen zu fragen, erübrigte sich. Es gab keine Worte dafür. Wie sollte sie fragen, wie es möglich war, diese Entfernungen zu überbrücken? Und die Sprache, in der sie dachte würde er ebenso wenig kennen, wie sie seine Heimatsprache. Außerdem hatte sie diese Sprache schon seit Jahrtausenden nicht mehr ausgesprochen.

Konnten sie die Grenze der Lichtgeschwindigkeit überwinden? Diese Frage ließe sich zwar stellen, aber damit würde Atlan viel über das Ausmaß ihres Wissens erfahren. Sie schüttelte energisch den Kopf. Das spielte doch eigentlich keine Rolle, er wusste ohnehin, dass sie nicht hierher passte. Und eine Erklärung würde er auch dann nicht finden. Die war schließlich so kurios und unglaublich – darauf würde niemals jemand kommen.

„Selbst das Licht braucht unendlich viele Jahre, um so weit zu – wandern. Und nichts ist schneller als das Licht. Wie kannst du dann diese Entfernungen überwinden?“

Atlan ächzte. „Ich brauche etwas zu trinken.“

Bereitwillig stand Isarion auf und schenkte ihm Wein gemischt mit Fruchtsaft in einen der goldenen Kelche. Ohne sie aus den Augen zu lassen nahm er den Pokal und trank ihn aus.

„Du kennst … Du weißt, wie man den Raum zwischen den Sternen überwinden kann? Du kennst die Entfernungen? Und du behauptest weiterhin, dass du ein Mensch dieser Welt bist?“

Isarion nickte. „Ich weiß es in meinen Gedanken. Ich kenne die Möglichkeit, nicht, wie es zu verwirklichen geht. Ich kenne keine …“

Verdammt, wie sollte man ein Raumschiff beschreiben? „… Gefährte, die die Welt verlassen können.“

„Aber du kannst es dir vorstellen“, wunderte Atlan sich.

„Ja.“

„Es gibt Möglichkeiten, das Gesetz des Lichts zu umgehen“, begann er zu erklären.

Sie winkte ab. „Bitte keine genaueren Erklärungen. Selbst wenn es von den Worten her möglich wäre. Ich würde es nicht verstehen. Ich habe nur fundamentale Kenntnisse darüber. Und eine Menge Vorstellungskraft.“

„Ich möchte wirklich wissen, woher du diese Kenntnisse hast.“

Isarion sah ihn nur an. Atlan seufzte, dann fiel sein Blick auf den Tisch. Er holte ein Pergament herbei und Tusche.

„Ich kann unter diesen Umständen wohl voraussetzen, dass in deiner Vorstellung diese Welt keine Scheibe oder so etwas ist“, lächelte er.

„Sonst etwas ist sie schon.“

Als er sie erstaunt ansah, lachte sie auf. „Eine Kugel ist doch schließlich auch etwas.“

Ihre Antwort amüsierte Atlan. „Zeichne mir diese Welt auf. Die Umrisse von Wasser und Land.“

Nachdenklich sah Isarion ihn an, während sie den Pinsel aufnahm. Ihre Gedanken schwirrten wie wild gewordene Bienen durch ihren Kopf. Und ganz langsam bekam sie Angst.

„Wirst du mir weitere Fragen beantworten?“

„Das kommt auf die Fragen an, aber grundsätzlich: Ja.“

Sie begann zu zeichnen. „Es wird nicht gerade übermäßig genau sein, aber ich denke, darauf kommt es dir auch nicht an.“

Grob zeichnete sie die Umrisse von Europa, Asien und Afrika auf. Dann blickte sie auf und begegnete seinem gespannten Blick. Isarion grinste, tunkte den Pinsel in die Tusche und zeichnete Australien und Amerika ein – und die Antarktis. Quer über den Nordpol schraffierte sie eine Fläche.

„Eis, das das Wasser bedeckt“, erklärte sie betont harmlos.

Seine Augen hielten ihren Blick gefangen, und sie waren scharf wie ein Skalpell.

„Wer bist du?“

„Isarion – die Tuschemalerin. Hier und jetzt bin ich Isarion, nichts weiter. Ein Mensch, mit nicht mehr Fähigkeiten und nicht mehr Möglichkeiten, wie jeder andere Mensch auch.“

„Warum bist du nicht an der Seite des Pharaos? Mit deinem Wissen könntest du helfen und herrschen.“

Sie schnaubte. „Nein, das könnte ich nicht. Ich weiß vieles, aber ich kann es nicht verwerten. Und was soll mein Wissen denn hier nützen? Und außerdem ist das Leben in der Nähe der Mächtigen ziemlich gefährlich. Und Herrschen? Ich will nicht herrschen, ich will einfach nur leben.“

„Du könntest vieles verändern, Not lindern und helfen. Fortschritt ermöglichen.“

„Nein, Atlan.“ Isarion schüttelte den Kopf. „Genau das kann ich nicht. Du weißt selbst, welchen Stellenwert eine Frau hier hat. Ja, ja, es gibt auch mächtige Frauen. Aber ich will keine Macht haben. Ich will nicht in Intrigen und Machtspielen gefangen sein.“

Sie atmete tief ein. „Und mein Wissen? Vieles davon ist interessant, aber nutzlos. Ich habe die Dinge gesehen, die du den Handwerkern gezeigt hast. Sicher, ich kenne diese Dinge, aber ich hätte sie ihnen nicht zeigen können, nicht erklären können.“

Sie sah, dass er begriff.

„Du kennst die Dinge, aber du weißt nicht, wie sie zu fertigen sind.“

Isarion nickte, dann legte sie den Kopf schief und sah ihn an: „Wirst du mich gehen lassen?“

Als Atlan sie verständnislos ansah, fügte sie erklärend hinzu: „Nun, ich kann mir vorstellen, dass es dir nicht gefällt, dass ich die Wahrheit über dich kenne. Ich bezweifle, dass irgendjemand hier dein Geheimnis kennt.“

Ihre Bedenken gingen viel weiter, aber das musste sie ja nicht unbedingt aussprechen.

„Spielt das denn eine Rolle?“

Die Antwort half ihr nicht weiter.

„Nein“, seufzte sie. „Für die meisten hier hast du ohnehin irgendetwas mit den Göttern zu tun. Und die Behauptung, du kämst von den Sternen würde dich nur noch mehr zu einem Gott machen.“

Er grinste: „Ich lege keinen Wert darauf, ein Gott zu sein.“

Atlan wurde wieder ernst. „Wirst du weiter für mich zeichnen? Oder wirst du mich von nun an meiden?“

„Warum sollte ich? Weil du kein Mensch bist, meinst du?“

Isarion schüttelte den Kopf. „Falls du nun befürchtest, ich würde in dir irgendetwas Unheimliches sehen, irrst du dich sehr. Ich arbeite gerne für dich.“

Sie lachte leise. „Und außerdem bin ich viel zu neugierig.“

Natürlich war er ihr unheimlich, aber nicht, weil er kein Mensch war. Vielmehr weil sie nicht wusste, weshalb er hier war. War er als Eroberer hier? Ein Kundschafter für andere, die ihre Welt beherrschen wollten? In der Geschichtsschreibung, die sie kannte, war so etwas nie geschehen. Aliens – also Intelligenzen anderer Welten waren nur Erfindungen fantasievoller Autoren gewesen.

Aber wenn Atlan tatsächlich von einer anderen Welt kam, wer konnte denn dann sagen, was noch geschehen würde? Und ob ihre Angst berechtigt war, konnte sie nur herausfinden, wenn sie versuchte, mehr über ihn zu erfahren.

An Isarions Tagesablauf änderte sich nicht viel. Sie zeichnete weiterhin Landkarten und beschriftete seine Tiegel, Vasen und andere Gefäße. Sie verhielt sich ihm gegenüber respektvoll, wie es dem Heiler und Ratgeber des Pharaos zustand. Doch immer wieder suchte Atlan das Gespräch mit ihr, und dann waren sie Gleichgestellte. Sie stellte ihm tausend Fragen, die er fast immer bereitwillig beantwortete. Doch die Fragen, die ihr am meisten zu schaffen machten stellte Isarion nicht – aus Feigheit, wie sie sich selbst gegenüber zugeben musste.

Sie mochte ihn, er war freundlich und sympathisch. Sie wollte diese Meinung nicht ändern müssen. Und was würde es ausmachen, wenn sie seine Pläne erfuhr? Isarion würde nichts ändern können, nichts verhindern können. Atlan war ihr weit überlegen. Sollte er zu der Entscheidung kommen, dass sie ihm gefährlich werden könne – allein der Gedanke war lächerlich – würde er sie jederzeit töten können. Auch wenn er keine Ahnung hatte, dass sie deshalb nicht starb. Aber wie würde die Welt aussehen, wenn sie wieder erwachte?

Und Isarion begannen diese Gespräche Spaß zu machen. Er war der erste Mensch – nun ja, auch wenn er kein Mensch war – mit dem sie offen reden konnte. Sie verbarg ihr Wissen nicht vor ihm und sie sah immer wieder sein Erstaunen über ihre Kenntnisse. Obwohl Atlan ihr an Wissen und Bildung weit überlegen war. Sie lernte von ihm, hörte mit glänzenden Augen zu, wenn er von anderen Welten sprach. Manchmal erzählte er auch von Arkon, seiner Heimat. Und jedes Mal wurde ihre Angst größer. Seine Welt war der ihren weit überlegen.

Sie hingegen berichtete zwar freimütig über ihr jetziges Leben. Doch niemals erwähnte sie, dass sie viele Leben gelebt hatte. Nie gab Isarion ihm einen Hinweis darauf, woher ihr Wissen stammte. Sie wusste, dass er in ihren Worten immer wieder nach solchen Hinweisen suchte. Und sie war ihm dankbar dafür, dass er sie nicht mit Fragen bedrängte.

Allerdings erfuhr sie in diesen vielen Gesprächen nie, wie er auf ihre Welt gekommen war, wann und warum. Und obwohl sie genau dies wissen wollte – vor allem das warum –, fragte sie nicht danach. Obwohl es sie fast zerriss, diese Fragen immer wieder herunterzuschlucken. Es erschien ihr unfair. Es war offensichtlich, dass er nicht darüber sprechen wollte, und sie akzeptierte dies. Auch wenn sie dadurch fast Alpträume bekam.

Es freute Isarion, dass Atlan nie versuchte, sie in sein Bett zu bekommen. Auf die ersten fast unmerklichen Berührungen von ihm, reagierte sie abwehrend. Das genügte, um ihn von weiteren Versuchen abzuhalten. Was sie wunderte. Männern war es ihrer Erfahrung nach meist völlig egal, ob eine Frau Interesse an ihnen hatte oder nicht. Wenn es in ihrer Macht stand, sich zu nehmen, was sie wollten, so taten sie es. Die Frau hatte sich zu fügen. Vollends beruhigt war sie jedoch erst, als die Schwester des Pharaos seine Geliebte wurde.

In der Zeit, in der Atlan nicht in Memphis war, sondern dem Pharao auf dessen Kriegszügen half, das Reich am Nil zu vergrößern, blieb Isarion in ihrer kleinen Hütte. Scheinbar hatte sich nichts in ihrem Leben verändert, außer dass die Menschen, die sie kannten, ein wenig höflicher und zuvorkommender geworden waren. Es hatte sich herumgesprochen, dass der Heiler und Berater des Pharao ihre Dienste in Anspruch genommen hatte.

Isarion selbst schien jedoch unverändert. Und doch war sie schon seit langer Zeit nicht mehr so unruhig gewesen. Immer wieder dachte sie über Atlan nach, die Angst wuchs in ihr. Weshalb war er hier auf der Erde? Was würde geschehen, wenn er wieder fortgehen würde? Was würde dies für die Erde, für die Menschen bedeuten?

Hin und wieder ließ Nefer-meryt, seine Geliebte, sie zu sich kommen in das große, schöne Haus auf der Insel im Nil. Isarion verzierte ihre Vasen und hörte der jungen Frau zu, wenn sie voller Liebe von Atlan sprach. Auch an dem Tag, an dem Atlan-Anhetes nach wochenlanger Abwesenheit wieder zurückkehren würde, ließ Nefer-meryt nach Isarion schicken.

Während die Schwester des Pharao das Haus verließ, um ihren Geliebten zu empfangen, wartete Isarion in den kühlen Räumen. Obwohl ihre Furcht sie immer unruhiger werden ließ, freute sie sich auf die Gespräche, die sie wieder führen würden. Als Atlan, neben sich Nefer-meryt, das Haus betrat, verflog ihre Freude über seine Rückkehr jedoch sofort. Er wirkte grimmig und hart. Und Nefer-meryt war nervös, fast ängstlich.

„Was ist geschehen?“

Atlan sah sie an, dann wandte er sich an seine Geliebte. „Schicke bitte nach Neter-nacht und Hepetre. Ich brauche sie hier.“

Die junge Frau nickte und lief davon. Dann erst wandte er sich Isarion zu.

„Du weißt, wer die Priester in Wirklichkeit sind?“

„Wer? Die Priester? Wer sollen sie sein? Priester eben.“

„Sie sind Fremde – wie ich.“

Isarion sank verblüfft in einen Sessel.

„Sie gehören zu dir?“

Sie schüttelte sofort den Kopf und verbesserte sich: „Nein, du magst sie nicht. Du bist nie mit ihnen zusammen.“

„Nein, ganz gewiss nicht. Ich weiß nicht einmal, von welcher Welt sie kommen. Aber sie wissen, wer ich bin, und sie haben mich heute Nacht in den Tempel bestellt – um mich zu töten.“

Eine ganze Weile starrte sie ihn nur an. Gerade als sie Luft holte, um – reichlich verspätet – zu antworten, trafen die beiden Männer ein, die seine Freunde geworden waren. Atlan berichtete ihnen – etwas abgewandelt, was die Herkunft der Priester anging –, was geschehen war, und dass er gewillt war, der Aufforderung nachzukommen.

„Wie können wir dir helfen?“

„Einige Soldaten sollen mich begleiten und vor dem Tempel auf mich warten. Ich werde wie verlangt alleine hineingehen. Allerdings könnt ihr mir von hier aus helfen.“

Atlan verstummte kurz und sah die beiden Männer eindringlich an, ehe er weiter sprach: „Was ich von euch möchte ist – ungewöhnlich. Es wird euch – seltsam vorkommen, doch es sind keine Wunder. Auch wenn ich es nicht erklären kann. Isarion wird euch helfen.“

Er wandte sich an die junge Frau, die ihn nun sehr gespannt ansah. „Wenn du bereit bist, mir zu helfen.“

Sie hob nur wie erstaunt die Augenbrauen. „Du stellst seltsame Fragen, Atlan-Anhetes.“ Sie lächelte, denn sie wusste ja genau, weshalb er sich nicht sicher war. Sie hatte immer wieder deutlich gemacht, dass sie nicht vorhatte zu offenbaren, wie anders sie war.

„Ich mag die Priester nicht. Aber ich sehe jeden Tag von neuem, wie du versuchst, uns zu helfen. Du hast meiner Freundin den Arm gerichtet, hast du das schon vergessen?“

„Nein“, murmelte Atlan, „allerdings ist inzwischen einiges – geschehen. Ich war mir nicht sicher. Manchmal habe ich den Eindruck, du traust mir nicht besonders.“

„Du kannst dir sicher sein. Und ich vertraue dir auf jeden Fall weitaus mehr als den Priestern.“

Atlan stand auf und holte etwas aus der Truhe, deren Deckel ein Bildschirm war. Er drückte ihr die beiden Gegenstände in die Hände.

„Du weißt, wie man damit umgeht?“

Isarion drehte die beiden etwa rechteckigen Dinger hin und her. Es gab einige kleine, runde – Knöpfe – Schalter - Tasten?

Sie schluckte. „Nicht genau. Obwohl ich vermute, dass ich erraten kann, was das ist.“

Sie sah erst Atlan, dann die anderen Männer an. Die Soldaten sahen ratlos von einem zum andern. Atlan schwieg und blickte sie auffordernd an.

Wieder schluckte sie, dann sagte Isarion heiser: „Damit kann man hören, was dort geschieht, wo das andere Ding ist.“

Sie hielt erst das eine Funkgerät hoch, dann das andere.

„Und was man hier spricht, wird man dort hören.“

Atlan sah in die ungläubigen Gesichter seiner Freunde.

„So ist es“, bestätigte er. „Ich werde eines der Geräte bei mir tragen. Damit könnt ihr hier hören, was im Tempel geschieht. Wenn ich Hilfe brauche, werdet ihr es erfahren.“

Skeptisch und scheu sah Neter-nacht auf die Funkgeräte.

„Wäre es nicht besser, wir begleiten dich?“

„Nein, ich will wissen, was diese Priester von mir wollen. Und das werde ich nur erfahren, wenn ich alleine dorthin gehe.“

Er wandte sich an Isarion. „Ich zeige dir, wie man die Geräte bedient. Wirst du es dir merken können?

„Ich bin nicht blöd.“

Sie verbarg ihre Sorge und Angst hinter ihrer Schroffheit. Selbst wenn die Männer zum Tempel fliegen könnten, würden sie zu spät kommen, wenn Atlan Gefahr drohte. Doch das wusste er selbst, und sie begriff, dass er erfahren wollte, wer diese anderen Fremden waren.

„Woher wissen sie, wer du bist, und warum wollen sie dich töten?“

„Ich vermute, dass sie in mir eine Gefahr für ihre Pläne sehen.“

Isarion wurde bleich. „Welche Pläne haben sie?“

„Genau das möchte ich auch gerne wissen … unter anderem.“

Atlan wandte sich wieder an die Männer.

„Falls ich nicht zurückkomme, wird Isarion euch sagen können, ob diesem Land von den Priestern Gefahr droht. Hört gut zu. Diese Priester, zumindest einige von ihnen, sind keine echten Priester. Sie kommen aus einem fernen Land, und es kann sein, dass sie eure Feinde sind. Isarion kann aus ihren und meinen Worten erkennen, ob dies so ist. Sie wird es euch sagen.“

Er sah ihr bleiches Gesicht. „Sie brauchen dich jetzt, Isarion. Ich weiß, was du zu mir gesagt hast, doch jetzt musst du in den Bannkreis der Mächtigen gehen. Sie brauchen deine Hilfe. Willst du zusehen, wie dein Land und dein Volk versklavt werden?“

„Ich kann nicht kämpfen, Atlan.“

Isarions Stimme war heiser. Schon vor langer Zeit hatte sie beschlossen, nie wieder eine Waffe zu führen, nie wieder zu kämpfen. Sie hatte es einmal gelernt, doch sie hatte schon vor vielen Leben aufgehört, Gewalt als ein Mittel für sich selbst zu akzeptieren. Obwohl sie deshalb schon oft gestorben war.

„Du bist eine Frau, du brauchst nicht zu kämpfen. Das ist Sache der Männer.“ Hepetre sah sie verständnislos an. „Atlan hat nicht gemeint, dass du ein Schwert führen sollst.“

Sie wusste genau, was Atlan von ihr wollte, von ihr verlangte. Isarion hatte ein einfaches Leben mit einfachen Sorgen. Das sollte sie aufgeben und sich stattdessen um das Wohl eines ganzen Volkes kümmern. Sie würde preisgeben müssen, dass sie über großes Wissen verfügte, und damit war ihr einfaches Leben vorbei. Ihr schauderte.

Die Alternative jedoch wollte sie sich lieber gar nicht vorstellen: Eine Erde, die von Fremden, von Außerirdischen beherrscht wurde. Das wäre das Ende ihrer eigenständigen Entwicklung. Die Menschen würden Sklaven werden!

„Vielleicht wird gar nichts geschehen. Ich habe nicht vor, mich töten zu lassen. Dann brauchst du nichts zu tun.“

„Ich werde helfen.“ Isarion fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht. „Auch wenn das vielleicht bedeutet, dass ich mein Leben aufgeben muss für eines, das ich nicht führen möchte.“

Sie verdrängte die Frage, die sich ihr unweigerlich aufdrängte: Angenommen diese Fremden, die sich als Priester ausgaben, wurden von Atlan unschädlich gemacht – wie auch immer. Würde nicht irgendwann Atlan selbst die gleiche Gefahr bedeuten? Spielte es eine Rolle, von welchen Fremden die Erde beherrscht werden würde?

Atlan zeigte ihr, wie sie das Funkgerät bedienen konnte und verbarg eines unter seiner Kleidung. Als die Dämmerung hereinbrach, machte er sich auf den Weg. Isarion saß mit den beiden Soldaten und Nefer-meryt in dem nur durch Fackeln erleuchteten Raum und starrte auf das Funkgerät.

