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Die Begegnung

Isoran fiel durch das Tor und schlug hart auf. Viel mehr verdutzt als verärgert setzte sie sich auf und sah sich um. Was war das denn? Eilig befreite sie sich aus dem zwar grünen, aber äußerst stacheligen Gestrüpp, das den Boden rings um sie her bedeckte. Verwirrt schaute sie sich genauer um: Gras, irgendwelche anderen grünen Gewächse, manche mit Blüten, kleine Büsche und weiter in der Ferne ein Wald. Jedenfalls Bäume.

Das war nie und nimmer Danobin! Wo beim ewigen Licht war sie hier? Und wie konnte es überhaupt sein, dass sie nicht genau an dem Ort ankam, wo sie hinwollte? Ein Tor führte nun einmal immer zur gleichen Welt und durch dieses Tor war sie ja nun schon sehr oft gegangen.

Langsam stand sie auf, eine kleine, schlanke Gestalt mit hellbraunen Haaren, die glatt bis fast auf die Schultern fielen. Über den Ohren hielt leicht schimmernder Bronzeschmuck  das Haar zusammen und verhinderte, dass einzelne Strähnen ins Gesicht fielen. Dieses war oval mit länglichen, im Moment recht misstrauisch schauenden, dunklen Augen, einer kleinen, sehr geraden Nase und einem schmalen Mund.

Sie wirkte wie ein zierliches, junges Mädchen, in der einfachen aber praktischen Lederkleidung recht hübsch anzuschauen. Nett und harmlos, aber der Eindruck täuschte. Isoran war ein Sonnenkind und Sonnenkinder waren ganz gewiss nicht harmlos.

Noch einmal drehte sie sich im Kreis, nein, es fanden sich keinerlei Hinweise auf Ansiedlungen oder Lebewesen, von Vögeln und Insekten mal abgesehen. Sie war nicht besorgt, wozu auch, sie kannte nichts, das ihr wirklich gefährlich werden konnte. Aber langsam wurde sie neugierig.

Aufmerksam stieg sie einen sanft ansteigenden Hügel hinauf, überall konnte sie Spuren kleiner Tiere erkennen, die vermutlich im Erdboden hausten. Das Gesträuch sah normal und harmlos aus, doch konnte sie keine Merkmale erkennen, die auf eine bestimmte Welt hindeuteten.

Immer rascher schritt sie aus, bis sie den Hügel erklommen hatte. Doch auch jetzt konnte sie keine Spuren von intelligenten Lebewesen finden. Na schön, dann würde sie eben danach suchen. Irgendwo mussten Lebewesen zu finden sein, die Tore führten nicht auf unbewohnte Welten. Allerdings konnte es sein – je nachdem auf welche Welt sie geraten war –, dass sie völlig unpassend gekleidet war. Sie hatte sich für Danobin ausgerüstet. Nun ja, das konnte sie jetzt nicht mehr ändern.

Sollte sie vielleicht in eine neue, ihnen unbekannte Welt geraten sein? Das wäre … Aufregung ergriff sie. Neue Welten wurden normalerweise nie nur von einem Sonnenkind betreten. Beim ersten Mal war es immer eine Gruppe von fünf bis sieben Personen.

Isoran konzentrierte sich und sah mit gefurchter Stirn und zusammengekniffenen Augen auf einen Punkt irgendwo in der Luft vor sich. Nur für sie sichtbar flimmerte es und ein schwarz schimmerndes Tor erschien aus dem Nichts. Das junge Sonnenkind keuchte entsetzt auf: Das Tor war verschlossen und sie konnte deutlich die Siegel erkennen, die dafür sorgten, dass niemand sie öffnen konnte. Das konnte nur eines bedeuten:

Sie war in Mittelerde!

In Mittelerde, der Welt, die kein Sonnenkind betreten durfte. Seit damals, als sie große Schuld auf sich geladen hatten und mit dieser Schande diese Welt verlassen mussten, um nie wieder zurückzukehren.

Wie war sie hierher gekommen? Das Tor war noch immer versiegelt, sie konnte es nicht durchschritten haben. Doch die Tore waren der einzige Weg, den die Sonnenkinder kannten, um andere Welten zu betreten. Was beim ewigen Licht war geschehen? Sie konnte einfach nicht hier sein!

Sie hatten ihr Wort gegeben, einen heiligen Eid geschworen: Fortzugehen und Mittelerde nie wieder zu betreten!

Das Tor verschwand als ihre Konzentration nachließ. Geschockt, entsetzt, verwirrt und völlig ratlos setzte Isoran sich erst einmal hin. Was sollte sie jetzt machen? Was konnte, was musste sie jetzt unternehmen?

Zurück in ihre Welt konnte sie nicht, dazu müsste sie die Siegel aufbrechen und das durfte nicht geschehen. Sie musste einen anderen Weg finden, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie. Und zwar schnell, bevor die Elben auf dieser Welt sie bemerkten.

Isoran zuckte zusammen. Das hieße, sich feige zu verstecken und heimlich wieder zu verschwinden. Einfach so, als ob nichts geschehen wäre, als ob der Eid, den sie geschworen hatten, nicht gebrochen worden wäre.

Nein, nein und noch mal nein! Sie war noch nie feige gewesen. Nun gut, es hatte auch noch nie Veranlassung dazu gegeben. Aber sie war schließlich ein Sonnenkind! Sich heimlich davonstehlen, nicht zu dem zu stehen was sie getan hatte, wenn auch ungewollt und ohne es auch nur zu begreifen? Nein, das kam nicht in Frage!

Sie ließ den Kopf hängen und fuhr sich langsam und verzagt mit den Händen durch die Haare. Das würde ein schwerer Weg werden. Sie würde ihren Stolz aufgeben müssen, etwas, das für ein Sonnenkind fast unmöglich war. Bitter lachte Isoran auf, sie würde noch viel mehr verlieren als ihren Stolz.

Denn diesmal würden die Elben ihren Tod fordern. Damals hatten sie die Sonnenkinder nur fortgejagt, was allerdings fast schlimmer gewesen war. Ihr Stolz war nur schwer damit fertig geworden, derart verächtlich behandelt zu werden. Doch jetzt war der Eid gebrochen worden, und das konnte nur mit dem Tod geahndet werden. Doch genau dieser Stolz, ihre Selbstachtung und das ganze Selbstverständnis, das sie als Sonnenkind hatte, ließen keine andere Möglichkeit zu.

Sie musste sich den Elben stellen und ihr Urteil annehmen!

Sie, ein Sonnenkind, ein Mensch, der so gut wie unbesiegbar war, würde sich von einem anderen Lebewesen verurteilen lassen müssen. Alles in ihr wollte sich dagegen auflehnen. Sie, die Sonnenkinder, waren es, die viel mehr Wissen besaßen als andere. Sie waren es, die das Licht und die Macht des Lichtes kannten und beherrschten. Niemand konnte sie auch nur gefangen nehmen, geschweige denn töten. Sie wurden von niemandem beherrscht und niemand konnte einem Sonnenkind Befehle geben.

Natürlich waren sie nicht besser als andere und doch … Isoran seufzte, als sie bei diesem Gedanken ankam. Die verdammte Arroganz der Sonnenkinder! Nur dadurch hatten sie damals Schuld und Schande auf sich geladen. Nein, nein, sie würde diesen Fehler nicht begehen! Mühsam schluckte sie und stand auf.

Sie würde die Elben suchen und finden. Und weder ihr Stolz noch diese verdammte Arroganz, die in ihr steckte wie in jedem anderen Sonnenkind auch, würden sie daran hindern.

Drei Tage wanderte Isoran mehr oder weniger missmutig durch das hügelige Land. Immer wieder hob sich ihre Laune, wenn sie die Schönheit dieser Gegend bemerkte, die kleinen, lichten Wäldchen, die fröhlich murmelnden Bäche und kleinen Flüsse. Die flachen Hügel, von Haselnusssträuchern bewachsen, in denen die Vögel ihre Nester hatten.

Doch dann dachte sie wieder an das Ziel ihrer Wanderung und sie versank in Trübsinn. Isoran verzichtete darauf, Tiere zu jagen und begnügte sich mit Beeren und anderen Früchten, die sie fand. Sie mochte Nahrung, doch sie war nicht darauf angewiesen. Die Macht, die ihr verliehen war, ermöglichte es ihr, von der Energie des Lichts zu leben. Obwohl sie niemals eine Scheibe frischen Brotes oder ein gut gegrilltes Stück Fleisch ablehnen würde.

Doch wenn sie auf Elben stieß, würde ihr auch die Macht des Lichts nicht helfen können, denn sie würde sie nicht nutzen dürfen. Grimmig stapfte Isoran auf den Waldrand zu und trat ins helle Licht hinaus. Vor ihren Augen breiteten sich sanfte Hügel aus. Ein kleiner Bach sprang gluckernd und plätschernd über Steine und suchte sich seinen Weg durch die Wiesen.

Unwillkürlich lächelte Isoran, es war wunderschön hier. Dann stutzte sie. Ein paar der weiter entfernten Hügel qualmten! Feiner, weißer Rauch stieg aus ihnen empor, verteilte sich in der Luft und löste sich langsam auf. Staunend lief sie einige hundert Schritte darauf zu, dann erkannte sie, dass es sich dort vorne nicht mehr um natürliche Hügel handelte. Die Hügel hatten nämlich Türen. Runde Holztüren in allen möglichen Farben. Und an den Hügeln vorbei wanden sich geschwungene Wege, manche säuberlich gepflastert, andere nur festgetreten. Doch auch sie sahen gepflegt aus.

Und dort, noch weiter hinten waren auch Gärten, liebevoll angelegt und Felder, hoch mit Getreide bewachsen. Isoran plumpste auf ihr Hinterteil und sah mit großen, staunenden Augen auf das friedliche Panorama. Diese Art von Ansiedlungen kannte sie von anderen Welten. Das war ein Dorf des kleinen Volkes. Unwillkürlich kamen ihr die uralten Worte des Liedes über dieses Volk über die Lippen:

 

Gesegnet die Welten, auf denen das kleine Volk lebt

unbeachtet, meist vergessen

scheinbar unwichtig für den Lauf der Zeit

und das Werden der Welt

Doch wehe, die Zeit der Bewährung naht

und das kleine Volk ist verschwunden,

verweht und fortgegangen in Raum und Zeit

und nicht mehr hier, die Welt zu schützen

Denn nur sie kennen den Weg

Nur das kleine Volk besitzt die Kraft

das Dunkle zu vernichten

Gesegnet die Welt, die das kleine Volk hält.

 

Ganz still saß sie da, die Arme um die Knie geschlungen und blickte auf die rauchenden Hügelbauten. Sie hatte nicht bemerkt, dass ein Mann lautlos hinter ihr aus dem Gebüsch getreten war.

Er war groß. Die dunklen Haare waren länger als ihre und leicht gewellt. Er war ganz in Schwarz gekleidet, nur der Umhang, den er locker um die Schultern trug, war von einem eigenartigen grünlichen Grau. Eine wie ein Blatt geformte Schnalle hielt ihn am Hals zusammen.

Mit gefurchter Stirn hatte er Frau beobachtet, die Hand vorsichtig auf den Schwertknauf gelegt. Sie gehörte nicht zu seinen Leuten und allein ihre Körpergröße wies sie hier als Fremde aus. Was machte sie in dieser Gegend? Dann hatte er die fast ehrfürchtig gesprochenen Worte gehört. Wie von selbst löste sich seine Hand vom Schwert und nun beobachtete er neugierig und erstaunt die junge Frau, die dort andächtig auf das Dorf seiner Freunde sah.

Noch immer saß Isoran da und starrte auf das Dorf. Und fühlte plötzlich Frieden in sich. Mochte kommen was wolle, mochte mit ihr geschehen was geschehen musste, diese Welt war geschützt. Das kleine Volk lebte in Mittelerde! Sie lächelte und erschrak nicht einmal, als eine sanfte, leise Stimme erklang: „Das Volk der Halblinge ist es wert geachtet zu werden. Niemand weiß das besser als ich. Doch dieses Lied habe ich noch nie gehört. Woher stammt es?“

Noch immer lächelte Isoran, als sie, ohne sich umzudrehen, antwortete: „Es sind uralte Worte, die seit langer Zeit immer weitergegeben wurden. Von Mutter zu Tochter, von Vater zu Sohn. Denn so lange sich jemand an das kleine Volk erinnert und es achtet und nicht vergisst, so lange wird dieses Volk existieren. Erst wenn das letzte Lebewesen das kleine Volk vergessen hat, werden sie verschwinden und nie wieder gesehen werden.“

Dann erst wandte sie sich um und betrachtete den Sprecher. Obwohl sie sich dafür schalt, atmete sie auf. Dies war eindeutig kein Elb. Sein Gesicht hatte harte Linien, doch sein Lächeln war sanft. Kleidung und Waffen wiesen ihn als Krieger aus. Und auf seinem Wams prangte wie ein Wappen ein weiß-silbriger Baum ohne Blätter.

Als er ihren forschenden Blick sah hob er leicht die Hände und zeigte ihr die Handflächen. „Ihr habt nichts zu befürchten, Lady.“ Damit trat er näher und setzte sich in zwei bis drei Schritte Entfernung zu ihr nieder. Seine Haltung und auch der Abstand, den er einhielt sollten eindeutig zeigen dass er friedliche Absichten hatte.

„Ich fürchte mich nicht. Ich bin Isoran. Wollt Ihr mir Euren Namen sagen?“

Sie sah verwundert, dass der Mann stutzte. Dann hustete er, als ob er ein Lachen kaschieren wollte. „Mein Name ist Aragorn, Arathorns Sohn.“ Wieder zuckten seine Mundwinkel belustigt. „Ihr seid fremd hier, scheint mir. Woher kommt Ihr?“

Jetzt war es an Isoran, friedfertig die Hände zu heben. „Es stimmt, ich bin fremd hier und kenne diese Welt kaum. Ich komme von sehr weit her.“ Sie riss sich zusammen. „Ich bin auf dem Weg nach Westen. Ich suche das Volk der Elben, das, soweit mir bekannt ist, an den Küsten des Meeres lebt.“

„Die Elben haben Mittelerde vor Jahren schon verlassen und sind nach Westen gesegelt.“

„Verlassen?“ Isoran sah ihn verwirrt an. „Wie meint Ihr das? Ich glaubte, sie lebten in diesem Landstrich im Westen bis der Ruf sie heimholt.“ Sie begriff plötzlich und erbleichte. „Ihr meint, sie sind fort? Sie sind … zu den Valar gegangen?“

Aragorn nickte.

„Alle? In den anderen Landen lebten doch auch Elben, Dunkelelben wurden sie genannt. Was ist mit ihnen?“

„Vor etwa dreißig Jahren verließ das letzte Schiff der Elben Mittelerde. Niemand ist zurückgeblieben, bis auf die eine, die das Leben mit und unter den Sterblichen wählte.“

Isoran atmete tief ein, Erleichterung wollte sie durchströmen. Das Volk, das sie verbannt hatte, war fort. Sie lebten nun, oder existierten nun, in jener geheimnisvollen Welt der Valar, die kein sterbliches Volk betreten konnte.

Doch änderte dies tatsächlich etwas? Egal, ob die Elben nun hier lebten oder nicht, ihr Eid band sie so oder so. Und er war gebrochen worden! Doch wem sollte oder konnte sie nun Rechenschaft ablegen? Halt – eine der Elben war zurückgeblieben. Sie musste zu ihr.

„Ihr sagt, eine aus dem Volk der Elben sei noch hier. Wisst Ihr wo sie lebt? Und wieso ist sie nicht mit ihrem Volk gegangen?“ Isoran schüttelte sofort den Kopf. „Das geht mich nichts an. Sie wird ihre Gründe haben.“

Aragorn lächelte. „Sie wählte das Leben an der Seite eines Sterblichen.“

„Eines Menschen?“ Isoran war ehrlich verdutzt. „Kein Elb würde sich an einen sterblichen Menschen binden.“

Sie zögerte, erinnerte sich an eine der vielen Informationen, die ihr Volk damals gesammelt hatte. „Zumindest nicht an einen gewöhnlichen Sterblichen.“

Sie sah den Gesichtsausdruck des Mannes und zog die Augenbrauen hoch. „Ihr?“ Sie unterzog ihn nochmals einer genauen Musterung. „Dass seid Ihr ein außergewöhnlicher Mensch mit großen Gaben und Fähigkeiten.“

Isoran schmunzelte als sie die etwas verlegene Geste sah, mit der er auf diese Worte reagierte. Obwohl er, ihrem Eindruck nach, nicht unbedingt an mangelndem Selbstvertrauen litt. Doch wurde sie sofort wieder ernst, als sie daran dachte, was sie nun zu tun hatte.

„Ich muss zu ihr“, murmelte sie.

„Arwen Undormiel ist hier.“

„Hier?“

Aragorn nickte, während er überlegte, was die Frau verbarg. Sie schien alles andere als erfreut darüber zu sein, dass ihre Suche Erfolg hatte. Weshalb suchte sie dann nach den Elben? Und wieso hatte sie nach Westen gehen wollen? Die letzten Zufluchtsorte der Elben waren nicht an den Küsten gewesen. Und doch schienen ihre Worte offen und ehrlich zu sein. Konnte es sein, dass die Prophezeiung sie meinte? Eine Frau? Doch ihre Haltung, ihre Art zu sprechen zeigten, dass sie große Selbstsicherheit besaß und vermutlich nicht auf den Schutz eines Mannes angewiesen war. Eine Kriegerin?

Er stand auf. „Kommt, Lady Isoran. Seid unser Gast. Wir lagern dort hinten. Dort werdet Ihr Lady Arwen finden.“

Zögernd erhob sie sich. Dann wandte sie sich plötzlich dem Dorf der Hobbits zu. Eine ganze Weile stand sie nur da und sah hinunter. Dann endlich schien sie einen Entschluss gefasst zu haben. „Ich danke Euch für diese freundliche Einladung, Lord Aragorn. Ich komme gerne.“

Suchend blickte Aragorn sich um. „Ihr habt nichts bei Euch? Gepäck, Waffen?“ Isoran mied seinen Blick. „Nein. Waffen – trage ich nicht und Gepäck habe ich nicht.“

Aragorn stellt keine weiteren Fragen, doch sein Misstrauen wuchs. Sie musste von sehr weit her kommen, wenn sie nicht wusste, dass die Elben schon vor vielen Jahren diese Gestade verlassen hatten. Doch wie war sie durch die öden und wilden Lande gekommen? Ohne Waffen und ohne sonstiges Gepäck. Noch immer streiften Orks durch die Berge und in vielen Gegenden konnte man auf Trolle stoßen.

Schon von weitem hörten sie fröhliches Gelächter. Dann umrundeten sie eine Hecke aus Haselnusssträuchern und traten auf eine große Lichtung. Am Rand waren einige Zelte aufgestellt. Davor standen mehrere lange Tische, gedeckt mit großen Tafeln verschiedener Speisen.

Weiter hinten konnte Isoran eine Anzahl Pferde und Ponys erkennen und bei ihnen standen einige Männer, vielleicht eine Hand voll. Auf  ihrer Kleidung konnte sie das gleiche Wappen erkennen, das auch Aragorn trug.

Doch gleich neben den Tischen stand ein hochgewachsener Mann, vor ihm drei weitaus kleinere Gestalten, die wie Kinder wirkten. Isoran lächelte, sie wusste genau, dass dies keine Kinder waren. Die drei drehten sich um, als sie Schritte hörten.

„Streicher! Endlich! Wo warst du so lange? Wir warten auf dich.“

„Ja, bei all den leckeren Sachen hier läuft einem doch das Wasser im Munde zusammen. Doch Faramir bestand darauf, dass wir auf dich warten müssen.“

Aragorn lachte hell auf, er liebte die heitere, sorglose Art dieser Wesen. „Dann muss ich mich wohl entschuldigen, dass ich euch einer derartigen Zumutung ausgesetzt habe. Aber auch unser Gast wird hungrig sein und so wollen wir euch nicht länger warten lassen.“

Damit wandte er sich an den schon älteren Mann, der sich achtungsvoll vor ihm verneigt hatte. „Dies hier ist Lady Isoran. Lady Isoran, dies ist mein oberster Heermeister Faramir. Und diese hungrigen Herren sind meine Freunde. Samweis Gamdschie, Bürgermeister von Hobbingen, dem Dorf, das Ihr bewundert habt. Peregrin Tuk und Meriadoc Brandybock.“

Isoran hatte leicht den Kopf geneigt, als ihr der Heermeister vorgestellt wurde, doch zu aller Erstaunen legte sie nun die Hände über Kreuz auf ihre Schultern und verneigte sich sichtbar deutlicher vor den drei Hobbits.

Aragorn sagte auch jetzt nichts dazu, sondern winkte nur zu Tisch. Auch die Männer der Garde kamen nun heran und setzten sich. Nur Isoran zögerte wieder und sah sich suchend um. „Lady Arwen wird bald wieder hier sein. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr dann von ihr empfangen werdet.“

Nun erst setzte sie sich. Wenn sie ohnehin noch warten musste, konnte sie auch etwas essen. Die Hobbits schmausten lustig drauf los und lachten und schwatzten wie es bei ihnen üblich war. Immer wieder brachten sie die Menschen zum Lachen. Doch obwohl sich auch Isoran über die Possen der drei amüsierte, musste sie sich mühsam zum Lachen zwingen.

Später bestürmte der immer neugierige Pippin den fremden Gast mit Fragen. Aragorn bemerkte wieder, dass sie zwar scheinbar offen antwortete, doch auch jetzt keine deutlichen Angaben machte, woher sie kam.

„Wer ist diese Frau?“ Faramir war zu ihm getreten.

„Ich weiß es nicht. Sie bewunderte Hobbingen.“ Aragorn sah zu der jungen Frau hinüber, die sich noch immer geduldig von den Hobbits ausfragen ließ. „Sie scheint die Hobbits, die sie das kleine Volk nennt, sehr zu achten.“

„Was sie in Euren Augen vertrauenswürdig macht, Mylord.“ Trotz der respektvollen Anrede hörte man das Schmunzeln in seiner Stimme.

„Ihr habt Recht, und doch verbirgt sie etwas vor uns. Sie sagt, sie kommt von weit her. Und das scheint zu stimmen, denn sie weiß viele Dinge nicht. Aber sie trägt weder Waffen noch sonstiges Gepäck bei sich. Wie ist sie hierher gekommen? Wandert eine Frau allein durch die Wildnis?“

„Was werdet Ihr unternehmen?“

„Nichts.“ Aragorn sah den langjährigen Gefährten lächelnd an. Sie hatten viele Kämpfe miteinander geführt und waren seit langen Jahren Freunde. Und obwohl Faramir inzwischen ein alter Mann war, hatte er darauf bestanden, seinen Herrscher zu begleiten, als dieser sich auf den langen Weg zu den Grauen Anfurten machte.

„Sie sucht die Elben und möchte mit Lady Arwen sprechen. Ich vermute, dann werden wir erfahren, was sie nach Mittelerde geführt hat.“

Arwen kehrte mit ihrer kleinen Eskorte zurück und trat zu den beiden Männern. Ihre Augen strahlten auf, als sie auf Aragorn fielen. Ein unendlich süßes, ihre Liebe zeigendes Lächeln umspielte ihren Mund. Und für den König von Gondor versank die Welt. Wie so oft ertrank er in den Tiefen ihrer Augen, einen Moment lang existierte nur noch sie für ihn.

Faramir trat diskret beiseite, dabei fiel sein Blick auf die Fremde. Sie hatte sich von den Hobbits gelöst und starrte wie gebannt auf seine Herrin.

Arwen lachte leise auf, Aragorn atmete wieder ein und die Welt kehrte zurück. Leise informierte er sie über die eigenartige Fremde. Arwen sah zu ihr hinüber. Auch sie wunderte sich über den starren Blick, der sie traf.

Isoran rührte sich nicht. Stumm und bewegungslos sah sie die wunderschöne Frau vor sich an. Diese Elbenfrau also würde ihr Schicksal besiegeln. Der Mann an ihrer Seite winkte ihr zu, näher zu treten. Isoran hatte das Gefühl ihre Füße beständen aus Blei, so schwer fielen ihr die wenigen Schritte.

„Ihr habt mir verschwiegen, wer Ihr seid, Herr von Gondor.“ Sie versuchte zu lächeln, schaffte es jedoch nicht. Bring es endlich hinter dich, befahl sie sich lautlos.

Aragorn lächelte. „Ihr wisst es jetzt, das genügt.“ Mit einer leichten Handbewegung deutete er neben sich. „Ihr suchtet Lady Arwen. Dies ist sie.“ Aragorn sprach freundlich, doch seine Augen bemerkten jede ihrer Bewegungen. Seine Hand lag wie zufällig neben dem Schwert.

Einen Moment lang blicken sich die beiden Frauen nur an. Dann senkte Isoran den Kopf und zwang sich, sich auf das Knie niederzulassen. Ihr Stolz rebellierte, dass ihr fast übel wurde. Kein Sonnenkind kniete vor einem anderen Lebewesen! Dennoch verharrte sie in dieser Stellung, ihr Atem ging flach.

Aragorn und Faramir sahen sie verdutzt an. Sie hatten mit Vielem gerechnet, doch nicht mit dieser Reaktion.

„Steht auf“, bat Arwen sie freundlich. „Niemand braucht vor mir zu knien.“

„Ich schon.“ Isoran stand auf, hielt den Blick jedoch gesenkt.

„Warum glaubt Ihr das?“

Jetzt hob Isoran endlich die Augen, gepresst sprach sie die für sie tödlichen Worte aus: „Ich bin ein Sonnenkind.“ Sie sah den verwirrten, ratlosen Blick der Elbenfrau.

„Der Begriff kommt mir bekannt vor, doch …“ Arwen schwieg und sah ihren Gatten fragend an. Aragorn zuckte mit den Schultern. Das Wort sagte ihm gar nichts.

„Das kann doch nicht sein.“ Isoran flüsterte nur noch. „Das Volk der Elben kann nicht vergessen haben, was wir ihnen antaten. Welche Schuld wir auf uns geladen haben. Ihr habt uns fortgejagt.“

Da Arwen noch immer ratlos war, mischte Aragorn sich ein. „Wann war das? Auch ich kenne kein Volk, das sich Sonnenkinder nennt. Und ich bin weit herum gekommen.“

Isoran reagierte nicht sofort. Sie hatte seine Anwesenheit völlig vergessen. Erst langsam sickerten seine Worte in ihr Gehirn. Sie schluckte schwer. „Das geschah vor langer Zeit, vor vielen Menschengenerationen. Doch nicht lange für die Elben und auch nicht lange für uns.“

Arwen überlegte. „Ich bin sicher, von den Sonnenkindern gehört zu haben. Doch ich weiß nicht mehr in welchem Zusammenhang.“

„Vielleicht solltet Ihr uns berichten, was zwischen Euch und den Elben geschah.“ Faramir bereute seine harschen Worte, als er sah, wie entsetzt die Frau reagierte. Doch dann nickte sie, wenn auch zögernd und sichtlich widerwillig.

