Cover

Der König Erebors

 

Der König Erebors

 

 

 

Wenn Sterne uns Licht geben

 

 

 

Band 4

 

 

Teil Zwei

 

 

Fanfiction / High Fantasy

 

 

 

Lisa Ausmeier

 

 

 

 

Dies ist eine Fanfiction, basierend auf dem Roman „Der Hobbit“ von J.J.R. Tolkien und den Filmen der „Der Hobbit“- Trilogie von Peter Jackson.

 

 

Die Handlung ist fiktiv und meine eigene Interpretation.

 

Alle Figuren, die nicht im Original auftauchen, sind fiktiv.

 

Die Khuzdul-Übersetzungen stammen von verschiedenen Internetseiten und wurden teilweise verändert.

 

Diese FanFiction beinhaltet Lyrics von „Faun“.

 

 

 

Mai 2019 - März 2023

 

 

 

 

 

 

 

Alle guten Geschichten verdienen es, ausgeschmückt zu werden.

 

~

 

Gandalf (Der Hobbit – Eine unerwartete Reise)

 

 

 

 

Stark zu sein heiß nicht, nie zu fallen.

Stark zu sein heißt, immer wieder auszustehen.

 

~

 

Unbekannt

 

 

 

 

1

 

 

Sie blickte auf ihr immer kleiner werdendes Dorf, bis das Ziehen in ihrem Hals sie zum Aufhören zwang. Seufzend wandte sie sich nach vorne und blickte über Thorins Schulter hinweg auf das, was vor ihnen lag.

Es war Zeit, endgültig loszulassen.

„Schau mal.“

Er drehte den Kopf zu ihr, um herauszufinden, was sie so plötzlich entdeckt hatte. Ihr Blick war auf die Blumen geheftet, die am Wegesrand und in den Gräben entlang der Äcker zahlreich vertreten waren.

„Wenn wir uns wiedersehen, werden die Wiesen blühen… So hast du es vorausgesagt.“ Die Arme um seine Leibesmitte gelegt schmiegte sie sich an ihn und schloss die Augen, als er das Lied aus dem Wirtshaus zu summen begann. Die Geräusche der Pferdehufe wurden mit einem Mal dumpf. Marie sah zu Boden und merkte, dass sie den befestigten Weg verlassen hatten und nun quer über eine Wiese ritten. „Wir sind vom Weg abgekommen.“

Thorin schien das nicht zu stören. „Unser Weg führt uns abseits der Straßen, mell nin. Wir haben die Wildnis erreicht.“ Er zeigte mit ausgestecktem Finger auf eine, vor ihnen liegende Hügelkette von schroffen Felsen und nadeligen Kiefernwäldern.

„Werden wir denselben Weg nehmen, den auch ihr damals gegangen seid?“

„Das ist der schnellste. Wir können noch heute Abend die Weite zur Grenze des Grünwaldes erreichen und dort unser Nachtlager aufschlagen. Wenn wir uns etwas beeilen“, fügte er hinzu.

„Na dann“, sagte sie und verstärkte ihren Griff, „ich wäre so weit, Euer Hoheit.“ Thorin grinste wie ein junger Mann und Maries Herz geriet gefährlich ins Taumeln. Er schnalzte und Ferrox fiel in den Trab.

Im Nachhinein war sie froh über den kleinen Reitunterricht vor ein paar Tagen. Schon nach wenigen Metern wäre sie vom Pferd gepurzelt. Nun genoss sie den Wind im Haar und die Strahlen der Frühlingssonne im Gesicht. Doch es war ihr immer noch nicht genug. Sie wollte die Freiheit spüren. „Schneller, Thorin! Bitte, lass ihn schneller laufen!“ Marie spürte die Kraft des Hengstes durch jede Faser ihres Körper vibrieren, als er den Befehl seines Herrn ausführte und die Beine nach vorne warf. Mithilfe der Reitkünste ihres Gefährten passte sich ihr Körper spielend leicht dem neuen Rhythmus an. Ihr wurde federleicht ums Herz. Die letzten Glieder der einschnürenden Ketten aus Angst und Ungewissheit, die ihren Körper lange Zeit umschlingt hatten, lösten sich endgültig zu Staub auf. Marie breitete die Arme aus, als würden Schwingen sie tragen. „Wuuhuuu! Wir fliegen, hahaha, wir fliegen!“

Thorin lachte aus vollem Hals. Es war unglaublich. Sie galoppierten, als würde die Welt ihnen gehören. Dieses Gefühl, dieser Moment sollten niemals enden.

Erste Felsen schauten aus dem Erdreich und der Krieger zügelte den Schimmel. „Ich war noch nie so schnell gewesen!“ Marie keuchte, ihr war schwindelig von der Geschwindigkeit und drohte, von Glücksgefühlen ertränkt zu werden. „Wie schnell können wir noch werden?“

Das brachte Thorin erneut zum Lachen. „Wir könnten noch schneller, aber ich will ja nicht umkehren müssen, nur um dich wieder aufzulesen. Warte erst einmal ab, was deine Beine heute Abend sagen werden. Dann wirst du nicht mehr so eifrig sein.“

 

Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie damals mit ihren Eltern und den anderen Flüchtlingen aus Dale den gleichen Weg über diesen Höhenzug genommen hatte. Sie mussten viel weiter nördlich gereist sein.

Ihre Künste als Heilerin waren über die Grenzen Kerrts bekannt. Sie hatten sie zwei Dörfer nach Norden und eines nach Süden gebracht. Danach jedoch gab es in alle Himmelsrichtungen meilenweit keine menschliche Siedlung mehr. Maries Heimat östlich des Nebelgebirges und westlich des Grünwaldes war eine Senke brauchbares Ackerland, was jedoch nur fleckenhaft besiedelt war, da es zu weit weg von den großen Städten und Handelsrouten lag. Der Osten war der große Unbekannte, den dieses Abenteuer für sie bereithalten würde.

Wissbegierig besah sie die fremde Landschaft, die zerklüftet und felsig ihren Weg erschwerte. Sie ritten Hügel hinauf und herab. Dabei ließ Thorin als erfahrener Reiter Ferrox den sichersten Weg selbst aussuchen. Teppiche aus Nadeln bedeckten den Erdboden, sodass das schneeweiße Kaltblut fast lautlos auftrat. Lange bevor ein Fluss in Sichtweite kam, war das Geräusch von Wildwasser zu hören. Thorin ließ das Pferd nicht allzu nah an den Abhang heran, sodass Marie einen langen Hals machen musste, um in die Schlucht hinab spähen zu können. Schäumend und wild lag das vom Schmelzwasser aufgewühlte Flussbett am Grund.

„Hier haben wir Azogs Häscher gesichtet.“ Der von Unheil kündigende Name ließ Marie hellhörig werden. „Sie haben uns auf ihren Wolfsbären bis hierher verfolgt. Wir konnten gerade noch so verschwinden, bevor die Bestien unsere Witterung in die Nase bekommen haben.“

Azog war nur noch ein Geist aus seiner Vergangenheit. In den Iriden seiner Augen sah sie, dass der Name jedoch nach wie vor dieselbe Macht besaß wie einst. „Wie seid ihr entkommen?“

„Wir sind gerannt um unser Leben. Beorn hat uns Unterschlupf gewährt, obwohl er zuerst selbst Jagd auf uns gemacht hat. Wären die Mauern seines Heims nicht gewesen, hätte es schlecht um uns gestanden.“

„Beorn, wer ist das?“ Als Thorin sich ihr zuwandte, erschien ein merkwürdiges Lächeln in seinem Mundwinkel.

„Du wirst ihn vielleicht noch kennenlernen.“

 

Dank Ferrox Ausdauer und Trittsicherheit kamen sie doppelt so schnell voran, wie die Gefährten damals auf ihrem Weg. Am Nachmittag suchten sie eine Stelle, wo sie das Pferd grasen lassen konnten. Marie holte zwei der Proviantpackete aus den Satteltaschen, die ihnen Hilda mitgegeben hatte, und reichte Thorin eines. „Die reichen für eine ganze Armee!“

Ihr Wegbegleiter nahm das Paket an sich, fing mit der anderen Hand sie ein und dirigierte ihren Körper zu sich, bis er an seinen gepresst wurde. Wie ein Taschendieb stahl er einen Kuss von ihren Lippen. „Oder für einen hungrigen Zwerg.“ Unbeabsichtigt kam seine Hand genau auf ihren Rippen zum Erliegen und Thorin erahnte, wie sie, verhüllt von Wolle und Leder, sich unter ihrer Haut abzeichneten. Ihr Zustand hatte ihm wie ein Spiegel sein eigenes Versagen ihr gegenüber aufgezeigt. Dass sie schon bald diesen Makel verlieren würde, war ein schwacher Trost.

Ihre Narben hatten sich in ihre Seele hineingegraben.

Nichts wird mehr so sein, wie es einst war.

„Iss. Wir müssen uns stärken.“ Seine Stimme klang kühler als gewollt. Er ließ sie los und schickte sie zu ihren Rucksäcken und Decken. Kaum hatte sein Mädchen sich ungewohnt widerstandslos dort drüben mit ihren Broten bequem gemacht, bereute er nun die Distanz. Ihre Nähe den Tag über auf dem Pferderücken hatte ihn fatalerweise das ausblenden lassen, was in Erebor auf sie warten würde. Thorin fluchte leise. Seine Stimmung war die letzten Tage ein ständiges, unberechenbares Auf und Ab gewesen. Oft verbarg er seine Gedanken an den Fluch hinter einer Maske. Langsam aber sicher kehrten sie zurück – als würde mit jeder Meile gen Osten der Bannzauber bröckeln, den das Haus am Waldrand für ihn geschaffen hatte.

Der Drache wartet auf uns, mell nin. Du schwebst in großer Gefahr.

Kaum gedacht spürte er Smaugs Geist sich in seinem Gefängnis regen, als würde ein Nebelstreif seine Haut in der Dunkelheit streifen. Tief in seinem eigenen Ich eingeschlossen… Und dennoch nicht tief genug.

Nachdem er erwachte, hatte er geschworen, Marie erst zu holen, wenn es sicher für sie war, wenn sie eine Lösung für Smaugs Fluch gefunden hatten. Seine Hoffnungen waren von den Klauen des Monsters in Stücke gerissen worden.

Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, als er die Frau beobachtete, deren Schicksal ab sofort in seinen Händen lag. Marie biss in ihr Brot und legte den Kopf in den Nacken, um den Vögeln in den Bäumen zu lauschen.

Das erinnerte Thorin daran, dass er selbst noch nichts gegessen hatte. Er wickelte ein Brot aus dem Papier und biss hinein, ohne wirklich etwas zu schmecken. Marie begann, in ihrem Rucksack zu kramen. Der Bissen wäre ihm fast im Hals stecken geblieben, als sie die Steine aus der Tasche nahm, die er für sie bearbeitet hatte. Der Anblick des dünnen Streifen Goldes auf dem Stein verfehlte selbst aus dieser Entfernung seine Wirkung auf ihn nicht.

Wenn sie wüsste, wie lange er gehadert hatte, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, wie viel Überwindung und Nerven diese verfluchten Steine ihm gekostet hatten. Die handwerkliche Arbeit war im Verhältnis zu seinem Können als Schmied eine kinderleichte Aufgabe gewesen, doch das Berühren, Schmelzen und das, auf die in Form geschlagenen Steine zu tröpfelnde Gold stellte sich als fast unlösbare Aufgabe heraus. Eine Schande für jeden Zwerg.

Egoistisch hatte er in Wahrheit damit anfangen gewollt, sich selbst auf die Probe zu stellen, wie schwer die Sehnsucht nach dem Schatz des Berges wirklich war. Es stellte sich heraus, dass allein schon der Anblick des glänzenden Edelmetalls ein Problem war. Er hatte so lange auf die Münzen gestarrt, wie die Schlange auf die Maus, dass er sein Zeitgefühl gänzlich verloren hatte. Er hatte Stunden gebraucht! Wenn er beim Schmelzen von zwei oder drei Goldmünzen schon solch Überwindung brauchte, wie sollte es erst werden, wenn er wieder daheim war und einen Schatz von gewaltigen Ausmaßen unter seinen Füßen schlummern wusste?

Thorin legte sein Essen beiseite. Ihm war der Appetit vergangen. Es musste doch eine Lösung für all das geben! Wieder flog sein Blick zu der Frau vor ihm auf dem Waldboden.

Marie hatte keine Ahnung, welche Macht sie über ihn besaß. Ihr Leben war mit dem seinen unwiderruflich verbunden. Er musste sie vor dem Drachen beschützen, egal, was es kosten mag. Eher würde er sterben als sie Smaug auszuliefern. Mit diesem Gedanken holte er den Dolch, den er stets in seinem Stiefel verwahrte, hervor und verließ seinen Platz.

„Wenn wir in Erebor sind, wirst du lernen, wie man eine Waffe führt.“ Als Marie die Waffe erblickte, mit der er auf sie zukam, verharrte sie erstarrt. „Jede Frau unseres Volkes weiß, wie sie sich zu verteidigen hat.“ Thorin ging vor ihr in die Hocke und drehte den Dolch der Länge nach, um ihr den Griff entgegenzuhalten. „Der gehört von nun an dir.“

Nur sehr zögerlich nahm Marie den Dolch, sah die spitz zulaufende Klinge entlang, fühlte, wie der Griff in ihrer Hand lag. „Bist du dir sicher?“

„Ja.“

„Aber der Krieg ist vorbei. Smaug ist tot. Wozu brauche ich in Erebor dann noch eine Waffe?“

Als sie den Namen der Bestie aussprach, tat er einen tiefen Atemzug gegen den Schatten, der damit heraufbeschwört wurde. „Egal, ob du in Erebor, Dale oder in der Wildnis fernab der Wege bist. Ich möchte, dass du dich jederzeit verteidigen kannst. Es reicht nicht mehr aus, einem Angreifer eine mickrige Kräutersichel unter die Nase zu halten, verstehst du?“ Das kurze Aufleuchten in ihren besorgten Augen war der Beweis, dass sie sich ebenfalls noch immer an das Wiedersehen im mondbeschienenen Wald erinnerte. „Der Dolch soll allein deiner Verteidigung dienen. Trage ihn nahe am Körper, so wie ich es getan habe. Tu mir den Gefallen.“

Noch unschlüssig sah sie auf die Waffe, die sie nun ihr Eigen nennen konnte. Eine echte Waffe aus Eisen und Stahl. „Wirst du mir beibringen, wie ich damit umgehe?“

„Natürlich.“ Thorin hauchte einen Kuss auf ihre Stirn. „Jedoch hoffe ich, dass du ihn nie einsetzen musst.“

 

 

2

 

 

Wie fühlt es sich an, jemanden zu töten?“ Ihr Flüstern wäre untergegangen im Prasseln des Lagerfeuers, wenn Thorin nicht so nah bei ihr gesessen hätte.

„Warum möchtest du das wissen?“

„Ich denke, du bist derjenige, der mir eine Antwort geben kann. Und weil du nun mal der Einzige bist, der gerade hier ist.“

„Auch wieder wahr.“ Der Krieger schmiegte seinen Mund an ihre Schläfe, legte die Arme enger im ihren zierlichen, von Fellen und Decke umhüllten Körper, die sie sich teilten. „Es verändert dich, wenn es das ist, was du hören willst. Unwiderruflich verändert es dich. Es wird zur Gewohnheit, sobald du ein Schwert in die Hand nimmst, mit jedem Leben, das du nimmst. Und man denkt nicht mehr.“ Vom letzten Satz irritiert schaute sie ihn an und er tippte ihr auf die Stirn. „Da drin ist nichts mehr. Du oder dein Gegenüber. Das ist alles, was zählt an diesem Tag. Der Stahl in deiner Hand, das Blut in deinen Adern; das ist dein restliches Leben. Du lebst nur noch von Sekunde zu Sekunde, von Gegner zu Gegner und hoffst, dass du nicht der Nächste bist. Moria hat mir damals die Augen geöffnet. Über den Krieg und was der Tod bedeutet. Eine der Erfahrungen, die mich zu dem gemacht haben, der ich heute bin.“

Er verheimlichte etwas vor ihr. Das Wissen über dieses Geheimnis nagte täglich an ihr, aber Marie wusste auch, dass sie mit Druck nur Gegendruck erzeugen würde. Und so ließ sie ihn sprechen. Er war hier, er saß bei ihr und dennoch waren seine Gedanken weit weg auf den Schlachtfeldern seines Lebens. Marie hörte nicht, was er hörte, sah nicht das, was er sah, und doch konnte sie es sich sehr gut vorstellen.

„Man tötet den ersten Ork, dann den zweiten und dritten. Du hörst auf zu zählen oder fängst gar nicht erst an. Irgendwann tötest du jeden, der dir zu nahe kommt - alles, um deine eigene Haut zu retten. Du spürst das immer schwerer werdende Schwert in deiner Hand, und denkst dir, sollte ich das verlieren, dann bin ich tot. Das einzige, auf das du dich verlassen kannst, sind deine eigenen Fertigkeiten, der Boden unter deinen Füßen und die Männer, die dir den Rücken decken. Ein Fehler deinerseits oder ihrerseits und es könnte dein Ende sein.“

Es war das zweite Mal, dass Thorin ihr von der Schlacht der Fünf Heere erzählte, wie der Kampf im Tal des Einsamen Berges von Chronisten getauft worden war. Aufmerksam hörte Marie zu, sog jedes Wort, jede Reaktion in seinem Gesicht auf, die in ihrer Gesamtheit ein erschreckend echtes Bild von dem erschufen, was sich damals vor Erebors und Dales Toren zugetragen haben musste. Irgendwann roch sie das Blut und den Geruch der Leichen, als stünde sie selbst an jenem verheerenden Tag an diesem Ort.

„Irgendwann zählst du nicht mehr die Leben, die du genommen hast, sondern die, die du beschützt hast“, endete er. Inzwischen war das Feuer runtergebrannt und die Sterne zwischen den Baumwipfeln erschienen. In seinem Schoß sitzend wandte Marie ihren Blick nicht von den Flammen ihres kleinen Lagerfeuers ab. Es war das einzige Licht meilenweit in einer stockfinsteren Nacht.

„Ich zähle die Leben, die ich nicht beschützen konnte“, flüsterte sie. Als Heilerin hatte Marie schon oft Gebärende sterben sehen, wenn das Kind im Mutterleib feststeckte. Sie hatte Frauen im Wochenbett am Fieber verloren oder Greise ihren letzten Atemzug nehmen sehen. Sie hatte amputiert, genäht, abgeschnitten, gerettet, eingerenkt und letztendlich auch ihre eigenen Eltern begraben müssen. Verloren an eine Krankheit, die sie nicht heilen konnte.

„Der Tod ist dir nicht fremd. Aber auf eine andere Art und Weise wie ich ihn erlebt habe“, wisperte er.

„Wir haben ihn selbst schon ganz nah erlebt. Wir beide.“

„Erzählst du mir davon?“

Er hatte sie gefunden: ihre Gedanken an dem Tag, an dem sie ihr eigenes Schicksal herausgefordert hatte. Es ihm erzählen… Was sollte sie ihm sagen? Wie sollte sie es? Er würde es vielleicht nicht verstehen, was sie dazu trieb und was sie letztendlich davon abhielt. Sie selbst konnte es ja nicht einmal.

„Obwohl die Sonne schien, sah ich kein Tageslicht mehr. Das ist das einzige Beispiel, was mir einfällt, um am besten zu beschreiben, wie ich mich gefühlt habe.“ Thorin schwieg, um sie nicht zu Unterbrechen. Sie spürte, dass es ihm wichtig war, ihre Geschichte zu hören. Es war das Vertrauen in eine bessere Zukunft, weswegen sie den Mut fasste, über Dämonen zu sprechen. Es viel ihr schwer, doch sie war es ihm genauso schuldig.

„Ich kannte eine Mutter von fünf kleinen Kindern in Dethmolt. Sie war die Frau des Müllers. Eines Tages brachte ihr Mann mit einem Pferdekarren Mehl ins nächstgelegene Dorf. An dem Tag zog ein Unwetter auf und überraschte den Müller auf halber Strecke. Der Wagen geriet in ein Schlagloch und eine Speiche brach. Der Müller besah sich den Schaden. Ein Donnergrollen versetzte die Tiere so in Panik, dass sie durchgingen. Der Müller geriet zwischen Wagen und Tieren und starb noch an Ort und Stelle. Als die Frau von dem Unglück erfuhr, saß sie tagelang auf dem Bett und rührte sich nicht mehr. Die Kinder bettelten um Aufmerksamkeit. Sie hatten Hunger und Durst, doch die Mutter fand keine Kraft, selbst für die einfachsten Aufgaben. Der Älteste kümmerte sich mit zehn Jahren um die Geschwister. Er versuchte zu kochen und Haus und Hof ordentlich zu halten. Schnell fiel den Nachbarn auf, dass etwas nicht stimmte. Sie versuchten, auf die Mutter einzureden, doch sie saß da, als würde sie sie gar nicht wahrnehmen. Als wäre sie hinter Glas gefangen, taub und blind. Und wenn sie sprach, dann schrie sie die anderen Frauen an, wie ein in die Ecke getriebenes Tier. Meine Mutter wurde dorthin gerufen, doch sie konnte ihr nur Tränke geben, die sie ruhig stellten. Gegen ihre gebrochene Seele hatte auch sie kein Mittel. Eines Morgens fand man die Müllersfrau im Wald mit einem Seil um den Hals an einem Baum hängend. Damals hab ich nie die Beweggründe der Menschen verstanden, die sich so veränderten. Heute kann ich sie verstehen. Es ist, als würde man in ein Loch fallen und es nicht aus eigener Kraft heraus schaffen. Entweder man schafft es oder man geht dort unten zu Grunde. Nur diese zwei Möglichkeiten scheint es zu geben.“ Sie drehte Thorin das Gesicht zu. Wie aus Stein waren seine Züge. „Ich war wie diese Frau. Als ich von deinem Tod erfuhr, sah ich keine Sonne mehr. Ich habe versucht, zu kämpfen – ich habe es wirklich versucht…aber irgendwann habe ich aufgehört. Ich wollte dieses Leben nicht mehr. Ich wollte, dass es aufhörte, weh zu tun. Aber mir wurde klar, was ich zurücklassen würde: meine Familie, Anna, Greg und Mel. Sie sollten nicht dasselbe durchleben, was ich durchlebte. Einmal sagtest du, wenn dir etwas passieren sollte, möchtest du, dass ich weiterlebe. Ich sollte dich loslassen, damit ich frei bin. Das hört sich verrückt an, aber genau diese Worte kamen mir in diesem Moment in den Sinn, obwohl sie schon so lange zurück lagen.“ Sie schüttelte den Kopf und unterstrich damit ihre folgenden Worte. ,,Ich rührte das Gift nicht an, konnte es nicht. Ich bin Heilerin, ich habe immer versucht, Leben zu retten. Ich werde es vielleicht niemals tun können… Jemand zu töten, verstehst du?“

Es dauerte lange bis Thorin antwortete. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und seufzte schwer. „Ich habe dasselbe erlebt.“ Marie hob die Augenbrauen. „Nach dem Tod meiner Familie in Moria habe ich angefangen zu trinken.“

,,Das erzähltest du.“

„Nicht nur ein bisschen Trinken. Ich schoss mich ab mit hartem Schnaps, bis ich Tagaus, Tagein im Rausch lebte. Es war in Wahrheit eine Flucht aus der Realität. Der Alkohol ließ mich vergessen. Und es tat gut, nach Moria vergessen zu können. Ich merkte nicht, wie ich Kili und Fili vernachlässigte. Ich war nicht da für sie, als sie mich am meisten brauchten. Ganz so wie die Mutter aus deiner Erzählung… Blind und taub, für die, die man lieben und umsorgen sollte. Das ging so weit, dass man mir die Jungs wegnehmen wollte.“ Die Erinnerung, wie König Baryn ihm die Entscheidung, die man über seinen Kopf hinweg gefällt hatte, bekannt gab, war auch Jahre später noch schrecklich real. „Das konnte ich nicht zulassen.“

„Mir scheint, als haben wir in demselben Loch gesessen, du und ich.“ Ihr Lächeln war zart und wehmütig, aber es war da und es tat gut nach all der grauen Vergangenheit. „Sieh uns nur mal an. Wir sind ganz schön kaputt.“

Thorin strich ihre Wangenknochen nach, die stärker hervortraten als früher. Es waren jedoch dieselben smaragdgrünen Augen, in die er sich vor so vielen Sommern verliebt hatte. „Helden werden nicht geboren, mell nin. Wir mussten erst zu solchen werden.“

Sie prustete. „Eine Heldin? Ich? Nie und nimmer. Du hingehen…“ Beide Arme legte sie um seinen Nacken und hielt sich daran fest. „Du hast dich selbst geopfert, um Azog zu töten und damit den Krieg beendet. Mehr Held kann man gar nicht sein, wenn du mich fragst.“

„Ein Held, der seine Schattenseiten hat.“

Anklagend sah sie ihn an. Warum sah er nicht ein, dass er in die Geschichtsbücher des Einsamen Berges eingegangen war? Und warum sind seine Gedanken immer noch so düster? Höchste Zeit, dies zu ändern…

„Würden Mylord“, wie eine Schlange schob sie träge ihr rechts Bein über ihn, bis sie rittlings auf ihm saß, „mir diese zeigen? Seine Schattenseiten?“ Die Decke rutschte von ihren Schultern und entblößte nackte Haut. Die Kordeln waren aufgefädelt und das Hemd bis auf die Arme herab gezogen, sodass der Stoff gerade noch so die Spitzen ihrer Brüste verdeckte, deren Hügel im Feuerschein einladend gewölbt ihm dargeboten wurden.

Wann, bei Durins Axt, hatte sie…? Sein Blick wurde dunkel, als er die Gänsehaut auf ihren Brüste sah, die von der nächtlichen Kälte umspielt wurden. Diese hinterhältige Frau würde ihn noch um den Verstand bringen. „Du spielst mit dem Feuer, Mädchen.“

Sein raues Flüstern trieb Marie dazu, mit ihm zusammen in einem Kuss zu versinken, worauf sie begann, ihr Becken auf seinem Schoß zu reiben, genauso wie sie es haben wollte. „Gebt Acht, Mylord, dass ich mir nicht die Finger verbrenne“, raunte sie, die Lippen erneut seine findend. Gierig kostete sie seinen Geschmack, während sie den Mantel von seinen Schultern zu schieben versuchte. „Zieh dich aus...“ Ihrem Wunsch kam er zur allzu gerne nach. Dieser König gehörte für diese Nacht keinem Reich und keinem Volk. Er gehörte ihr.

Sie ließ zu, dass er seine Finger in ihr dichtes Haar grub, seinen Mund hart auf ihren presste und seine Arme sie an seine Brust zogen, die vor Hitze zu glühen schien. Ungeduldig verfolgte sie, wie seine Hand zwischen ihren Körpern hindurch und unten den Bund ihrer Hose glitt. Trotz prophezeitem Muskelkater stemmte Marie sich auf die Knie, um es ihm leichter zu machen. Sein Finger fand mit Leichtigkeit den Weg zu ihr intimste Stelle. Ein Reiben, ein Knistern in ihren Nerven und das ersehnte Gefühl, zu schmelzen folgte. Wieder und wieder stieß sein Finger in sie hinein, streichelte ihr zartes Innerstes und verteilte sündhaft langsam die Feuchte, die ihren Schoß weitete. Marie versuchte, ihre verzückten Laute zu unterdrücken, was ihr kaum gelang. Der Krieger dämpfte ihr Wimmern mit seinem Mund und trieb geleichzeitig ihre Lust auf die Spitze des Erträglichen. Der Schmerz in ihren Oberschenkeln wurde zu groß. Sie wäre in sich zusammengesunken, hätten starke Arme sie nicht gehalten. Als Revanche versuchte sie nun, seine Männlichkeit zu befreien, die sich ihr schon durstig entgegen drängte. Thorin lockerte den Gürtel und streifte seine Hose nur so weit herunter, wie es sein musste. Beiden war es nur recht. Ihre angestachelte Begierde kannte keine Geduld. Sie brauchten einander. Und zwar sofort.

Im nächsten Moment verfluchte Marie ihre eigene Hose, die zwar für das Reiten praktisch, für andere Freuden im Leben jedoch sehr unvorteilhaft war. So musste sie von ihm runter und das hinderliche Leder von ihrem Hintern zerren. Das Hemd folgte sogleich. Die Kälte war verflogen. Sie hatte nur noch Augen für den Mann, der auf den Fellen im Feuerschein saß und sie begehrte. Adern zeichneten sich unter der feinen Haut seines Phallus ab, prall und rosig ihr entgegen gereckt.

Die Decke wurde um ihre Hüfte drapiert. Marie drückte ihn dorthin, wo sie ihn haben wollte, und fühlte, wie er ohne Hindernis in sie glitt, sie dehnte und herrlich ausfüllte. Vor Wonne stöhnend ließ sie den Kopf in den Nacken fallen und fand ihre Erlösung. Gefügig legte sich Thorin auf die Decken, ließ zu, dass ihre Hände die seine nahmen, sie niederdrückten. Seine Augen waren auf die Frau über ihn gerichtet, die mit den sündigen Bewegungen ihres Körpers für den Rest der Nacht die alleinige Gewalt über ihn hatte.

 

3

 

 

Wie eine flauschige Wolke verweilte Wärme um ihren Körper, als Marie träge blinzelnd feststellte, dass die Sonne noch nicht einmal aufgegangen war. Diesiges Grau, dazwischen die schemenhaften Skelette der Bäume waren alles, was sie vom Wäldchen erkennen konnte, in dessen Schutz sie die Nacht verbracht hatten. Vereinzelt sah sie noch Sterne zwischen dem noch nicht vorhandenem Blätterdach des jungen Jahres am Himmel stehen. Normalerweise wäre sie wie jeden Tag von ihrer inneren Uhr geweckt worden. Eben jene verriet ihr, dass es noch viel zu früh war.

Marie gähnte herzhaft und kuschelte sich tiefer in die Decken und Felle. Die Gelegenheit der frühen Stunde nutzend, rückte sie mit dem Gesäß weiter nach hinten, doch stieß sie zu ihrer Verwunderung nirgends an. Ein Blick über die Schulter sagte ihr, dass Thorin nicht da war. Marie setzte sich auf und erschauderte. Zu früh und zu kalt! Die Wolle der obersten Decke und der Waldboden waren feucht vom Nebel, dessen Schwaden er durch den Wald geschickt hatte. Eilig presste sie die Decken an ihren sehr spärlich bekleideten Körper. Sie überlegte, sich wieder schlafen zu legen. Orcrist lag noch an genau derselben Stelle, wo der Krieger es gestern Nacht griffbereit abgelegt hatte. Er konnte also nicht weit weg sein.

Ruhigen Gewissens mummelte sie sich wieder ein. Wahrscheinlich ist er in die Büsche verschwunden, dachte sie und versuchte, noch ein bisschen zu schlafen. Auf ihrer Reise zum Erebor konnten sie es sich leisten. Jegliche Verpflichtungen und jene, die noch auf sie warten würden, waren weit weg. Diese Tage gehörten nur ihnen. Marie jedenfalls würde sie nutzen, um Mauern einzureißen und das Band zwischen ihnen neu zu knüpfen. Das hatte sie sich fest vorgenommen.

Auch nach einigen Minuten, die vergangen sein mussten, war Thorin nicht zurückgekehrt. Mit aufkeimender Sorge entschied Marie, aufzustehen und nach ihm zu schauen. So schnell wie sie mit klappernden Zähnen imstande war, sammelte sie ihre Klamotten zusammen und zog sich von einem Bein auf das andere hüpfend an. Dann rief sie seinen Namen. Nur Ferrox, der einige Meter weiter angebunden stand, reagierte und hob den Kopf. In der Dunkelheit tastete sie nach dem Dolch, den sie gestern Abend bei ihrem Rucksack abgelegt hatte. War Thorin gar etwas zugestoßen? Würde sie den Dolch schon jetzt brauchen?

Die Tatsache, dass Gonzo durch diese Waffe gestorben war, versuchte Marie vehement auszublenden, und überlegte, wie und wo sie sie in Zukunft tragen sollte. Thorins Beispiel folgend entschied sie, dass der Dolch an ihrem Stiefel mit den Schnürsenkeln fixiert für den Anfang am besten aufgehoben war. Mehr stolpernd als gehend schlug sie den Weg zum Bach ein, der ihr die Richtung durch sein leises Gurgeln verriet.

„Thorin, bist du hier?“ Sie hätte zuerst versuchen sollen, das Feuer wieder in Gang zu bringen. Sie konnte kaum etwas sehen! Sie musste zurück zum Lager und versuchen, eine Fackel oder so etwas in der Art zu bauen. Himmel noch eins, wo steckte dieser Mann mitten in der Nacht?

Der tiefschwarze Schatten, der im Nebel auftauchte, ließ sie innehalten. Plötzlich spürte sie ihr Herz von ihren Instinkten getrieben von einem Moment auf den anderen rasen. Um besser sehen zu können, kniff sie die Augen zusammen. Ein Ast knackte unter schwerem Gewicht. Schnell kam die Erkenntnis, dass das ein Tier war. Ein Schnüffeln aus der Dunkelheit und dann das charakteristische Geräusch, welches ein Bär von sich gab.

Der Atem stockte ihr. Eiseskälte lief ihr das Rückgrat hinab, als die Konturen des Bären erkennbar wurden. Die Angst trieb sie von der Stelle. So leise, wie ihr das Beben ihres Körpers ermöglichte, versuchte sie zurück zum Lager zu kommen. Doch ihr hämmerndes Herz, das Laub unter ihren Stiefeln und ihr Geruch lieferten sie dem wilden Tier gnadenlos aus.

Der Bär entdeckte sie.

Obwohl sie wusste, dass ihre Überlebenschancen auf Null sinken würden, wenn sie keinen Baum fand, auf den sie sich retten konnte, rannte Marie in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sofort nahm der Bär die Verfolgung auf. Der Dolch war keine Waffe gegen diesen Koloss. Er wäre lediglich der Zahnstocher, nachdem er sie gefressen hatte.

Krachend bahnte der Bär sich seinen Weg durch das Unterholz. Ihre Lungen beförderten keine Luft mehr. Der Schrei nach Hilfe steckte in ihrer Kehle fest und presste sie zu. Keiner der Bäume war geeignet. Zu dünne oder zu mächtige Stämme glitten im Dämmerlicht an ihr vorbei. Plötzlich war sie wieder im Lager und steuerte verzweifelt auf den erstbesten Baum zu. Dessen Zweige hingen tief herab. Vielleicht konnte sie es... Sekunden später brach der Bär hinter ihr auf die Lichtung. Beim Anblick des Raubtieres wieherte Ferrox auf, riss panisch am Strick. Der Bär schien verunsichert zu sein und stoppte. Das war ihre Chance!

Marie erreichte den Baum und sprang noch im Laufen hoch. Ihre Hände aber griffen ins Leere. Erfolglos kam sie wieder auf den Boden auf, versuchte, sich so weit wie möglich zu strecken. Der Ast war direkt über ihr…doch ihre Körpergröße ließ sie auch dieses Mal im Stich. Die Erkenntnis brach mit brutaler Realität über sie zusammen. Sie würde es nicht schaffen.

Ferrox stieg. Die Öse an seinem Halfter brach entzwei und der Hengst stürmte durch den Nebel davon. Ihre letzte Fluchtmöglichkeit war dahin.

Marie taumelte zum Lagerfeuer und starrte in die kalte Asche. Wenige Meter vor ihr richtete sich der schwarze Bär zu seiner vollen Größe auf und brüllte sie an, als wäre sie selbst schuld. Fäden von Speichel hing zwischen seinen Fängen. Gelbliche Eckzähne unterschrieben ihr Todesurteil.

Einer Verzweiflungstat nahe griffen ihre Hände Orcrist und reckten das Schwert dem Bären entgegen. Sie konnte die schwere Waffe kaum halten. Tränenverschleiert sah sie, wie riesig der Bär in Wirklichkeit war. Er würde sie in Stücke reißen.