Alle außer ihr zuckten zurück, als die ersten Geräusche aus dem Gerät drangen: Das Rattern der Räder auf dem Steinpflaster, das Trommeln der Pferdehufe. Dann hörten sie Atlans leise Stimme: „Ich bin vor dem Tempel. Isarion, kannst du mich hören?“

Sie hielt das Gerät vor ihre Lippen, ebenso leise antwortete sie: „Ja, wir können dich gut hören.“

„Schalte jetzt den Sender aus.“

Sie drückte auf den kleinen Knopf, den Atlan ihr gezeigt hatte. Auf die fragenden Blicke der Männer erklärte sie: „Jetzt können wir alles hören, was dort geschieht, doch aus Atlans Gerät kommt kein Geräusch mehr. Es würde ihn eventuell in Gefahr bringen, wenn Geräusche von uns dort im Tempel zu hören sind.“

Alle drei nickten, das war verständlich, auch wenn sie immer noch nicht begreifen konnten, wie ein derartiges Wunder möglich war. Doch nur Nefer-meryt fasste ihre Gedanken in Worte: „Woher kennst du diese Wunder? Ich weiß, dass Atlan viele Dinge weiß und kennt, die uns unbekannt sind. Er kommt aus einem fernen Land, vielleicht sogar von den Göttern, aber du?“

Hepetre sah Isarion aufmerksam an. „Du kommst auch nicht aus dem Nilland, dein Haar und deine Augen sind heller.“

Sie nickte. Während sie den Geräuschen lauschten, die aus dem Funkgerät drangen und zeigten, dass Atlan auf dem Weg in den Tempel war, berichtete Isarion einiges über sich: „Ich kam mit einer Karawane nach Memphis. Der Karawanenführer fand mich in einer Oase. Ich bin ebenfalls eine Fremde, aber ich weiß längst nicht so viel wie Atlan. Er ist weiser, klüger und um einiges mächtiger als ich. Und alles was ich mir wünsche, ist in Frieden leben zu können.“

Jetzt begriff Neter-nacht: „Und du befürchtest, dass du das nicht mehr kannst, wenn du preisgeben musst, wie viel Wissen du besitzt.“ Er wartete kaum ihr Nicken ab. „Wenn Atlan den Tempel lebend verlässt, was ich sehr hoffe, wirst du das nicht müssen. Wir werden über dich schweigen, wenn du es willst.“

Ihre Augen wanderten von einem zum andern und sahen einstimmiges Nicken.

„Das wäre schön“, seufzte Isarion. „Ich möchte einfach nur mein Leben weiterführen. Ich habe kein Verlangen danach, etwas Besonderes zu sein, in einem Palast zu leben.“

„Was hast du gegen Paläste?“ fragte Hepetre grinsend. „Es lebt sich sehr gut darin.“

„Nur dass sie voller Gefahren und Intrigen sind.“

„Hm.“

Dann lauschten sie den Stimmen, die plötzlich aus dem Funkgerät klangen. Isarion hörte die kalte Stimme des angeblichen Priesters und seine Worte: Woher er kam, was seine Pläne waren. Genau wie Atlan es geplant hatte. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Ein kostbarer Planet, reich an Ressourcen, so sah dieser Priester die Erde. Oh, sie wusste, was der Fremde damit meinte: Rohstoffe, aber auch Tausende von Sklaven.

Dann hörten sie den Lärm der Schüsse. Neter-Nacht und Hepetre sprangen auf.

„Was ist das? Was geschieht dort?“

„Waffen, das ist der Lärm von Waffen.“

„Welche Waffen machen einen solchen Lärm?“

„Die Waffen dieser fremden Priester.“

„Atlan.“ Neter-Nacht flüsterte angstvoll den Namen.

Das Gerät wurde still. Isarion lauschte, nein, es war nicht völlig still. Sie hörte keuchenden Atem. Neter-Nacht ergriff fast schmerzhaft ihren Arm: „Frage. Vielleicht ist er verletzt.“

Sie sah ihn zweifelnd an.

„Wenn ich jetzt das Gerät einschalte, so dass man dort hört, was ich sage, und das, was wir hören ist der Atem eines der Priester – dann wissen sie, dass wir ein solches Gerät haben. Und dass wir wissen, dass sie Fremde sind. Sie werden uns jagen und töten. Wenn wir schweigen, können wir sie jagen.“

Einen Moment lang sah es aus, als wolle er sie durchschütteln. Dann sackte er auf dem Boden zusammen und nickte grimmig.

„Du hast Recht.“

Isarion legte eine Hand auf den Arm Nefer-meryts. Sie hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Tränen quollen hervor. Dann hörte sie plötzlich leises Murmeln, Isarion riss das Gerät an ihr Ohr.

„Ich lebe. Isarion, kannst du mich hören?“ Mit jedem Wort wurde die Stimme kräftiger, lauter.

Vor Erleichterung schloss sie die Augen. Nefer-meryt und die Männer sahen wie gebannt auf das Gerät.

„Schalte den Sender ein, ich bin alleine.“

Hastig drückte sie auf den Knopf. „Atlan! Bist du verletzt? Was ist passiert?“

„Ich bin nicht verletzt. Zwei der fremden Priester sind tot.“

Isarion konnte nicht sehen wie er sich noch einmal umwandte und auf das völlig zerschmolzene Hyperfunkgerät sah. Ausgebrannt sprach Atlan weiter: „Und die anderen können keinen Schaden mehr anrichten, keinen wirklichen zumindest. Sie sind nun gezwungen, hier zu leben. Sie können nicht mehr zurück.“

„Ich verstehe nicht. Was meinst du damit?“ Hepetre starrte auf das Funkgerät.

„Später. Ich bin auf dem Rückweg. Ich brauche ein Bad und Ruhe.“

Tage später saß er mit Isarion in seinem Arbeitsraum. Atlan hatte alle nötigen Erklärungen gegeben, seine Freunde beruhigt und des Nachts Nefer-meryt getröstet. Und er hatte die Schweigsamkeit Isarions bemerkt, ebenso wie ihre Blicke auf ihn, wenn sie glaubte, er sähe es nicht.

„Willst du mir nicht sagen, was dich beschäftigt?“

Zu seiner Überraschung nickte sie sofort.

„Ich habe Angst.“

„Wovor? Isarion, ich weiß, dass ich dich praktisch dazu gezwungen habe, Neter-nacht und Hepetre zu offenbaren, dass du nicht irgendeine Tuschemalerin bist. Doch sie haben dir doch zugesagt, dass sie dieses Wissen für sich behalten werden. Du brauchst nicht …“

Atlan verstummte, als sie kräftig mit dem Kopf schüttelte.

„Nein, das ist es nicht. Es hätte mir nicht gefallen, mein Leben ändern zu müssen, aber dann wäre es eben so gewesen.“

Außerdem hätte sie jederzeit sterben können, wenn ihr dieses Leben nicht mehr gepasst hätte.

„Wovor hast du dann Angst? Die Priester?“

Wieder schüttelte sie den Kopf. „Nein. Obwohl sie vermutlich weiterhin versuchen werden, Ärger zu machen. Aus Rache, oder einfach nur um eigene Vorteile zu bekommen. Aber da sie keine Verbindung mehr mit ihrer Welt aufnehmen können, sind sie ungefährlich. Irgendwann werden sie sterben und das war es dann.“

Und Atlan würde ihnen sicher keine Möglichkeit geben, von dieser Welt zu fliehen. Höchstens als seine Gefangenen.

„Tut mir leid. Dann wüsste ich nichts mehr.“

Einen Moment sah sie ihn nachdenklich an, konnte er es wirklich nicht erraten? Nach allem was geschehen war?

„Du bist es“, sagte Isarion schließlich, als er sie nur ratlos ansah.

„Ich? Du hast vor mir Angst? Warum?“

„Liegt das nicht auf der Hand?“

Verblüfft sah Atlan sie an. „Nein.“

Seufzend machte sie es sich bequemer und sah zu ihm hoch. Wie meist saß sie auf dem Fußboden während er die Sessel bevorzugte. Schon mehrmals hatte er ihr erklärt, es würde ihm gar nicht gefallen wenn sie praktisch vor ihm kniete. Isarion hatte nur gelächelt und gemeint, das wäre völlig in Ordnung, sie fände den Fußboden gemütlicher. Was absolut stimmte.

Jetzt zog sie die Knie an und legte das Kinn darauf. „Du hast mir erzählt, dass die fremden Priester zwar zufällig und unbeabsichtigt hier gelandet sind, aber ihre Welt benachrichtigen wollten. Sie wären abgeholt worden und dann wäre unsere Welt ihnen bekannt gewesen. Sie wären wiedergekommen. Als Eroberer! Sie hätten uns versklavt und unsere Welt ausgebeutet.“

Atlan nickte und sie sah, dass er immer noch nicht verstand worauf sie hinaus wollte. Leise fuhr Isarion fort: „Ich weiß nicht, wie und warum du hierhergekommen bist. Ich habe dich bis jetzt nicht danach gefragt – und ich werde dich nicht danach fragen. Wenn du bereit wärest, darüber zu sprechen, hättest du es längst getan. Aber irgendwann wirst du wieder gehen. Und davor habe ich Angst.“

Sie sah, wie er die Stirn runzelte. Atlan hatte die letzten Tage in einer stillen Verzweiflung verbracht. So nah war die Möglichkeit gewesen, Arkon zu erreichen, und er hatte – wieder einmal - verloren. Er konnte diese Welt nicht verlassen. Doch das konnte diese junge Frau ja nicht wissen. Doch warum hatte sie Angst davor, dass er ging?

„Isarion“, er sprach vorsichtig. „Du weißt, dass ich Nefer-meryt liebe. Und ich hatte nie den Eindruck, dass du mich … Ich meine …“

Ihr fassungsloses Gesicht, der offenstehende Mund, ließen ihn verstummen.

„Bei Atums Atem, nein.“ Sie kicherte plötzlich los, schlug sich die Hände vor den Mund und versuchte verzweifelt, den Lachanfall zu unterdrücken. Seine verlegene Miene war aber auch zu köstlich!

„Atlan, ich bin ganz gewiss nicht in dich verliebt und habe auch nicht den geringsten Wunsch mit dir … bei dir zu liegen. Ganz gewiss nicht.“

Sie schüttelte sich kurz.

„Also so abstoßend bin ich ja nun hoffentlich auch nicht.“ Seine Stimme klang fast beleidigt, was Isarion wieder zum Kichern brachte. Hastig verschluckte sie es und brachte es fertig, ein wenig schuldbewusst auszusehen.

„Das galt nicht dir. Ich wollte dich damit nicht beleidigen.“ Wieder zuckten ihre Mundwinkel belustigt.

„Hör auf, dich über mich zu amüsieren. Ich bin nicht beleidigt. Ich kann durchaus mit der Ablehnung einer Frau leben.“

„Es beleidigt dich trotzdem. Männer vertragen es nicht, wenn sie unverblümt gesagt bekommen, dass eine Frau kein Interesse an ihnen hat.“

Atlan knurrte nur, was sie erneut zum Lachen brachte. Dann schüttelte sie jedoch energisch den Kopf und wurde wieder ernst.

„Ich fürchte dein Weggehen nicht, weil ich dich dann verliere, obwohl ich dich als einen Freund betrachte. Ich habe Angst vor dem, was danach kommt.“

„Was danach kommt? Isarion, sei so gut und werde ein wenig deutlicher. Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst.“

Sie atmete tief ein und sah ihm dann in die Augen. „Vielleicht bist du zufällig hier, vielleicht auch geplant, um uns kennen zu lernen. Aber weshalb auch immer, wenn du zu deinem Volk zurückkehrst wirst du ihnen von uns erzählen. Und dann? Werden sie dir zuhören und nichts tun? Das glaubst du doch selbst nicht. Ich habe diese Fremden im Tempel gehört. Unsere Welt ist kostbar! Rohstoffe, Sklaven und was weiß ich noch. Wird dein Volk anders reagieren als diese Fremden? Werden deine Leute nicht ebenfalls kommen und uns zu Sklaven machen? Unsere Welt erobern und beherrschen und ausbeuten?“

Natürlich! Sie wusste ja nicht, dass er ein Gefangener dieser primitiven Welt war. Eine Weile starrte Atlan den Boden vor ihren Füßen an. Als er dann endlich sprach war seine Stimme eindringlich: „Nein, Isarion. Wir würden nicht als Eroberer kommen. Das würde ich niemals zulassen. Aber wir können euch helfen. Du weißt doch selbst, wie es auf deiner Welt aussieht. Wo man hinsieht herrscht Elend, Schmutz und Barbarei. Wie viele Menschen sterben an Krankheiten und Wunden, die man heilen könnte? Wie viele sinnlose Kriege werden geführt? Wir könnten euch so viele Dinge zeigen und lehren.“

„Und uns vernichten.“

Fassungslos sah er sie an. „Nein!“

„Doch“, unterbrach sie ihn. „Genau das würde geschehen. Atlan, ich weiß genau, was du mir sagen willst. Und aus deiner Sicht hast du auch Recht. Doch nicht aus unserer Sicht.“

Er runzelte die Stirn und Isarion sprach hastig weiter: „Ich weiß genau, wie viel Elend auf unserer Welt herrscht. Wir sind Barbaren. Und ein Menschenleben gilt nicht viel. Die Herrscher denken an ihre Macht und nicht daran, wie das Leben der Menschen leichter werden könnte. Und wenn neue Erfindung gemacht werden, dann im Allgemeinen nur deshalb, um mehr Macht zu bekommen und noch grausamere Kriege führen zu können.“

Sie seufzte tief und schmerzlich auf. „Und du hast Recht, es gibt unzählige Krankheiten, die man heilen könnte, wenn das Wissen darum vorhanden wäre. Mit vierzig sind die meisten Menschen alt und verbraucht. All dies könntet ihr ändern. Und ihr würdet uns damit vernichten.“

Als er antworten wollte brachte Isarion ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Du verstehst nicht, warum. Ich will es dir sagen. Weil dies hier, dieses ganze Elend, die Grausamkeit, die sinnlosen Kriege und so weiter … weil dies unser Weg ist, uns zu entwickeln, zu lernen. Ist dein Volk schon immer weise und klug gewesen? Ihr habt euch das Wissen langsam angeeignet, nehme ich an. So wie wir es derzeit tun. Es wird noch lange dauern bis wir genug gelernt haben, um zu erkennen, dass Kriege unsinnig sind. Dass man gemeinsam viel mehr erreichen kann. Das stimmt alles. Doch wir brauchen diese Zeit, egal wie schlimm es deshalb auf der Welt zugeht.“

Sie sah ihn an, würde – konnte er begreifen?

„Wir würden euch dabei helfen können. Isarion, ich versuche doch genau das Gleiche. Ich zeige den Handwerkern neue Möglichkeiten, ich versuche den Ärzten zu zeigen, wie sie Krankheiten und Wunden heilen können. Was soll daran schlimm sein?“

„Nichts. Das was du tust bewundere ich, das weißt du. Doch dein Volk würde nicht so handeln wie du. Nein, lass mich ausreden. Ich will dir erklären, was ich meine.“

Atlan nickte, schenkte sich und ihr Wein ein und lehnte sich zurück. Einen Moment sammelte Isarion sich, suchte nach den passenden Worten, ehe sie leise zu sprechen begann.

„Du zeigst Möglichkeiten, aber es bleibt jedem Handwerker selbst überlassen, ob er diese Möglichkeiten annimmt oder nicht. Du zwingst niemanden. Das ist der Unterschied, den ich meine. Wenn dein Volk hierher kommt, werden es viele sein. Sie werden zu den Herrschern gehen, nicht zu dem Volk. Manch einer dieser Herrscher wird erkennen, dass er viel mehr Macht bekommen kann, wenn er sich mit den Fremden verbündet. Andere jedoch nicht.

Würde dein Volk das akzeptieren? Oder würden sie nicht – wenn nötig mit Gewalt – dafür sorgen, dass ihre Wünsche erfüllt werden? Von mir aus auch mit Intrigen. Aber das Ende wäre immer dasselbe. Dein Volk würde dafür sorgen, dass die Herrscher sich ihnen fügen. Ihr würdet über uns herrschen, wir würden so leben, so denken müssen, wie ihr es für richtig haltet. Wir wären entweder Sklaven, die gezwungen werden, euren Befehlen zu gehorchen – oder Schatten.“

„Schatten? Was meinst du damit?“

Isarion lachte bitter auf: „Selbst wenn ihr so großmütig wäret, uns unsere eigenen Herrscher zu lassen – ihr würdet unsere Welt formen. Was ist richtig und was ist falsch – welche Gesetze gelten – all das würde nur noch von euch kommen. Wir würden aufhören selbst zu denken, uns weiterzuentwickeln. Denn aller Fortschritt käme von euch. Wir würden versuchen, so zu werden wie ihr.

Und das können wir niemals werden. Denn ihr würdet es nicht zulassen. Oder willst du behaupten, dein Volk würde tatenlos zusehen, wie ein anderes Volk genauso klug und damit auch genauso mächtig wird wie ihr? Ihr würdet niemals zulassen, dass wir zu einer Konkurrenz werden. Wir würden also immer nur Schatten – Abbilder von euch bleiben.

Unsere eigene Entwicklung – wo immer sie auch hinführen würde, wäre zu Ende. Das meine ich damit, dass ihr uns vernichten würdet. Wir wären keine Menschen mehr, sondern Kopien von euch. Schwache Kopien wohlgemerkt.“

Atlan schwieg. Auch wenn sich alles in ihm dagegen sträubte, Isarion hatte Recht. Die Kolonien in dem großen arkonidischen Reich besaßen keine Eigenständigkeit. Viele durften zwar ihre inneren Angelegenheiten selbst regeln, aber nur solange dies nicht gegen die Interessen Arkons verstieß.

Dennoch: Elend und Hunger gab es auf keiner der Kolonien. War das nicht schon Berechtigung genug, um den Fortschritt auch hierher zu bringen?

„Ihr macht doch nichts anderes. Sieh den Pharao an. Warum hat er die letzten zwei eigenständigen Städte hier am Nil unter seine Herrschaft gebracht? Dadurch, dass sie ihre Eigenständigkeit verloren haben, hat er erst die Voraussetzungen geschaffen, dass es überhaupt zu Fortschritt kommen kann. Nur ein großes, mächtiges Reich kann sich weiterentwickeln.“

„Stimmt“, Isarion nickte. „Natürlich hast du Recht. Aber dies geschieht nach unseren Regeln. Ich verdamme ja nicht, dass ihr ein Reich habt und darüber herrscht. Wir würden nicht anders handeln.“ Sie grinste leicht. „Wir sind ziemlich machtbesessen, was dir vermutlich nicht entgangen ist.“

Sie wurde wieder ernst. „Aber niemand möchte zu denen gehören, die ihr Denken aufgeben müssen. Die Menschen in Sais und Buto müssen das aber nicht einmal. Sie werden kaum merken, dass nun ein anderer über sie herrscht. Die Unterschiede sind viel zu gering dafür.“

Sie lehnte sich an einen der schweren Sessel und streckte die Beine aus, ehe sie weiter sprach: „Aber wenn ihr hierher kommt, müssen wir innerhalb sehr kurzer Zeit, vermutlich nur in wenigen Jahren, einen Entwicklungssprung von einer derartigen Größe machen, dass es unsere eigene Kultur vernichten wird.“

Nachdenklich sah sie ihn an. „Wie viel weißt du von unserer Welt? Du brauchst dich doch nur hier bei uns umzusehen. Die Kriegszüge weit in den Süden, wo die dunkelhäutigen Menschen leben. Wäre es leichter dorthin zu kommen, würde der Pharao sie unterwerfen. Ihre Kultur ist der des Nillandes weit unterlegen. Wir würden sie vernichten und ihnen unsere Kultur aufzwingen.“

Sie seufzte auf. „Genau dies wird immer wieder geschehen. Bis irgendwann aus vielen einzelnen Völkern wenige große Volksgebilde werden. Und vielleicht wird die Menschheit irgendwann in ferner Zukunft sogar zu einem einzigen Volk werden. Aber damit genau dies geschehen kann, darf uns nicht vorher eine fremde Kultur aufgezwungen werden.“

Atlan zog die Stirn zusammen. „Du widersprichst dir. So lange es sich um Menschen handelt, ist diese Entwicklung richtig, und sobald wir hinzukommen falsch?“

„Oh nein, du siehst den kleinen Unterschied nicht. Menschen unter sich können gleich stark werden. Auch wenn es schmerzt, dass viele Kulturen gewaltsam untergehen werden, die Menschen dieser Kulturen können in der neuen Entwicklung aufgehen und genauso anerkannt werden wie diejenigen, die diese Kultur bringen. Auch wenn dies oftmals erst nach langer Zeit möglich ist. Aber ihr würdet genau das verhindern. Wir könnten nie so werden wie Arkoniden, das würdet ihr nicht zulassen.“

Atlan begriff. Man konnte es auf einen kleinen Satz dezimieren: Isarion befürchtete, dass aus ihrer Welt eine Kolonie wurde, die auf ewig von Arkon abhängig sein würde.