Arwen blickte bittend zu ihrem Gatten. Es war offensichtlich, wie schwer der Fremden dieser Entschluss fiel. Gab es nichts, um ihr diese Beichte zu erleichtern? Sie fühlte Mitleid mit dieser jungen Frau.

„Niemand will Euch quälen, Lady Isoran. Wir haben Gründe für diese Bitte. Es gibt eine Prophezeiung, die, wie ich inzwischen vermute, Euch betrifft. Deshalb wäre es besser, wir könnten erfahren, was Euer Volk und die Elben verbindet. Auch wenn dies wohl nicht ganz das richtige Wort dafür ist.“

„Eine Prophezeiung?“

„Ja.“ Noch war Aragorn nicht gewillt, nähere Auskunft darüber zu geben, was ihn und seine Begleiter hierher geführt hatte. Und nach einem kurzen, fragenden Blick, der nicht beantwortet wurde, verzichtete Isoran darauf, die Frage in Worte zu kleiden.

Aragorn führte die kleine Gruppe vor eines der großen Zelte. Hier konnten sie ungestört miteinander sprechen und kein Unbefugter würde ihnen zuhören. Die Hobbits schlossen sich ihnen an, sie liebten alte Geschichten, vor allem, wenn Elben darin vorkamen. Niemand verwehrte es ihnen.

Dankbar nahm Isoran einen Becher Wasser entgegen. Das klare, kalte Wasser kühlte und glättete ihre trockene Kehle. Dann begann sie zu berichten.

 

Die alte Schuld

Seit ewiger Zeit schon besaß das Volk der Sonnenkinder die Gabe, Tore zu anderen Welten zu öffnen und hindurchzugehen. Auf diese Weise gelangten sie zu vielen Welten. Sie erkundeten sie und lernten die verschiedensten Völker kennen. Und seit genauso langer Zeit gab es feste Regeln und Gesetze, damit bei diesen Besuchen niemand zu Schaden kam.

Niemals durften die Sonnenkinder in die Geschehnisse und das Leben anderer Völker eingreifen. Ganz egal, wie unverständlich ihnen etwas erschien, oder auch wie ungerecht. Die Entwicklung eines Volkes durfte nicht durch Fremde geändert werden. Sie durften andere Völker studieren, von ihnen lernen, aber mehr nicht. Sie waren Forscher – keine Politiker.

Nur hin und wieder war ein Eingreifen gestattet. Die Sonnenkinder hatten sich einer Macht verschrieben, die sie als ‚Das Licht’ bezeichneten. Es gab einen Gegenspieler, der dementsprechend als ‚Die Dunkelheit’ benannt worden war. Es waren Synonyme, die nichts mit der Natur diese Mächte zu tun hatten.

Diese Mächte benutzten Personen, Völker oder auch Gegenstände, um andere Völker zu  beeinflussen und dazu zu bringen, sich ihnen anzuschließen. Nur wenn die Sonnenkinder irgendwo auf eine derartige Person oder einen Gegenstand trafen, der der Dunkelheit angehörte, durften sie eingreifen und auch dagegen kämpfen.

Isoran überlegte kurz, ob sie dies näher erläutern sollte, doch sie entschied sich dagegen. Es war für ihre Erzählung nicht wichtig.

Hin und wieder trafen die Sonnenkinder auch auf Völker, vor denen sie sich sofort zurückzogen, denn sie standen weit über ihnen. Vor diesen Völkern hatten sie großen Respekt, niemals würden sie sich gegen sie stellen. Die Valar z.B. gehörten zu diesen Völkern.

Und vor langer Zeit waren die Sonnenkinder nach Mittelerde gekommen. Wie es bei ihnen üblich war, wenn sie eine neue Welt erkundeten, hatte sich eine kleine Gruppe zusammengeschlossen. In schon bekannte Welten gingen sie meist alleine. Doch Mittelerde war noch nie von ihnen betreten worden und so traten fünf Sonnenkinder durch das Tor. Vier Frauen und ein Mann.

Meist waren Frauen die Suchenden und Forschenden bei ihnen. Die Männer hingegen betraten nur selten andere Welten. Sie zogen es vor, das Wissen, das die Suchenden zurückbrachten zu sortieren, nach neuen Erkenntnissen zu untersuchen und vor allem, an die jungen Sonnenkinder weiterzugeben.

Die Männer galten als besonders weise und klug deswegen, und die kleine Gruppe war stolz darauf, dass sich einer dieser Weisen ihnen angeschlossen hatte.

Sie kamen in ein faszinierendes Land mit großen Wäldern, vielen Bächen und Flüssen und weiten Graslandschaften. Neugierig durchstreiften die Sonnenkinder diese Gegenden und trafen auf Gruppen verschiedener Völker: Elben und Menschen. Und sie erfuhren, dass das Volk der Elben langsam aber stetig nach Westen wanderte. Denn dort lebten andere ihres Volkes, die Hochelben, die aus den Landen der Valar nach Mittelerde zurückgekommen waren.

Schnell erkannten die Sonnenkinder, dass diese Valar zu denjenigen Völkern gehörten, die sie mieden. Nicht weil sie etwas gegen diese Völker hatten, sondern weil ihre Achtung vor ihnen so groß war. Die Sonnenkinder waren sterblich, auch wenn ihre Lebensspanne weitaus größer war als die anderer Lebewesen. Die Valar jedoch gehörten zu den Ewigen.

Und zu ihrem großen Erstaunen waren auch die Elben in gewisser Hinsicht unsterblich. Dennoch gehörten sie, ihrer Entwicklung nach, eindeutig zu den üblicherweise sterblichen Völkern. Ein Widerspruch in sich. Die Neugierde der Sonnenkinder war groß, mehr über dieses eigenartige Volk zu erfahren, und so beschlossen sie, nach Westen zu gehen und den Teil dieses Volkes kennen zu lernen, der dort lebte. Die Dunkelelben schienen großen Respekt vor diesen Hochelben zu haben, da diese lange Zeit in den Landen der Valar gelebt hatten. Auch dies interessierte die Sonnenkinder sehr.

So wandten sie sich nach Westen und erreichten schließlich die Berge, die das Land der Elben, Beleriand genannt, eingrenzten. Und schon wenige Tage, nachdem sie Beleriand betreten hatten, trafen sie auf Menschen. Sie wurden misstrauisch, aber dennoch freundlich aufgenommen. Wie immer sammelten die Sonnenkinder jede Information, die sie bekommen konnten, doch ihr Interesse lag hauptsächlich bei den Elben und so zogen sie rasch weiter.

Zu ihrer Überraschung – und zu ihrem Entsetzen – bemerkten sie, dass sich die Elben und auch die mit ihnen befreundeten Menschen in einem langen und erbarmungslosen Krieg befanden. In einem Kampf gegen einen Valar!

Die Sonnenkinder waren fassungslos. Niemand würde es ihrer Meinung nach wagen, sich gegen ein Wesen eines derart hochstehenden Volkes zu wenden. Das konnte einfach nicht stimmen. Der Weiseste und Klügste von ihnen wurde ausgesandt, um in Erfahrung zu bringen, was geschehen war, ob diese unglaubliche Nachricht wahr sein konnte.

Schon nach wenigen Tagen kehrte das männliche Sonnenkind zurück. Er erschien ihnen bedrückt und eigenartig. Und er berichtete, dass es tatsächlich so war: Elben und Menschen versuchten immer wieder, den Valar anzugreifen und sogar zu vernichten. Der Valar hingegen sei getrennt von seinem Volk und durch verschiedene Geschehnisse in seinen Möglichkeiten eingeschränkt. Er bat die Sonnenkinder um Hilfe.

Und so brachen die Sonnenkinder die seit ewigen Zeiten bestehenden Gesetze ihres Volkes. Sie mischten sich in die Angelegenheiten eines anderen Volkes ein. Die Gruppe sandte eine der ihren als Botschafterin zu den Elben. Sie sollte ihnen klarmachen, wie verwerflich ein Vorgehen gegen einen Valar war und dafür sorgen, dass diese Kämpfe aufhörten.

Die Elben jedoch verbaten sich jede Einmischung und verlangten barsch, dass die Fremden ihr Land verließen. Die Sonnenkinder waren fassungslos – und zornig. Niemand sprach derart hochtrabend zu ihnen, niemand nannte sie Eindringlinge und zeigte deutlich, dass sie hier nichts zu suchen hatten. Wer waren diese Wesen, diese Elben, dass sie sich derart überlegen gaben und sogar gegen einen Valar kämpften?

Der Stolz der Sonnenkinder ließ nicht zu, sich derart behandeln zu lassen. Dies und der deutlich sichtbare Hass der Elben auf den Valar führte schließlich zu einer der verheerendsten und schlimmsten Entscheidungen der Sonnenkinder: Sie begannen die Elben und die mit ihnen verbündeten Menschen zu bekämpfen.

Kein Elb und schon gar kein Mensch hatte eine Chance, gegen die Sonnenkinder zu bestehen. Ihre Macht, das Licht zu nutzen, bot unendliche Möglichkeiten des Kampfes. Acht Tage lang wüteten die Sonnenkinder wie Berserker unter Elben und Menschen. Acht Tage lang wussten sie nicht, weshalb sich der einzige Mann unter ihnen immer wieder von ihnen absonderte; allein kämpfte und erstaunlicherweise seine Kräfte nie nutzte, wenn er mit ihnen zusammen war.

Am achten Tag kehrten die kleine Gruppe der Frauen zufällig sehr rasch zu ihrem versteckten Lager zurück. Ihr Führer war nicht dort, und sie folgten seinen Spuren und sahen, wie er eine kleine Siedlung der Menschen vernichtete. Doch die Kräfte, die er dazu nutzte, waren nicht die der Sonnenkinder!

Ungläubig sahen die Frauen auf die dunklen Schatten, die von ihm ausgingen. Ebenso ungläubig hörten sie sich die Ausflüchte an, die er hervorbrachte, als er seine Begleiter entdeckte. Sie verlangten von ihm, die Macht des Lichtes zu zeigen, zu benutzen – und er konnte es nicht.

Sie überwältigten ihn und zwangen ihn, sich ihnen zu öffnen. Und dann erkannten sie die grausame und entsetzliche Wahrheit: Der Valar, zu dem er gegangen war, gehörte der Dunkelheit an. Und er hatte das Sonnenkind in Versuchung geführt mit der Größe seiner Macht und seinen Möglichkeiten. Und der Mann war von der Macht, die ihm gezeigt wurde, berauscht gewesen.

Er hatte zugegriffen, diese neue Macht angenommen und zu der seinen gemacht. Allerdings hatte er damit sofort und unwiderruflich aufgehört, ein Sonnenkind zu sein. Denn die Sonnenkinder unterschieden sich nur durch zwei Dinge von gewöhnlichen Menschen: ihre lange Lebensdauer und – viel wichtiger – die Möglichkeit, die Kraft des Lichtes zu nutzen.

Der Mann hatte diese Gabe verloren und war zu einem Geschöpf der Dunkelheit geworden. Und er war zurückgekommen und hatte die vier anderen Sonnenkinder getäuscht. Anstatt die Dunkelheit zu bekämpfen hatten sie ihr acht Tage lang gedient. Unwissentlich zwar, aber höchst effektiv.

Schockiert waren die vier zurückgewichen. Und das Geschöpf der Dunkelheit war geflohen. Doch dies kümmerte die Sonnenkinder weniger, als das was sie getan hatten. Sie hatten Leid und Tod über andere Völker gebracht! Und schlimmer noch, sie hatten damit der Dunkelheit geholfen, statt sie zu bekämpfen!

Sie hatten alles verraten, was das Leben eines Sonnenkindes ausmachte: Ihre Gesetze, ihre Ziele. Ihre Aufgabe. Sie berieten lange, was nun zu tun war, wie sie jetzt handeln sollten, handeln mussten. Und entschlossen sich endlich für einen Weg, den noch kein Sonnenkind gegangen war. Sie waren ein stolzes Volk. Sterblich und damit jedem anderen sterblichen Volk gleichgestellt.

 Und doch! Immer waren sie davon überzeugt gewesen, irgendwie dennoch etwas Besonderes zu sein. Schon so manches Volk hatte sie als arrogant bezeichnet. Die Sonnenkinder hörten dies nicht gerne, wussten aber in ihrem Inneren, dass es stimmte. Sie waren so stolz darauf, das zu sein, was sie waren. Sonnenkinder! Nur sie, sie allein konnten das Licht nutzen, seine Kräfte für ihre Zwecke nutzen und je nach Bedarf einsetzen.

Noch nie, noch niemals hatte sich ein Sonnenkind einem anderen Volk unterworfen! Doch jetzt hatten sie keine andere Wahl. Was sie getan hatten, war nicht wieder gutzumachen. Das Leid und vor allem der Tod, den sie gebracht hatten, waren unwiderruflich.

Die vier Sonnenkinder machten sich auf den Weg in das Herz des Elbenreiches. Sie verbargen sich nicht, und so wurden sie schon wenige Stunden später angegriffen. Die Elben hatten rasch begriffen, wie gefährlich diese Fremden waren und dementsprechend hart bekämpften sie sie nun.

Die Sonnenkinder blieben einfach stehen. Sie benutzten ihre Macht nur dazu, sich vor Verletzungen zu schützen. Sie warteten ab, und als die Elben nahe genug waren, um ihre Worte zu verstehen, baten sie darum, vor ihren Herrscher geführt zu werden.

Die Elbenkrieger waren sehr misstrauisch, doch die vier ließen sich widerstandslos binden. Nach tagelangem Marsch erreichten sie das verborgene Herrscherhaus der Elben. Und hier legten die Frauen ihre Beichte ab. Ohne irgendeine Beschönigung berichteten sie was geschehen war, wie sie durch einen der ihren getäuscht worden waren. Weshalb sie sich voller Zorn gegen die Elben gewandt hatten. Fragen wurden gestellt und ausführlich beantwortet.

Schließlich erklärten die vier Sonnenkinder, dass sie sich widerspruchslos und bedingungslos dem Urteil der Elben unterwerfen würden. Dies sei die einzige Möglichkeit, die sie nun hätten, wollten sie sich, ihr Volk, ihre Gesetze und alles wofür sie lebten nicht noch weiter verraten.

Im Stillen hofften sie, dass man ihnen die Möglichkeiten lassen würde, Wiedergutmachung zu leisten. Sie hatten den Elben gezeigt, welche Möglichkeiten sie hatten, wie sie die Macht des Lichtes nutzen konnten. Vielleicht würde man ihnen ja gestatten, das Leid, das sie verursacht hatten, wieder zu lindern. Doch sie baten nicht darum, dieses Recht hatten sie nicht mehr.

Natürlich würde man sie, auch wenn man ihnen diese Möglichkeit geben würde, dennoch töten. In gewisser Weise waren die Gesetze fast aller Völker, die sie kannten, ähnlich. Und Tod wurde nun einmal mit Tod bestraft. Und obwohl sie den Tod ebenso fürchteten wie jedes andere Wesen, war es nicht das Sterben, dass ihnen am Schwersten fiel. Es war die Demütigung, sich von einem anderen Volk verurteilen zu lassen!

Tagelang berieten die Elben sich. Die Sonnenkinder waren in Verließe gebracht worden. Sie machten keinen Versuch, sich daraus zu befreien. Erst nach Tagen wurden sie wieder vor den Herrscher gebracht. Hier erfuhren sie, dass dieses Warten auch dem Zweck gedient hatte, sie zu prüfen. Die Demonstrationen ihrer Kräfte hatten den Elben gezeigt, dass es gar nicht möglich war, diese Wesen gegen ihren Willen einzusperren. Nun endlich waren die Elben von der Wahrheit ihrer Worte überzeugt: Dass sie ihre Taten wirklich bereuten.

Schließlich stand der Herrscher der Elben auf und verkündete ihnen das Urteil: Die Elben verlangten, dass die Sonnenkinder sofort und ohne weiteren Aufenthalt Mittelerde verließen. Die Tore, durch die sie Mittelerde betreten konnten, mussten für alle Zeit verschlossen werden. Und kein Sonnenkind sollte und durfte jemals wieder die Länder Mittelerdes betreten.

Dieses Urteil war schlimmer als alles, was die Sonnenkinder sich vorstellen konnten. Nicht nur, dass damit ihre Hoffnung zunichte gemacht war, ihre Schuld sühnen zu können. Die Elben verzichteten mit diesem Urteil darauf, sie zu bestrafen. Wie verachtenswerte Kreaturen, die es nicht wert waren, dass man sich mit ihren Untaten abgab, wurden sie abgeschoben.

Doch sie hatten geschworen, sich dem Urteil zu unterwerfen. Und so verneigten sie sich, wandten sich um und ließen die Tore vor sich entstehen und gingen hindurch. Niemand außer ihnen konnte dies sehen. Für die Elben sah es so aus, als ob diese Wesen einige Schritte gehen würden und dann spurlos verschwanden.

Die Sonnenkinder kehrten in ihre Heimat zurück, beladen mit ihrer Schande und ihrer Schuld. Wie es verlangt worden war, wurden die Tore nach Mittelerde versiegelt und niemals wieder berührt. Seitdem war viel Zeit vergangen, doch die Sonnenkinder hatten dieses Geschehen niemals vergessen.

 

Isoran hatte, während sie sprach, niemanden angesehen. Noch nichts war ihr in ihrem ganzen Leben so schwer gefallen, wie diese Beichte. Und auch jetzt hob sie den Kopf nicht. „Ich weiß nicht, wie ich hierher kam, doch ist dies nicht wichtig. Ich bin hier, und damit habe ich unseren Eid gebrochen.“

Arwen und Aragorn sahen sich stumm an. Arwen räusperte sich kurz, ehe sie die junge Frau ansprach: „Wir haben noch einige Fragen. Würdet Ihr diese auch noch beantworten?“

Isoran wunderte sich etwas. Ihre Stimme klang noch immer warm und freundlich. Stumm nickte sie.

„Ihr sagt, ihr wisst nicht, wie ihr hierher gekommen seid. Wie kann das sein?“

Langsam hob Isoran den Kopf und sah die Elbenfrau an. „Ich wollte zu einer anderen Welt, einer die ich schon lange kenne. Schon oft bin ich durch dieses Tor gegangen. Die Tore führen immer nur zur gleichen Welt. Doch diesmal kam ich hier an. Ich habe keine Erklärung dafür.“

„Das heißt, das Tor, das hierher führt, ist noch immer verschlossen?“

Wieder nickte Isoran. „Ich habe es überprüft. Daran habe ich ja erkannt, wo ich bin. Es gibt nur ein Tor, das versiegelt ist.“

Arwen sah in Isorans gequälte Augen. „Und dann habt Ihr Euch aufgemacht, mich zu suchen?“

„Die Elben zu suchen“, verbesserte Isoran. „Ich wusste ja, dass Euer Volk im Westen lebt – gelebt hat. Also bin ich nach Westen gewandert. Irgendwann musste ich ja auf jemanden stoßen, der mir Näheres über die Elben sagen konnte.“

Faramir mischte sich ein. Obwohl er die Antwort ahnte, fragte er: „Weshalb habt Ihr nicht einfach einen Weg gesucht, in Eure Welt zurückzukehren? Niemand hätte erfahren, dass Ihr hier gewesen seid.“

Er sah ihr Zusammenzucken und wusste, dass seine Ahnung sich als richtig erweisen würde. Auch er hatte einmal – vor vielen Jahren – vor einer schweren Entscheidung gestanden. Noch heute war er stolz darauf, dass er damals richtig gehandelt hatte. Und in Kauf genommen hatte, dass sein eigener Vater ihn einen Verräter genannt hatte. Er hatte in seinem Herzen gewusst, dass er nicht anders handeln konnte, gleichgültig was diese Entscheidung für ihn selbst bedeuten würde.

Das junge Sonnenkind blickte ihn an, aus der Qual, die in ihren Augen stand, wurde Wut – und Stolz. „Das wäre eine Täuschung, eine Lüge. Und ich hätte die Schuld, die wir auf uns geladen haben noch vergrößert.“ Sie schüttelte vehement den Kopf. „Dazu bin ich nicht fähig. Unrecht kann nicht durch Unrecht ungeschehen gemacht werden.“ Sie runzelte die Stirn und fügte noch trotzig hinzu: „Und außerdem wäre es feige.“

Fast hätte Aragorn geschmunzelt. Er wusste längst, wie Arwen auf diese Beichte reagieren würde. Und diese stolze und trotzige Antwort gefiel ihm ebenso wie ihr. Doch noch ehe sie den Mund aufmachen konnte, erscholl eine andere Stimme. Pippin brannte schon eine ganze Weile eine Frage auf der Zunge, länger konnte er sich nicht mehr beherrschen: „Was meintet Ihr denn mit diesem Licht? Was könnt Ihr denn damit machen? Das verstehe ich nicht.“

„Warte einen Moment, Pippin. Du sollst deine Antwort bekommen. Doch jetzt ist etwas anderes wichtiger.“ Aragorn sprach freundlich, doch Pippin zog dennoch den Kopf ein.

„Tut mir leid, ich bin wieder einmal zu neugierig.“

„Nein, mein Freund, das bist du nicht. Diese Frage interessiert mich ebenso wie dich. Doch jetzt sollte erst Arwen sprechen.“ Aragorn lächelte ihr zu und sie erwiderte das Lächeln. Noch immer lächelnd wandte sie sich ihrem Gast zu.

„Euer Eid wurde nicht gebrochen. Wie Ihr versichert habt, und ich glaube Euch diese Worte, sind die Tore noch immer versiegelt. Und dass ein seltsamer Zufall euch hierher verschlagen hat, ist für mich kein Eidbruch. Außerdem“, fuhr sie mit erhobener Hand fort, um Isoran am Sprechen zu hindern. „Wie Ihr selbst sagtet, dies ist vor sehr langer Zeit geschehen. Selbst für die Elben sind die Geschehnisse von Beleriand ferne, lang vergangene Geschichte.“

Wieder lächelte sie, sah ihren Gatten an, der leicht nickte, und sprach weiter: „Und ich denke, es ist an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Einige Mitglieder Eures Volkes haben gefehlt, doch sie haben dies bereut. Und wenn ein ganzes Volk diese Schuld auf sich nimmt und derart lange Zeit nicht vergisst, so wäre es der Elben unwürdig, dies nicht zu respektieren und zu achten. Eure Schuld ist längst gesühnt.“

Einige Augenblicke lang starrte Isoran die Elbenfrau nur an, dann schlug sie plötzlich die Hände vor das Gesicht. Lange Zeit saß sie so da, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen verborgen. Tief aufatmend hob sie endlich den Kopf wieder. Mit feuchten Augen sah sie Arwen an.

Sie flüsterte: „Ihr vergebt uns?“

„Ja.“

Isoran schloss wieder die Augen, schluckte krampfhaft und stieß schließlich, fast zornig über ihre Schwäche hervor: „Das muss ich erst verdauen. Ich habe mit Allem gerechnet, aber nicht damit.“

„Könnt Ihr nicht …?“ Pippin stockte kurz und sprach dann eilig weiter, ehe ihm jemand den Mund verbot: „Ich meine, vielleicht hilft es ja beim Verdauen, wenn Ihr uns derweil einfach etwas anderes erklärt? Zum Beispiel diese Sache mit dem Licht?“

„Licht! Ich liebe das kleine Volk.“ Isoran schüttelte fast lachend den Kopf. „Ich glaube, niemand außer einem Hobbit kann auf eine solche Idee kommen.“

Pippin grinste schon wieder, doch dann sperrte er Mund und Augen auf und starrte auf die Hand, die Isoran ihm entgegenstreckte. Darauf schwebte eine helle Lichtkugel. Sam hob die Hand, um die Kugel zu berühren, riss sie jedoch sofort wieder zurück.

„Es geschieht nichts. Dieses Licht ist harmlos. Wir können das Licht für unsere Zwecke nutzen. Es kann eine harmlose Kugel sein, die uns Helligkeit bringt. Es kann aber auch heißes Feuer sein. Wir benutzen das Licht als Waffe um zu jagen, ähnlich wie Pfeil und Bogen. Oder auch als Wand, um uns vor anderen zu schützen. Keine Waffe kann durch eine Wand aus Licht dringen.“

Amüsiert über das grenzenlose Staunen, das ihre kleine Lichtkugel bei den Hobbits hervorrief, wandte Isoran sich um. Ihr Blick fiel auf das Schwert, das Aragorn trug. Eine leichte Handbewegung, und die Kugel dehnte sich aus, wurde zu einer kaum sichtbaren Wand, die etwa einen Schritt vor ihr in der Luft stand.

„Versucht es.“

„Vielleicht solltet Ihr vorher beiseite treten.“ Aragorn zog das Schwert, zögerte jedoch noch.

„Mir geschieht nichts“, versicherte das Sonnenkind.

Vorsichtig drückte Aragorn das Schwert gegen die Lichtwand, die kaum heller als die Umgebung war. Er spürte Widerstand, zog die Augenbrauen zusammen und drückte stärker. Das Schwert rührte sich nicht. Schließlich holte er aus und schlug kräftig dagegen. Er spürte den Schlag bis in die Schulter, doch die Klinge drang nicht einen Fingerbreit weiter vor. Was das Ganze fast unheimlich machte, war die Lautlosigkeit. Weder klirrte es, wie wenn ein Schwert gegen einen Stein schlug, noch erklang sonst ein Geräusch.

Sam trat hervor, diesmal reichte sein Mut aus und er drückte beide Hände gegen das Licht. „Das ist eine feste Wand.“

„Nein, es fühlt sich nur so an.“ Diesmal machte Isoran keine Bewegung, dennoch verschwand die Wand plötzlich und Sam stolperte nach vorne.