Sie sah an Orcrist Klinge entlang, bis ihr Blick an der tödlichen Spitze verweilte. Dann visierte sie die Brust des Bären an…

„BEORN!!“ Mit erhobenen Händen stand plötzlich Thorin zwischen ihr und dem Tier. Völlig schutzlos. Er hielt bloß eine brennende Fackel in der einen Hand, während er die andere weit über seinen Kopf gestreckt hielt, als wollte er mit seinem ganzen Körper signalisieren, dass von ihm keine Bedrohung ausging. Der Bär brüllte ihn an. Die Fackel wurde zu Boden geworfen, wo sie zischend im feuchten Laub weiter schwelte. „Leg das Schwert nieder.“

Marie glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. ,,Bist du verrückt?! Er wird dich zerfleischen!“

,,Vertrau mir.“ Die Ruhe in seiner Stimme machte sie fassungslos. „Leg es einfach hin.“

Weil ihr nichts anderes mehr übrig blieb, tat Marie, was er sagte, und starrte auf das Schauspiel, das sich nun vor ihren Augen abspielte.

 

~

 

Sie schlüpfte durch die Tür, von der sie angenommen hatte, zu einer Scheune zu gehören. Kaum, dass sie die grob gehauene Schwelle übertreten hatte, schlugen ihr vertraute Gerüche entgegen: Heu und Stroh, von Rauch durchzogenes Holz, Kräuter, Honigblüten, warmes Fell von Tieren.

Das Gebäude öffnete sich zu ihrer Linken. Unförmige Fenster im Mauerwerk ließen die Morgensonne hinein und gaben den Blick frei auf die riesigsten Möbelstücke, die Marie je gesehen hatte. Sie ließ ihren Rucksack und die aufgerollten Decken ins Stroh sinken, erstaunt von dem Haus, das jenseits des Wäldchens lag.

„Das ist Beorns Heim.“

Marie mied es, in Thorins Richtung zu sehen und bestaunte stattdessen die hölzernen Stützpfeiler, auf denen sich eine Vielzahl an kunstvollen Schnitzereien tummelten. Sie hörte, wie er das restliche Gepäck neben ihres tat, Zaumzeug und Sattel klimperten und knarzten. Anscheinend ging er davon aus, dass Ferrox noch in der Nähe war, sonst hätte er die Ausrüstung nicht mitgeschleppt. Marie bezweifelte das stark. Die Panik, die dem Tier in den Augen stand, hätte ihn bis an den Rand der Welt gebracht. Wahrscheinlich war er schon meilenweit entfernt. Ferrox hatte das einzig Richtige getan; sein Heil in der Flucht zu suchen. Wenn sie die Schnelligkeit eines Pferdes besessen hätte, wäre Marie ihm ohne mit der Wimper zu zucken gefolgt. Der Geschmack der Angst lag noch immer auf ihrer Zunge und erinnerten sie daran, dass sie nur knapp dem Tod von der Schippe gesprungen war.

Um ihren demonstrativen Abstand zu bewahren, den sie seit dem Vorfall zu ihm eingenommen hatte, ging sie zwischen zwei großen Kühen hindurch, die rechts und links völlig unbeeindruckt von den Fremden im Stroh wiederkauten, und hinüber zum Wohnteil des Gebäudes. Stünde Thorin in ihrer unmittelbaren Nähe, würde sie sich nicht länger zusammenreißen können und noch einmal auf ihn losgehen.

,,Beorn wird uns nichts mehr tun.“

Marie rollte mit den Augen. Warum konnte sie das nicht so recht glauben?

,,Er ist halb Bär und hat seinen eigenen Kopf. Doch er hat uns nicht ohne Grund hier her geführt. Wir sind hier sicher.“

Vor einem Sessel, der einem Riesen gehören musste, blieb sie stehen und schluckte den bissigen Kommentar, dass gerade er von Sicherheit sprach, während sie fast zerfleischt worden wäre, runter. Sie war immer noch sauer. Stinksauer.

Es war sonderbar und geradezu unheimlich gewesen wie Thorin mit erhobenen Händen vor diesem Tier stand und einfach sprach: ,,Mein Name ist Thorin Eichenschild. Du kennst mich, Beorn“, und der Bär sich auf alle Viere fallen ließ. Hinter dem Krieger Schutz suchend konnte sie nur zusehen, wie der Koloss ihnen so nahe kam, dass sein Atem sie einhüllte. Er beäugte Thorin lange Zeit, schnüffelte an ihm, bis er schließlich schnaubte, als wäre er nicht besonders glücklich über den Ausgang seiner Jagd, und unverrichteter Dinge umdrehte. Festgewurzelt starrte Marie dem Bären nach, der stehen blieb und einen Blick zurückwarf, als erwarte er, dass sie ihm folgten. Marie war die Erste, die sich rührte.

Thorin konnte sein Gesicht gerade noch so wegdrehen, bevor ihre flache Hand ihn erwischte. So fest sie konnte, schlug sie nach ihm. Sie wollte ihm wehtun, dass er grün und blau wurde, sie wollte es ihm heimzahlen… Doch ihr geschockter Körper zahlte den Preis. Ein Zittern rollte durch sie hindurch, was ihr den Boden unter den Füßen nahm. Die Schluchzer konnte sie nicht mehr zurückhalten. Thorin griff nach ihren schlagenden Händen, zog sie an sich und ertrug schweigend ihre Wut.

Um wenigstens etwas zu sagen, rang sie sich die Frage ab, über die sie schon geraume Zeit nachdachte und die nicht ganz unerheblich war. ,,Wo ist er? Der B… Beorn meine ich.“ Am Waldrand, als das Gehöft erschienen war, war Beorn, dem sie im respektvollem Abstand gefolgt waren, verschwunden. Sie würde sich um einiges wohler fühlen, wenn sie das wüsste.

„Er wird sich wandeln und dann herkommen“, klang die Antwort aus ihrem Rücken.

War es ein böser Zauber, den jemand ihm auferlegt hatte? Oder ein Fluch? Würde die Verwandlung vom Bär zum Mensch lange dauern? Dauerte es Stunden oder gar Tage? War es so ähnlich wie bei ihrem Zauber, als Gandalf ihren Körper veränderte? Oder war es ein grausamer Prozess, der Knochen brach und den Körper zerriss, nur um ihn neu zusammenzusetzen? Die Details wollte sie sich nicht ausmalen.

Neben dem Sessel stand ein dazu verhältnismäßig kleines Tischchen mit weiß-schwarzem Muster. Marie nahm eine der überdimensionalen Schachfiguren, die aufgereiht zum Spiel bereit standen. Es waren Tiere. Katzen, Füchse, Hasen, Dachse, Biber, Pferde, Otter, Hunde und Hirsche… Mit wem spielt er dieses Spiel?

„Marie.“ Ihr Name: fest und allarmiert. An dem Klang der zwei Silben erkannte sie, dass sie nicht länger allein waren. Auf Zehenspitzen stand Thorin unter dem Fenster bei der Tür im Wohnbereich und spähte hinaus. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend ging sie zu ihm. Er wartete bereits auf sie und hielt die Hand auf der Türklinke.

„Sprich erst, wenn du dazu aufgefordert wirst.“ Sie hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Schon öffnete er die Tür und trat hinaus. Zögernd blieb sie hinter ihm. Eine Bewegung im Morgenlicht erhaschten ihre Augen. Ein riesiger Mann kam den Hügel hinauf. Nur in einem groben Überwurf gekleidet stapfte er mit seiner über zweieinhalb Meter großen Statur durch das taufrische Gras. Im allerersten Moment verblüffte sie jedoch mehr die Tatsache, dass er ein Pferd am Halfter mitführte.

Beorn hatte ihnen Ferrox zurückgebracht.

Thorin verließ die kleine Veranda und ging ihnen entgegen. Er tätschelte den Hals ihres Pferdes, fuhr ihm übers Fell und die Beine hinab.

Als würden sich alle Härchen ihres Körpers kräuseln, huschte ein solches Gefühl über ihre Haut. Marie bemerkte Beorns starren Blick, der direkt auf sie gerichtet war. Augenblicklich wurden ihre Wangen heiß vor Unbehaglichkeit. Beorn sah aus wie ein Mensch und im selben Moment auch wieder nicht. Er besaß wilde Kotletten und widerspenstige Haare, die in kein Schema passen wollten. Seine Nase war sehr breit, sein Mund zu einer harten Linie verkniffen. Schnell sah sie zurück zu ihrem Begleiter, der auch die übrigen Beine des Kaltbluts abtastete.

„Ihm fehlt nichts“, stellte er fest. Sie mussten also doch nicht den Weg bis Erebor laufen.

„Wer ist deine Begleitung, Eichenschild?“ Die Stimme des Bären war kratzig und dunkel, als wäre es das erste Mal seit langer Zeit, dass gesprochene Worte seinen Mund verließen.

„Das ist Marie, Tochter von den Heilern Soren und Myrrte aus Kerrt. Ich bringe sie nach Erebor, jetzt da der Krieg vorüber ist.“

,,Ich verstehe.“ Beorn bemaß sie noch eines Blickes, als wäre sie der größere Eindringling von ihnen, dann setzte er sich in Bewegung und führte Ferrox, der lammfromm sich von dem riesigen Mann führen ließ, einen Trampelpfad entlang hinüber zur Stalltür. Thorin begleitete ihn.

Marie nahm den sichereren Weg durchs Haus und drückte sich an einen Balken, um ihnen beim Eintreten in den Stall nicht im Weg zustehen. Das Holz im Rücken ließ sie aufrecht stehen, eine große Hilfe für ihre nervösen Hände.

Der Hautwechsler führte Ferrox in eine Ecke und band ihn fest, stellte einen Eimer Wasser in seine Reichweite und nahm einen gefüllten Futtersack, den er dem Hengst über die Ohren zog. Für einen Moment war nur das herzhafte Kauen von Ferrox und seinem Hafer zu hören. Die Neuankömmlinge blickten den Hautwechsler abwartend an.

„Die Sonne ist aufgegangen. Ich muss nach meinen Tieren sehen.“ Beorn entfloh der ihm zuteilwerdenden Aufmerksamkeit und verließ das Haus. Seine Gäste blieben zurück.

Thorin wollte sich seiner Begleiterin zuwenden, doch fand er sie nicht an der Stelle vor, wo sie soeben noch ausgeharrt hatte. Stattdessen sah er ihre Kehrseite, die ebenfalls zur Tür hinaus verschwand.

 

~

 

Es war bemerkenswert. Beorns Hände glichen die eines Holzfällers, gleichzeitig aber war dieser einschüchternde Mann unglaublich sanft zu seinen Tieren. Alle suchten regelrecht seine Nähe. Hühner, Ziegen, Gänse und ein kleines Hängebauchschwein scharwenzelten um seine Beine herum, während er Tröge füllte und Futter verteilte. Dabei wirkte er durch seine Größe jedoch keineswegs plump oder schwerfällig. Die Tatsache, dass dieser Mann Stunden zuvor ein wildgewordenes Ungetüm gewesen war, ließ Gedanken von Schwarz und Weiß zu einem vielschichtigen Grau werden.

Marie zog die vom Ritt schmerzenden Beine an und schlang die Arme darum. Sie fieberte dem Tag entgegen, an dem der Muskelkater weniger wurde. In der Ferne galoppierten gescheckte Ponys über eine Koppel. Sie verfolgte ihr ausgelassenes Treiben und ließ das Lächeln zu, welches ihre Lippen kitzelte. Durch die Äste Baumes hindurch, unter dem sie saß, malte die Sonne Streifen auf ihre Kleidung. Die Heilerin schloss die Augen und genoss die Idylle, die dieser Hof ausstrahlte, hörte Bienen aus den Körben dort drüben unter den Linden eifrig summen und ein Chor an Vögeln in den großen Bäumen, die rund um das Gehöft standen, den Frühling besingen. Beorns Heim war der friedlichste Ort, den sie je kennenlernen durfte.

Die frische Morgenluft und die Sonnenstrahlen ließen das Geschehen von heute Nacht in weite Ferne rücken. Doch das Gefühl der Angst hatte sich tief in ihre Seele hineingegraben, das nun bei dem ersten Gedanken an den Vorfall wieder hochkam. Und noch immer war da diese Wut und das Unverständnis.

Wie eine aufziehende Gewitterwolke am blauen Himmel näherte sich ihr Wegbegleiter mit genauso düsterer Miene. Demonstrativ sah sie in eine andere Richtung, bis er so nah war, dass sie ihn nicht mehr ignorieren konnte. Thorin hielt ihr ein eingepacktes Päckchen hin.

„Du hast noch nichts gegessen.“

„Hab keinen Hunger.“ Sie konnte seine Frustration beinahe greifen, so schwer lag sie in der Luft.

Der Krieger stieß ein genervtes Schnauben aus und warf das Brot neben ihr ins Gras. „Lass uns darüber reden. Bitte.“

Mit gespieltem Unglauben riss sie die Augen auf. „Reden? Diese Worte können unmöglich aus deinem Mund gekommen sein.“ Dann stand sie auf und wollte an ihm vorbei. Sie hatte keine Nerven für dieses Gespräch. Weit kam sie nicht.

„Marie, hör mir zu…“ Er bekam ihren Arm zu fassen.

Mit aller Heftigkeit schlug sie seine Hand von ihrem Körper und funkelte ihn an. „Was?!“

„Es tut mir leid.“

„Es tut dir leid?! Ich wäre fast gestorben!“

„Ich habe mich entschuldigt, was willst du noch von mir hören?“

„Wo du verdammt nochmal mitten in der Nacht gewesen bist!“ Sie brauchte die Luft, die sie mit jedem Wort aus ihren Lungen presste, um wieder frei atmen zu können. Es war ihr egal, dass er genauso wütend wurde. Es war ihr so egal, wie sie ihm egal gewesen war, als er sie allein gelassen hatte. Sie wollte es sogar. Ihn wütend machen. Er sollte wissen, wie es sich anfühlte!

Auf ihre Frage hin öffnete und schloss sich sein Mund unverrichteter Dinge. „Fallen aufstellen“, presste er endlich eine Antwort hervor.

Sie glaubte, sich verhört zu haben, blinzelte ein paar Mal ungläubig hintereinander. „Mitten in der Nacht ziehst du los zum Fallenaufstellen? Hatte das nicht Zeit gehabt bis Tagesanbruch? Außerdem haben wir noch genug Proviant von Hilda. Das war also überhaupt nicht nötig gewesen!“

Thorin sah so aus, als würde er jeden Moment explodieren. ,,Ich habe Fallen aufgestellt, weil ich nicht schlafen konnte. Um ein Frühstück zu fangen. Bist du nun zufrieden?“

„Das ist noch lange keine Rechtfertigung!“ Marie kam erst so richtig in Fahrt. ,,Wenn man nicht schlafen kann, dann sucht man sich eine andere Beschäftigung und liefert seine Partnerin nicht einem Bären aus. Du hast doch gewusst, dass er in der Nähe wohnt!“

„Meinst du allen Ernstes, ich hätte dich absichtlich Beorn zum Fraß vorgeworfen? Wenn du das denkst, dann…“ Sie bemerkten den Hautwechsler, als es schon zu spät war. Er stand in der Haustür und blickte zu ihnen hinüber. Abgeklärt und emotionslos.

Aus Scham sah Marie zu Boden, wollte diese Worte ungeschehen machen. Beorn hatte sie nicht verdient. Doch sie waren nun einmal ausgesprochen und ließen sich nicht mehr zurück nehmen. So schnell wie sie konnte ging sie zu ihrem wartenden Gastgeber und schlüpfte unter seinem Arm hindurch. Sie wollte nur noch so viel Raum zwischen sich und Thorin bringen, wie ihr Herz es zuließ.

Dieser musste zusehen, wie sie ihm abermals den Rücken kehrte und die Anwesenheit eines Fremden der seinen vorzog. Als Beorn ebenfalls im Haus verschwunden und er allein war, streckte Thorin die Finger aus, die sich zu Fäusten verkrampft hatten. Am liebsten hätte er irgendetwas kurz und klein geschlagen. Die Erkenntnis, dass sie die nächsten Tage dicht an dicht auf einem Pferderücken verbringen mussten, war ernüchternd. Sie würde ihm auf der ersten hundert Meter die Augen ausgekratzt haben.

Thorin grub beide Hände in die Haare und verwünschte seine eigene Existenz. Er hatte sie angelogen. Vergangene Nacht war er nicht Fallen aufstellen gegangen. Es war eine Lüge. Alles war nur noch eine große Lüge.

Zwischen all dem Zorn auf sich selbst, auf diese kratzbürstige Frau und die verdammte Bürde, was das Schicksal ihm aufgezwängt hatte, verstand er Maries Wut. Er hatte einen schrecklichen Fehler gemacht, der ihr beinahe das Leben gekostet hatte. Der Anblick, als er sie mit Orcrist in den Händen vor dem Bären stehen sah, rief ihm ins Gedächtnis, was hätte passieren können. Wäre Beorn nicht Beorn, sondern ein wilder Bär, hätte sie nicht den Hauch einer Chance gehabt. Ein Hieb mit der Tatze und…

Er hatte nicht nachgedacht, die Risken nicht abgewogen, sondern stattdessen den Geist aus seinen Träumen gejagt.

Thorin würde mit Maries Zorn schon fertig werden. Er musste ihr nur irgendwie seine Beweggründe erklären. Die Wahrheit war zu kompliziert und noch zu weit entfernt. Er würde das wieder hinkriegen.

Noch einmal atmete er tief durch, dann straffte er Schultern und Rücken und folgte ihnen. Trotz allem wurde er das Bild in seinem Kopf nicht los, dass der Bär auch genauso gut ein Drache hätte sein können, dem man mit Schwert und Schild gegenüber treten muss.

 

4

 

 

Du bist winzig. Was bist du? Eine Zwergenfrau oder ein sehr kleiner Mensch?“ Jeder andere hätte diese Frage als eine Beleidigung auffassen können. Marie lächelte darüber. Wenn man so groß war wie Beorn, müssten alle in seinen Augen Zwerge sein. Mit oder ohne Bart.

„Eigentlich ein Mensch. Gandalf hat einen Zauber gewirkt, der mein Äußeres veränderte.“ Sie schauten auf, als Thorin eintrat und sofort senkte Marie wieder den Blick auf die Maserung des Tisches. Diese war ihr in diesem Moment eindeutig sympathischer.

„Gandalf… Merkwürdige Dinge scheinen diesem Zauberer zu gefallen.“ Beorn füllte Thorin einen Krug mit Milch – ein Zeichen, dass auch er eingeladen war, Platz zu nehmen. Der Krieger kletterte auf die Bank ihr gegenüber und sie beschloss, dass dies der Mindestabstand war, zu dem sie sich hier im Haus einlassen würde. Würde einer seiner Füße oder seine Hand diese Linie überqueren, so war das Körperglied ein Teil von ihm gewesen.

Thorin sah ihren giftigen Blick und verengte die Augen mit einer äußerst sauertöpfischen Miene. Ihr Blickduell wurde jäh unterbrochen, als Beorn ihr ebenfalls einen Krug vorsetzte, aus dem gut und gern ein Pony hätte saufen können. „Der kleinste, den ich anbieten kann.“ Er musste ihre erstaunte Reaktion bemerkt haben. Auf der anderen Tischseite grinste Thorin in sich hinein und führte seinen Krug als wiege er nichts mit einer Hand zum Mund. Sie hätte ihm am liebsten vors Schienbein getreten, wenn ihre Beine nicht so hoch in der Luft gebaumelt hätten.

Freundlich versuchte sie, aus der Situation zu überspielen. „Nein, er ist perfekt. Danke schön.“ Um ihre Worte zu unterstreichen, legte sie die Hände um den Krug, über dessen Griff ein geschnitzter Bärenkopf thronte.

Zufrieden schenkte Beorn ihr ein. Ohne es zu wollen, musste Marie auf die eisernen Manschetten starren, die dem Mann um den Handgelenken lagen. An einer hingen noch Teile einer Kette. Die Narben, die seine Arme und Schultern übersäten, sprachen Bände. Einige waren schon alt, andere stammten aus jüngerer Zeit. Die Vorstellung, dass Beorn einst von jemanden angekettet und gequält worden war, machte sie traurig und gleichzeitig sehr wütend. Wer würde so etwas Grausames nur tun? Marie wollte nicht danach fragen und lenkte ihre Aufmerksamkeit dem Gespräch zu, das zwischen den Männern begonnen hatte.

„Erstaunlich zu sehen, dass du aufrecht stehen kannst.“

„Dank des Heilers im Lazarett und Gandalfs Zaubersprüchen“, antwortete Thorin knapp. „Aber vor allem dank der Kette.“

Die Rede war von jener Kette, die sie ihm vor Jahren geschenkt hatte und angeblich magische Kräfte besessen soll. Immerhin soll sie Thorins Leben bewahrt haben, obwohl er eigentlich seine Verletzungen nicht überleben hätte können. Sie selbst hatte noch nie irgendetwas Ungewöhnliches an diesem unscheinbaren Schmuckstück beobachten können, daher wurde sie besonders hellhörig.

Beorn machte es sich in seinem Sessel bequem und richtete nun den Blick zurück auf Marie. „Du bist die Finderin der Lyrif-Kette.“

Sie war erstaunt, dass Beorn darüber Bescheid wusste, nickte dennoch.

„Wie kamst du an sie?“

„Mein Vater brauchte sie mir von einer alten Krämerin mit, die Waren in Dale anbot. Als Geschenk.“ Dieselbe alte Krämerin, der ich geholfen habe, ihren Wagen aus dem Morast zu bekommen. Und die mir düstere Nachrichten von Thorin weissagte und danach spurlos verschwand. Thorin wusste von dieser gruseligen Begegnung. Dass dies jedoch dieselbe Frau gewesen war, die Soren damals die Kette aushändigte, wusste er nicht. Marie schielte zu ihm und rief sich die Worte der Fremden ins Gedächtnis, die ihr bis heute eine Gänsehaut bereiteten. Ein Schatten hat die Hand nach ihm ausgestreckt. Unabwendbar. Er schwebt in Gefahr… Ich sehe Gold… Ich sehe einen König. Er ist der Träger der Lyrif-Kette…

„Hatte er die Macht des Anhängers gekannt?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Außerdem hätte er so etwas angedeutet. Er dachte wahrscheinlich, es sei netter Ramsch, den er mir mitbringen konnte.“ Beim Wort „Ramsch“ verzog Beorn das Gesicht. „Warum wisst Ihr so gut über diese Kette Bescheid? Ich dachte, sie und ihre Kraft sollen geheim bleiben.“

„Und es ist wichtig, dass es dies auch bleibt“, unterstrich er mit Nachdruck. ,,Der Silberschmied, der diesen Anhänger einst fertigte, war von meinem Volk. Ein alter und sehr mächtiger Zauber wohnt dem Metall inne. Diese Kette darf nicht in die falschen Hände kommen. Niemals! Sie beschützt seinen Träger vor jedem Feind, wenn sie aufrichtigen Herzens weitergegeben wird. Und das heißt auch, seinen Träger vor dem Todesstoß seines Feindes zu bewahren.“

„Mir wurde es versucht zu erklären“, sie sah Thorin an, ihre Blicke begegneten sich, „doch ich hatte es nie wirklich glauben können.“

„Ihr Menschen tut euch schwer, an Dinge zu glauben, die ihr nicht sehen könnt. Wer weiß noch alles von der Kette?“ Die Frage ging an Thorin. „Es ist wichtig, dass die Existenz dieses Anhängers nicht verbreitet wird. Seine Kraft ist von unschätzbarem Wert. Der Wille, ihn zu besitzen, könnte zu schlimme Taten führen.“

„Gandalf und meine Männer, deren Ehefrauen, sowie mein Vetter Dain Eisenfuß aus den Eisenbergen. Und Radagast, der Zauberer aus dem Grünwald.“

„So viele? Kann man ihnen trauen?“

Thorin blickte den Hautwechsler finster an. „Sie haben alle auf die Götter schwören müssen. Ich würde meine Hände für sie ins Feuer legen! Für alle Außenstehende in Erebor haben wir versucht, die Umstände meiner Wiederkehr so einleuchtend wie möglich zu halten. Sonst bleibt nur noch Marie.“

„Ich habe niemanden von der Kette erzählt.“

„Bist du dir sicher?“, bohrte Beorn tiefer. Sie bejahte und die Männer schienen ihr zu glauben. Sie hatte nicht gelogen. Die Krämerin wusste es ganz von selbst… Diese Begegnung würde sie allerdings erst später ansprechen, wenn sie wieder unter sich waren. Denn Marie war sich inzwischen sicher, dass die Alte die Wahrheit aus ihrer Hand gelesen hatte. Ihre Weissagung spornte sie an, endlich hinter Thorins Geheimnis zu kommen.

 

~

 

„Lebt wohl, Eichenschild. Ich nehme an, Ihr werdet kein drittes Mal denselben Weg nehmen.“ Beorn schaute zu den Reisenden auf, die bereit zum Aufbruch auf dem Pferd saßen.

„Nein, das ist wohl wahr.“

„Ich danke Euch, dass Ihr den Gefährten bei Euch Obdach gegeben habt“, sagte Marie. „Ihr habt Ihnen das Leben gerettet. Lebt wohl und danke für Eure Gastfreundschaft. Ihr habt ein wundervolles Heim.“

Der Hautwechsler wirkte beschämt über solch nette Worte und zog die Lippen hoch, sodass etwas unbeholfen seine Eckzähne zum Vorschein kamen: ein scheues Lächeln für Marie. „Lebt wohl, Lady Eichenschild.“

Marie musste über den Titel lächeln. „Auf Wiedersehen, Beorn.“

Thorin wendete Ferrox und schickte ihn vorwärts. Sie warf einen Blick zurück und sah Beorn ihnen nachsehen. Schließlich schloss er das Tor und zog sich hinter den Mauern seines Heims zurück. Die Bäume wichen offenem Feld und vor ihnen eröffnete sich erneut die Wildnis.

,,Kommen noch weitere Überraschungen, von denen du mir lieber jetzt erzählen solltest?“

,,Nur solche, die ich nicht nochmal erleben muss“, antwortete der Zwergenkrieger mit deutlichem Missfallen.

Danach ritten sie schweigend, jeder mit sich selbst beschäftigt.

Erst als ein eindrucksvoller Wald, der sich vom nördlichen bis in den letzten Winkel des südlichen Horizonts erstreckte, näher rückte, beendeten sie ihr kühles Schweigen.

„Wir werden im Wald übernachten müssen.“ Der Krieger zügelte Ferrox bis er an dessen Rand zum Stehen kam, dann richtete er den Blick gen Himmel. „Es ist Neumond. Es ist zu riskant bei Nacht weiterzureiten.“

Marie wunderte sich über das Tempo, das er anschlug. „Warum die Eile?“

 „Elben leben hier und überwachen die Wege in diesen Wald. Ich möchte nur ungern ihnen begegnen.“

Aha, daher weht also der Wind. „Alte Bekannte von euch?“

„Alte Feinde.“ Er lenkte den Schimmel zum augenscheinlichen Eingang des Waldes, nach einigen Metern zügelte er ihn jedoch erneut. „Eines muss ich wissen“, unerwartet drehte er sich im Sattel um, sodass er Marie anschauen konnte. „Hättest du es tun können? Den Bären töten?“

Marie starrte ihn an und bemerkte den Sturm, der das Grau seiner Augen aufwühlte. „Hättest du mich in dem Moment gefragt, wie mein Name lautet; ich hätte ihn dir nicht sagen können“, wisperte sie. „Ich hatte Angst, Thorin. Schreckliche Angst.“

Keinen Millimeter wich sein Blick von ihrem ab. „Ich weiß.“

„Ich hatte nicht nachgedacht, als ich Orcrist griff…aber ja. Ich hätte es versucht, um zu überleben. Irgendwie. Was ist mit dir?“

„Ich hätte es getan, wenn ich keine andere Wahl gehabt hätte.“ Der weiche Klang seiner Stimme war wohltuend und viel zu selten gehört in den letzten Stunden. „Ich würde alles für dich tun, um dich zu beschützen.“ Sein Kuss war kurz und überraschend. Gern hätte sie seine Lippen länger gespürt, denn sie hatten sich gut angefühlt nach dem Streit und Marie wurde klar, dass dies ein großes Zugeständnis, ein kleiner Schritt auf sie zu war. Sie dachte über seine Worte nach und hörte ihre innere Stimme drängen: Dann sag mir die Wahrheit. Doch sie selber schwieg, weil sie nicht wieder streiten wollte. Also legte sie die Arme um seinen Bauch und den Kopf an seine Schulter. Es war ein Friedensangebot, das der König Erebors gerne annahm. Sie ritten weiter und jeder ging gedanklich seiner Wege.

Vor ihnen erschien eine Art Portal, das aus glatt geschnitzten Bäumen bestand, die in einem Kreis angeordnet waren. In der Mitte stand ein steinerner Altar. Die Tatsache, dass die Bäume des Grünwaldes bereits dichtes Laub besaßen, erstaunte Marie. Die Jahreszeiten mussten hier anders verlaufen. Dies war kein gewöhnlicher Wald wie der hinter ihrem Haus. Ob die Elben etwas damit zu tun hatten? Marie würde das sagenumwobene Volk gerne einmal treffen; sie hatte noch nie die Gelegenheit dazu gehabt, gab jedoch keinen ihrer Gedanken in der Gegenwart ihres Weggefährten preis.

Thorin lenkte Ferrox mitten durch den Kreis und vorbei an einer Statue, die den Eingang des Elbenreiches bewachte. Dargestellt war eine wunderschöne und anmutende Elbe mit einem Diadem auf der Stirn, die gütig, aber wachsam auf Ankömmlinge schaute. Der Schatten des Waldes glitt über sie und die Heilerin spürte sofort, dass hier Magie in der Luft lag. Je tiefer sie der gepflasterte Weg in den Wald führte, desto schöner wurde ihre Umgebung. Satte Grüntöne in tausend Nuancen glitzerten im hereinbrechendem Sonnenlicht. Farne, duftende, von Insekten umschwirrte Kräuter und dichte Moosteppiche überlagerten den Boden zu beiden Seites des Weges, dazwischen immer wieder blühende Knospen in Weiß und Gelb. Manches Mal bildete sie sich ein, helles Gekicher wahrzunehmen, und wenn sie in die Richtung blickte, erhaschten ihre Augen kleine Lichtpunkte, die jedes Mal wieder verschwanden, bevor sie auch nur irgendetwas erkennen konnte.

„Nymphen“, flüsterte Thorin. „Sie leben in den Bäumen.“

Ihr blieb der Mund offen stehen. In der Hoffnung eine Nymphe von ganz nah zu sehen, hielt sie nach weiteren bunten Lichtern Ausschau. Schon bald waren keine Stimmchen mehr zu vernehmen. Die Nymphen ließen die Reisenden unbeeindruckt ihres Weges ziehen.

Moosbedeckte Wurzeln hatten ihren Raum über Jahrhunderte beansprucht und beeindruckende Größen angenommen. Die dazugehörigen Bäume besaßen ein ehrfürchtiges Alter. Der Wald selbst wirkte alt, war aber voller Leben. Nur allzu gerne würde Marie eine Rast machen, um nach seltenen Kräutern und Wurzeln zu suchen, die sie hier bestimmt finden würde. Sie löschte jedoch schnell diese verlockende Vorstellung in Anbetracht der Heimlichkeit, mit der sie reisten.

Öfters ließ Thorin den Blick schweifen, jedoch aus einem ganz anderen Grund als sie. Seine Anspannung ging auf sie über und sie hielt selbst die Augen nach verdächtigen Schemen offen. Sie sah diverse Vögel über ihren Köpfen von Ast zu Ast fliegen. Manche gut getarnt, andere in schillerndem Rot oder Blau. Es war warm wie im Sommer, weshalb sie ihren Mantel aufknöpfen musste.

„Setz deine Kapuze auf.“

Sofort drehte sie sich nach allen Seiten um. „Elben?“

„Vielleicht. Falls nicht, sollen sie uns nicht sofort erkennen“, raunte er und zog seine eigene über den Kopf. „Wir werden so wenig Aufmerksamkeit wie möglich verursachen.“ Bis auf das leise Klappern von Ferrox tellergroßen Hufen, dem Rascheln im Laub von davonhuschenden Tieren und dem Vogelgezwitscher war der Wald vollkommen still.

„Meinst du, die Elben haben uns schon bemerkt?“

„Wir können nur das Gegenteil hoffen. Da keine Orks mehr so weit südlich seit dem Kriegsende gesichtet wurden und auch die Spinnen verschwunden sind, haben sie vielleicht ihre Patrouillen minimiert.“

„Spinnen?“, echote Marie beunruhigt, woraufhin Thorin ihr von der mysteriösen Krankheit erzählte, die den Grünwald im letzten Jahr zu einem äußerst dunklen und gefährlichen Ort verwandelt hatte. Bei den Gedanken an überdimensionale, fleischfressende Spinnen und klebrigen Spinnweben, mit denen sie ihre Opfer einwickelten, um sie zu verschleppen, musste sie sich schütteln. „Für mich hört sich das nach einem dunklen Zauber an. Wer würde so einen wundervollen Ort vergiften wollen und welchen Nutzen hätte das?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Thorin. „Was es auch war, der Wald ist wieder gesund. Der Winter scheint die Krankheit und alles Schlechte sterben gelassen zu haben.“

„Und was hat es mit den Elben auf sich? Seid ihr denen damals auch begegnet?“ Der Zwerg stieß ein gequältes Stöhnen aus und überwand sich, es ihr zu erzählen. So erfuhr Marie auch den anderen Teil der Geschichte, in dem die Elben des Waldlandkönigreiches die Gefährten nach dem Spinnenangriff gefangengenommen und zu ihrem König gebracht hatten.

„Thranduil hatte kein Recht euch einzusperren“, warf sie erbost dazwischen. „Was hatte er mit euch vor?“

„Er wollte meine Wenigkeit und schlug mir einen Handel mit unserer unbehelligten Durchreise vor.“

„Und im Gegenzug?“

„Die Steine von Lasgal.“ Marie forschte in ihrem Gedächtnis, doch sie fand keine Verbindung. Thorin kam ihr zuvor. „Wenn Schmuckstücke oder Edelsteine einen hohen Wert und Charakter haben, tragen sie oft Namen. Die Steine von Lasgal sind ein Konvolut aus einem Collier als Prunkstück und einem kleinen Arsenal anderer Schmuckstücke und Edelsteine mit hoher Farbreflexion und fast weißer Farbe.“

„Aha.“ Sie konnte sich die Pracht dieses Schmuckes nur schwer vorstellen. Die Arbeit mit Edelsteinen gehörten bisher nicht zu ihrem täglichen Handwerk.

„Ich habe sein Angebot ausgeschlagen.“ Es blieb ungewöhnlich still in seinem Rücken. Thorin drehte sich um und sah den überaus tadelnden Blick seiner Weggefährtin. „Was ist?“

„Du riskierst deine Mission und mitunter dein Leben und darüber hinaus die Leben deiner Gefährten für ein paar Edelsteine, die du nicht hergeben willst? Erebor hat sicher tausend andere.“

Verstimmt drehte der Zwerg sich wieder nach vorne. „Diese Kette wird schon seit Generationen von Königin auf die Tochter oder Enkelin weitergegeben. Sie gehört zu den kostbarsten Schätzen meines Reiches. Ich werde sie diesem Elb nicht ausliefern, nur weil er es so will.“

„Scheint ja die ganz große Freundschaft zwischen euch zu sein.“

Thorin packte die Zügel fester. „Thranduil ist ein selbstverliebter Egoist, der den Fusseln auf seiner Kleidung mehr Beachtung schenkt als Anderen. Er hat am Tag des Drachenangriffs meinem Volk Hilfe verwehrt, als wir sie am dringendsten gebraucht hätten. Sein Elbenheer erschien auf dem Bergkamm, angelockt vom aufsteigendem Rauch wie Geier vom Verwesungsgeruch. Er stand da und hat bloß zugesehen, auf uns herabgeschaut, als wir am Boden waren… Das kann ich nicht vergessen. Als ich sein Angebot ausschlug, warf ich ihm üble Worte an den Kopf.“

„Wie übel?“

„Sehr übel. Er wurde ganz weiß im Gesicht und hat gespuckt vor Zorn. Er hatte keine Skrupel mich für immer einzusperren bis meine Knochen verfault sind.“

„War es das wert gewesen?“

„Jede einzelnes Wort.“

„Warum möchte Thranduil die Steine nach so langer Zeit wiederhaben?