„Dann wundert es mich, dass du so erleichtert warst, als ich den Tempel lebend verlassen habe. Du müsstest dir doch wünschen, ich wäre dort getötet worden. Dann hätten sich deine Sorgen erübrigt.“

Er sah, wie sie blass wurde. Isarion senkte den Blick. „Vom Verstand her müsste ich das, ja“, gab sie leise zu. „Aber ich kann nicht so denken und schon gar nicht so fühlen. Bei den falschen Priestern ist das anders. Sie haben kalt zugegeben, dass sie in uns nichts anderes sehen als Beute. Du bist anders.“

Sie hob den Blick wieder zu ihm auf. „Ich sehe jeden Tag, wie du versuchst zu helfen, ohne Zwang auszuüben. Ich weiß nicht, über wie viele Mittel du verfügst, aber alleine das, was ich bis jetzt gesehen habe, genügt. Wenn du wolltest, könntest du dich zum Herrscher hier aufschwingen. Doch du tust es nicht, und ich glaube auch nicht, dass du etwas Derartiges vorhast.“

Sie presste die Lippen aufeinander. „Und ich bin nicht gefühllos genug, um jemandem den Tod zu wünschen, der Gutes tut. Nur weil er vielleicht die Ursache dafür sein wird, dass einmal Unheil über uns kommt. Das kann ich einfach nicht.“

Isarion atmete zitternd ein. „Ich kann dich nur bitten, uns zu schonen. Ich weiß nicht, welche Möglichkeiten du hast. Aber vielleicht kannst du verhindern, dass dein Volk hierher kommt.“ Sie sah ihn flehend an. „Ich bitte dich darum, darüber nachzudenken. Es macht mir nichts aus zu flehen, von mir aus zu betteln. Doch wenn es dir möglich sein sollte, dann vernichte uns nicht, wenn du nach Hause zurückgehst. Gib uns eine Chance.“

Eine ganze Weile war es still im Raum. Isarion schwieg. Sie hatte alles gesagt, was es zu sagen gab. Obwohl ihr Verstand sich aufbäumte, sie konnte nicht anders handeln. Logik und Verstand waren nicht alles. Im Gegenteil, manchmal waren diese „Ratgeber“ einfach zu unmenschlich. Atlan war ein guter Mensch, er war weder grausam noch machtgierig. Sie konnte nicht gegen jemanden agieren, der so handelte wie er. Das war ihr einfach nicht möglich, auch wenn die Angst vor dem, was er vielleicht bringen würde, ihr das Herz abdrückte. Ganz abgesehen davon, dass sie sowieso nicht die geringste Chance gegen ihn haben würde.

Atlan strich sich über die Stirn. „Versprechen kann ich dir nichts. Aber du hast mich sehr nachdenklich gemacht, Isarion. Ich werde über deine Worte nachdenken. Sehr lange sogar.“ Er traf eine Entscheidung und sprach weiter: „Und vorerst besteht für deine Menschheit ohnehin keine Gefahr. Ich kann nicht nach Arkon zurück.“

Ihre Augen zogen sich verwirrt zusammen. „Was meinst du damit?“

Er drehte den leeren Pokal in seinen Händen, bis sie sich erbarmte und ihm Wein nachschenkte. Leise und manchmal stockend – noch immer schmerzte die Verzweiflung darüber, wie nah er einer Rückkehr nach Arkon gewesen war – berichtete Atlan ihr, wie lange er schon auf diesem Planeten war und warum. Mit immer größer werdenden Augen hörte Isarion ihm stumm zu. Nachdem er tief aufatmend geendet hatte, standen Tränen in ihren Augen.

„Du bist ein Gefangener hier. Diese Welt ist für dich ein Gefängnis. Ein riesiges zwar, aber das ändert nichts daran“, brachte sie erstickt heraus. „Wenn der Sender im Tempel funktioniert hätte, wäre es endlich eine Chance für dich gewesen, hier weg zu kommen.“

Er nickte nur. Zaghaft streckte sie die Hand aus und berührte seine Brust. Atlan verstand und zeigte ihr den als Amulett getarnten Zellaktivator. Isarion schüttelte sich.

„Unsterblich! Du wirst nie älter?“

„Nein.“

Wie viele Unmöglichkeiten gab es eigentlich noch in diesem Universum? Andere Wesen, die so aussahen wie Menschen. Sie selbst, auf eine völlig unglaubliche Art immer wieder sterbend und doch weiterlebend. Und nun dies: Jemand, der ein Gerät trug, das das Altern verhinderte. Und damit das Sterben! Außer durch Gewalt.

Aber Atlan konnte sterben – im Gegensatz zu ihr. Was er sagen würde, wenn sie ihm gestehen würde, dass sie ihn darum beneidete? So interessant es einerseits war, immer wieder zu leben – hätte Isarion die Möglichkeit dazu, sie würde sofort den Tod wählen. Wenn er endgültig wäre! Doch sie schwieg. Sie hätte keinen Grund dafür angeben können, aber irgendetwas in ihr wehrte sich dagegen, nun ihrerseits ihr Geheimnis zu lüften.

In den nächsten Wochen erfuhr sie noch mehr über Atlan. Es schien, als sei es eine Befreiung für ihn, offen sprechen zu können. Sie erfuhr von den Jahrhunderte andauernden Schlafpausen in der Unterwasserkuppel, nur unterbrochen, wenn die Messgeräte einen Impuls auffingen, der eventuell eine Chance auf Heimkehr bedeutete.

Und als er – Wochen später – eines Nachts spurlos verschwand, wusste Isarion, dass er zurückgekehrt war in die Einsamkeit unter dem Meer.

Neuzeit

Nur noch zweimal traf sie im Laufe der Jahrtausende auf den Unsterblichen. Obwohl sie seitdem in jedem ihrer unzähligen Leben nach Hinweisen auf ihn suchte. Doch wenn sie überlegte, welch lange Zeiträume er im Todesschlaf in der Kuppel verbrachte, und wie viele Orte auf der Welt es gab, in denen er auftauchen konnte, für wenige Monate oder Jahre, dann war es eher überraschend, dass sie ihn überhaupt wiedersah. Beim ersten Mal hatte sie sich nicht zu erkennen gegeben. Aber bei ihrem zweiten Wiedersehen hatte er dann auch ihr Geheimnis erfahren – hatte erfahren, dass auch sie eine Art der „Unsterblichkeit“ besaß.

Sheena trank langsam den letzten Schluck Wein. Niemals hatte sie vergessen, welches Opfer dieser Mann gebracht hatte, um die Erde und die Menschheit zu schützen. Damals in der Oase, tausende Jahre nach ihrem Leben in Memphis. Atlan hätte nach Hause zurückkehren können – und hatte darauf verzichtet. Weil er dann die Menschheit hätte preisgeben müssen, sie wären eine Kolonie geworden.

Doch er hatte die Menschen immer nur geschützt. Sie waren keine Schatten geworden. Die Menschheit hatte sich entwickeln können und war nun bereit, sich zu den Völkern dazuzugesellen, die den Weg ins Universum schon gefunden hatten. Diese Entwicklung war nur möglich gewesen, weil Atlan sie geschont hatte.

Und jetzt wurde er von eben dieser Menschheit gefangen gehalten!

Als Sheena vor vier Jahren aufgewacht war und festgestellt hatte, dass die Entwicklung der Menschheit inzwischen das Raumfahrtzeitalter erreicht hatte, hatte sie kurz an den ewigen Wanderer durch die Zeiten gedacht. Jetzt konnte er endlich nach Hause gehen – unerkannt und damit ohne Gefahr für die Menschen. Sie hatte angenommen, dass er Terra schon längst verlassen hatte. Immerhin gab es ja schon seit einigen Jahrzehnten die intergalaktische Raumfahrt.

Sie selbst hatte die turbulente Zeit, in der diese Entwicklung vonstattengegangen war, nicht miterlebt. Sie war vorher gestorben. Und sie war sehr dankbar dafür, denn diese Jahre fielen in die Zeitspanne ihres ursprünglichen Lebens …

Rasch wandte Sheena ihre Gedanken wieder Atlan zu. Sie blickte auf den Monitor, las die zugänglichen Informationen eine zweites und auch noch ein drittes Mal. Es war einfach zu wenig, um erraten zu können, was nun wirklich im Einzelnen geschehen war.

Ein Gedanke formte sich in ihrem Kopf, sie drehte und wendete ihn, überlegte hin und her: Welche Möglichkeiten gab es, dies zu verwirklichen, welche Chancen hatte sie überhaupt? Sie würde viel dem Zufall überlassen müssen, aber vielleicht war es tatsächlich möglich.

Natürlich würde der Solare Geheimdienst auf sie aufmerksam werden, und Geheimdienste gehörten ihrer Meinung nach zu den schlimmsten Plagen der Menschheit. Sie würde – danach – wohl wieder einmal sterben müssen, um diesen Leuten zu entgehen. Eigentlich schade, diese Zeit war viel zu interessant, um vorzeitig verschwinden zu müssen.

Am nächsten Morgen hinterließ Sheena ihrer Freundin eine Nachricht, in der sie sie bat, weiterhin auf ihre Wohnung zu achten. Sie marschierte in das Büro ihres Chefs und erklärte ihm, dass sie eine wichtige Nachricht bekommen hätte. Natürlich sei sie gerade erst zurückgekommen, doch sie müsste sofort weg. Nach einer kurzen Debatte kündigte sie einfach, griff nach ihrer Tasche und machte sich auf den Weg zum interplanetaren Flug- und Raumhafen.

Zehn Stunden später saß sie in einem gemütlichen Zimmer fast im Zentrum von Terrania City. Und nach wenigen Tagen wusste Sheena, wie sie mit Atlan Kontakt aufnehmen konnte. Fast drei Wochen lang mischte sie sich immer wieder unter die Studenten, die sich Atlans regelmäßige Vorträge anhörten. Doch sie hörte kaum zu, sie beobachtete und studierte die Wachen, die Studenten, die Umgebung.

Am nächsten Tag machte sie sich schon sehr früh auf dem Weg. So gelang es ihr, recht weit vorne zu stehen, nur wenige Meter von dem kleinen Podium entfernt. Sheena beobachtete den weißhaarigen Mann und seine Umgebung genau. Mehrere Wachen begleiteten ihn, allerdings machte es – wie immer - eher den Eindruck, als ob sie ihn vor den begeisterten Studenten beschützen müssten, als dass sie ihn bewachten.

Als die übliche Diskussion nach dem Vortrag begann, drängte sie sich mit einigen Studenten immer weiter nach vorne. Viele – vor allem Mädchen – versuchten, in seine unmittelbare Nähe zu gelangen. Immer wieder wurden sie von den Wachen zurückgedrängt.

Sheena machte zwei kleine Schritte nach vorne, schob sich an einer der Wachen vorbei – der Mann war gerade damit beschäftigt, ein fast hysterisches Mädchen zurückzuhalten, die immer wieder lautstark nach Freiheit für Atlan verlangte – und griff hastig nach Atlans Hand. Ein erstaunter Blick traf sie, eine andere Wache griff nach ihr: „Zurück! Verdammt Mädchen, bleib zurück. Dass ihr einfach nicht hören könnt!“

Sie grinste den Mann frech an: „Freiheit für den Arkoniden!“ ließ sich jedoch bereitwillig wieder in die Menge zurückschieben. Ihr Ziel hatte sie erreicht. In Atlans Hand lag nun die Nachricht, die sie für ihn geschrieben hatte. Am selben Tag noch sandte sie selbst ein Gesuch ab, in dem sie dringend um ein Gespräch mit dem Arkoniden bat. Sheena machte deutlich, dass sie über Informationen bzw. Möglichkeiten verfügte, die zu einer Einigung mit Atlan führen würden.

Sie wartete drei Tage – wer wusste schon, wie lange die Bürokratie hier brauchte? Endlich beendete der durchdringende Ton des Summers ihr immer ungeduldigeres Warten. Sheena öffnete die Tür. Zwei Männer standen davor, in ihren Händen lagen die Ausweise, auf denen das Abzeichen der Solaren Abwehr prangte.

„Na endlich. Brauchen Sie eigentlich immer so lange, ehe Sie reagieren? Kommen Sie herein, ich hole nur meine Jacke.“

Verdutzt sahen die Männer sie an und folgten ihr eilig in das Zimmer. „Sie haben uns erwartet?“

„Ich warte seit drei Tagen, Verehrtester. Man sollte meinen, Ihre Leute würden etwas schneller reagieren, wenn es um den Arkoniden geht“, knurrte Sheena missmutig.

Wieder warfen sich die Männer einen Blick zu. Sie hatten mit vielem gerechnet, aber nicht mit diesem Empfang. Bereitwillig stieg die junge Frau in den Gleiter. Erst danach fragte sie: „Wohin bringen Sie mich? Ich hoffe zu Atlan.“

„Wir bringen Sie ins Hauptquartier. Dort werden Sie alles andere erfahren.“

Sheena stöhnte auf. „Machen Sie jetzt absichtlich auf geheimnisvoll, oder sind Sie tatsächlich nur die Laufburschen, die keine Ahnung haben, worum es geht?“

„Lauf…“ Dem Mann verschlug es die Sprache. „Miss, falls es Ihnen entgangen sein sollte. Wir sind von der Solaren Abwehr.“

„Das ist mir nicht entgangen. Na und? Deswegen können Sie doch trotzdem Laufburschen sein.“

Deutlich kühl und distanziert wandte sich nun der zweite Mann an sie. „Solarmarschall Mercant wird mit Ihnen sprechen. Genügt Ihnen das?“

Sheena seufzte als Antwort nur und murmelte: „Lässt sich vermutlich nicht umgehen.“ Sie hatte zwar gehofft, aber nicht wirklich damit gerechnet, dass man sie sofort mit Atlan sprechen ließ. Wo Geheimdienste ihre Finger im Spiel hatten, wurde immer alles so kompliziert wie möglich gehandhabt.

Sie mochte solche Leute nicht!

Man führte sie in ein Büro, das sich auf den ersten Blick in nichts von irgendeinem anderen Büro unterschied: Tische und Sessel in langweiligen, sogenannten neutralen Farben – weiß und grau. Einige Monitore und Bildschirme, ein nichtssagendes Bild an der Wand. Drei Männer waren in dem Raum. Einer erhob sich als sie eintrat. Nicht besonders groß, mit einem runden, freundlichen Gesicht.

„Miss Kereen, nehme ich an. Solarmarschall Mercant“, stellte er sich vor. „Bitte nehmen Sie doch Platz.“

Er klang freundlich distanziert, der Blick seiner Augen war jedoch scharf wie ein Skalpell. Sheena zuckte die Schultern, runzelte jedoch die Stirn, als sie sich setzte.

„Ich hatte um ein Gespräch mit Atlan gebeten, und ich bin sicher, dass er ebenfalls darum ersucht hat. Wenn Sie auch nur das geringste Interesse daran haben, diese ohnehin völlig idiotische Gefangenschaft zu beenden, lassen Sie mich endlich mit ihm reden.“

„Sie haben in Ihrem Gesuch mitgeteilt, dass Sie Informationen über Atlan besitzen. Wir würden diese gerne hören.“

„Bedaure.“ Kühl sah sie den Chef der terranischen Geheimdienste an. „Ich bin nicht hier, um Ihre Neugierde zu befriedigen. Ich bin hier, weil ich weiß, welche Unverschämtheit es ist, diesen Mann gefangen zu halten. Und weil ich sicher bin, dass ich dazu beitragen kann, dies zu beenden. Aber dazu muss ich mit Atlan persönlich sprechen.“

Mercant nickte. „Wir sind sehr daran interessiert, mit Atlan zu einer Einigung zu kommen. Bedauerlicherweise ist er absolut nicht kooperationsbereit. Sagen Sie uns, wie sie sich das Gespräch mit ihm vorstellen. Was wollen Sie ihm sagen?“

Sheena schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will mit ihm sprechen, nicht mit Ihnen. Sie werden mit Sicherheit verhindern, dass ich ohne Zeugen mit Atlan sprechen kann. Von mir aus, hören Sie zu. Aber ich werde Ihnen nichts von oder über Atlan berichten. Was er von sich preisgeben will, ist einzig und allein seine Sache.“

Sie sah kurz den Unmut in seinen Augen aufblitzen. Mercants Tonfall wurde etwas schärfer. „Miss Kereen, ist Ihnen überhaupt klar, welche Gefahr dieser Mann für uns darstellt? Gleichgültig, ob er nun beabsichtigt, uns an Arkon zu verraten oder nicht. Wenn er Arkon erreicht wird der Robotregent erfahren, dass Terra noch existiert.“

„Das ist mir durchaus bewusst.“ Sheena sprach leise. „Und ich weiß auch, dass dies nicht geschehen darf. Ich habe mir alle Informationen geholt, die allgemein zugänglich sind.“

Sie lehnte sich zurück, ihre Stimme wurde jetzt eindringlich. „Aber ich weiß – und bitte beachten Sie, dass ich das Wort wissen benutze und nicht das Wort glauben – ich weiß, dass Atlan uns niemals verraten würde. In den veröffentlichten Informationen gibt es einiges, das für mich unerklärlich ist, einfach völlig unstimmig. Irgendwo, irgendwie stimmt hier etwas nicht, und wenn ich mit Atlan sprechen kann, werde ich erfahren, was das ist. Atlan würde niemals Informationen über uns an den Robotregenten auf Arkon weitergeben.“

Jetzt seufzte Mercant, es störte ihn nicht besonders, dass die Frau sich so schweigsam gab, was klare Informationen anging. John Marschall und Gucky saßen im Nebenzimmer, sie würden alles erfahren, was sie nicht sagen wollte. Aber die Sicherheit, mit der sie über Atlan sprach, irritierte ihn. Seine Leute hatten die junge Frau überprüft, und ihre Vergangenheit oder vielmehr ihre fehlende Vergangenheit störte ihn gewaltig.

Ihr Lebenslauf in den letzten vier Jahren war völlig gewöhnlich, nichts deutete darauf hin, dass sie Atlan irgendwann in dieser Zeit begegnet war. Also musste dies vorher geschehen sein. Niemand wusste, wie lange der Mann schon auf Terra war. Aber wie konnte Sheena Kereen etwas über Atlan wissen, wenn sie alles vergessen hatte, was länger als vier Jahre her war?

„Genau das ist unser Problem, Miss Kereen. Atlan ist anscheinend nicht bereit zu glauben, dass der Robotregent der eigentliche Machthaber auf Arkon ist.“

Irritiert runzelte Sheena die Stirn. Wenn Atlan tatsächlich nicht schon in den letzten Jahrzehnten nach Arkon zurückgekehrt war, wie sie angenommen hatte, sondern es jetzt erst versuchte – dann konnte er natürlich von dieser Entwicklung nichts wissen. Aber warum sollte er es nicht glauben?

„Das verstehe ich nicht.“ Sie blickte Mercant verwundert an. „Warum sollte Atlan sich weigern, eine Tatsache anzuerkennen? Ich habe gelesen, dass es Filme usw. über Arkon gibt. Sollte sich damit nicht eindeutig beweisen lassen, was auf Arkon los ist?“

Zum ersten Mal erkannte sie eine deutliche Reaktion in der Miene des Geheimdienstchefs. Er schien einigermaßen verlegen zu sein. „Atlan hat diese Beweise nicht gesehen.“

Verblüfft sah Sheena ihn an. „Warum nicht?“

Mercant hüstelte. „Nun. Sie müssen verstehen … Es wurde in der Öffentlichkeit nicht übermäßig bekannt gemacht, um die Menschheit nicht zu verunsichern. Aber der Administrator und einige andere von uns waren in den letzten Wochen – nun – nicht zu erreichen.“

„Und? Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun?“

„Wir waren nicht auf Terra.“

„Ja, ich weiß, das wurde veröffentlicht. Aber was hat das mit Atlan zu tun?“ Sheena stutzte. „Diese Beweise, Sie hatten sie bei sich? Sie waren nicht verfügbar, um sie Atlan zu geben?“

„Das nicht. Sie sind und waren hier auf Terra in sicherem Gewahrsam. Aber diese Unterlagen sind, wie sie sicher verstehen können, streng geheim. Keiner von den zuständigen Personen war erreichbar, um diese Geheimhaltung zumindest für Atlan aufheben zu können.“

Einen Moment lang starrte Sheena den Mann nur an. Dann schüttelte sie ungläubig den Kopf, das konnte doch nicht wahr sein.

„Moment, Sir. Einen Moment. Nur damit ich das richtig verstehe. Sie wollen mir sagen, dass ihre Leute Atlan nur deshalb wochenlang gefangen hielten, weil auf diesen Unterlagen ein dämlicher Stempel mit dem Wörtchen „geheim“ draufsteht?“ Ihre Stimme war langsam immer lauter und empörter geworden.