„Das Licht kann man zu allem Möglichen benutzen. Hauptsächlich nehmen wir es als Hilfe, wenn wir Feuer oder Wärme brauchen. Oder als Lichtquelle. Und natürlich als Schutz. Man braucht zwar etwas Übung, aber dann kann man eine derartige Wand hauchdünn um sich selbst legen. Damit sind wir unverwundbar.“

Vorsichtig tastete Sam den Arm der Frau ab. „Da ist aber nichts.“

„Nein, nicht auf der Kleidung, wenn schon, dann mache ich das darunter. Das fällt nicht so auf. Ansonsten würde jeder, der mich berührt, diesen Widerstand spüren. Das wäre oftmals sehr irritierend.“

„Und“, Pippin hatte seine Sprache wiedergefunden, „das geht einfach so?“

„Nicht ganz so einfach. Man braucht eine Menge Übung dazu. Doch jedes Mädchen, das sich entschließt, eine Suchende zu werden, wird dementsprechend ausgebildet. Erst wenn sie genug gelernt hat, darf sie andere Welten besuchen. Es wäre sonst viel zu gefährlich. Wir sind nur ein kleines Volk. Und obwohl wir sehr lange leben, würden Unfälle und andere Gefahren uns rasch sehr dezimieren, wenn wir uns nicht schützen könnten.“

„Wie lange lebt Ihr denn? So lange wie Aragorn? Er wird auch viel älter, als andere Menschen.“ Merry hatte keine Lust, als einziger stumm daneben zu stehen. Und so störte er sich auch nicht an dem zurechtweisenden Blick, der ihm von dem erwähnten Menschen zugeworfen wurde. Aragorn liebte es nicht unbedingt, seine Langlebigkeit zu erwähnen. Ungerührt sprach Merry weiter: „Er ist schon weit über hundert Jahre alt, selbst von den Hobbits wird kaum jemand so alt.“

Isoran warf dem Mann einen schrägen Blick zu und murmelte, allerdings durchaus für alle verständlich: „Ich glaube, das kann ich locker übertreffen.“

Jetzt war Aragorns Interesse stärker, als der leichte Ärger über Merrys Indiskretion. Fragend sah er Isoran an, und Faramir meinte erstaunt: „Ihr seht noch sehr jung aus, wenn ich das bemerken darf.“

Isoran nickte: „Für ein Sonnenkind bin ich das auch. Ich zähle zweihundertvierundzwanzig Jahre.“

„Zwei ...“, die Hobbits sperrten die Münder auf. „Dann seid ihr wie die Elben und lebt einfach ewig lang?“

„Nein, wir sind sterblich, Elben nicht. Elben können wohl getötet werden, zumindest auf irgendeine Art. Soviel ich weiß, ist der Tod für Elben jedoch etwas anderes, als für Menschen. Doch sie altern nicht und kennen auch keinen Tod durch das Alter. Wir altern durchaus, nur sehr langsam, viel langsamer als andere Menschen.“

„Ja, aber, wie lange …?“

„Zwischen eintausend und eintausendzweihundert Jahre. Allerdings gibt es bei uns auch Krankheiten, an denen man durchaus früher sterben kann.“

„Dann seid Ihr keine Menschen, auch wenn Ihr so ausseht?“

„Doch wir sind Menschen, nur ein wenig anders. Zumindest stammen wir von Menschen ab. So ganz eindeutig ist unsere Geschichte nicht, wie es zu dieser Langlebigkeit kam.“

Sie sah die erwartungsvollen Augen der Hobbits auf sich gerichtet und lachte leise auf. „Hobbits lassen sich nie eine Geschichte entgehen, wie?“

Drei Köpfe wurden grinsend geschüttelt. Isoran setzte sich wieder. „Nun, sehr viel gibt es da nicht zu erzählen. Eine Variation sagt, dass wir einst ganz normale Menschen waren. Und dass unsere Langlebigkeit ein Geschenk war, das uns gegeben wurde. Daraufhin lösten wir uns von den Menschen und wurden ein eigenes Volk.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„In einer zweiten Version heißt es, dass es einst Menschen gab, die immer länger lebten. Deshalb wurden sie von den anderen verfolgt. Sie versteckten sich in schwer zugänglichen Bergen und bildeten so langsam ein eigenes Volk. Schließlich bekamen sie die Gabe des Lichtes geschenkt und verließen die Welt der Menschen, um sich eine eigene Welt zu suchen.“

„Dann hat diese Lichtsache nichts damit zu tun, dass Ihr so lange lebt?“ Sam war verwirrt.

„Nein, das wissen wir sicher. Die Möglichkeit, die Kraft des Lichtes zu nutzen, genauso wie wir die Tore erkennen und nutzen können, sind beides Gaben, die uns geschenkt wurden. Nur ob unser langes Leben auch ein Geschenk war oder eine natürliche Entwicklung, das wissen wir nicht genau.“

Die Hobbits waren fast enttäuscht, sie hatten auf eine weitere lange Geschichte gehofft. Doch Aragorn wies darauf hin, dass es langsam Abend wurde. Und sie wollten ja schließlich am nächsten Tag weiterziehen.

„Würdet Ihr mit uns kommen, Lady Isoran? Es gibt etwas, das wir bis jetzt noch nicht ausgesprochen haben. Und vielleicht brauchen wir Eure Hilfe.“

Isoran blickte ihn forschend an. „Ihr spracht von einer Prophezeiung. Meint Ihr dies?“

Aragorn nickte.

„Ich komme gerne mit Euch.“ Sie wandte sich an Arwen. „Wenn Ihr es gestattet, Lady Arwen.“

„Ich würde mich freuen. Ihr braucht meine Erlaubnis nicht. Ich würde Euch jedoch gerne näher kennenlernen.

Isoran nickte. Und sie wusste, was immer an Hilfe von ihr erbeten würde, sie würde sie geben, wenn es ihr irgend möglich war.

Die Ankunft

Am nächsten Morgen trat Aragorn zu der jungen Frau, die interessiert beobachtete, wie die Pferde mit dem Gepäck beladen wurden und hilfsbereit immer wieder mit anpackte.

„Wir reiten nach Westen zur Küste. In einigen Tagen werden wir dort sein. Gilt Eure Zusage, mit uns zu kommen auch heute noch? Ihr wart gestern – etwas aufgewühlt.“

Ein verlegenes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Ich bin es heute noch, wenn ich ehrlich sein soll.“

Aragorn nickte nur dazu. Ihm war nicht entgangen, dass ihr seltsamer Gast kaum geschlafen hatte. Es wunderte ihn, dass diese uralte Geschichte sie derart mitnahm. Gut, für diese Frau mochte das alles erst wenige Generationen her sein, bei dieser langen Lebensdauer. Dennoch, es schien fast, als würde sie sich persönlich betroffen fühlen. Wegen eines Fehlverhaltens ihrer Vorfahren?

„Aber ich komme sicher mit Euch. Ich pflege mein Wort zu halten. Außerdem“, Isorans Lächeln wurde breiter, amüsierter. „Ich bin ziemlich neugierig, und Eure Andeutungen klingen sehr interessant.“

Aragorn blickte nach hinten, die Hobbits waren erschienen und richteten eilig und mit großem Eifer das Frühstück her. „Frühstücken wir erst einmal, bevor unsere Freunde ungeduldig werden. Wir haben auf dem Weg genug Zeit uns ausführlich zu unterhalten.“

Auch Isoran lächelte. „Das kleine Volk legt sehr viel Wert auf Gemütlichkeit und gutes Essen.“

„Es ist ein zähes Volk und ihre Art, sich zu geben, täuscht über vieles hinweg.“

Isoran blickte den Mann erstaunt an, seine Worte hatten fast tadelnd geklungen. „Ich habe große Achtung und sehr viel Respekt vor dem kleinen Volk. Ich kenne ihren Wert genau. Doch es wundert mich etwas, dass Ihr so sprecht. Für die meisten Menschen sind Hobbits nur ein fröhliches und harmloses Völkchen. Ihr scheint sie sehr gut zu kennen.“

„Oh ja, und ich weiß, wie viel ich und ganz Mittelerde diesem Volk und besonders diesen – drei Hobbits zu verdanken haben.“ Diesen vier Hobbits, doch der vierte, der, den er besonders in sein Herz geschlossen hatte, weilte schon lange nicht mehr bei ihnen.

Nach dem ausgiebigen Essen brachen sie auf. Für Isoran wurde eines der Packpferde gebracht. Aragorn sah sie fragend an. „Wir haben keinen Sattel übrig …“

„Das macht nichts“, unterbrach ihn das Sonnenkind lachend. „Ich brauche keinen.“

Sie trat zu dem Tier und sprach leise in einer fremden Sprache zu ihm. Die braune Stute stellte die Ohren auf, als ob sie aufmerksam lauschte, dann schnaubte sie und schnoberte sanft an Isorans Hals. Diese lächelte und strich dem Tier zärtlich über die Nüstern. Dann schwang sie sich gewandt auf seinen Rücken. „Es ist ein kluges Tier. Wir werden gut miteinander auskommen.“

Langsam und ohne Hast ritten sie durch die lichten Wälder. Die Hobbits plauderten fröhlich über Alles und Jenes, stellten tausend Fragen und bekamen geduldig Antworten. Die Soldaten Gondors behandelten sie freundlich und respektvoll, doch gleichzeitig ein wenig nachsichtig.

Lady Arwen war lieb und gut zu ihnen und zeigte deutlich, wie sehr sie ihnen zugetan war. Die Hobbits verehrten sie grenzenlos, und ihre Augen strahlten vor Fröhlichkeit, wenn sie sich mit ihr unterhielten.

Mit Aragorn sprachen sie leicht und fröhlich, wie mit ihresgleichen. Sie lachten und neckten sich mit ihm, und er ging ebenso leicht auf ihre Art ein. Zwischen ihnen bestand eine tiefe und lang erprobte Freundschaft, die alle Unterschiede in Art und Verhalten verwischte und unwichtig machte.

Doch Isoran bemerkte auch die große Bewunderung, die die drei Hobbits diesem Mann entgegen brachten, und die wie selbstverständlich immer wieder in ihren Worten mitschwang. Ebenso wie sie den Respekt erkannte, den Aragorn ihnen entgegenbrachte. Er mochte ebenso über ihr Geplauder lächeln wie seine Männer, doch war dieses Lächeln nicht überlegen nachsichtig, sondern verständnisvoll und von großer Zuneigung.

Und auch Faramir, der schon recht betagte Heermeister, sprach ernsthaft und wie mit Gleichgestellten mit den Hobbits. Besonders Sam schien seine Achtung zu besitzen.

Aragorn deutete auf die Höhenzüge vor ihnen. „Dies sind die Turmberge. Bald werden wir die weißen Türme sehen. Von dort aus erreichen wir dann die Grauen Anfurten, unser Ziel.“

Er wandte sich erklärend Isoran zu. „Die Anfurten liegen noch knapp westlich der Blauen Berge, den ehemaligen Grenzen des alten Beleriand. Das Land dahinter ist seit langer Zeit, seit der Neugestaltung der Lande, unbewohnt.“

„Neugestaltung?“

Arwen nickte schwer. „Ja, am Ende des ersten Zeitalters kam eine Zeit des Chaos. Das gesamte Land wandelte sich. Und große Teile des ehemaligen Elbenreiches versanken. Zwischen den Bergen und den großen Wassern liegt nur noch wenig Land. Die Elben haben es nie wieder betreten.“

Sie lächelte, als sie das interessierte Funkeln in den Augen der jungen Frau sah. „Ihr werdet Gelegenheit haben, die lange Geschichte Mittelerdes zu erfahren. Es gibt viele Lieder und Geschichten, die von vergangenen Zeitaltern und Geschehnissen erzählen.“

Isoran schwankte zwischen Verlegenheit und brennendem Interesse. „Ich fürchte, ich bin fast unanständig neugierig. Doch wir lieben es, die Geschichte und Entwicklung anderer Völker zu erkunden. Und nun gerade Mittelerde!“ Sie atmete tief ein. „Ich glaube, es gibt nichts, das mich hier nicht interessiert.“

„Lasst das lieber nicht unsere Freunde hören“, lachte Aragorn. „Sie werden Euch mit ihren Geschichten und Liedern ersticken. Doch es wundert mich dann, dass Ihr noch keine Frage gestellt habt, seit wir unterwegs sind.“

Isoran sah ihn ernst an. „Ihr werdet sprechen, wenn Ihr es für richtig haltet, Lord Aragorn.“

„Und jetzt ist es an der Zeit, Euch zu informieren.“

Merry, Pippin und Sam, die diese Worte gehört hatten, trieben ihre Ponys eilig heran, um sich ja kein Wort entgehen zu lassen. Sie wussten natürlich, weshalb sie unterwegs waren, doch wurden sie es niemals müde, einer Geschichte zu lauschen. Auch wenn sie sie längst kannten und selbst ein Teil davon waren.

 „Seit einigen Monaten geschehen seltsame Dinge. Wanderer berichten von Gerüchten, deren Ursprung nicht zu ergründen ist. Einige Personen haben eigenartige Träume, die immer wiederkehren. Arwen und auch ich gehören dazu. Immer wieder träumen wir von großen Gefahren, die Mittelerde drohen. Doch niemand weiß, wie diese Gefahren aussehen. Woher sie kommen und durch wen.“

Aragorn sah ernst in die gespannten Gesichter um sich herum. „Und dann erfuhr ich, dass auch diese meine Freunde seltsame Dinge träumen. Doch vielleicht sollten sie selbst darüber berichten.“

Er nickte den Dreien auffordernd zu und diese ließen sich das nicht zweimal sagen. Pippin, der Jüngste von ihnen und noch immer der Vorlauteste, ergriff sofort das Wort.

„Das erste Mal geschah es, als wir auf dem Weg nach Hobbingen waren, um den guten, alten Sam zu besuchen. Wie immer haben wir die Fähre über den Brandywein benutzt und übernachteten beim alten Maggot, das heißt, bei seinen Söhnen, die ja nun den Hof bewirtschaften. Der alte Maggot ist ja nun langsam zu bedächtig geworden, und seine Hände wollen längst nicht mehr so flink arbeiten, wie er es gerne hätte. Und seit seine Frau von ihm gegangen ist, ist er auch nie wieder der Alte geworden. Aber wie immer wurden wir freundlich aufgenommen. Seit langen schon sind wir Freunde, spätestens seit damals als wir mit Frodo ...“

Er verstummte, als er Aragorns Blick sah. „Aber es gehört alles dazu, Aragorn. Das kannst du nicht leugnen. Eine Geschichte will gut und ausführlich erzählt werden. Sonst ist sie nicht interessant.“

„Wenn du jedoch in dieser Ausführlichkeit weiter berichtest, Pippin, müssen wir langsamer reiten und öfters Rast machen. Denn sonst erreichen wir die Anfurten, während du uns noch von den ausgezeichneten Pilzgerichten des guten Maggot erzählst.“

Alles lachte.

„Lass mich weiter berichten, Pippin. Ich werde mich kürzer fassen“, versicherte Merry. Aragorn warf ihm einen amüsierten, jedoch recht zweifelnden Blick zu.

Merry warf sich in Brust und fiel dabei fast vom Pony. „Also, nachdem wir das wirklich ausgezeichnete Abendessen verzehrt hatten, es gab übrigens tatsächlich Pilze …“

Arwen und Isoran konnten sich nicht mehr halten und lachten lauthals los, als sie den resignierten Blick Aragorns sahen. Merry ließ sich davon nicht stören.

„Wir richteten uns ein gemütliches Lager in der Scheune ein. Es war eine herrliche, warme Nacht, und es wäre fast schade gewesen, sie im Haus verschlafen zu müssen. Und wir schliefen wirklich ausgezeichnet. Jedenfalls bis die Träume begannen.“

Merry wurde übergangslos ernst: „Es war mehr als eigenartig. Ich war überzeugt, wach zu sein und wusste doch gleichzeitig, dass alles, was ich sah und hörte ein Traum war. Ich war ich und doch nicht wirklich. Aber es war auch nicht nur ein Traum, es war so drängend, so wichtig. Es lässt sich nie richtig beschreiben, egal wie oft wir darüber reden. Jedenfalls – als wir am nächsten Morgen erwachten, war ich völlig durcheinander. Und das Seltsame war, dass wir alle drei völlig verstört waren. Und als wir über unsere seltsamen Träume zu sprechen begannen, erkannten wir, dass wir alle drei das Gleiche erlebt hatten.“

Er machte eine kunstvolle Pause, die Aragorn alle Selbstbeherrschung kostete. Doch er schwieg, er wusste genau, dass Merry nur darauf wartete, dass er ungeduldig wurde.

Enttäuscht zuckte Merry mit den Schultern und sprach weiter: „Wir träumten von einem großen Schiff mit goldenen Segeln, das langsam immer näher kam. Es war unheimlich und doch auch wunderschön. Aber ich habe es gleich erkannt und Sam und Pippin auch. Es war ein Schiff der Elben. Eines wie das, mit dem Frodo und Gandalf fortgegangen sind. Und auf dem Schiff waren Leute. Doch wir konnten sie nicht erkennen. Es waren nur Schemen, doch wir spürten, dass es Freunde waren. Und wir hörten Stimmen. Sie sprachen von Gefahren und von Tod.“

Er schüttelte sich und Pippin ergriff die Gelegenheit und erzählte hastig weiter. „Die Stimmen waren leise, kaum zu verstehen. Doch es klang schrecklich. Tod würde über Mittelerde kommen. Doch dann bewegten sich die Schemen auf dem Schiff und gaben uns Hoffnung. Sie würden kommen und uns helfen, diese Gefahren zu erkennen und zu besiegen. Sie klangen freundlich und gut und wir dachten …“

Pippin verstummte und sah seine Freunde hilfesuchend an. Doch auch Merry schluckte schwer und schwieg. Schließlich ergriff Sam das Wort. Leise und fast bettelnd fuhr er fort: „Und wir dachten, vielleicht kehrt Frodo zurück. Vielleicht kommt er zurück zu uns.“

Isoran sah fragend von einem zum anderen. Aragorn erklärte: „Frodo Beutlin ist ein guter Freund von uns. Er verließ uns mit einem der Schiffe der Elben, das nach Westen segelte. Die goldenen Segel und die Form der Schiffe in den Träumen der Hobbits deuten darauf hin, dass eines dieser Schiffe zurückkehren wird.“

Er atmete tief ein. „Und meine eigenen Träume zeigen ebenfalls immer wieder, dass jemand zurückkommen wird. Deshalb sind wir auf dem Weg zu den Grauen Anfurten. Diese Träume kamen immer wieder und wurden immer drängender. Das Schiff wird bald die Gestade Mittelerdes erreichen. Doch ist dies nicht alles.“

Er wandte sich Arwen zu. Diese nickte und fuhr fort: „Auch ich träume immer wieder die gleichen Dinge. Eine große Dunkelheit kommt auf mich zu, und ich fürchte mich davor. Irgendetwas Schreckliches ist darunter verborgen, das ich jedoch nicht erkennen kann. Dann erscheint ein seltsames Licht, hell und strahlend, doch es ist kein Tageslicht und auch kein Feuer. Es breitet sich aus und drängt die Dunkelheit zurück. Und eine Stimme erklingt, die sagt: Ihr braucht das Licht und die Kraft der Sonne, um das Dunkel zu vertreiben.“

Isorans Kopf zuckte hoch, ihr Blick zeigte blankes Erstaunen. Arwen nickte ihr bedeutungsvoll zu. „Nun versteht Ihr wohl, wie erstaunt und erfreut wir sind, Euch gefunden zu haben. Denn was Ihr über Euch berichtet habt, deutet darauf hin, dass Ihr es seid, deren Hilfe wir brauchen.“

„Träume! Ihr glaubt, dass diese Träume tatsächlich etwas bedeuten?“

„Ja! Es kann kein Zufall sein, dass ausgerechnet wir immer wieder die gleichen Dinge träumen und hören. Auch Gimli, der hoffentlich bald zu uns stoßen wird, hat diese Träume. Nur die Gefährten, die noch in Mittelerde leben und Arwen haben diese Träume. Sie sind wichtig und bedeutungsvoll.“

„Die Gefährten?“

„Das“, lächelte Aragorn, „ist eine sehr lange Geschichte.“

Die Hobbits nickten eifrig und stolz. „Es gibt viele Lieder inzwischen, die überall, wo Menschen und Hobbits und Zwerge leben, gesungen und erzählt werden. Über die Rückkehr des Königs von Gondor. Und natürlich über Frodo mit den neun Fingern und Sam den Beherzten ...“

Sam wurde blutrot vor Verlegenheit.

Aragorn ergänzte schalkhaft lächelnd: „Und von Peregrin und Meriadoc, den großen Kämpfern aus dem Auenland, die zu Rittern von Gondor und Rohan geschlagen wurden.“

Jetzt waren es Pippin und Merry, die sich verlegen wanden und deren Augen gleichzeitig stolz aufleuchteten.

Da Isoran noch immer verwirrt war, ergriff Faramir das Wort. Er sprach ernst und ohne jedes Lächeln: „Vor über vierzig Jahren versuchte der Dunkle Herrscher Mittelerde zu unterwerfen. Neun Gefährten brachen auf, um diese Gefahr zu beseitigen. Nur durch ihren Mut und ihre Tapferkeit ist es gelungen, den Dunklen Herrscher zu besiegen und zu vernichten. Der Herr von Gondor war einer von ihnen, und auch unsere drei Freunde, Sam, Pippin und Merry gehörten der Gemeinschaft der Gefährten an. Durch viele Gefahren sind sie gegangen, um Mittelerde zu retten.“

„Ich glaube, ich werde sehnsüchtig darauf warten, dass wir genug Zeit haben, um mir eure Geschichten und Lieder anzuhören. In aller Ausführlichkeit!“

Die Hobbits strahlten, doch Aragorn wandte rasch ein: „Doch nicht jetzt, liebe Freunde. Habt ein wenig Geduld.“

Arwen ergriff Isorans Hände. „Große Gefahren kommen auf uns zu. Jeder von uns spürt dies. Mittelerde ist nicht Eure Heimat, werdet Ihr uns dennoch helfen, diese Gefahren zu erkennen und zu besiegen?“

Isoran sah ernst in die dunklen Augen der Elbenfrau. Langsam neigte sie den Kopf. „Nach unseren Gesetzen ist es uns verboten, in die Belange und Geschicke anderer Völker einzugreifen. Nur gegen Personen und Werkzeuge der Dunkelheit dürfen wir kämpfen. Doch dies ist Mittelerde. Hier wurde dieses Gesetz von uns gebrochen, zum Schaden der Völker von Mittelerde. Ich denke, es ist nur gerecht, dieses Mal zugunsten Mittelerdes zu handeln.“

Arwen drückte fest ihre Hände. „Ich danke Euch, Lady Isoran. Wir alle danken Euch. Nun besteht Hoffnung, und wenn sich bewahrheitet, dass ein Schiff der Elben zurückkehrt und Freunde zu uns bringt, so wollen wir guten Mutes sein.“

Am späten Nachmittag erreichten sie eine große Wiese. Bunte Blumen wiegten sich im Wind, ein munterer Bach sprang murmelnd über Steine und eine Handvoll alter, knorriger Bäume spendete willkommenen Schatten. Den Rand des kleinen Bachlaufes säumten seltsam geformte Felsen und Steine, dicht mit Moosen bewachsen.

Ein einzelner knorriger Baumstumpf lehnte dicht an einem dieser Felsen, leicht im Schatten. Das Zusammenspiel von Licht und Schatten gab ihm das Aussehen eines verhuzzelten Männchens.

Aragorn lachte plötzlich herzlich auf: „Da steckst du ja, Freund Gimli. Wir hofften, dich schon vor einigen Tagen zu treffen.“

Die drei Hobbits sprangen von ihren Ponys und liefen so schnell sie konnten über die Wiese, während sie fröhliche Willkommensworte riefen.

Isoran sah sich verblüfft um. Der Baumstumpf begann sich zu bewegen und richtete sich zu einer kleinen Gestalt auf. Erst jetzt erkannte das Sonnenkind, dass es sich hier um einen sehr klein geratenen Mann handelte. Ein zerfurchtes Gesicht erschien unter der grau-grünen Kapuze eines weiten Umhanges. Die Augen leuchteten strahlend vor Freude aus diesem Gesicht heraus. In dem dichten Bart, der den ganzen unteren Teil des Gesichtes verbarg und bis zum Gürtel des Zwerges reichte, öffnete sich ein Spalt und ein tiefes, grollendes Lachen ertönte.

„Ich warte schon seit über einem Tag auf euch. Die kleinen Hobbits konnten wohl wieder einmal nicht Schritt halten, oder?“

Empört widersprachen die drei, während sie den Zwerg gleichzeitig heftig umarmten und drückten. Aragorn trat langsam näher und wartete geduldig, bis die Hobbits ihrer Freude genug Ausdruck gegeben hatten. Dann legte er dem Zwerg fest die Hände auf die Schultern.

„Endlich sehen wir uns wieder, Gimli. Es ist lange her, dass du in der weißen Stadt geweilt hast.“

„Ja, und ich habe sie vermisst. Und auch dich, Aragorn. Umso mehr freue ich mich, hier zu sein. Auch wenn die Umstände nicht besonders erfreulich sind. Oder vielleicht doch, denn wenn es wahr ist, so werden wir vielleicht unsere fernen Freunde wiederfinden. Hast du etwas Näheres in Erfahrung bringen können?“ Hoffnungsvoll sah er den großgewachsenen Mann an.

„Nicht über die, die zurückkehren sollen. Doch Anderes haben wir erfahren. Wir haben dir viel zu berichten.“

Gimli wandte sich Arwen zu, die nun auch herantrat und verbeugte sich tief vor ihr. „Lady Arwen, wie schön ist es, Euch wiederzusehen.“

Ebenso herzlich war die Begrüßung zwischen Faramir und Gimli und die Soldaten zeigten großen Respekt vor ihm. Er schien bei den Menschen hochgeachtet zu sein, konstatierte Isoran bei sich.

„Dies ist Lady Isoran, die sich vor einigen Tagen uns anschloss“, stellte Aragorn sie vor. „Und dies ist Gimli, Gloins Sohn. Einer der Gefährten und ein guter Freund.“

Isoran neigte freundlich den Kopf, während sie den Zwerg neugierig und forschend musterte. Wie Faramir war er eindeutig schon in recht hohem Alter, doch seine Bewegungen waren kraftvoll wie die eines jungen Mannes. Er war nur wenig größer als die Hobbits, hatte aber einen bedeutend breiteren und kräftigeren Körperbau. Das fast vollständig ergraute Haar war lang und wurde von dicken Zöpfen zurückgehalten. Auch der Bart war teilweise geflochten und hier sah man noch Spuren der einstigen rötlichen Haarfarbe.

Die leuchtenden Augen des Zwerges sahen sie ebenso neugierig an wie sie ihn, als er sie freundlich begrüßte.

Während sie rasteten, berichtete Aragorn von ihrer Reise, und wie sie das Sonnenkind getroffen hatten. Gimli staunte, als er von ihren Fähigkeiten erfuhr, und sie ihm diese auch bereitwillig zeigte. „Seid Ihr vielleicht eine Zauberin, wie Gandalf es war?“

„Gandalf war der Führer unserer Gemeinschaft“, erklärte Aragorn. „Auch er verließ Mittelerde mit den Elben.“

„Eine Zauberin? Nein, gewiss nicht“, lachte Isoran. „Obwohl, das kommt vielleicht nur darauf an, was man unter Zauberei versteht. Ich kann gewisse Kräfte nutzen, die andere weder erkennen noch handhaben können.“

Zwei Tage später erreichten sie die alten Hafenanlagen. Trotz des einsetzenden Verfalls wirkten sie immer noch beeindruckend und imposant. Schweigend und ehrfürchtig gingen Hobbits und Menschen bis zum Wasser. Selbst Gimli staunte über die prachtvollen Bauten und strich bewundernd über die feinen Steinarbeiten.

Sie luden die Pferde ab und begannen, sich in den Räumen der Anlagen einzurichten. Niemand konnte sagen, wie lange sie warten mussten, wann das erwartete Schiff eintreffen würde. Ob es überhaupt kommen würde. Denn noch niemals war jemand aus Valarion nach Mittelerde zurückgekehrt, seit den lang vergangenen Zeiten der großen Elbenwanderung.