Sie müssen ihm einiges bedeuten.“

„Sie gehörten seiner verstorbenen Frau. Hab ich jedenfalls mal gehört.“

Marie musste blinzeln und suchte nach möglichst schonenden Worten. „Wenn das so ist, willst du sie ihm vielleicht nicht doch zurück…?“ Der Krieger bestrafte sie mit einem Todesblick. „Schon gut, schon gut…“ Sie seufzte, „du bist ein Sturkopf“, und legte die Arme um seine Leibesmitte.

Thorin schmunzelte. „Akzeptiert.“

 

~

 

Als Marie erfuhr, wie die Gefährten aus dem elbischen Verlies fliehen konnten, hätte sie am liebsten der Erzählung ein zweites Mal gelauscht. Der Kampf im eiskalten Wildwasser mit gleich zwei Feinden im Nacken hatte sie nur vom Zuhören ganz nervös gemacht. Es war genau jenes Abenteuer, das man nur einmal im Leben erlebte.

„Es war die richtige Entscheidung.“ Thorins Worte lenkte sie von ihrer Sehnsucht ab, als wollte er sie ein für alle Mal im Keim ersticken.

Der Morgen im Nebel würde für immer ein Wendepunkt ihres Lebens bilden. Noch heute und ganz von allein beschäftigte sie die Frage, was geschehen wäre, wenn sie Teil der Mission gewesen wäre.

„Nehmen wir mal an, ich wäre euch gefolgt und erst Tage später aufgetaucht.“

„Marie…“, kam sogleich der warnende Ton.

„Nein, lass mich ausreden. Wenn es so gewesen wäre, hättest du mich dann mitgenommen?“ Notgedrungen hielt er mit seiner Arbeit, das Lagerfeuer vorzubereiten, inne. Marie wartete ungeduldig auf eine Antwort und erwischte sich dabei, wie sie auf ihrer Unterlippe herum kaute. Hatte sie tatsächlich ihre Chance verstreichen lassen, nur weil sie nicht den Mut gefunden hatte, den Gefährten trotz Verbotes zu folgen?

„Ich wäre wahrscheinlich ziemlich wütend gewesen.“

„Oh ja.“

„Aber…tja“, Thorin klopfte seine Hände ab und kam zu ihr. „Wahrscheinlich hätte ich es nicht über mich bringen können, dich zu knebeln“, er zog sie von dem Stamm hoch, auf dem sie ihr Brot verspeist hatte, „und zu fesseln, damit du dem armen Schwein, das dich hätte zurück bringen müssen, keinen Ärger machst.“

„Ich mache nie Ärger.“

„Du widersprichst mir. Und das ständig.“

„Tu ich gar…“ Der Klaps auf ihr Hinterteil ließ sie verstummen. Als hätte er mit ihrer Rache gerechnet, war er schon aus ihrer Reichweite geflohen. Grinsend widmete sie sich ihrem Brot wieder.

„Schön zu sehen, dass du Hunger hast“, kommentierte der Krieger und machte sich ausgestattet mit Feuerstein und Messer ans Funkenschlagen.

„Mit dem Hunger eines Zwerges ist der aber nicht zu vergleichen. Du hast fast unseren kompletten Proviant alleine gegessen, von der gut zehn Mann hätten zehren können.“

„Eher eine nette Portion, wenn du mich fragst.“

Es war nicht das erste Mal, dass die Gefräßigkeit von Durins Volk Marie zweifeln ließ, ob der Magen eines Zwerges nicht doch bis zu seinen Füßen reichte. „Mit dem Rest werden wir doch hoffentlich auskommen, bis wir Erebor erreichen, oder?“

„Wir kommen schnell voran. Es ist jetzt nicht mehr weit. In diesem Wald lässt sich sicherlich trotzdem etwas finden.“

„Wenn wir in Erebor sind, wer kocht dann?“

„Es gibt Küchenpersonal für die königliche Familie.“

Die Vorstellung, Bedienstete zu haben, die rund um die Uhr zur Stelle stünden, nur um ihnen jeden Wunsch zu erfüllen, beunruhigte sie zugegebenermaßen. Sie würde einige Zeit brauchen, um sich daran erst einmal zu gewöhnen.

„Bruna hat die Küche unter ihre Fittiche genommen, zusammen mit Wilar, die inzwischen die Verwalterin des Personals ist. Sie scharwenzelt trotz ihres Alters überall herum, wo es Arbeit gibt. Dank Bruna hat das Essen noch nie so gut geschmeckt. Du wirst begeistert sein.“ Er bemerkte ihren fragenden Blick. „Bomburs und Balins bessere Hälften.“

Dass sie schon bald nicht nur die Gefährten wiedersehen, sondern auch deren Familien kennenlernen durfte, zauberte ihr erneut ein Lächeln ins Gesicht. „Ich bin so gespannt, alle wiederzusehen. Und wo wir gerade bei den neuen Gepflogenheiten sind, die mich erwarten: ich habe noch nie gefragt, aber wie ist eigentlich eure Krankenversorgung in Erebor? Gibt es eine Art Hospital? Und gibt es in Erebor eine Schule für Medizinlehre? Ich hab mal gehört, Gondor soll so etwas haben.“

„Wenn du mit Hospital eine Krankenstube meinst, dann ja. Ein paar dieser Stuben sind in ganz Erebor verteilt. Unsere jungen Heiler und Wehmütter bekommen für die praktische Lehre einen Mentor an ihre Seite gestellt. Für die Theorie gibt es umfassenden Unterricht mit verschiedenen Lernfächern im Haus der Heiler. Aber Oin wird dir mit Sicherheit liebend gern mehr darüber erzählen. Die Krankenstube im Südviertel obliegt neuerdings seiner Leitung.“

Das Haus der Heiler. Die Vorstellung von einem Ort, wo Pflanzenkunde, Anatomie, Pflege oder andere Themen Wissbegierigen gelehrt wurden, erschien ihr wie das Paradies. „Ich kann es kaum erwarten, an dem Unterricht teilzunehmen! Ich hoffe, Oin kann meine Hilfe gebrauchen.“

„Er würde sich sicherlich freuen, aber das geht natürlich nicht.“

Plötzlich - ganz plötzlich - begann ihre neue Welt in ihren Grundfesten zu wackeln. „Wie meinst du das?“

„Du wirst eine Uzbada – eine Lady sein, eine Frau von sehr hohem Stand. Da kannst du nicht in Räumen voller Kranken stehen, Blut aufwischen oder an Körperflüssigkeiten riechen. Es wird dir an nichts mehr fehlen. Du brauchst also nicht mehr zu arbeiten, um dein Lebensunterhalt zu verdienen.“

Er sagte es so leichthin, ohne zu wissen, dass er ihr soeben den Dolch der Erkenntnis direkt durchs Herz geschlagen hatte.

 

 

5

 

 

Das Gefühl, den Himmel über sich einstürzen zu spüren, nistete sich in ihrem Körper ein, wurde von Sekunde zu Sekunde unumkehrbarer. Nur schwer gelang es ihr, überhaupt einen Ton herauszubekommen. Zuerst musste sie ihre eigenen Geist zur Ruhe zwingen, die Worte noch einmal aus seinem Mund hören, ehe sie sie verarbeiten konnte. „Was meinst du damit?“

Thorin bemerkte ihre aschfahle Gesichtsfarbe. Auch seine Mimik entglitt, als er die Tragweite des Missverständnisses realisierte. „War dir das denn nicht klar?“

„Ich… Nein. Ich dachte, ich könnte…“ Marie bekam keinen Satz mehr raus. Die Bedeutung seiner Worte rückte erst jetzt mit aller Härte in ihr Bewusstsein vor. Dass er ihr ihr Handwerk wegnehmen will, fühlte sich an, wie Betrug. Eiskalter Betrug.

Alles, was sie sich von ihrem neuen Leben in Erebor erhofft hatte, löste sich in Schall und Rauch auf. Sie würde nie mit ihrer Heilkunst Durins Volk helfen dürfen.

Thorin schien sie beschwichtigen zu wollen. „Du wirst andere Pflichten haben.“

„Du willst sagen, dass ich keine Heilerin mehr sein darf. Ist es nicht so?“

„Ich will damit sagen, dass…“

Dass er es nicht sofort verneinte, reichte ihr. „Was soll ich in Erebor stattdessen tun? Dir dein Bett warmhalten?“, schmetterte sie ihm an den Kopf und presste die geballte Faust gegen ihre Brust. Dort, wo der Schmerz am größten war. „Du nimmst mir gerade etwas weg, Thorin. Du nimmst mir meine Leidenschaft weg. Mein ganzes Leben!“ Sie hatte nie etwas anderes gelernt. Es war ein Privileg gewesen, keine Mutter und Hausfrau sein zu müssen, sondern ehrlicher Arbeit nachgehen zu dürfen, das Leben als Frau selbst bestimmen zu können und anderen zu helfen. Er würde es nicht nachvollziehen können; er war schließlich als Prinz geboren. Ihre Heilkunst aber war das, was Marie ausmachte. Ihre Identität. Und nun sollte sie dies aufgeben?

„Du wirst eine Königin sein, verdammt nochmal!“

Königin. Marie versuchte, das eben gehörte Wort zu verstehen, dessen Sinn und Bedeutung sie zwar kannte, doch ihr Verstand verweigerte ihr jeglichen Dienst. Alles, was sie konnte, war ihren Wegbegleiter anzustarren und alle Mächte dieser Welt zu beschwören, dass er sich irrte. Das er jemand ganz anderes meinte. Jemand anderes. Nur nicht sie. Nicht sie.

„Jetzt tu doch nicht so schockiert.“ Er musste ihre Ratlosigkeit gesehen haben und erkannte nun, dass er als Einziger diesen Plan verfolgt hatte. „Du hattest wirklich keine Ahnung?“

Marie musste sich von ihm wegdrehen. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Sie konnte keine Königin sein! Es war schlicht und ergreifend nicht möglich; sie war doch immer noch ein Mensch, und außerdem die Vorstellung alleine völlig an den Haaren herbeigezogen! Marie drückte ihre Handballen auf ihre Augen, um wieder klar denken zu können. Helle Lichtpunkte tanzten nutzlos in ihren Augenhöhlen. Als sie sich auflösten, stand Thorin vor ihr und hielt sie an den Schulterblättern fest.

„Marie, jetzt hör mir bitte zu. Ich bin der König Erebors und werde dich als meine Zukünftige meinem Volk vorstellen, wenn wir in Erebor angekommen sind.“ Das machte den verkorksten Tag nun komplett.

„Soll das etwa ein Antrag gewesen sein?“

Thorin machte Anstalten, nach ihrer Hand zu greifen. Die Berührung war kaum spürbar, da war sie auch schon vergangen. Stattdessen starrte er sie an. Kälte machte sich zwischen ihnen breit und nistete sich wie Gift in ihrem Körper ein. „Willst du überhaupt meine Frau werden?“

„Natürlich will ich das, aber…“

„Wenn dem so ist, gibt es kein Aber.“ Sein aufflammender Zorn war ansteckend.

„Oh doch! Ich habe schließlich nicht damit gerechnet, gleich Königin zu werden“, verteidigte sie sich mit den Armen fuchtelnd. „Von mir aus eine Lady, aber eine Königin?! Thorin, sei realistisch, siehst du mich – sei bitte ganz ehrlich – mich als eine Königin?“

„Soll ich mich etwa dafür entschuldigen, dass ich dich zur Frau nehmen will?!“

„Ich lass mich jedenfalls nicht in einen goldenen Käfig stecken!“ Die Gefühlsmassen eines einzigen Tages übermannten sie. Ihr blieb nur noch die Flucht.

„Marie, bleib hier!“

„Lass mich in Ruhe!“ Sie konnte nicht bleiben. Wenn sie blieb, würde sie keine Luft mehr bekommen.

„MARIE, ich sagte, du sollst hier bleiben, verdammt!“

Keinen Blick warf sie zurück auf den Scherbenhaufen, der sich ganz plötzlich zwischen ihnen aufgetürmt hatte.

 

~

 

Als er die Augen öffnete, glühten sie silbern trotz sternenloser Nacht wie durch ein inneres kaltes Feuer genährt. Lautlos erhob sich der Körper, von dort, wo der Zwerg sich niedergelegt hatte.

Eine Weile verharrte er, um zu lauschen. Dann stand er auf und bewegte sich auf die Frau zu, die unter Decken und Fellen nur drei Meter von ihm getrennt lag und schlief. Die silbernen Iriden waren auf sie fixiert, als der Schatten in die Hocke ging und sich über die zusammengerollte Gestalt beugte. Er nahm sich Zeit und roch an der Frau.

Diese Wesen haben einen ganz eigenen Geruch. Ihrer war mit dem des Waldes verschmolzen. Lebendig. Verführerisch. Fast schon einen Hauch zu viel für seinen Geschmack. Die Kombination mit einem Herzschlag war eine Versuchung, die er schon seit Jahrhunderten nicht mehr gespürt hatte. Kräftig und ruhig schlug das Organ in ihrem Brustkorb. Der süße Klang ließ ihn boshaft lächeln. Er könnte noch ein wenig Spaß mit ihr haben; sie würde den Unterschied zu ihrem Zwerg kaum merken… Doch er wollte seinen Sieg nicht endlos hinaus zögern. Genauso wenig ihren Tod.

Genug Zeit vergeudet.

Er zog ihre Decke beiseite. Dann schlossen sich seine Hände um ihre Kehle. Marie riss die Augen auf, unfähig zu realisieren, was gerade geschah. Ihre Hände griffen die seine, versuchten, sie von ihrem Hals zu ziehen. Sie hatte nicht den Hauch einer Chance gegen die Kraft eines Drachen.

Er drückte fester zu und labte sich an der Panik, die sie von innen heraus auffraß. Mit Genugtuung beobachtete er wie ihr Gesicht bereits dunkel anlief. Sie kratzte über seine Haut und trat mit den Beinen, doch das war ihm gleichgültig. Ihr aufgerissener Mund blieb stumm. Alles, was er von ihr hörte, war ihr verzweifeltes Röcheln nach Luft. Die Menschenfrau versuchte ihm ins Gesicht zu greifen, ihn irgendwie dazu zu bewegen, von ihr abzulassen… Es nützte alles nichts. Ihr Körper zuckte im Todeskampf.

„Ich habe dich gewarnt, Eiccchenschild. Nun sieh zu, wie sie stirbt…“

Sein Herz zersprang in Millionen Splitter. Thorin riss die Augen auf und krallte die Hand in seine Brust, aus der schwarzes Magma zu laufen schien.

„Thorin?“

Mit gehetztem Blick hob er den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Marie lag auf der anderen Seite des Lagerfeuers. Unversehrt. Am Leben.

„Was ist mit dir?“

Seine Lungen beförderten zu schnell Luft, die kaum dort anzukommen schien, wo sie bitternötig gebraucht wurde. „Nur ein Albtraum...“ Wie in Trance schaffte er es, aufzustehen, stolperte in die Dunkelheit hinaus und blieb erst stehen, als ihr Lager und damit auch Marie in sicherer Ferne waren. Er stolperte über etwas, fiel und blieb mutlos im Schwarz der Nacht liegen.

Tränen brannten in seinen Augen, ohne dass er sie unterdrücken konnte. Es fühlte sich an, als hätte Smaug seine Seele vergewaltigt. Der Drache hatte es geschafft, seinen Schwachpunkt zu treffen. Wie einen Nerv, der nun frei und ungeschützt da lag und mit Füßen getreten werden konnte. Thorin presste die Augen zu und grub die Hände in den Waldboden. Schutz in der Realität suchend.

Es ist nicht echt. Es ist nicht echt. Er hat es mich träumen lassen... Es war nur ein Traum. Es ist nicht echt… Das Gesehene auszublenden war nicht möglich. Alles hatte er miterleben müssen, wie eine Geisel, die gezwungen wird, einer Hinrichtung beizuwohnen. Die Präsenz der Bestie war so deutlich wie seit Monaten nicht mehr zu spüren. Ganz nah unter der Haut.

Aus Angst, der Drache habe einen Weg aus seinem Gefängnis gefunden, schloss Thorin die Augen und versuchte, in sich hineinzuhorchen. Sein eigenes Ich eilte hinab in die tiefste Finsternis seiner Seele zu einer Bestie, die dort eingesperrt worden war.

Kein Licht reichte dorthin. Dunkelheit umgab ihn, bis sich Gitterstäben vor ihm materialisierten. Dahinter ein Schatten aus bronzefarbenen Schuppen. Smaug war immer noch da.

Seine Anwesenheit wurde bemerkt. Der dornenbewehrte Schädel des Drachen erschien an der Grenze seines Gefängnisses. „Hat dir die kleine Vorstellung genauso gefallen wie mir, Thronräuber?“ Das orangene Schlangenauge richtete sich direkt auf Thorins Geist, dessen Stimme vor zurückgehaltenem Zorn bebte.

„Nenn mir eine Möglichkeit, dich zu vernichten.“

„Ich gebe dir hundert Möglichkeiten, dich selbst zu vernichten. Wie klingt dasss?“

„Wieso? Wieso tust du das?!“

„Du und deine Männer habt es gewagt, mich zu wecken, mir meinen Thron und meinen Schatzzz zu rauben. Ich gab dir die Chance, dich mit mir zu verbünden, und du hast sie ausgeschlagen. Nun sollst du erleben, was es heißt, dich mirrr zu widersetzen! Versuch es nur. Versuch, mich aufzuhalten. Du wirst ssscheitern! Keine Macht dieser Welt kann mich aufhalten. Weder in der Welt der Lebenden noch in der Welt der Toten!“

Mit einem Schrei kam Thorin auf die Beine und schlug auf den Bäum ein, an dessen Fuße er zusammengebrochen war. Seine Fingerknöchel katapultierten dumpfen Schmerz mit jedem Schlag seine Arme hinauf. Nicht mehr lange, und sie würden Muse sein. Es war ihm egal. Schmerz zu spüren war besser als jene Angst, die um den Verstand bringen wollte.

 

~

 

Die Atmosphäre war frostig. Sie bildete sich ein, Eiskristalle zwischen ihnen schweben zu sehen. Der Umgang miteinander war seit dem Morgen auf ein Minimum reduziert.

Marie war schon dabei gewesen, die Decken zusammenzurollen, als er mit geschundenen Fingerknöcheln und dunklen Schatten unter den Augen gezeichnet von der letzten Nacht zurück aus dem Wald kam, dessen Schutz er bei seinem Albtraum vorgezogen hatte, anstatt ihre Nähe zu suchen. Die Enttäuschung darüber hatte sich tief in ihr Herz gegraben. Er erklärte sein Verhalten nicht, wollte seine Hände sich nicht von ihr verbinden lassen. Und so tat Marie es ihm gleich und schwieg ebenfalls. Dabei war sie keinen Deut besser gewesen. Als Thorin ihr ihre Zukunft offenbarte, hatte sie überfordert mit der folgenschweren Bedeutung einfach einen Moment für sich gebraucht. Doch mit ihrer Reaktion hatte sie ihn verletzt. Sie hatte es ihm angesehen.

War sie zu naiv gewesen? Oder hatte sie die Möglichkeit, eines Tages tatsächlich Königin zu werden, bloß nicht wahrhaben gewollt, weil sie Angst vor dieser ihr so fremden Rolle hatte? Eines stand fest: sie hatten sich gegenseitig verletzt, ob sie es beabsichtigt hatten oder nicht.

Der letzte Tag hatte einen tiefen Graben zwischen ihnen gezogen. Die Leichtigkeit war fort. Vertrauen gebrochen. Sein Geheimnis hatte die Mauern um den Mann, der ihr fremd geworden war, nur noch verstärkt. Marie wusste weder, was sie tun sollte, noch wie sie die nächsten Tage miteinander umgehen sollten. Der einzige Lichtblick schien der Einsame Berg zu sein und damit ihre Chance auf einen Neuanfang. Man war nicht allein und dennoch eine große Zeit für sich. Manchmal, wenn der Weg etwas schwieriger wurde, liefen sie zu Fuß. Thorin meistens mit Ferrox vorneweg, Marie in seinem Rücken. Die Fronten waren verhärtet. Niemand wollte nachgeben und Kompromisse rückten in weite Ferne.

 

Der restliche Weg durch den Grünwald verlief ereignislos. Elben begegneten ihnen keine, obwohl Thorin sicher war, dass sie sie durch den Lärm, den sie mit ihrem Streit verursacht hatten, angelockt hatten und nun heimlich beobachtet wurden. Die Elben zeigten sich jedoch nicht und hielten sie auch nicht auf. Und das war die Hauptsache. Mit begründetem Argwohn beobachtete Thorin weiterhin die Umgebung, um ganz sicher zu sein, nicht doch überfallen zu werden oder in einen Hinterhalt zu geraten. Das half, sich etwas abzulenken und außerdem wach zu bleiben. Bis zum Tagesanbruch hatte er kein Auge mehr zu machen können.

Sein Gefühlszustand war tückisch wie die Wasseroberfläche eines Sees, in dem ein Monster hauste. Jeder Stein, den man sorglos hineinwerfen würde, könnte Wellen schlagen und es wecken. Er merkte, wenn Smaug aktiv ist, unter der Wasseroberfläche lauerte und sie aufschreckte. Wann würde der Drache das nächste Mal wagen, seine Gedanken zu manipulieren? Sein Gefängnis war nicht länger sicher. Er würde es wieder wagen. So hatte er es angedroht. Das war erst der Anfang gewesen.

Das Ganze wurde immer mehr zu einem Wettlauf mit der Zeit. Thorin musste unbedingt Gandalf sprechen. Hatte der Zauberer inzwischen etwas gefunden, womit sie etwas anfangen konnten? Er hoffte, wenn sie am Einsamen Berg angekommen waren, vieles in ein anderes Licht gerückt werden konnte. Der Zeitpunkt, es Marie endlich zu sagen, scheute er. Irgendwann aber musste sie die Gefahr erfahren, in der sie schwebte, musste über die Drachenkrankheit erfahren, die ihn so verändert hatte. Auch wenn das heißen sollte, sie für immer zu verlieren. Könnte sie ihn noch ansehen, wenn sie erst einmal von seinen Taten Bescheid wüsste? Und vor allem: wie könnte sie ihn lieben, wenn sie sah, dass eine skrupellose Bestien in ihm steckte, die ihren Tod will?

Es musste einen Weg geben, Smaug ein für alle Mal zu vertreiben. Marie war ahnungslos, dass sie eine tragende Rolle in dem Ganzen spielte. Was es auch gewesen war; die Gedanken an sein Mädchen hatte Thorin stets geholfen, nicht aufzugeben, sich nicht von Smaugs Stimme leiten zu lassen. Sich zu erinnern.

Als er Dwalin im Thronsaal gegenüberstand und nur das Gold im Sinn hatte, während ein Krieg vor den Toren Erebors gefochten wurde, war ihm eine Frau entgegengetreten, hell und strahlend wie ein Stern. Sie hatte ihm Licht geschenkt, als die Dunkelheit zu mächtig wurde.

Einst gab sie ihm eine schwarze Schnur, an der ein Anhänger hing. Wertlos und ganz und gar nicht besonders auf den ersten Blick. Jahre später sollte diese Kette ihm das Leben retten. Eine bürgerlich geborene Frau aus einfachsten Verhältnissen. Gütig und aufopferungsvoll für all jene, die Hilfe benötigten. Sanftmütig und leidenschaftlich gleichermaßen. Eine Heilerin für Kranke und Gebrochene. Sie konnte aus Pflanzen Arzneien und Salben fertigen. Nun sollte sie selbst ein Heilmittel gegen den Fluch des Drachen sein.

 

Als Geräusche von einem Fluss zu ihnen getragen wurden, lief Marie voraus, dorthin, wo Sonnenschein durch lichter werdende Bäume fiel. Im nächsten Moment stand sie im vollen Tageslicht und blinzelte gegen die Helligkeit. Schließlich erkannte sie die sich vor ihr öffnende Landschaft. Rechts dehnte sich der Fluss zu einem Delta aus. Und hinter den letzten Ausläufern des Grünwaldes auf der anderen Seite des Ufers…

„Erebor.“ Sie hauchte seinen Namen, weil sie Angst hatte, ihre Stimme würde brechen. Da thronte er. Verschiedene Grau- und Brauntöne kleideten seine Hänge. Der Schnee, der selbst im Sommer auf der höchsten Spitze verweilte, funkelte in der Frühlingssonne wie tausende Diamanten aus der Ferne. Genau so schön hatte sie ihren Berg all die Jahre in ihren Erinnerungen bewahrt. Das Wissen, dass dort oben in einem Tal ihr altes Zuhause ruhte, machte sie sehr emotional und sehr glücklich.

„Es ist nicht mehr weit.“ Thorin war an ihre Seite getreten und schaute mit funkelnden Augen zum Berg hinüber. Auch er war bald Zuhause.

Marie beobachtete sein Profil aus dem Augenwinkel. Seine markanten Gesichtszüge machten ihr das Atmen schwer. Sie sehnte sich nach ihm. Seelisch noch mehr als körperlich. Zentimeter trennten sie, doch der Graben zwischen ihnen klaffte weit und kalt.

Wie können wir je wieder dieselben sein?, hörte sie sich einst wispern.

Und er hatte geantwortet: Wir werden nie wieder dieselben sein.

Wie recht er doch hatte.

 

6

 

 

Sie ist fort“, flüsterte Marie. „Eine ganze Stadt einfach fort.“

Auf einer vom Wind umpeitschten Anhöhe verweilten sie, um den Blick über den See schweifen zu lassen. Schwarze Fundamente waren das Einzige, was von Esgaroth übrig geblieben war, das jeher ein Treffpunkt bei Reisenden und Händlern aus allen Ländern gewesen war. Die Brücke, die früher die Stadt auf dem Wasser mit dem Festland verband, existierte nur noch zur Hälfte. Die Planken führte einfach ins Leere.

„Smaugs Rache“, murmelte Thorin im Sattel vor ihr.

„Wo ist dieser eigentlich, ich meine, was ist mit Smaugs Körper passiert?“

Schweigend zeigte der Zwerg mit dem Finger auf die Mitte des Sees.

 

Sie mussten um den Langen See herum reiten, was viel Zeit in Anspruch nahm. Der Wind hatte mittlerweile stark zugenommen. Immer wieder richteten sich ihre Blicke besorgt zu der grauen Wand aus Wolken, die von Norden direkt auf sie zu rollte.

„Wir schaffen es nicht rechtzeitig vor dem Regen!“, warnte Marie. ,,Lass uns einen sicheren Ort suchen und das Unwetter abwarten.“ Doch der Zwerg trieb das Pferd die Berghänge hinauf, als verfolgte sie jemand.

„Das ist nur Regen!“, rief er über das Poltern der Hufe hinweg. ,,Wir müssen Strecke gutmachen. Wir können nirgends unterkommen!“

Mittlerweile befanden sie sich auf einer Hochebene, die nur ein paar Ansammlungen von Felsen beheimatete. Weit und breit gab es Nichts, wo sie Unterkunft erbeten könnten. Andererseits würden sie Erebor nie vor dem Unwetter erreichen. Was zum Henker war in diesen Mann gefahren? Die zu erahnende Regenwand wurde vom Wind immer näher getrieben.

Marie klammerte sich an seinen Mantel fest, um sich im Sattel zu halten, als sie über die Hochebene jagten. Doch wie erwartet waren die Naturgewalten schneller. Die bedrohlich aussehenden schwarzen Wolken verdunkelten den Himmel und verschluckten alles Sonnenlicht, als hätte man plötzlich eine Kerze ausgeblasen. Das Unwetter brach augenblicklich über sie herein. Der Sturm ließ Fluten an Regen auf sie niederschießen. Ferrox scheute und binnen Sekunden waren sie nass bis auf die Haut. Alles verschwamm zu einem grauen Schleier und sie konnten nicht mehr sehen, wohin sie ritten. Die Gefahr vom Pferd zu fallen, wurde groß, als der Hengst zu tänzeln begann. Sie mussten absteigen und während Thorin Mühe hatte, das Pferd zu beruhigen, konnte Marie sich nur am Steigbügel festhalten, um nicht die Orientierung zu verlieren. Der Regen donnerte so hart auf ihre Schultern, dass er weh tat.

„Wir müssen Schutz suchen!“, schrie sie gegen das Johlen des Windes.

 Thorin schob sich den nassen Vorhang, den seine Haare bildeten, aus dem Gesicht und suchte nach einem Ort, der halbwegs geschützt lag. Er konnte jedoch nichts erkennen. Somit hatte er keine andere Wahl als blind in die Richtung zu laufen, in der er die Felsformation erahnte, die sich vorhin noch zu ihrer Linken befunden hatte.

„Zu den Felsen!“, war das Einzige, was Marie verstand. Am Steigbügel festgekrallt stolperte sie neben Ferrox her, durch Pfützen, so groß wie Seen, in der Hoffnung, dass dieser sture Zwerg am anderen Pferdeende einen sicheren Ort gefunden hatte.

Der Hohlraum zwischen den Felsen war nicht viel mehr als ein Spalt, dennoch war er ihre Rettung wie ein Floß für den Ertrinkenden. Marie schlüpfte als Erste ins Trockene. Ferrox wurde so weit hereingeführt, wie es möglich war. Gepäck und Deckenrollen wurden abgeschnallt. Thorin stellte das Kaltblut in den Eingang, um den Wind abzuhalten. Währenddessen zog Marie das Gepäck in den letzten Winkel der Höhle. Als sie ihren Rucksack aufschnürt, überkam Panik sie. Sie griff hinein und zog das Buch von ihren Eltern heraus. Erleichtert stellte sie fest, dass die Seiten trocken geblieben waren. Das Leder des Rucksacks musste das meiste Wasser abgehalten haben. Himmel, das Buch hatte sie ganz vergessen. Vorsichtig legte sie es beiseite.

Eine Hand schlug gegen Fels und ein hervorgepresstes „Verfickte Scheiße“ erklang. Marie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu sehen, wie ein pitschnasser Zwerg mürrisch in den Regen starrte. „Erebor wird auch noch in ein paar Stunden an Ort und Stelle stehen. Unser Ziel läuft uns nicht weg.“ Als Antwort kam ein unverständliches Brummen. Frustriert drehte sie die Augen zur Felsdecke, würgte die Wörter, die ihr auf der Zunge lagen runter.

Nicht nur für ihre Gesundheit waren trockene Anziehsachen vorteilhaft, auch für ihre Stimmung. Umgezogen und mit zusammengeknotetem Haar fühlte sie sich schon viel besser, so weit man das sagen konnte, wenn man seit Tagen auf dem Boden schlief, in denselben Klamotten herumgelaufen war und ungebadet durch die Wildnis ritt.

„Hier.“ Sie reichte ihrem Reisegefährten ein Hemd aus ihrem Rucksack, um ihn dazu zu bewegen, sich auch endlich umzuziehen. Schweigend nahm er es entgegen und begann ebenfalls, sich die nassen Sachen vom Leib zu zerren. Länger als nötig klebte ihr Blick auf der hässlichen Narbe auf seinem Bauch.

Ihre Klamotten konnten die beiden weder zum Trocknen hinlegen noch irgendwo aufhängen. Der Raum war einfach zu beengt. Kurzerhand wurden sie auf einen Haufen geworfen. Darum mussten sie sich später kümmern. Einzig seinen Mantel versuchte Thorin an der Felswand aufzuhängen. Schließlich blieb die Kapuze an einer Kante hängen. Halbwegs zufrieden damit ließ er sich neben Marie nieder, die bereits auf ihrer trockensten Decke hockte. Sie mussten zusammenrücken, damit sie beide darauf Platz hatten. Thorin warf einen erneuten Blick unter Ferrox hindurch nach draußen. Der Körper des Pferdes hielt den Wind nur bedingt ab. Es schüttete wie aus Kübeln und sobald würde es auch nicht aufhören. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten bis das Unwetter sich verzogen hatte. Bis dahin mussten sie hier ausharren. Zu zweit und auf engstem Raum.

Die Zeit floss dahin wie zäher Honig. In der Stille hörten sie es von der Felsdecke tropfen. Der Wind johlte und zischte über Erebors Berghänge. Manchmal unterbrach Ferrox sein Dösen, um einen anderen Huf anzuwinkeln. Gelangweilt starrte Marie auf den Mantel, auf ihre Schuhpaare, die Pfützen, die sich hier und dort gebildet hatten, das Sattelzeug, ihre Rucksäcke… An Thorin blieb sie hängen. Sein Anblick lud sie ein, zu verweilen. Er hatte die Augen geschlossen und wirkte so erschöpft, wie seit Tagen nicht mehr. Heimlich beobachtete sie sein Gesicht, an dem jeder Quadratzentimeter vertraut war. Noch immer trugen seine Augen dunkle Schatten von der vergangenen Nacht. Sein Bart wirkte struppig, das Haar verknotet und ungekämmt. Die Male, als sie Gelegenheit hatte, diesen Mann ungestört aus nächster Nähe anschauen zu dürfen, kamen ihr in den Sinn und wie bei den Malen zuvor spürte sie das sanfte, warme Kribbeln in ihrem Bauch, das sie stets daran erinnerte, welcher Weg bereits hinter ihnen lag und welche Höhen und Tiefen ihre Beziehung erlebt hatte. Auch wenn diese in letzter Zeit sehr gelitten hatte.

Die dunklen Wimpern zuckten, sein Kopf rutschte zur Seite und er schlug die Augen auf. Er bemerkte, dass er beobachtet wurde und setzte sich gerader hin. „Hm?“

Seine Zerstreutheit erweichte sie. „Leg dich aufs Ohr“, sagte sie und klopfte sich auf die Oberschenkel, die das beste Kissen waren, dass sie im Moment zu bieten hatte. ,,Ich wecke dich, sobald der Regen aufhört.“

Er fuhr sich übers Gesicht. „Mir geht es gut.“

„Ich sehe doch, wie du kämpfst. Na, komm schon. Wir können eh nicht von hier weg.“ Sie sah, wie er mit sich rang. Die Verlockung, ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, gewann schließlich die Oberhand. Thorin legte seinen Kopf in ihren Schoß und rollte sich zusammen. Sie angelte nach einem Fell und deckte ihn mit der trockenen Seite zu. „Bequem so?“

„Hmm.“

Sie legte die Hände um seinen Kopf, glitt mit den Fingern durch sein Haar, strichen es mit langsamen Bewegungen zurück, berührten die feinen grauen Strähnen, die sich mit der Zeit hineingeschlichen hatten bis sein Atem bald zu einem leisen Schnarchen wurde. Marie lauschte dem Wind und dem leisen Pochen ihres Herzens, ohne zu wissen, was sie zu hören erhoffte.

 

~

 

Der Schlaf hatte seine Hände nach ihm ausgestreckt und hinab in sein Reich gezogen, noch ehe er darüber nachdenken konnte, welcher Albtraum als nächstes auf ihn warten würde. Beim Aufwachen fand er sich genauso vor, wie er eingeschlafen war.

Marie bemerkte, dass er wach war und nahm ihre Hände weg, damit er sich aufsetzen konnte. „Hey“, sagte sie leise.

„Hey. Wie lange hab ich geschlafen?“

Sie stand auf und streckte ihre steifgewordenen Glieder. „Zwei Stunden vielleicht.“

Ein Blick nach draußen verriet, dass der Regen noch nicht nachgelassen hatte. Jedoch war es nicht mehr ganz so dunkel. Hoffentlich war das ein Zeichen, dass das Unwetter allmählich weiter zog. Er überschlug im Kopf, wie lange sie noch Tageslicht hätten, um heute noch nach Erebor zu kommen. „Irgendetwas passiert?“

„Du hattest jedenfalls keinen Albtraum, wenn du dich das gefragt hast.“

Das Wort war wie ein Peitschenschlag. Er blickte zu Marie, die bei Ferrox stand. Sollte er erleichtert sein, dass Smaug ihn in Ruhe gelassen hatte, oder sollte er gerade deshalb beunruhigt sein? Er beobachtete, wie sie dem Pferd über die Nüstern strich und ihm ins große braune Auge schaute, als erhoffte sie, darin Antworten auf ihre unbeantworteten Fragen zu finden. Auch wenn sie sie nicht ansprach, hörte er sie Tag für Tag. Es war so vieles, dass unausgesprochen zwischen ihnen lag und immer mehr Gewicht bekam.

„Was hat es mit den Albträumen auf sich?“ Fest und auch ein wenig angriffslustig blickte Marie ihn geradewegs an, die Hand in die Pferdemähne gegraben, als würde sie dadurch Rückhalt haben.