Mercant blickte sie noch immer völlig ruhig an.

„Miss Kereen, unsere Vorschriften sind gut durchdacht, und ich glaube nicht …“ Er konnte nicht weitersprechen.

Sheena war aufgesprungen, ihre Augen schleuderten Blitze und ihre Stimme bebte vor verhaltener Wut: „Ihre idiotischen Vorschriften können Sie sich meinetwegen sonst wohin stecken. Was bilden Sie sich eigentlich ein? Wie kommen Sie dazu, ein derartiges Handeln auch noch zu unterstützen? Oh natürlich, ich vergaß, dass für jemanden wie Sie ganz normales, menschliches Handeln vermutlich unbekannt ist. Und ihre Leute denken wie Sie oder sind vermutlich viel zu dämlich, um selbst zu denken. Da gibt es eine Vorschrift, und niemand denkt auch nur eine Sekunde darüber nach, ob diese Vorschrift sinnvoll ist oder nicht. Hauptsache, es steht auf dem Papier, so kann man sich wunderbar aus jeder Verantwortung herausreden. Es war ja Vorschrift. Dass es unmenschlich ist, unverantwortlich und einfach empörend, diesen Mann wegen irgendwelcher bescheuerten Vorschriften über Wochen und Monate gefangen zu halten, ist ja völlig uninteressant.“

Sheena holte tief Luft. Mercant öffnete den Mund, doch sie schnitt ihm wieder einfach das Wort ab. „Ich bin noch nicht fertig, und Sie werden mir zuhören. Mir ist es völlig egal, ob Sie sich hinter ihre dämlichen Gesetze und Vorschriften verstecken. Geheimdienste!“ Sie spuckte das Wort regelrecht aus.

Fast kamen ihr die Tränen vor Wut und Enttäuschung. „Und ich Idiot habe tatsächlich geglaubt, es hätte sich etwas geändert. Dass es endlich mal jemanden gibt, der weiter denkt als bis zur nächsten Wahl. Sie und dieser Rhodan sind doch in Wirklichkeit genauso machtbesessen wie jede andere Regierung bisher. Nur dass ihr verdammter Administrator sich besser verkaufen kann. Reden halten, das kann er. Und ich Trottel habe es auch noch geglaubt. Menschlichkeit und Miteinander sollen nun im Vordergrund stehen, hat er das nicht letztens erst gesagt? Wenn Perry Rhodan diese bescheuerten Vorschriften auch noch gut findet, ist er ein Idiot. Er sollte Atlan lieber die Füße küssen, als ihn gefangen zu halten!“

Die letzten Worte hatte sie fast heraus geschrien, sie atmete keuchend wie nach einem langen und schnellen Lauf. Mercant sah sie sprachlos an, sein Gesicht war inzwischen zornrot. In ihrer Empörung hatte Sheena nicht mitbekommen, dass sich hinter ihr eine Tür geöffnet hatte. Ein Mann war hereingekommen und nach zwei Schritten erstaunt stehen geblieben. Eine rasche Handbewegung hatte verhindert, dass die Männer aufstanden. Interessiert hatte er dem Wortschwall der jungen Frau zugehört.

Langsam trat er nun näher, und bevor Mercant reagieren konnte, ergriff er nun das Wort. Sheena hörte plötzlich eine tiefe Stimme hinter sich, die völlig ruhig sagte: „Dazu müsste der Idiot allerdings erst einmal wissen, wo Atlan sich aufhält.“

Sie fuhr herum, starrte den schlanken, hochgewachsenen Mann an und schloss dann kurz die Augen. Hinter dem Ankömmling trat nun ein zweiter Mann ein, etwas kleiner, mit rostroten Haaren. Er blieb stumm, musterte die junge Frau jedoch neugierig.

Resigniert ließ Sheena die Schultern sinken und murmelte: „Ganz toll hast du das wieder hingebracht. Statt Atlan zu helfen, redest du dich mal wieder um Kopf und Kragen.“

Sie legte den Kopf schräg und sah den Administrator aus zusammengekniffenen Augen an: „Welche Hinrichtungsart steht eigentlich auf Majestätsbeleidigung?“

Reginald Bull begann zu schmunzeln, und auch Perry Rhodans Mundwinkel zuckten verhalten. „Ich denke, wir werden auf die Hinrichtung verzichten können. Aber vielleicht können wir uns vernünftig miteinander unterhalten.“

„Das kommt ganz darauf an, was Sie unter vernünftig verstehen“, knurrte Sheena. Sie hatte entschieden, dass es völlig unsinnig wäre, jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Außerdem dachte sie gar nicht daran, sich so einfach einschüchtern zu lassen. Ihr Verhalten mochte reichlich respektlos sein, doch das war ihr inzwischen egal.

„Atlan gefangen zu halten, ist jedenfalls alles andere als vernünftig. Das ist, als wenn man ...“ sie brach ab, es viel ihr einfach kein passender Vergleich ein. Sie schüttelte den Kopf. „Das ist so irrsinnig, dass es nicht einmal ein Wort dafür gibt.“

„Setzen Sie sich doch erst einmal wieder.“ Rhodan sah ihren aufgebrachten Blick und fügte hinzu: „Bitte.“

Sheena sah ihn verblüfft an, das klang tatsächlich wie eine Bitte und nicht wie ein verkappter Befehl. Fast automatisch setzte sie sich und sah die beiden Männer an, die sich ihr gegenüber nieder ließen.

„Wissen Sie, wo der Arkonide sich aufhält?“

„Wie meinen Sie das? Das wissen Sie doch besser als ich. Sie halten ihn doch gefangen.“

„Er ist geflohen.“

„Atlan ist ... Oh!“ Sie unterdrückte mühsam das Lachen, das ihr in der Kehle saß, dennoch hörte man ihrer Stimme deutlich das schadenfrohe Vergnügen an: „Er hat Sie also ausgetrickst.“

Von Solarmarshall Mercant kam ein deutliches Schnaufen, doch Rhodan lehnte sich nur gleichmütig zurück.

„So ist es. Und wenn er unter den jetzigen Umständen Arkon erreicht, werden in wenigen Tagen arkonidische Robotflotten über Terra stehen. Sind Sie unter diesen Umständen immer noch nicht bereit, uns zu sagen, was Sie über Atlan wissen? Ich stimme Ihnen im Übrigen völlig zu, dass Atlan zwar ein Gegner, aber nicht ein Feind ist. Kennen Sie den Unterschied?“

„Er ist nicht einmal ein Gegner. Sie glauben das, und wenn es stimmt, was in den öffentlichen Nachrichten kam, kann es sein – auch wenn ich nicht weiß, warum -, dass Atlan es auch glaubt. Genau deshalb möchte ich ja mit ihm sprechen. Ich will herausfinden, was geschehen ist, dass er glaubt, unser Gegner sein zu müssen. Er war nie eine Gefahr für uns. Oder stimmen die Nachrichten nicht?“

„Welche Nachrichten meinen Sie damit?“

Sheena überlegte kurz, sie hatte nicht vor, diesem Mann mehr Informationen zu geben als unbedingt notwendig. Ihre Wut – oder besser gesagt, ihre Enttäuschung, dass die Männer hier doch genauso handelten wie alle Herrscher bisher – hatte sich noch nicht gelegt. Aber vielleicht, nur vielleicht, konnte sie ja doch etwas ausrichten.

Sie sah den Administrator fragend an. „Es heißt, Atlan wurde nach einer ‚gewaltsamen Auseinandersetzung‘ gefangen genommen. Aber ich habe keine näheren Erklärungen gefunden. Was ist wirklich geschehen?“

Rhodan runzelte kurz die Stirn. Dann nickte er. „Also gut, wir werden Ihnen – noch – entgegenkommen. Atlan hat sich mit falschen Papieren hier in Terrania eingeschleust. Es ist eindeutig, dass er versucht hat, ein Schiff zu stehlen. Er versteckte sich in einem kleinen Schiff, mit dem ich einen wichtigen Flug unternehmen musste, und versuchte, mich zu überwältigen.“

Er seufzte, als er an den unmenschlichen Kampf dachte, den sie beide beinahe nicht überlebt hätten. Als er den ungläubigen Blick der Frau sah, fügte er hinzu: „Es scheint sie zu überraschen, aber ich habe nur mit sehr viel Glück überlebt. Atlan ist ein unbarmherziger Gegner.“

Sheena konnte es kaum glauben. War Atlan so verzweifelt, dass er glaubte, so handeln zu müssen? Sie biss sich auf die Lippen. Sie hatte miterlebt, wie Atlan gehofft hatte, eine Möglichkeit zur Rückkehr nach Arkon zu finden. Und sie hatte gesehen, wie verzweifelt er auf das Scheitern reagierte. Doch er hatte nie den Tod – den gewollten und beabsichtigten Tod – eines Menschen dafür in Kauf genommen. Und in der Oase – selbst in seiner Verzweiflung hatte er die Menschen geschont. Nein, das konnte sie nicht glauben.

„Er ist kein Mörder – niemals wäre er dazu fähig. Oh, schauen Sie mich nicht so an, natürlich weiß ich, dass Atlan töten kann und auch schon getötet hat. Im Kampf. Aber er mordet nicht. Wenn er wirklich versucht hat, Sie zu töten, dann hatte er einen guten Grund dazu. Und nach Arkon zurückzukehren ist kein ausreichender Grund – nicht für Atlan, das weiß ich.“

„Sie glauben es zu wissen.“

Sie sah Perry Rhodan vernichtend an. „Ich weiß es. Sie haben keine Ahnung von Atlan – und was er für uns getan hat.“ Wieder überlegte sie. „Es gibt nur eine Möglichkeit. Es ist irgendetwas geschehen, dass Atlan die Überzeugung gebracht hat, so handeln zu müssen.“

Sie überlegte wieder. „Wenn ich mit Atlan sprechen kann, werde ich es erfahren. Bitte glauben Sie mir, er wird mir sagen oder zumindest andeuten, was geschehen ist. Vielleicht kann man es – was immer es auch ist – aus der Welt schaffen.“

„Hm, zumindest scheinen Sie mir zu glauben, das ist doch schon mal etwas“, murmelte Rhodan vor sich hin. Er schmunzelte über ihren Blick. „Nach Ihrem Wutausbruch hätte ich mir auch vorstellen können, dass Sie mich schlichtweg als Lügner bezeichnen.“

Sheena wurde rot, schüttelte aber nur stumm den Kopf.

„Sie glauben also, einen Weg zu finden, dass Atlan uns nicht mehr als Gegner ansieht und freiwillig hierbleibt? Vorausgesetzt, es gelingt uns, herauszufinden, weshalb er uns bekämpft und ihn von der Wahrheit über Arkon überzeugen können.“

„Das weiß ich nicht. Aber wenn er dennoch zurück möchte, wird er einen Weg finden, uns nicht preiszugeben.“

Rhodan schüttelte den Kopf. „Das Risiko ist mir zu hoch. Wir können Atlan nicht nach Arkon fliegen lassen.“

„Dieses Recht haben Sie nicht.“ Sheena beugte sich vor, ihr Blick war ernst und eindringlich. „Sir, kein Mensch auf dieser Welt und auch nicht die gesamte Menschheit hat das Recht, diesem Mann die Rückkehr nach Arkon zu verwehren.“

„Das ist völliger Unsinn“, polterte Mercant los. „Unsere Sicherheit …“

Rhodan hob die Hand und brachte ihn damit zum Schweigen. Sein Blick blieb dabei unverändert auf die dunklen Augen der jungen Frau gerichtet. „Um so überzeugt zu sein, müssen Sie sehr viel von Atlan wissen.“

„Es genügt, dass ich etwas Bestimmtes über ihn weiß.“

„Das muss dann etwas sehr Wichtiges sein.“

Jetzt begann Sheena zu lächeln. „Ihm dafür die Füße zu küssen, wäre nur ein geringfügiger Dank. Allerdings hat Atlan niemals Dank gefordert und wird es wohl auch nicht.“

Rhodan nickte. „Akzeptiert. Werden Sie uns dennoch helfen, ihn zu finden?“

Sheena hob die Schultern. „Ich wüsste nicht, wie. Und bevor Sie noch einmal fragen. Nein, ich weiß nicht, wo er ist. Bis eben wusste ich ja nicht einmal, dass er geflohen ist.“

„Aber Sie haben oder hatten Kontakt zu ihm?“

Sie grinste. „Sicher, in gewisser Weise jedenfalls. Ich habe ihm eine Nachricht zugeschmuggelt, dass er ein Gespräch mit mir verlangen soll. Ich dachte mir, wenn er und ich gleichzeitig danach fragen, werden Sie es eher zulassen.“

„Wie?“

„Wie was?“

„Wie haben Sie ihm diese Nachricht zukommen lassen?“

„Ganz einfach.“ Sheena berichtete bereitwillig von den Vorlesungen und dem regelmäßigen Gedränge danach.

„Hmpf“, knurrte Mercant. „Damit dürfte dann wohl auch klar sein, wer ihm bei seiner Flucht geholfen hat, denn ohne Hilfe wäre es ihm vermutlich nicht gelungen.“

Sheena wandte sich zu ihm um. „Ich nicht.“ Ihre Stimme klang nun sehr kühl.

„Nein, aber mit Hilfe dieser Vorlesungen. Und mit Sicherheit eine Frau, das wäre typisch für Mädchen.“

„Wenn Sie damit andeuten wollen, dass Frauen ein sichereres Gespür für Gerechtigkeit haben als Männer, oder zumindest als Sie selbst, dann kann ich Ihnen nur Recht geben.“ Sheena klang nun so kalt, dass es keinen gewundert hätte, wenn die Temperatur im Raum schlagartig um einige Grade fallen würde.

„Autsch“, murmelte Bully und warf Mercant einen mitfühlenden Blick zu. „Sieht aus, als würde die Lady Sie nicht besonders mögen.“

„Stimmt!“ bestätigte Sheena. „Ich mag Geheimdienste nicht und dieser Mann scheint mir ein absolut typischer Vertreter dieser Leute zu sein.“

„Haben Sie ganz allgemein etwas gegen den Geheimdienst oder gibt es dafür einen bestimmten Grund?“ Der Administrator blickte sie gleichmütig an, seine Frage schien er nur ganz beiläufig gestellt zu haben.

Sheena lachte leise und bitter auf: „Gegenfrage: Was ist der Unterschied zwischen einem Terroristen und einem Geheimdienstler?“

Rhodan zog kurz nachdenklich die Stirn zusammen, warf einen Blick auf Bully, der auch nur mit den Schultern zuckte und murmelte: „Sie werden es uns vermutlich gleich sagen.“

Die junge Frau nickte grimmig: „Ein Geheimdienstler arbeitet für eine Regierung.“

Einige Sekunden lang war es totenstill im Raum. Die Männer starrten Sheena fassungslos an. Dann begann Bully schallend zu lachen. Als sich ihre zornfunkelnden Augen auf ihn richteten, hob er rasch beide Hände in einer friedfertigen Geste.

„Der war gut. Sie werden mir immer sympathischer, Miss Kereen, das muss ich sagen.“ Er wurde wieder ernst. „Allerdings war das von Ihnen wohl kaum als Witz gemeint. Sie meinen das tatsächlich so, nicht wahr?“

„Ja!“

Rhodan musterte sie immer noch schweigend.

„Ein hartes Urteil“, meinte er schließlich. „Gibt es für uns eine Möglichkeit, dass Sie ihre Meinung vielleicht ändern?“

„Nach allem, was hier bisher geschehen ist? Die Frage ist ja wohl hoffentlich nicht ernst gemeint.“

„Vielleicht ist es besser, wir lassen dieses Thema einfach mal beiseite. Kommen wir zu Atlan zurück. Werden Sie uns helfen, ihn aufzuspüren?“

Sie hob ratlos die Schultern. „Ich wüsste nicht, wie.“

„Erzählen Sie uns, was sie über den Arkoniden wissen. Das würde uns mit Sicherheit schon helfen.“

„Nein!“ Sheena schüttelte vehement den Kopf. „Kennen Sie das alte Zitat: Geheimnisse, die nicht mein eigen …? Ich werde nicht aus dem Nähkästchen plaudern.“

Sie überlegte kurz. „Aber ich könnte vielleicht anders und besser helfen. Wenn Sie eine ungefähre Ahnung haben, in welchem Gebiet Atlan sein könnte, könnten Sie ihm eine Nachricht von mir übermitteln. Ganz allgemein ausgestrahlt, außer Atlan würde es vermutlich kaum jemand verstehen. Dazu bin ich jederzeit bereit.“

Rhodan presste die Lippen zusammen. Diese Weigerung zwang ihn zu einem Handeln, das er gerne vermieden hätte. Er drückte einen Knopf und sprach in das Mikro: „John, kommen Sie beide bitte herein.“

Die Tür zum Nebenraum öffnete sich. Ein Mann trat ins Zimmer, neben ihm eine kleine Gestalt, die auf den ersten Blick fremdartig wirkte: Gucky. Sheena wirkte einen Moment lang verwirrt, dann begann sie zu verstehen, wer bzw. was der Mann vor ihr war.

„Sie verdammter Bastard!“ Sie sprach leise, wirkte damit jedoch umso bestimmter – und sehr bitter. „Telepathen! Dafür also dieses ganze, ach so freundliche Gespräch. Um mich in Ruhe ausspionieren zu können.“

Sie stand auf und starrte Rhodan wütend und gleichzeitig unglaublich enttäuscht an. „Und ich habe es geglaubt, habe wirklich daran geglaubt, dass Sie anders sind. Dass Sie menschlicher denken. Ich hätte es besser wissen sollen. Sie fragten mich, ob ich Sie für einen Lügner halte. Nein, aber Sie sind viel schlimmer als ein Lügner.“

Ihre Stimme wurde heiser, sie hatte einen bitteren Kloß im Hals. Alle ihre Geheimnisse würden nun offenbart werden, nicht nur Atlans. Auch, dass sie anders war. Damit würde sie zum Versuchsobjekt werden. Niemals würden diese Leute sie wieder gehen lassen. Doch so einfach würde sie es diesem Mann nicht machen, er sollte genau wissen, wie sie über ihn dachte.

„Sie sind doch ein wenig älter als Sie aussehen. Dann müssten Sie eigentlich ein bestimmtes Lied kennen.“ Leise begann sie zu singen: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliegen vorbei wie flüchtige Schatten …“

Als sie sah, wie Rhodan schluckte brach sie ab und lachte leise und bitter. „Sie kennen es also. Es war einmal ein Zeichen, ein Symbol für Freiheit und Selbstständigkeit. Aber davon halten Sie anscheinend nichts. Sie halten es wohl eher mit George Orwells Buch: 1984. Sie kennen es bestimmt. Ist es vielleicht sogar die Vorlage für Ihr Denken und Handeln?“

John Marshall wurde schneeweiß im Gesicht, und auch Perry Rhodan verlor etwas Farbe. Mercant starrte mit großen Augen auf die Frau, die bleich im Raum stand und zynisch und bitter diese Anklage erhob.

„Wie können Sie es wagen, dem Administrator einen derartigen Vorwurf zu machen?“

„Was ist dabei bitte ein Wagnis? Glauben Sie etwa, ich fürchte mich vor irgendwelchen Repressalien? Damit können Sie mich nicht einschüchtern.“

Rhodan hob die Hand. „Niemand will Sie einschüchtern.“

John trat einen Schritt vor: „Miss, wir haben Sie nicht ausspioniert, wie Sie es nennen. Was den Versuch angeht, so bekenne ich mich allerdings schuldig.“

Rhodan unterbrach ihn. „Sie haben auf meinen Befehl gehandelt, John.“

Sheena lachte schneidend auf: „Befehle! Blinder Gehorsam war schon immer eine gute Ausrede für verantwortungsloses Handeln.“

„Manchmal sind unangenehme Dinge notwendig, um Schlimmeres zu verhindern.“

Abgrundtiefe Verachtung lag in ihrem Blick, als sie sich wieder Perry Rhodan zuwandte. „Oh ja, ich weiß das. Um Frieden und Sicherheit zu gewähren, nur deshalb, nicht wahr? Lesen Sie hin und wieder Geschichtsbücher, Sir?“ Das letzte Wort klang äußerst zynisch. „Dann werden Sie festgestellt haben, dass diese Begründung nicht neu ist. So ziemlich jeder Diktator, Tyrann und Gewaltherrscher hat diese Phrase benutzt.“

Inzwischen hatte Sheena Mühe, die Tränen der Wut und Enttäuschung zurückzuhalten. Ihre Stimme allerdings triefte vor Hohn: „Haben Sie schon einmal die Begriffe Menschenwürde und Privatsphäre gehört? Aber das sind für Sie nur Worte nicht wahr? Worte, die man leicht beiseiteschieben kann. Schließlich müssen Sie ja für das Allgemeinwohl sorgen. Und warum sollte man einen komplizierten oder schwierigen Weg einschlagen, um ein Problem zu lösen, nur weil es menschlicher und gerechter wäre? Wenn es doch einen viel einfacheren Weg gibt, man braucht ja nur zu sagen, dass es notwendig ist, ein paar Menschenrechte mit Füßen zu treten. Dafür sollte ja wohl jeder Verständnis haben.“

Sie verstummte, bleich und bitter sah sie den Mann vor sich an. Perry Rhodan war inzwischen ebenfalls aufgestanden. Einen Moment war es absolut still im Raum. Jeder starrte die junge Frau an und jeder auf eine andere Weise. Mercant zornig und empört, Reginald Bull verblüfft. John Marshall war bleich und fassungslos. Gucky sah mit großen Augen voller Entsetzen auf sie.