Und doch besaßen die Gefährten und Arwen eine seltsame Gewissheit, dass dieses Schiff tatsächlich kommen würde. Ihre Träume waren derart eindringlich, dass sie keinerlei Zweifel zuließen.

Während die Tage vergingen, hörte Isoran den Hobbits zu. Obwohl sie immer mehr darauf brannte, von den Gefährten und den damaligen Ereignissen zu erfahren, begnügte sie sich vorerst damit, den nicht enden wollenden Geschichten der drei Hobbits über das Auenland zu lauschen. Immer wieder fiel ihnen eine Begebenheit ein, die dringend berichtet werden musste, sie mussten es doch auskosten, eine derart bereitwillige Zuhörerin zu haben.

Nur von dem, was Isoran so gerne erfahren hätte, sprachen sie nicht. Aragorn hatte die Freunde gebeten, vorerst nichts über den vernichteten Ring und der Geschichte der Gefährten zu erzählen. Und Isoran verbot es sich, danach zu fragen. Sie ahnte, dass die munteren Hobbits auf Geheiß des Menschen schwiegen.

Doch von anderen Begebenheiten berichteten die drei gerne und ausführlich. Und auch von Aragorn und Arwen erzählten sie, von Minas Tirith und Gondor, von Rohan und vielem mehr. Und ihre Augen leuchteten vor Bewunderung, wenn die Hobbits davon sprachen, wie schön die Lande geworden waren, seit Aragorn König war. Wie er das nördliche Königreich wieder neu gegründet hatte und nun immer mehr Siedlungen entstanden. Wie alte Handelsstraßen neu belebt wurden und Menschen und Hobbits zu Wohlstand kamen und vor allem in Frieden in ihren Gebieten leben konnten.

Isoran erfuhr, wie die Hobbits mit Aragorn zusammen und vielen anderen Menschen nach Norden gezogen waren, um am Evendim-See die Ruinen der alten Hauptstadt des nördlichen Königreiches zu suchen. Und dort wurde dann eine neue Stadt erbaut, in der nun schon seit vielen Jahren wieder Menschen lebten. Die Handelsstraße nach Bree hinunter wurde nun wieder viel begangen und Bree war größer und bedeutender geworden. Neue Siedlungen der Menschen waren hinzugekommen und die vormals fast menschenleeren Länder von Eriador und Hulsten wurden wieder bewohnt und besiedelt.

Nur das Auenland war und blieb von Menschen frei. Stolz berichteten die Hobbits, dass Aragorn gleich nachdem er die Krone von Gondor angenommen hatte, veranlasst hatte, dass das Auenland ein selbstständiges Teilgebiet des neu vereinigten Königreiches der Menschen sein sollte. Kein anderes Volk als die Hobbits durfte sich hier ansiedeln. Es sei denn, die Hobbits würden dem zustimmen.

Isoran suchte allerdings auch immer wieder die Nähe Arwens und unterhielt sich mit ihr so oft es ihr möglich war, ohne aufdringlich zu erscheinen. Sie war ihr unendlich dankbar für ihre Vergebung und wollte dies auch zeigen. Gleichzeitig versuchte sie so viel wie möglich über die Elben zu erfahren, ihre Informationen waren ja recht alt und stammten alle aus den Tagen ihrer Schuld.

Arwen unterhielt sich gerne mit ihr, sie war mindestens ebenso wissbegierig wie Isoran. Und so sprachen sie lange und viel miteinander und erkannten immer mehr ihre gegenseitige Sympathie. Dennoch vergaß Isoran niemals, dass sie trotz der Großmut Arwens immer in der Schuld der Elben stehen würde. Noch immer lastete das Vergehen ihres Volkes auf ihrer Seele, und sie wünschte brennend, dass sie hier wirklich helfend eingreifen könne.

So vergingen einige Tage. Sam, Merry und Pippin saßen im warmen Sonnenschein auf der Kaimauer und ließen Seele und Beine baumeln, wie sie es nannten. Dichte Rauchkringel stiegen in die Luft und schläfrig sahen sie über das Wasser. Sam nahm plötzlich die Pfeife aus dem Mund, aufmerksam und gespannt blickte er auf den Horizont. Dabei beugte er sich weit vor und wäre ins Wasser gefallen, hätten Merry und Pippin nicht rasch zugegriffen.

„Was ist los mit dir, Sam?“

„Dort, seht doch. Dort vorne, da ist ein Licht!“ stieß Sam hastig hervor. Weit draußen über dem Wasser schien es heller zu werden. Ein strahlendes Licht, goldener und heller als der hellste Sonnenschein breitete sich aus und schien langsam, ganz langsam näher zu kommen.

Flink wie die Wiesel sprangen die drei auf und rannten lauthals rufend zu den Menschen hinüber. „Sie kommen! Sie kommen! Das Schiff kommt!“

Aragorn sprang auf. „Endlich.“ In seine Augen trat ein heller, strahlender Glanz. Ebenso, wie die drei Hobbits auf die Ankunft Frodos hofften, hoffte er, dass sein langjähriger Freund und Gefährte, Gandalf der Zauberer – Gandalf der Weiße – zurückkehrte.

Er hatte niemals etwas gesagt, doch er glaubte nicht daran, dass der vierte der Hobbits auf diesem Schiff war. Konnte denn überhaupt ein Sterblicher nach Mittelerde zurückkehren, wenn er das Land der Valar einmal betreten hatte?

Auch Gimli sah gespannt und hoffnungsvoll dem Schiff entgegen. Lange Zeit waren Zwerge und Elben sich aus dem Weg gegangen. Nicht direkt Feinde, doch gewiss auch keine Freunde, hatten Misstrauen und Missgunst zwischen ihnen geherrscht.

Doch in den Tagen der Gefährten war einer von ihnen sein Freund geworden. Noch lange danach, nach dem Ende aller Schrecken und dem Beginn des neuen Zeitalters waren sie zusammen gewandert. Bis Legolas dem Ruf des Meeres nicht mehr widerstehen konnte und mit seinem Volk gen Westen gesegelt war.

Würde er den Freund wiedersehen?

Und Arwen umklammerte die Hand Aragorns und sah mit brennenden und schimmernden Augen dem Schiff ihres Volkes entgegen? Wer würde darauf sein? So lange war es her, dass die letzten ihres Volkes gegangen waren. Sie hatte ihre Entscheidung, hier zu bleiben – bei Aragorn zu bleiben – nie bereut. Nicht einen Moment, nicht einen Gedanken lang.  Doch die Hoffnung, wieder in die schönen, edlen Gesichter von Elben sehen zu können, den Klang ihrer Stimmen hören zu können, weckte viele Erinnerungen in ihr.

Immer näher kam das Schiff, wurde größer und schöner. Schließlich, ohne dass irgendjemand sichtbar war, wendete es und legte an der Kaimauer an. Die goldenen Segel fielen herab, das helle, schimmernde Licht, das das Schiff bis dahin umgeben hatte, verschwand.

Niemand sprach. Aller Augen waren wie gebannt auf das Schiff gerichtet. Endlich bemerkten die Wartenden eine Bewegung. Jemand kam die Treppe hinauf aufs Deck. Zwei Personen in den graugrünen Umhängen der Elben traten an die Reling, ein Laufsteg wurde herabgelassen.

Aragorn trat vor. Scheinbar ruhig, doch mit leise zitternder Stimme sprach er: „Seid willkommen in Mittelerde. Wir haben von Eurer Ankunft geträumt. Bitte zeigt euch uns, wer seid Ihr?“

Die größere der beiden Gestalten trat einen Schritt vor und streifte die Kapuze nach hinten. Aragorn blickte in ein schönes, edles Gesicht, von lang herabfallendem, silbernem Haar umgeben. Er verneigte sich tief. Auch die Hobbits und alle anderen verbeugten sich.

Isoran hörte das leise, ehrfürchtige Flüstern der drei: „Celeborn“ und sah, dass Arwen vortrat und lächelnd den Mann umarmte. „Celeborn. Es ist so schön, dich wiederzusehen.“

„Tochter meiner Tochter, viel haben wir von dir gesprochen und gehofft, dass deine Entscheidung die richtige war.“ Der Elb hob ihr Kinn an und sah ihr ernst in die Augen. Dann lächelte er und sprach weiter: „Und ich sehe jetzt, dass du richtig gehandelt hast. Glück liegt in deinen Augen.“

Er wandte sich Aragorn zu. „Ich danke dir für das Willkommen, Elessar.“ Er lächelte. „Und ich danke dir für das Glück, das du Arwen gibst.“

„Sie ist der Stern und das Licht meines Lebens.“ Aragorns Stimme klang etwas heiser.

Nun trat die zweite Gestalt vor, schmale Hände hoben sich und ein junges, klares, breit lächelndes Gesicht kam zum Vorschein.

„Legolas!!“ Ein lauter Schrei erscholl, Gimli stürzte nach vorn, umarmte ihn wieder und wieder. „Legolas, mein Freund. Du bist wieder hier, du bist zurückgekommen.“ Fast schluchzend vor Freude stieß er die Worte immer wieder heraus.

Aragorn sah nicht minder bewegt zu ihm, trat an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. Mit der einen Hand drückte der Elb den Zwerg an sich, die andere legte sich warm und fest auf Aragorns Schulter. Groß sahen sie sich an.

„Legolas.“ Nur dieses Wort sagte Aragorn, doch drückte es seine ganze Freude und Bewegung deutlich genug aus.

Nun drängten sich auch die Hobbits heran, begierig den Freund und Gefährten zu begrüßen. Legolas lachte sie an. Aus den jungen, vorwitzigen Hobbits waren ältere, erfahrenere und – wie er zu Recht vermutete – nicht minder vorwitzige Männer geworden.

Doch nur mit Mühe verbarg er sein Erschrecken, als er in das stark gealterte Gesicht seines Freundes und Kampfgefährten sah. Er hatte nicht daran gedacht, dass die Zeit in den gesegneten Landen anders verlief als hier. Gimli war ein alter Mann geworden.

An Aragorn war die Zeit ebenfalls nicht spurlos vorbeigegangen, doch der Nachfahre der Numenorer alterte weitaus langsamer als andere Menschen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die Gemüter wieder beruhigten. Sam war leise an Legolas herangetreten. Celeborn zu fragen, wagte er nicht, dieser Mann war viel zu bedeutend, als dass er ihn belästigen würde.

„Legolas, sag – ist vielleicht – noch jemand mit euch gekommen?“

Der Elb sah in die flehenden Augen hinein, die Antwort wurde ihm schwer. Er wusste, wie eng Sam und Frodo miteinander verbunden gewesen waren.

„Es tut mir leid, mein Freund. Nein, Frodo konnte nicht mit uns kommen. Nur den Elben ist es möglich, aus den gesegneten Landen hierher zurückzukehren.“

Sam senkte traurig den Blick.

„Doch lass mich dir Grüße von ihm ausrichten. Frodo hat dich nicht vergessen und wird es auch niemals. Deine Treue hat es ihm ermöglicht, seine Aufgabe zu erfüllen.“

„Und ich bringe auch Grüße für euch, Pippin und Merry“, wandte Legolas sich an die beiden anderen Hobbits, die ihn umstanden. „Viel wird in Valarion von den drei tapfersten Hobbits aller Zeiten gesprochen. Und jeder Elb kennt eure Namen und wird es nicht müde, Frodo zuzuhören, wenn er von euren Taten erzählt. Auch in Valar gibt es Lieder und Geschichten, und euer Mut und eure Tapferkeit sind allen, nicht nur mir, wohlbekannt.“

Obgleich alle drei sehr enttäuscht waren, Frodo nicht wiederzusehen, platzten sie fast vor Stolz, als sie diese Worte hörten. Den ganzen Tag sah man die Hobbits mit stolzgeschwellter Brust herumlaufen, und die Menschen taten ihnen gerne den Gefallen und erinnerten sie immer wieder daran, wie sehr sie von den Elben geehrt wurden, dass sie sogar Lieder über sie dichteten.

Isoran sah mit zusammengepressten Lippen auf die beiden Männer. Der jüngere der Elben war nach dieser Begrüßung unschwer als einer der Gefährten zu erkennen. Und war ihr auch nicht besonders wohl zumute bei dem Gedanken, wie er über sie urteilen würde, richtig übel wurde ihr, wenn sie Celeborn betrachtete.

Sie brauchte weder eine Vorstellung noch eine Erklärung, um zu sehen, dass dieser Mann zu den Bedeutendsten seines Volkes gehörte. Und dieses stolze und strenge Gesicht war nicht dazu geeignet, die Hoffnung zu schüren, dieser Elb würde ähnlich verzeihend wie Arwen reagieren.

Aragorn war langsam aus dem Kreis der Freunde getreten. Er sah das junge Sonnenkind abseits stehen und die beiden Elben betrachten. Er ahnte die Unruhe, die nun in ihr war und wartete, bis sie ihn bemerkte. Er bedeutete ihr, mit ihm zu kommen und bereitwillig ging sie neben ihm her, als er sie zu Celeborn führte.

„Herr Celeborn, dies ist Lady Isoran, die sich uns vor einigen Tagen anschloss. Arwen träumte von ihr, und sie sagte uns bereitwillig ihre Hilfe zu, die Gefahren, die uns drohen zu bekämpfen.“

„Diese Hilfe bekommt Ihr auf jeden Fall, gleichgültig was sonst geschehen wird. Es sei denn, mir wird versagt, diese Hilfe geben zu dürfen“, warf Isoran rasch ein. Sie verstand, dass Aragorn ihr mit diesen Worten helfen wollte, doch sie war nicht bereit, Vergebung zu erkaufen.

„Weshalb sollte Euch verwehrt werden, Hilfe zu geben, wenn sie schon erbeten und zugesagt wurde?“ Celeborns Blick fing den ihren ein, und zum ersten Mal begriff Isoran die große Macht der Elben. Sie fühlte sich in diesem Blick gefangen und wusste, dass es sie große Anstrengung kosten würde, wollte sie sich daraus lösen.

„Ich bin ein Sonnenkind.“ Sie sah das Aufblitzen in den Elbenaugen. Diesem Mann brauchte sie keine weiteren Erklärungen zu geben, er wusste genau, wer und was sie war. Eine ganze Weile sah Celeborn sie schweigend an, und nur mit Mühe hielt Isoran dem Blick stand.

„Es ist lange her, dass die Sonnenkinder Mittelerde verließen, mit der Versicherung nie wieder zurückzukehren.“

Jetzt senkte sie doch den Blick. Stumm nickte sie und begrub die leise Hoffnung, dass dieser Elb vielleicht doch Gnade vor Recht ergehen lassen würde.

„Der Eid wurde gebrochen“, bestätigte sie leise.

Eine leise, von ihr unbemerkte Handbewegung hieß Aragorn schweigen. „Aragorn sprach von einem Zufall. Erklärt mir dies“, fuhr Celeborn unbeirrt fort.

„Die Tore nach Mittelerde wurden versiegelt und sind es noch. Ich weiß nicht, wie ich hierher kam. Doch spielt dies keine Rolle.“ Isoran hatte einige Mühe, ihrer Stimme Festigkeit zu geben.

„Was hat Arwen geträumt?“ Aragorn blickte in das unbewegte Gesicht Celeborns. Er berichtete von den düsteren Bildern ihrer Träume und den geheimnisvollen Worten, die darin immer wieder erklangen.

Celeborn wandte sich wieder Isoran zu. Wieder sah er sie eine ganze Weile nachdenklich an. „Seid Ihr bereit, uns widerspruchslos alle Hilfe zu geben, die wir von Euch verlangen?“

Isoran sah ihn sprachlos an. „Nein!“ Fast zitternd vor Empörung sah sie zu dem hochgewachsenen Mann auf. „Einmal und nur einmal haben wir blind gehandelt. Einmal haben wir ohne nachzudenken, ohne uns zu vergewissern getan, was ein anderer uns sagte. Niemals werden wir wieder so handeln!“

Sie musste schlucken, doch jetzt war ohnehin alles gleichgültig geworden. Dieser Mann würde sie verdammen, also konnte sie auch weitersprechen. „Ich habe meine Hilfe zugesagt, gerne zugesagt. Doch ich entscheide immer noch selbst, was ich mache und wie ich es mache. Ich kenne euch nicht und weiß nicht wie Ihr denkt. Selbst Elben können der Dunkelheit anheimfallen. Ich handle nur nach meinem Willen und nach meinem Gewissen.“

Verwirrt verstummte sie, als Celeborn zu lächeln begann. Sein strenges, erhabenes Gesicht wurde schlagartig freundlicher. Seine Augen, bisher kalt und unpersönlich, blickten warm und freundlich in die ihren.

Er nickte: „So sollte es auch sein. Die Sonnenkinder, die damals nach Mittelerde kamen, glaubten trügerischen Worten und Lügen, weil sie überzeugt waren, dass der, der sie aussprach nicht der Lüge fähig war.“

Sein Lächeln vertiefte sich. „Arwen hat richtig gehandelt, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Wir sind hier, um den Menschen von Mittelerde gegen große Gefahren zu Hilfe zu kommen. Lasst uns ihnen zusammen helfen. Doch“, hier wurde seine Stimme wieder förmlich, „ob Ihr und Euer Volk in Zukunft in Mittelerde willkommen seid, kann ich Euch nicht sagen.“

Nur seine Augen lächelten, als Celeborn weiter sprach: „Dies müssen die Menschen entscheiden. Die Zeit der Elben in Mittelerde ist längst vorüber. Dies ist die Zeit der Menschen. Ihr müsst den Herrscher der Menschen fragen, ob Euer Volk hier willkommen ist.“

Isorans Augen waren immer größer geworden. Zitternd atmete sie ein. Sie war geprüft worden! Zorn wollte in ihr aufsteigen und wurde rigoros unterdrückt. Auch wenn sie sich gedemütigt fühlte, hatte dieser Mann denn nicht alles Recht, sie zu prüfen?

Sie blickte in die lächelnden Augen des Elben und ihr Zorn verschwand, als sie das Verständnis in ihnen sah. Leise, und diesmal konnte sie das Beben in ihrer Stimme nicht unterdrücken, sagte sie: „Ich würde Euch und den Menschen gerne helfen.“

Sie wandte sich Aragorn zu.

„Ihr wisst, dass Ihr mir willkommen seid.“

Bis zum späten Abend saßen sie zusammen, tauschten ihr Wissen aus und berieten, was am Besten zu tun wäre. Auch die Elben wussten nichts Genaues. Nur dass die Gefahr von Norden nach Mittelerde käme. So beschloss man, wieder durch das Auenland zurück zu reisen und von dort nach Bree. Würde man auch dort nichts Neues erfahren können, war es das Beste, nach Norden zum Evendim-See zu gehen. Aragorn vermutete, dass die neue Stadt dort am ehesten gefährdet sein würde.

Isoran ließ die Anderen beschließen, was sie wollten. Sie kannte die Gegebenheiten ohnehin nicht gut genug, um hier mitreden zu können. Und sie war viel zu glücklich, um sich im Moment um irgendwelche Gefahren zu kümmern. Wenn es soweit war, würde sie all ihre Kräfte einsetzen, um Mittelerde zu schützen. Doch jetzt genügte es ihr völlig, hier zu sitzen, den lebhaften Debatten zuzuhören und zu wissen, dass ihrem Volk tatsächlich vergeben worden war.

Die Suche

Stetig, aber ohne Hast ritten sie durch die Wälder und Wiesen nach Osten. Sie durchquerten das Auenland weit im Norden, Aragorn achtete darauf, die Dörfer der Hobbits nicht zu berühren. Hobbits waren zwar durchaus gastfreundlich, doch sie zogen es vor, unter sich zu bleiben. Fremde wurden nicht unfreundlich empfangen, doch man schätzte sie nicht unbedingt.

Hobbits kümmerten sich nicht um die Geschehnisse „in der Fremde“ – und das waren alle Lande außerhalb des Auenlandes. Obwohl es seit einigen Jahren immer wieder vorkam, dass jüngere Hobbits hin und wieder bis nach Bree zogen und mit Neuigkeiten und Geschichten – die durchaus gerne gehört wurden – wieder zurückkehrten. Doch im Großen und Ganzen kümmerten sie sich, wie in den vergangenen Zeitaltern auch, nur um ihre eigenen Belange – die wirklich wichtigen Dinge.

Aragorn wusste und respektierte dies. Und wie schon seit langer Zeit sorgte er, unbemerkt von den Hobbits, dafür, dass die Ungestörtheit des Auenlandes erhalten blieb. Kaum einem Hobbit war bekannt, außer Sam, Merry und Pippin natürlich, wie sehr der König der Menschen sich um ihr Wohl kümmerte, und wie sorgfältig er die Grenzen ihres kleinen Landes schützte.

Aragorn, Arwen und Celeborn hielten immer wieder Beratungen ab, um wieder und wieder ihre Träume zu besprechen und zu versuchen, sie zu deuten. Oftmals setzten sich Gimli und Legolas dazu.

Die Hobbits jedoch genossen die Reise und sprachen mal mit diesem und jenem, ohne sich große Gedanken um das Ziel ihrer Fahrt zu machen. Ihnen war durchaus bewusst, dass ihrer Welt Gefahr drohte, doch es lag nicht in ihrer Mentalität, sich früher als unbedingt notwendig Sorgen zu machen. Dies überließen sie gerne den „Großen“, die ihrer Meinung nach solche Dinge viel besser planen konnten.

Außerdem hatte ihnen Aragorn endlich gestattet, über Frodo und den Ring zu sprechen. Und so sah man sie fast ständig mit Isoran zusammen, der sie doch unbedingt die großen Taten ihres Volkes berichten mussten. Und in ihrem Eifer begannen sie ihre Erzählungen weit in der Vergangenheit und berichteten von all den Dingen, die sie selbst nur aus Erzählungen kannten: Wie die Ringe geschmiedet wurden, wie Sauron die Elben täuschte und betrog und die Welt in eine erste Dunkelheit stürzte.

Sie bemerkten nicht, wie aus Isorans amüsiertem Interesse Bestürzung wurde, und sie nur mit Mühe die Fassung bewahrte, als sie erstmals den Namen des Dunklen Herrschers hörte. Nur Aragorn bemerkte dies und vielleicht Celeborn, doch diesem war nicht anzumerken, was er dachte. Doch er hielt sich, wie zufällig, in den nächsten Tagen viel in der Nähe der Hobbits auf, wenn diese ihre Erzählung fortsetzten.

Diese berichteten nun von den „eigentlich wichtigen Geschehnissen“, nämlich wie Bilbo Beutlin eines Tages ohne Taschentuch aus seiner schönen Hobbithöhle stürzte und ohne es zu ahnen in das wichtigste und gefährlichste Ereignis Mittelerdes einbezogen wurde. Hier folgte erst einmal eine ausführliche Beschreibung der komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Bilbo, Frodo und Pippin, zwischen den Tuks und den Brandybocks – und vieler anderer Hobbits, die unbedingt erwähnt werden mussten.

Und hier bemerkte Aragorn zum ersten Mal, dass das Sonnenkind ungeduldig auf die Fortsetzung der Geschichte wartete, anstatt interessiert den Ausführungen der drei Hobbits zu lauschen. Doch schließlich, der Abend war schon hereingebrochen und sie lagerten gemütlich an einem kleinen Abhang in der Nähe eines Teiches, erfuhr Isoran wie Bilbo den Ring fand. Jedes einzelne Rätsel wurde ihr erzählt und wie der heimtückische Gollum versuchte, Bilbo zu hintergehen und ihm den Ring wieder abzunehmen.

Aragorn setzte sich mit Gimli und Legolas zu ihnen und hörte ihnen zu. Doch er beobachtete das Sonnenkind scharf. Und während Merry, immer wieder unterbrochen von Sam und Pippin, damit ja keine Kleinigkeit vergessen wurde, weitererzählte, senkte die junge Frau immer wieder den Blick um nachzudenken.

Es war schon spät in der Nacht, als Bilbo endlich wieder heimgekehrt war nach Hobbingen – zusammen mit dem Ring. Während die Hobbits, sehr zufrieden mit sich, schlafen gingen, trat Isoran in die Dunkelheit und stand lange am Teich. Legolas sah ihr nach und tauschte dann einen langen, beredten Blick mit seinen Freunden.

„Hm“, grummelte Gimli in seinen Bart. „Was soll das jetzt bedeuten?“

„Wir werden es erfahren.“ Aragorn streckte seine langen Beine aus.

„Willst du sie fragen?“

Aragorn schüttelte den Kopf und sah den Elb lächelnd an. „Nein. Ich denke, sie wird schon bald von selbst sprechen. Lasst die Hobbits erst fertig erzählen.“

Legolas lachte auf. „Dann werden wir uns noch in Geduld üben müssen, Freunde. Sie werden keinen einzigen geknickten Grashalm, kein Wort, das wir gesprochen haben, rein gar nichts vergessen zu berichten.“

Gimli schickte sein grollendes Lachen in die Nacht.

Aragorn jedoch blieb ernst, mit leiser Stimme sagte er: „Sie haben das Recht darauf, stolz auf ihre Taten zu sein. Den Hobbits allein ist es zu verdanken, dass der Ring vernichtet wurde. Ihnen gebührt die Ehre und der Dank aller freien Völker.“

„Und wir?“ brummte der Zwerg. „Haben wir denn gar nichts dazu getan?“

„Oh doch, das haben wir“, besänftigte der Elb mit seiner hellen Stimme. „Doch Aragorn hat Recht. Wir konnten ihnen helfen und haben das Unsere getan, damit sie diese Aufgabe erfüllen konnten. Doch Frodo und Sam haben den Ring vernichtet.“

„Und wir kannten die Gefahren, die uns drohten oder konnten sie zumindest einschätzen. Sie nicht, und sie haben dennoch alle Last und alle Gefahren auf sich genommen“, fügte Aragorn hinzu. Gimli brummelte noch etwas Unverständliches in seinen Bart, doch er widersprach seinen Freunden nicht.

Die nächsten Tage vergingen ereignislos, wenn man davon absah, dass die Hobbits ihre Erzählung fortsetzten. Angefangen von dem großen Fest und Gandalfs Feuerwerk – kein einziges wurde ausgelassen. Schließlich und endlich – sie hatten das Auenland inzwischen hinter sich gelassen und die Straße nach Bree erreicht – waren alle Abenteuer be- und alle Gefahren überstanden. Der Ring war vernichtet und damit auch Sauron. Frodo und Sam waren in die weiße Stadt gebracht worden und Aragorn zum König gekrönt. Doch noch immer waren die Hobbits längst nicht fertig mit ihrem Bericht.

Isoran jedoch war nun derart nervös, dass es sogar den Hobbits auffiel. Immer wieder unterbrach sie die drei, um sich für einige Zeit abzusondern und für sich allein zu sein. Dann starrte sie nachdenklich vor sich hin, die Stirn wie in schweren Gedanken gefaltet. Doch sie schwieg weiterhin und bat die Hobbits freundlich weiterzuerzählen. Sie wusste, dass sie darauf brannten, ihren Bericht so ausführlich zu beenden, wie sie ihn begonnen hatten. Und so erfuhr sie, kurz bevor sie Bree erreichten, wie Bilbo und Frodo mit den Elben fortsegelten – zum Kummer ihrer Freunde.