Etwas verknotete sich in seiner Kehle, als er zum Sprechen ansetzen wollte. Thorin atmete tief durch, kämpfte gegen die Dunkelheit, vor allem aber gegen die Scham an, die in ihm brannte. „Ich träume wieder. Von schlimmen Dingen, die ich anderen angetan habe…oder antun könnte.“

Die Aufrichtigkeit, mit der er ihr antwortete, schien sie zu überraschen. Marie setzte sich wieder neben ihn. Ihre Aufmerksamkeit galt ab sofort nur ihm. Aufrichtig und neugierig blickte sie ihn an; eine stille Aufforderung weiterzusprechen.

„Meine Albträume sind wiedergekehrt, ohne dass ich es verhindern konnte. Früher habe ich meine Familie wieder und wieder sterben sehen, Azog, wie er mich zermürbt… Jetzt ist es Smaug.“

„Der Drache ist tot, Thorin. Er kommt nicht mehr zurück.“ Sanft wollte sie sein Gesicht berühren; eine Berührung des Trostes und des Mitgefühls, doch Thorin riss seinen Kopf zur Seite und ließ sie vor ihm zurückweichen. Er wollte die Frau, die er liebte, nicht abweisen, aber er musste es tun, um diesen Moment zu überleben. Es würde ihn sonst zerstören.

„Ich fühle ihn, als wäre er noch da.“ Er hörte beinahe, wie der Drache über seinen jämmerlichen Erklärungsversuch lachte. Seine Stimme geriet ins Stocken. Er ballte die Fäuste, um dem Kampf standzuhalten, der in ihm wütete. Smaug würde jedes Wort gegen ihn verwenden, denn er wusste nun ganz sicher, dass er seinem Ziel, den Räuber seines Thrones zu vernichten, näher kam. Thorin musste jedoch seine intimsten Gefühle preisgeben, damit Marie verstand, was in ihm gerade vorging. Damit er sie nicht verlor.

„Ich fühle mich so schwach. Ganz klein. Ganz unbedeutend. Ich schäme mich…“

„Liebling“, seine Hände wurden in die ihren genommen. Im Gegensatz zu seinen waren sie zart und feingliedrig und doch besaßen eine noch größere Kraft. Seine geballten Hände lösten sich. Er wurde festgehalten. Von der Frau, die sein Leben war.

„Träume können uns nichts anhaben, seien sie noch so schlimm. Es sind nur Träume. Das hier“, Marie nahm sein Gesicht in beide Hände, zwang ihn, sie anzuschauen, „ist real. Du bist echt. Und ich bin echt. Träume sind nicht greifbar. Sie gehören einer anderen Welt an. Hier zählt das, was wir mit unseren Sinnen fühlen. Was wahr ist.“

Thorin blickte in ihre smaragdgrüne Augen und zerriss innerlich. Es ist viel komplizierter als du denkst…

„Als ich dich in meinem Haus nachts fand…als du um dich geschlagen hast und Feuer gesehen hast, wo keines war… Da hattest du Smaug gesehen, ist es nicht so?“ Er nickte unglücklich. „Hast du auch letzte Nacht von dem Drachen geträumt?“ Wieder ein Nicken. „Und die Nacht davor?“

Er schluckte an seinem trockenem Hals. „Danach einzuschlafen ist unmöglich.“

„Deshalb bist du Fallen aufstellen gegangen.“

„Ich war keine Fallen aufstellen.“ Irritiert sah sie ihn an. Ich habe seinen Schatten im Wald gesehen und bin ihm gefolgt. „Bin spazieren gegangen“, antwortete er laut. ,,Ich brauchte frische Luft.“ Schon wieder eine Lüge.

Marie seufzte und blieb einen Moment still. „Warum hast du nicht mit mir geredet?“, fragte sie dann.

„Was gibt es da zu reden?“, erwiderte er ungehalten. „Es ist mein Kopf, der mir Streiche spielt, nicht deiner. Du kannst nichts dagegen tun.“

„Anstatt dich alleine damit zu quälen, könnte ich dir helfen.“

Thorin wollte ihr antworten, dass niemand ihm helfen könnte, dass es kein bekanntes Heilmittel gegen Smaugs Fluch gab… Es war sinnlos. Er war müde von seinem eigenen Körper, der erneut einen Kampf ausfechten musste. Durin musste Erbarmen mit ihnen gehabt haben, denn das Prasselns des Regens war zu einem Tröpfeln geworden, noch während sie miteinander gesprochen hatten. Als sie sahen, dass das Unwetter sich verzogen hatte, sprangen beide auf und schoben sich zum Eingang der Felsspalte, um einen Blick nach draußen zu werfen.

„Wir reiten weiter.“ Thorin wollte beginnen, zusammenzupacken. Eine Hand auf seinem Arm stoppte ihn.

„Du sagtest, du würdest mit deinen Versprechungen in Zukunft sorgsamer sein.“ Er sah zu seiner Gefährtin herab, die ihn wiederum mit festem Blick in die Augen sah. „Ich will, dass du mir etwas versprichst, Thorin Eichenschild. Das nächste Mal, wenn du einen Albtraum hast, kommst du zu mir. Ich will, dass wir das zusammen durchstehen, verstehst du mich? Keine Alleingänge mehr! Bleib bei mir. Versprich es mir.“

Er musste es. Oder dieser Moment würde der Anfang vom Ende sein. „Ich verspreche es“, sagte Thorin und hörte die Bestie grummeln.

 

~

 

Marie war müde von der tagelangen Reise zu Pferd. Ihre Beine taten ihr weh, ihre Oberschenkel fühlten sich wundgescheuert und ihr Hinterteil plattgesessen an. Deswegen bat sie, die letzten Meilen zu Fuß laufen zu dürfen. Gemeinsam erklommen sie Erebors einsame Berghänge.

Früher hatte es einen Wald gegeben, der Menschen und Zwergen Holz geliefert und ihrem Vieh Futter gegeben hatte. Zusammen mit ihren Eltern hatte sie hier Kräuter, Pilze und wilde Beeren pflücken können. Nun schaute Marie auf hartes Gestein, soweit das Auge reichte. Flechten, Heidekraut und niedriges Gras waren die einzigen Pflanzen, die in dieser Einöde wuchsen. Das Drachenfeuer hatte den Wald niedergebrannt. Bis heute hatte sich die Natur nicht von dem Inferno erholt und sie fragte sich, ob hier je wieder ein Baum wachsen würde. Ihre Gedanken fanden ein jähes Ende, als Thorin am Rande eines Tals stehen blieb. Ihrem Tal.

Ihr Herz setzte aus, nur um mit dem nächstem Atemzug ihr bis zum Hals zu schlagen. Geschützt wie in einem Nest erhob sich in der Mitte des Hochtals Dale mit seinen roten Ziegeldächern und hellen Gebäuden hinter der ringförmigen Außenmauer. Sie lächelte, als Erinnerungen an ihr früheres Leben mit dem Wind zu ihr getragen wurden. Der Atem des Berges hieß sie willkommen. Es war ihre altes Zuhause. Ihre Heimat.

Sie musste die Augen vor dem Anblick schließen, um die Tränen der Freude zurückzuhalten. Als sie das letzte Mal hier oben stand, hatte sie einer brennenden Stadt Lebewohl gesagt, ohne Hoffnung, auf ein Wiedersehen. Sechzehn Jahre später stand sie erneut hier. Mit Thorin, dem König Erebors, an ihrer Seite. Dieser begegnete ihren Blick und schenkte ihr ein Lächeln. Marie lächelte zurück. Sie hatten es endlich geschafft.

„Lass uns das letzte Stück reiten.“ Er half ihr in den Sattel, ehe er mithilfe eines nahe gelegenen Felsens ebenfalls aufsitzen konnte.

Über einen Pfad ging es hinab auf den Grund des Tals. Immer wieder sah Marie zu ihrer Heimatstadt, als wäre sie ein Trugbild, das jederzeit verblassen könnte. Sie fühlte Freude und eine unbändige Neugierde auf das, was vor ihnen lag.

Als sie die imposante Brücke passierten, die über den Gebirgsfluss zum Haupttor der Stadt führte, fühlte Marie sich wie in eine andere Zeit zurückversetzt. Das Torhaus glitt über sie hinweg und die Reisenden ritten in Dale ein. Menschen waren auf den Straßen, herausgelockt nach dem Regen. Sie schauten den Ankömmlingen nach, jedoch war ein Zwerg in ihrer Stadt offenbar nicht allzu aufregend. Marie schaute sich die Gesichter an, die ihr begegneten, doch sie konnte keinen Bewohner Dales aus der alten Zeit wiedererkennen. Damals war sie ein neunzehnjähriges Mädchen, als sie ihre Heimat verlassen musste und so, wie sie jetzt aussah, würde wohl kaum einer sie auf Anhieb als die Tochter der einstigen Heiler wiedererkennen. Vieles war ihr vertraut, vieles aber hatte sich nach dem Krieg auch verändert. Einige Gebäude wiesen noch immer Spuren der Zerstörung auf oder befanden sich schon im Wiederaufbau. Sie entdeckte einen Obstbaum, von denen es früher in Dale hunderte gegeben hatte, die auf dem winzigsten Plätzchen Erde, an Häuserwänden und um Balkone geschlängelt Schatten gespendet hatten. Zur Erntezeit waren die Bäume mit farbenprächtigen Früchten schwer behangen gewesen. Jeder durfte sie pflücken. Es gab mehr als genug für alle.

Thorin lenkte Ferrox durch die schmalen, verwinkelten Gassen, der von selbst ein flottes Tempo einschlug, als wüsste er ganz genau, dass auch er zuhause war. An einem einst wohlhabenden Herrenhaus auf dem Hügel der Stadt hielten sie schließlich.

„Das ist das Anwesen von Fürst Girion“, bemerkte Marie zu ihrer Überraschung.

„Nun ist es seines“, antwortete Thorin und wies mit einem Kopfnicken zu einem Mann, der über den Innenhof auf sie zu kam.

„Willkommen zurück, Euer Hoheit.“ Der Fremde neigte seinen Kopf vor dem Zwergenkönig, der bereits das Bein über den Pferdehals schwang und aus dem Sattel rutschte. „Ihr werdet schon erwartet bei Eurem Volk. Die Gerüchte über Euer Verschwinden wurden bis zu uns getragen. Sie sind ungeduldig geworden.“

„Ich hatte meine Gründe.“

„Die sehe ich“, murmelte der Mensch. Seine wachen, braunen Augen hingen neugierig an Marie. Unter seinem dunklen Oberlippenbart zuckte ein Lächeln, das weder ungeniert noch frech war. Es machte ihn sympathisch.

Die Hände um ihre Taille hob Thorin Marie aus dem Sattel und nahm sie an seine Seite, um sie als seine Zukünftige vorzustellen. Über Maries Wangen schoss die Röte, ohne dass sie es verhindern konnte. Nun war es also offiziell.

Der Fremde, der ihr als Bard, der Drachentöter von Esgaroth, vorgestellt wurde, wirkte im ersten Moment genauso überrumpelt wie sie selbst. Dann jedoch verneigte er sich vor der sehr viel kleineren Marie, der eine solche Geste sehr unangenehm war. Denn eigentlich müsste sie sich verneigen.

„Ihr stammt aus Girions Familie.“

Bard runzelte die Stirn. „Das stimmt, Mylady. Woher wisst Ihr das?“

„Dale war auch meine Heimat, bevor der Drache angriff. Meine Familie war seit Generationen Heiler dieser Stadt. Ich erkenne jemanden aus dieser Familie, wenn er vor mir steht.“

Erneut nahm Bard ihre Gestalt in Augenschein und schien tief in seinem Gedächtnis zu graben. „Dann müssen Eure Eltern Myrrte und Soren sein. Ich erinnere mich an sie. Ihr seht Eurer Mutter sehr ähnlich. Sie waren hoch geschätzt, auch in meiner Familie. Geht es Ihnen gut?“

„Sie sind bereits verstorben.“

„Das tut mir aufrichtig leid. Dales Tore stehen Euch jederzeit offen, falls Ihr etwas Heimweh habt.“

„Ich danke Euch. Das bedeutet mir viel.“

„Wir sind müde von der langen Reise“, unterbrach Thorin ihre Plauderei. ,,Wir würden nach Erebor aufbrechen wollen. Ich danke für Euer Pferd. Es ist ein außergewöhnliches Tier. Er würde sich prima als Stammvater einer Zucht machen.“

Ferrox rieb seinen Kopf an seinen Herrn, der sein Tier entgegennahm und ihm zufrieden den Hals klopfte. „Den Gedanken hatte ich auch schon.“ Bard bot an, jemanden für das Gepäck mitzuschicken, doch der Zwerg lehnte ab und warf sich die Taschen über die eigenen Schultern. Man war deutlich anzumerken, dass er es eilig hatte, nach Hause zu kommen.

Marie nutzte die letzte Gelegenheit und streichelte Ferrox die Stirn. „Danke, dass du uns bis hier her getragen hast. Mach´s gut, mein Freund.“ Sie gab ihm ein Küssen auf die Nase. „Er hat sich eine lange Pause auf einer Weide verdient“, sagte sie an seinen Besitzer gewandt. ,,Und Hafer, so viel er will.“

„Es wird ihm an nichts fehlen. Meine Mädchen haben ihn schon vermisst. Es wird sie freuen zu hören, dass er wieder da ist. Nun denn, willkommen zurück, Mylady. Ich wünsche Euch alles Gute.“

Ihre Hand wurde genommen. „Es war mir eine Ehre, Euch kennenzulernen“, erwiderte sie noch schnell, ehe Thorin sie fortführte. Sie verließen das Anwesen und schlugen den direkten Weg zurück zum Haupttor ein. Sie hatten erst wenige Straßenzüge hinter sich gebracht, da blieb Marie stehen.

„Ich weiß, du möchtest nach Hause, aber könnten wir vielleicht noch kurz wohin, jetzt da wir schon mal hier sind?“

„Du möchtest zu deinem alten Heim.“

„Nichts lieber als das.“ Marie nagte an ihrer Unterlippe und wartete seine Antwort ab. Sie versuchte, mit extra großen Augen zu ihm hinaufzuschauen und wusste im nächsten Moment, dass sie ihn damit geknackt hatte.

„Auf ein paar Minuten mehr kommt es nun auch nicht mehr drauf an.“

Das Strahlen, das ihr Gesicht erhellte, reichte von einem Ohr zum anderen. Beflügelt von ihrer Heimat eilte Marie voraus. Immer wieder musste sie jedoch stehenbleiben, um sich nach Thorin umzudrehen, der mit ihrem Gepäck langsamer vorankam. Ihre Ungeduld konnte sie kaum zügeln. Sie nahm ihm ihre Fellrolle ab, schulterte den Riemen ihres Rucksacks und lief los. „Komm schon, wir sind fast da!“ Die Müdigkeit in ihren Beinen war verflogen. Ihre Stiefel fanden von allein den alten Weg, bis sie dort angekommen war, wo viele Male ihre Träume sie hingeführt hatten.

An der Straßenecke angekommen blickte sie zum gegenüberliegenden Haus, das ganz anders aussah als in ihren Erinnerungen. Hinter der Außenmauer lag der kleine Innenhof. Rechter Hand ging es in den Keller hinab. Wenn man die Treppe stattdessen rauf ging, kam man in die Küche. Daneben der kleine Wohnraum. Im vorderen Gebäudeteil war der Raum, in dem ihre Eltern Patienten empfangen und behandelt hatten. Geräusche und Gerüche, vertraute Gesichter begegneten ihr. Wärme und die Umarmung einer Mutter schlangen sich um ihr Herz. In ihren Erinnerungen lief Marie durch Zeit und Raum und vergaß für einen Moment, wo sie war. Auf der Südseite lag der Balkon, auf dem sie Kräuter in unzähligen Töpfen im Sommer herangezogen hatten. Es fühlte sich falsch an, eine fremde Frau plötzlich auf diesem zu sehen. Sie balancierte ein Kleinkind auf der Hüfte, während sie einen Teppich über die Brüstung legte. Es war ihr Zuhause…und im selben Moment auch wieder nicht. Die Haustür war nicht länger grün, die Farbe abgeblättert. Die Blumenkübel neben den Stufen waren nicht mehr da…

„Ich könnte es dir kaufen.“

Perplex sah Marie ihren Begleiter an und ließ die Worte in der Luft schweben. „Mir kaufen?“

„Du brauchst es nur zu sagen.“

„Könntest du das denn so einfach?“

Spöttisch verzog er den Mund. „Ich habe genug Gold, um ganz Dale zu kaufen.“

Ohne das glauben zu können richtete sie ihren Blick zurück zum Balkon. Ein Mann erschien und ging zu seiner Frau und dem Kind. Sie lächelten, wirkten glücklich. Verliebt. „Aber dann würde diese Familie ihr Heim verlieren.“

„Sie könnten sich ein anderen Haus suchen. Es gibt sicherlich noch leerstehende in der Stadt.“

„Vielleicht hast du recht“, Marie wandte sich von dem Haus ab und ihrem Krieger zu, „aber das, was einmal gewesen war, ist nicht mehr. Heute bist du mein Zuhause.“ Seine Augen leuchteten und verhalf dem Schmetterling in ihrem Bauch zu neuer Stärke. Ihrer Intuition folgend stellte Marie sich auf die Zehenspitzen und küsste seine Lippen. Leicht war ihre Berührung, doch sie konnte es deutlich spüren: dieses Knistern zwischen ihnen. Der Hunger nach seinem Körper. Das Gepäck rutschte zu Boden. Sofort war Thorin bei ihr. Seine Hand schob sich in ihr Genick, als er den Kuss vertiefte. Kuss an Kuss reihte sich aneinander, verschmolzen zu reinem Gefühl. Der Streit und die Entbehrungen der letzten Tage rückten in den Hintergrund. Sie waren nicht vergessen, aber für den Moment belanglos. Dies hier war viel wichtiger. In der Stadt, in der alles ihren Anfang genommen hatte.

Marie zügelte sich selbst und ihre abdriftenden Gedanken. Sie musste schnellstmöglich mit diesem Mann alleine sein. „Wir sollten das hier woanders fortsetzen.“

„Das klingt sehr verlockend.“ Weiterhin hielt Thorin sie ganz nah bei sich. „Wir können jederzeit noch einmal herkommen, mell nin,“, wisperte er an ihren Lippen. „In lauen Sommernächten zum Beispiel.“

„Lauter verlockende Angebote an diesem Tag…“

„Der Tag ist noch nicht vorbei, Mylady.“

Marie ergriff die ausgestreckte Hand. Mylady. Ein neues Kapitel in ihrem Leben hatte begonnen.

 

Selbst von Weitem waren die Wächter Erebors eindrucksvolle Statuen und je näher man ihnen kam, desto einschüchternder wirkten sie auf jeden Fremden. Ihre erhobenen Äxte und die Rüstungen, die sie trugen, waren ein deutliches Signal.

Noch nie war Marie diesen Weg weitergegangen als jetzt. Nie hatte sie das Zwergenkönigreich betreten, das direkt vor ihrer Haustür lag. Erebor blieb stets verborgen für die Menschen. Seit der junge Prinz dieses Landes in ihr Leben getreten war, hatte sie davon geträumt, was jenseits des mächtiges Tores lag. Doch mit jedem Schritt, der sie näher an ihr Ziel brachte, wurde das Flattern in ihrer Brust schlimmer.

Unterhalb der Tormauer lag ein mit Wasser vollgelaufener Graben, über den wie in alten Zeiten eine solide Brücke führte. Thorin blickte an ihr und an dem Wall empor und war sehr zufrieden mit den abgeschlossenen Reparaturarbeiten. Die Steinmetze hatten ganze Arbeit geleistet. Plötzlich bemerkte er am Ruck an seiner Hand, dass seine Gefährtin stehen geblieben war. „Alles in Ordnung?“

„Ein bisschen weiche Knie“, murmelte sie.

„Und was ist es in Wirklichkeit?“ Sie konnte ihre Gedanken nicht vor ihm verstecken, so laut lagen sie unausgesprochen zwischen ihnen. Er ahnte, was seit seiner Offenbarung im Grünwald in ihr vorgehen musste. Eine solch große Aufgabe; an der Seite eines Herrschers zu stehen, hatte nie in ihrem bisherigen Leben eine Rolle gespielt. Nun hatte sie Angst vor dem, was vor ihr liegen würde. Er spürte es ganz deutlich.

Immer noch war Marie ihm eine Antwort schuldig. Stattdessen fragte sie: „Weiß dein Volk, wer ich bin?“

„Ich habe vor meinem Aufbruch Balin ein Schreiben gegeben, in dem ich einiges erkläre. Er sollte die Worte an mein Volk richten, damit es weiß, warum ich fort bin.“

„Dann wissen alle, dass ich ein Mensch bin?“

„Du bist eine von uns.“ Die Antwort schien sie jedoch nicht sonderlich zu beruhigen.

„Nur äußerlich.“

„Was spielt das für eine Rolle?“

Sie schaute auf ihre Hände, die noch immer einander festhielten. „Ich weiß, wie man Krankheiten heilt und Verletzungen behandelt. Aber nicht, wie man ein Volk regiert.“ Ihre grünen Augen blickten zu ihm auf, groß und ängstlich. „Was ist, wenn mich niemand akzeptiert? Ich will nicht, dass dein Ansehen wegen mir leidet.“

Thorin überwand die Lücke zwischen ihnen und zog sie sanft an sich. „Was du für mich und meine Männer getan hast, weiß inzwischen jeder Zwerg in Erebor. Ich habe es öffentlich gemacht, damit sie erfahren, wer du bist. Sie sollten wissen, dass du meine Neffen – den Prinzen – das Leben gerettet hast, dass du mir und meinen Gefährten ein Dach über den Kopf gegeben und unsere Wunden versorgt hast, obwohl wir ein Haufen aus der Wildnis kommende Fremde waren.“

„Das war selbstverständlich für mich“, widersprach sie. ,,Ich bin Heilerin.“

„Du hast damit bereits mehr für uns und unsere Mission getan als die Mehrheit aller sieben Zwergenreiche“, hielt er dagegen. ,,Ich habe in dem Brief geschrieben, dass ich losgezogen bin, um die Frau nach Erebor zu holen, der mein Herz gehört.“ Er hatte es geschafft, dass sein Mädchen aus Dale errötete. „Du hast jedoch recht: man wird dich unter die Lupe nehmen. Zugegeben, wir misstrauen Fremden. Alle Zweifler kann man nicht innerhalb einer so kurzen Zeit eines Besseren belehren. Sie kennen dich nicht. Aber sie werden dich kennenlernen, so wie es meine Männer getan haben und dich mit den Augen sehen, wie auch ich dich sehe. Ich weiß, dass das alles viel sein wird in der nächsten Zeit, mein Liebling. Du musst dich nicht von heute auf morgen an all das gewöhnt haben. Erebor wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Ich möchte aber, dass du es versuchst, lernwillig bist und immer dein Bestes gibst. Würdest du das für mich tun?“

„Das werde ich“, antwortete Marie. „Danke. Das habe ich gebraucht.“

Der Krieger lehnte sich zu ihr, um ihr einen Kuss zu geben, der seine Worte unterstreichen sollte. „Lass sie uns nicht länger warten lassen. Wir werden schon beobachtet.“

Nervös blickte Marie an der gewaltigen Mauer empor und erkannte Soldaten auf einem Gang oberhalb des Tores. Von dort oben hatten sie den perfekten Blick über das Tal und auch auf die beiden Ankömmlinge gehabt. Marie konnte bloß hoffen, dass ihr Gespräch unbelauscht geblieben war. Kaum hatten sie einen Fuß auf die Brücke gesetzt, wurde das Tor geöffnet. Mit einem dumpfen Rattern wurde das massive Tor in die Höhe gehoben und eröffnete eine andere Welt, fernab die der Menschen. Ihr Herz klopfte wild, als der Krieger sie hinein in den Berg führte und was Marie dort zu sehen bekam, machte sie sprachlos.

 

7

 

 

Die Eingangshallen von Erebor besaßen einen Ruf über die Grenzen des Hochtals hinaus. Den Grund dafür sah Marie nun mit eigenen Augen. Monumentale Säulen, zu Paaren aufgereiht bildeten vier gewaltige Hallen, die kreuzförmig angelegt waren. Als sie ihren Kopf in den Nacken legte, klappte ihr sehr unköniglich der Mund auf. Stockwerk über Stockwerk führten die Hallen in die Höhe.

„Willkommen daheim, Eure Majestät.“ Ein Soldat der Wachmannschaft vom Tor verbeugte sich vor Thorin, dann auch vor ihr. „Mylady.“

Mit einem verhaltenden Lächeln nickte Marie ihm zu. Sie blieben im vordersten Teil der Eingangshallen und Thorin sprach mit dem Soldaten. Marie konnte dem Gespräch nicht zuhören. Es war unmöglich damit aufzuhören, sich umzusehen. Bei allen Himmeln dieser Welt… Der Fußboden bestand aus grünem Stein, so glatt, dass Schemen und Licht sich darauf spiegelten. War das Marmor? Sie hatte nicht den blassesten Schimmer.

Marie wurde aus ihrem Staunen gerissen, als ihr angeboten wurde, das Gepäck abzunehmen. Thorin erklärte, dass man es schon auf ihre Zimmer bringen würde. Sie gab dem Mann ihren Rucksack. Ein anderer nahm von Thorin Gepäck und Ausrüstung. Plötzlich erschien ein Strahlen auf seinem Gesicht. „Schau mal.“

Ein junger Mann, den sie sofort wiedererkannte, kam auf die Ankömmlinge zu. „Fili!“

„Willkommen, Tante Marie!“ Herzlich und warm schloss Fili sie in seine Umarmung. „Da bist du ja endlich! Wir warten schon alle auf dich.“

„Fili…“ Der ganze Stress der letzten Tage fiel mit einem Mal von ihr ab. Filis Nähe hatte etwas Tröstliches und gab ihr etwas Bekanntes zwischen all dem Neuen. „Oh, Fili, du bist es wirklich!“ Marie trat einen Schritt zurück, damit sie ihn anschauen konnte. „Ich kann es kaum glauben!“ Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. Er trug edle Kleidung, die mit Kettengliedern gepanzert war, und wirkte sehr glücklich. Nichtsdestotrotz, auch bei ihm hatte der Krieg Spuren hinterlassen. Auf Anhieb sah sie einen verheilten Bruch seiner Nase und als ihre Hände die seine griffen, fühlte sie es. Ihr Blick fiel unweigerlich zwischen ihnen und landete auf der großen Narbe, die seinen Handrücken überzog. Die Knochen in seiner Hand mussten gebrochen gewesen sein. Noch heute konnte sie die darunterliegenden Unebenheiten fühlen.

„Keine Sorge“, flüsterte er. „Mir geht’s gut.“

Marie schaute ihm zurück ins Gesicht und versuchte, trotz Thorins Schilderung, was ihm und seinem Bruder im Krieg passiert war, ihr Lächeln nicht zu verlieren. „Das sehe ich.“

Nun trat auch Thorin näher, um seinen Neffen ebenfalls zu begrüßen, ehe er stolz verkündete: „Vor dir, Marie, steht Erebors Hauptmann, Kommandant der Wachen und Soldaten.“

„Der noch in der Lehre ist“, fügte dieser hinzu, als würde er den Trubel um sich abschwächen wollen.

„Fili, das ist ja fantastisch! Glückwunsch.“

„Ich erwarte einen ausführlichen Bericht heute Abend“, sagte Thorin an seinen Neffen gewandt.

„Wird erledigt. Wir sehen uns dann heute Abend beim Essen, Marie.“

„Ich freue mich.“

„Ihr werdet durch die Stadt begleitet.“ Fili gab den Männern einen Wink. Vier Soldaten in voller Rüstung verließen ihre Position vom Tor und nahmen Marie und Thorin in ihre Mitte. „Bis nachher!“

Ihre Eskorte setzte sich mit ihnen in Bewegung. Es war befremdlich für Marie, diese Art von Begleitung zu haben.

„Sie dienen nur unserem Schutz“, sagte Thorin, der wohl ihre Unsicherheit bemerkt hatte. „Wo wir gerade davon sprechen: ich möchte dich bitten, immer jemanden bei dir zu haben, wenn du in Erebor unterwegs bist. Du bist nun Teil der königlichen Familie und als Uzbada, als Frau von Rang und Namen, gehört es zum guten Ruf, Begleitung zu haben.“

Wieder etwas, woran Marie sich gewöhnen musste. „Das bekomme ich wohl hin.“ Sie sah an sich herunter. Ihre Kleidung war zerknittert, dreckig und mit Pferdehaaren gespickt, ihre Schuhe matschbespritzt, ihre Haare zu einem Knoten vertüddelt. Ein Teil der königlichen Familie. Na wunderbar.

Nach der Nordhalle durchquerten sie einen großen Torbogen, als plötzlich die Wände wichen und der Raum sich in Luft auflöste. Zum zweiten Mal in kürzester Zeit blieb ihr der Mund offen stehen. Vor ihnen lag Erebor, die Stadt unter dem Berge.

Mit Freude sah Thorin das Staunen auf ihrem Gesicht. „Hattest du gedacht, wir würden in einer Höhle wohnen?“

„Ich hatte es mir etwas…kleiner vorgestellt.“

„Klein…“ Er schmunzelte. „Dieses Wort musst du von heute an aus deinem Wortschatz streichen, Liebling.“

Die Eskorte brachte sie mitten hinein ins Herz des Berges.

Ehrfürchtig vor dieser Stadt lief Marie an Thorins Seite und konnte nicht aufhören, zu staunen. Mit diesen Dimensionen unter Tage hatte sie nicht gerechnet. Wunderschön gearbeitete Statuen flankierten ihren Weg. Säulen machten den Anschein, als hielten sie das Gewicht des Berges. Treppen und Wege schwebten in der Luft oder verliefen an Säulen und Gebäudekomplexen entlang. Nichts war kreuz und quer. Alles hatte den Anschein, nach exakten Plänen zu verlaufen. Nie hatte Marie eine vergleichbare Steinmetzkunst gesehen. Wie viele Generationen hatte es gedauert, bis man all das aus dem Stein geschlagen hatte? Marie sah nach oben und konnte kein Ende erkennen. Das Gestein der monumentalen Bauten war dunkel und von grünen, hier und da auch von helleren Adern durchzogen. Spiegel teilten die Lichtstrahlen von unzählbaren Lampen und versorgten so die Hallen unter Tage mit genügend Helligkeit. Treppen führten sie Ebene um Ebene höher.

Als Marie über den sicheren Boden eines Weges sah, der völlig frei und ohne jegliches Geländer gesichert von einer Seite zu einer anderen verlief, zuckte sie zurück. Schwindelerregend tief ging es unter ihnen abwärts. „Das ist doch gefährlich.“

„Deswegen“, antwortete Thorin, „geht man ja auch in der Mitte.“

Erebor war nicht mit einer Stadt der Menschen zu vergleichen, obwohl sie auf ihrem Weg alles sah, was es auch in einer menschlichen Stadt geben würde. Die Bewohner hielten auf den Straßen und Wegen inne. Manche erkannten Thorin und begrüßten ihren König standesgemäß. Neugierig lagen jedoch die Blicke eine bedeutend längere Zeit auf dessen weibliche Begleitung. Jene versuchte freundlich zu lächeln und drückte Thorins Hand fester. Ein weiterer Soldat schloss sich ihnen an und raunte seinem König etwas auf Khuzdul zu. Thorin antwortete ihm kurz und knapp und der Mann entfernte sich wieder.

„Was ist los?“, fragte Marie, die kein Wort verstanden hatte.

„Unsere Ankunft hat sich rumgesprochen. Wir kommen gleich an einem Platz in einem Werkstattviertel vorbei. Dort werden wir kurz anhalten.“

„Und das heißt?“

„Wir werden uns zeigen.“

„Zeigen?! Schau doch mal, wie ich aussehe! Ich kann mich unmöglich so irgendjemandem zeigen.“

„Du sieht wunderschön aus.“

„Du weißt selber, dass das gelogen ist“, zischte sie. Marie hatte keine Zeit mehr, etwas gegen ihr Aussehen zu unternehmen. Vom Schatten eines Durchgangs erreichten sie halbmondförmige Balkone, die sich an der Außenseite eines Gebäudes schmiegten. Genau hier machte die Eskorte Halt. Der Geruch von Sägespäne, Feuer und Teer wurde aus der Halle vor ihnen empor geweht. Zielsicher hielt Thorin ihre Hand und trat auf einen der Balkone, führte sie bis ganz nach vorne. Dorthin, wo alle sie sehen konnten.

Der ausbrechende Jubel hatte eine Lautstärke, mit der Marie nicht gerechnet hatte. Direkt unter ihnen lag ein Platz, eingekreist von Werkstätten. Augenscheinliche Arbeiter und Fußvolk hatten sich bereits versammelt. Andere eilten noch eilig herbei, um ebenfalls einen Blick auf den König zu erhaschen. Manche Zwerge waren auf den Rand des Brunnens geklettert, der im Zentrum der Werkstätten lag, um einen besseren Blick zu bekommen.

„Lächeln und winken.“ Thorin machte es vor und eine neue Welle an Jubel brach los. Marie hob ebenfalls die Hand und hoffte, nicht allzu dümmlich zu grinsen. Nach wenigen Atemzügen war die Vorstellung vorbei. Sie gingen zurück zur Eskorte, die sich wieder in Bewegung setzte. Thorin hob ihre Hand an seinen Mund, um ihre Fingerknöchel zu küssen. „War doch gar nicht schlecht für den Anfang.“

 

Wie lange sie nun schon unterwegs waren und wie viele Treppen sie noch zu meistern hatten, wusste Marie nicht. Allmählich protestierten ihre Oberschenkel gegen die bewältigten Höhenmeter. Bei den ganzen Eindrücken, die ihre Sinne aufschnappten, hatte sie kein Zeitgefühl mehr. Irgendwann waren die Geräusche der Stadt unter ihnen verschwunden und sie erreichten einen saalähnlichen Raum, vor dem zwei Wachposten Stellung bezogen hatten. Sie salutierten, als ihr König sie passierte. Ihre Stiefelschritte verschluckte ein roter Teppich. Maries Aufmerksamkeit fingen die großflächigen Wandteppiche ein, die die Wände schmückten. Zu ihrer Überraschung blieb die Eskorte hier stehen. Einer der Soldaten verbeugte sich und gab damit das Zeichen, zum Aufbruch. Die Männer machten kehrt und entfernten sich in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren.

„Das ist der Vorsaal zu den königlichen Gemächern“, erklärte Thorin, als sie alleine waren, froh darüber endlich heimgekommen zu sein. „Hier finden einige der normalen Tagesabläufe statt. Dort geht es zur Küche.“ Die verführerischen Gerüche, die von dort kamen, verzückten seinen ausgehungerten Magen. „Und dort“, er wies auf den gegenüberliegenden Gang, „zur königlichen Bibliothek. Die öffentliche befindet sich woanders.“

„Ich war noch nie in meinem Leben in einer Bibliothek.“

„Dann hast du einiges nachzuholen. Es gibt auch Bücher in deiner Sprache. Du kannst dir so viele ausleihen, wie du magst. Sie steht Tag und Nacht offen.“

Marie breitete die Arme aus. „Thorin, das…“ Sie versuchte diesen Tag wohl irgendwie in Worte zu fassen. Ihre Euphorie brachte ihn zum Lächeln. „Das ist einfach unglaublich hier. Alles! Ich möchte noch mehr sehen.“

„Alles zu seiner Zeit, mein Kind.“

Sie drehten sich nach der vertrauten Stimme um. „Balin!“ Marie eilte auf den weißhaarigen Zwerg zu und fiel ihm um den Hals. „Oh, Balin… Wie schön, euch alle wiederzusehen!“

Unter dem weißen Bart bekam der Zwerg einen ganz roten Kopf und lachte, berührt von ihrer Herzlichkeit. „Es ist auch schön, dich zu sehen, mein Kind. Wie war die Reise?“

„Alles andere als langweilig.“ Ihr Gefährte bekam einen vielsagenden Blick ab. Thorin ignorierte ihre Stichelei und kam zu ihnen herüber.