Perry Rhodan hingegen sah sie nachdenklich und ernst an. In seiner Miene konnte Sheena nichts lesen, erstaunlicherweise kam er ihr nicht einmal wütend vor.

Der Telepath schluckte schließlich und räusperte sich mühsam. „Für Sie sind wir Bestien, Monstren.“

Es war keine Frage, eher eine bittere Feststellung.

Sheena wandte sich um, wollte gerade antworten, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah. Sie schloss den Mund wieder und musterte den schlanken Mann mit zusammengekniffenen Augen. Dann begriff sie. Die Wut verschwand aus ihrem Gesicht, ernst und leise entgegnete sie: „Weil Sie Fähigkeiten haben, die auf den ersten Blick unheimlich erscheinen? Nein, absolut nicht. Wenn ein Mensch zum Monster wird, dann weil er seine Macht und seine Möglichkeiten dementsprechend nutzt und einsetzt: Unmenschlich und menschenverachtend.“

„Das macht niemand von uns. Wir würden niemals moralisch oder ethisch unverantwortlich handeln.“

„Vielleicht definieren Sie den Begriff unverantwortlich anders als ich? Oder als andere, Ihnen unterlegene und ausgelieferte Menschen?“

Wieder schluckte der Telepath, er zögerte noch einen winzigen Moment, dann straffte er die Schultern. „Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, Miss Kereen. Sie hätten darüber informiert werden müssen, dass wir ein telepathisches Verhör einleiten würden, wenn Sie sich weigern, mit uns zusammenzuarbeiten. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass dies nicht wieder vorkommen wird.“

Sheena zog die Stirn zusammen, der Mann wirkte todernst und – ehrlich. Rhodan sah von ihr zu seinem Mitarbeiter, sagte jedoch nichts. Er war gespannt, wie die Frau reagieren würde. Er konnte sich denken, wie sehr John von ihren Vorwürfen getroffen worden war, obwohl sie in erster Linie ihm gegolten hatten. Der Telepath war in der gleichen Zeit aufgewachsen, wie er selbst.

„Können Sie mir ein solches Versprechen überhaupt geben? Das was Sie da tragen ist eine Uniform. Und das bedeutet, dass Sie an Befehle gebunden sind und sie befolgen müssen. Ob Ihnen das nun gefällt oder nicht.“

„Nein, das muss ich nicht. Es ist meine eigene Entscheidung, ob ich eine Anweisung, z.B. für ein telepathisches Verhör, befolge oder nicht.“

„Seit wann kann und darf eine Uniform selbst denken und entscheiden?“

Ganz leicht begann John wieder zu lächeln. „Seit einigen Jahren. Genauer gesagt, seit der Eid, den jeder von uns leistet, abgeändert wurde. Wir können jeden Befehl verweigern, wenn er uns menschlich, ethisch oder moralisch verwerflich oder unverantwortlich erscheint.“

„Wie bitte? Seit wann gibt es das denn?“

Nun erreichte das Lächeln auch Johns Augen. „Seit Perry Rhodan Administrator von Terra ist.“

Verdutzt sah Sheena ihn an, dann zuckte ihr Blick zu Perry Rhodan hinüber, der dem Wortwechsel interessiert zuhörte. Zum ersten Mal wirkte sie verunsichert. Dann fiel ihr ein, dass der Telepath ja noch auf eine Antwort von ihr wartete. Noch einmal musterte sie ihn. Wenn ihre Menschenkenntnis sie nicht völlig ihm Stich ließ, hatte er seine Worte wirklich ernst gemeint.

„Ich nehme Ihre Entschuldigung an.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Auch wenn das jetzt keine Rolle mehr spielt.“

„Sie haben mir in Ihrer Wut nicht genau zugehört. Ich sagte, dass wir Sie nicht ausspioniert haben. Es war nicht möglich.“

John Marshall bestätigte Perry Rhodans fragenden Blick mit einem Nicken. „Miss Kereen ist parapsychisch taub, Sir. Wir konnten nichts erfahren.“

Sheenas Blick irrte zwischen den Männern hin und her. „Kann mir das jemand übersetzen?“

„Wir können Ihre Gedanken nicht lesen, sie nicht einmal erkennen. Telepathie ist bildlich gesehen etwa so wie Radio hören. Man sucht sozusagen die jeweilige Frequenz und kann dann erkennen, was derjenige denkt. Bei Ihnen jedoch finden wir nichts.“

Sheena überlegte, fasste dann zusammen: „Sozusagen, als ob ich nicht sende bzw. das Radio, also Sie, meine Frequenz nicht empfangen kann.“

„Genau so.“

„Das ist interessant.“ Sie begann zu grinsen. „Ich kann nicht behaupten, dass ich darüber traurig bin, im Gegenteil.“ Sie schüttelte sich.

Jetzt endlich fand Gucky seine Sprache wieder. Sonst alles andere als auf den Mund gefallen, hatten ihn Sheenas Vorwürfe derart getroffen, dass er sie die ganze Zeit nur entsetzt angestarrt hatte. Fast piepsend stieß er nun hervor: „Was ist denn für dich so schlimm daran? Ich lese die ganze Zeit die Gedanken anderer. Das ist doch nichts Böses. Das schadet doch niemandem.“

Sheena stutzte kurz, tat die vertrauliche Anrede dann jedoch damit ab, dass Gucky kein Mensch war. „Sie sind kein Mensch, wahrscheinlich können Sie deshalb meine Reaktion nicht völlig verstehen.“

Guckys Nagezahn, der sich bei dem freundlichen Tonfall ihrer Antwort ein wenig hervorgewagt hatte, verschwand wieder. „Du magst mich deshalb überhaupt nicht, nicht wahr?“

„Wie? Nein, ich mache Ihnen keine Vorwürfe. Wie sollen Sie verstehen, was Sie anderen antun, wenn Sie Telepathie für etwas völlig Normales halten? Man kann nur denen Vorwürfe machen, die es versäumt haben, Ihnen unsere Art zu denken zu erklären.“

Perry Rhodan mischte sich ein: „Das meint Gucky nicht. Er meint Ihre Anrede. Gucky lässt sich nur von denjenigen Siezen, die er nicht leiden kann. Wer Gucky mag, duzt ihn.“

„Oh!“ Sheena ging in die Hocke und sah dem kleinen Mausbiber in die dunklen, glänzenden Augen. „Entschuldige bitte, Gucky, das wusste ich nicht. Vielleicht ist dir bekannt, dass Menschen sich im allgemeinen Siezen, es sei denn, sie sind sehr gut miteinander bekannt oder befreundet. Ich werde dich gerne duzen, wenn du es mir erlaubst.“

Sie holte vernehmlich Luft. „Und was das Gedankenlesen angeht. Tja, ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte für dich finde. Aber für mich ist Gedankenlesen wie eine Vergewaltigung. Es ist ein Angriff, der sehr tief verletzt. Das Wesen, die Seele, die Persönlichkeit, ich weiß nicht, wie ich das am besten erklären soll.“

Hätte Gucky erbleichen können, wäre er jetzt weiß wie ein Laken geworden. „Eine … Aber …“

Hilfesuchend blickte er zu seinen Freunden, diesen Männern, deren Gedanken er schon tausendmal gelesen hatte. Perry Rhodan warf einen nicht allzu freundlichen Blick auf die junge Frau und setzte sich Gucky gegenüber.

„Ich habe mich noch nie beschwert und das kannst du auch in meinen Gedanken lesen, kleiner Freund. Aber Miss Kereen kennt dich nicht, und für viele Menschen ist Telepathie tatsächlich etwas Unheimliches.“

Er lächelte dem Kleinen ermutigend zu und kraulte ihn kurz hinter den Ohren.

Wieder warf er Sheena einen Blick zu. Diese Frau war erstaunlich, sie faszinierte ihn. Und sie hatte ihm einiges zum Nachdenken gegeben. So ganz falsch waren ihre Vorwürfe nicht.

„Vielleicht haben wir es uns wirklich zu einfach gemacht. Für uns ist Telepathie allerdings zu etwas Selbstverständlichem geworden. Wir werden darüber nachdenken müssen.“

Sheena stand wieder auf. „Meinen Sie das im Ernst? Oder ist das nur eine Phrase?“

Der Administrator zog die Augenbrauen hoch. „Ich mag Phrasen nicht. Aber vielleicht sind Sie bereit, wieder zum eigentlichen Thema zurückzukommen?“

Er zeigte auf den Stuhl und schulterzuckend setzte sie sich wieder. Sie war immer noch wütend, aber auch verwirrt.

„Miss Kereen, wir haben Fehler gemacht, sowohl was Atlan angeht, als auch jetzt bei Ihnen. Was Sie angeht, so hoffe ich, dass Sie auch meine Entschuldigung annehmen. Es tut mir leid.“ Der Administrator zuckte mit den Schultern. „Wir sind Menschen, und Menschen machen nun mal Fehler. Manchmal auch dumme.“

Eine ganze Weile starrte ihn Sheena nur stumm an. Im Raum war es totenstill, keiner rührte sich, jeder wartete wie die junge Frau nun reagieren würde. Rhodan hielt ihrem Blick stand, ihre Augen bohrten sich in die seinen. Meinte er das wirklich ernst? Ein Mann mit solcher Macht – entschuldigte sich? Gab zu, Fehler zu machen?

Sheena wollte es gerne glauben, sie hatte wirklich daran geglaubt, dass nun eine neue Zeit angebrochen war. Sie gab sich einen Ruck, wenn sie sich irrte, würde sie enttäuscht werden. Doch wie oft war sie schon enttäuscht worden? Doch wenn es wahr war – warum sollte sie nicht hoffen.

„Ich möchte Ihnen gerne glauben, Sie können gar nicht ermessen, wie sehr ich das möchte.“

Sie sprach leise, dachte an Atlan und an alles, was er geopfert hatte, was er getan hatte, um der Menschheit zu ermöglich, ihren eigenen Weg zu gehen. Einen Weg, von dem sie immer gehofft hatte, dass er zu mehr Menschlichkeit und Gerechtigkeit führen würde. Ja, sie hatte daran geglaubt, dass mit Perry Rhodan ein großer Schritt in diese Richtung gegangen worden war. Sie sah ihn noch einmal eindringlich an, und auch diesmal hielt der Mann ihrem Blick ruhig stand.

„Wir sind Menschen, Miss Kereen, und Menschen irren. Doch wir lernen seit Tausenden von Jahren und wir werden weiter lernen. Und ich kann Ihnen eines versichern: Ihre bittere Anklage werde ich so bald nicht vergessen. Denn leider haben Sie – zumindest teilweise – Recht.“

Sheenas Augen wurden groß, das hatte zu ernst, zu wahrhaft geklungen, als dass sie es als Phrase hätte abtun können. Sie zwang sich lockerer zu werden, schluckte hart.

„Nun“, noch klang ihre Stimme etwas heiser, doch wurde sie mit jedem Wort fester. „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung.“

Sheena grinste leicht, doch dann sprach sie ruhig und ernst weiter. „Ich möchte Ihnen helfen, was Atlan angeht. Deshalb bin ich ja schließlich ursprünglich hierhergekommen. Aber auf meine Weise. Lassen Sie mich für Atlan eine Nachricht sprechen und strahlen Sie sie aus. Wenn Atlan dies hört, wird er verstehen, was ich meine. Und selbst wenn er seine Flucht nicht aufgibt, kann ich Ihnen versichern, dass er seine Rückkehr nach Arkon sehr vorsichtig handhaben wird. Er wird uns nicht vernichten.“

„Ma’am“, Mercant zog sich einen weiteren Stuhl heran und ließ ihren ablehnenden Blick an sich abprallen. „Lassen wir doch einmal persönliche Aversionen beiseite. Meine Aufgabe ist es, für die Sicherheit Terras zu sorgen, und ich gedenke diese Aufgabe zu erfüllen. Auch wenn Ihnen meine Methoden nicht gefallen.“

Er wartete kurz, doch Sheena sah ihn nur schweigend an.

„Angenommen, Atlan hört ihre Nachricht gar nicht, oder es kümmert ihn nicht. Würden Sie tatsächlich das Risiko eingehen, und ihn nach Arkon entkommen lassen?“

„Manchmal muss man ein Risiko eingehen, wenn man ein Mensch bleiben will.“

Mercant schnappte nach Luft. „Ist Ihnen eigentlich bewusst, wie viele Menschen Sie damit zum Tode verurteilen, einfach so?“

„Niemanden, Verehrtester, überhaupt niemanden. Denn Sie vergessen bei Ihren Überlegungen etwas. Vielleicht können sie es auch ganz einfach nicht begreifen.“

„Und was?“

„Sie sehen in Atlan einen Fremden, keinen Menschen. Und damit eine Gefahr. Weil er Ihnen fremd ist, und alles was fremd ist, muss ja erst mal vernichtet werden. So wurde in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden immer wieder gehandelt. Erst mal draufschlagen und eventuell hinterher nachdenken. Und das auch nur eventuell. Atlan hingegen denkt vorher, bevor er handelt. Und er denkt menschlich und mitfühlend. Das vergessen Sie. Und damit ist Ihr Horror-Szenario von vorneherein hinfällig.“

Jetzt lächelte Rhodan. „Sie glauben grundsätzlich an das Gute im Anderen, nicht wahr?“

„Finden Sie das lächerlich?“

„Nein, im Gegenteil. Aber man wird dann leider oft enttäuscht.“

„Glauben Sie das wirklich? Ich finde nicht. Denn wenn man wirklich an das Gute glaubt, bekommt man es öfter geschenkt, als Sie annehmen. Wenn Sie Freundschaft suchen, wirklich suchen, dann müssen Sie Freundschaft geben, Sir. Und Freundschaft hat etwas mit Vertrauen zu tun. Nicht mit Kontrolle. Wenn Sie nur dann Freundschaft anbieten, wenn Sie die Kontrolle darüber haben, dann ist das keine Freundschaft, sondern höchstens ein Zweckbündnis.“

Rhodan seufzte. „Menschlich gesehen ein hehres Ziel. Politisch ein sehr großes Risiko.“

„Aus dem Grund ist Politik für mich etwas absolut Unmenschliches und Abschreckendes.“

„Und es ist mein Job. Und mehrere Milliarden Menschen auf dieser Welt vertrauen darauf, dass ich diesen Job so mache, dass sie ruhig und in Frieden leben können. Ohne das Risiko, dass eventuell eine wahnsinnige Maschine zu der Entscheidung kommt, unsere Welt zu vernichten.“

Sheena wollte vehement widersprechen, doch als ihr Blick in seine tiefernsten, grauen Augen fiel, klappte sie den Mund wieder zu.

„Wahrscheinlich haben Sie – zumindest im Allgemeinen – Recht. Auch wenn mir diese Vorstellung überhaupt nicht gefällt. Aber bei Atlan ist das etwas anderes. Wenn das ganze Theater nur deswegen ist, weil Atlan nicht glauben kann oder will, dass seine Welt von einer Maschine beherrscht wird, warum hat man ihm die Beweise dafür nicht gezeigt? Geheim hin oder her, kann denn keiner Ihrer Leute so weit denken, dass dies einfach notwendig war?“

„Die zuständigen Personen haben damit gerechnet, dass wir uns melden bzw. zurückkommen. Niemand hat damit gerechnet, dass es so lange dauern würde.“

Unwillig schüttelte Sheena den Kopf: „Und es konnte auch niemand mal nachfragen? Es gibt so etwas wie Funkgeräte.“

„Gibt es, aber wir waren nicht erreichbar. Es gab … Schwierigkeiten. Aber das ist nun einmal geschehen. Im Nachhinein haben Sie Recht, Atlan hätte diese Filme und Berichte sehen müssen. Wir stehen jetzt jedoch vor dem Problem, was er nun machen wird.“

Rhodan beugte sich etwas nach vorne und sah die junge Frau eindringlich an: „Was immer Sie von Atlan und seinen Absichten halten oder zu wissen glauben. Von mir aus auch wirklich wissen. Eines muss Ihnen klar sein. Wenn Atlan unter diesen Umständen Arkon erreicht, wird der Robotregent von uns erfahren. Atlan wird nicht die Möglichkeit haben, über uns zu schweigen.“

„Lassen Sie mich eine Nachricht für Atlan sprechen und strahlen Sie sie aus. Immer wieder, so dass er sie mit Sicherheit hört. Er wird uns nicht verraten.“

„Dann sagen Sie uns endlich, was Sie über diesen Mann wissen. Zeigen Sie uns, dass wir Ihnen vertrauen können.“

Sheena beachtete Mercants Einwurf nicht, blickte nicht mal zu ihm hin. Perry Rhodan warf einen kurzen Blick auf seinen langjährigen Mitarbeiter. Er wusste, dass ihm die Abneigung, um nicht zu sagen Verachtung, dieser jungen Frau zu schaffen machte, auch wenn er sich nichts anmerken ließ.

„Wir werden diese Nachricht aufnehmen, Miss Kereen. Aber können Sie uns nicht ein wenig mehr sagen? Warum nicht?“

„Weil es ein Vertrauensbruch wäre. Ein sehr großer.“

Eine Weile sah sie den Mann vor sich nachdenklich an. Müsste er sie nicht verstehen können? Er musste eine viel größere Erfahrung haben als alle anderen Menschen, er musste viel mehr erlebt und gesehen haben. Leise sprach Sheena weiter: „Wenn Sie jemandem zu Dank verpflichtet wären, nicht weil es verlangt wurde, sondern weil es einfach so ist. Und wenn Sie wüssten, dass sie niemals zurückgeben können, was Ihnen gegeben wurde, würden Sie dann die Geheimnisse desjenigen verraten?“

„Um ein derartiges Vertrauensverhältnis zu dem Arkoniden zu haben, müssten Sie ihn sehr gut kennen. Und wie soll das möglich sein bei jemandem, der sich angeblich an nichts erinnern kann, was länger als vier Jahre her ist?“

„Beweisen Sie mir doch, dass das nicht möglich ist, Solarmarshall.“ Kalt und abweisend sah sie den so harmlos aussehenden Mann an.

Perry Rhodan schüttelte heftig den Kopf und machte dem Disput ein Ende. Er bat Sheena mitzukommen und kurze Zeit später wurde ihre Nachricht an Atlan ausgestrahlt. Sie bat ihn darin, an Isarion und Sareen zu denken und ihrer Welt eine Chance zu geben. Auf Rhodans Einwand, sie solle ihn auffordern, sich zu stellen war sie nicht eingegangen. Sie wusste, dass der Administrator nicht zufrieden war, doch sie war einfach nicht dazu bereit.

Zu ihrer Verblüffung ließ man sie ungehindert gehen, allerdings war Sheena klar, dass Mercants Leute sie überwachen ließen. Sollten sie doch!

Während der nächsten Tage sah sie sich Terrania City an, diese Stadt war allerdings eine Reise wert! Und nachdem sich Sheena zweimal hoffnungslos verlaufen hatte, war sie sogar ein wenig dankbar für die ständige Überwachung.

Beim ersten Mal hatte sie sich irgendwann langsam im Kreis gedreht und seufzend festgestellt, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie sich befand. Anstatt jedoch nach einem der vielen Info-Punkte zu suchen, bei denen sie sich ohne weiteres hätte zeigen lassen können, wo sie war und wie sie wieder zu ihrem Hotel kam, hatte sie sich grinsend an eine Absperrung gelehnt.