Heller Sonnenschein brachte die sauberen Scheiben der Häuser zum Funkeln als sie in Bree ankamen. Langsam ritten sie durch die Straßen, die Menschen – und Hobbits, denn noch immer lebten viele von ihnen dort – sahen ihnen nach. Viele verbeugten sich vor dem Wappen, das Aragorn und die Soldaten der Garde trugen. Das Symbol des weißen Baumes war inzwischen auch hier – weit weg von Gondor – gut bekannt. Und noch bevor sie das Gasthaus erreichten, ging es wie ein Lauffeuer durch das Städtchen: Der König von Gondor ist in Bree.

Der Gastwirt erwartete sie schon am Eingangstor. Nicht der gute, alte Butterblume, der schon vor Jahren gestorben war – im hohen Alter und von allen geschätzt und geachtet. Doch Wulf Sundmann, der jetzige Wirt, war mindestens ebenso beleibt und ebenso geschwätzig. Unter wortreichen Erklärungen und Beteuerungen führte er sie in eine kleine Gaststube. Hochgeehrt wäre er, derart edle Gäste bewirten zu dürfen – selbstverständlich würden sie die besten Zimmer bekommen – das Essen wäre sofort bereit – ob die Herren noch etwas bräuchten – und … und … und.

Aragorn ließ ihn reden, und die Soldaten amüsierten sich über den Eifer des guten Mannes. Und über die scheuen und ehrfürchtigen Blicke, die er immer wieder den beiden Elben zuwarf. Nachdem sie sich gewaschen und erfrischt hatten, setzten sich die Reisenden an die langen Tische. Für die Hobbits waren extra hohe Stühle herangeschafft worden, und alle griffen hungrig zu.

Doch Isoran, obwohl ebenso hungrig wie die anderen, stocherte in dem ausgezeichneten Essen herum. Nur mit Mühe schluckte sie einige Bissen hinunter. Immer wieder zog sie die Stirn zusammen und starrte minutenlang düster vor sich hin. Schließlich ballte sie das feine, hübsch gewebte Serviettentuch zusammen und warf es auf den noch halbvollen Teller.

Sie hob den Kopf und fand Aragorns Augen auf sich gerichtet. Sie nickte, natürlich war ihm ihre Nervosität nicht entgangen.

„Ich muss – möchte mit Euch sprechen. Mit allen“, verbesserte sie sich sofort, „die damals beteiligt waren, besonders mit den Elben.“

Aragorn nickte und stand auf. „Ich denke jedoch, dass wir es uns dabei etwas gemütlicher machen können. Dort drüben stehen bequeme Stühle und Sessel.“ Er nickte den Garde-Soldaten zu, die sich erhoben und hinausgingen. Die anderen – auch Faramir – machten es sich bequem. Aragorn und die Hobbits zogen ihre Pfeifen heraus und zündeten sie an.

„Ihr plagt Euch schon seit einigen Tagen mit etwas herum, das Ihr von unseren Freunden erfahren habt.“ Aragorn sah das Sonnenkind gespannt an.

Isoran nickte, sie hatte sich auf einen breiten, weichen Hocker gesetzt und die Arme um die Knie geschlungen.

„Sauron“, stieß sie hervor. „Ich kenne diesen Namen.“ Sie sah das Erstaunen auf den Gesichtern und seufzte tief auf. „Er war einst ein Sonnenkind.“

Alle starrten sie verblüfft an. Celeborns Augen wurden plötzlich hell und brannten sich fest in die ihren. „Ihr sagtet, der Verräter floh vor seinen Gefährtinnen. Sie haben ihn nicht gefasst und bestraft, bevor sie sich den Elben stellten?“

Isoran senkte schuldbewusst den Blick und schüttelte stumm den Kopf. „Nein“, gestand sie leise. „Er hatte die Macht des Lichtes verloren und gehörte somit nicht mehr zu unserem Volk. Die vier Suchenden waren zufrieden damit, dass er vor ihnen geflohen war und kümmerten sich nicht mehr um ihn. Als sie – zurückkehrten wurde sein Name verflucht und nie mehr ausgesprochen. Nur als Erinnerung an unsere Schuld und als Lehre für die jungen Sonnenkinder, niemals zu vergessen, dass auch uns die Dunkelheit täuschen und vernichten kann, wird von ihm berichtet.“

„Dann ist die Macht, die der Dunkle Herrscher besaß, die Macht der Sonnenkinder. Seine Fähigkeiten und Künste sind die Künste Eures Volkes. Und die Kraft, die er in den Einen Ring schmiedete – diese Kraft und Macht, die die Elben nie kannten und nie beherrschten ist die Kraft, die Euer Volk kennt und beherrscht.

„Nein!“ Isoran hob den Kopf und jeder konnte den Schmerz in ihren Augen sehen – aber auch ihren Stolz. „Nein. Die Mächte, die Sauron beherrschte, sind nicht die unseren. Er verlor die Fähigkeit, die Kraft des Lichtes zu nutzen. Damit war er ein gewöhnlicher Mensch, denn dies ist das einzige, das uns von anderen Menschen unterscheidet.“

„Er war kein Mensch!“ Aragorn sah die junge Frau fast entsetzt an. Diese hob nur entschuldigend die Schultern.

„Wir sind Menschen. Auch Sauron, doch seine Fähigkeiten und seine Macht, welche er auch immer besessen hat, stammten weder von gewöhnlichen Menschen noch von uns. Er hatte sich der Dunkelheit angeschlossen. Seine Macht war die Macht der Dunkelheit. Er hatte sich ihr angeschlossen und wurde dafür belohnt. Seine Kenntnisse waren nicht die unsrigen.“

Celeborn sah Isoran durchdringend an, es fiel ihr schwer seinem Blick unverwandt standzuhalten. Die Stärke, die in diesem Elben war, beeindruckte sie tief. Dann nickte er: „Euer Volk kann derartig mächtige Ringe nicht fertigen?“

Jetzt war es an Isoran, den Elben mit ihrem Blick festzunageln. „Nein. Und auch Sauron hat diese Macht nicht besessen. Weder als Sonnenkind, noch als das Geschöpf, das nach seinem Verrat aus ihm wurde. – Er hat diesen verdammten Ring nicht geschmiedet.“ Den letzten Satz sagte sie sehr leise.

„Es heißt in allen Liedern und Legenden ...“, Aragorn brach ab und sah die Elben verwirrt an. Alle, auch Arwen, schüttelten die Köpfe. Celeborn begann zu berichten: „Die Elben haben vor langer Zeit damit begonnen, Ringe der Macht zu schmieden. Zuerst nur einfaches Spielzeug ohne wirklich große Macht. Dann experimentierten wir mit größeren Kräften. Damals vertrauten wir Sauron, er hatte sich mit Lügen und scheinbaren Beweisen seiner Güte bei unserem Volk eingeschmeichelt. Er lernte viel von uns, doch er besaß auch selbst große Kenntnisse. Dann betrog er uns, er hat den Ring geschmiedet, wir hörten seine Worte.“

„Ihr hörtet seine Worte“, wiederholte Isoran. „Das glaube ich gerne. Doch dieser Ring ist viel älter als Ihr ahnt. Er existiert schon Ewigkeiten. Sauron bekam ihn, fand ihn sozusagen. Er wollte, dass Ihr und alle anderen überzeugt davon wart, dass er der Herrscher des Ringes war, sein Besitzer und Erschaffer. Es kann auch sein, dass er später selbst davon überzeugt war. Dass er irgendwann selbst an seine Lügen glaubte. Doch der Ring hat keinen Herrscher. Er ist es, der andere beherrscht.“

„Wie meint Ihr das? Woher könnt Ihr von dem Ring wissen?“ Aragorn sah sie neugierig und forschend an.

Isoran seufzte tief auf. „Das ist eine lange Geschichte.“ Sie fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. Wenn sie jetzt zu erzählen begann, würde die Nacht kurz werden. Sie sah die Blicke der Hobbits begierig auf sich ruhen und lächelte unwillkürlich. „Um diese Dinge zu berichten, muss ich etwas ausholen und weit in unsere Geschichte zurückgehen.“

Sie setzte sich bequemer hin, ihre Augen wanderten über die kleine Schar ihrer Zuhörer. Sie atmete tief ein. „Vor langer Zeit erfuhren wir von dem ewigen Kampf zwischen zwei – Mächten, ein anderes Wort kenne ich dafür nicht. Wir nennen diese Mächte das Licht und die Dunkelheit. Es sind Synonyme, die eigentlich überhaupt nichts aussagen. Viele unterscheiden sie auch als Gut und Böse, doch auch das stimmt nicht. Es gibt keine Beschreibung für sie, sie sind einfach nicht begreifbar.“

Sie lächelte, als sie die verwirrten Gesichter sah. „Diese Mächte gibt es schon ewig und die Welten und alles was darauf lebt ist ihr Spielfeld. Lasst mich das erklären. Wir haben keine Gewissheit, was diese Mächte wollen. Alles, was wir wissen, ist, dass sie sich  bekämpfen. Doch ihre Macht ist derart unvorstellbar groß, dass sie alles und vermutlich auch sich selbst vernichten würden, würden sie direkt gegeneinander antreten. Deshalb kämpfen sie nur indirekt. Man könnte auch sagen, sie lassen kämpfen.“

„Zum Beispiel Euer Volk? Gegen wen?“ Gimli starrte sie herausfordernd an.

Isoran nickte nur und sprach weiter: „Es geht darum, welche dieser Mächte mehr Welten für sich gewinnen kann. Beide Mächte bedienen sich dafür einzelner Personen oder ganzer Völker, so wie unser Volk. Oder sie benutzen Werkzeuge, mächtige Dinge unterschiedlichster Art. Sie versuchen zu erreichen, dass sich eine Welt ihrer Art zu denken anschließt und sich dementsprechend entwickelt. Jede Welt, die sich absolut einer der beiden Mächte angeschlossen hat, ist für die andere Macht tabu.“

Isoran zuckte mit den Schultern. „Ich habe viele Welten gesehen. Solche, die der Dunkelheit angehören und solche, die sich an das Licht angeschlossen haben. Auf allen Welten kann man leben, meist sogar gut leben. Auf allen Welten gibt es Gutes und Böses. Es gibt nur einen Unterschied, den wir erkennen können. Obwohl es sehr wahrscheinlich ist, dass es noch viele andere Dinge gibt, die diese Welten unterscheiden. Doch einem lebenden Wesen unserer Art ist es wohl nicht möglich, diese Dinge zu erkennen.“

„Was für ein Unterschied?“ fragte Gimli grollend und ungeduldig.

„Auf allen Welten der Dunkelheit gibt es jemanden, eine Person oder ein Volk, das für alle anderen bestimmt, wie sie zu leben haben. Welche Werte wichtig sind, welche Art zu Denken und zu Handeln gut und richtig ist. Das muss nicht unbedingt schlecht sein. Oftmals sind es starke, gute und gerechte Personen und Völker, die diese Herrschaft ausüben. Die Völker leben gut und in Wohlstand und Frieden. Natürlich gibt es auch Welten, die von Tyrannen beherrscht werden, aber es ist nicht die Regel.“

Gimli war verwirrt. „Ja, aber, was …“

Isoran nickte ihm zu. „Deshalb sagte ich, dass diese Mächte nicht mit Gut und Böse zu vergleichen sind.“

„Gut, Ihr sagtet uns, wie es auf den Welten der Dunkelheit aussieht. Doch was ist nun auf den anderen Welten anders?“ wollte Faramir wissen.

„Auf den Welten, die sich dem Licht angeschlossen haben, gibt es niemanden, der bestimmt. Natürlich gibt es Herrscher über die einzelnen Völker. Aber keinen, der über alles bestimmt. Wer anders denkt als andere wird weder bestraft noch geächtet. Wie die einzelnen Völker sich entwickeln bleibt jedem selbst überlassen. Was oftmals zu Chaos, sogar zu Kriegen führt. Aber ebenso oft auch zu großen Kunstfertigkeiten, zu intensiven Anstrengungen, gemeinsam Forschungen zu betreiben und Wissen zu erlangen. Und damit zu einem friedlichen, gemeinschaftlichen Beieinander und Miteinander, das zu beachtlichem Wohlstand führt.“

„Aber, wo ist denn dann ein Unterschied? Wenn es überall sowohl schlimme als auch gute Welten gibt?“ Pippin schüttelte den Kopf, auch Merry sah sich verwirrt um und sah, dass die meisten anderen ebenso wenig begriffen wie er. Nur Aragorn und Celeborn nickten verstehend – und Sam. Merry starrte ihn an: „Begreifst du dies etwa?“

Sam nickte, schwieg jedoch und sah Aragorn auffordernd an. Der nickte ihm jedoch ruhig und lächelnd zu. „Sprich du, Sam.“

„Ja“, Sam blickte verlegen in die Runde. „Ich denke, das ist wie in den großen Geschichten. Wir erzählen sie immer wieder, weil die Leute dort drinnen etwas Großartiges getan haben. Aber alle Geschichten, die ich kenne und liebe handeln von Personen, die diese großartigen Dinge von sich aus getan haben. Weil sie es wollten, weil es richtig war, nicht weil es ihnen befohlen wurde.“

Er sah das Sonnenkind fragend an. „Das ist es doch, nicht wahr? Bei den einen Welten überlegen die Leute selbst, was sie wollen, was richtig für sie ist. Sie entscheiden für sich selbst. Und in den anderen Welten wird für sie entschieden. Die Leute werden nicht gefragt, was sie selbst wollen.“

Isoran nickte und sah wie sich langsam Begreifen auf den Gesichtern zeigte. „Es geht diesen Mächten nicht um Gut oder Böse, Richtig oder Falsch. Dies sind sowieso keine universellen Dinge. Was für den einen gut ist, kann für den anderen schlecht sein.“

„Und was haben diese Mächte davon?“ Legolas war immer noch verwirrt.

„Nun, wenn die letzte Welt sich entschieden hat, werden sie wissen, wer von ihnen beiden Recht hat. Welche Art zu denken und sich zu entwickeln stärker ist, sich besser und öfter durchsetzt.“

„Und das ist alles?“

Isoran nickte. „Zumindest wird es so seit ewiger Zeit bei uns berichtet und gelehrt. Wir haben uns dem Licht angeschlossen. Auch wenn es mühsamer ist, wir glauben, dass jedes Volk und jedes Geschöpf selbst über sich entscheiden sollte.“

Aragorn nickte zustimmend. „Doch was hat das nun mit dem Einen Ring zu tun?“

„Der Ring ist ein Werkzeug der Dunkelheit. Wenn er auf einer Welt auftaucht, sucht er sich einen Träger und gibt ihm Macht, große Macht. Was der Träger mit dieser Macht dann anfängt ist seine Sache. Der Ring wird so lange bei ihm bleiben, wie diese Person ihm nützlich ist. Und das bedeutet, so lange, wie der Ringträger über andere herrscht oder versucht zu herrschen.“

„Aber der Ring wurde vernichtet. Das heißt doch, dass diese Dunkelheit verloren hat“, stieß Merry aufgeregt hervor.

Isoran schüttelte den Kopf. „Der Ring kann nicht vernichtet werden. Es gibt allerdings Regeln, denen dieses Werkzeug unterworfen ist. Es muss eine Möglichkeit geben, ihn – nun verlieren zu lassen. Deine Formulierung war durchaus richtig, Merry. Der Ring wird immer versuchen, diese „Vernichtung“ so schwer wie möglich zu machen. Und in Mittelerde konnte der Ring nur dadurch „vernichtet“ werden, indem er in das Feuer geworfen wurde, aus dem er angeblich stammte.“

„Aber was ist dann aus ihm geworden?“ wollte Sam wissen.

„Für Mittelerde ist er vernichtet. Er musste diese Welt verlassen und kann nicht mehr hierher zurück. Er wird auf einer anderen Welt auftauchen und sich einen neuen Träger suchen.“

„Dann spielt es für unsere Welt, für Mittelerde, keine Rolle, ob dieses Ding nun irgendwo und irgendwie weiter existiert?“ Aragorn überlegte, ob die Gefahr, vor der sie gewarnt wurden, vielleicht die Rückkehr des Ringes sei.

„Das stimmt“, bestätigte Isoran ihm jedoch. „Für Eure Welt ist der Ring vernichtet. Er kann hier kein Unheil mehr anrichten.“

„Dann kann die Gefahr, von der wir träumen nicht von dem Ring ausgehen?“ Arwen wollte ganz sicher gehen. Wieder nickte Isoran. „Nein, das ist wohl nicht möglich. Auch Sauron kann nicht gemeint sein. Wenn ich die Berichte der Hobbits richtig verstanden habe, hat er die Dummheit begangen, sein Leben an den Ring zu binden. Er war sich wohl völlig sicher, dass der Ring nie besiegt werden könnte. Doch die sogenannte „Vernichtung“ des Ringes war damit das Todesurteil für Sauron.“

„Schade.“ Aragorn sah in die verblüfften Gesichter der anderen und fügte hinzu: „Dann hätten wir zumindest gewusst, welche Gefahr uns droht.“

„Wir werden es herausfinden.“ Celeborn stand auf. „Doch nicht mehr heute. Es ist spät geworden. Lady Isoran, ich danke Euch für Eure Offenheit. Aber ich glaube nicht, dass uns dies hilft, die jetzige Gefahr zu erkennen und zu beseitigen.“

„Nein, das nicht. Aber ich war es Euch schuldig, die Wahrheit über Sauron zu sagen. Und damit auch über den Ring. Obgleich es natürlich stimmt, diese Gefahr ist vorüber.“

Die kleine Gesellschaft ging nun endlich schlafen. Die Hobbits tappten gähnend in ihre gemütlichen Zimmer, die natürlich ebenerdig waren und ganz nach Hobbitart ausgestattet. Die anderen stiegen die schmalen Treppen hinauf in die größeren, für Menschen gedachten Räume.

Zwei Tage blieben sie in Bree, kümmerten sich um die Pferde und besorgten neuen Proviant. Und sie hörten sich um, lauschten den reisenden Händlern und jedem anderen, der in letzter Zeit unterwegs gewesen war.

Und viele von ihnen berichteten von eigenartigen Dingen. Wasserläufe waren ausgetrocknet, verendete Tiere waren gefunden worden. Und niemand konnte sagen, woran sie gestorben waren. Einige berichteten sogar von Trollen, die sich angeblich in der Nähe der Handelsstraßen aufhalten sollten.

Als Faramir dies seinem König berichtete, runzelte der irritiert die Stirn. „Seit die nördlichen Lande wieder von Menschen besiedelt sind und die alten Städte wieder aufgebaut wurden, haben diese Geschöpfe sich ferngehalten. Sie leben weit im Norden der Ettenöden.“

Die beiden Männer sahen sich an und wussten, dass sie das Gleiche dachten. Es musste einen Grund – einen guten Grund – geben, wenn Trolle sich so weit nach Süden wagten. Die Zeiten, in denen sie mehr oder weniger ungestraft Unheil anrichten konnten, waren längst vorbei.

„Vielleicht ist das, was wir fürchten auch etwas, das selbst Trolle fürchten.“ Legolas trat zu ihnen. „Und sie fliehen davor.“

Aragorn nickte. „Dann muss die Gefahr im Norden zu finden sein. Wir brechen morgen auf. Sagt bitte den anderen Bescheid, ich suche Celeborn und spreche mit ihm.“

Die Hobbits waren nicht begeistert, sie fühlten sich in Bree sehr wohl, doch sie murrten nicht. Aragorn hätte ihnen sofort freigestellt hier zu bleiben, oder nach Hause, zurück ins Auenland zu gehen – und um nichts in der Welt würden sie sich fortschicken lassen.

Merry und Pippin dachten daran, wie sie vor langer Zeit schon einmal darauf bestanden hatten, dass sie nicht zurückgelassen wurden – damals, als Frodo zu seiner langen Reise aufbrach. Dieser Reise, die ihr Leben verändert hatte. Damals war Frodo derjenige gewesen, der unbedingt das Auenland schützen wollte. Nun, Frodo war nicht mehr hier – leider – aber nun würden eben sie selbst dafür Sorge tragen, dass ihrem geliebten Auenland nichts geschehen würde.

Sam machte ein grimmiges Gesicht und fragte nur: „Und wenn es die Trolle selbst sind, die die Gefahr zu uns bringen?“

Aragorn schüttelte den Kopf: „Ich bezweifle sehr, dass wir wegen einiger Trolle derart seltsame Träume hätten. Selbst dann nicht, wenn sich alle Trolle Mittelerdes gegen uns verschworen hätten. Denn dies sind Gefahren, die aus Mittelerde selbst kommen. Nein, Sam, was immer auf uns zukommt – es ist keine uns bekannte und natürliche Gefahr.“

Sam senkte den Kopf. „Du hast natürlich Recht. Es wäre wohl auch zu einfach gewesen. Trolle zu bekämpfen – tja, da wüsste man wenigstens, was auf einen zukommt. So – diese Ungewissheit macht mich langsam verrückt.“

Aragorn legt ihm die Hand auf die Schultern. „Wir werden es erfahren – und wir werden auch diese Gefahr bestehen. Es kann gar nicht anders sein, schließlich werden wir von den besten und tapfersten Hobbits begleitet, die Mittelerde je gesehen hat.“

Sam errötete bis unter die Haarwurzeln, er suchte verlegen nach Worten, doch die um ihn herum stehenden Männer nickten alle nur bestätigend dazu.

„Du brauchst nicht verlegen zu werden, Sam. Jeder hier weiß genau, wie zäh und tapfer Hobbits sein können. Schließlich haben wir es selbst erlebt.“ Legolas sprach völlig ernst, nicht das kleinste Lächeln schwächte seine Worte ab. Und als Sam, immer noch verlegen, in die hellen Augen des Elben sah, erkannte er, dass dieser seine Worte genau so ernst gemeint hatte, wie er sie ausgesprochen hatte.

„Es gibt bei uns viele Lieder über das kleine Volk“, Isoran lächelte bei ihren Worten. „Doch keines ist so bekannt wie der ‚Segen der Welt’, wie wir es nennen.“ Leise begann sie zu singen, dieselben Worte, die Aragorn schon einmal gehört hatte.

 

Gesegnet die Welten, auf denen das kleine Volk lebt

unbeachtet, meist vergessen

scheinbar unwichtig für den Lauf der Zeit

und das Werden der Welt

Doch wehe, die Zeit der Bewährung naht

und das kleine Volk ist verschwunden,

verweht und fortgegangen in Raum und Zeit

und nicht mehr hier, die Welt zu schützen

Denn nur sie kennen den Weg

Nur das kleine Volk besitzt die Kraft

das Dunkle zu vernichten

Gesegnet die Welt, die das kleine Volk hält.

 

Die Hobbits sahen sie erstaunt, verlegen und erfreut an. „Das wird über uns gesungen?“

„Ja“, Isoran lächelte immer noch, „und der König der Menschen weiß dies nur zu gut. Denn schließlich habt ihr diese Welt schon einmal vor der Dunkelheit gerettet. Und was immer jetzt droht, er weiß genau, dass ihm nichts Besseres geschehen kann, als von Hobbits begleitet zu werden.“

Sam widersprach: „Aber diesmal geht es doch gar nicht um uns. Ich weiß noch, wie Boromir damals von den seltsamen Worten berichtete, die er im Traum hörte. Da war von uns, von den Hobbits die Rede. Doch diesmal seid Ihr es doch, die wir brauchen. In den Worten, die Lady Arwen gehört hat, wird doch von Euch und nicht von uns gesprochen.“

Isoran nickte: „Stimmt, aber ich kann mir nichts Besseres vorstellen, als auf dieser Fahrt von Hobbits umgeben zu sein. Denn gerade weil anscheinend das Licht gebraucht wird, um diese Gefahr zu bestehen, vermute ich, dass es ein weiterer Aspekt der Dunkelheit ist, von der Mittelerde heimgesucht wird.“

Inzwischen standen fast alle der Reisenden zusammen. Die Garde-Soldaten tauschten stumme Blicke, die anderen sahen von einem zum anderen. Die meisten wunderten sich über den tiefen Ernst, der von Isoran ausging und ihrem Lächeln so völlig widersprach.

Celeborn wandte sich an sie: „Kann das möglich sein? Wenn der Eine Ring in Wirklichkeit ein Werkzeug der Dunkelheit war, dann sollten wir doch jetzt sicher sein vor weiteren Angriffen dieser Macht. Ihr sagtet doch, wenn eine Welt sich entschieden hat, dann sei sie tabu und würde niemals wieder angegriffen werden.“

Isorans Lächeln verschwand. „Ja, das sagte ich. Und es stimmt. Nur …“, sie seufzte tief auf und sah die Hobbits wie um Verzeihung bittend an. „Nur ist keine endgültige Entscheidung getroffen worden. Nicht, wenn der Bericht der Hobbits stimmt und daran zweifle ich nicht.“

„Aber …“ Sam war außer sich. „Frodo hat den Ring vernichtet. Ich habe es gesehen.“

Wieder traf ihn der bittende Blick aus den Augen des Sonnenkindes. „Nein, Sam …“, sie hob die Hand, bevor der Hobbit widersprechen konnte. „Du hast gesehen wie der Ring vernichtet wurde. Aber nicht, dass Frodo ihn vernichtet hat.“

Sam blinzelte, natürlich hatte er das gesehen, was sonst? Legolas bekam plötzlich große Augen, und auch Celeborn starrte Isoran an wie einen Geist.

„Ihr meint …“, Aragorn sah von Celeborn zu Isoran und sog scharf die Luft ein. Arwen sah ihn an und senkte die Augen. „Kann das eine derart große Rolle spielen? Frodo – er hat mehr erlitten als je jemand erleiden sollte. Sollte das nicht genug sein?“ Aragorns Stimme klang rau und heiser.

„Es tut mir leid.“ Isoran sah nur die Hobbits an, nur für sie sprach sie jetzt. „Aragorn hat völlig Recht. Euer Freund Frodo hat mehr erlitten, als je ein Geschöpf durchmachen sollte, und er hat alles gegeben, um diese Welt zu retten. Glaubt nicht, dass ich das nicht würdige, im Gegenteil. Ich habe es Aragorn gesagt, und ich wiederhole es jetzt und wann immer es nötig sein sollte: Niemand – kein Mensch, kein Elb und kein Zwerg –, niemand hätte vollbringen können, was Frodo getan hat. Niemand hätte diese Stärke besessen. Denn nur Hobbits besitzen diese eine Macht in ihren Herzen. Die Macht der Machtlosigkeit – die Macht, keine Macht zu wollen. Jeder andere wäre dem Ring rasch verfallen – jeder!“

Sie zögerte, atmete mehrmals ein und wusste, dass sie es aussprechen musste. „Doch ganz zum Schluss ist auch Frodo vom Ring überwältigt worden. Sam hat es berichtet. Frodo hat den Ring an sich genommen und sich zu seinem Eigentümer, zu seinem Herrscher erklärt. Schließlich und endlich hat der Ring Frodos Willen doch unterworfen. Und nur weil Gollum eingegriffen hat, wurde der Ring vernichtet. Gollum hat dies ganz gewiss nicht bezweckt, doch auch Frodo wollte zu diesem Zeitpunkt den Ring nicht mehr zerstören. Er wollte ihn für sich zurückgewinnen.“

Vor den entsetzten Blicken der drei Hobbits senkte Isoran den Blick, doch sie sprach die letzten Worte auch noch aus: „Und nur durch diesen Kampf zwischen den beiden wurde der Ring zerstört. Er wurde nicht ins Feuer geworfen, er ist hineingefallen, zusammen mit Gollum. – Frodo hat den Ring nicht zerstört, auch wenn das verdammte Ding vernichtet wurde.“

„Und das heißt …?“ Gimli knurrte fast vor unterdrückter Wut.