Balin neigte seinen Kopf vor seinem zurückgekehrten Anführer und König. „Thorin.“

„Balin.“

„Seitdem die Nachricht kam, dass ihr eingetroffen seid, herrscht in der Küche Krieg. Ich würde da meinen Fuß nicht reinsetzen. Bruna ist sehr treffsicher mit ihrem Kochlöffel. Man könnte meinen, sie und ihre Mädchen wollten einen Wettbewerb gewinnen. Sie schimpfen, dass sie sich gar nicht auf eure Ankunft hatten vorbereiten können.“

„Nur um dann heute Abend ein Festmahl aufzudecken, das seinesgleichen sucht“, riet Thorin. Sein alter Freund schüttelte lachend den Kopf, sodass sein langer Bart hin und her schwang. „Irgendetwas in der Zwischenzeit passiert?“

„Das kann man wohl sagen.“ Schlagartig änderte sich Balins Mimik und allarmierte Thorin. „Boten von König Ubba sind vor zwei Tagen hier eingetroffen.“

„Ubba? Was will er? Die Versammlung der Sieben findet doch erst nächsten Vollmond statt.“

„Sie wollten dich persönlich sprechen. Ihr Anliegen wollten sie uns nicht mitteilen. Ungewiss, was Ubba von dir will. Es muss entweder dringend oder äußerst wichtig sein. Wir konnten sie überreden, mit einem der Gästezimmer vorlieb zu nehmen und auf deine Rückkehr zu warten.“

Thorin unterdrückte ein genervtes Knurren. „Ich bringe Marie hoch, dann kümmere ich mich darum.“ Mit dem nächsten Satz wechselte er ins Khuzdul. Marie sollte nicht heute erfahren, welch verheerende Erfahrung er am eigenen Körper erlebt hatte. „Wo ist der Zauberer?“

Durin sei Dank spielte Balin sofort mit. „Ich habe ihn das letzte Mal heute Morgen gesehen. Was ist passiert?“ Balin vermied den winzigsten Blick zu Marie, der sie sonst verraten hätte.

„Der Drache.“ Mehr Erklärung bedurfte es nicht.

„Ich lass nach ihm schicken.“ Ohne sich etwas anmerken zu lassen, verabschiedete Balin sich nach einer kurzgehaltenen Plauderei mit Marie. Thorin führte sie weiter, doch diese hatte die Unterhaltung der beiden auf Khuzdul kritisch beäugt.

„Ist etwas?“

„Nur die Pflichten eines Königs.“

Der rote Teppich wurde von einem dunkelgrünen abgelöst, als sie die Treppe am Ende des Saales nahmen, um zur nächsthöheren Etage zu gelangen. Marie bemerkte eine Veränderung. Zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten verlief wie ein großes Hufeisen ein Gang, der so ganz anders wirkte als alle, die sie bisher passiert hatten. Als sie die Kommoden, dekoratives Schnick-Schnack, Gemälde und Kerzenhalter an den Wänden sah, wusste sie auch wieso: das hier war ein Flur, wie es ihn in einem sehr großen Haus geben mochte. Die Erkenntnis, dass das hier ihr neues Zuhause sein musste, ließ ihr Herz schneller schlagen.

„Dort entlang geht es zu Filis Zimmern. Kilis liegen auf der anderen Seite. Vor uns ist der Speisesaal. Und hier“, Thorin ging zum nächsten Treppenabsatz, der noch ein Stockwerk höher führte, „geht es zu unseren Zimmern.“

Neugierde kribbelte in jeder Haarspitze, als sie gemeinsam die allerletzten Stufen emporstiegen. Oben angekommen gab es auf einem kleinen Flur nur eine einzige große Tür. Hier endete ihre Reise.

Hinter dieser Tür würde also von nun an ihr weiteres Leben seinen Mittelpunkt finden. Der Gedanke war utopisch. Nicht mal sieben Tage zuvor hatte Marie noch gedacht, niemals wieder Glück in ihrem Leben empfinden zu können, weil der Mann, der ihr Herz mit in einen Krieg genommen hatte, nicht mehr lebte. Alles hatte sich verändert. Und nie würde es wie früher sein.

Thorin war an der Tür stehen geblieben und überließ ihr den Vortritt. Das Zittern ihrer Hand unterdrückend fasste Marie nach der Klinke und schob die Eichentür auf. Das erste, was sie sah, war eine kleine Diele. Dahinter öffnete sich ein großzügiger Wohnraum, der auf den ersten Blick überraschend bodenständig ausgestattet war. Statt königlichem Protz empfing familiäre Gemütlichkeit sie von der ersten Minute an. Direkt vor ihnen stand ein Esstisch, an dem auch mehrere Gäste platznehmen konnten. Rechts ging der Raum weiter. In einem großen Kamin verströmte ein Feuer heimelige Wärme.

„Mylord, Ihr seid wieder da!“

Marie bekam den zweiten Schreck ihres Lebens. Sie hatte nicht damit gerechnet, jemand anderes hier anzutreffen. Wie aus dem Boden gewachsen standen zwei Zwerginnen im Zimmer und rangen vor Begeisterung die Hände. Die Dunkelhaarige war jünger als sie selbst, soweit Marie das beurteilen konnte. Ihre lebhaft funkelnden Augen waren das Erste, was Marie an ihr auffielen. Das dunkelbraune Haar war mit Nadeln hochgesteckt, jedoch schienen diese gegen die Schwere ihres Haars nur bedingt anzukommen, sodass einige Locken runtergerutscht waren und ihr hübsches Gesicht einrahmten. Ein Bartschatten lag über Kinn und Wangen, die Farbe besaßen, als käme sie gerade von draußen rein. Das Haar der Älteren war bereits weiß. Trotz ihres Alters und Leibesumfang hatte sie eine gerade Haltung, die vornehm und sehr sittlich wirkte. Ihr weißer Bart war länger und zu einer ordentlichen Flechtkunst eng am Kiefer entlang gebändigt. Beide trugen einfache, hochgeschlossene Kleider in der Farbe von Rotwein, darüber strahlend weiße Schürzen. Ein weißes Tuch, das um die Kragen der Kleider lag, war feinsäuberlich in die Schnürungen der Mieder festgesteckt worden. Da erkannte Marie, dass diese Frauen Zimmermädchen oder so etwas in der Art sein mussten.

„Marie, darf ich dir Piljar, die gute Seele dieser Räume vorstellen? Sie dient meiner Familie schon seit ich denken kann. Eine treue und unverzichtbare Frau, die hier alles zusammen hält.“

„Euer Gnaden, Ihr übertreibt mal wieder unverschämt maßlos.“ An der Art, wie Piljar ihn rügte, spürte Marie sofort die langjährige Beziehung zwischen ihr und seiner Familie. Zudem erinnerte sie Marie an eine ältere Version von Hilda. Piljar fiel in einen tiefen Knicks. „Mylady, es ist mir eine große Ehre, Euch dienen zu dürfen.“

Weil sie nicht wusste, ob eine Verbeugung oder auch ein Knicks angemessen in der Situation war, entschied sich Marie für ein Nicken. Den Reflex, ihr die Hand entgegenzustrecken, unterdrückte sie konsequent.

„Und das hier ist Tara. Ich habe sie für dich angestellt. Sie ist noch nicht lange hier und hat eine unkonventionelle Art, die du mögen wirst.“

„Euer Gnaden.“ Auch Tara knickste vor ihr.

„Nur Marie – wenn es Euch keine Umstände bereitet, bitte. Das ist alles neu für mich.“ Kurz trat Stille ein. Die beiden Frauen warfen ihrem König einen schnellen Blick zu. Thorin gab nickend sein Einverständnis.

Ehe das Schweigen unangenehme werden konnte, richtete Piljar das Wort an Marie: „Ihr müsst ziemlich erschöpft sein von dem Marsch. Wie wäre es mit einem heißen Bad? Das Wasser ist schon vorbereitet.“

„Das hört sich traumhaft an.“

„Ich sehe, du bist in bester Gesellschaft. Ich komme dann später zu dir.“

Marie wirbelte zu ihrem Gefährten herum. „Aber wir sind doch gerade erst angekommen.“

„Ich muss mich um etwas kümmern.“

Die Enttäuschung traf sie hart. „Die Pflichten eines Königs.“

Beschwichtigend kam Thorin wieder zu ihr und fasste nach ihren Armen. „Ubba ist…sehr schwierig. Du wirst es nachvollziehen, wenn du ihn kennengelernt hast. Ich spreche mit den Boten, jage sie heim und komme so schnell es geht wieder. Versprochen.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und ging.

Marie sah ihm nach und versuchte, ihre Enttäuschung runterzuschlucken. Dann drehte sie sich zu den Frauen um, die sich nicht von der Stelle gerührt hatten.

„Mylord hat Recht“, mit überraschend mütterlicher Fürsorge harkte Piljar sanft ihren Arm bei sich unter, „bei uns seid Ihr in guten Händen“, und brachte sie zu einem angrenzenden Raum, der sich als Schlafzimmer herausstellte. Marie staunte, als sie das riesige Bett sah, was vor bodentiefen Bleiglasfenstern thronte. Am Fußende fand sie ihren Rucksack stehen.

„Wir haben bereits eine kleine Grundausstattung für Euch in das Ankleidezimmer bringen lassen“, berichtete Tara.

„Ankleidezimmer?“ Dieses Wort hatte sie noch nie gehört.

„Ja, schaut!“ Tara machte es augenscheinlich großen Spaß, ihrer neuen Herrin alles zeigen zu dürfen. Sie führte sie zu einem Türrahmen ohne Tür neben einem Paravent in der hinteren Zimmerecke. Marie traute ihren Augen nicht. Der Raum war verhältnismäßig klein, doch seine einzige Funktion bestand anscheinend darin, als Kleiderschrank zu dienen. Eine ganze Wand beherbergte nur Männerkleidung. Im Gegensatz dazu war die andere noch spärlich gefüllt. Nur ein paar Kleider auf einer Stange und fein säuberlich zusammengelegte Wäsche konnte sie erkennen. Die übrigen Regale und Schubfächer waren noch leer und offenbar ebenfalls für sie bestimmt. Sollte das alles etwa gefüllt werden?

Tara musste ihren entgeisterten Gesichtsausdruck gesehen haben. „Sowas habt Ihr noch nie gesehen, nicht wahr, Mylady?“

„Ehrlich gesagt, nicht.“

„Das ist natürlich nicht alles. Die Schneider wussten Eure Maße nicht, deswegen haben wir ein paar einfache Kleider, die man jederzeit ändern kann, schon für Euch vorbereitet. In den nächsten Tagen bekommt Ihr eine ganz neue Ausstattung.“ Wie ein junges Mädchen klatschte sie in die Hände, als würde sie und nicht Marie neue Kleider anprobieren dürfen. „Das wird fantastisch!“

„Tara, hör auf zu quasseln und lass deine Herrin nicht länger in den dreckigen Sachen dastehen.“

Die Rüge von Piljar ließ Tara spurten. Sie hielt die Hände auf. „Bitte, Eure Kleider.“

Zögerlich begann Marie sich ausziehen. Was würden die Zwerginnen denken, wenn sie das erste Mal den Körper einer menschlichen Frau zu Gesicht bekamen? Stück für Stück reichte sie Tara ihre entledigten Klamotten, bis sie schließlich nackt vor ihnen stand.

„Herrje, Mylady, Ihr seid ja schrecklich dünn.“ Schon hielt Piljar einen Mantel für sie auf, in den sie wohl schlüpfen sollte. „Keine Bange. Das wird sich schnell ändern, jetzt wo Ihr hier seid. Möchtet Ihr eine Kleinigkeit vor dem Abendessen zu Euch nehmen?“

Dankbar schlüpfte Marie in den weiß-grau melierten Pelzmantel und verschwieg, dass sie schon mal schlechter ausgesehen hatte. So ein weiches Fell hatte sie noch nie auf der Haut getragen und vergaß für einen Moment, was sie sagen wollte. So einen Mantel konnte man unmöglich draußen tragen. Er würde bei dem ersten Regenschauer durchnässt sein. Wofür war er dann gedacht? „Äh, nein danke. Ich möchte mir eigentlich nur den Staub der Straßen abwaschen. Und bitte, nennt mich Marie. Ich bin keine Lady.“

Die Frauen hielten die Luft an. „Aber Ihr seid doch die Verlobte von Thorin Eichenschild“, platzte es aus Tara heraus.

Marie schaute zu Boden und war plötzlich peinlich berührt. Sie hatte Thorin versprochen, sich mit ihrer neuen Rolle zu arrangieren und nach nur ein paar Stunden sträubte sie sich gegen die grundlegendste Etikette. Hitze schoss ihr in den Kopf. Sie waren also schon verlobt... Himmel. Sie würde die schlechteste Königin in der Geschichte Erebors abgeben.

„Kopf hoch, Kind.“ Es war Piljar, die sie zu trösten versuchte, als hätte sie ihre niederschmetternden Gedanken gelesen. „Ihr… nun ja, Ihr seid etwas Besonderes. In vielerlei Hinsicht.“ Der Klang ihrer Stimme war warm und mütterlich. „Für uns ist das auch neu. Wir müssen uns erst beschnuppern, hm? Da fällt mir ein, Prinzessin Dis hatte von Zeit zu Zeit auch eine sehr unkonventionelle Art an den Tag gelegt.“

„Ihr kanntet Dis?“

Die Fältchen in Piljars Gesicht wurden tiefer, als sie lächelte. „Ich war ihre Zofe gewesen, seit sie ein Kind war.“ Wehmut füllte ihre Augen. „Ihr hättet sie sehr gern gehabt.“ Sie räusperte sich und straffte die Schultern, als könne sie so die Erinnerungen vertreiben. „Wir werden natürlich Euren Wunsch zu beherzigen versuchen.“

Nun war es Tara, die sich bei ihr einharkte. „Kommt, Marie, sonst wird das Wasser noch kalt.“ Diese schaute sich im Raum um. „Haha, doch nicht hier!“ Ihre Unwissenheit amüsierte Tara. „Kommt.“

„Und ich, ähm, müsste mal wohin…“

„Natürlich. Einen Moment.“ Sie führte sie zurück in den Wohnraum und steuerte eine Tür in der Nähe des Eingangsbereiches an, die Marie beim Eintreten gar nicht aufgefallen war. Dahinter lag ein weiterer Raum, jedoch um einiges kleiner. In der Mitte auf einem Steinquader stand ein mit Leinentüchern ausgeschlagene Badewanne, über deren Wasseroberfläche zarter Dampf aufstieg. Es war der größte Badebottich, den Marie je gesehen hatte. Da passten doch vier Personen rein!

„Hier, bitte.“ Tara hielt ihr eine unscheinbare Tür auf.

Ein Klosett in einem Raum, ohne dass man durch Schnee oder Regen laufen musste! Marie dachte an ihr Plumpsklo hinter ihrem Haus: eines der Dinge, die sie mit Sicherheit nicht vermissen würde.

Als sie von der Heimlichkeit zurück war, trat Tara wieder an ihre Seite, um ihr den Mantel abzunehmen, der wohl die einzige Funktion haben schien, sie warmzuhalten. Ein Seufzer kam ihr über die Lippen, als sie vorsichtig in die Wanne glitt. Das Wasser war herrlich warm und eine Wohltat für ihren Muskelkater. Sie bemerkte, dass ihr Po warm wurde und tastete unter den Tüchern. Die Wanne bestand aus Metall.

„Unter Euch brennt ein Feuer.“

„Ein Feuer?“

„Keine Sorge. Das Feuer brennt in dem Badeofen, auf dem die Wanne steht.“ Wie zur Bestätigung nahm das Zimmermädchen ein dünnes Holzscheit aus einem Korb, der unweit stand und öffnete eine Luke in dem steinernen Ofen. Das Knistern von Glut war zu hören. Tara warf das Holz hinein und schloss den Ofen wieder. „Seht Ihr? Wie eine Suppe auf dem Herd.“ Dann machte sie es sich auf einem Schemel neben der Wanne bequem und krempelte die Ärmel hoch.

„Falls Ihr nichts dagegen habt, würde ich mich gerne selber waschen wollen.“

Tara wirkte etwas ausgebremst in ihrer Euphorie. „Oh.“

Piljar erwies sich als ihre Retterin in der Not. „Du hast sie gehört, Mädchen. Lassen wir sie erstmal in aller Ruhe ankommen.“ Marie schenkte der älteren Zwergin im Türrahmen ein dankbares Lächeln. „Eure Kleidung aus Eurem Rucksack bringe ich in die Wäscherei. Tara, hol den Korb.“ Die Angesprochene flitzte los. „Falls Ihr irgendetwas braucht oder wünscht, betätigt einfach die Glocke.“ Sie zeigte auf ein Stück blaues Tau mit silberner Quaste, das von der Wand herab hing und man bequem von der Badewanne aus greifen konnte. „In jedem Raum befindet sich so eine Glocke. Es bimmelt dann unten in der Küche, wo immer jemand ist. Wir werden dann sofort bei Euch sei.“

„Ich danke Euch für alles.“ Marie meinte es aus vollem Herzen. Das Zimmermädchen machte einen Knicks und ließ sie alleine. Marie wartete, bis sie die Eingangstür ins Schloss schnappen hörte, und horchte noch einen weiteren Moment, ob sie auch wirklich allein war. Als sie sich dessen sicher war, ließ sie ihren Körper tiefer ins Wasser gleiten und atmete erst einmal durch. „Willkommen in Erebor.“

 

Reglos blieb Marie in der Hitze des Wasser liegen, bis ihre Haut schrumpelig war und ihre Muskeln sich butterweich anfühlten. Erst dann machte sie sich an den verschiedenen Flakons zu schaffen, die auf einem kleinen Beistelltischchen standen. Wahllos entkorkte sie einen und roch daran. Ein intensiver Duft nach Rosen kitzelte ihre Nase. Es war flüssige Seife! Begeistert schüttete sie ein wenig davon in ihre hohle Hand und begann damit ihren ganzen Körper einzuseifen. Wie sehr ein Bad nötig gewesen war, bezeugte das Badewasser. Danach kümmerte sie sich um ihre Haare und wählte dafür ein nach Kräuter riechendes Öl, das an ihr eigenes erinnerte, welches sie immer selbst hergestellt hatte. Es dauerte fast eine Ewigkeit, bis sie mit ihren Fingern die Knoten herausgekämmt hatte.

Marie angelte nach dem bereitgelegten Stapel Handtücher und stieg aus der Wanne. Sie würde niemandem verraten, dass sie sich jahrelang im Fluss oder, falls es dafür zu kalt war, in einem Holzbottich gewaschen hatte, der kaum größer als ein Schweinetrog gewesen war. Sie trocknete sich ab, schlang das Tuch um ihre nassen Haare und schlüpfte wieder in den flauschigen Mantel. Eines der Leinentücher war verrutscht und ließ es goldgelb darunter schimmern. Gedankenlos zog sie das Tuch ein Stück beiseite und ließ es sofort wieder fallen, als hätte sie sich verbrannt. Abermals hob sie es an und vergewisserte sich, dass sie nicht träumte: die Wanne bestand vollständig aus Gold! Sie hatte in einer goldenen Badewanne gelegen!

Anna würde tot umfallen, wenn sie das erfährt! Bei allen guten Geistern, wie viel war das? Das musste ein Vermögen wert sein! Im nächsten Moment aber verwunderte sie die Tatsache, warum man so viele Tücher auch von außen um die Wanne geschlungen hatte. Es hatte den Anschein, als hatte man versucht, das Gold zu verdecken. Aber wieso? Piljar und Tara mussten ihre Gründe gehabt haben, sonst hätten sie nicht so viele Leinen dafür verbraucht, dachte Marie und beschloss, es dabei sein zu lassen. Die beiden wussten schon, was sie taten. Sie hatte keine Ahnung, was sie mit dem Badewasser tun sollte, und hatte auch keinen Stöpsel ertasten können, also ließ sie alles, wie es war. Auch die Glut ließ sie im Ofen. Bei der nächsten Gelegenheit würde sie Tara fragen, was man am Ende eines Bades zu tun hatte. Marie war sehr erleichtert darüber, dass beide Frauen der Gemeinen Zunge mächtig waren. Es wäre schrecklich für sie gewesen, sich nicht richtig verständigen zu können. Trotzdem würde es sicherlich nicht schaden, Khuzdul zu erlernen. Sehr wahrscheinlich würde Thorin dies auch von ihr verlangen.

Auf nackten Füßen verließ sie den Waschraum und begab sich auf Erkundungstour. Sie ließ sich alle Zeit der Welt und genoss die Ruhe, die selten in den letzten Stunden gewesen war. Vor dem Kamin waren Sessel und ein Sofa aus rotem Stoff arrangiert, die einluden, hier zu verweilen. Auf dem Sims des Kamins entdeckte sie kleine Bilder, die sie magisch anzogen. Es war das erste Mal, dass Marie Thorins Geschwister sah. Der jüngste, Frerin, hatte dieselben Gesichtszüge wie sein großer Bruder. Seine Haare hingegen besaßen einen Braunton, genau wie die ihrer Schwester. Dis war die schönste Zwergin, die Marie jemals gesehen hatte. Ihre eingefangene Anmut auf dem kleinen Gemälde war einfach atemberaubend. Doch da gab es noch eine Frau auf dem Sims. Marie trat näher und realisierte, dass das dort Thorins Mutter sein musste. Sie besaß rabenschwarzes Haar, doch war um einiges zierlicher, als Marie sie sich vorgestellt hatte. Noch nie hatte Thorin von ihr gesprochen. Alles, was sie wusste, war, dass sie bei Frerins Geburt gestorben war.

Eines hatten diese gemalten Personen alle gemeinsam. Sie alle waren nicht mehr am Leben.

Die traurige Erkenntnis bohrte sich wie ein Dorn schmerzlich in ihr Herz. Fili und Kili waren die Einzigen, die ihm von seiner Familie geblieben waren.

Marie löste sich von den kleinen Kunstwerken und den Schicksalen, für die sie standen. Sie würde Thorin bitten, ihr mehr über seine Familie zu erzählen, die nun auch ein Teil ihrer Familie sein würde.

Auf der anderen Raumseite, in einer von dem Eingangsbereich geschaffenen Nische, stand ein massiger Schreibtisch, dahinter ein Bücherregal und ein abgeschlossener Sekretär. Ihre Fingerspitzen strichen über das schwere, gedunkelte Holz, auf dem etliche Papierstapel lagen. Hier wurden also die wegweisendsten Geschäfte eines Königreiches geführt. Sie wandte sich von Thorins Arbeitsplatz ab und schlenderte zurück in das Schlafzimmer, das ab sofort ihr gemeinsames sein sollte. Ein kleiner Ofen, in dem sie Glutbrocken glimmen sah, stand in der vorderen rechten Ecke des Raumes. Verschwenderisch viele Kissen lagen am Kopfende des Bettes drapiert. Die Tagesdecke bestand aus zusammengenähten braunen und schwarzen Fellen. Die Vorstellung, hier die Nächte mit einem König zu verbringen, weckte in ihr bislang unerfüllte Sehnsüchte. Die Matratze war breit und hoch und sicherlich nicht wie ihre alte mit Stroh gestopft. Zeit, es herauszufinden...

Marie nahm Anlauf und sprang mit einem Bauchklatscher in die Mitte des Bettes. Kichernd räkelte sie sich in den Decken und Kissen. Wie auf Wolken schwebend fielen ihr allmählich die Augen zu und wollten nicht mehr aufgehen. Sie war im Himmel angekommen.

 


8

 

 

Thorin musste den Drang unterdrücken, die Tür hinter sich nicht zu zuknallen. In seinen eigenen vier Wänden angekommen blieb er stehen und atmete gegen die brodelnde Wut in seinen Eingeweiden an. Er musste sich dringend beruhigen.

Er ließ etwas Zeit verstreichen, ehe er auf die Suche nach Marie ging. An der Tür zum Schlafzimmer blieb er stehen. Der Zorn über Ubbas Dreistigkeit verpuffte bei dem Anblick seines Mädchens. Ein Kissen umschlungen lag sie in Bademantel und mit einem Turban auf dem Kopf auf dem Bett. Sie musste noch erschöpfter gewesen sein, als er angenommen hatte. Bedacht darauf, sie nicht zu stören, zupfte er am Saum ihres Mantels, sodass er ihre Oberschenkel bedeckte und seine Fantasien im Zaum hielten.

Die Reise zum Erebor hatte sie an Grenzen gebracht – sie beide. Der Wunsch, sich einfach zu ihr zu legen, wurde fast übermächtig. Er wollte sich in ihrem Körper vergraben, Zuflucht finden in ihren Armen, an diesem heiligen Ort, wo die Dämonen keine Macht besaßen. Um sein Versprechen ihr gegenüber einzulösen, hatte er seiner gerade erst zurückeroberten Heimat, dem Schatz des Berges und seinen Aufgaben als König den Rücken gekehrt. Er hatte gehofft, der Fluch des Drachen würde ihm weit weg vom Erebor und dem Gold weniger anhaben können… Seine Hoffnungen waren für immer zerstört. Nun gab es keinen Ort mehr, an dem Marie sicher war.

Ein Klopfen an der Tür lenkte ihn von seinen schlimmsten Gedanken ab. Schnell und leise schloss Thorin die Flügeltüren des Zimmers. Als er sich umdrehte, betraten Gandalf, Dwalin, Balin und Bilbo das Gemach. „Gandalf, endlich.“

„Wo ist Marie?“

„Sie schläft. Wir müssen leise sprechen.“ Sich an seine Manieren erinnernd bot er ihnen ein Platz am Tisch an. Die Männer setzten sich und klebten mit den Ohren sofort an seinem Mund. Dwalin und Thorin blieben stehen. Letzterer war viel zu unruhig, als dass er sich irgendwo hinsetzen konnte.

„Schön, dich wieder in Erebor zu wissen“, begrüßte Dwalin seinen Freund. „Erzähl. Wie schlimm ist es?“

Die Geschehnisse, seit er Erebor verließ, rückten erdrückend auf ihn ein. Thorin nahm neuen Atem. „Smaug hat sich gezeigt. Und das nicht nur einmal.“

„Erzähl uns alles und lass nichts aus“, forderte der Zauberer. Während seines Genesungsprozesses hatten er und Gandalf viele Stunden allein verbracht, in denen der Zauberer Thorin dazu gebracht hatte, über die Drachenkrankheit und Smaugs Fluch zu sprechen. Damals war für Gandalf jedes noch so kleine Detail von Bedeutung und so berichtete Thorin auch jetzt seinen Gefährten haarklein, was in der Zwischenzeit geschehen war. Auch wenn die Erinnerungen seine Seele grausam aufwühlten, er wusste, dass er ihnen alles erzählen musste. Nur so hatten sie vielleicht eine Chance, einen Weg zu finden, diesem Albtraum ein Ende zu bereiten.

Stockend erzählte er ihnen von der Dunkelheit, die ihn zum Bleiben überreden wollte, als er einen Blick auf Erebor zurückwarf, ehe er in Richtung Kerrt aufbrach; von Maries Schilderung, sie habe eine Frau getroffen, die sein Schicksal vorhergesagt hat und Smaugs darauffolgendes Aufbäumen, sodass Thorin nichts anderes übrig blieb, als Marie aus dem Zimmer zu schicken; und er erzählte von seinen Träumen.

„Er weckte mich mitten in der Nacht.“ Wenngleich seine Stimme leise war, waren seine Erinnerungen lebendig und furchteinflößend. Thorin durchlebte diese Begegnung erneut, ohne dass er es wollte. „Ich sah Feuer unter der Tür hindurch. Erst dachte ich, das Haus brannte. Dann erkannte ich, dass es nur der Feuerschein von unten war. Smaug hatte mich zu sich eingeladen… und ich folgte ihm. Er huschte von einem Schatten zum nächsten, als sei er selbst einer, der sich in der Dunkelheit des Raumes verbarg. Er war nicht greifbar, doch das Feuer warf seine Umrisse an die Wände. Ich sah ihn! Er kann sein Element beschwören. Ich habe das Feuer gesehen, es gefühlt, doch der Kamin war kalt. Es sind Träume, aber sie…sind anders. Echter. Sie verschmelzen mit der Realität, bis man sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann.“

„Hat Smaug mit dir gesprochen?“

Sein Sarkasmus war deutlich zu hören, als er sagte: „Wir führten einige Gespräche.“ Alle beugten sich vor, um nichts zu verpassen. „Ich fragte ihn, warum ich verflucht wurde und wie ihm das gelungen ist. Smaug habe mit mir schon gerechnet und Erebors Gold für den Thronerben verflucht. Er band seine Seele dran. Der Fluch war für mich vorherbestimmt, für niemand sonst.“

„Hat er noch etwas gesagt?“

Der Gefragte schluckte an seiner trockenen Kehle. „Er wiederholte sein Angebot.“

„Die Macht und die Lebensjahre eines Drachen, wenn du dich mit ihm verbündest.“

Irritiert sah er Balin an, dann dämmerte es ihm, dass Gandalf die anderen wohl unterrichtet haben musste, was er ihm in einem ihrer Gespräche anvertraut hatte. An dem Tag, als er erwachte, erwachte auch Smaug wieder und unterbreitete ihm ein Angebot.

Ich will dich. Deinen Körper, dein Herzzz. Und deine Seele. Du weißt über mein Wissen und meine Stärke Bescheid. Du hast gesehen, welche Macht ich besitze. Ich würde sie dir erneut geben, um ein würdiger Herrscher zu sein. Teil mit mir den Thron und dein Reichtum und deine Macht wird über alle Grenzen dieser Welt hinweg bekannt sein… Tritt näher und ich gebe dir allesss. Sogar meine Lebensjahre. Du könntest unsterblich werden.

Er hatte den Drachen erst zum Schweigen bringen können, indem er sich selber Schmerzen zufügte. Die Erkenntnis, Smaugs Geist existierte auch nach seinem physischen Tod noch immer in ihm, war niederschmetternd gewesen.

Thorin sah jeden der hier Anwesenden der Reihe nach an. „Ich hoffe, dass keines dieser Worte je an die Öffentlichkeit gelangt.“

„Es ist bis heute das bestgehütete Geheimnis Erebors. Und das wird auch so bleiben“, versicherte Balin aufrichtig. „Vertrau uns, Thorin. Wir sind uns alle das Risiko bewusst. Du kannst dich auf uns verlassen. Jeder weiß, was auf dem Spiel steht. Männer wie Frauen.“

Obwohl es das eigentlich sollte, beruhigter war ihr Anführer und König dadurch nicht und spürte ein schlechtes Gewissen. Seine Männer verbargen sein Geheimnis für ihn. Er war ihnen zu großem Dank verpflichtet.

„Smaug hat also sein Angebot wiederholt“, fasste Dwalin ungeduldig zusammen. „Du hast es natürlich ausgeschlagen.“

„Ja…und teuer bezahlt.“ Die Erinnerung an diesen Moment kroch ihm unter die Haut wie pures Gift. Er hatte Mühe, den anderen zu beschreiben, was als nächstes geschah. Er wusste es ja selbst nicht. „Etwas warf mich so plötzlich zu Boden, dass ich keine Chance hatte, mich zu wehren. Ich hatte es nicht kommen sehen. Ich dachte, ich verbrenne. Überall waren Flammen. Es war so schrecklich echt. Marie fand mich und rüttelte mich wach. Als ich wieder klar sehen konnte, war alles dunkel. Feuer und Schatten waren verschwunden, als hätten sie nur in meinem Kopf existiert.“

„Das ist also seine Rache“, murmelte Bilbo. „Oder sein Weg, dich doch noch umzustimmen, indem er dich körperlich und geistig bestraft. Du musst ihn in seinem Stolz tief verletzt haben, als du sein Angebot nicht angenommen hast. Smaug ist nicht dumm. Er ist sich seiner Macht und Stärke bewusst – wie er es ja des Öfteren zur Schau gestellt hat. Und er wird nicht einfach so aufgeben. Er wird sich eine neue Strategie suchen, um irgendwie an dich ranzukommen.“

„Du willst doch sicher nicht, dass deiner kleinen Freundin etwas passiert.“

Kälte wallte durch sein Herz. „Das hat er geschafft.“

Gandalf sah aus, als hätte er am liebsten die Worte aus ihm herausgeprügelt. „Sprich weiter!“

„Smaug erpresst mich…mit Maries Leben. Er hat es auf sie abgesehen.“ Die Mienen der Männer erstarrten. Keiner wagte einen Mucks. „Als wir im Grünwald lagerten…da habe ich mich gesehen…“ Noch einmal die Bilder hervorzurufen, die ihn in Stücke gerissen hatten, grenzte an Folter. „Doch ich war nicht ich selbst. Smaug hat sich meinen Körper genommen, wie eine Hülle, in die er schlüpfen kann. Ich war die ganze Zeit anwesend… musste mitansehen, wie meine Hände Marie im Schlaf erwürgen.“ Totenstille.

„Und als du erwachtest, war nichts geschehen“, murmelte Bilbo.

Er nickte. „Es war alles nur in meinem Kopf.“ Die Nachricht ließ die anderen erneut in geschocktes Schweigen verfallen. „Gandalf, bitte sag mir, dass du inzwischen etwas Brauchbares herausgefunden hast.“

„Ich habe jegliche Schriften in der geheimen Kammer durchsucht. Es tut mir leid, mein Freund. Es gibt kein bekanntes Heilmittel gegen einen solchen Fluch.“

Thorin beherrschte sich, nicht gegen das Tischbein zu treten. „Es muss eines geben!“

„Vielleicht“, kam der Hobbit ihm zuvor, „vernichtet die Drachenkrankheit jegliches Gefühl von Liebe genau aus diesem Grund.“ Man wandte sich Bilbo zu, der laut nachdachte. „Balin, du hast es mir erzählt. Was sagtest du noch gleich? Die Liebe existiert für den Kranken nicht mehr. Vielleicht geschieht das gerade deshalb, weil sie so mächtig ist. Liebe würde die Krankheit sonst besiegen.“

„Denselben Gedanken bin ich auch nachgegangen, Bilbo Beutling“, meldete sich nun Gandalf wieder zu Wort. „Wir brauchen eine Macht, die stärker ist als Hass und Gier. Und durch Marie besitzt Thorin diese Macht. Wir müssen uns die Macht der Liebe zu Nutze machen. Es gibt kein erwiesenes Heilmittel. Also müssen wir uns selbst eines schaffen.“

Skeptisch verschränkte Dwalin die Arme. „Liebe… Das ist doch bloß ein Gefühl. Eine Emotion.“

„Wir benutzen sie als Waffe“, antwortete Gandalf, die Miene ernst wie die eines Kriegsgottes.

Die Liebe ist die stärkste Macht, die es gibt auf dieser Welt. Sie lässt uns Dinge tun, vor denen wir uns vorher fürchteten, und lässt uns über uns selbst hinauswachsen. Sie gibt uns Kraft, erlaubt uns zu wünschen und zu hoffen und schenkt Licht, wo Dunkelheit herrscht…

Von Anfang an hatte er es geahnt. Doch seine Vermutungen, dass Marie in irgendeiner Weise seine Rettung sein sollte, nahmen erst jetzt eine richtige Form an. Die Macht der Liebe? Dwalin hatte Recht; wie bitte schön sollten sie damit etwas anfangen können? Er würde sich um einiges besser fühlen, wenn er wirkungsvollen Stahl in die Hand gedrückt bekommen würde. Damit kannte er sich wenigstens aus. Sie alle hatten keine Ahnung, worauf sie sich einließen.