Sheena wartete, bis niemand mehr in ihrer unmittelbaren Nähe war und sagte dann laut und deutlich: „Nachdem Sie nun den ganzen Tag hinter mir hergelaufen sind, könnten Sie mir nun eigentlich auch sagen, wie ich wieder heimkomme. Sie kennen sich hier schließlich aus, und es ist doch Ihr Job, auf mich aufzupassen.“

Nach wenigen Augenblicken tauchte hinter der nächsten Ecke ein junger Mann auf. Kopfschüttelnd trat er auf sie zu. „Haben Sie das absichtlich gemacht, uns den ganzen Tag quer durch die Stadt zu jagen?“

Sie grinste: „Ich habe Sie nicht dazu gezwungen, mir zu folgen. Abgesehen davon, ich habe mir einen guten Führer gekauft und mir nach diesen Angaben die Stadt angesehen. Das ist ja wohl kaum verboten.“

„Das natürlich nicht. Und jetzt wissen Sie nicht mehr, wie Sie in Ihr Hotel zurückkommen? Wissen Sie nicht, dass Sie das ohne weiteres an jedem Info-Punkt erfahren?“

„Und wozu soll ich mir die Mühe machen, wenn ich einen Schatten habe?“

Der Mann seufzte. „Das sollten Sie eigentlich überhaupt nicht wissen. Habe ich mich so ungeschickt angestellt?“

Sheena lachte über seine zerknirschte Miene. „Nein, haben Sie nicht. Ich hatte keine Ahnung, wo Sie sind oder wer mich beschattet. Aber glauben Sie wirklich, ich wäre so naiv, dass ich annehme, Ihr id.., sorry, Ihr Chef würde mich nicht überwachen lassen?“

„Sie sind eigenartig, Miss Kereen.“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Na, dann kommen Sie mit, ich bringe sie heim.“

Beim zweiten Mal brauchte sie gar nicht mehr zu rufen. Nachdem sie sich mehrmals ratlos umsah, kam ihr Schatten angetrabt und brachte sie grinsend wieder nach Hause.

Dann brachte man sie wieder in die Regierungszentrale. Ohne jede Erklärung holte man sie aus dem Hotel. Aus diesem Grund ging sie mit einer ziemlich finsteren Miene den Gang entlang und trat kurzerhand ohne zu klopfen in den ihr bezeichneten Raum ein.

Perplex sah Sheena auf die zwei Männer, die sich offensichtlich gut gelaunt unterhielten. Sie stemmte die Hände in die Seiten. „Können Sie mir vielleicht mal erklären, wozu Sie dieses ganze Affentheater von wegen Untergang von Terra veranstaltet haben?“

Rhodan und Atlan drehten sich um. „Sie hatten Recht, offensichtlich kennen Sie Atlan recht gut. Ich möchte mich in aller Form bei Ihnen entschuldigen.“

Sie machte den Mund auf und stumm wieder zu. Eine ganze Weile starrte sie Perry Rhodan nur an.

„Und wie soll ich jetzt noch wütend auf Sie sein?“

Sie wandte sich Atlan zu: „Sie lassen sich nicht besonders gerne helfen, wie?“

Er grinste. „Ich habe mir sogar überlegt, ob ich dieses Gespräch abwarte. Aber meine Fluchtpläne waren zu weit gediehen. Tut mir leid, Sheena.“

Sie schüttelte abwehrend den Kopf. „Wenn ich das hier richtig interpretiere, haben Sie meine Nachricht gehört.“

Der Arkonide nickte: „Habe ich, allerdings ohne darauf zu reagieren.“

Verblüfft sah sie ihn an. Dann fiel ihr plötzlich die eigenartige Haltung des Administrators auf. Sie sah genauer hin und erkannte den Verband um den Fuß. Ihr Blick wanderte von einem zum anderen.

„Sie haben sich geprügelt.“

„Ich hatte nicht vor, mich wieder in Gefangenschaft bringen zu lassen.“ Atlan zuckte mit den Schultern. „Allerdings wurde mir dann klar, dass das Ganze irgendwie sinnlos war.“

„Hm, das fiel dir allerdings erst ein, nachdem du mich fast umgebracht hast“, knurrte Rhodan.

„Nachdem …“ Sheena fehlten die Worte, als sie begriff.

„Männer!“ stieß sie endlich hervor. „Das darf doch nicht wahr sein. Lassen Sie mich das mal rekapitulieren. Zuerst prügeln Sie sich auf irgendeinem Stützpunktplaneten. Nach allem was ich weiß, hat der Administrator diese Prügelei gewonnen. War es so?“

Ihr Blick war derart streng, dass beide Männer nur nickten, ratlos worauf sie hinauswollte und offensichtlich ebenso ratlos, weshalb sie derart wütend reagierte.

Schnaubend fuhr sie fort: „Und natürlich ist es auch danach nicht möglich, dass Sie sich wie vernünftige Menschen einigen. Nein, erst muss man sich ja Revanche geben. Und so wie Ihr Fuß aussieht, hat diesmal Atlan gewonnen. Und dann ist es ja auch möglich, dass man sich die Hände gibt. Männer!“

„Ich bin kein Mensch“, murmelte Atlan, „und übrigens reagieren Arkoniden immer vernünftig.“

„Seit wann?“

Rhodan räusperte sich. „Ich dachte eigentlich, Sie wären erleichtert, dass wir diese ganzen Missverständnisse ausgeräumt haben. Stattdessen muss man sich hier wie ein Schuljunge abkanzeln lassen.“

Sheena kniff die Augen zusammen: „Dann sagen Sie mir doch mal und zwar auf Ehre und Gewissen: Was hat diese durchaus erfreuliche Aussöhnung stärker vorangetrieben? Ihre dusslige Prügelei oder der vernünftige Weg über eine ordentliche Aussprache und wie Sie so schön sagen, das Ausräumen der Missverständnisse?“

Die Männer warfen sich einen kurzen Blick zu.

„Nun, aufgrund der mir vorgelegten Berichte konnte ich mich überzeugen, dass auf Arkon …“ Atlan konnte nicht weitersprechen, als er in das wütende Gesicht der jungen Frau sah. Er begann schallend zu lachen. „Sie haben Recht, zumindest teilweise. Ist das nun sehr schlimm?“

Sheena schüttelte den Kopf. „Ich sage es ja: Männer! Nun, dann kann ich ja jetzt endlich verschwinden.“

„Nein.“

Verblüfft wandte sie sich um, der Widerspruch kam von Atlan. In diesem Moment öffnete sich die Tür und Allan D. Mercant trat ein. Er stieß fast mit Sheena zusammen.

„Sie können da jetzt nicht hinaus.“

Sheenas Augen verengten sich zu Schlitzen. „Und warum nicht?“

„Was ist los?“ Rhodan sah seinen Abwehrchef irritiert an.

„Diese verdammten sogenannten Rebellen machen Ärger. Sie haben zwei Frauen, die gerade gehen wollten, belästigt und hätten sie wohl auch verletzt, wenn nicht die Sicherheitsbeamten eingegriffen hätten.“

Er wandte sich an das junge Mädchen: „Wenn Sie jetzt da hinausgehen, kann Ihnen das gleiche geschehen. Wir haben einige verhaftet, aber es lungern noch genug in der Nähe herum. Es sei denn, Sie gehören zu denen, aber das glaube ich eigentlich nicht.“

„Zu wem?“

„Diese Verrückten. Sie haben doch sicher von Ihnen gehört: Rhodan soll abdanken. Sein Leben ist etwas Unnatürliches, und er gehört nicht hierher, vor allem nicht in eine Regierung.“

„Ach die“, Sheena nickte. „Die wissen doch nicht mal, was ihnen nicht passt. Sie pöbeln doch einfach nur herum, ohne Sinn und Verstand. Konkrete Argumente habe ich von denen noch nicht gehört. Und die machen Ihnen tatsächlich Ärger?“

Mercant brummte: „Sie sind leider nicht ganz so ungefährlich, wie es aussieht. Wir haben einige Informationen, die uns zu denken geben.“

„Woher wussten Sie das?“ Sheena sah Atlan fragend an.

Der schüttelte den Kopf. „Ich wusste nichts von diesen Unruhestiftern. Aber das gibt mir die Gelegenheit, Sie etwas zu fragen. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten. Am Poseidon-Platz gibt es ein sehr gutes Restaurant. Würden Sie heute Abend mit mir Essen gehen?“

Sheena sah den großen, schlanken Mann mit schief gelegtem Kopf an: „So richtig dinieren, wie man früher sagte? Weshalb? Unterhalten kann man sich überall.“

„Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Ich nehme an, dass Isarions Art zu denken immer noch gültig ist, und Sie ihr friedliches Leben sehr schätzen. Dann war der Entschluss, hierher zu kommen mit Sicherheit nicht ganz einfach für Sie. Perrys Leute haben Ihnen vermutlich auch ziemlich zugesetzt. Vor allem, da Sie sich geweigert haben, Informationen über mich preiszugeben.“

Atlan deutete ihren fragenden Blick richtig. „Ich habe mein Schweigen aufgegeben.“ Er lächelte leicht. „Inzwischen ist es weder notwendig noch vorteilhaft. Die Menschen haben gelernt, auch fremdartige und höchst eigenartige Dinge zu akzeptieren.“

„Mmmh.“ Sheena sah zu Boden, das galt auch für sie selbst – und doch ...

„Niemand wird Atlan über Sie ausfragen. Er hat sehr deutlich gemacht, dass er nicht gewillt ist, Ihre Geheimnisse zu offenbaren.“

Sheena hob den Kopf, es war nicht zu überhören, dass der Administrator darüber verärgert war.

„Vielleicht habe ich ja gar keine Geheimnisse.“

„Oh doch, die haben Sie.“ Rhodan lachte grimmig. „Sie sind ein eigenartiges Mädchen. Für jemanden, der an Amnesie leidet, sind Sie viel zu selbstbewusst. Im Übrigen konnten Sie Atlan nicht während der letzten vier Jahre begegnet sein. Also passt einiges in ihrem Lebenslauf nicht.“

„Ich bin nicht bereit, über mich zu sprechen.“ Sie lächelte jedoch dabei, dann wurde ihr Blick durchdringend. „Würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen mein Ehrenwort gebe?“

Rhodan nickte: „Welches Ehrenwort?“

„Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich keine Erinnerung an die letzten 20 Jahre habe, bevor ich vor vier Jahren in der Nähe der explodierten Fabrik gefunden wurde.“

Atlan verbiss sich das Grinsen, als er die verblüffte Miene des neuen Freundes sah. Das hatte das Mädchen sehr geschickt ausgedrückt. Langsam nickte Rhodan noch einmal.

„Ich glaube Ihnen. Allerdings macht Sie diese Aussage noch geheimnisvoller. Vielleicht werden Sie irgendwann genug Vertrauen zu uns haben, um ihre Geheimnisse zu lüften. Ich werde darauf warten. Ich gebe Ihnen jedoch mein Ehrenwort, dass wir keinen weiteren Versuch unternehmen werden, diese Geheimnisse gegen Ihren Willen herauszufinden.“

Sheena sah zu Mercant hinüber. „Können Sie dieses Ehrenwort überhaupt geben? Mr. Mercant scheint mir nicht der Mann zu sein, der zulässt, dass ihm jemand Geheimnisse vorenthält.“

Mercant knurrte unwillig, dann gab er sich einen Ruck. „Sie haben – leider – in einigen Dingen Recht. Und es sind Fehler gemacht worden. Verdammt noch mal, wir sind doch auch nur Menschen und nicht perfekt. Im Übrigen können Sie mir durchaus so viel Verstand zubilligen, dass ich erkennen kann, ob jemand zu einer Gefahr für uns werden kann oder nicht. Und was immer Sie verbergen, sie sind keine Gefahr.“

Dann lächelte er plötzlich: „Was aber nicht heißt, dass ich nicht zu gerne wissen möchte, was mit Ihnen los ist. Aber da der Administrator dagegen ist, werde ich meine Wissbegierde nicht befriedigen können.“

„Da fällt mir ein … da wäre noch etwas zu erledigen.“ Perry Rhodan sah erst zu Sheena dann zu dem Arkoniden. „Wann hast du dir eigentlich das letzte Mal die Füße gewaschen?“

„Heute Morgen, wieso?“ Atlan blickte irritiert von einem zum anderen.

Rhodan grinste. „Weil ich dir wohl noch die Füße küssen müsste, wie diese junge Dame von mir verlangte. Allerdings soll mich der Teufel holen, wenn du sie dir nicht vorher wäscht.“

Der Arkonide lachte schallend, verzichtete jedoch großmütig auf diese Geste.

Am nächsten Abend holte Atlan Sheena ab. In dem erstklassigen Restaurant unterhielten sie sich lange. Doch selbst sein Eingeständnis, dass er sich von völlig irrationalen Gefühlen leiten ließ, als er versuchte, heimlich von Terra zu verschwinden anstatt offen mit der terranischen Regierung zu sprechen, konnte Sheena nicht dazu bewegen, nun ihrerseits ihr Schweigen zu brechen. Sie konnte keine Gründe dafür nennen, doch es widerstrebte ihr, sich Rhodan zu offenbaren.

Dagegen genoss sie es, mit Atlan zusammen zu sein und sie nahm seine Einladung, zu ihm zu kommen gerne an. Sie saß in dem kleinen Wohnzimmer und sah sich neugierig um. Die terranische Regierung war großzügig gewesen, erkannte sie. Die Wohnung bestand aus 5 Zimmern, mehr als genug für eine einzelne Person. Atlan reichte ihr ein Glas, sie probierte und lächelte.

„Ein guter Wein.“

„Längst nicht so sauer wie in Ägypten.“

Sie lachte. „Ich hatte damals nicht den Eindruck, dass er Ihnen nicht schmecken würde.“

„Man nimmt, was man bekommt.“

Der Arkonide wählte einen bequemen Sessel und grinste, als Sheena sich auf den Teppich setzte. „Diese Gewohnheit haben Sie ja immer noch.“

Sheena lachte. „Die habe ich nie abgelegt.“

„Sie wissen, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte?“

Sheena schüttelte den Kopf. „Gibt es denn etwas Bestimmtes?“

„Sie wissen inzwischen, dass ich hierbleibe – auf Terra.“

Sie nickte. „Sie haben sich – wieder – für uns entschieden.“

Eine Weile schwieg Atlan, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, es war durchaus Eigennutz dabei. Es ist so viel Zeit vergangen, und auf Arkon herrschen Zustände, die ich auf keinen Fall dulden kann. Nur mit terranischer Hilfe werde ich daran etwas ändern können.“

„Und sie glauben, diese Hilfe zu bekommen?“

Atlan lächelte. „Oh ja. Rhodan braucht mich ebenso wie ich ihn. Terra wird sich nicht ewig verstecken können. Abgesehen davon, dass Rhodan das gar nicht will. Er muss mit Arkon zu einer Einigung kommen – und dazu braucht er mich. Wenn der Robotregent abgeschaltet wird, benötigt Arkon einen Herrscher – einen lebendigen Herrscher.“

„Sie!“

Atlan nickte.

Sheena war verwirrt. „Aber was hat das mit mir zu tun?“

Ein leises Lachen ertönte. „Nichts, nehmen Sie es einfach als Einleitung.“

Sie grinste. „Hm, eine seltsame Einleitung.“

„Ich habe mich schwer getan, den Terranern meine Geschichte zu erzählen.“

Sheena nickte, das hatte sie sich gedacht. „Der eigene Stolz kann einem manchmal ziemlich im Weg sein.“

Atlant stutzte, dann nickte er und murmelte: „Voll ins Schwarze getroffen. Ist das auch Ihr Problem? Ihr Stolz?"

Sie sah ihn fragend an, dann begriff sie. Sie schüttelte den Kopf. „Nein … oder ... Nein, zumindest glaube ich das nicht. Stolz ...“ Sie überlegte. „Ich weiß nicht, ob ich zu stolz bin. Ich kann nicht sagen, warum ich über mich nicht reden möchte.“

Sie setzte sich bequemer hin. „In all meinen Leben habe ich erst ein einziges Mal die Wahrheit über mich gesagt – zu Ihnen. Und ich kenne den Grund dafür genau.“

Atlan sah sie neugierig an.

„Ich fühle mich noch heute schuldig für das, was sie damals für uns getan haben. Diese Entscheidung muss grauenhaft gewesen sein. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich war und bin Ihnen mehr als dankbar dafür, dass Sie uns verschont haben. Aber ...“ Sie schüttelte sich. „Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie schrecklich das für Sie gewesen sein muss.“

„Das war der Grund, weshalb Sie mir Ihr Geheimnis verraten haben? Das verstehe ich nicht.“

Atlan sah sie verwundert an. Seine Entscheidungen damals in der Oase waren schwerwiegend gewesen, ja. Aber richtig, daran hatte er niemals gezweifelt. Dieses seltsame Volk hatte ihn in seinen Bann gezogen, diese Menschen – so unverständlich, so widersinnig, so dumm, so widersprüchlich … die Liste ließe sich ewig fortsetzen.

„Ich hatte nicht mehr das Recht, Ihnen gegenüber zu schweigen.“

Atlan schluckte. „Und Ihrem eigenen Volk gegenüber können Sie nicht offen sein? Vertrauen Sie ihnen so wenig?“

„Das hat nichts mit Vertrauen zu tun. Ich möchte einfach nicht über mich reden.“ Sie verstummte und überlegte. „Mein eigenes Volk! Ich bin ein Mensch dieser Welt, aber ich habe keine Ahnung, ob ich mich auch als diesem Volk zugehörig fühle. Den Mächtigen dieser Welt möchte ich jedenfalls nicht zugehörig sein.“

„Das wollten Sie noch nie. Warum eigentlich? Was haben Sie gegen Macht?“

„Macht ist etwas Schreckliches. Menschen hören auf Menschen zu sein, wenn sie Macht bekommen. Herrscher handeln nur noch, um die eigene Macht zu erhalten, zu vermehren. Menschlichkeit spielt keine Rolle mehr. Es muss doch möglich sein, einfach nur in Frieden zu leben. Aber nein. Irgendein dämlicher Grund findet sich immer, um andere anzugreifen. Menschen mit Macht sind korrupte, verlogene Heuchler.“

„Und Geheimdienste sind Terroristen“. Atlans Mundwinkel zuckten, als sie ihn erstaunt ansah. „Bull hat mir Ihren Vergleich erzählt, Sie haben ihn sehr beeindruckt.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Sie haben es doch selbst erlebt. Wie man mit Ihnen umgegangen ist. Niemand hatte auch nur den Anschein eines Rechts dazu. Diese Leute haben sich das Recht einfach genommen. Weil sie es konnten, einfach so.“

Sheena sah in sein erstauntes Gesicht. Er musste doch ebenfalls wütend auf diese Leute sein. Sie hatten ihn ohne Grund wochenlang gefangen gehalten. Aber er wirkte tatsächlich nicht wütend.

Atlan drehte langsam sein Glas in den Händen. Er begann zu verstehen, wie diese Frau dachte. Aber wie kam sie dazu? Bei ihren vielen Erfahrungen?

„Sheena, ich bin nicht wütend auf die Terraner. Ich bin – und war – eher erstaunt, wie wenig Druck auf mich ausgeübt wurde.“

Der Arkonide sah sie eindringlich an. „Ich hätte an ihrer Stelle anders reagiert. Weitaus härter. Sie fühlten sich von mir bedroht, wie hätten sie denn sonst handeln sollen? Sheena, sie kennen doch die Menschen, sie leben bei ihnen seit tausenden von Jahren!“

„Eben!“ Sheena blickte ihn an, jetzt war ihr Blick nicht mehr verwirrt, fast lächelte sie. „Seit vielen Tausend Jahren lebe ich unter den Menschen und sehe wie sie leben, wie sie denken und handeln. Menschen sind machtbesessen, der eigene Vorteil ist wichtiger als menschliches Gefühl, als Gerechtigkeit. Oh ja, ich habe das alles unzählige Male gesehen und erlebt. Aber ich habe auch andere Dinge gesehen, andere Menschen. Es gab und gibt Menschen, denen der eigene Vorteil egal ist, die richtig handeln. Die nicht darauf sehen, was für sie das Beste ist, sondern was für alle das Beste ist.“

Sie stand auf und trat zum Fenster. Sie sah hinaus, doch sah sie nichts. Ihr Blick ging ins Leere. „Ich glaube daran, Atlan. Ich glaube daran, dass es einen anderen Weg gibt. Einen Weg, der keine Gewalt benötigt. Schwerter für den Frieden! Schwachsinn!“

Sheena drehte sich wieder zu ihm um. „Es ist ein schwerer Weg, vielleicht – nein mit Sicherheit immer noch unmöglich für die Menschen. Nur wenige können diesen Weg gehen. Doch ich glaube daran, irgendwann werden die Menschen lernen, diesen Weg zu finden. Immer mehr werden dazu fähig sein. Dann – und erst dann, wird der Mensch tatsächlich ein Mensch sein. Entwicklung muss nicht unbedingt technisch sein, der Mensch wird sich auch geistig und moralisch weiterentwickeln.“

Sie seufzte. „Aber Sie haben natürlich Recht. Es ist unrealistisch, hier und jetzt zu erwarten, nein, zu verlangen, dass Menschen wie Menschen handeln und denken. Aber ich erwarte es einfach. Und ich bin sauer, wenn ich enttäuscht werde. Auch wenn das dumm ist.“

Sie lächelte schief.