„Und das heißt, dass Mittelerde noch keine endgültige Entscheidung für eine der zwei Mächte getroffen hat. Und ich befürchte, dass die Dunkelheit einen weiteren Vorstoß ausgeführt hat, um Mittelerde für sich zu gewinnen. Bevor etwas geschieht, das diese Fast-Entscheidung endgültig macht, und diese Welt für die Dunkelheit tabu wird.“

Aragorn sah in die Runde. „Das heißt, dass wir vollenden werden, was Frodo begonnen hat. Er hat Mittelerde vor der Tyrannei gerettet. Wir werden sein Werk vollenden und unsere Welt auch vor dem Zwang schützen. Mittelerde wird frei bleiben.“

Die dunkle Gefahr

Sie ritten nach Norden, den ehemaligen Grünweg entlang. Vorbei an den Mückenwassermooren, die sie gerne nur aus der Ferne betrachteten. Erst danach schwenkten sie nach Nordost, um in das breite Tal zwischen den Wetterbergen und den nördlichen Höhen zu gelangen. Von hier aus würden sie am schnellsten in das Hügelland des ehemaligen Hexenreiches von Angmar gelangen. Es war der kürzeste Weg in die Gebiete nördlich der Ettenöden.

Sie ritten schnell, ohne die Pferde zu sehr zu übermüden, dennoch achtete Aragorn darauf, dass sie keine zu lange Rast machten. Er hatte das Gefühl, dass sie sich beeilen sollten, und außerdem hatte er endlich ein Ziel vor Augen, auch wenn er immer noch nicht wusste, wonach sie eigentlich suchten.

Die Hobbits blieben für sich, und auch wenn man sie immer wieder miteinander sprechen hörte, waren sie doch viel stiller als gewöhnlich und vor allem viel weniger fröhlich. Aragorn sah oftmals besorgt zu ihnen, doch er wusste nicht, wie er ihnen helfen sollte. Arwen war die einzige, die es mit ihrer Güte und Freundlichkeit schaffte, die kleinen Freunde zum Lachen zu bringen.

Sie fühlten sich betrogen. Es war, als hätten Isorans Worte all das, was sie und vor allem Frodo getan hatten, wertlos gemacht. Oh, die Hobbits wussten, das Isoran dies nicht gewollt hatte, und das Sonnenkind versuchte auch immer wieder, dies zu zeigen. Dennoch, es bedrückte sie. Doch es war wieder einmal Sam, der schließlich die richtigen Worte fand, um ihnen – und auch sich selbst – zu zeigen, dass es keinen Grund gab, bedrückt zu sein.

„Erinnert ihr euch noch“, hub er an, „was Bilbo immer gesagt hat? Eine gute Geschichte ist nie zu Ende. Nur die Personen ändern sich. Die einen gehen und andere kommen.“

Er sah sich um. Alle, nicht nur die Hobbits schauten ihn fragend an. „Ich meine, dass es jetzt genauso ist. Zuerst war es Bilbos Geschichte, nein, eigentlich fing ja alles schon viel früher an. Es gab viele Geschichten, aber fangen wir bei Bilbo an. Erst war es seine Geschichte – Hin und wieder zurück, die Geschichte eines Hobbits.“

Sam setzt sich bequemer hin und zündete sich – jetzt endlich wieder zufrieden mit sich und der Welt – seine Pfeife an. „Damals in Bruchtal hat er zu mir gesagt: ‚Sam, mein Teil in dieser Geschichte ist zu Ende, wie es scheint. Nun kommen andere daran. Und, mein Junge, versuch deinen Teil gut zu machen. Ebenso wie Frodo es gut machen wird.’ Ja, das hat er gesagt. Und so war es auch.“

Immer noch sagte keiner ein Wort. Sam schüttelte den Kopf über so viel Verständnislosigkeit und sprach weiter: „Nun, die Geschichte ging weiter, aber ohne Bilbo. Sein Teil war zu Ende, und er hat ihn gut gemacht. Ebenso, wie wir unseren Teil gut gemacht haben. Wir alle, die Gefährten und ganz besonders Frodo. Und dann war auch unser Teil der Geschichte zu Ende. Oder besser, Frodos Teil war zu Ende.“ Noch immer tat es weh, wenn er an den Abschied dachte, damals an den Grauen Anfurten.

Doch tapfer schüttelte er die Erinnerung ab und fuhr fort: „Und jetzt hat ein neuer Teil begonnen. Die Geschichte geht weiter, nur die Personen ändern sich. Manche gehen, andere kommen. Aber deshalb sind die anderen Teile nicht weniger wert. Bilbo hat es gut gemacht und Frodo auch. Und wir natürlich auch, sonst würden nicht immer wieder Geschichten darüber erzählt und Lieder gesungen werden. Aber diese Teile sind vorbei und wir müssen jetzt zusehen, dass wir die Geschichte weiterhin gut machen. Dass wir den jetzigen Teil ebenso gut zu Ende bringen.“

Sam sah alle an, besonders Isoran, und freute sich darüber, dass sie erleichtert lächelte. Aragorn sah den kleinen Hobbit voller Respekt an. „Ich wusste schon immer, dass Hobbits etwas Besonderes sind. Und du, mein lieber Sam, bist unter den Hobbits ein ganz Besonderer. Du schaffst es, mit einfachen Worten komplizierte Zusammenhänge zu erklären. Ich danke dir.“

Merry und Pippin sahen sich an. „Dann – dann ist dies hier jetzt unser Teil der Geschichte, unsere Geschichte, meinst du das?“

Sam nickte: „Ja, vielleicht. Vielleicht ist es nun auch Isorans Geschichte. Sie wurde ja schließlich zu uns geschickt. Jedenfalls sehe ich das so.“ Isoran zuckte die Schultern, sie wusste es nicht, hatte ja immer noch keine Ahnung wie sie hierher gekommen war.

Merry kaute nachdenklich auf seinen Lippen herum. „Dann sind wir, wir Hobbits, wieder oder noch immer Teil der Geschichte, so wie damals mit Frodo zusammen.“

Pippin lachte plötzlich fröhlich auf. „Oh ja, und wenn alles vorbei ist, werden wieder neue Lieder gesungen werden, auch von uns Hobbits. Ihr werdet es sehen, Freunde.“

Endlich leuchteten ihre Augen wieder, und Isoran fühlte sich unendlich erleichtert. Nur sehr ungern hatte sie den Stolz – den berechtigten Stolz – der Hobbits verletzt. Unwillkürlich begannen auch die anderen zu lächeln, das Strahlen auf den Gesichtern der Hobbits war einfach ansteckend.

Tag um Tag ritten sie durch das Hügelland. Hier gab es keine Dörfer, doch sie fanden auch nur wenige Spuren von Tieren und wenn, dann waren diese schon alt. Das Land war totenstill, keine Grille zirpte, kein Vogel sang. Aragorns Blick verdüsterte sich, das bedeutete, das die Tiere aus diesem Landstrich geflohen waren – oder durch irgendetwas vernichtet worden waren.

Am Morgen des siebenten Tages, sie waren gerade erst aufgebrochen, hörten sie vor sich ein immer wiederkehrendes Rumpeln. Noch war es leise, wie von weit her, doch mit jedem Schritt, den sie gingen, wurde es lauter. Die Männer sprangen von den Pferden und zogen ihre Schwerter, Legolas hob seinen Bogen und legte einen Pfeil ein.

Aragorn bedeutete Isoran, zu Arwen und den Hobbits hinter die Männer zu gehen: „Ihr seid waffenlos, bleibt hinter uns.“

Isoran schüttelte den Kopf und hob einfach ihre Hände empor, die Finger weit gespreizt. „Nichts gegen Eure Schwerter, aber meine Waffen sind mit Sicherheit wirkungsvoller. Und ich habe Euch gezeigt, dass ich gut geschützt bin.“

Sie stellte sich neben die Männer. Von allen unbeachtet machte sie eine kreisförmige Bewegung, unsichtbar lag nun eine schützende Mauer aus Licht um die Gruppe herum. Das Rumpeln wurde lauter, irgendwo zersplitterte Holz. Kurz darauf tauchte der massige Körper eines Trolls hinter den Hügeln auf. Die Arme schützend um den Kopf gelegt, um das Sonnenlicht abzuwehren, torkelte die riesige Gestalt auf sie zu. Das Rumpeln entpuppte sich als das Stampfen der säulenartigen Füße, die jedoch immer wieder stolperten und Grasbüschel und Erde emporrissen.

Aragorn zögerte, nichts deutete darauf hin, dass diese Kreatur sie überhaupt bemerkt hatte, blindlings rannte und stolperte der Troll auf sie zu. „Halt! Bleib stehen! Wir wollen nicht gegen dich kämpfen!“

Der Troll lief noch einige Schritte, ehe er überhaupt begriff, dass er angesprochen worden war. Taumelnd kam er zum Stehen, starrte die Reisenden aus kleinen, verstört wirkenden Augen an. „Uhhhh! Aus dem Weg. Fort! Schnell! Dunkel kommt, bringt den Tod. Fort!“ Er wirbelte mit den überlangen Armen um sich herum und traf dabei auf den unsichtbaren Schutzwall. Aufkreischend wich er zurück. „Was ist das?“

Aragorn warf Isoran einen kurzen Blick zu, die grinste zurück. „Nur ein Schutz für uns, damit du uns nicht angreifst.“

„Nicht Kampf, nicht jetzt. Fort, lauft fort. Lasst mich vorbei.“ Ängstlich blickte das Geschöpf immer wieder hinter sich.

„Vor was fliehst du? Was verfolgt dich?“ Aragorn schauderte innerlich, Trolle kannten eigentlich keine Angst. Was immer sich ihnen in den Weg stellte wurde kurz und klein geschlagen. Es kam selten vor, dass Trolle vor etwas davonliefen.

„Dunkelheit kommt.“

Es war heller Morgen.

„Aber du magst doch die Dunkelheit. Normalerweise verbergt ihr euch doch vor der Sonne und lebt lieber in der Nacht.“

„Dunkelheit, nicht Nacht.“ Der Troll starrte Aragorn an. „Das dort ist nicht wie die Nacht. Diese Dunkelheit ist der Tod. Alles was hineingerät, stirbt. Schreit und stirbt! Lasst mich vorbei.“

Aragorn trat beiseite und bedeutete auch den anderen, Platz zu machen. „Geh, Troll, doch halte dich von den Dörfern der Menschen fern.“

„Uhh, wohin dann? Jetzt überall Menschendörfer.“

Aragorn nickte, der Troll hatte natürlich Recht. Wohin er auch ging, er würde über kurz oder lang auf Menschen treffen. „Geh nicht mehr weit, nicht über die Mückenwassermoore hinaus. Wir werden die Dunkelheit vertreiben, dann kannst du in deine Heimat zurückkehren.“

Der Troll senkte den Kopf, ein stinkender Luftschwall schlechten Atems traf Aragorn, der angewidert das Gesicht verzog. Isorans Schutzwall schien den Troll aufzuhalten, jedoch nicht die von ihm ausgeatmete Luft.

„Ihr tötet Dunkelheit? Macht Trollland wieder frei?“

Aragorn nickte. Die Pranken des Trolls fuhren auf ihn zu und stießen wieder an die Mauer aus unsichtbarem Licht. „Uhhh!“ Der Troll starrte auf seine pfannengroßen Hände und in die Luft vor sich.

„Mach weg die Mauer. Bin vorsichtig!“ Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das anscheinend freundlich gemeint sein sollte. Auf die Reisenden wirkte es jedoch wie eine entsetzlich hässliche Fratze, die Hobbits schüttelten sich.

Aragorn nickte Isoran bestätigend zu, die fragend zu ihm sah. Sie zog die Augenbrauen hoch, zuckte mit den Schultern und entfernte die Lichtmauer. „Hoffentlich versteht er unter vorsichtig dasselbe wie wir“, murmelte sie.

Ein dröhnendes Lachen rollte über sie hinweg, sie riss die Hände vor die Ohren. „Menschenknochen brechen schnell, Boran weiß das. Kann aber ganz vorsichtig sein.“ Wieder griffen seine Pranken zu, umfassten Aragorns Leib und rissen ihn in die Luft. Legolas riss den Bogen hoch. „Lass ihn sofort los!“

Aragorn stemmte seine Hände auf die Trollfinger, die fast so dick wie sein eigener Arm waren, und richtete sich auf. Der Griff des Trolls war fest, ohne ihn jedoch zu drücken. „Ich bin in Ordnung. Das soll wohl kein Angriff sein.“

„Kein Angriff“, bestätigte der Troll. Aragorn hob die Hände vor das Gesicht, um sich vor dem stinkenden Atem des Ungeheuers zu schützen.

„Wer du?“

„Ich bin Aragorn, Arathorns Sohn, König von Gondor.“ Aragorn hatte irgendwie das Gefühl, das jetzt Förmlichkeit gefragt war.

„König.“ Der Troll schien zu überlegen. „König von Menschen macht Trollland wieder frei? Hilft Trollen?“

„Ja. Diese Dunkelheit bedroht auch uns. Sie wird auch uns vernichten oder vertreiben.“

„Menschen werden nicht in Trollland bleiben? Uns fortjagen?“

Aragorn stemmte sich noch etwas höher und sah in das hässliche Gesicht des Trolls. Zum ersten Mal sah er in einem dieser Geschöpfe nicht nur ein Ungeheuer, sondern ein Lebewesen. Vielleicht nicht besonders intelligent, aber es war kein Tier. Und es hatte, das wurde ihm in diesem Moment klar, ebenso das Recht zu leben, wie Menschen.

„Das Land nördlich der Ettenöden wird von den Menschen nicht beansprucht werden. Es ist das Land der Trolle und sie sollen auf immerdar in Frieden dort leben können. Das verspricht dir der König der Menschen.“

Wieder verzog sich das Gesicht des Trolls zu einer fürchterlichen Fratze, doch dieses Mal konnte jeder erkennen, dass es ein strahlendes Lächeln sein sollte. Behutsam setzte die riesige Gestalt den Menschen wieder ab.

„Boran glaubt dir, König der Menschen. Boran spricht mit anderen Trollen. Wenn die Dunkelheit weg ist, wir gehen zurück. Trolle bleiben in Trollland. Menschen in Menschenland.“

Noch einen Moment blickten die Trollaugen in die Menschenaugen, dann wandte Boran sich um, und stapfte weiter nach Süden. Noch einmal wandte er sich um. „Geht nicht dicht an die Dunkelheit. Boran hat gesehen, wie Trolle hineingezogen wurden. Sie kamen zu nahe, blieben stehen, wollten umkehren, doch dann gingen sie weiter, einfach weiter und verschwanden. Dunkelheit hat sie verschlungen.“

Die Reisenden blickten ihm stumm und staunend hinterher.

„Ich glaube nicht, dass ich jemals versucht habe, mit einem Troll vernünftig zu reden.“ Legolas hielt den Bogen noch immer in der Hand, erst jetzt nahm er den Pfeil von der Sehne. „Ich auch nicht“, murmelte Aragorn. „Was vielleicht ein Fehler war.“

Faramir räusperte sich. „Ich denke, auch unter ihnen gibt es Unterschiede. Ich bin in meinem Leben schon so manchem Troll begegnet. Und ich glaube nicht, dass ich mit einem von ihnen hätte verhandeln können. Allerdings bin ich auch nie auf den Gedanken gekommen, es auch nur zu versuchen.“

Die anderen nickten, sie waren alle verblüfft, nur Isoran lächelte leicht. Sie hatte schon so viele verschiedene Wesen gesehen, dass sie sich durchaus vorstellen konnte, mit einem Troll zu sprechen.

Vorsichtig ritten sie weiter, suchten immer wieder den Horizont ab. Doch die Hügel versperrten ihnen die Sicht, sehr weit konnten sie nie sehen. Was war das für eine tödliche Dunkelheit, die anscheinend alles vernichtete, das in sie geriet?

Hügel um Hügel umrundeten sie, drangen langsam immer weiter nach Norden vor, doch sie fanden nichts außer leerem Land. Als es dämmerte lagerten sie an einem der vielen kleinen Bäche. Aragorn sah sorgenvoll in die stärker werdende Dunkelheit. Wie sollten sie in der Nacht erkennen, ob sie von der normalen, nächtlichen Dunkelheit umgeben waren, oder ob sich ihnen eine tödliche Finsternis näherte?

Sie schürten das Feuer weitaus höher und heller als sonst. Jeder von ihnen fühlte sich unsicher und immer wieder gingen ihre Blicke über das Feuer hinweg in die Nacht hinaus. „Aragorn?“ sprach Isoran den hochgewachsenen Mann an. „Ich kann einen Ring aus Licht um das Lager legen. Es wird wie ein Wall wirken. Entweder wird diese eigenartige Dunkelheit davon aufgehalten, oder wenn nicht, dann werden wir es auf jeden Fall erkennen.“

„Die ganze Nacht? Schafft Ihr das?“

Isoran zuckte die Schultern. „Ich habe schon so manche Nacht durchgewacht. Aber es macht auch nichts, wenn ich einschlafe, der Ring wird bestehen bleiben.“

„Wir halten abwechselnd Wache, sobald das Licht irgendwo schwächer wird oder erlischt, wird Alarm geschlagen“, bestimmte Aragorn. Sie losten die Reihenfolge der Wache aus, immer zwei würden auf das von Isoran geschaffene Lichtband achten.

Das Sonnenkind setzte sich mit überkreuzten Beinen auf den Boden und senkte den Kopf. Ihre Hände lagen mit weit gespreizten Fingen auf ihren Knien. Ihr Atem ging völlig gleichmäßig. Langsam hob sie den Kopf, ihre Augen waren geschlossen. Doch unweit ihres Lagers, maximal vier Meter außerhalb, begannen kleine Lichter auf dem Boden zu flackern. Sie wurden höher und heller bis eine leuchtende Mauer, so hoch wie ein Hobbit groß war, um das Lager lief. Sie schimmerte in gelbem, gleichmäßigem Licht, erstaunlicherweise wurde das Lager jedoch kaum heller.

„Was ist das für ein Licht, das leuchtet, aber nichts erhellt?“ fragte Gimli erschrocken. Isoran schlug die Augen auf und lachte leise. „Dann wäre es hier drinnen taghell, wie wollt Ihr dann schlafen, Gimli?“

Sie stand auf und reckte sich. Die Mauer zu errichten war nicht weiter schwer gewesen, nur durfte sie nicht zerfallen, wenn sie einschlief. Doch Isoran hatte genug Übung, um sicher zu sein, dass das Lichtband so lange stabil bleiben würde, wie sie es wollte.

Die meisten starrten gebannt auf das Licht. Bis auf die kleinen Demonstrationen, die Isoran ihnen gezeigt hatte, und einige Spielereien, die die Hobbits während der Reise von ihr erbeten hatten, hatten sie noch nichts von ihren Fähigkeiten gesehen. Schon der Schutzwall, unsichtbar und so kräftig, dass es einen Troll aufhielt, hatte die Mitglieder der Gruppe beeindruckt. Doch dies hier erschien ihnen fast wie ein Wunder.

„Ein wahrer Augenöffner!“ stammelte Sam.

Einzig Celeborn schien ungerührt, doch auch er beobachtete das Lichtband genau. Er kannte die Berichte aus alter Zeit gut genug. Ihm war klar gewesen, dass die kleinen Spiele, die das Sonnenkind den Hobbits zuliebe gezeigt hatte, nur ein Bruchteil dessen war, wozu sie fähig war. Als sich ihre Blicke trafen, nickte er Isoran zu – und registrierte ihre Erleichterung.

Nachdenklich setzte er sich auf seine Decke. Immer wieder erkannte Celeborn ihre Unsicherheit ihm gegenüber. Das, was dieses Sonnenkind als ihre Schuld bezeichnete, war derart lange her, selbst für Elben war dies fernste Vergangenheit. Dennoch verhielt sie sich ihm gegenüber immer wieder schuldbewusst, als würde sie persönlich irgendeine Schuld tragen. Doch selbst bei der unglaublichen Langlebigkeit dieser Wesen war das nicht möglich. Isoran konnte nicht eines derjenigen Sonnenkinder sein, die damals nach Mittelerde gekommen waren. Was also bedrückte sie?

Die Nacht verging ruhig, doch alle waren erleichtert, als der Himmel langsam heller wurde und das Sonnenlicht die Dunkelheit vertrieb. Mit einer einzigen Handbewegung des Sonnenkindes verschwand die Lichtmauer wieder. So rasch wie möglich brachen sie auf. Doch auch an diesem Tag fanden sie nichts, das irgendwie beunruhigend war. Abgesehen davon, dass das Land weiterhin völlig leer und still blieb. Weitere zwei Tage vergingen, sie drangen stetig weiter nach Nordwesten vor. Das Land wurde karg, immer weniger Bäume wuchsen hier. Die Büsche wurden kleiner, der Boden felsiger.

Sie ritten einen flachen Hang hinauf. Plötzlich beugte sich Legolas weit nach vorne und trieb sein Pferd an. An der höchsten Stelle brachte er das Tier zum Stehen und legte die Hand über die Augen. Celeborn tat es ihm nach. Auch Aragorn starrte nach vorne, doch er wusste, dass die Elben weiter sehen konnten als er. Er wartete.

Schließlich wandte sich Celeborn zu ihm um. „Dort vorne ist ein seltsamer Dunst. Unsere Augen können ihn nicht durchdringen. Es ist nicht dunkel und doch können wir nicht erkennen was unter diesem Dunst liegt.“

Legolas blickte noch immer starr nach vorne. „Es wabert“, murmelte er. „Dieser Dunst bewegt sich, doch nicht im Wind. Blasen bilden sich aus, wie … wie Füße.“ Verstört sah er Aragorn und Celeborn an. „Dieser Dunst läuft. Diese Blasen dringen immer weiter nach vorne, wie Füße, die Schritt für Schritt vorangehen. Und das Land, Büsche, Gras – alles … es verschwindet schlagartig. Als wenn es – verschlungen wird.“

Aragorn sah mit zusammengekniffenen Augen nach vorne – und sah nichts außer Gras, Felsen und Büschen. „Wie weit ist dieses Ding weg?“

„Noch weit, doch es kommt uns entgegen. Vermutlich werden wir es bis zum Nachmittag erreicht haben.“

„Wir reiten schneller.“ Aragorn trieb sie an. „Je früher wir dort sind, desto mehr Zeit haben wir, um vor der Nacht herauszufinden, was dieser Dunst ist.“

Die Pferdehufe donnerten über das Grasland, schließlich konnten auch die Menschen, Gimli und die Hobbits erkennen, was vor ihnen war. Eine weißgraue, wabernde Nebelwand schob sich langsam auf sie zu. Doch es war erstaunlich: Je näher sie kamen, desto dunkler wurde diese Wand. Und als sie nur noch weniger als zwei Meilen vor ihnen lag, war aus dem Dunst eine finstere, drohende Dunkelheit geworden, drei oder viermal so hoch wie ein Mensch.

Darüber schien die Sonne, doch ihre Strahlen konnten nicht in diese Dunkelheit eindringen. Es gab keinen fließenden Übergang zwischen Hell und Dunkel. Wie eine scharfe Trennlinie hörte der Sonnenschein auf und tiefste Nacht, nein, etwas viel Dunkleres als Nacht begann.

Eine Weile starrten sie nur nach vorne, dann schüttelte Aragorn die Beklemmung, die sie erfasst hatte, ab. „Wir reiten näher heran, die Pferde sind schneller als die Vorwärtsbewegung dieser Finsternis. Wir können jederzeit fliehen. Wer kommt mit mir?“

Keiner wollte zurückbleiben, doch dies ließ Aragorn nicht zu. Nur wenige sollten mit ihm kommen. Celeborn und Legolas, Gimli, und auf seine stumme Bitte nickte auch Isoran. Natürlich würde sie mitkommen. Sie wollte – musste herausfinden, was das dort vorne war. Die Hobbits murrten. Sie wollten nicht zurückgelassen werden, doch Aragorn wehrte ab: „Eure Ponys sind langsamer als Pferde, vielleicht müssen wir schnell fliehen. Es ist für euch zu gefährlich.“

„Lasst sie mitkommen“, widersprach Isoran. „Ich weiß ebenfalls, dass die Ponys langsamer sind, doch sie sind schnell genug, um zu fliehen. Und vielleicht werden wir die Hilfe der Hobbits dringend brauchen.“

Fragend wurde sie angesehen. „Ich denke daran, was Boran sagte. Die Trolle, die zu nahe an die Finsternis herangingen, konnten nicht mehr fliehen. Sie versuchten es, doch sie gingen schließlich hinein. Oder wurden hineingezogen.“

Sie blickte erst Aragorn, dann die Elben an. „Wenn dies eine Waffe der Dunkelheit ist, was ich glaube, dann sind die Hobbits die einzigen, die ihr widerstehen können. Wenn wir von ihr überwältigt werden, brauchen wir die Hobbits. Sie müssen uns dann zurückbringen.“

Die Elben starrten sie ebenso fassungslos an wie Aragorn und Gimli – und die Hobbits. Das Sonnenkind lächelte grimmig. „Die Waffen der Dunkelheit sollte man nicht unterschätzen, und ich habe nicht vor, dort drinnen zu sterben.“

„Euer Volk kämpft schon lange gegen diese Dunkelheit. Ihr müsst Euch doch gegen irgendeine Art von Beeinflussung wehren können.“

Isoran schüttelte den Kopf. „Wir kämpfen dagegen, doch wir hüten uns davor, diesen Dingen zu nahe zu kommen.“ Sie sah Aragorn eindringlich an. „Ich hätte den Ring der Macht niemals berührt. Ich wäre ihm verfallen.“

Sie sah, wie der Mann schluckte. Noch immer – selbst nach diesen langen Jahren machte er sich im Stillen Vorwürfe, dass er zugelassen hatte, dass Frodo den Ring nahm und nach Mordor brachte. Er, Aragorn, war der Erbe Isildurs gewesen – immer war er der Meinung gewesen, dass es eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre, den Ring zu vernichten. Doch Furcht hatte ihn davon abgehalten – die Furcht zu Versagen, ebenso schwach zu sein wie sein Vorfahr. Und deshalb hätte er damals willig sein Leben gegeben, um Frodo zu schützen.