„Und wie sieht jetzt der Plan aus?“, fragte Dwalin noch immer mit unüberhörbarem Misstrauen. „Liebe kann man nun mal nicht in eine Armbrust stecken und sie auf einen Drachen-Geist abfeuern.“

Gandalf sah von einem Krieger zum anderen. Thorin bemerkte einen harten Glanz in den Augen des Zauberers, der ihn beunruhigte. „Ich weiß zwar noch nicht, wie genau wir vorgehen, aber ich habe einige…Ideen, die ich gern ausprobieren möchte. Sie werden dir nicht gefallen, mein Freund, aber ich sehe darin eine reelle Chance. Wir müssen Smaug an deine Oberfläche bringen. Dann wird Marie mit dem Drachen sprechen.“

Sein erster Gedanke war, das Gandalf ihn testen wollte. Dass er sehen wollte, ob er dem Drachen damit etwas entlocken könnte. Wenige Sekunden verstrichen und ihm dämmerte es, dass er diesen Vorschlag wahrhaftig ernstgemeint hatte. „Nein. Ohne mich, nein! Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Thorin, hör mir zu. Wir müssen es wenigstens versuchen.“

„Nein! Ich werde sie nicht einer solchen Gefahr aussetzen!“

„Ich sehe keine Alternativen.“

„Es muss welche geben! Marie ist kein Köder, den man auswirft. Smaug will sie tot sehen und du stellt sie ihm direkt vor die Nase. Und du willst ein Freund sein? Auf diese Art von Freundschaft kann ich gern verzichten.“

Gandalf starrte ihn an, als würde er durch ihn hindurch blicken können. Vielleicht hatte er zwischen der aufflammenden Wut in seinen Augen seine Panik erkannt. Thorin ahnte, was der Zauberer sah, und musste seinem Blick ausweichen. „Du hast es ihr nicht erzählt.“

Ein Staubkorn fiel in der Stille zu Boden. Balin schlug die Hand vor die Augen. Thorin wandte sich ab. Eine Antwort war gar nicht mehr nötig. Der Zauberer sank zurück gegen die Stuhllehne, fasste sich an die Stirn, als pochte darunter ein alter Schmerz. „Thorin…“

„Nein, lass es gut sein.“ Er hob die Hand, um ihn daran zu hindern, eine Schimpftirade loszulassen. „Ich weiß es selbst, dass ich es ihr sagen muss.“

Das Argument war nutzlos angesichts Gandalfs Zorn, der nun aus ihm herausbrach. „Dann tu es gefälligst! Wir brauchen sie.“

Der Krieger fuhr herum. Die Hände auf die Tischkante gestemmt lehnte er sich zu ihm herüber und zischte: „Was wir brauchen, ist ein richtiger Plan und keine Versuche auf gut Glück. Ich habe dich um Hilfe gebeten – nicht, um ihr Todesurteil zu unterschreiben.“

Der Zauberer, der zuvor noch auf dem zwergengroßen Stuhl zwischen ihnen gehockt hatte, erhob sich nun von seinem Platz und wuchs über die Anwesenden hinaus. Augenblicklich wurde es dunkel im Raum. Ein Gewittersturm braute sich über ihren Köpfen zusammen. Donner grollte. „Du riskierst viel, Thorin Eichenschild...“

„Ich riskiere sie zu verlieren, wenn sie die Wahrheit hört“, funkelte er den hoch aufragenden Zauberer an, ungeachtet seiner Drohung. „Sie wird nur noch das Monster in mir sehen.“

„Humbug! Ihr Leben steht auf dem Spiel. Und deines auch! Du vergeudest wertvolle Zeit. Zeit, die dir Smaug nicht schenkt. Wie sehr hat der Drache dich schon manipuliert, dass du so unvernünftig bist?“

Das musste er sich nicht länger bieten lassen. „Raus hier. Raus!“

Blitze zuckten aus Gandalfs Augen. „Wie Ihr wünscht. Aber sprecht mich erst wieder an, wenn Ihr wieder bei klarem Verstand seid, Eure Majestät.“ Er packte seinen Stab und verließ schnaufend und fluchend das Gemach.

Ein unangenehmer Moment entstand, als die Zurückgebliebenen nun Thorin ansahen. Dieser ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Scheiße.“

„Das kannst‘e laut sagen“, murmelte Dwalin in seinen Bart.

Thorin blies die Luft aus seinen Lungen und blickte an die Raumdecke, ohne diese wirklich wahrzunehmen. „Lasst Gandalf meine Sorgen sein“, sagte er, weil es etwas sagen musste. „Ich brauche jetzt ein anderes Gesprächsthema.“ Balin wollte jedoch nicht locker lassen.

„Thorin, wir sollten auf Gandalf hören.“

„Er will irgendwelche Versuche mit Marie durchführen. Als ob ich dem zustimmen könnte.“

„Was ist, wenn das unsere einzige Chance ist? Bitte, denk gut darüber nach. Für sie.“

Thorin schloss die Augen und haderte mit seinen zwiespältigen Gefühlen. Er war in einer Sackgasse angekommen und der einzige Ausweg führte anscheinend durch seine ganz persönliche Hölle. Damit er für den Moment Ruhe hatte, lenkte er ein. „Ich denk darüber nach.“ Sein alter Freund wirkte zufriedener dadurch. Wenigstens etwas…

Dann endlich kam er seiner Bitte nach und schwenkte zu einer anderen Sache, ohne zu wissen, dass er es damit nicht wirklich besser machte. „Hast du mit Ubbas Boten gesprochen?“

Thorin verdrehte die Augen und machte sich daran, seine Stiefel auszuziehen. Er warf sie in eine Ecke und berichtete den Anwesenden, weshalb die Boten gekommen waren. Ubba hatte ein Bündnis vorgeschlagen zwischen Erebor und Eredmithrin, wie die Silberberge in ihrem Sprachgebrauch hießen. Getreide und Feldfrüchte im Austausch gegen Gold. Bis jetzt hätte Thorin nichts dagegen gehabt. Erebor befand sich immer noch in einer schwierigen Phase. Sein Volk brauchte Nahrung, die Kornkammern waren leer. Es irritierte ihn, dass Ubba dafür extra Boten geschickt hatte, und witterte einen Haken an der ganzen Sache. Er sollte recht behalten mit seinem unguten Gefühl. Als die Männer ihm eröffneten, wie hoch der Preis sein würde, stachen Thorin die Adern am Hals hervor. Die Mengen an Gold, die Ubba forderte, waren völligster Wahnsinn.

„Ich werde Getreide von Ubba kaufen, aber zu einem angemessenen Marktpreis. Sagt ihm das! Und sagt ihm auch, dass er meine Zeit nicht mit derartigem Unsinn stehlen soll!“, hatte er den Boten entgegengeschmettert, und ihnen befohlen, Erebor sofort zu verlassen.

Als seine Gefährten das hörten, waren Dwalin und Balin genauso erbost wie Thorin, Bilbo saß schweigend da und dachte über dieses ausgeschlagene Angebot nach. „Ubbas Preise sind hoch, das stimmt“, sagte der Hobbit schließlich. „Aber die Vorräte wären sicher gewesen. Erebor hätte es sich leisten können. Es gibt mehr als genug Gold in der Schatzhalle.“

„Nein, Erebor hätte damit nach Ubbas Pfeife getanzt“, widersprach Thorin. „Ich werde mein Land nicht von diesem Choleriker abhängig machen. Wir sind am Aufbau unserer alten Handelsbeziehungen. Es gibt genug Zwerge in Erebor, die sich mit dem Handel eine neue Existenz aufbauen können. Wir brauchen nur mehr Wagen, Zugtiere und Zeit. Das ist alles.“ Bilbo widersprach ihm nicht und Thorin war froh, diese Sache vom Tisch zu haben.

„Wenn Ubba zur nächsten Versammlung kommt, kann er sich was anhören“, grummelte Dwalin und knackte bereits mit den Fingerknöcheln.

„Darf ich dich daran erinnern, dass Ubba König der Silberberge ist?“

„Und wenn schon. Er bringt ein paar Männer mit“, widersprach Dwalin seinem Bruder. „Und mit denen lässt sich sicherlich eine nette Prügelei anfangen, nur um denen zu zeigen, wer hier die Bedingungen stellt.“

„Die Versammlungen der Sieben laufen stets friedlich ab, du Holzkopf.

Thorin ist Gastgeber und in seinem Hause bleiben die Waffen unter dem Tisch. Das kannst du auch den anderen sagen. Es gibt einiges zu besprechen. Neue Verträge müssen aufgesetzt und Beziehungen gepflegt werden. Eine Schlägerei ist das Letzte, was wir gebrauchen können. Du wirst dich gefälligst benehmen.“

Dwalin schwieg und zog ein finsteres Gesicht.

„Kamen die Zusagen schon zurück?“, hakte Thorin nach.

„Ja, alle haben zugesagt. Das meiste ist schon vorbereitet.“

„Ich wusste, dass Erebor in guten Händen ist.“

„Als Berater des Königs ist das eine meiner leichtesten Übungen.“ Balin lächelte aufmunternd. „Einiges ist in deiner Abwesenheit liegen geblieben. Ich habe dir einen Plan auf den Schreibtisch gelegt, den du in den nächsten Tagen abarbeiten solltest. Außerdem findest du dort einiges, was deiner Unterschrift bedarf. Ich denke, wir sollten dich jetzt allein lassen. Du willst dich doch bestimmt fürs Abendessen fertig machen.“

Der Heimkehrer sah an sich herunter und sah den Schmutz und Staub, der an ihm haftete. „Besser ist.“ Als er sich erhob, standen auch die anderen auf. „Ich danke euch, dass ihr gekommen seid.“

An der Tür angekommen wandte Balin sich noch einmal an ihn. „Lass dir nicht allzu viel Zeit mit der Wahrheit, mein Junge. Ihretwillen. Sie wird es verstehen.“ Müde von der Diskussion nickte Thorin nur und öffnete die Tür für ihn.

„Falls ich irgendwie helfen kann…“

Thorin sah zu dem Hobbit herab und seufzte. Ihr Meisterdieb wäre der Letzte, dessen Hilfe er ausschlagen würde. „Danke, Bilbo. Ich weiß das zu schätzen.“ Bilbo versuchte sich ebenfalls an einem Lächeln und folgte Balin nach unten. Thorin und Dwalin verharrten in der Tür bis die beiden anderen auf der Hälfte der Treppe waren.

„Ich hab dem Silberschmied es genauso beschrieben, wie du es wolltest.“ Dwalin holte aus seiner Hosentasche ein kleines, in königsblauem Samt eingeschlagenes Kästchen hervor und übergab es Thorin.

Dieser öffnete es und betrachtete den funkelnden Ring, der sich darin befand. „Er ist perfekt.“

„Gut. Dann steck ihn ihr endlich an den Finger. Das ist schon lange überfällig.“ Noch ein Schulterklopfen, dann wandte auch er sich zum Gehen ab.

Thorin sah seinem Freund nach, dann blickte er nachdenklich auf den Ring, mit dem er Marie bitten würde, seine Frau zu werden.

 

~

 

Das dunkle Fell seines Bademantels strich um seine Schienbeine, als er zum Bett hinüber ging. Vorsichtig setzte er sich, um sein Mädchen in Ruhe betrachten zu können. Sie schlief immer noch und hatte zum Glück nichts von all dem mitbekommen, was im Nebenraum passiert war.

Seine Gedanken kreisten, wie Fliegen um ein sterbendes Tier. Er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen – noch nicht. Ihre Beziehung hatte empfindlichen Schaden in den letzten Tagen genommen. Sie waren gerade erst in Erebor angekommen. Ihren Neuanfang konnte er nicht einfach zerschmettern mit der Wahrheit über Smaugs Fluch. Die Wahrheit, dass ein Drache in ihm gefangen war, der ihren Tod will.

Erst musste er wissen, dass Marie für immer ihm gehört. Er musste wissen, dass sie ihn auch als Ehemann wollte, wie er sie zur Ehefrau.

Selbst das Bad hatte ihm kaum die erhoffte Abkühlung gebracht. Maries Badewasser war gut genug für ihn gewesen und so hatte er seine vor Dreck stehenden Sachen von sich gezerrt und war hineingestiegen. Das Wissen, dass er in einer aus Gold gegossenen Badewanne lag, versuchte er mit dem akribischen Schruppen seines gesamten Körpers aus seinem Kopf zu kriegen. Warum musste Thror auch ausgerechnet sich einen Luxus zulegen, den man unmöglich einfach beiseiteräumen konnte? Die Tücher, die den Glanz des Goldes abdecken sollten, hatten kaum Wirkung. Der Drache schien diesen Komfort zu genießen, jedenfalls ließ er ihn in Ruhe. Thorin traute diesem Frieden nicht und beeilte sich, um die goldene Badewanne wieder verlassen zu können.

Ein farbiger Schimmer hinter den Fenstern erregte seine Aufmerksamkeit und ein sachtes Lächeln strich um seinen Mundwinkel. Der König Erebors beugte sich zu der schlafenden Frau, wisperte ihren Namen und streichelte ihre Wange. „Wach auf, Liebling.“

„Mhmmm….“

„Wach auf.“

Sie blinzelte mit verkniffenem Gesicht gegen das Licht. „Wie lange habe ich geschlafen?“

„Nicht lange. Komm, ich will dir etwas zeigen.“

Sie kämpfte sich aus dem Bett und aus den Händen des Schlafs, der immer noch an ihr klammerte. Thorin half ihr hoch. Das Handtuch rutschte ihr vom Kopf und blieb auf dem Fußboden liegen, als er ihre Hand nahm. Er öffnete eine unsichtbare Tür in einem der bodentiefen Fenstern und trat auf einen Balkon hinaus. Eisige Kälte strömten ihnen entgegen. Marie presste ihren Mantel enger um ihren nackten Körper und konnte im ersten Moment nichts sehen, weil die tiefstehende Sonne sie traf. Sie musste die Hand vor ihre Augen halten bis ihr Blick sich klärte. „Wie wunderschön...“ Sie trat an die steinerne Balustrade heran, die den Balkon eingrenzte und sog den Anblick in sich auf, der sich in diesem Moment ereignete.

Die Dämmerung war heraufgezogen und hatte den Himmel in violette, rosa und tiefgelbe Wolken gehüllt. Die Sonne berührte bereits den Horizont und durchbrach mit kräftigen Strahlen die satten Farbtöne. Dieselben Farben wurden an die schneebedeckten Felshänge und schroffe Gebirgszacken geworfen und ließen den Erebor Teil dieses Naturschauspiels werden. Der Moment war perfekt, um die Schönheit der Dämmerung in all ihrer Pracht betrachten zu können. Marie entdeckte einen See, der im Sonnenlicht funkelte, als ein Körper sich von hinten an den ihren drängte. Starke Arme griffen um ihre Taille und sie genoss das Gefühl, gehalten zu werden.

„Ich wollte dir diesen Ausblick nicht vorenthalten“, murmelte der Krieger, das Kinn auf ihrer Schulter abgelegt. Er suchte ihre Nähe und Marie schenkte sie ihm nur allzu gerne.

„Danke“, wisperte sie, während sie seine Hände über ihren Bauch hielt, als würde sie einen Schatz bewahren.

Nicht nur einen atemberaubenden Blick auf das Gebirge hatte Thorin ihr geschenkt. Es war die neue Welt, die er ihr zu Füßen gelegt hatte - seine Welt, die er bereit war, mit ihr zu teilen. Ein kleines „Danke“ war nicht genug, um in Worte zu fassen, wie dankbar sie war, ein Schicksal erhalten zu haben, mit dem sie nicht mehr gerechnet hatte.

Mit keinem anderen hätte sie diesen einzigartigen Moment erleben wollen als mit ihm. Es war der Sonnenuntergang und gleichzeitig der Anfang von etwas Großem. Die Chance auf einen Neuanfang, nach dem sie gesucht hatten, um die dunklen Tage, die hinter ihnen lagen, endgültig der Vergangenheit angehören zu lassen.

Auch wenn sie es nicht sehen konnte, so spürte sie sein Lächeln, als er plötzlich sagte: „Schau nicht nach unten.“

Natürlich schaute Marie jetzt erst recht über die Balustrade und sah direkt in den Abgrund. Vor Schreck machte sie einen Satz vor der steil abfallenden Felswand zurück und klammerte sich an ihm fest, damit es aufhörte, sich in ihrem Kopf zu drehen. Erneut legten sich seine Arme um sie und sein Lachen ließ ihre Lungen beben. In die Wärme seines Mantels und an den Körper darunter geschmiegt, spürte sie ihr Herz klopfen, ein Lächeln auf den Lippen.

Als sie den Kopf hob, um ihn anzuschauen, erlebte Marie eine weitere Überraschung. Thorin bemerkte ihren erstaunten Blick und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. „Ich hab dich noch nie so gesehen.“ Sie berührte den Zopf, den der Zwergenkrieger sich nach dem Bad gemacht hatte. Die beiden geflochtenen Strähnen, die stets unter seiner schwarzen Mähne herausgeschaut hatten, waren verschwunden. Sie betrachtete seine Ohren und seine freigelegten Schläfen, fasziniert von seinem veränderten Äußeren.

„Nein?“ Liebevoll ruhte sein Blick auf ihr.

„Nein. Gefällt mir.“ Marie schmiegte sich unter sein Kinn und atmete seinen Duft ein, den seine Haut nach dem Bad verströmte. Er roch nach Zedernholz und Honig, vermischt mit seinem eigenen Geruch. So etwas verführerisches hatten ihre Sinne noch nie wahrgenommen. Der Gedanke, dass nur zwei Lagen Fell ihre Körper voneinander trennte, ließ ein herrliches Pulsieren von ihren Schenkeln bis zu ihrem intimsten Punkt wandern.

Marie begegnete erneut seinem Blick. Schiefergraue Augen waren auf ihre Lippen geheftet. Hungrig. Suchend. Mit einem Mal war sein Mund ganz nah, sein dichter Bart strich über ihre Haut, die plötzlich schrecklich sensibel war. Er küsste sie nicht; er schien sie foltern zu wollen mit dem Verlangen, das wie eine Welle über sie hereinbrach und tiefer und tiefer in dunkle See ziehen wollte. Marie dachte, sie müsste sterben, so sehr verzehrte ihr Körper sich nach diesem Mann direkt vor ihr. Das Pulsieren zwischen ihren Beinen wurde unerträglich. Sein über ihrem schwebender Mund zuckte, als sie mit der Hand den flauschigen Mantel teilte und über seinen Bauch strich, über die Narbe hinweg, immer tiefer. Eine Spur aus Haaren zeigte ihr den Weg, dann hielt sie warme Härte zwischen ihren Fingern.

Seine Stirn sank gegen die ihre, während sie ihm Lust schenkte. Sein Atem ging genauso flach wie ihrer, als er das sengend heiße Band in der kalten Abendluft zwischen ihnen fühlte, welches sie miteinander verband.

„Willst du mich?“

Die Antwort lag bereits aufgerichtet und hart in ihrer Hand, dennoch nickte er und bedeckte ihre Kehle mit Küssen, die sie ihm nur allzu gerne darbot. „Wir haben nicht viel Zeit“, murmelte er nah an ihrem Ohr.

„Worauf warten wir dann noch?“ Marie schlang die Arme ihm um den Nacken und presste sehnsüchtig den Mund auf seinen. Sie drängten einander zurück ins Schlafzimmer, ausgehungert wie Tiere. Er verschloss die Balkontür und schob Marie zum Bett, die sich bereits darauf ausstreckte. Sie ließ ihn nach der Kordel greifen, die ihren Mantel zusammengehalten hatte, während er mit der anderen Hand sich mit grimmiger Intensität selbst befriedigte. Er schlug das graue Fell auf, sodass Marie nackt und willig vor ihm lag und genoss für ein paar Augenblicke dieses Bild. Es hatte etwas unglaublich Verruchtes an sich, Thorin noch verhüllt über sich stehen zu sehen, während sie selber so völlig schutzlos war. Und als dieser mit den Schultern zuckte und so seinen Mantel zu Boden schickte, konnte sie das Keuchen aus ihrem Mund nicht mehr zurückhalten.

Weit öffnete sie ihre Schenkel für ihn. Ob sie bereit für ihn war, hätte er gar nicht fühlen brauchen. Das, was er sah, ließ ihn wie einen Wolf lächeln.

Marie konnte nicht länger warten. Sie packte ihn an der Taille und dirigierte seinen Körper, um sich gegen seine steil aufgerichtete Männlichkeit zu pressen. Seine Eichel stupste neckisch mehrmals gegen ihre Scham, was sie zur Weißglut brachte. „Ich brauche dich…Bitte…“ Endlich versenkte er sich in ihr, doch ihr Körper war bereits verloren in dunkler See. Sie keuchte seinen Namen, betrachtete sein Gesicht, während er wieder und wieder in sie hineinstieß. Ihr den Atem raubte.

Zwischen ihrem Stöhnen hörte sie ein Wispern: „Bleib bei mir…egal, was geschieht.“ Da realisierte sie, dass Thorin gesprochen hatte, sie konnte jedoch weder über den Sinn seiner Worte noch über das Flehen in seiner Stimme nachdenken. Sie konnte an rein gar nichts mehr denken.

Thorin griff in ihre Haare, zwang sie, ihn anzusehen. Marie sah das Weiß seiner aufeinandergebissenen Zähne. Wimmernd öffnete sie den Mund und ihm schien das zu gefallen, sie so wehrlos ausgeliefert zu sehen. „Du gehörst mir. Hörst du? Mir allein!“

Sie biss ihm so fest ins Schlüsselbein, dass sie ihm einen Schmerzenslaut entlockte. „Und du mir.“ Seine Augen blitzten. Es machte ihm anscheinend Spaß, sich im Bett zu behaupten und Marie fand ebenfalls einen gewissen Reiz daran. Sie lächelte und versank mit ihrem Krieger in einem Kuss, der die Macht hatte, Berge bersten zu lassen. Es war wie ein Wahn, dem sie beide nicht entkommen konnten. Mit jedem Stoß spürte Marie das unmissverständliche Echo seines Besitzanspruchs, den er so lange wiederholte, bis sie nach Luft rang und sich an ihm festkrallte, aus Angst, ihr Herz zersprang. Hier und jetzt.

Er kam mit einer brachialen Gewalt, ehe sie ihn bremsen konnte. Von einem Moment auf den anderen wandelte sich erbarmungslose Lust in etwas ganz Empfindsames. Marie konnte fühlen, wie sein Samen sie ausfüllte, aus ihr heraus quoll und das Beben seines Körpers. Plötzlich war es ganz still. Nur ihr Keuchen erfüllte das Schlafgemach.

Thorin zog sich aus ihr zurück und erhob sich vom Bett. Wie er das schaffte, war ihr fraglich, denn Marie wusste, dass sie sich erst in hundert Jahren wieder regen konnte. Sie wollte hier für immer liegen blieben. Himmel! Sie war Durin, dem Gott des Zwergvolkes, soeben höchstpersönlich begegnet. Auf die Seite gerollt streckte sie die Hand nach ihm aus. „Komm her…“

Doch Thorin schlüpfte wieder in seinen Mantel und warf ihr das Handtuch zu. „Wir sind nicht mehr allein.“

Jetzt hörte auch sie das Klopfen. Eilig griff sie nach dem Handtuch und wischte die Spuren ihres Liebesaktes weg. Schritte kamen näher. Marie zwang sich vom Bett hoch und verhüllte ihren Körper. Keine Sekunde zu früh, denn ihre Zweisamkeit fand ein jähes Ende, als Piljar die Zimmertüren öffnete und wie ein Frühlingswind beschwingt ins Zimmer brauste.

„Euer Gnaden, das Abendessen ist fertig.“ Sie steuerte geradewegs auf Marie zu. „Wir sind spät dran und müssen Euch noch vorzeigbar machen. Man wartet schon auf Euch. Husch, husch!“ Marie wurde zu dem Frisiertisch begleitet, der sich gegenüber des Bettes an die Wand schmiegte, und musste sich dort hinsetzen. Tara und ein weiteres Zimmermädchen wuselten ebenfalls durchs Zimmer. „So könnt Ihr keinen Fuß vor die Tür setzen. Und… bei meinem Barte, es ist bitterkalt hier! Tara, der Ofen. Mim, die Kleider. Und, Mylord, würdet Ihr Euch auch bitte etwas anziehen? Ihr braucht sicherlich keine Mädchen dafür, oder?“

Ein Lächeln hob des Königs Mundwinkel. „Ich denke, nicht.“ Thorin verschwand im Ankleidezimmer, nicht ohne Marie einen langen und feurigen Blick zugeworfen zu haben.

Ihr Lächeln versteckend schlug sie die Augen nieder und kaute auf ihrer Lippe herum. Im Spiegel ihr gegenüber verfolgte sie, wie ihre Haare in rekordverdächtiger Zeit trocken gerubbelt und gekämmt wurden. Marie wurde das Gefühl nicht los, dass Piljar ganz genau wusste, was die beiden hier getrieben hatten. Laut genug waren sie jedenfalls gewesen… Sie hoffte, dass die Wände und Türen in Erebor genauso dick waren, wie sie den Anschein machten. Würde es ab jetzt immer so sein? Dass die Bediensteten nur das sahen und hörten, was sie sollten und durften? Der Gedanke, dass sie Schatten sein würden, die ihnen jeden Wunsch ablasen, um dann wieder unsichtbar zu werden, stimmte sie traurig und sie hoffte, dass es nicht so werden würde.

„Das Grüne“, hörte sie die Stimme des Mannes aus dem Nebenraum, der ihr noch vor wenigen Minuten mit den Bewegungen seiner Hüften den Verstand geraubt hatte. Man brachte ihr ein Kleid von dunkelgrünem und blauschimmernden Stoff und hielt es hoch, damit sie es im Spiegel sehen konnte. Obwohl es über und über mit einem floralem Muster in denselben Tönen bedeckt war, war es überraschend schlicht. Marie fand es wunderschön. Sie bemerkte, dass man auf eine Reaktion von ihr wartete.

„Es sieht bezaubernd aus.“

Mim knickste und verschwand mit dem Berg aus Stoff. Kurz darauf löste sie Piljar, bewaffnet mit Kamm und Haarnadeln ab. Sie fasste ihr unters Kinn, um ihr Gesicht ins bessere Licht zu drehen. „Welch eine schöne Haut Ihr habt. Und Eure Nase! So ebenmäßig“, schwärmte Mim, die kurvige Bedienstete, die Marie neu kennenlernte. „Wie soll ich Euer Haar herrichten?“

Tja, gute Frage. „Mir gefällt Taras Frisur.“

Tara bekam rote Ohren.

„Oh.“ Mim war offensichtlich auf etwas Anspruchsvolleres vorbereitet gewesen. „Wie Ihr wünscht.“

Marie wollte die blonde Zwergin mit der auftoupierten Frisur nicht anstarren, doch sie konnte nicht anders. Ihre Lippen waren ungewöhnlich rot und auf ihren Augenlidern trug sie blaue Farbe, die in einem spitzen Strich in ihrem Augenwinkel endete. Es unterstrich ihre Augenfarbe, doch der Anblick von Farbe in einem Gesicht war Marie befremdlich und sie hoffte inständig, dass die Frauen nicht auf die Idee kamen, ihr das Gesicht anzupinseln. Ängstlich schielte sie auf die Tiegeldosen und die Pinsel, die vor ihr auf dem Schminktisch lagen.

Es dauerte bloß Augenblicke bis Mim fertig war. Marie war begeistert von der Hochsteckfrisur, auch wenn Mim ihrem Gesichtsausdruck nach mit etwas Pompöserem gerechnet hatte, dass der Verlobten ihres Königs würdig gewesen wäre. Man kann sich ja steigern, dachte Marie.

„Und diese für den letzten Schliff.“ Mim hatte zwei vergoldete Haarnadeln hervorgezaubert, die an den Enden jeweils mit einem grünen Stein in Form eines Rabenkopfes verziert worden waren.

„Was ist das?“

„Jade, Mylady.“

„Jade“, wiederholte Marie. Von so einem Stein hatte sie noch nie gehört. Mim schob ihr die Nadeln ins Haar, sodass die Raben überkreuzt über ihrem Haupt thronten. Noch hier und da zupfte sie ein paar Strähnen an den richtigen Platz oder zog wieder welcher heraus. „Damit es nicht zu streng ausschaut…“, so ihre Erklärung. Dann war Maries Frisur fertig und sie beugte sich näher an den Spiegel heran. So schick für einen Abend hatte sie sich das letzte Mal mit Kilis und Filis Hilfe gemacht, als diese ihr einen wunderschönen Zopf für die Kupfer Stube geflochten hatten, der damals groß und schwer über ihre Schulter gelegen hatte. Erinnerungen an einen Abend, der ihr restliches Leben verändern sollte.

„Vielen Dank, Mim. Ich liebe es.“ Die Angesprochene fiel in einen tiefen Knicks.

„Wir helfen Euch beim Anziehen.“ Piljar führte sie hinter den Paravent, über dessen Wand bereits das Kleid hing, das sie tragen sollte.

„Eure Wäsche.“ Tara kam mit ihr und hielt ihr etwas Schwarzes hin, was sie wohl anziehen sollte. Marie nahm es mit skeptischem Blick und faltete es auseinander. Hitze schoss ihr ins Gesicht. „Von Mylord. Er hat gesagt, er schuldet es Euch.“

Marie war schleierhaft, was Tara geschwiege Thorin damit meinten, bis es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel und das auch nur, da eine Erinnerung blass und äußerst vage vor ihrem geistigen Auge aufblitzte. Nach all den Jahren hatte er daran gedacht, ihr wie versprochen eine neue Unterhose zu besorgen, weil er damals bei ihrem nächtlichen Vergnügen fernab vom Sommerfest ihr Höschen voller Ungeduld zerrissen hatte. Eigentlich sollte Marie gerührt von dieser Geste sein, doch diese Entschädigung war alles andere als fair, denn allem Anschein nach hatte Thorin seinen ganz eigenen Vorteil daraus gezogen.

„Das ist doch keine Unterhose“, zischte sie ihrer Zofe zu, damit die anderen Frauen hinter der Wand es nicht hörten.

„Natürlich. Das ist Spitze“, korrigierte sie Tara. „Feinste Handarbeit. Männer finden sowas sehr hübsch.“ Ihr Lächeln war mehr als eindeutig.

Marie betrachtete die schwarze Spitze und konnte sich Thorins Grinsen im Nebenraum vorstellen. „Na schön“, murmelte sie und zog das sehr knappe Höschen an.

Tara hüstelte. „Das hier natürlich auch noch.“

Als Marie das dazugehörige Oberteil sah, trieb es ihr erneut die Röte über die Wangen. THORIN!

„Was macht ihr Mädchen denn da so lange?“ Piljar wartete schon mit dem nächsten Kleidungsstück auf der anderen Seite. Marie schnappte sich das Oberteil, welches weder Hemd noch Mieder war.

„Ich zeig dir, wie man es anzieht.“ Tara machte es ihr hinten zu und half ihr, ihre Oberweite in die schalenförmigen Auswölbungen, die ebenfalls mit schwarzer Spitze bedeckt waren, zu befördern. Kleine Trägerchen hielten es an Ort und Stelle. Oben war es eng, sodass ihre Brüste hochgedrückt wurden, doch nach unten hin fiel die Spitze fließend über ihren Bauch. Marie betrachtete sich im Spiegel, der in der Ecke stand. Über ihrer Schulter sah sie Taras staunendes Gesicht.

„Marie, du siehst umwerfend aus, wenn ich das sagen darf.“

„Darfst du“, brachte sie hervor, ebenso erstaunt von sich selbst.

„Das Unterkleid!“ Man reichte es herein, welches Marie überwarf. Danach folgten lange Strümpfe. Plötzlich hielt Tara eine dicke, mit Stopfmaterial ausgefüllte Rolle in der Hand, an der ein Band rechts und links drangenäht worden war. „Das macht eine wunderschöne Figur.“ Beherzt griff sie um Marie herum, legte die Rolle um ihren unteren Rücken und band sie fest.

„Das sieht lächerlich aus.“

„Wart´s nur ab.“

Dann kam endlich dieses wunderschöne Kleid, das zum Glück die richtige Länge besaß. Zwar war es ihr zu groß, doch durch die Schnürungen hatten sie Spielraum. Tara schnürte ihre Herrin, bis diese schon dachte, gleich Stoff reißen oder ihre Rippen brechen zu hören. Ihr fürsorgliches Zimmermädchen fragte jedoch regelmäßig, ob sie gut Luft bekam und lockerte ab und an den Zug wieder. Marie bejahte und hoffte, es gleich geschafft zu haben.

Mit Hilfe des Spiegels konnte sie ihre Verwandlung verfolgen. Nun sah sie, was Tara meinte. Durch die Schalen in ihrer Unterwäsche formte sich ihr Busen rund und gleichmäßig in dem zurückhaltendem Ausschnitt. Marie drehte sich ein wenig hin und her und die Farben schimmerten im Licht der Kerzen. Obwohl es zwei Farbtöne waren, harmonisierten sie edel. Die halblangen Ärmel waren enganliegend. Ihre Hüfte wirkte viel breiter mit Hilfe der Polsterung, wodurch ihre Taille stärker betont wurde. Trotz Maries dünnen Körpers, sah sie gesund aus. Ihr hochgestecktes Haar schimmerte wie polierte Kastanien und ihre Augen funkelten mit den Farben des Kleides um die Wette. Eine Halskette, bestehend aus einem großen weißen, in Silber gefassten Stein bildete ein eleganten Hingucker, der am Anfang ihres Dekolletés ruhte.

„Marie, wie schön du ausschaust!“ Taras Reaktion war weder aufgesetzt noch gespielt. Sie freute sich wirklich für sie. „Das Kleid ist schlicht und trotzdem sieht es einmalig an dir aus. Ich kann es kaum erwarten, dich so richtig rauszuputzen! Wenn Morgen der Schneider kommt, stehe ich in der ersten Reihe.“

„Ich könnte mir niemand besseres an meiner Seite wünschen.“

Als ihre Herrin das sagte, reichte Taras Strahlen von einem Ohr zum anderen. Wahrscheinlich überschritt sie eine Grenze, als sie Maries Hände in die ihre nahm und drückte, doch es war eine Geste, die von Herzen kam. Marie erwiderte sie und spürte, dass diese Zwergin vielleicht zu ihrer ersten richtigen Freundin hier in Erebor werden könnte.

„Liebling, bist du fertig? Die anderen warten schon auf uns“, erklang Thorins Stimme von der anderen Seite des Paravents. Zusammen mit Tara atmete Marie noch einmal durch, ehe sie hervortrat.


9

 

 

Stimmen wurden zu ihnen getragen. Laut und fröhlich. Maries Hand, die in seiner Armbeuge lag, griff vor freudiger Nervosität in den Stoff seines Ärmels, als sie gemeinsam nach unten gingen. „Ob sie mich überhaupt erkennen werden?“ Ihr Strahlen hörte nicht mehr auf und verzückte ihn genauso sehr wie ihre Aufmachung. Marie war der Edelstein, der nur darauf gewartet hat, geschliffen zu werden.

„Vielleicht bindest du dir eine Schürze um, um es ihnen leichter zu machen“, schlug er neckisch vor. Durch die geöffneten Türen konnte er sehen, dass das Kaminfeuer entfacht worden war. Davor war eine lange Tafel aufgebaut, um der er viele Anwesende stehen sah. Ein Duft von schwerer Bratensoße und herben Bier lag in der Luft und versprach einen schönen Abend.

Als sie den Speisesaal betraten, kamen sämtliche Gespräche zum Erliegen. Seine Männer fielen in lautes Lachen und strömten mit ausgebreiteten Armen auf die Frau zu, die innerhalb weniger Tage, die sie in dem Haus am Waldrand verbracht hatten, eine von ihnen geworden war. Marie löste sich von ihm und eilte den Gefährten entgegen. Sie versuchte erst gar nicht, ihre Gefühle zu verheimlichen. Ganz natürlich. Ganz sie selbst.

Tränen der Freude kullerten ihr über die Wangen, als sie die Männer sah, von denen sie dachte, sie wären alle umgekommen. Lange und innig wurde sein Mädchen gedrückt. Sie wiederum verteilte Küsse auf Wangen und sprach mit jedem ein paar Sätze. Jeder sagte ihr, wie hübsch sie aussah. Sie wurde mit Komplimenten überhäuft und Thorin sah die Rührung, die ihre Lippen zeichnete. Oh, ja. Sie sah fantastisch aus.

„Ihr habt euch aber auch alle herausgeputzt“, hörte er sie antworten.

Alae, Marie.“ Als Nächster stand Bifur vor ihr und Thorin sah ihren perplexen Blick, als sie die leere Kerbe in seiner Stirn bemerkte, in der früher eine kleine Axt feststeckte. „Manche Wörter…weg aus Kopf“, sagte Bifur. „Aber sie wieder kommen. Stück für Stück. Meine Frau. Minar.“ Zu ihm trat eine schwarzhaarige Zwergin, die ein Kleinkind auf der Hüfte trug und nun mit Marie ein paar Worte wechselte.

Er beobachtete, wie die anderen Frauen die Fremde eingehend musterten. In ihre Köpfe konnte er nicht hinein blicken, doch das Lächeln, das auf den meisten Gesichtern lag, stimmte ihn schon mal ruhiger. Thorin hoffte, dass die Frauen Marie nach diesem Abend in ihre Mitte nahmen. Er selbst war kein Ersatz für eine echte Freundin. Frauen wollten nun mal ihre eigenen Geheimnisse hegen und pflegen.