„Sie sind eine Idealistin – immer noch. Nach so langer Zeit.“ Atlan staunte. „Wie halten Sie das aus?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Gar nicht, vermute ich. Ich denke nicht darüber nach.“

Sheena wandte sich ab, doch Atlan sah die Tränen in ihren Augen schimmern. Er griff nach ihren Schultern und zog sie leicht an sich heran. Lächelnd spürte er, wie sie sich versteifte, abwehrte. Sie hatte sich nie von ihm berühren lassen.

„Schhhhhhhh“.

Sie gab den Widerstand auf, lehnte sich an ihn. Sie weinte nicht, aber Atlan wusste, dass sie dagegen ankämpfte. Nach einer ganzen Weile hob sie langsam – zögernd – die Hände und legte sie flach auf seine Brust, das Gesicht weiter verborgen. Ihr Atem wurde ruhiger.

„Besser?“

Sheena nickte, einige Sekunden genoss sie noch die Wärme seines Körpers. Dann zog sie sich von ihm zurück. Atlan sah sie an, ihr Gesicht war wieder ruhig, die Augen trocken.

„Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“

Ganz leicht strich er über ihre Wange, wohl wissend, dass sie innerlich zurückzuckte.

„Würden Sie es bereuen?“

Sheena lächelte, Atlan durchschaute sie – natürlich. „Ja, morgen mit Sicherheit.“

„Dann ist es tatsächlich besser, wenn Sie gehen.“

Sie sah ihn erstaunt an. „Sie sind seltsam, die meisten Männer würden eher beleidigt reagieren.“

Er grinste: „Was Sie mir durchaus schon vorgeworfen haben.“

Atlan amüsierte sich, als er ihre Verblüffung sah. „Als Isarion haben Sie mir fröhlich erklärt, jeder Mann würde auf eine Zurückweisung durch eine Frau beleidigt reagieren.“

Sie lachte auf und schüttelte damit den letzten Rest der Befangenheit ab – und den leisen Wunsch sich einfach fallenzulassen, einfach ein einziges Mal nicht nachzudenken, sondern nur zu genießen. Sie wusste, dass sie nicht genießen konnte.

Wenige Tage später saßen sie wieder zusammen. Atlan genoss ihre Unbefangenheit und Unkompliziertheit. Hier gab es keine Koketterie, kein verstecktes Flirten. Sie sprach und reagierte einfach und offen. Und doch – in ihm wurde der Wunsch, sie zu einer anderen Reaktion zu verleiten immer stärker. Sie zu verführen … er riss sich zusammen. Ihre Abwehr war eindeutig gewesen.

Irritiert sah Sheena ihn an.

„Tut mir leid, ich musste einen Gedanken verscheuchen.“ Er lächelte, als er die neugierige Frage in ihren Augen sah. „Sie wären nicht begeistert.“

Es amüsierte Atlan, wie sie prompt die Augen zusammenkniff. Das tat sie immer, wenn sie etwas herausbekommen wollte oder über etwas nachdachte.

„Geben Sie mir einen Tipp.“

„Nur wenn Sie versprechen, deshalb nicht sauer zu werden.“

Sie nickte und er lächelte. „Ich bin ein Mann. Und sie sind eine faszinierende Frau.“

Jetzt seufzte sie: „Hmpf.“ Eine Weile blickte Sheena zu Boden, dann zog sie die Schultern hoch. „Es wäre eine Katastrophe.“

Sie blickte hoch und lachte über seinen Blick. „Nicht wegen Ihnen. Ach, Atlan, Sie wissen, wie lange ich schon lebe. Was glauben sie wohl, wie oft ich vergewaltigt wurde. Oder zu einer Heirat gezwungen, oder, oder, oder ... Glauben Sie wirklich, ich wäre in der Lage, Sex zu genießen?“

Atlan war betroffen. Natürlich, die meisten Kulturen wurden von Männern beherrscht. Frauen mussten sich unterordnen. Als intelligente, selbstständige – und zivilisierte – Frau musste ihr das sehr schwer gefallen sein.

„Diese Zeiten sind vorbei.“

Sheena nickte. „Wer weiß, vielleicht ... in einem späteren Leben habe ich vielleicht den Mut dazu.“

Sie begann schelmisch zu grinsen. „Da Sie ja beschlossen haben hierzubleiben bzw. zumindest mit Terra zusammenzuarbeiten – selbst wenn Sie wieder nach Arkon zurückkehren – und da Sie ja unsterblich sind – wer weiß ...“

Atlan lachte. „ Sie sind ein kleines Biest, Sheena.“ Doch er zog es vor das Thema zu wechseln. „Werden Sie die Einladung annehmen?“

„Welche Einladung?“

„Oh, dann habe ich nichts gesagt. Sie werden sie wohl nachher bei sich finden. Ich würde mich jedenfalls freuen, Sie zu sehen.“

Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen. Sie unterhielten sich noch, bis es dunkel wurde und Sheena ließ sich von einem Taxigleiter ins Hotel bringen. Gespannt sah sie ihre Post durch. Eine offizielle Einladung der terranischen Regierung war dabei. Als Anerkennung für ihre Bemühungen, der terranischen Regierung in ihrem Bestreben, den intergalaktischen Frieden zu erhalten, beizustehen. Sheena las die Einladung zwei Mal und amüsierte sich über die geschraubte Ausdrucksweise.

Es freute sie sehr, als Rhodan an diesem Abend nicht ein einziges Mal versuchte, sie auszufragen. Immer wieder ertappte sie sich bei der Überlegung, warum es ihr so schwer fiel, über sich und ihre „Unsterblichkeit“ zu sprechen.

Es war schon fast Mitternacht als sie wieder ins Freie traten. Sheena lehnte es ab, sich ins Hotel bringen zu lassen und Rhodan und Atlan begleiteten sie zum nächsten Gleiterstand. Es waren kaum noch Menschen unterwegs. In dieser Gegend war es nachts sehr ruhig. Umso überraschter waren sie, als sich plötzlich schnelle Schritte näherten. Noch ehe sie sich umgeschaut hatten, traten fünf vermummte Männer zu ihnen, die Waffen in den Händen hielten. Leise aber unmissverständlich wurde ihnen befohlen, in eine Seitenstraße zu gehen. Wenige Schritte später stießen die Männer sie in einen Lastengleiter. Erst als sie unterwegs waren, nahm einer von ihnen seine Maske herunter.

Er wandte sich jedoch an den Fahrer und zischte: „Du hast gesagt, sie sind alleine. Wer ist dieses Mädchen, verdammt?“

„Ich heiße Kereen, Sheena Kereen. Und wer sind Sie?“

„Halt die Klappe.“

Sheena zuckte mit den Schultern. Perry Rhodan versuchte ebenfalls, mit den Entführern zu sprechen, wurde jedoch genauso grob abgefertigt. Alles was sie erfuhren, war, dass sie zu jemandem gebracht wurden, der ihnen dann „alles Notwendige“ sagen würde.

Die beiden Männer saßen ruhig da, beobachteten jedoch ihre Entführer genau. Rhodan wunderte sich über das junge Mädchen. Sie hatte nicht einmal aufgeschrien, und auch jetzt zeigte sie keine Spuren von Angst oder Besorgnis.

Nach einer halben Stunde hielt der Gleiter auf einem dunklen Hof. Ihre Entführer brachten sie in eine Halle. Von hier aus ging es lange Treppen hinab, über Gänge und weitere Treppen. Sheena kam sich langsam wie in einem Jules-Verne-Roman vor und überlegte, ob sie fragen solle, wie weit es noch bis zum Erdmittelpunkt sei. Nach einem Blick auf ihre Führer verkniff sie sich die Frage jedoch. Die sahen nicht so aus, als hätten sie Humor. Außerdem kannte von denen garantiert niemand mehr Jules Verne.

Schließlich standen sie in einer kleinen Kammer. Sheena erkannte Werkzeuge und verschiedene Geräte. Sie sah zu Atlan hinüber. Der beobachtete die Männer, die anscheinend auf jemanden oder etwas warteten.

„Wartungsraum für unterirdische Schnellbahnen“, flüsterte Perry Rhodan ihr zu. Sheena begriff. Die Schnellbahnen waren unterirdische Verbindungen zwischen den nächsten großen Städten. Es musste unzählige Räume und Lager geben, um diese Verbindungen überwachen und warten zu können.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes öffnete sich die Tür und drei Männer traten ein. Der in der Mitte gehende machte eine kleine, spöttische Verbeugung. Er warf Sheena einen Blick zu.

„Wer ist das Mädchen? Ihr solltet Rhodan und den Arkoniden hierherbringen, sonst niemanden.“

„Sie war bei ihnen. Wir konnten nichts machen. Sie hätte sofort Alarm geschlagen.“

Der Mann war groß und schwarzhaarig. Die dunkle Kleidung war eindeutig sehr gute Qualität. Ein Entführer mit Geld, konstatierte Sheena.

„Was hast du mit ihm zu tun?“ Der Blick des Mannes streifte kurz zu Rhodan und wieder zu Sheena zurück. „Bist du eine seiner Kreaturen?“

Sheena hob die Augenbraue. „Jeder Mensch ist auch eine Kreatur. Aber ich gehöre niemandem und ich bin auch keine Mutantin, falls Sie das meinen sollten.“

Der Mann grinste: „Ganz schön unerschrocken, kleine Lady.“

Er legte seine Hand unter ihr Kinn. Sheena legte den Kopf schief.

„Nehmen Sie ihre Hand weg, oder ich breche Ihnen die Finger.“

Er lachte auf. „Du gefällst mir, Kleine. Wirklich schade, dass ich dich nicht brauchen kann.“

Er deutete mit der Waffe nach vorne. „Mitkommen!“

Diesmal kamen nur seine zwei Begleiter mit. Atlan war versucht, sie zu überwältigen. Sie waren jedoch äußerst aufmerksam, und ihre Waffen waren immer auf ihre Gefangenen gerichtet.

Wieder ging es weiter nach unten. Der Gang endete in einem großen Raum, der das Ende des ausgebauten unterirdischen Komplexes war. Die Wände waren nicht glatt sondern nur grob behauen. Steine und Felsbrocken lagen davor. Die Lichtleisten in der Decke funktionierten jedoch.

Ein dumpfer Knall ließ Sheena herumfahren. Ihre Bewacher hatten den Gang, aus dem sie gekommen waren, verschlossen. Mit einem Codierungsgerät wurde die Tür gesichert. Jetzt erst bemerkte sie ein dumpfes Brummen, so tief, dass man es mehr spürte als hörte. Sie warf einen Blick auf ihren Entführer und trat einen Schritt nach vorne. Aufmerksam suchte Sheena den Raum ab. In der linken Wand, knapp unter der Decke entdeckte sie eine große Öffnung. Damit war auch der deutlich spürbare Luftzug erklärt. Dies war eine Ansaugöffnung, die Luft in andere Bereiche dieses Komplexes transportierte.

An der Decke neben der Öffnung jedoch …

„Interessant, nicht wahr?“ Spöttisch blickte der dunkle Fremde sie an. „Ein bequemer Weg, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Was Sie da sehen, ist ein Notgang. Er führt bis in einen der Bahnhöfe. Nur dumm, dass niemand ihn benutzen kann. Um den Deckel zu öffnen, muss man an der Ansaugöffnung vorbei. Dort oben jedoch ist der Luftstrom so stark, dass jeder sofort in den Schacht gezogen wird. Und zwei Meter in dem Schacht ist ein kräftiger Propeller mit sehr scharfen Blättern. Damit wird selbst ein Mensch innerhalb von Sekunden zerrissen.“

„Eine widerliche Art zu sterben“, murmelte Sheena.

„Da haben Sie völlig Recht, meine Liebe. Und nun werden Sie uns eine Weile entschuldigen. In etwa zwanzig Minuten wird eine Schnellbahn hier halten. Meine Leute haben sie ausgeliehen.“

Er wandte sich an Atlan und Rhodan. „Damit werden Sie an einen Ort gebracht, an dem niemand Sie finden wird. Auch Ihre Kreaturen nicht. Und dann werden Ihre Leute unsere Forderungen erfüllen müssen. Machen Sie es sich solange bequem.“

Er zeigte auf die umliegenden Felsbrocken und lachte. Die drei Männer zogen sich zurück und verließen den Raum durch die einzige weitere Tür. Bevor er hinausging, wandte sich der dunkle Mann noch einmal zurück. Er zeigte ihnen die beeindruckende Dicke der Tür.

„Nur falls Sie überlegen, ob Sie es schaffen, hier herauszukommen. Sehen Sie sich die Tür an, es ist nicht möglich. Wir holen Sie in zwanzig Minuten.“

Sheena wartete nur wenige Sekunden, nachdem die Tür sich hinter den Männern geschlossen hatte. Sie setzte sich auf den Boden und zog ihre Schuhe aus.

„Was haben Sie vor?“

„Den Gang öffnen natürlich. Mit etwas Glück ist diese dämliche Tür schalldicht. Ich werde es wohl kaum schaffen, ohne zu schreien.“

„Sind Sie verrückt geworden? Der Sog zieht Sie in den Schacht.“

„Sheena, nein.“ Atlan ergriff sie am Arm.

„Hören Sie auf mit dem Quatsch. Sie haben nicht viel Zeit. Zwanzig Minuten sind schnell um.“

Sie seufzte, als Atlan sie empor zerrte.

„Atlan, lassen Sie das. Ich verstehe, dass Mr. Rhodan entsetzt ist. Sie müssten es besser wissen.“

„Das ist – Sie können nicht im Ernst …“ Atlan sprach den Satz nicht fertig. Fassungslos sah er, wie das Mädchen nickte.

„Doch ich kann. Machen Sie nicht so ein Gesicht. Sie kennen mein Geheimnis.“

Sie wandte sich an Rhodan. „Widersprechen Sie mir nicht. Ich sterbe sowieso. Sie haben den Typ doch gehört. Er braucht Sie, nicht mich. Höchstens vielleicht, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, falls er sich gehemmt fühlt, Ihnen oder Atlan die Finger abzuhacken oder Ähnliches.“

Rhodan vertrat ihr den Weg. „Sie müssen verrückt sein. Das lasse ich nicht zu. Wir finden einen Weg, um Sie zu schützen.“

Sie schüttelte den Kopf und sprang auf die Felsen an der Wand, bevor Rhodan sie fassen und zurückhalten konnte.

„Atlan, erklären Sie es ihm. Aber bitte erst, wenn Sie wieder draußen sind. Und passen Sie auf sich auf.“

Behände kletterte sie die Wand empor.

„Sheena, das ist Wahnsinn!“

„Für mich nicht, Atlan. Das wissen Sie doch. Gehen Sie beiseite, es wird eine ziemliche Sauerei werden.“

Sheena war nicht ganz so kühl, wie sie sich gab. Es würde entsetzlich schmerzhaft sein. Doch sie war schon viele schmerzhafte Tode gestorben. Es würde nicht lange dauern. Schock, Schmerz und Blutverlust würden sie sehr schnell töten. Und die natürliche Angst vor dem Tod besaß sie längst nicht mehr. Schließlich klammerte Sheena sich dicht neben dem Schacht an der Wand fest. Ein Blick nach unten zeigte ihr die entsetzten Gesichter der beiden Männer.

„Atlan, ich wünsche Ihnen, dass Sie irgendwann wieder nach Hause kommen. Ich habe es Ihnen immer gewünscht. Alles Gute!“

Sheena spannte die Muskeln an, sie hatte nur einen Versuch. Sie sprang und klammerte die Hände um den Griff. Der Sog riss sie in den Schacht, ihr Gewicht riss den Deckel herunter. Ihre grauenhaften Schreie hörte sie nicht mehr, der Schock war zu groß. Nach wenigen Sekunden brachen sie ab.

Rhodan und Atlan sprangen zurück, als Blut und etwas, das sie lieber nicht genau ansahen, aus dem Schacht spritzte und die Wände herunterlief. Atlan fasste sich als erster.

„Los!“ Er zog den Administrator mit sich. Der Deckel des Notganges lag nun dicht vor dem Schacht und unterbrach so den Sog. In kürzester Zeit hatten sie sich in den Notgang gezogen und kletterten so rasch wie möglich nach oben. Sie rannten durch Gänge und eilten Treppen hinauf, immer darauf gefasst, Schritte hinter sich zu hören. Nach fast einer Stunde erreichten die Männer jedoch unbehelligt den öffentlichen Teil und fanden sich vor einem kleinen Büro wieder.

Zwei Tage später trat Perry Rhodan in das Wohnzimmer des Arkoniden. Sie hatten Erklärungen abgegeben und die Solare Abwehr suchte nach ihren Entführern. Rhodan war sich sicher, dass sie schon bald verhaftet würden. Doch etwas anderes beschäftigte ihn viel stärker. Noch immer konnte er nicht das ohnmächtige Entsetzen abschütteln, das ihn bei dem furchtbaren Tod des Mädchens erfasst hatte.

„Atlan, warum hast du mich daran gehindert, Sheena Kereen aufzuhalten. Warum hat sie das getan? Für dich? Ihr müsst euch kennen, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass ihr euch besonders nahe steht. Und wenn, hättest du sie doch erst recht gehindert, sich zu opfern.“

„Warum nicht für dich?“

„Unsinn, sie konnte mich nicht leiden.“

„So hart würde ich das nicht ausdrücken. Aber sie ist weder für mich noch für dich gestorben. Ich glaube, Sheena ist es sehr wichtig, das Richtige zu tun.“

Der Arkonide bedeutete Rhodan sich zu setzen.

„Du machst dir Vorwürfe. Das brauchst du nicht. Du weißt, dass sie mich ermächtigt hat, dir von ihr zu erzählen.“

Und dann berichtete Atlan von der Zeit, vor Tausenden von Jahren im Alten Ägypten, als er Sheena zum ersten Mal begegnete und erkannte, dass sie ein ganz besonderer Mensch war. Und er erzählte wie er viele Jahrhunderte später an einem anderen Ort erfuhr, welches Geheimnis Sheena umgab.

In der Oase

Atlan hatte ein kleines Paradies geschaffen – irgendwo in der Wüste Afrikas, weitab von jeder anderen Zivilisation, und vor allem sicher versteckt vor den Soldaten des mächtigen römischen Reiches, das sich rings um das Südmeer erstreckte. Ein Versteck in einer wunderschönen Oase.

Einige Menschen fanden den Weg dorthin rein zufällig, doch die meisten wurden gezielt ausgesucht und angeworben. So kam auch ein junges Mädchen, das auf den Namen Sareen hörte, in die Oase – sie war eine geschickte Tuchweberin. In den ersten Tagen hatte sie nur gestaunt. Die Menschen ließen ihr Zeit. Neue Mitglieder ihrer kleinen Gemeinschaft hatten immer Mühe, sich an diesem seltsamen Ort zurechtzufinden.

Hier gab es viele Wunder – Sareen erkannte sie als versteckte technische Geräte und ahnte schnell, woher diese stammten. Ihre Vermutung bestätigte sich, als sie schließlich Atlan begegnete. Aus dem Mann, der bei ihm war wurde sie jedoch eine ganze Weile nicht klug. Bis sie einen Wortwechsel hörte, der nicht für ihre Ohren bestimmt war. Der Mann war kein Mensch, sondern eine Maschine – ein Roboter, der aussah, sprach und handelte wie ein Mensch.

Sareen achtete darauf, nicht aufzufallen, war jedoch immer darauf bedacht, in Atlans Nähe zu leben. Manchmal war sie drauf und dran, sich ihm zu erkennen zu geben, schwieg dann aber doch immer wieder. Er schien ein bestimmtes Ziel zu haben, und sie war neugierig.

Atlan beschäftigte viele Handwerker, die in einer abgelegenen Gegend der Oase an etwas bauten. Sareen stellte eine große Anzahl bestimmter Tücher und Decken für ihn her und brachte sie zu dem Ort, an dem die Handwerker bauten.

„Ich danke dir, Sareen.“

Sie reagierte kaum auf seine Worte, sondern starrte fassungslos das Ding an, das hier für Atlan gebaut wurde. Obwohl sie niemals so etwas gesehen hatte – höchstens in mehr oder weniger fantasievollen Filmen in einer Vergangenheit, an die sie nicht mehr dachte – erkannte sie es. Ein Raumschiff! Sie verstand und schauderte. Dieses zerbrechliche Ding sollte Atlan in seine Heimat bringen! War das überhaupt möglich? Es gab inzwischen Bronze und Eisen, aber keinen hochwertigen Stahl.

Doch mit jedem Tag wurde das Schiffchen vollständiger. Atlan und der als Mensch getarnte Roboter bauten eine Menge geheimnisvoller Geräte ein.

Als Sareen daran dachte, wie weit seine Heimat entfernt war, wurde ihr schlecht. Wie verzweifelt musste der Arkonide sein, um einen solchen Schritt zu wagen. Das war doch blanker Selbstmord! Doch dann hörte sie, dass sein Ziel der Nachbarplanet ihrer Welt war. Sie überlegte: Mars oder Venus?