Sein Blick bohrte sich in Isorans Augen. „Die Macht des Ringes wäre für jeden verhängnisvoll gewesen“, sagte sie leise. „Wenn Ihr es versucht hättet, wäret Ihr gescheitert. Genau das wollte der Ring vermutlich. Dass Ihr, als Isildurs Erbe, versucht, den Ring zu vernichten. Dann hätte er sein Ziel erreicht. Manchmal bedeutet es Stärke, wenn man einen Schritt zurücktritt.“

Sie schwieg, wollte nicht noch mehr sagen, doch sie hatte genug Lebenserfahrung, um schon längst erkannt zu haben, welche Vorwürfe sich dieser Mann machte. Aragorn nickte wieder, riss sich von der Vergangenheit los und kehrte in die Gegenwart zurück.

„Ihr habt mich überzeugt.“ Beide wussten, dass er nicht nur ihre jetzige Vorgehensweise meinte. Er wandte sich den anderen zu. „Knotet Riemen an die Zügel, lange Riemen.“

Er gab die Enden der langen Lederschnüre den Hobbits in die Hände. „Es kann sein, dass unser Leben in euren Händen liegt. Wenn wir fliehen müssen, zieht wenn nötig die Pferde hinter euch her.“

Die Hobbits nickten erschrocken. Ausgerechnet sie, drei kleine Halblinge, sollten eine solche Verantwortung tragen! Noch erstaunter und schockierter sahen sie, wie Isoran ihre Hände an den Sattel festband.

„Ich werde mich doch nicht auch noch selbst fesseln“, Gimli sah sie aufgebracht an. „Ihr solltet es, Gimli, wenn Ihr sicher gehen wollt, dass Ihr Euch nicht einfach vom Pferd fallen lasst, um dort hinein zu geraten.“

Langsam und zögernd nahm Legolas die Lederriemen in die Hand. „Ihr seid sicher, dass das notwendig ist? Wir haben alle einen starken Willen.“

„Nein, sicher bin ich mir nicht. Ich weiß nicht, was das dort vorne ist. Aber ich kenne die Macht, die der Ring hatte, und ich weiß genau, dass weder ich, noch sonst jemand seinem Willen hätte widerstehen können. Und weshalb soll diese Dunkelheit weniger Macht haben?“

Legolas blickte sich um und sah, dass Aragorn wortlos von einem der Soldaten Riemen entgegen nahm und um seine Handgelenke wickelte, anschließend um das Sattelhorn. Auch Celeborn band sich an sein Pferd. Schließlich überwand der junge Elb seinen Widerwillen und auch Gimli, der wie immer hinter ihm saß, streckte die Hände nach vorne. Legolas schlang das Leder erst um die Gelenke des Zwerges, dann um seine und befestigte die Riemen schließlich am Sattel.

Inzwischen war die dunkle Wand immer näher gekommen. Die anderen, Arwen, Faramir und die Soldaten, wandten ihre Pferde um und ritten rasch zurück. Arwen kannte und vertraute der Stärke Aragorns, dennoch war ihr Herz inzwischen voller Angst und Sorge, die sie kaum verbergen konnte.

Aragorn starrte auf die näher kommende Dunkelheit, noch immer konnte man nicht erkennen, was darunter verborgen war. Eine Drohung ging davon aus, die sie alle spürten. Isoran krümmte sich plötzlich zusammen, ihr Gesicht verzerrte sich qualvoll. Ihre Lippen bewegten sich, doch sie brachte keinen Ton heraus.

„Weg hier!“ Aragorn riss das Pferd herum. „Zurück! Rasch!“ Die Hobbits trieben schreckensbleich ihre Ponys an und rissen an den Riemen, um die Pferde hinter sich her zu ziehen. Doch einzig Isoran schien nicht mehr in Lage zu sein, ihr Pferd zu lenken. Sie lag zusammengekrümmt über dem Pferderücken, ihr Körper zuckte immer wieder zusammen. Fast eine Meile legten sie zurück, ehe sie anhielten.

Aragorn löste hastig seine Fesseln und sprang vom Pferd. Mit Legolas Hilfe hob er die junge Frau herunter. Noch immer keuchte sie, doch jetzt schien sie sich wieder zu erholen. Nach nur wenigen Augenblicken wurde ihr Atem wieder gleichmäßiger, ihr Körper entspannte sich. Gimli schob ihr die Wasserflasche an die Lippen und sie trank gierig. Dankbar sah sie ihn an: „Danke, Gimli.“

Mühsam setzte Isoran sich auf. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich zurück und holte mehrmals tief Luft. Dann schüttelte sie sich und öffnete die Augen. Ihr Blick war klar, stellte  Aragorn aufatmend fest. „Was ist mit Euch geschehen? Wir haben selbst nichts bemerkt.“

Wieder schüttelte sie den Kopf. „Nicht das, was ich befürchtet habe. Es hat versucht, unseren Willen zu beeinflussen, ich habe es gespürt. Aber dies ist nur schwer schwach. Sieht so aus, als wäre es recht leicht, Trolle geistig zu beherrschen.“

Sie griff nach der Wasserflasche, ihre Finger zitterten noch immer leicht, was sie wütend auf sich selbst zur Kenntnis nahm. Sie ballte die Fäuste, um es zu unterdrücken. „Es hat mir Schmerzen zugefügt.“

Aragorn sah die anderen an, alle schüttelten den Kopf. Nein, es schien nur das Sonnenkind getroffen zu haben. Celeborn brach das kurze Schweigen. „Ich habe etwas darin erkennen können. Schwache Umrisse, ich kann jedoch nicht sagen, was es war. Die Zeit war zu kurz. Wir sollten noch einmal zurückgehen. Ohne Euch, Isoran, Ihr müsst Euch erholen.“

Wütend blickte das Sonnenkind auf die dunkle Wand. Oh nein, so leicht würde sie sich nicht geschlagen geben. Ein Sonnenkind hatte genug Möglichkeiten, sich zu schützen – auch wenn sie genau wusste, dass die Waffen der Dunkelheit ihren Fähigkeiten ebenbürtig war. Sie schüttelte den Kopf und versuchte aufzustehen. Erleichtert stellte sie fest, dass ihre Beine sie wieder trugen.

„Nein, ich werde nicht zurückbleiben. Ich werde mich mit meinen Mitteln schützen, allerdings ist es sinnvoller, dabei zu Fuß zu sein.“

„Dann seid Ihr zu langsam, um zu fliehen!“

Isoran blickte die Hobbits an. „Schleift mich hinter den Ponys her. Keine Sorge, mir geschieht dabei nichts, egal wie schnell ihr reitet. Das Licht schützt mich, es verhindert Verletzungen und kann sogar auch heilen.“

Wieder wickelte sie die Riemen um ihre Handgelenke und gab sie Sam in die Hand. Aragorn sah sie zweifelnd an, doch Isoran nickte ihm beruhigend zu. Wieder konzentrierte sie sich. Ein helles Licht tanzte über ihrem Kopf, wurde größer und bildete eine Kugel, oder besser ein Oval, das sie völlig umschloss.

„Nun wollen wir doch mal sehen, wer hier stärker ist, du oder ich!“ knurrte sie, als sie sich zum zweiten Mal der dunklen Wand näherten. Diesmal weitaus langsamer und vorsichtiger. Die Elben starrten wie gebannt auf die wabernde, immer näher kommende Finsternis.

Celeborn stieß plötzlich einen Schrei aus: „Rovendirna lavirn hendonla!“ Aragorn starrte ihn an, er sprach und verstand die Sprache der Elben ebenso leicht und fließend wie die gemeinsame Sprache. Doch diese Wörter sagten ihm nichts. Legolas jedoch war zusammengefahren und starrte nun keuchend und entsetzt auf die dunkle Wand.

Isoran war langsam näher getreten, das Licht schützte sie, dennoch spürte sie den stärker werdenden Schmerz. Doch diesmal wurde sie nicht schlagartig davon überfallen, sie konnte das Ziehen und Zerren abwehren, jedenfalls für eine gewisse Zeit. Sie starrte in die Dunkelheit, doch sie erkannte überhaupt nichts. Was konnten die Elben dort erkennen?

Merry und Pippin sahen immer ängstlicher auf die Menschen und Elben. Wollten sie nicht endlich umkehren? Die Wand war höchstens noch zweihundert Meter entfernt. Dann sahen sie, wie sich Isorans Gesicht langsam verzerrte, sie kämpfte immer stärker gegen die Schmerzen an. Die beiden Hobbits ritten näher, um sie fortzuziehen. Als sie sie erreicht hatten, glättete sich ihre Miene plötzlich wieder.

„Nanu“, murmelte das Sonnenkind verwundert. „Was ist das jetzt?“ Sie blickte die Hobbits rechts und links neben sich an. „Merry, Pippin, reitet einige Schritte zurück und dann wieder her, rasch!“

Verwundert gehorchten die beiden. Sofort überfiel der Schmerz sie wieder – und verschwand, als die Hobbits wieder neben ihr waren.

„Interessant“, murmelte Isoran grinsend. Doch jetzt war die Wand dicht vor ihnen. Aragorn griff nach ihrem Arm.

„Hinauf mit Euch, rasch und schnell zurück jetzt!“ Er zog sie hinter sich auf das Pferd, sofort krümmte sie sich wieder zusammen, doch der Schmerz verging schnell, als Aragorn im raschen Galopp wieder eine sichere Entfernung zwischen sich und die Dunkelheit legte.

Fast zehn Meilen legten sie zurück, ehe sie lagerten. Es würde eine ganze Weile dauern, bis die Finsternis sie eingeholt hatte, und sie konnten die Zeit nutzen, sich zu beraten. Celeborn sah Aragorn ernst an, sein schönes Gesicht wirkte bleich.

„Die Schatten in dieser Finsternis sind Geschöpfe, die ich nur durch Legenden kenne. Legenden aus fernster Vergangenheit, als Mittelerde geschaffen wurde. Der dunkle Valar schuf diese Geschöpfe, sie sollten Schrecken und Pein über Mittelerde bringen. Doch die Legenden berichten, dass diese Geschöpfe eingefangen wurden, ehe sie Mittelerde erreichen konnten. Es sind Geschöpfe der Finsternis, die nichts fürchten und durch nichts vernichtet werden können – außer durch das Licht.“

Er sah bei diesen Worten das Sonnenkind an, die ihm ebenso gespannt lauschte wie die anderen.

„Geschöpfe der Finsternis – davon habe ich noch nie gehört. Begegnet sind wir diesen Wesen gewiss noch niemals. Aber wenn sie das Licht fürchten, werde ich sie das Fürchten lehren.“

„Ihr kommt nicht nahe genug heran.“

„Doch, komme ich“, Isoran blickte wieder auf die Hobbits. „Mit der Hilfe der Hobbits. Als Merry und Pippin neben mir waren, spürte ich keinen Schmerz mehr. Wenn die Hobbits von euch geschützt werden, können sie mich schützen. Und dann werden wir sehen, was das Licht gegen die Dunkelheit ausrichten kann.“

Grimmig blickte sie zurück, dorthin, wo die Wand langsam aber sicher über das Land zog, ihnen entgegen. Die drei Hobbits standen auf und traten neben sie. Sie strahlten tiefe Entschlossenheit aus. Aragorn sah sie seufzend an. Mussten wieder ausgerechnet die fröhlichen Hobbits sich den Gefahren stellen, die Mittelerde drohten? War er wieder dazu verdammt, sie nur schützen zu können, so gut wie er es eben konnte, anstatt an ihrer Stelle zu handeln?

Sie machten sich bereit. Aragorn, Gimli, Celeborn und Legolas, dazu die Hälfte der Soldaten standen neben und hinter den Hobbits. Die anderen hielten die Pferde, sie mussten die Hobbits und das Sonnenkind so rasch wie möglich fortzerren, falls es Isoran nicht gelingen sollte, die dunkle Wand aufzuhalten.

Sam, Merry und Pippin standen dicht um Isoran herum, neben und hinter ihr. Schließlich tauchte die dunkle Wand wieder hinter dem nächsten Hügel auf, waberte um und über ihn hinweg und näherte sich der kleinen Gruppe.

Isoran konzentrierte sich, fühlte das Licht in sich und um sich herum, bündelte und verstärkte es – und jagte es auf die Dunkelheit zu. Fast unerträglich helle Strahlen flogen wie lange Lanzen durch die Luft und stießen in die dunkle Wand hinein. Was das Sonnenlicht nicht schaffte, dieses Licht schaffte es: Die Lichtspeere durchdrangen die Dunkelheit, zerrissen sie, und drohten sie aufzulösen.

Ein unmenschliches Kreischen ertönte hinter der dunklen Wand. Dunkle, wabernde und zitternde Auswüchse bildeten sich – schienen aus der Wand herauszuwachsen. Die Elben schrien auf und schlugen mit ihren Schwertern zu. Erst da erkannten auch die Menschen und Gimli, dass es sich nicht um Dunst handelte, sondern um Arme, Tentakel, Klauen und andere Extremitäten irgendwelcher monströsen Gestalten, die weiterhin in dem dunklen Dunst verborgen blieben.

Sie sprangen nach vorne und stachen und hieben auf alles ein, das versuchte, sich den Hobbits und Isoran zu nähern. Und auch Sam, Merry und Pippin zogen ihre kleinen Schwerter und wehrten sich aus Leibeskräften, wichen jedoch dabei nicht eine Handbreit von Isorans Seite. Diese jagte ununterbrochen ihre Licht- und Energiebündel in die Dunkelheit, die sich immer weiter auflöste und zerfranste.

Schließlich wurden die darin existierenden Geschöpfe auch für die Menschen sichtbar. Sie waren unbeschreiblich und manch einer der Menschen wäre froh gewesen, sie weiterhin nicht erkennen zu können. Sie schienen Auswüchse der furchtbarsten Alpträume zu sein. Doch je heller es wurde, desto blasser schienen diese Geschöpfe zu werden. Immer weniger Arme und Tentakel griffen an und wurden gnadenlos zerhackt.

Dann drang plötzlich das Sonnenlicht wieder bis auf den Boden durch, noch einmal erklang das schauerliche Kreischen und die Geschöpfe lösten sich in Nichts auf. Verdutzt sahen sich die Kampfgefährten um, selbst die abgeschlagenen Extremitäten waren verschwunden.

Die Entscheidung

Die finstere Wand hatte sich allerdings nicht völlig aufgelöst, etwa eine halbe Meile vor ihnen begann die Dunkelheit wieder. Doch dies war keine Wand mehr. Fast wie eine große Kugel geformt, mit einem Durchmesser von mehr als zwei Mannslängen, kam sie auf die Gruppe zu. Und die Gefährten sahen, dass dahinter das Land tatsächlich wieder sichtbar war.

Es schien sich um das Zentrum der Dunkelheit zu handeln. Isoran starrte gebannt darauf. Die kämpfenden Geschöpfe in der dunklen Wand waren nicht die eigentlichen Gegner gewesen, erkannte sie. Diese Kugel war der Feind!

Sie keuchte auf, als sie eine Stimme hörte. „Nicht angreifen! Das Ding spricht!“

„Wir hören nichts.“

Sie blickte Aragorn irritiert an, auch Celeborn schüttelte den Kopf. Wieder blickte das Sonnenkind nach vorne. Ein hässliches, gemeines Lachen erklang. „Glaubst du etwa, diese erbärmlichen, jämmerlichen Wesen könnten mich hören? Ich könnte sie mit Leichtigkeit zermalmen.“

„Ach ja?“, murmelte Isoran. „Und warum tust du es dann nicht?“

Sie sah die Blicke nicht, die die anderen ihr zuwarfen. Niemand hörte etwas, doch sie schien sich tatsächlich mit dieser Kugel zu unterhalten. Aragorn bedeutete den Hobbits, dicht bei dem Sonnenkind zu bleiben. Alle anderen scharten sich in einem Halbkreis um sie. Wachsam beobachteten sie die tiefschwarze Kugel.

„Weil sie sich selbst vernichten werden. Das ist viel interessanter, findest du nicht auch?“

„Du willst eine Entscheidung, ist es nicht so?“ Isoran überlegte, die Dunkelheit war raffiniert, das wusste sie nur zu gut. Und sie begann zu begreifen, dass dies hier eine Falle war. Es war nicht darum gegangen, Mittelerde zu vernichten. Aragorn und seine Gefährten sollten eine Entscheidung treffen – eine Entscheidung für die Dunkelheit.

„Sie werden sich für Mittelerde entscheiden – und damit gehören sie der Dunkelheit“, erklang wieder die hämische Stimme. „Du selbst wirst sie der Dunkelheit bringen.“

Isoran schüttelte den Kopf. „Eher sterbe ich.“

Die Stimme lachte auf: „Genau das wirst du auch. Komm näher, ich zeige dir, wie mächtig ich bin. Du kannst nichts gegen mich ausrichten, Sonnenkind.“

„Das hättest du wohl gerne“, murmelte sie. Sie konzentrierte sich, doch immer noch konnte sie in dieser seltsamen Dunkelheit nichts erkennen. „Warum versteckst du dich? Wagst du nicht, dich zu zeigen?“

„Du wirst mich sehen, Sonnenkind.“ Gefährlich sanft klang die Stimme jetzt. Gleichzeitig wurde es heller, Isoran konnte schwache Umrisse erkennen, dann stand plötzlich ein Mann vor ihr, umgeben von leichtem bläulich-grauem Dunst.

Verblüfft starrte sie ihn an. „Nolan!“

Er grinste. „Sei gegrüßt, Isoran.“ Er verbeugte sich spöttisch. Dann hob er eine Hand und Isoran sah den Ring an seinem Finger. Ihre Augen wurden groß. Die Macht des Ringes wurde deutlich, nur mühsam widerstand sie dem Drang, sich ihm zu unterwerfen.

„Das ist nicht möglich“, stieß sie hervor. „Er wurde vernichtet, er kann nicht hierher zurückkehren.“

Der Mann lachte wieder hämisch auf. „Er kann nicht … Glaubst du im Ernst, wir würden uns an solche lächerlichen Regeln halten? Das sind Regeln des Lichts und weil ihr euch daran haltet, werdet ihr verlieren.“

„Oh nein. Diese Regeln sind universell und auch die Macht der Dunkelheit muss sich daran halten. Du lügst. Dies ist nicht der Eine Ring.“

Isoran kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich. Sie kannte Nolan, hatte schon mehrmals gegen ihn gekämpft. Er war stark – und raffiniert. Oh – und er war ein Meister der Täuschung. Und doch – sie spürte die Macht des Ringes – spürte wie er nach ihr griff und immer wieder versuchte, ihren Willen zu durchbrechen. Die Versuchung – ihn zu nehmen und Nolan endgültig zu besiegen. Sie würde Mittelerde schützen können vor jedem weiteren Angriff.

Heftig schüttelte Isoran den Kopf. Das war eine Lüge – sie wusste es. Sobald sie den Ring annahm, würde sie ihm verfallen. Sie würde sich zur Herrscherin von Mittelerde aufschwingen – wenn sie es konnte. Doch mit der Macht, die sie besaß würde das leicht werden. Welche Macht? Mühsam ordnete sie ihre Gedanken. Sie würde die Macht der Sonnenkinder verlieren, wenn sie dem Ring verfiel, doch dann hätte sie dessen Macht – und das war die Macht der Dunkelheit. Sie würde Mittelerde der Dunkelheit bringen. Niemals!

Isoran keuchte. Wie sollte sie erkennen, wann der Ring sie belog und was ihre eigenen Gedanken waren? Sie sah das Grinsen auf Nolans Gesicht. Er wusste genau, wie sehr sie gegen den Ring ankämpfte – und wie schwer es ihr fiel. War ihm nicht klar, dass sie ihn dann töten würde? Nein, der Ring würde auch ihn täuschen – ihm irgendetwas vorgaukeln.

 Sie kannte die Macht dieses einen besonderen Ringes, und das, was sie spürte war genau diese Macht. Wie konnte das sein? 

Nolan lachte auf. „Du verstehst nicht? Du glaubst, dies ist nicht der Eine Ring? Oh doch meine Liebe, und er wird dich besiegen und unterwerfen, wenn du dich gegen ihn stellst. Aber ich gebe zu, dass du auch Recht hast“, hämisch kicherte er. „Der Ring wurde vernichtet und kann nicht mehr nach Mittelerde gehen. Doch ich kann es.“

Wieder grinste er sie siegessicher an. „Und ich habe den Ring an mich genommen. Ich bin sein Herrscher. Er ist nicht selbst gekommen. Genial, gib es zu.“

Isoran starrte ihn an. Doch die Macht flüsterte und griff nach ihr, drohte sie zu überwältigen. Sie musste hier weg, musste klar denken können.

„Du oder ich“, flüsterte Nolan. „Fliehe, und Mittelerde gehört mir. Kämpfe gegen mich, und Mittelerde gehört dir. Eine andere Wahl hast du nicht.“

Sie stemmte sich gegen die Macht des Ringes. „Bringt mich weg“, ihre Stimme war heiser vor Anstrengung. Die Hobbits zerrten an ihren Armen, Aragorn und Celeborn sprangen vor sie und halfen ihnen. Fast trugen sie die junge Frau ein gutes Stück weit zurück. Immer wieder warfen sie besorgte Blicke zurück, doch die dunkle Wand bewegte sich nicht.

Celeborn und Legolas legten ihre Hände an Isorans Stirn und Wangen und versuchten, ihr mit ihren heilenden Kräften zu helfen. Doch sofort sahen sie sich erstaunt an, sie konnten die junge Frau nicht berühren. Legolas starrte sie an.

„Etwas ist auf ihrer Haut, wir können ihr nicht helfen.“

Aragorn griff unwillkürlich an das Schwert, was war mit der Fremden geschehen? Isoran lag blass mit geschlossenen Augen im Gras. Doch kurz darauf öffnete sie die Augen und sah in die besorgten Gesichter ihrer Begleiter.

„Ich bin in Ordnung“, sie schüttelte sich. „Dieser Mistkerl.“

„Was ist mit Euch geschehen? Wir wollten Euch helfen, doch wir konnten Euch nicht berühren.“

Isoran lächelte und setzte sich auf. „Das Licht schützt mich, wenn ich seine Hilfe und Stärke brauche, es heilt und gibt Kräfte zurück.“

„Mit was – oder wem habt Ihr gesprochen?“

„Nolan. Der Kerl heißt Nolan.“

Aragorn runzelte die Stirn. „Ein Mann?“

Isoran sah ihn verdutzt an, sah zurück. Nolan stand grinsend da und beobachtete sie. Langsam hob er die Hand und zeigte ihr wieder den Ring. Sie stand auf.

„Mistkerl“, murmelte sie wieder.

„Ihr könnt dort etwas – jemanden erkennen?“

Sie nickte. „Ihr nicht?“

Alle schüttelten den Kopf.

„Nur diese dunkle Wand, wie eine Kugel. Wir können auch nichts hören.“

„Interessant.“

Ein Lachen ließ sie herumfahren. Nolan hielt sich den Bauch vor Vergnügen.

„Natürlich hören und sehen sie nichts – noch nicht. Wozu auch? Sie sind unwichtig. Doch sie werden sehen. Entscheide dich. Wenn du nicht gegen mich kämpfst, werde ich ihr albernes Königreich vernichten. Der Ring ist stärker als sie.“

Wieder grinste er hämisch.

„Und wenn du gegen mich kämpfst, gibt es zwei Möglichkeiten. Wenn ich gewinne – nun dann geschieht das Gleiche. Gewinnst du –“, er wollte sich vor Lachen ausschütten. „Dann vernichtest du ihre Welt. Wie auch immer, Mittelerde wird der Dunkelheit gehören.“

Isoran biss sich auf die Lippen, es musste einen Ausweg geben.

„Gib mir Zeit. Lass mich mit ihnen reden.“

Nolan zuckte die Schultern. „Von mir aus. Ich habe Zeit. Ich gewinne immer.“

„Was hast du davon, wenn ich dich besiege?“

„Macht. Ich werde eine Macht bekommen, von der du nicht einmal träumen kannst. Ich werde nicht mehr an diesen albernen Körper gebunden sein. Kein Hunger, kein Schlaf. Ich werde so mächtig wie die unsterblichen Wesen.“

Isoran begriff. Sie bezweifelte, dass Nolan diese Macht tatsächlich erhalten würde. Vermutlich würde er ganz einfach sterben, doch sie begriff die Versuchung. Unsterblich – oder vielmehr ewig zu sein, wie die Wesen, von denen sie sich fernhielten. Wie die Valar und andere Wesen, die sie nicht begriffen, die weit über ihnen standen. Damit verlor der Tod seinen Schrecken.

Sie wandte sich an ihre Begleiter. „Nolan gehört zu denjenigen, die sich der Dunkelheit angeschlossen haben.“

„Wie mächtig ist er? Und wie können wir ihn bekämpfen?“

Sie seufzte. „Es geht nicht mehr ums kämpfen, jedenfalls nicht ihr gegen ihn.“

Dann berichtete sie, dass er – wie auch immer – den Ring trug. Und damit auch seine Macht hatte. „Ihr sagtet, dass der Ring nicht wieder nach Mittelerde kommen kann.“

„Ja, das sagte ich, und ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, dies zu umgehen. Was jetzt auch keine Rolle mehr spielt. Das verdammte Ding ist da.“

Sam sah sie entsetzt an. „Das heißt wir müssen noch einmal zum Schicksalsberg und ihn noch mal reinwerfen?“

Isoran starrte ihn an. Ganz langsam setzte sie sich auf den Boden.

„Sam – Samweis Gamdschie, du bist ein Genie“, flüsterte sie.

„Warte, warte – lass mich nachdenken.“ Sie schloss die Augen, überdachte alles, was sie wusste, von dem Ring, von den Regeln der Mächte. Konnte dies wirklich der Eine Ring sein? Selbst wenn Nolan die Regeln umging – er war schließlich ein denkendes Wesen, der Ring war es nicht, er war lediglich ein Werkzeug. Und als solches konnte er zwar reagieren, aber er war an das gebunden, was er war und wie er gemacht worden war. Das hieß, der Ring konnte nicht hier sein. Nun, zumindest nicht dieser eine bestimmte Ring.

Isoran nickte leicht. Leise sagte sie: „Nein, es kann nicht der Ring sein, den Sauron trug, doch es ist durchaus möglich, das Nolan das denkt. Und ebenso sind wir ziemlich sicher, dass es mehrere Werkzeuge gibt, die Ringform haben. Und auf jeden Fall hat dieses Ding die Macht, andere zu beeinflussen. Ich habe es gespürt. Im Grunde ist es also völlig egal, ob es tatsächlich derselbe Ring ist. Die Gefahr ist die gleiche. Wer immer ihn trägt, wird versuchen, Mittelerde zu beherrschen.“

Sie zog die Stirn zusammen und winkte rasch ab, als die Gefährten sprechen wollten. Sie musste weiterdenken, es gab immer eine Möglichkeit zu siegen – würde sie nicht davon überzeugt sein hätte sie schon so manchen Kampf verloren.