„Ich hab euch alle so vermisst! Mein Haus war so still und mein Tisch so leer.“ Verlegen wischte Marie ihr Gesicht trocken und war doppelt erleichtert, keine Schminke zu tragen. Als Thorin bei ihr auftauchte, brüllten die Krieger erneut los. Typische Männer-Umarmungen und Rückenklopfer wurden ausgetauscht. Thorin war einer von ihnen, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Ränge. Glücklich schaute Marie ihrer ausgelassenen Begrüßung zu. Mit seiner Rückkehr waren alle Gefährten wieder vereint. An dem Ort, für den sie zu kämpfen gewagt hatten. Eine weitere Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel.

„Manche Dinge ändern sich nie, was?“

Als sie sich der Stimme zuwandte, schaute sie in das ansteckendste Grinsen, welches sie je kennengelernt hatte. „Bofur, dich habe ich besonders vermisst.“

Der Kasper der Truppe zog sie lachend in seine Arme, dann trat er einen Schritt zurück, um sie von Kopf bis Fuß zu betrachten. „Marie aus Kerrt, so schön wie eh und je.“

„Du bist ein Charmeur.“

„Du musst ihn auf seine neue Mütze ansprechen, sonst gibt er keine Ruhe“, raunte Kili seiner zukünftigen Tante ins Ohr und zog sie etwas zu vertraut für deren Meinung an sich ran.

Wie aufs Stichwort hin warf sich der Zwerg mit dem langen Schnurrbart in die Brust und reckte das Kinn, was bei ihm jedoch leider eher wie ein kleiner, frecher Junge aussah als ein kühner Kriegsheld.

„Schicke Mütze, Bofur“, sagte sie also daraufhin.

„Die alte hing nur noch an drei Fäden zusammen. Und vom Geruch sprechen wir lieber erst gar nicht.“ Kilis Atem konnte sie entnehmen, dass das ein oder andere Bier schon verköstigt wurde.

Stolz rückte Bofur seine Mütze zu Recht und grinste, dass seine Grübchen tiefe Linien in sein Gesicht gruben. Eine blonde Zwergin tauchte auf, die den Arm vertraut um ihn legte. „Unsere Männer sind schließlich echte Berühmtheiten. Da können sie nicht mehr rumlaufen wie Vagabunden aus der Wildnis. Stimmt´s mein Lieber?“

„Haha! Marie, darf ich dir die Sonne in meinem Leben vorstellen? Liebes, das ist Marie, Jugendliebe von Thorin Eichenschild und eine Frau der Heilkünste. Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass es mein Verdienst war, dass sie und Thorin wieder zueinander gefunden haben?“

„Diese alte Leier schon wieder! Und ich war noch nicht einmal dabei!“, beklagte sich Kili.

„Bloß ein Dutzend Mal“, antwortete die Blonde mit verdrehten Augen und einem Lächeln auf den Lippen. „Hallo, Marie. Ich bin Suurin, aber nenn mich ruhig Su.“ Die Zwergin ergriff ihre Hände und küsste die etwas verdatterte Marie auf beide Wangen. „Wir haben schon so viel von dir gehört. Ich kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen.“

„Su, knutsch sie nicht gleich sofort tot.“

Hinter Suurin war eine weitere Frau aufgetaucht. Das Erste, was Marie ins Auge stach, war das intensive Rot ihrer Haare, das sie an Mohnblumen erinnerte und so ganz gegensätzlich zu dem Eis in ihren blauen Augen war. Auf ihrer linken Kopfseite waren ihre Haare raspelkurz geschnitten, sodass ihre Lockenpracht über ihre rechte Schulter fiel.

„Willkommen in Erebor“, sagte die Rothaarige.

„Danke schön.“ Ohne noch etwas gesagt zu haben, wandte sie sich zu Maries Verwunderung ab. Als die Zwergin ihr den Rücken zukehrte, sah sie eine Messerscheide in ihrer Korsage, darin deutlich erkennbar: die Form einer Klinge. Um herauszufinden, zu wem sie gehörte, verfolgte Marie sie mit den Augen. Jemand nahm in diesem Augenblick ihren Arm.

„Setzen wir uns. Die Bediensteten wollen auftischen“, raunte Thorin und führte sie an den Kopf der Tafel. Auch die anderen nahmen mit freudiger Erwartung ihre Plätze ein. Die Kinder, die durch den Saal getollt waren, wurden von ihren Müttern zu einem Tisch etwas abseits geschickt, während sie sich die kleinsten auf ihren Schoß setzten.

Die Wärme des Kaminfeuers im Rücken schob Thorin den Stuhl für sie zurück. „Danke.“ Um ihr Kleid nicht zu zerdrücken, setzte Marie sich so behutsam wie möglich. Vor ihre Tafel war eine weitere drangeschoben. Die großen Tische boten allen genügend Platz. Neben Thorin saß Fili und neben Marie setzte sich Bilbo. Schräg gegenüber entdeckte sie an Dwalins Seite die Rothaarige und schlussfolgerte, dass diese dann wohl Ninak sein musste, von der sie bereits einiges gehört hatte. „Ist sie immer so?“

„Wer?“

„Ninak.“ Zu ihrer Überraschung schmunzelte Thorin.

„Das ist ihre Art, Fremde zu begrüßen.“

„Wie liebenswert.“

„Nimm es nicht persönlich, mell nin. Sie ist jedem Fremden misstrauisch gegenüber.“

„Du meinst, über die Verhältnisse von Zwergen hinaus.“

Thorin machte eine Grimasse. „So kann man das auch nennen. Wenn du erst einmal Ninaks Vertrauen hast, würde sie für dich durchs Feuer gehen, glaub mir. Sie hat Fili und Kili großgezogen. Sie bedeutet mir viel. Ich habe sie sehr gern. Gib ihr eine Gelegenheit, dich kennenzulernen. Ich möchte, dass ihr euch versteht.“

Das hieß, Ninak würde auch zu ihrer Familie gehören. Ein Gedanke, von dem Marie noch nicht wusste, ob sie sich freuen oder fürchten sollte. Trotz allem war ihr Interesse für die Frau geweckt, die das Herz eines Kriegers gewonnen hatte.

„Dieser Abend“, fuhr Thorin fort, „ist allein schon etwas Besonderes, weil sie einen Rock trägt. Ich kenne sie eigentlich nur in Hemd und Hosen.“

„Sie hat eine Waffe dabei.“

„Sie hat immer eine dabei.“

„Immer?“

„Ja.“

„Wieso?“

„Das hat seine Gründe. Ich erzähle dir Ninaks Geschichte ein andermal“, vertröstete er sie hastig und richtete seine Aufmerksamkeit nach vorne. Unter Beifall und Lobesbekundungen wurde das Abendessen hereingetragen. Sogleich erhob sich ein rhythmisches Klopfen im Raum. Mit Besteck und Fäusten hauten die Anwesenden auf die Planken, während die Bediensteten versilberte Platten hereintrugen. Manche davon mussten zwei zweit getragen werden, so groß waren sie. Marie bemerkte, dass Thorin im Takt in die Hände klatschte und so tat sie es ihm gleich. All das mutete wie eine große Zeremonie an. Die Stimmung war ausgelassen, man freute sich auf das feierlich anmutende Mahl, deren Bestandteile man mit glänzenden Augen schon auskundschaftete. Frauen, an ihrer sandfarbenen Arbeitskleidung gut erkennbar als Bedienstete der Küche, stellten die Speisen auf den Tafeln ab, wo man dafür zügig Platz schaffte, und kehrten um, um die nächsten aus der Küche zu holen. Über die Menge und Fülle konnte Marie nur staunen. Ihr Hungergefühl hatte sie die letzten Stunden ganz vergessen. War all das zu ihren Ehren zubereitet worden? Es gab Gemüse, Kartoffeln und gebutterte Maiskolben, Pasteten, Teigwaren aller Arten, aber vor allem Fleisch in den verschiedenen Zubereitungen. Salate oder Blumen als Dekoration, so wie sie bei Festen der Menschen verwendet wurden, suchte man vergebens auf den Schüsseln und Platten.

Mit einem Mal erinnerte Marie sich an die Bewirtschaftung von dreizehn Zwergen in ihrem Haus und starrte auf das angerichtete Essen. Was würde das für ein Chaos geben? Auf der Suche nach Beistand schielte sie zu Bilbo. Der Hobbit neben ihr schien nicht beunruhigt zu sein. Daher entspannte sie sich ein wenig und hoffte auf eine minimale Verwüstung. Sie suchte vergebens nach einer Servierte für ihren Schoß, bis man ihr ein weißes Tuch zuschob.

„Zwerge schätzen solche Annehmlichkeiten nicht besonders“, sagte Bilbo. „Bedauerlicherweise genauso wenig wie Taschentücher.“

Marie nahm das angebotene Tuch. „Ihr müsst mir einige Kniffe für das Leben unter Zwergen verraten, Herr Beutling.“

„Mit Vergnügen.“

Küchenhelferinnen gingen reihum und schenkten Bier nach. Sie wuselten durch den Saal, nur wie auf ein Fingerschnippen verschwunden zu sein. Dann war das Abendessen aufgetischt und nun wusste Marie auch, wieso Erebors Zimmerleute diese Tafeln so massiv gebaut hatten. Das Klatschen und Trommeln war in der Zwischenzeit immer lauter und immer schneller geworden, bis es nun in johlendem Beifall seinen Höhepunkt fand. Solch ein prachtvolles Essen hatte sie das letzte Mal auf dem alljährlichen Erntefest in Kerrt gesehen. Neben ihr erhob sich Thorin und es wurde still. Alle Augenpaare waren auf ihn gerichtet.

„Ich könnte mir diesen Abend schöner nicht vorstellen. Gutes Essen, umgeben von Familie und an der Seite von denjenigen, die wir in unserem Leben nicht mehr missen wollen.“ Sein Blick ruhte für einen Moment auf Marie, die lächelnd zu ihrem König aufblickte. Ein unmissverständliches Zeichen, das alle erkennen sollten. „Esst und trinkt auf unser Wohl! Macht es euch gemütlich. Wir haben alles, was wir wollen, hier an diesem Ort.“

„Auf die Rückkehr unseres Königs! Auf Thorin und Marie!“, schmetterte jemand über die Tische. Humpen und Gläser wurden gehoben. „AUF THORIN UND MARIE!“

Er sollte Recht behalten: der Abend wurde zu etwas ganz Besonderem. Marie probierte von jedem Gericht und kostete ab und an von Thorins Gabel. „Wer ist das? Und wer ist das da drüben?“ Sie bekam von ihm jede Verwandtschaftsverhältnisse erklärt. Ein Brummen in Khuzdul lag im Saal, es klang fremd für Maries Ohren, gleichzeitig aber wie eine lang vermisste Melodie.

„Will noch wer?!“ Schüssel wanderten die Bänke rauf und leer wieder runter. Geschichten wurden zum Besten getragen. Unbekümmertes Lachen schallte über die Tische, Wein und Bier floss literweise. Die Kerzen der Kronleuchter brannten herunter, doch an den Tafeln aß und trank man bis spät in die Nacht von silbernen Tellern und vergoldeten Kelchen.

Die Kinderschar unterschiedlichsten Alters war die erste, die sich vom Essen lösen konnte. Sie stromerten spielend durch den Saal und rannten um die Tische herum. Einige Mädchen gelangten schließlich an den Tisch des Königs und standen scheu vor Marie, die gern ihr Essen unterbrach und ihre Aufmerksamkeit den Mädchen zuwandte. „Hallo. Ihr seid aber hübsch.“

„Sie können dich nicht verstehen“, erklärte Thorin und übersetzte ihre Worte sogleich. Die Mädchen lächelten geschmeichelt und eines von ihnen trat näher und hielt Marie den bestickten Ärmel ihres Kleides entgegen.

„Das hat sie selber gemacht.“

„Wie schön. Du musst mir unbedingt zeigen, wie das geht.“ Thorin übersetzte und ihr aller Lächeln wurden noch breiter. Nun trat die kleinste der Truppe vor und fragte etwas. Zu ihrer Verwunderung hielten sich die anderen kichernd die Hände vor den Mund, woraufhin der König sein Schmunzeln zu unterdrücken versuchte. „Hach bar“, sagte er und die Mädchen rannten kichernd davon.

„Was hat sie gesagt?“

„Sie findet es komisch, dass dein Bart immer noch nicht gewachsen ist. Sie glaubt, dass du krank bist.“ Während Marie ihn mit offenem Mund anstarrte und nicht wusste, was sie dazu sagten sollte, brachen die anderen an ihrem Tisch in erheitertes Lachen aus.

 

Säulen mit geometrischen Ornamenten ragten aus den Wänden und gaben dem Speisesaal ein Gesicht. Er war zwar groß, besaß jedoch so viel Charme, dass Marie sich wie in einem großen Esszimmer vorkam. Teppiche lagen auf dem Steinboden verteilt. Tierfelle und Waffen schmückten die Wände. Die schweren, roten Vorhänge vor den großflächigen Fenstern hatte man gegen die Kälte zugezogen, die hier, hoch oben im Gebirge in der Nacht durch die Fensterritzen kriechen konnte, wie man ihr verriet. Zwischen diesen waren gepolsterte Nischen im Fels gehauen, wo man sich hinsetzen und ein wenig Zweisamkeit genießen konnte. Der Kamin hinter ihnen war gute drei Meter lang und bedurfte regelmäßiges Nachlegen von Bediensteten. Dadurch saßen die Gäste auch am anderen Ende der Tafel in angenehmer Wärme.

Während Thorin mit den anderen Männern Neuigkeiten austauschte, war Marie stets mit jemanden im Gespräch. Allen Gefährten schien es wichtig zu sein, sich nach ihr und nach der Reise zu erkundigen. Als die Zwerge noch weiter aßen, war sie bereits so satt, dass sie befürchtete, platzen zu können. Sie hörte den Stimmen der Gefährten zu und genoss ihre vertrauten Gesichter. Neugierig beobachtete sie die Frauen an ihrer Seite und erhaschte die ein oder andere liebvolle Geste zwischen zwei Liebenden.

Das befürchtete Chaos beim Essen war verhältnismäßig gering. Hätte Marie nicht die Manieren von Durins-Volk bereits kennengelernt, so hätte der Abend sicherlich ein kleiner Kulturschock werden können. Ihre Vermutung, dass Zwerginnen etwas disziplinierter beim Essen waren, stellte sich gehörig als falsch heraus. Auch sie hatten die Ärmel hochgekrempelt und tüchtig zugeschlagen, mit den Fingern gegessen und Fleisch von Knochen genagt. Man sprach und lachte mit vollem Mund und nahm den Arm als Servierte.

Als hätte Bilbo ihre Gedanken enträtselt, drehte er sich zu ihr. „Erstaunlich, wie pflegeleicht sie eigentlich sein können, nicht wahr?“

Bei der Erinnerung an eine Weintrauben-Wurf-Schlacht in ihrem Hause musste sie lächeln. „Ja, höchst seltsam.“

„Ich habe mich an das Bier der Zwerge gewöhnt. Einem guten Wein bin ich trotzdem nicht abgeneigt. Auch ein Glas?“ Verführerisch schwenkte er eine bauchige Karaffe aus Kristallglas.

„Gerne.“ Ihr wurde eingeschenkt. Dann seufzte Marie. „Ich bin neidisch auf dich, Bilbo.“

„Neidisch? Auf mich?“ Stirnrunzelnd stellte er die Karaffe beiseite und nahm sein Glas. „Wieso denn das?“

„Du hast Abenteuer erlebt, weit weg von deinem Zuhause, über die deine Enkel noch deren Enkel berichten werden.“

„Oh. Ja, das ist wahrscheinlich wahr. Aber du hast doch bestimmt auch etwas zu erzählen.“

„Weniger glorreich als eure Geschichte, fürchte ich.“ Sie nahm einen Schluck von ihrem Wein.

„Ich würde es gerne hören.“

Marie senkte den Blick auf ihr Glas und versuchte mit einem Lächeln ihre Gedanken zu überspielen. „Wo soll ich da bloß anfangen?“

„Ganz egal.“ Seine Augen trugen ein Funkeln innen, als er sie aufrichtig und aufmerksam ansah. Bilbos Anwesenheit war wie die Nähe eines guten Freundes, den man lange nicht mehr gesehen hatte, jedoch stets auf ihn zählen konnte. Und so nutzte Marie die Chance und erzählte ihm, wie es ihr nach dem Aufbruch der Gefährten ergangen war. Sie wollte kein Mitleid erwecken. Alles, was sie wollte, war sich jemanden anvertrauen zu dürfen und alte Gedanken freizulassen. Es sollte ihr Neuanfang in Erebor werden – ganz ohne Ballast. Ihr Selbstmordversuch war das Einzige, das sie ausließ. Dieses Detail war zu intim und zu zerbrechlich, um es jemand Drittes anzuvertrauen.

Nachdem sie fertig war, hielt das Schweigen ihres Gegenübers an. Als schämte er sich für das, was er soeben gehört hatte, senkte Bilbo nun den Blick auf seinen nicht angerührten Wein. „Es tut mir wirklich leid, Marie. Wenn der Brief dich erreicht hätte, wäre vieles anders gekommen. Ich hätte noch einen schicken müssen. Wir haben dich im Stich gelassen.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Die Vergangenheit zu ändern, ist uns leider vergönnt. Ich würde auch vieles anders machen, wenn ich könnte.“

„Zum Beispiel?“

„Euch hinterherlaufen und mich an euch festketten.“

Er lachte über ihre scherzhafte Antwort. „Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee gewesen wäre…“

Marie hatte ihm nicht ganz zugehört. Sonst hätte sie gemerkt, dass sein Lachen ihm fast im Hals steckengeblieben war. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Mann in ihrem Rücken. Immer noch sprach Thorin mit Gloin, Bofur und Balin und achtete nicht auf sie. Es war eine günstige Gelegenheit, die sie nicht verstreichen lassen durfte. Um auch ganz sicherzugehen, wartete Marie kurz, ob die Luft auch wirklich rein war, dann rückte sie mit dem Stuhl näher zu ihm. „Bilbo, du warst Teil der Gemeinschaft.“ Sie sprach nur so laut, wie sie es wagen konnte. „Du hast alles mitbekommen. Du weiß, was passiert ist.“

Verunsichert starrte er sie an. „Worauf willst du hinaus?“

„Ich brauche deine Hilfe. Thorin verschweigt mir etwas Wichtiges. Ich muss herausfinden, was es ist. Bitte, Bilbo, sprich mit mir. Was ist hier in Erebor geschehen?“

Sichtlich unwohl in seiner Haut zog er den Kragen seines Hemdes von seinem Hals. „Puh, das Feuer brennt aber ganz schön heiß.“

„Bilbo…“

„Er sollte es dir selbst sagen. Tut mir leid.“ Ehe sie einen erneuten Versuch unternehmen konnte, legte er seine Hand auf die ihre und drückte sie. „Thorin kann sehr stur sein, glaub mir, ich weiß das. Aber er tut es nicht, um dich zu ärgern. Er hat seine Gründe. Er…“ Der Hobbit verstummte mit schreckgeweiteten Augen.

„Wer flüstert, der lügt.“

Bei der Stimme so nah an ihrem Ohr stolperte ihr Herz. Mit all ihren schauspielerischen Künsten, die sie so schnell zusammenkratzen konnte, drehte sie sich um und grinste herausfordernd. „Wer zuhört, betrügt.“

Er lächelte über ihren Spott und legte den Arm um sie. „Worum geht es?“

So ruhig wie nur irgend möglich atmete sie tief ein und aus, soweit sie dazu mit diesem Kleid imstande war. „Ich habe Bilbo über die Zeit ohne euch erzählt.“

„Am besten fand ich ja, wie du den Ruf deiner Freundin Anna verteidigt hast“, kam Bilbo ihr zu Hilfe. „Ich hätte zu gern gesehen, wie du diese Donja mit Schlamm beworfen hast.“

„Davon weiß ich ja gar nichts.“ Thorins Ton klang harmlos, seine Augen aber richteten sich durchdringend auf sie.

„Wir hatten die letzten Stunden andere Gesprächsthemen, Liebling“, erinnerte Marie ihn ein wenig bissig.

Vorerst musste er sich geschlagen geben. „Ich hoffe, ich bekomme die Geschichte auch noch zu hören.“

„Wir haben alle Zeit der Welt.“ Sie gab ihm einen Kuss und hoffte, ihn so fürs erste beschwichtigt zu haben.

„Wie gefällt dir Erebor, Marie? Hast du es dir so vorgestellt?“

Dankbar für seinen Themenwechsel warf sie Bilbo ein strahlendes Lächeln zu. „Es ist unglaublich. Ich habe nicht gedacht, dass es so groß ist.“ Wieder an Thorin gewandt fragte sie: „Wirst du mir den Rest auch noch zeigen?“

„Ich versuche es, die nächsten Tagen einzurichten. Falls du nichts dagegen hast, würden dir sicherlich die anderen auch gerne Orte zeigen. Wie sieht´s mit dir aus, Bilbo?“

„Jederzeit gerne.“

Thorin wies mit dem Kinn zu den Frauen hinüber, die inzwischen wie eine Schar Hennen auf ihren Nestern zusammengluckten, sodass auch Maries Blick dorthin wanderte. „Suurin scheint dich sehr gern zu haben, sie schaut immerzu rüber. Sie könnte mit dir einkaufen gehen oder etwas tun, was ihr Frauen gerne macht.“ Dass Suurin die aufgeschlossenste unter den Frauen war, hatte Marie bereits in der ersten Minute gemerkt.

„Du kannst mich jederzeit besuchen kommen“, erwähnte Bilbo. „Ich habe ein Zimmer im Gästetrakt. Es ist nicht weit von hier. Entschuldigt mich, Dori winkt nach mir.“ Er stand auf und ging auf die Gruppe Zwerge zu, die über etwas hitzig am Diskutieren waren.

„Und dann kamen die Warge…“ Die Schar von größeren und kleinen Jungen, die vor Kili auf dem Boden im Kreis kauerten und wie versteinert seinen Erzählungen gelauscht hatte, bekam riesige Augen. „Dunkle, flohverseuchte Pelze. Eine Schnauze, so hässlich, wie ihr sie euch nicht vorstellen könnte. Und ein Maul, riesig und voller Zähne!“, sagte er und hielt die Hände gut eine Elle auseinander, um die Größe eines Wargzahns zu demonstrieren.

„So groß?“

„Ja, so groß. Ich war diesen Monstern ganz nah. Ich habe sie gerochen… Den Blutdurst in ihren Augen gesehen… Nur eine falsche Bewegung und…“ Ein Räuspern durchschnitt sein Wort. Mit in den Hüften gestemmten Händen standen plötzlich die Mütter hinter ihm.

„Ohhhrrr, Mama! Wir wollen die Geschichte zu Ende hören!“

„Keine Kriegsgeschichten vor dem Schlafengehen.“ Von allen Kindern kam ein enttäuschtes Raunen. Die Mütter packten sich die Bengel, die beteuerten, dass sie noch gar nicht müde waren, doch ihr Zetern traf auf Granit. Ein kleiner, rothaariger Jung saß als Letzter auf dem Fußboden und blickte mit großen Augen zu Kili auf.

„Das gilt auch für dich, Gimbli.“ Seine Mutter schnappte sich den Jungen, um auch ihn ins Bett zu stecken.

In einem unbeobachteten Moment stahl sich Marie einen Kuss von den Lippen des mächtigsten Mannes Erebors, von denen sie nie genug bekommen konnte. „Du siehst übrigens sehr schick aus heute Abend.“ Ihre Hand strich über das gesteppte nachtblaue Wams, das mit mehreren Schnallen geschlossen wurde. Untenrum trug er wie immer eine dunkle Hose und außerdem neue Stiefel, wie sie bereits staunend festgestellt hatte. Marie hätte wetten können, er würde seine alten Stiefel erst wegschmeißen, wenn sie auseinanderfielen. Breite, mit Silber verzierte Lederarmbänder um seine Handgelenken und sein frisch gewaschenes Haar rundeten sein Erscheinungsbild ab.

„Das Kompliment kann ich nur zurückgeben.“

„Danke für das Kleid. Ich liebe es.“

„Ist mir ein Vergnügen.“

„Könnt ihr beiden mal die Finger voneinander lassen?“ Zwischen ihren Stühlen zwängte sich Suurin durch und griff nach Maries Hand. „Die ganze Zeit versuche ich schon, dich zu uns zu winken, aber du hast nur Augen für deinen Mann.“

Suurins Eifer amüsierte Marie. „Haha, ich komm ja schon!“

Vergebens versuchte Thorin noch einen Kuss zu bekommen. Suurin nahm sie einfach mit. „Dass du die ganze Zeit bei deinem Verlobten hockst, kann man dir nicht verübeln“, raunte sie, während sie Marie zu den anderen führte. „Er ist aber auch ein Leckerchen.“

„Suurin…“ Ihr Kichern klang wie das zweier junger Mädchen.

Minar hielt ihr schlummerndes Kind auf dem Arm und rückte bereits ein Stück für sie auf der Bank, sodass sich Marie neben sie setzen konnte. „Möchtest du auch?“ Zu ihrer Überraschung hielten sie und Ninak langstielige, filigran geschnitzte Pfeifen in den Händen. Höflich lehnte sie ab.

„Aber ein Bier nimmst du doch.“ Von Suurin bekam sie einen Krug in die Hand gedrückt. Wenn das so weiterging, war sie in ein paar Stunden betrunken.

„Dein Kleid ist absolut hinreißend“, schwärmte Bruna. Sie war eine rundliche Frau mit fülligen Wangen, braunem, krausem Haar und Backenbart.

„Danke schön. Deins gefällt mir aber auch.“

„Was, das alte Ding? Ich musste mich so schnell umziehen, dass ich das Erstbeste gegriffen habe. Jetzt bereue ich´s. Ich wäre beinahe mit den Klamotten aus der Küche hierhergekommen, so hektisch ging´s zu. Wenn man seine Augen nicht überall hat…“

„Dem Geschmack konnte es nichts anhaben. Es war köstlich. Bitte gib es an deine Helferinnen weiter. Ich habe schon lange nicht mehr so gut gegessen.“

Brunas Wangen wurden dunkel. Maries Lob schien ihr von Bedeutung zu sein. „Das werde ich. Dafür musst du für mich in Erfahrung bringen, wo dieser Stoff herkommt. Ich würde töten für so ein Kleid.“ Neidisch ruhten ihre Augen auf dem grünem und blauem Muster, welches Maries Kleid über und über bedeckte.

„Das kann ich dir sagen“, prahlte Suurin. Die kleinen Perlen, die in ihren blonden Bart gefädelt waren, hüpften auf und ab. „Ich würde meinen Hausstand darauf verwetten, dass das Mistress Asriks Stoff ist. Aus der Rosengasse. Ich kenne ihren Geschmack. Sie ist die Einzige, die hier derzeit vernünftige Ware anbietet. Wir müssen ihr unbedingt zusammen einen Besuch abstattet, bevor sie wieder mal ausgebucht ist. Und Marie nehmen wir gleich mit. Sie braucht sicher noch eine standesgemäße Garderobe.“

Bruna sah aus wie ein kleine Rakete, der vor Vorfreude jeden Moment hochgehen konnte. „Su, das ist eine ganz wunderbare Idee!“

Von Marie kam ein eher verhaltenes Lächeln. „Das klingt toll.“ Dass sie sich bis jetzt aus Mode nichts gemacht hat, erwähnte sie nicht. Sie hatte nicht das nötige Geld dafür übrig gehabt. Sie trug Klamotten bis sie kaputt waren oder zog gerne ein Hemd an, aus dem schlichten Grund, dass es einfach viel praktischer war. Diese Zeit, so war ihr die letzten Stunden klar geworden, war ein für alle Mal vorbei. Ob sie Thorin um Münzen bitten musste, wenn sie etwas kaufen wollte? Wie viel durfte sie ausgeben? Und die wichtigere Frage: für was? Früher hatte sie alles, was in ihrem Haushalt war, gebraucht. Ihr großer Standspiegel in ihrem Schlafzimmer, der ein Geschenk ihrer Eltern einst war, war ihr einziger Luxus gewesen. Hoffentlich konnte Greg irgendwo neues Spiegelglas auftreiben. Hätte sie ihn damals nicht zertrümmert, hätte Anna jetzt einen großen Spiegel, in dem sie die Kleider betrachten konnte, die Greg ihr zu Hauf schenken würde.

Das Thema schwenkte um auf den neusten Klatsch und Tratsch und vermittelte Marie einen ersten Eindruck von dem Leben hier und den Gepflogenheiten von Durins Volk. Außerdem hörte sie, wie es den Gefährten und ihren Familien, die inzwischen echte Berühmtheiten in Erebor waren, ergangen war. Zum ersten Mal erfuhr sie, dass alle Gefährten vertraglich vereinbart einen Anteil am Schatz Erebors bekommen hatten. Wie hoch dieser Anteil ausgefallen war, darüber schwiegen die Ehefrauen. Marie bekam bei dem Gedanken an den sagenumwobenen Schatz der Zwerge ein flaues Gefühl im Magen und fieberte den Augenblick herbei, das Gold mit eigenen Augen sehen zu dürfen.

Viele der Gefährten wollten sich trotz harterkämpften Lohn ihrer Mission nicht auf die faule Haut legen und ihren Beitrag dazu leisten, Erebor wieder Leben einzuhauchen und so auch für die kommenden Generationen etwas aufzubauen.

Gloin war Gildemeister der Waffenschmiede geworden. Alle Männer, die eine Schmiede für Waffen eröffnen wollten, mussten sich seine Erlaubnis einholen und wurden nur in die Gilde aufgenommen, wenn die Qualität ihrer Arbeit stimmte. Bombur war Gildemeister der Kesselflicker. Oin leitete eine kleine Krankenstube, wie Marie bereits von Thorin erfahren hatte, wolle sich aber bald in den Ruhestand begeben, wenn er einen Nachfolger gefunden hatte. Dwalin hatte seine Passion - wie sollte es auch anders sein? - im Militär gefunden, während Balin mit Ori als Lehrling und Sekretär Thorins engster Berater war. Nori wusste noch nicht so genau, was er in Erebor mit seinem neuen Vermögen und seinem Rang und Namen anfangen wollte. Dori hingegen hatte sich in den vorzeitigen Ruhestand gesetzt. Zusammen mit seinem Vetter Bifur war Bofur ihrem gelerntem Handwerk treu geblieben und hat eine verwaiste Spielzeugwerkstatt zu ihrem Eigen gemacht. Bofur hatte Bifur den Vortritt für das Amt des Gildemeisters für Spielzeugwaren gelassen und stand ihm nun beratend als Stellvertreter zur Seite. Demnächst wollten sie ihre Waren auch außerhalb von Erebor anbieten. Wie Minar mit mütterlichem Stolz erzählte, sollte dafür ihr ältester Sohn als Fuhrmann ins Geschäft einsteigen.

Minar war eine hübsche, schwarzhaarige Frau mit für Zwerginnen anmutigen Gesichtszügen und Mutter von insgesamt fünf Kindern. Während man Bruna ansah, dass sie sieben Kinder zur Welt gebracht hatte, konnte Marie kaum glauben, dass Suurin drei Kinder– und noch dazu Zwillinge – besaß. Sie sprühte förmlich vor jugendlicher Energie und wirkte viel jünger als sie eigentlich war. Wilar, Balins Partnerin, war eine nette, ergraute Dame, die sehr sympathisch auf Marie wirkte. Im Hintergrund unterhielt sie sich mit der Ehefrau von Dori, deren Namen Marie leider vergessen hatte.

Es war nicht zu leugnen, dass sie die zierlichste von ihnen war. Ihr Körperbau war grundverschieden und belegte ihre eigentliche Herkunft. Sie besaß nicht solche Oberweiten, auch ihre Hüfte und ihr Gesäß waren weniger stark ausgeprägt. Bei diesem guten Essen jedoch würde sie bald schon wieder ein paar Pfunde mehr auf den Rippen haben.

Während die Frauen schwatzten, floss das Bier reichlich. Man hatte ein kleines Fass auf den Tisch gewuchtet, um für Nachschub gar nicht erst aufstehen zu müssen. Sie hatte noch nie Frauen so reichlich Bier trinken sehen.

Irgendwann bremste Minar die Gespräche und sah Marie auffordernd an. „Genug von uns! Jetzt wollen wir etwas von dir hören.“ Sogleich klebten alle mit Augen und Ohren an der Neuen.

„Ich bin mir sicher, ihr habt schon ein paar Dinge von mir erfahren.“

„Ein paar, ja.“

„Zum Beispiel, dass du ein Mensch bist.“ Der Seitenhieb kam von Ninak.

„Ja, ich bin ein Mensch.“ Selbstsicher begegnete Marie ihren Blick. „Sollte ich etwas anderes deiner Meinung nach sein?“

„Das wird sich noch rausstellen“, sagte Ninak und bekam prompt einen Tritt unter dem Tisch.

„Erzähl uns lieber, wie Thorins Antrag war. Und keine Geheimnisse! Wir wollen alles erfahren.“ Die Frauen waren hellauf begeistert von Suurins Vorschlag und warteten sensationssüchtig auf Maries Antwort. Diese hatte leider nichts zu berichten und wollte auch nichts hinzudichten.

„Um ehrlich zu sein, gab es noch gar keinen Antrag.“ Die Ernüchterung war groß. Suurin sah aus wie ein begossener Pudel.

„Ups“, raunte Ninak.

„Tut mir leid, ich wollte nicht zu forsch sein“, murmelte Suurin sichtlich unwohl.

„Mach dir nichts draus“, beschwichtigte Marie sie mit einem Zwinkern. „Ich warte auch auf einen Antrag.“

„Wie habt Thorin und du euch überhaupt kennengelernt?“, kam die Frage auf.

Marie nahm nochmal einen Schluck gegen einen trockenem Mund, ehe sie ihnen von ihrem früheren Leben in Dale und von dem Zwergenprinzen erzählte, der damals des Zufalls Willen in ihr Leben getreten war.

„Ach, das ist ja sooo romantisch“, schwärmte Suurin. „Und während der ganzen Zeit hat niemand anderes dein Herz erobern können?“

„Nein. Ich habe aber auch nicht wirklich nach jemanden gesucht. Ich bin in meiner Arbeit aufgegangen.“

„Dann nehme ich mal stark an, dass du keine Kinder hast.“

Sie musste Bruna Recht geben. „Kinder waren mir bis jetzt vergönnt, das stimmt.“

„Sei froh. Lasst mich mal durch, ich muss mich um meine Quälgeister kümmern.“ Minar stand auf, setzte Su ihren kleinen Sohn auf den Schoß und eilte zu zwei Bengel im rauffähigen Alter hinüber, die sich in einer Ecke prügelnd auf dem Boden wälzten.

„Das wird sich bestimmt bald ändern“, vergewisserte ihr Bruna und fächerte sich Luft zu. „Thorin wirft dir Blicke zu, da wird einem ja ganz anders.“ Brunas Vorfreude auf einen kleinen Prinzen oder eine kleine Prinzessin steckte auch die anderen an. „Ich sage dir, schon bald wölbt sich dein Bauch kugelrund. Aber ihr müsst euch beeilen, Liebes. Deine Uhr tickt.“

„Nicht jede Frau wird mit Kindern gesegnet.“ Ninak packte ihr Humpen Bier und verließ den Tisch. Bei der Kälte in ihrer Stimme war Marie ein sehr beklemmendes Gefühl über die Haut gekrochen. Besorgt sah sie ihr nach.

„Ein schwieriges Thema bei ihr“, raunte Bruna ihr zu. „Ach, die Ärmste.“

„Entschuldigt mich.“ Marie stand ebenfalls auf und folgte Ninak vorbei an einem ausufernden Armdrückwettbewerb in Richtung der Fensterfront. Sie schlüpfte durch die Vorhängen hindurch nach draußen auf einen großen Balkon, froh darüber, nicht länger im Mittelpunkt zu stehen. Im Schein der Fackeln, die an den Außenwänden befestigt waren, sah sie Ninak an der Balustrade stehen. Der Mond stand hoch am Himmel. Es musste inzwischen nach Mitternacht sein.