Atlan hoffte, dort ein richtiges, raumtüchtiges Schiff zu finden, denn vor langer Zeit – vor Ewigkeiten – hatte es dort eine Station seines Volkes gegeben. Sareen zuckte zusammen. Sie waren also schon einmal Gefahr gelaufen zu einer arkonidischen Kolonie zu werden. Nachdenklich und sorgenvoll beobachtete sie Atlan. Würde er noch – nach so langer Zeit – an die Worte der kleinen Tuschemalerin denken, die einst im alten Ägypten lebte?

Oh, sie gönnte ihm die Heimkehr! War es doch schon für sie oft genug quälend, immer wieder in fremden Kulturen leben zu müssen. Doch sie war wenigstens ein Mensch und oft war es hochinteressant, die Reiche zu erleben, von denen sie immer nur gelesen hatte.

Doch er? Atlan kam aus einer so völlig anderen Welt, für ihn musste es um ein Vielfaches grausamer sein, hier, auf einer für ihn primitiven und barbarischen Welt, gefangen zu sein.

Nein, Sareen wünschte ihm, dass es ihm gelingen würde nach Hause zu kommen, seine Heimat wiederzusehen. Sie hoffte nur, dass dies nicht das Ende für die Menschen bedeuten würde. Wie würde er handeln? Sie hatte ihn damals inständig gebeten, diese Welt zu schonen. Würde er sich daran erinnern? Würde er ihr Flehen erhören?

Langsam ging sie Atlan nach, als er wie fast jeden Abend unter den Bäumen spazieren ging, die die Oase umgaben. Er sah sich um, als er ihre Schritte hörte. In respektvoller Entfernung blieb Sareen stehen und bat leise darum, mit ihm sprechen zu dürfen. Sie wusste, dass er zu jedem hier freundlich und aufmerksam war.

Sie setzte sich in den Sand und sah Atlan in die rötlichen Augen. „Ich möchte dich um etwas bitten.“

„Du siehst sehr ernst aus. Ist es wichtig?“

„Für mich, ja.“

Sareen zögerte nur einen Moment. Selbst wenn er sie nun erkannte, dies war nicht wichtig. Wichtig war alleine, ob es ihr gelingen würde, ihn dazu zu bringen, dass er auf Arkon nicht von diesem Planeten sprach.

„Atlan, ich möchte nicht, dass du mich falsch verstehst. Ich hoffe und wünsche, dass dein Unternehmen erfolgreich ist. Und dass du findest, was du suchst.“

„Woher weißt du, dass ich nach etwas suche?“

„Ich habe einiges gehört und anderes erraten. – Atlan, ich wünsche dir Erfolg. Ich wünsche, dass du endlich …“, wie deutlich konnte sie werden? „Dass du dein Ziel erreichst und dorthin gelangst, wo du hin willst. Ich – ich möchte dich jedoch darum bitten, dass du dich dann nicht mehr an uns erinnerst.“

„Warum sollte ich euch vergessen?“

„Weil es unsere einzige Chance ist.“ Sareen sprach rasch weiter, ehe er unwillig und verständnislos die Stirn zusammenzog. „Atlan, wenn du dort von uns erzählst … Bitte vernichte uns nicht. Du weißt was geschieht, wenn … wenn du von unserer Welt erzählst. Bitte, Atlan, gib uns eine Chance, vernichte uns nicht, ich bitte dich!“

Er starrte sie an. „Du weißt – wer ich bin. Woher ich komme?“

Sareen nickte, sah ihm weiterhin bittend in die Augen.

Atlan wunderte sich zwar, aber er hatte nie besonders darauf geachtet, ob eventuell jemand zuhörte, wenn er mit Rico sprach. Die Menschen in dieser Oase wussten, dass er und die wenigen Vertrauten, die er hatte, auf irgendeine Weise anders waren. Dass diese junge Frau jedoch anscheinend sogar die richtigen Schlüsse gezogen hatte, verwunderte ihn weit mehr. Die meisten sahen in ihm – wie so oft – eine Art Gott oder Halbgott.

Aber ihre Worte weckten eine längst vergessene Erinnerung. Sein Extrahirn half ihm weiter.

„Seltsam“, wunderte er sich. „Es gab schon einmal jemand, der diese Bitte an mich richtete. Mit fast denselben Worten.“

„Sie hieß Isarion“, fuhr Atlan fort, als er in die dunklen Augen sah. Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube, du siehst ihr sogar ähnlich.“

Sareen senkte rasch den Blick, würde er die Wahrheit erraten? Atlan legte ihr die Hand auf die Schultern und zwang sie sanft, ihn wieder anzusehen.

„Du brauchst dich nicht zu fürchten, Sareen. Ich wusste lange Zeit nicht, wie ich handeln würde, doch inzwischen … Ich habe dein Volk lieben gelernt, auch wenn ich die meiste Zeit über euch und euren Starrsinn verzweifle.“

Ihre Augen wurden groß, und er lächelte. „Wenn ich wieder auf Arkon – meiner Welt – bin, werde ich die Position von Larsaf drei – deiner Welt – nicht preisgeben. Ihr könnt euch weiterhin gegenseitig umbringen und das Leben schwer machen.“

Sareen ergriff seine Hände und presste sie. So groß war ihre Angst gewesen, dass sie nun in Tränen ausbrach.

„Danke“, flüsterte sie und erinnerte sich daran, wie man sich in einer der vielen Kulturen, die sie erlebt hatte, bedankt hatte. Sie kniete ohnehin schon im Sand, also legte sie ihre Hände vor das Gesicht und verbeugte sich tief vor ihm.

Atlan packte ihre Schulter und zog sie hoch. „Nein!“ Seine Stimme war scharf. „Hör auf, Sareen. Vor mir braucht sich niemand in den Sand zu werfen.“

Sie lächelte. „Es ist nicht Unterwerfung, Atlan. Es ist eine Geste der Dankbarkeit. Ich glaube nicht an die Götter, aber ich werde zu allen nur denkbaren Geistern und Göttern beten, dass du heimkehren kannst.“

Und als er – Tage später – wieder zur Oase zurückkehrte, sah sie sein blasses Gesicht. Mitgefühl wallte in Sareen auf. Er hatte so viel gewagt – und anscheinend umsonst. Atlan schloss kurz die Augen als er sie sah – und ihr Erschrecken und ihr Mitgefühl erkannte. Er bedeutete seinen Freunden mit Gesten weiterzugehen, und wandte sich ihr zu.

„Warum …? Was ist geschehen?“

„Die Reichweite der Schiffe genügt nicht. Ich weiß nicht, ob du begreifen kannst, was ich sage.“

Sie nickte. Heiser und krampfhaft bemüht, den Schmerz, den das Mitleid mit ihm auslöste nicht zu zeigen sagte Sareen: „Wie ein Floß, das zwar einen breiten Fluss überqueren kann, aber nicht das Südmeer.“

„Gutes Beispiel, du begreifst sehr schnell und sehr viel.“

„Du kannst nicht zurück? Du bist weiter gezwungen hierzubleiben?“ Sie flüsterte nur, wagte kaum die Worte auszusprechen. Wie musste er sich jetzt fühlen?

Atlan lehnte sich an eine der Palmen, starrte blicklos in den Himmel. Fast sprach er nur für sich selbst: „Ich hätte um Hilfe rufen können.“

Sie begriff. Kein geeignetes Schiff, aber es musste dort ein Funkgerät geben. Hätte? Ungläubig sah Sareen ihn an. Sein Blick wanderte über sie hinweg, über die kleine Siedlung, die Bäume, den Sand. Seine Worte waren kaum noch hörbar.

„Sie hätten ein Schiff geschickt und mich abgeholt. Die Position deiner Welt wäre ihnen bekannt geworden.“

Sie konnte nicht atmen. Die Erkenntnis dessen, was Atlan getan hatte, schnürte ihr die Brust zusammen. „Du hast dich freiwillig verdammt. Du hast auf deine Heimkehr verzichtet, um uns zu schützen? Das ist zuviel. Das kann niemand von dir verlangen. Das ist grausam!“

„Es hat niemand von mir verlangt.“

„Ich habe dich gebeten. Ich trage die Schuld daran.“

Atlan schüttelte den Kopf. Seltsam, die dumpfe Leere in ihm war verschwunden. Er wusste plötzlich genau, dass er richtig gehandelt hatte.

„Nein, Sareen. Du hast mich gebeten, doch du hast nichts verlangt. Genau wie Isarion damals. Ich habe mich freiwillig dazu entschieden. Weil ihr beide Recht habt. Ihr verdient es, euch frei und ohne Einmischung zu entwickeln.“

Atlan holte tief Luft, atmete den würzigen Duft der Palmenblüten ein, sah in den tiefblauen Himmel, in dem nur einige wenige weiße Wolken schwebten, hörte das Lachen der Menschen und lächelte.

„Irgendwann wird es für mich eine Möglichkeit geben zurückzukehren, ohne dass ich deine Welt preisgeben muss.“

Sareen hob den Kopf: „Atlan, ich werde niemals gutmachen können, was du für uns getan hast.“

Sie schüttelte den Kopf als er abwehren wollte. „Bitte lass mich weitersprechen. Du sagst, ich habe nichts verlangt, aber ich habe dich gebeten und das nicht nur ein Mal. Ich – Isarion, die kleine Tuschemalerin in der weißen Stadt am Nil hat dich ebenso gebeten und Isarion bin ich.“

Verwirrt sah Atlan sie an. „Wie meinst du das? Isarion lebte vor sehr langer Zeit in einem anderen Land, weit weg von hier.“

Er stutzte. „Woher weißt du, dass sie Tuschemalerin war und im Nilland lebte?“

„Weil ich Isarion bin und Sareen und viele andere Personen.“

Sie konnte nicht anders. Sie erzählte ihm, wer sie war, und dass sie niemals wirklich starb: „Ich bin ein Mensch, eigentlich ein ganz normaler Mensch. Mit einer Ausnahme. Wenn ich sterbe ist das nicht endgültig. Genau genommen kann ich überhaupt nicht wirklich sterben. Irgendwann wache ich wieder auf. An einem anderen Ort und mit Sicherheit viele Jahre später. Was mit mir geschieht, während ich sozusagen tot bin, weiß ich nicht. Aber der Tod hat keine Schrecken mehr für mich. Ich lebe seit ewigen Zeiten und an abertausend Orten.“

Sareen atmete tief ein, noch niemals hatte sie diese Worte ausgesprochen. Sie sah Atlan an, der ihr immer gespannter zugehört hatte. Er hatte schon viel erlebt und kannte auch unglaubliche und faszinierende Dinge. Doch dies ...

Als sie schwieg, schüttelte er fassungslos den Kopf. „Unglaublich“, murmelte er. Forschend musterte er das junge Mädchen. „Du beschützt und behütest deine Welt.“

Sareen schüttelte den Kopf. „Das kann ich gar nicht. Ich besitze weder die Möglichkeit noch die Macht dazu. Ich lebe – ein ganz normales Leben, wie jeder andere Mensch auch. Ich suche nicht nach Macht und vermeide, wenn irgend möglich, in die Nähe von Herrschern oder anderen Mächtigen zu geraten. Ich ziehe es vor, einfach und unkompliziert zu leben.“

Atlan nickte langsam. „Isarion benutzte nicht dieselben Worte, sagte mir jedoch dasselbe. Was verständlich ist, da ihr beide ein und dieselbe Person seid.“

Er überlegte kurz. „Hätte ich dir nicht öfters begegnen müssen?“ Er verneinte seine Frage sofort selbst. „Nein, es wäre – es ist – ein ziemlicher Zufall. Diese Welt ist groß und selbst wenn du nur einige Städte oder Dörfer entfernt leben würdest, würden wir uns nur zufällig begegnen können.“

Sareen nickte und schmunzelte. „Wir sind uns noch einmal begegnet, aber ich habe mich nicht zu erkennen gegeben. Aber auch das ist schon vor vielen meiner Leben geschehen. Ich war eine von vielen, die in der großen Karawane mit dir vom Zweistromland nach Osten zogen, bis zu den Menschen mit den schrägen Augen und schwarzen Haaren. Es ist der gleiche Weg, der heute schon als Seidenstraße bekannt ist. Du hast ihn für die Menschen erkundet.“

Atlan blickte sie nachdenklich an. „Es gibt etwas, das deine Erklärung ausspart. Einige Dinge lassen sich nicht mit deiner Art der „Unsterblichkeit“ erklären.“

Sareen lächelte. „Ach ja?“

„Woher weißt du Dinge, die es auf deiner Welt nicht gibt? Du besitzt Wissen, das noch niemand hat. Gleichgültig wie lange du schon lebst, und wie viele Kulturen und Reiche – und deren Wissen – du kennengelernt hast. Woher weißt du, dass es andere Welten gibt, woher kennst du die Geräte, die ich besitze?“

Sie blickte in den Sand, eine ganze Weile schwieg sie. Dann zuckten ihre Schultern ein klein wenig. „Ich denke nicht einmal mehr daran. Wenn die Erinnerungen kommen, lenke ich mich ab. Ich will nicht mehr an diese Zeit denken. Damals war ich jemand anderes, ich meine nicht nur ein anderer Name. Ich glaube, die Person, die ich ursprünglich war, ist tatsächlich tot.“

Atlan schwieg, er war neugierig, aber Sareen klang so ernst, und in ihren Augen zeigte sich eine tiefe Traurigkeit. Doch sie sprach weiter, stockend und nach Atem ringend, als wäre dies eine ungeheure Anstrengung: „Ich werde eigentlich erst in ungefähr zweitausend Jahren geboren. Ich habe mich schon immer für Geschichte interessiert und viel über die Entwicklung der Menschen gelesen. Genau genommen komme ich aus der Zukunft.“

„Du weißt, wie die Menschheit sich entwickeln wird.“ Atlan staunte.

Sie zuckte mir den Schultern. „Ja, ungefähr. Aber ich glaube nicht, dass die Menschheitsgeschichte, wie ich sie gelernt habe, festgeschrieben ist. Ich nehme an, dass sich durchaus einiges ändern lässt.“

Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Jedenfalls gab es in unserer Geschichtsschreibung keine Hinweise auf einen unsterblichen Außerirdischen, der uns beschützt.“

„Seit wann … lebst du so?“

Wieder hoben sich die schmalen Schultern. „Genau weiß ich das nicht. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich sozusagen tot bin. Und ich wache immer wieder an völlig anderen Orten auf. Eine halbwegs vernünftige Zeitrechnung gibt es auch noch nicht lange, und jede Kultur benutzt andere Anfangswerte. Ich kann nur nach den Kulturen gehen, die ich kennengelernt habe.“

Sareen sah auf und grinste schief. „Ich schätze, ich bin um einiges älter als du. In meinen ersten Leben – dem ersten nach meinem ursprünglichen – habe ich Menschen gesehen, die eindeutig noch keine sogenannten modernen Menschen sind. Irgendwann in der Zukunft nennt man sie Neandertaler. Es gab nicht mehr viele von ihnen, aber sie lebten noch.“

Atlan ächzte. Sie lebte mindestens zwei bis dreimal so lange, vielleicht sogar viermal so lange, als er. „Und wie bist du in die Vergangenheit geraten? Kennt die Menschheit der Zukunft eine Möglichkeit der Zeitreisen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, wir – in meiner ursprünglichen Gegenwart – sind längst noch nicht so weit entwickelt wie dein Volk. Was mit mir geschehen ist, weiß ich nicht. Ich – starb. Und wachte wieder auf. Es hat lange gedauert, bis ich überhaupt begriff, dass ich in der Vergangenheit war. Seitdem ...“ Sareen zuckte mit den Schultern.

Sie sprachen in den nächsten Wochen noch viele Male miteinander, und als Atlan wieder zurück in die Einsamkeit unter dem Meer ging, verabschiedete er sich von Sareen: „Vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder. Ich werde in Zukunft immer nach dir Ausschau halten. Da du dein Aussehen nicht veränderst, werde ich dich erkennen, nun da ich weiß, dass du sehr wahrscheinlich irgendwo lebst.“

Neuzeit

Atlan schwieg aufatmend und blickte zu Perry Rhodan hinüber. Der war fassungslos. „Die Neandertaler starben vor dreißigtausend bis vierzigtausend Jahren aus. Sie hat damals schon gelebt?“

„Scheint so. Sie erzählte, dass sie anfangs bei kleinen Sippen lebte, die eindeutig einfache Jäger und Sammler waren. Es gab nur wenige solcher Sippen, aber sie hatten hin und wieder Kontakt miteinander. Die einzelnen Jagdgebiete müssen recht weit auseinander gelegen haben. Und sie hatten – zumindest einige von ihnen – Handelsbeziehungen zu diesen anderen Menschen. Sie hat sie gesehen und ist überzeugt davon, dass es Neandertaler waren. Obwohl sie damals einfach als die Anderen bezeichnet wurden.“

Rhodan war blass. „Sie hat das Aussterben der Neandertaler miterlebt? Ich kann mir vieles vorstellen, aber ich glaube, hier streikt mein Hirn.“

Eine Weile waren beide Männer still. Schließlich raffte Perry Rhodan sich auf und schob die fantastischen Gedanken beiseite: „Aus welcher Zeit stammt sie ursprünglich?“

„Ich habe nachgerechnet. Genau kann ich es natürlich nicht sagen. Aber nach den Informationen, die sie mir damals in der Oase gab, müsste ihr ursprüngliches Leben ungefähr jetzt gewesen sein, plus-minus einhundert bis zweihundert Jahre. Und wenn ich ihre technischen und wissenschaftlichen Kenntnisse mit einbeziehe, würde ich sagen, sie lebte im zwanzigsten Jahrhundert.“

„Warum ausgerechnet diese Zeit, warum nicht früher oder später?“

Atlan schüttelte den Kopf. „Sie kannte technische Geräte, die erst mit der Industrialisierung entwickelt worden sind. Früher kann es also nicht sein. Aber sie kannte Raumfahrt nur theoretisch. Also muss sie vor deiner Zeit gelebt haben. Sie hat mir das mehr oder minder bestätigt, als wir miteinander gegessen haben.“

Rhodan sah ihn fragend an.

„Sie meinte, sie sei nun endlich in der Zukunft angelangt, wollte aber nicht näher darauf eingehen.“

Perry war immer noch fassungslos. „Das klingt derartig fantastisch, aber es muss wohl so sein.“ Er schüttelte sich. „Dennoch, was sie getan hat …“

Atlan unterbrach ihn. „Ich glaube, dass sie längst jede Angst vor dem Sterben verloren hat. Sie muss schon unzählige Male gestorben sein. Und sicherlich nicht immer auf angenehme Art. Deine Welt ist barbarisch und bis vor wenigen Jahren starben die wenigsten Menschen friedlich im Bett.“

„Vermutlich hast du Recht. Vielleicht werde ich mich irgendwann an den Gedanken gewöhnen können.“

Perry Rhodan schaute Atlan gespannt an. „Aber wenn ihr beide diese ganzen Jahrtausende gleichzeitig hier gelebt habt – du hast sie wirklich nur diese beiden Male getroffen?“

Atlan nickte. „Ja, ich habe sie nie wieder gesehen, obwohl ich immer wieder nach ihr gesucht habe. Und an das eine weitere Mal, lange Zeit bevor es die Oase gab, wie sie sagte, erinnere ich mich nicht. Sie hat sich damals wie gesagt, nicht zu erkennen gegeben.“

Rhodan überlegte. „Wann wird sie wieder aufwachen? Weißt du wie lange es dauert, bis sie wieder unter uns lebt?“

„Fünfzig, hundert oder noch mehr Jahre vermutlich. Sie erzählte mir, dass sie vor diesem Leben vor einhundertsiebenunddreißig Jahren gestorben sei.“

„Dann werden wir auf sie warten.“

 

 

Weitere Werke der Autorin

 

Von meiner Protagonistin in dieser Geschichte gibt es auch einen Roman (kein FanFiktion) käuflich. "Die Frau aus der Geisterwelt" erzählt den Beginn ihres ungewöhnlichen "unsterblichen" Lebens.

 

Weitere Fanfiktion-Geschichten zu verschiedenen Büchern/Filmen von Anne Grasse findet ihr hier auf bookrix.de.

 

Dazu gibt es in allen gängigen Onlineshops Romane von mir - keine Fankfiktion - zu kaufen. Leseproben findet ihr ebenfalls hier auf bookrix.de. Das Repertoire umfasst historische Abenteuerromane ebenso wie Sci-fi Romane.

 

Auch sind hier auf bookrix.de kostenfreie Werke - keine Fankfiktion - von Anne Grasse zu finden.

Impressum

Cover: Bild von Enrique Meseguer auf Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 18.02.2016

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