Wusste Nolan, welche Möglichkeiten die Hobbits hatten? Dass sie dem Ring widerstehen konnten? Würde er es glauben – oder vielmehr ließ der Ring zu, dass er diese Gefahr erkannte? Wenn nicht – wenn nicht, dann war das eine Möglichkeit. Dann war das die Chance, die sie brauchten. Doch Nolan durfte nicht gewarnt werden. Er würde jedoch alles hören und erkennen, was sie sprachen, der Ring würde dafür sorgen. Also musste sie vorsichtig sein. Würden die Hobbits begreifen, was sie tun sollten – tun mussten?

Isoran blickte auf. „Es gibt nur eine Möglichkeit, Mittelerde jetzt noch zu retten. Ich werde es euch erklären.“

Langsam blickte sie von einem zum anderen. Sie sah, dass Nolan immer noch grinste. Umso besser, er musste daran glauben, dass er gewinnen würde. Sie bedeutete allen, sich zu setzen und winkte ab, als die Männer besorgte Blicke zu der dunklen Wand warfen, in der nur sie den Mann erkennen konnte.

„Er wird nicht angreifen. Er wartet darauf, dass ich mich ihm stelle und gegen ihn kämpfe.“ Sie zog eine Grimasse. „Er ist überzeugt, dass er gewinnt, egal wie der Kampf ausgeht.“

Sie blickte von einem zum anderen, bei den Hobbits versuchte sie besonders eindringlich zu sein, sie mussten begreifen!

„Ihr könnt nicht gegen ihn kämpfen, der Ring ist zu stark. Ich kann es, und ich habe sogar die Möglichkeit, gegen Nolan zu gewinnen. Doch dann verliere ich trotzdem.“

Sie lächelte grimmig, als sie die verständnislosen Gesichter sah.

„In dem Moment, in dem ich Nolan besiege, werde ich dem Ring verfallen. Ich weiß es, und ich weiß, dass ich es nicht verhindern kann. Im Übrigen glaube ich nicht, dass Nolan sich einfach so von mir besiegen lassen wird. Er hat mit Sicherheit noch eine Überraschung für uns. Hört zu: Sobald ich ihn angreife, wird etwas geschehen. Ich vermute, dass noch weitere Geschöpfe bei ihm sind, die ich noch nicht erkennen kann. Greift sie an und vernichtet sie, doch greift auf keinen Fall in den Kampf zwischen ihm und mir ein.“

Sie sah die Hobbits beschwörend an. „Ihr solltet euch zurückhalten, dies ist kein Kampf für euch, lasst das die Großen machen.“

Wie winkte ab, als die drei protestierten. „Ihr habt eine andere Aufgabe. Ich weiß, wie gut ihr werfen könnt. Sammelt Steine, gute, harte Steine.“

Ihre Stimme wurde leise, konnte sie Nolan täuschen? Würde er die Gefahr erkennen oder unterschätzen?

„Ihr müsst eingreifen, sobald unser Kampf entschieden ist. Ich werde Nolan besiegen, dann müsst ihr mich besiegen. Werft die Steine so fest ihr könnt. Sofort, ihr dürft nicht zögern, habt ihr begriffen? Ihr müsst mich überwältigen.“

Die Hobbits starrten sie entsetzt an. „Nein. Isoran, wir sollen … nein!“

„Ihr müsst! Seid still, hört zu! Es wird allerhöchstens zwei oder drei Atemzüge dauern, dann hat der Ring mich unterworfen. Ich würde lieber sterben, als der Dunkelheit zu gehören. Ihr müsst das verhindern. Besiegt mich!“

Himmel würden die Hobbits verstehen, was sie eigentlich wollte?

„Ihr müsst verhindern, dass ich den Ring einsetze. Sobald ich ihn nehme, müsst ihr eingreifen!“

Aragorn ergriff ihren Arm. „Nein. Wir werden gemeinsam gegen ihn kämpfen. Ihr werdet euch nicht opfern.“

Isoran lächelte leicht und ein wenig bitter.

„Aragorn, schon einmal habt Ihr eine Zeit erlebt, in der es notwendig war, Opfer zu bringen. Hättet Ihr gezögert, Euer Leben zu geben? Ganz abgesehen davon dass ich Mittelerde und seinen Völkern etwas schuldig bin – mein Leben gehört dem Kampf gegen die Dunkelheit. Ich habe dieses Leben schon oft riskiert, um die Dunkelheit zurückzuschlagen.“

Aragorn blickte auf sein Schwert. „Dann …“

Isoran schüttelte den Kopf. „Nein, Aragorn das ist nicht möglich. Weder Ihr noch Gimli oder die Elben können oder dürfen mich besiegen.“

Sie blickte von einem zum anderen und seufzte. „Keiner von euch darf mich angreifen. Ich würde jeden von euch sofort töten. Nur die Hobbits nicht, dieses Volk wird von uns in einer Weise verehrt, dass es sie schützen wird.“ Hoffentlich glaubte Nolan diese Lüge.

Sie wandte sich an die entsetzten Halblinge, sah sie eindringlich an. „Denkt an Frodo. Nur ihr könnt mich besiegen. Nur ihr habt die Möglichkeit – zu siegen.“ Begriffen sie, worum es ihr wirklich ging? Was Nolan auf keinen Fall erraten durfte?

Die großen entsetzten Augen der Hobbits wanderten von einem zum anderen. Aragorn schluckte, die Elben und Gimli senkten die Köpfe. Einen Moment war es still. Dann sah Celeborn dem Sonnenkind fest in die Augen.

„Gibt es wirklich keinen anderen Weg, dieses Geschöpf und den Ring zu besiegen? Ohne dieses Opfer?“

Isoran blickte noch einmal zu den Hobbits.

„Es gibt nur diesen Weg, den ich genannt habe. Ich werde nicht zulassen, dass Mittelerde an die Dunkelheit fällt.“ Ganz leicht lächelte sie. „Wie hat es Sam gesagt? Wir werden unseren Teil der Geschichte gut machen. Ich habe euch von mir und meinem Volk und unseren Fähigkeiten erzählt. Denkt an Frodo, dann werdet ihr es einsehen.“

Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Sam den Kopf hob und sie forschend ansah. Sei still, kleiner Halbling, flehte sie im Stillen. Versteh, was ich sage, doch sei still. Dann stand Isoran auf. Auch die Männer erhoben sich. Ihre Gesichter waren ernst.

„In ganz Mittelerde wird Isoran, das Sonnenkind, geehrt werden.“ Aragorn sprach gepresst.

„Die Elben werden nach den Sonnenkindern suchen und zwischen ihnen und uns wird Freundschaft sein, auf immerdar.“ Feierlich und ehrerbietig neigte Celeborn den Kopf.

Isoran verneigte sich.

Dann wandte sie sich an die Hobbits. „Sammelt Steine, bitte. Bewahrt mich davor, mich und das an das ich glaube zu verraten.“

Sam starrte sie wieder an, sie blickte ihm direkt in die Augen, dann nickte er plötzlich. Merry und Pippin schluckten, doch auch sie nickten.

 Die Männer stellten sich auf, hinter ihnen warteten Sam, Merry und Pippin, jeder von ihnen hatte mehrere Steine vor sich liegen. Zwei lagen schwer in ihren Händen.

Isoran trat vor. „Nun gut, Nolan. Ein letztes Mal, geh, verlasse Mittelerde, oder ich vernichte dich. Niemals wird diese Welt dir gehören.“

Sie hörte ihn auflachen, sah die Siegesgewissheit in seinem Gesicht.

„Was erhoffst du dir denn, Isoran? Dass sie dich vor der Dunkelheit bewahren? Und dann? Jeder, der den Ring nimmt, wird diese Welt der Dunkelheit zuführen. Du weißt das.“ Er lachte.

Sie zuckte mit den Schultern und trat langsam auf ihn zu. Sie fühlte den Schmerz, jetzt, da die Hobbits sie nicht mehr schützten, doch sie wappnete sich. Das Licht schützte sie, und sie warf es gegen den Dunst, der Nolan schützte. Blitze zuckten, keiner von beiden rührte sich, nur ihre Hände bewegten sich, Dunkelheit umschloss die Lichtlanzen und ließ sie erlöschen. Helle Blitze zuckten durch die dunkle Wand und hinterließen Risse, durch die die Sonne schien.

Dann brachen weitere grauenhafte Geschöpfe aus der Dunkelheit heraus. Menschen, Elben und der Zwerg Gimli ließen ihre Schwerter schwingen, schreiend stürzten sie auf diese Geschöpfe zu. Gimli schrie auf, als eine Klaue seinen Arm aufschlitzte, und Legolas schlug zu und durchtrennte den langen Tentakel. Celeborn erschlug ein Geschöpf mit dem Kopf einer Schlange und dem Körper eines Trolls. Aragorn drehte sich im Kreis, sein Schwert sang. Blut spritzte auf die Gefährten und brannte wie Feuer.

Und mitten in diesem Gemetzel standen zwei Gestalten gerade mal eine Armlänge voneinander entfernt. Sie sprachen nicht und bewegten sich kaum. Doch um sie waberte Licht und Dunkelheit, umhüllte mal den einen, mal den anderen. Dann plötzlich explodierte ein Licht um sie alle herum, das in den Augen wie Feuer schmerzte. Die Gefährten schlugen die Hände vor die Gesichter und brachen in die Knie. Ein entsetzlicher Schrei erklang in ihren Ohren.

Das Licht wurde schwächer, Aragorn nahm die Hände vom Gesicht. Erstaunt erkannte er, dass die Geschöpfe, gegen die sie gekämpft hatten, verschwunden waren. Auch die anderen richteten sich auf. Die dunkle Wand war verschwunden. Ein Mann lag am Boden, über ihn gebeugt stand Isoran. Ihr Gesicht war verzerrt. Ihre Hände – wie Klauen gekrümmt – griffen nach der Hand, rissen daran. Dann lag der Ring in ihrer Hand, ein wahnsinniges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, ehe es zu einer Fratze wurde. Sie warf den Kopf zurück, wand sich, doch ihre Hand griff nach dem Ring und steckte ihn auf den Finger.

Aragorn sah voller Entsetzen, wie Isoran ruhig wurde und wusste, dass sie vom Ring beherrscht wurde. Ihre Augen öffneten sich, und er sah den Wahnsinn darin. Etwas flog an ihm vorbei, zwei, drei dumpfe Schläge ertönten. Isoran wurde nach hinten geworfen und schlug lang hin. Blut durchtränkte ihr Haar, neben ihr fielen drei Steine zu Boden.

Sam schrie auf, stürzte auf das Sonnenkind zu und riss den Ring von ihrer Hand. Fest umschloss er ihn.

„Licht, sie gehört doch dir, schütze sie!“

Und als ob seine Worte der Auslöser wären, wurden Isorans Hände heller. Licht umwaberte sie und breitete sich um den gesamten Körper aus.

Die Männer versuchten, Isoran zu helfen und mussten wieder feststellen, dass keiner sie berühren konnte. Wie eine dünne, undurchdringliche Haut lag das Licht um sie herum. Der Mann neben ihr war tot. Aragorn blickte ihn einen Moment an, doch von diesem Menschen, oder was immer er auch war, ging keine Gefahr mehr aus. Dann wandte er sich Sam zu. Der hatte die Hand fest zur Faust geballt und starrte voller Widerwillen darauf.

„Sam“, sanft sprach er ihn an.

Sam sah zu ihm auf. „Ich spüre ihn. Er ist widerlich.“

„Du hast ihn oder zumindest einen derartigen Ring schon einmal getragen. Schaffst du es?“

Sam nickte.

Aragorn wandte sich an die Anderen. „Dann sollten wir uns beeilen. Sam sollte das Ding so kurze Zeit wie möglich tragen müssen. Und es ist weit bis zum Schicksalsberg.“

„Aber Isoran. Wir können sie doch nicht einfach hier lassen. Sie braucht Hilfe.“ Sam sah Legolas bittend an.

„Wir können sie nicht einmal berühren, du hast es gesehen.“

Sam überlegte. „Aber das Licht um sie. Wir könnten sie auf eine Decke rollen und tragen.“

Sie bauten eine Trage. Als Sam helfen wollte, lehnte Aragorn jedoch ab.

„Nein, Sam. Deine Aufgabe ist der Ring. Pass darauf auf – und auf dich.“

Noch vor Einbruch der Nacht brachen sie auf. Sie hatten ihre Wunden verbunden und den toten Fremden, den Isoran Nolan genannt hatte, begraben. Langsam und schweigend ritten sie nach Süden. Die Hobbits flüsterten miteinander.

„Ob wir wieder nach Bruchtal gehen, wie damals?“

„Aber es wird doch nicht genau so ablaufen – noch einmal?“ Pippin sah von einem zum anderen.

„Es wird einfacher sein.“

Mit wenigen Blicken hatten Aragorn und die Elben sich verständigt.

„Wir werden in Bruchtal Rast machen und von dort nach Mordor reiten. Doch diesmal müssen wir nicht heimlich reiten und Verfolger und Jäger fürchten. Wir werden schnell und offen vorankommen.“

Am nächsten Mittag begann das Licht um den Körper des Sonnenkindes schwächer zu werden. Die Gruppe hielt sofort an und beobachtete Isoran. Aragorn griff heimlich nach seinem Schwert. Niemand wusste, ob sie noch lebte und wenn – ob sie sie selbst war.

„Isoran – Isoran? Kannst du uns hören?“ Sam drängte sich vor.

„Sam, geh zurück, bitte.“ Aragorn zog ihn beiseite. „Du trägst den Ring, und wir wissen nicht, was er ihr angetan hat.“

Erschrocken sprang Sam mehrere Schritte zurück.

Isoran fühlte, dass sie irgendwo lag. Sie überlegte, sie hatte gegen Nolan gekämpft, dann … sie verzog das Gesicht. Der Ring – sie hatte versucht, sich gegen ihn zu wehren, so viel wusste sie noch. Sie tastete sich in Gedanken ab, ihr Kopf schmerzte noch etwas, allerdings nicht stark. Das konnte bedeuten, dass die Hobbits sie mit den Steinen überwältigt hatten. Was war mit ihrem Willen? Sie fühlte den Ring nicht mehr, was bedeutete dies?

Langsam öffnete sie die Augen. Celeborn, Legolas, Gimli und Aragorn standen um sie herum und sahen sie besorgt an. Ihre Hände lagen an ihren Waffen. Isoran grinste leicht, „Erschlagt mich nicht.“

„Du lebst.“ Pippin drängte sich durch die großen Menschen. „Wir hatten solche Angst, wir wollten doch nicht, aber du hast es verlangt, du hast gesagt, wir müssten es tun.“

Das Sonnenkind lächelte ihm zu und setzte sich langsam auf. „Ich bin in Ordnung – denke ich. Was ist mit dem Ring? Ich spüre ihn nicht mehr.“

„Sam trägt den Ring, er hat ihn Euch abgenommen.“

Isoran atmete auf. Ihr Blick suchte den Hobbit und sie lächelte ihm zu. „Danke, Sam. Ich habe darauf gehofft, dass du verstehen würdest. Ich durfte es nur nicht aussprechen. Nolan hätte begriffen, dass sein Plan damit zunichte wird.“

Da sie sah, dass die anderen noch nicht ganz verstanden, erläuterte sie ihre Gedanken genauer. „Nolan hat die Hobbits nicht ernst genommen, wenn er sie überhaupt als Gegner angesehen hat. Die meisten Wesen unterschätzen das kleine Volk.“

Sie lächelte breit. „Was ein großer Fehler ist. Nolan war sicher, dass es nur zwei Möglichkeiten gab. Wenn er gegen  mich gewann, würde er so stark sein, dass er Mittelerde in seine Gewalt bringen konnte. Er wäre der alleinige Herrscher einer ganzen Welt geworden. Und wenn er verlor, so hatte der Ring ihm versprochen, ihn zu einem anderen Wesen zu machen – unsterblich und viel mächtiger, denn als Mensch.“

„Ist so etwas möglich?“ Merry blickte sie erschrocken an.

Isoran zuckte mit den Schultern. „Wissen kann ich es nicht, aber um ehrlich zu sein, ich glaube es nicht. Der Ring ist ein Meister der Täuschung. Nolan starb, nehme ich an?“

Sie wartete das Nicken der Männer ab.

„Ich habe noch nie davon gehört, dass ein Mensch zu einem unsterblichen Wesen werden kann, und ich glaube es nicht. Doch Nolan glaubte es, und es genügte ihm. Abgesehen davon war er überzeugt, dass auch dann Mittelerde zur Dunkelheit fallen würde. Wenn er besiegt wird, würde der Sieger den Ring nehmen, also ich. Und er wusste genau, dass ich dem Ring sofort verfalle.“

Sie schüttelte sich bei der Erinnerung an ihre verzweifelte – und vergebliche – Gegenwehr.

„Und auch, wenn ich dann besiegt werde, immer würde der Sieger den Ring an sich nehmen. Und immer würde der Ring dafür sorgen, dass der Träger Mittelerde unterwerfen würde.“

Ihre Augen wanderten zu den Hobbits und ihre Stimme wurde ehrerbietig. „Nur das kleine Volk nicht. Nur ihr seid in der Lage, den Ring zu tragen ohne ihm zu verfallen. Das war meine Hoffnung. Sam hat den Ring schon einmal getragen, er hat die Kraft dazu.“

„Aber – aber du warst bereit – deshalb – deshalb zu sterben.“

Ernst sah Isoran Pippin an. „Ja, das war ich. Ebenso wie du dazu bereit warst, als es notwendig war, und Merry und Sam und viele andere. Es gibt Dinge, für die lohnt es sich, den Tod hinzunehmen. Aber ich hatte durchaus Hoffnung zu überleben, auch wenn ich mich gehütet habe, es zu zeigen. Nolans wegen musste ich das verbergen.“

Sie blickte die Hobbits wieder an und lächelte. „Eine Kopfwunde, selbst eine schwere, tötet meist nicht sofort. Und sobald ich den Ring nicht mehr tragen würde, würde das Licht mich schützen und heilen. Das wusste ich, es kam nur darauf an, wie lange ich dem Ring angehöre. Ich durfte nicht zu einem Geschöpf der Dunkelheit werden. Ich wusste, wenn ihr mir den Ring schnell genug abnehmt, hatte ich eine Chance.“

Aragorn sah von ihr zu den Hobbits, dann legte er Pippin und Merry die Hände auf die Schultern.

„Ihr habt Mittelerde gerettet.“

Sein Blick wanderte zu Sam, der sich nicht zu nähern wagte. „Und du hast Isoran das Leben gerettet. Die Lieder über euch werden lang und schön sein.“

Alle drei wurden blutrot und in ihren Augen leuchtete der Stolz.

Sam wagte sich einen Schritt näher. „Dann sollten wir aber zusehen, dass es wirklich die Lieder lohnt. Noch ist das Ding hier. Du kannst den Kohl nicht essen, bevor du ihn geerntet hast, wie der Ohm immer sagte.“

Alle lachten.

Schnell aber ohne Hast ritten sie nach Süden, immer wieder erzählten sie Isoran von dieser und jene Begebenheit, wenn sie die Orte ihrer langen und schweren Reise damals wiedererkannten. An dem Turm von Orthanc, der nun wieder von Gärten und Wäldern umgeben war, machten sie ausgiebig Rast. Und ein wenig hofften die Hobbits, Baumbart wiederzusehen, doch die Bäume blieben still, kein tiefes „Hurarum“ ertönte.

Über die grünen Weiden von Rohan ritten sie zum Königshaus Medoras, wo sie herzlich willkommen geheißen wurden. Und in Minas Tirith, der herrlichen, weißen Stadt, verweilten sie mehrere Tage. Aragorn war nicht gewillt, ohne Schutz nach Mordor zu gehen. Noch immer waren diese Lande voller Geschöpfe, die die Menschen hassten. Mit fast 100 Mann trafen sie vor der Felsenenge ein, an der einst das schwarze Tor stand. Niemand hielt sie auf, sie sahen weder Tiere noch andere Geschöpfe, als sie Mordor betraten.

„Ganz anders als damals, weißt du noch Merry?“

„Ich durfte ja nicht mit“, schmollte der.

„Du hattest deinen Teil schon beigetragen, wolltest du den ganzen Ruhm für dich?“ lästerte Pippin schadenfroh.

Aragorn, Gimli und Legolas sahen sich lächelnd an. Es war typisch für die Hobbits, so leicht über die schweren Tage von damals zu sprechen, das Leid, die Angst und Sorge so einfach wegzureden.

Doch selbst die Hobbits wurden schweigsam, als sie über die graue, eintönige Felsenebene in Mordor ritten. Obwohl der dunkle Herrscher seit so langer Zeit fort und vernichtet war, war die Dunkelheit seiner Herrschaft hier noch spürbar. Schwere Ausdünstungen zogen über das Land und machten ihnen das Atmen schwer, und immer wieder spürten sie die Erdstöße, die der Feuerberg verursachte.

Als sie dessen Hänge erreichten, ließen sie die Pferde und Soldaten zurück. Nur Aragorn, Celeborn, Legolas, Gimli, die Hobbits Sam, Pippin und Merry und das Sonnenkind Isoran kletterten die Hänge hinauf. Immer wieder zeigte Sam auf Stellen, die er meinte wiederzuerkennen. Hier hatten sie gerastet, als Frodo so erschöpft war, dass er nicht mehr wusste, wie sie weiterkommen sollten. Und er hatte seinen Herrn dann getragen. Dort waren sie von Gollum überrascht worden.

Langsam betraten sie die Höhle, die in das Innere des Berges führte. Der lange Steg, dem sie damals bis weit in den Berg gefolgt waren, existierte nicht mehr. Das Feuer des Berges hatte ihn zerstört. Nur wenige Schritte konnten sie gehen, dann sahen sie tief unter sich das brodelnde Feuer der Lava. Die Hitze ließ sie kaum atmen.

Alle Augen richteten sich auf Sam. Der schluckte, trat vor und griff langsam in die Tasche. Der Ring war entsetzlich schwer, als er ihn in die Hand nahm. Er wollte die geballte Faust ausstrecken über das Feuer, doch etwas zwang ihn, die Hand zu öffnen. Glatt und unscheinbar lag der Ring da.

Es war doch albern, so ein dummer kleiner Ring konnte doch nicht so schlimme Dinge anrichten. Sams Gesicht verzerrte sich. Isorans Hände hoben sich, um ihn zu schützen, doch sie zog sie sofort wieder zurück. Jetzt durfte sie nicht eingreifen. Aragorn blickte sie an.

„Ich darf nicht“, flüsterte sie. „Nicht, wenn dies die Entscheidung sein soll.“

Aragorn nickte, doch er war ein Mensch von Mittelerde. Er durfte Sam helfen. „Wirf ihn ins Feuer, Sam. Für uns, für Mittelerde. Du kannst es.“

Sams Hand zitterte. Sein Blick war starr auf den Ring gerichtet.

„Für Frodo!“ Aragorn flüsterte nur noch, konnte Sam dem Ring widerstehen?

Sam hob den Kopf, fast erstaunt sah er Aragorn an. Dann glättete sich seine Miene.

„Für Frodo“, seine Stimme wurde fester. „Für das Auenland. Für Mittelerde.“

Jetzt drückte sein Blick Abscheu aus, als er die Hand hob und den Ring im hohen Bogen in die Lava warf. Es brodelte, als ob das Feuer den Ring ablehnen wollte, doch die Hitze war zu groß, der Ring verbog sich und ging unter.

Eine ganze Weile standen sie noch da, als ob sie auf etwas warteten. Schließlich sah Sam auf.

„Das war dramatischer damals. Wir mussten rennen, das Feuer hätte uns sonst erwischt. Und auch draußen war alles voller Lava. Nur die Adler konnten uns retten.“

Langsam verließen sie den Berg. Aragorn wandte sich an Isoran.

„Müssten wir nicht irgendetwas merken? Woher können wir wissen, dass unsere Welt jetzt sicher ist?“

Sie nickte. „Draußen, lasst es mich draußen überprüfen. Hier …“ sie stockte, schüttelte sich. Aragorn nickte, bevor sie weitersprechen konnte.

Erst am Fuße des Berges, in dem Lager, das die Soldaten inzwischen errichtet hatten, fiel die Beklemmung von ihnen ab. Isoran ging einige Schritte beiseite und konzentrierte sich. Und lächelte. Ja, jetzt konnte sie das Licht fühlen, das die Welt unsichtbar, und für alle Wesen, die hier lebten, nicht bemerkbar, umwaberte. Mittelerde hatte sich entschieden!

 

Sie ritten nach Norden zurück. An den Totensümpfen vorbei und am Rand des alten Reiches des Elben entlang. Doch sie betraten Lothlorien nicht. Dieser Teil der Welt sollte auf ewig den Elben vorbehalten sein, auch wenn sie längst nicht mehr in Mittelerde weilten. Und irgendwann erreichten sie die grauen Anfurten. Und hier mussten sie Abschied nehmen.

Gimli liefen die Tränen über das Gesicht, zum zweiten Mal musste er den Freund gehen lassen. Und dieses Mal würde es endgültig sein. Auch Legolas wusste dies. Selbst wenn es eine Rückkehr für ihn geben sollte, was ohnehin kaum wahrscheinlich war, den Freund würde er nicht wiedersehen. Gimli war jetzt schon alt, in wenigen Jahren würde sein Leben zu Ende sein. Der Abschied war auch für ihn schwer, doch er konnte nicht bleiben. Er gehörte nicht mehr hierher nach Mittelerde. Auch wenn sein Herz immer hier wurzeln würde.

Isoran jedoch blieb noch in dieser Welt. Zusammen mit Aragorn und Arwen begleitete sie die Hobbits nach Hobbingen und ritt dann wieder zurück nach Gondor. Und hier übergab Aragorn, Arathorns Sohn, König der Menschen, ihr ein Pergament, in dem er erklärte dass das Volk der Sonnenkinder jederzeit in Mittelerde willkommen war.

Dann kam auch für sie der Abschied. Auf dem großen Platz, hoch oben über der Stadt standen sie. Der weiße Baum überschattete sie, seine Äste sahen aus wie von Schnee bedeckt, so reich trug er seine Blüten. Isoran hob eine von ihnen auf. „Ich werde sie mitnehmen, sie wird mich immer an Mittelerde erinnern.“

„Werdet Ihr wiederkehren?“

„Oh ja! Das werde ich mir ganz gewiss nicht nehmen lassen. Eure Welt ist etwas Besonderes.“ Sie wandte sich um und konzentrierte sich. Das Tor erschien, groß und mit schweren Siegeln versehen. Sie hob die Hand. Aragorn und Arwen sahen nur, wie ihre Hand ins Leere griff, sie sahen kein Tor. Doch plötzlich lagen kleine, dunkle Brocken auf dem Boden und sie begriffen, dass dies die Bruchstücke der Siegel waren. Sie leuchteten auf, bunte Lichtbögen entstanden und vergingen wieder.

Noch einmal wandte Isoran sich um, neigte den Kopf, dann ging sie durch das Tor um ihrem Volk zu berichten, dass die Tore nach Mittelerde wieder geöffnet waren. Die Sonnenkinder würden nach Mittelerde zurückkehren können. Ende

 

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Cover: Bild von WILLGARD auf Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 09.01.2016

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