Ninak musste ihr Kommen gehört haben. Als sie mit einem Blick über die Schulter Marie erkannte, schaute sie unbeeindruckt wieder in die Nacht. „Was gibt’s?“

Die Heilerin legte die Arme auf dem kalten Stein der Balustrade ab und schaute in die Ferne. „Ich wollte mich mit dir allein unterhalten.“ Die eintretende Stille ließ Marie an ihrem Vorhaben zweifeln. Endlich brach Ninaks Stimme die Schwärze der Nacht.

„Ich habe Thorin schon eine sehr lange Zeit nicht mehr so glücklich gesehen.“ Hörbar seufzte sie und drehte sich, sodass sie Marie direkt gegenüberstand. Die Zwergin überragte sie um zwei ganze Handbreiten. „Ich will, dass er glücklich wird. Er hat endlich Frieden in seinem Leben verdient.“

Angesichts ihrer Worte blieb Marie ruhig, obwohl es in ihr zu brodeln anfing. „Denkst du, ich möchte nicht dasselbe?“

„Genau das ist es. Ich weiß nicht, was du möchtest. Ich weiß nur, dass Thorin und die anderen dir vertrauen. Und so will ich das auch. Ich muss dich aber erst einschätzen können.“

„Und das kannst du noch nicht.“

„Nein, das kann ich noch nicht“, kam die sachliche Antwort.

„Du kannst mich alles fragen, was du willst“, sagte Marie mit der Absicht, es der Zwergin so leichter zu machen. „Ich habe nichts zu verbergen.“

„Das hoffe ich.“ Ninak nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Bier und sah noch eine lange Zeit in den Krug, als verbarg sich an dessen Boden ein Geheimnis. „Thorin wurde schon einmal hintergangen. Ich will nicht, dass ihm das noch einmal widerfährt, das ist alles. Er braucht jemanden Starkes an seiner Seite. Jemand, der weiß, worauf man sich einlässt.“

„Ich bin nicht Sladnik.“ Marie bemerkte die Überraschung ihrer Gegenüber, obwohl diese es zu verbergen versuchte. „Er muss diese Frau sehr geliebt haben, bevor er hinter ihre wahren Absichten kam.“ Marie erinnerte sich an den Schmerz in seinem Gesicht und beschloss mit offenen Karten zu spielen. Sie spürte, dass sie nur so eine Chance hatte, die Zwergin von sich zu überzeugen. „Ninak, hör zu. Ich habe weder vor Thorin auszunutzen noch ihn zu hintergehen. Ich liebe ihn nicht wegen seines Ruhmes, seines Goldes oder seiner Krone. Das zählt alles nicht für mich. Ich liebe ihn seiner Selbst wegen. Er könnte ein Bauer sein; er würde mir trotzdem die Welt bedeuten. Ich habe diesen Mann zwei Mal in meinem Leben verloren. Entgegen aller Hoffnung ist er zwei Mal zu mir zurückgekehrt. Ich werde nicht zulassen, dass irgendetwas oder irgendjemand uns ein drittes Mal trennen kann.“

„Eines muss man dir lassen“, sie verschränkte die Arme unter der Brust und schaute Marie herausfordernd an, „die richtigen Worte finden kannst du.“

„Das nehme ich jetzt mal als Kompliment.“ Das Eis war gebrochen. Für ein eine Weile schaute die Frauen zusammen ins nächtliche Gebirge. Jede mit einem Schmunzeln auf den Lippen.

„Dwalin und du seid ein schönes Paar.“ Es war das erste Mal an diesem Abend, dass Marie diese unnahbare Zwergin lächeln sah. Aus dem Saal erhob sich zwischen dem Stimmengewirr schrilles weibliches Gelächter.

„Den verrückten Haufen da drinnen hast du ja bereits kennengelernt. Viel Spaß mit den Hühner.“ Ninak pustete eine rote Locke aus ihrem Gesicht. „Ich musste den ganzen Weg von den Blauen Bergen bis nach Erebor sie beisammen halten. Einen Sack voll Flöhe zu hüten wäre einfacher gewesen.“

„Ich mag sie alle. Sie haben das Herz am rechten Fleck.“ Eine Böe kam auf. Marie spürte die Kälte auf ihrer nackten Haut stechen und versuchte die Arme so gut es ging um sich zu schlingen. Neidisch sah sie auf Ninaks Kleidungsstil, der ihr sehr gefiel. Ein Mieder aus glattem Leder umschloss ihre kurvige Figur und Marie fragte sich, wie eine Frau so stark und gleichzeitig so feminin aussehen konnte? Darunter trug sie ein grünes Hemd, das ihre Schultern freiließ und ihr tolles Dekolleté zeigte. Der Rock, den sie trug, war aus einem leichten, fallenden Stoff und ebenfalls grün. Es war funktionale Kleidung, die jedoch edel wirkte. Um ihre Unterarme trug sie zu Maries Verwunderung Armschützer, wie sie auch an Thorin schon gesehen hatte. Sonstiger Schmuck war an ihr nicht zu finden.

Ninak schien ihre Musterung gemerkt zu haben. „Ist selbstgemacht“, sagte sie und strich über das Leder, das ihre tolle Figur nicht verbarg.

„Wirklich? Woher kannst du das?“ Beeindruck trat Marie einen Schritt näher und ließ sich die Verzierungen und die feinen Nähte zeigen.

„Ich habe eine kleine Werkstatt für Lederwaren am Haraldir-Platz. Ich kann nicht wie die brave Hausfrau Zuhause hocken, während mein Mann Soldaten herumscheucht. Ich brauchte schon immer mein Eigenes. Dwalin hat organisiert, meine Werkzeuge aus den Blauen Bergen herzuholen.“

„Dann haben wir etwas gemeinsam“, stellte Marie fest, die als alleinstehende Frau ebenfalls eigenes Geld verdient hatte. Verständnis hatte sie von ein paar Dorfbewohnern nie dafür bekommen. „Da fällt mir ein, ich habe von Thorin einen Dolch bekommen. Mir fehlt noch etwas, um ihn bei mir tragen zu können. Kannst du sowas auch anfertigen?“

„Kannst du denn damit umgehen?“, kam die Gegenfrage.

„Ähm…“

„Also nein. Du solltest es lernen. Eine Waffe ist beinahe wirkungslos, wenn man nicht richtig damit umgehen kann.“

„Dann bring du es mir bei.“

„Ich?“, stieß sie hervor, völlig überrumpelt.

Marie zuckte mit den Schultern. „Wieso nicht? Du scheinst dich bestens damit auszukennen.“

Ninak wirkte nicht sonderlich überzeugt, willigte aber ein. „Na schön. Versuchen kann man es ja.“

„Wer hat dir den Umgang mit Waffen beigebracht?“

„Dwalin“, bei seinem Namen schlich sich ein liebevoller Ausdruck um ihre Augen. „Ich wollte nie mehr schutzlos sein.“

Ein Rumsen an der ins Schloss fallenden Balkontür ließ die beiden sich umdrehen. Zwei große Schatten traten in den Lichtkreis.

„Schöne Frauen sollten bei Dunkelheit nicht alleine sein.“ Thorin und Dwalin kamen auf sie zu. Letzterer hatte schon ziemlich tief in den Krug geschaut, wie man an seinem Gang und seiner Aussprache unschwer sehen konnte. „Wie wär`s? Ein Bier in meiner Rechten und dich auf meinem Schoß in der Linken?“

Ninak schmiegte sich an ihren Krieger – zwei vertraute Körper, die den anderen wie ihren eigenen kannten. „Nur wenn für mich auch eins herausspringt.“ Sie wollte bereits mit ihm nach drinnen verschwinden, wandte sich aber noch mal an Marie. „Komm am besten bei mir in der Werkstatt vorbei, wenn es dir passt. Dann kannst du dir aus meinen Vorlagen etwas aussuchen. Und vergiss den Dolch nicht.“

„Abgemacht“, antwortete Marie, die inzwischen mit Thorin eng aneinander geschmiegt an der Balustrade stand. Nachdem die beiden gegangen waren, widmete sie ihre volle Aufmerksamkeit dem Mann, dessen Blick die ganze Zeit glühend auf ihr geruht hatte. „Hey.“

„Hey.“ Thorins Augen waren glasig. Auch er hatte mittlerweile einiges getrunken. Sein Finger fuhr die Kontur ihres Wangenknochens nach, als entdeckte er ihn neu. Dann beugte er sich herab, um die Stelle zu küssen. „Lass uns von hier verschwinden.“

Irritierte zog Marie den Kopf zurück. „Wir können doch nicht einfach abhauen.“

„Ich entführe dich“, murmelte er und drückte das Gesicht an ihre Schläfe.

„Liebling, du bist betrunken“, Marie verzog den Mund, als sein Bart kitzelte.

„Angeheitert würde ich es nennen.“

„Na, schön. Und wo gehen wir hin?“

Thorin breitete die Arme in einer allumfassenden Geste aus. Wohin auch immer sie wollten.

 

~

 

„Warte auf dem Flur auf mich“, hatte er ihr befohlen. Ihr nächtliches Abenteuer erinnerte sie an das Sommerfest, an dem sie schon einmal ins Ungewisse geführt worden war. Gerade als Marie durch die Vorhänge zurück in die Wärme des Speisesaals eintauchte, sprach sie jemand ganz in ihrer Nähe an. Die Hoffnung, von niemandem aufgehalten zu werden, erstarb.

In einer Nische am Fenster saß Gandalf und hatte scheinbar auf sie gewartet, denn nun kam er zu ihr. Es fühlte sich an, als hätte der Zauberer sie bei etwas Verbotenem erwischt, was eigentlich nicht stimmte, denn niemand zwang sie dazu, hierzubleiben.

„Gandalf. Ich dachte, ihr habt Euch schon zurückgezogen.“

„Das wollte ich auch allmählich tun. Vorher wollte ich aber noch mit dir reden.“

„Gerne, aber wäre es Euch recht, dass wir das auf den morgigen Tag verschieben? Es ist schon spät und wir wollten gerade…“

„Es geht um Thorin.“

Der immer spürbarere Alkohol in ihrem Kopf war wie weggeblasen. Marie war darauf nicht vorbereitet gewesen. Noch ehe sie nachfragen konnte, sagte er: „Ich habe ein Anliegen an dich.“ Weit kam er jedoch nicht.

„Was soll das werden, wenn ich fragen darf?“ Mit einer Flasche Wein und zwei Kelchen in seiner Armbeuge geklemmt stand Thorin bei ihnen und funkelte den Zauberer an.

Über die Wut in seinem Blick erschrak Marie. „Gandalf wollte nur mit mir etwas besprechen“, besänftigte sie, um die aufgeladene Spannung zwischen den beiden zu glätten, die so plötzlich da war. Mit nur mäßigem Erfolg. Thorin sah aus, als wollte er Gandalf auf der Stelle erwürgen. Himmel, was war hier los?

„Das muss warten. Komm, Marie.“

Die Miene des Zauberers drückte großes Missfallen aus. Er hielt sie jedoch nicht auf. „Wie Ihr wollt…Mylord.“

Marie verstand gar nichts mehr. Notgedrungen folgte sie Thorin und ließ nicht nur Gandalf, sondern auch ein großes Rätsel zurück. Als die beiden die Tür ohne weitere Zwischenfälle erreicht hatten, fragte sie mit gedämpfter Stimme: „Habt ihr euch gestritten?“

„Wer?“ Er hatte ihr gar nicht zugehört.

„Na, wer wohl? Du und Gandalf.“

„Wir haben Meinungsverschiedenheiten.“ Thorin blieb auf dem Flur stehen und prüfte, ob die Luft rein war. „Machen wir uns lieber aus dem Staub, bevor noch jemand auf die Idee kommt, uns den Abend zu vermiesen“, wandte er sich flüsternd ihr zu. „Wir haben guten Wein und die restliche Nacht nur für uns.“ Sein Lächeln war entwaffnend. Marie spürte den Flügelschlag eines Schmetterlings, als sie seine ausgestreckte Hand ergriff. Wie zwei Taschendiebe liefen sie die Treppen hinab. Hinein in ein schlafendes Königreich.

 

~

 

Das Echo ihrer klackernden Schuhe war als einziges in der nächtlichen Stadt zu hören. Die Lichter in den Wohnstuben waren lange schon gelöscht, Gassen und Geschäfte verwaist. Lampen und Laternen hinderten die Dunkelheit daran in alle Winkel vorzudringen. Im Grau der Nacht machten sie sich einen Spaß daraus, patrouillierenden Soldaten auszuweichen. Sie huschten durch Gänge, bis es Marie schwindelte von dem Labyrinth unter dem Berge. Plötzlich zog Thorin sie hinter eine Ecke und presste sich mit ihr an die Wand.

„He!“, protestierte sie, als der Wein aus ihrem Kelch schwappte.

„Sch… Ein Nachtwächter.“ Wie Verbrecher verbargen sie sich im Schatten. Marie erkannte Thorins Gesicht über sich in der Dunkelheit auf die Straße starren. Der Nachtwächter ließ sich viel zu viel Zeit, die Dochte mit frischem Öl zu tränken, wie sie aus seiner Miene schlussfolgern konnte. Vom Wein berauscht und des Wartens ungeduldig begann sie, an dem Hals ihres Gegenübers zu knabbern, woraufhin Thorin ein gequältes Geräusch machte und sie ihr Kichern unterdrücken musste. Endlich war der Mann fertig mit dem Kontrollieren der Lampen. Sie warteten noch, bis er um die nächste Ecke war, dann liefen sie weiter.

Sie verfolgten kein bestimmtes Ziel und so verweilten sie oft an Orten die Namen besaßen und Thorin erzählte etwas über die Plätze, Viertel oder Statuen. Marie sog seine Erklärungen wie den Wein gleichermaßen auf, wenngleich Letzterer deutlich länger in ihrem Kopf blieb. Wo auch immer sie wollten, küssten sie sich. Berührungen wurden im Schatten ausgetauscht, geflüsterte Worte verließen Lippen. Sie tanzten auf leeren Plätzen, zogen Kreise, bis sie beide taumelten.

Inzwischen war der Wein alle. Kelche und Flasche waren zurückgelassen worden. Wo, dass wussten beide nicht mehr so ganz genau. Eingeharkt in des Königs Arm passierte sie zwei Wachposten, die vor dem Paar salutierten. Über ihrem Kopf wölbte sich ein Gang und gab den Blick frei auf eine lange, von Statuen bewachten Halle. Vom angrenzenden Hallenschiff strömte Mondlicht herein.

„Hier hast du mich also hingeführt.“ Ein in der Luft verlaufender Weg führte schnurgerade auf ein Felsplateau zu, wo der Thron Erebors in nächtlicher Stille ruhte.

„Ich wollte dir zeigen, wofür wir in den Krieg gezogen sind.“ Thorin führte sie über den Mittelweg immer tiefer in die Thronhalle und spürte mit jedem Meter mehr sein Herz klopfen. Er hatte den Moment so sehr herbeigesehnt, ihr dies zeigen zu dürfen. Marie sollte sehen, was es hieß, König zu sein.

„Ist es das, was ich denke?“ Das Leuchten, welches das Grau der Halle wie ein schlafender Stern brach, hielt ihre Aufmerksamkeit gefangen.

„Ja“, hauchte er. Sie waren dem Thron schon ganz nah. Er war aus einem Stück Fels gehauen und mit goldenen Runen und Reliefs geschmückt. Das Gestein des Erebors trat hier in seinen grünen und blauen Farbspektren besonders eindrucksvoll zum Vorschein. Nicht ganz zufällig waren es dieselben Farben, die sich in dem Stoff ihres Kleides wiederspiegelten.

„War das Smaug?“ Sichtlich unwohl zeigte Marie auf die tiefen Furchen, die die hohe Lehne des Throns beschädigt hatten und gespenstisch die Länge von Drachenkrallen erahnen ließen.

Auch Thorin wurde anders zumute, als er die Spuren roher Gewalt sah. Er nickte und spürte Marie nach seiner Hand greifen.

„Ich würde es so lassen.“

Verwundert sah er sie an. Eigentlich hatte er diesen Makel schon bald ausbessert lassen wollen. „Bist du sicher?“

Sie zuckte mit den Achseln. „Es sind Narben, die euch schmücken. Dich und dein Volk. Es zeigt, dass ihr stark seid und überlebt habt. Die Herrschaft des Drachen ist Teil eurer Geschichte und sollte nicht vergessen werden. Besonders die Opfer, die sie forderte.“

„So hab ich es noch nie gesehen“, gestand Thorin. Er würde ihren Einwand bei seiner Entscheidung berücksichtigen. Hoch über dem Thron ragte ein mächtiger Stalaktit von der Höhlendecke, der eine Goldader zur Schau trug. Das Faszinierendste aber war der Arkenstein, der in der hohen Lehne direkt darunter in einem Ornament aus Gold, welches Marie an eine geometrische Blume erinnerte, eingefasst war und von einem inneren Licht leuchtete.

„Du hast von ihm gesprochen, doch ich konnte ihn mir nie richtig vorstellen.“ Kaum, dass sie es ausgesprochen hatte, stieg Thorin zu ihrer Überraschung auf den Thron. Er löste einen versteckten Mechanismus aus, woraufhin der Arkenstein aus seiner Fassung und in seine Hand fiel. Ihr Mund stand offen, als er mit dem strahlenden Juwel in seinen Händen zu ihr runter kam. Müde von dem Tag ließ sich Thorin auf seinen Thron fallen und zog Marie dabei auf seinen Schoß, ungeachtet der Tatsache, dass der Thron eigentlich nur für eine Person gedacht war.

„Nimm. Keine Angst. Er ist ungefährlich.“

Nur zögerlich nahm sie den dargebotenen Stein, der sich glatt und kalt in ihre Handflächen schmiegte. „Er ist wunderschön.“

Zurückgelehnt genoss Thorin den Anblick von Marie, die fasziniert das Juwel hin und her drehte und es immer wieder ganz nah ans Gesicht hielt, damit sie in sein Inneres sehen konnte.

Einst hatte er von diesem Bild geträumt. Es war einer jener Träume gewesen, die ihn panisch aufschrecken ließen. Damals hatte Marie den Arkenstein in ihren Händen gehalten und war plötzlich mit Angst in den Augen vor ihm zurückgewichen, während Blut über ihr Gesicht gelaufen war. Das Bier hatte seine Gedanken benebelt und ihn seine Vorsicht vor Smaugs Flucht beiseiteschieben lassen. Jetzt ließ er sein eigenes Handeln durchgehen, weil es sich richtig anfühlte, dies mit ihr zu erleben. Er musste mit ihr herkommen, auch wenn er die Reaktion des Drachen beim Anblick des Arkensteins nicht hatte einschätzen können. Seit er vor den Augen seines Volkes den Thron bestiegen hatte, hatte er den Arkenstein nicht mehr sehen wollen. Nun konnte er es nicht länger hinauszögern.

Während Marie an ihm gelehnt den Stein betrachtete, versuchte Thorin die Bestie einzuschätzen. Smaug hatte sich schon eine Zeit lang nicht mehr geregt. Wieso ignorierte der Drache sein Vorhaben? Verfolgte er ähnliche Pläne und ließ ihn deshalb in Ruhe? Was es auch war, Smaug würde ihn schon bald daran erinnern, was es hieß, sich ihm zu widersetzen. Er musste sich darauf vorbereiten.

„Es sieht so aus, als wären Eis und Feuer darin eingeschlossen.“

Maries Vergleich lenkte seine Aufmerksamkeit wieder ihr zu. Er legte die Arme enger um sie und zog sie näher zu sich.

„Da bewegt sich etwas!“

„Nicht schütteln!“

„Oh. Tschuldigung. Aber das ist so spannend. Es sieht aus wie Schneeflocken. Oder wie Glutfunken! Was meinst du?“

„Kristallsplitter.“

Um seine Theorie zu überprüfen, warf sie noch einmal einen genauen Blick ins Innere des Arkensteins. „Jetzt weiß ich, wieso dieser Stein euch so wichtig ist. Du warst bestimmt froh, als Bilbo ihn gefunden hat.“

Erinnerungen durchzuckten durch sein Gedächtnis wie ein Blitzschlag trockenes Gehölz.

Ich habe ihn ihnen gegeben. Ich habe ihn als meinen vierzehntel Anteil genommen.

Du hast ihn mir gestohlen.

Dir gestohlen? Nein. Mag sein, dass ich ein Dieb bin, doch ein ehrlicher, behaupte ich. Ich bin bereit, dafür auf meine Ansprüche zu verzichten.

Auf deine Ansprüche.... Du hast keine Ansprüche an mich, du elender Wurm!

Ich wollte ihn dir geben. Viele Male wollte ich es…

Aber was, Dieb.

Du hast dich verändert, Thorin.

Seine eigentlichen Gefühle verbarg er hinter einer Maske und war dankbar, als Marie fragte: „Was hat es mit ihm auf sich? Wo kommt er her?“

Thorin flüchtete in seine Erzählungen, erinnernd, dass er ihr immer noch einen Großteil der Wahrheit schuldig war. „Niemand weiß, woher er kommt oder aus was er besteht. Keiner hat es gewagt, ihn durchzusägen, um es herauszufinden. Unsere Bergleute gruben immer tiefer und eines Tages tauchte er aus der Dunkelheit auf, tief im Inneren des Erebors. Deswegen wird er auch das Herz des Berges genannt. Er ist das Königsjuwel, Sinnbild unserer Familie. Wer ihn besitzt, besitzt Macht und Ansehen.“

„Haben die anderen Zwergenreiche auch so mystische Steine?“

„Nein. Deswegen haben die anderen Könige stets zu meinen Vätern aufgesehen. Wir waren von allen hoch geachtet. Vor seinem Fall war Erebor das mächtigste Königreich gewesen. Das war der Grund, wieso es mir so wichtig war, ihn zu finden. Ich konnte kein richtiger König sein ohne ihn.“

Der Arkenstein liegt in diesen Hallen! Findet ihn! Ihr alle. Niemand ruht bis er gefunden ist!

„Dann ist der Besitzer des Arkensteins der mächtigste Zwerg?“

„So kann man es sagen.“

Ein Lächeln zierte ihre Lippen, als sie sich an ihn kuschelte. „Wenn ich ihn dir klaue, bin ich die mächtigste Halb-Zwergin in ganz Mittelerde.“

„Denk nicht mal dran, Halbe-Portion.“ Seine gespielte Drohung bewirkte nur, dass ein Lachen ihrer Kehle entstieg. Ihre Beine hingen über einer der Armlehnen, während sie an seiner Schulter gelehnt die Zweisamkeit auf Erebors Thron genoss, der Ort für ein Rendezvous geworden war. Der Arkenstein leuchte ruhig und gleichmäßig in ihren Händen.

„Siehst du die Empore dort oben mit dem großen Balkon?“ Marie folgte seinem ausgestreckten Finger und bejahte. „Das ist der Ratssaal, wo sich die einflussreichsten Männer Erebors einmal im Monat treffen. Wichtige Entscheidungen müssen demnächst getroffen werden. Wir sind noch lange nicht dort angekommen, wo wir sein wollen. Ich werde in nächster Zeit jede Menge zu tun haben. Deswegen sind wir hergekommen. Ich wollte dir die Orte zeigen, an denen ich den Großteil meiner Zeit verbringen werde.“

„Verstehe“, antwortete sie. „Es wird noch Zeit vergehen, ehe Erebor wieder das ist, was es einmal war. Hab ich Recht?“

„Was du gesehen hast, ist nur das Nötigste, was mein Volk bislang zum Leben hat. Die Fuhrmänner kommen kaum mit neuer Ware hinterher. Die meisten Läden und Geschäfte sind noch verlassen. Unsere Gilden sind winzig oder existieren noch gar nicht. Die, die hier her gekommen sind, müssen ganz von vorne anfangen und sich ihren Lebensunterhalt mit harter Arbeit verdienen. Viele kommen hier her, weil sie von einem Neuanfang träumen. Erebor hat jeher vom Handel gelebt. Ich muss ihn ganz neu aufbauen lassen.“

„Ich helfe dir dabei. Ich weiß nur noch nicht, wie.“

Sein Mund berührte ihre Stirn, als wäre sie eine Heilige. „Als mein Großvater König unter dem Berge war, habe ich oft hier gestanden und ihm bei Audienzen zugeschaut. Ich habe viel von ihm über die Pflichten eines Herrschers gelernt. Und was es heißt, gerecht zu sein.“ Ein Schatten huschte über sein Gesicht, so schnell, dass Marie im Nachhinein nicht sagen konnte, ob sie sich bloß täuschte.

„Auch ich werde hier Audienzen halten, die Belange meines Volkes anhören und Recht sprechen lassen. Ich will, dass du dabei an meiner Seite bist, mell nin. Du kannst ruhig und konzentriert sein, wenn andere den Kopf zu verlieren drohen. Ich brauche genau diese Ruhe, wenn ich keine mehr habe; dein Mitgefühl und mitunter sogar dein Temperament. Du hast eine ganz andere Sicht auf Dinge, weil du nicht hier aufgewachsen bist. Aber vor allem, mein Liebling, brauche ich dich, wenn alles um mich herum zu viel wird. Wenn ich nicht mehr weiter weiß und ich kein Licht mehr sehe.“

Regungslos hatte sie ihm zugehört. Nun sank ihre Stirn gegen die seine, während ihre Stimme plötzlich dünn wurde. „Ich werde an deiner Seite sein. Ich…“ Sie musste sich neu sammeln, unbemerkt, dass auch Thorin einen inneren Kampf ausfocht. „Ich habe dir versprochen, dass ich dir die Schuld abnehme, die du dir auferlegt hast. Vergiss das nicht, Thorin. Ich bin da, wenn du mich brauchst. Wenn du darüber sprechen möchtest.“

Die ganzen Gefühle, die er so lange zurück gehalten hatte; die Furcht und die Sorge das, was unweigerlich folgen würde, drohten ihn zu überwältigen. „Amra limé“, wisperte er. Zu mehr war er nicht mehr fähig in diesem Moment.

„Ich dich auch“, antwortete sie kaum hörbar und presste sich an ihn.

Dieser Abend hätte nicht diese Richtung einschlagen dürfen. Es war naiv zu glauben, nicht an das Geheimnis erinnert zu werden, welches er immer noch mit sich herum trug, nur weil er zu feige war, den nächsten Schritt zu gehen und ihre heile Welt erneut in Schutt und Asche zu legen.

„Ich habe es nicht vergessen“, versicherte er ihr und küsste die Knöchel ihrer Hand. „Ich brauche nur noch etwas Zeit. Ich arbeite an mir.“ Marie nickte, wirkte jedoch nicht glücklicher. Viel eher sah sie enttäuscht aus, nicht endlich die Wahrheit zu erfahren, und Thorin konnte es ihr noch nicht einmal verübeln. „Lass mich den Arkenstein wieder an seinen Platz bringen.“ Vorbei war der Zauber, der sie für ein paar Stunden gefangen gehalten hatte.

Als das Juwel wieder an seinem Platz war und Thorin erneut vom Thron stieg, sah er sein Mädchen, wie es die Thronhalle hinab blickte. Einst standen sie zusammen am Fluss und er schwor ihr erneut seine Liebe, die Warnung seines Freundes Balin in den Wind geworfen, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für eine Affäre wäre. Er hatte nicht auf ihn gehört, sondern das gesagt, was sein Herz ihm befahl.

Solange ich noch stehen kann, kämpfe ich für dich. Solange ich atme, verteidige ich dich. Solange mein Herz schlägt, wird es dich in sich tragen. Solange ich lebe, werde ich dich lieben.

Seine einst gesprochenen Worte kamen ihm in den Sinn. Nach all der Zeit hatten sie nicht an Bedeutung verloren. Im Gegenteil. Sie waren wichtiger, denn je und ließen ihn in seine Hosentasche greifen…

„Lass uns bitte nach Hause gehen. Ich bin so mü…“ Marie drehte sich um und hielt den Atem an. Vor ihr kniete Thorin, in der Hand eine geöffnete Schachtel, in der ein funkelnder Ring steckte. Es war ein von kleinen Diamanten eingebetteter Smaragd, der die Farbe von Moos und Farnblättern besaß. Ihr Herz begann in ihrer Brust zu wummern, als ihr klar wurde, was er da tat.

„Ich kann dich nicht zwingen, eine Königin zu sein. Aber ich kann dich bitten, meine Frau zu werden.“

Thorin… Die Tränen, die ihr in die Augen traten, nahmen ihr die Sicht. Seine Worte ihr Herz.

„Marie, heirate mich. Werde meine Frau.“

Ein Schluchzer trat ihr als erstes über die Lippen, ehe Worte folgen konnten. „Ja… Ja, natürlich will ich deine Frau werden.“ Eine andere Antwort hatte es nie gegeben.

Ein Lächeln wischte alle Anspannungen von ihm. Nur mit Not konnte er das Glitzer in seinen Augen wegblinzeln, als der König Erebors sich erhob und seiner Verlobten den Ring ansteckte. Ein Kuss besiegelte ihre Entscheidung.

Ein kleiner Schimmer Licht in finsterer Nacht.

 

10

 

 

Strahlendheller Sonnenschein, Kopfschmerzen und ein flaues Gefühl in der Magengegend weckten Marie. Gegen das helle Morgenlicht blinzelnd schob sie die Felle beiseite. Zuerst dachte sie, verschlafen zu haben, weil sie sich einbildete, jemand habe nach ihr gerufen. Sie sah das Zimmer, in dem sie sich befand, und ihr wurde klar, dass keine Ziegen darauf warteten, gefüttert und gemolken zu werden, keine Korb voller Kräuter, die sie während eines nächtlichen Streifgangs gepflückt hatte und nun verarbeitet werden mussten, damit ihre Wirkung nicht verloren ging.

Ein Lächeln kitzelte ihre Lippen, als sie den Ring an ihrem Finger spürte. Marie hob ihn ins Morgenlicht und betrachtete ihn von allen Seiten. In den Facetten des Smaragdes erkannte sie ihre geliebten Farben des Waldes, während die kleinen Diamanten rundherum wie Sterne funkelten.

„Er ist perfekt“, flüsterte sie, auch wenn ihr Verlobter es nicht hören konnte. Schon früh am Morgen war Thorin wach gewesen. Er konnte nicht viele Stunden geschlafen haben und dennoch war – anders als bei Marie - keine Spur des gestrigen Gelages bei ihm zu finden. Forsch hatte sich ihr Verlobter unter die Decke und zwischen ihre Beine geschoben und ihr so einen guten Morgen gewünscht. Nach ihrem Liebesspiel war Marie sofort erneut eingeschlafen und hatte ihn nicht mehr weggehen gehört.

Seufzend ließ sie ihre Hand sinken und fuhr sich erst einmal durchs Gesicht, um überhaupt wach zu werden. Ihr Kopf war schwer von dem Wein und dem Bier von gestern Abend. Anscheinend war beides zusammen keine gute Kombination… Ihre Haare mussten wie ein Nest aussehen, denn nachdem sie und Thorin in den frühen Morgenstunden in ihre Gemächer gekommen waren, war Marie tot ins Bett gefallen. Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass sie sich entkleidet hatte.

Ein Klopfen an der Zimmertür ließ sie aufhorchen. Sittsam dachte Marie daran, sich zu bedecken, bevor sie die Person hereinbat. „Ja, bitte?“

Zögerlich wurde die Tür aufgeschoben. „Ich bitte vielmals um Verzeihung, wenn ich Euch geweckt haben sollte.“

„Guten Morgen, Tara. Sei unbesorgt.“

„Das ist gut. Ich…“ Als fürchte sie belauscht zu werden, schloss Tara die Tür hinter sich. Angst erfüllte ihren Blick, die Marie hellwach werden ließ.

Sie stieg aus dem Bett und ergriff die Hände ihres Zimmermädchens, ungeachtet des Schwindels, der sich bemerkbar machte, oder der Tatsache, dass sie nichts am Leib trug. „Was ist passiert?“

„Ich dürfte eigentlich gar nicht bei Euch sein und Euch das fragen.“ Beim Versuch, ihre zitternde Stimme zu bündeln, schluckte sie. „Ihr seid doch Wehmutter, oder?“

Marie musste erstmal ihre verkaterten Gedanken klären, bevor sie antworten konnte. Tara konnte nicht so lange warten.

„Piljar hat mir verboten, Euch zu holen“, platze es aus ihr heraus. „Ich musste ihr schwören, Euch nichts zu erzählen. Aber ich konnte nicht anders.“

„Tara, wovon redest du? Bist du schwanger?“

Ma. Nicht ich. Die Frau meines Bruders…“ Die Bedienstete brach in Tränen aus. „Die Wehen haben in der Nacht eingesetzt. Die Hebamme, die mein Bruder aufgetrieben hat… Ich traue ihr nicht. Sie hat zuerst den Lohn für ihre Dienste verlangt, ehe sie auch nur einen Blick auf Nyr geworfen hat.“

Marie glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Für eine ehrliche Hebamme würde ihrer Meinung nach das Kind und das Überleben der Mutter an erster Stelle stehen, ehe sie auch nur über einen Lohn nachzudenken hat.

„Das Kind hat sich nicht gedreht. Die Hebamme sagte, dass Nyr sterben wird, wenn wir nicht das täten, was sie sagt. Sie befahl mir, einen noch warmen Kuhfladen zu holen…“

„Einen was???“

Tara zog den Kopf ein. „Einen Kuhfladen!“

„Was hat diese Frau denn damit vor?“

„Das hat sie nicht gesagt. Anstatt zu den Ställen bin ich direkt zu Euch gelaufen. Ich hab so Angst, dass diese Frau Nyr umbringt!“

Marie drückte die Schultern ihres völlig aufgelösten Zimmermädchen, damit es ihr zuhörte. „Du beruhigst dich jetzt. Und dann hilfst du mir beim Anziehen.“

„Ihr wollt uns helfen?“ Ihrem Erstaunen war abzulesen, dass Tara nicht daran geglaubt hatte, dass ihre Herrin ihr wirklich helfen wollte.

„Ich bin immer noch Heilerin, ganz gleich für welches Volk.“

„Danke! Ich danke dir, Marie.“

„Noch ist das Kind nicht da. Wir müssen uns beeilen.“ Tara wollte ins Ankleidezimmer laufen, doch Marie rief sie zurück. „Wir haben keine Zeit, ein Kleid anzuziehen.“ Sie hob Thorins Sachen auf, die dort lagen, wo er sie gestern hingeworfen hatte.

Schockiert starrte Tara ihre Herrin an, die nackt wie sie war in Mylords Unterhemd schlüpfte und auch noch nach dem langärmeligen Wams griff. „Aber Ihr könnt das nicht anziehen!“

Marie war bereits bei der Hose und zog den Gürtel ins letzte Loch, damit diese ihr nicht von den Hüften rutschte. „Wir haben keine Zeit für Diskussionen. Wo sind meine Schuhe?“

Es dauerte keine Minute mehr, bis Marie und Tara das Gemach verließen. Mit gerafftem Rock lief ihr Zimmermädchen voraus. Marie blieb dicht hinter ihr. Verwundert blickten die beiden Soldaten am Vorsaal ihnen nach, hielten sie jedoch nicht auf. Auf dem Weg hinunter in die Stadt brachte sie alles von der Zwergin in Erfahrung, was sie wissen musste. Und je mehr sie wusste, desto ernster wurde die Situation für Mutter und Kind.

In Erebor herrschte morgendliche Betriebsamkeit. Die Frauen mussten durch geschäftige Bewohner des Berges schlüpfen. Marie sah zu Boden, um von niemanden aufgehalten zu werden. Verzögerungen waren das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten. „Durin, mach, dass wir es noch rechtzeitig schaffen“, hörte sie ihr Zimmermädchen beten und schickte für alle Fälle ein „Bitte“ hinterher.

Als Marie schon dachte, sie würden niemals ankommen, erreichten sie das Wohnviertel, in dem Tara und ihre Familie heimisch geworden waren. Die Gebäude aus gehauenem Fels mit ihren hölzernen Fensterläden ähnelten den Häusern der Menschen. Nur besaßen diese Häuser unter Tage flache Dächer und kein mit Ziegel oder Stroh gedecktes Gebälk aus Holz. Manche überschatteten Straßen, andere waren in rohem Fels hineingeschlagen worden, sodass nur die Vorderfronten herausschauten.

Tara steuerte auf eines dieser Häuser zu. Schon von draußen hörte man die Schmerzensschreie der in Wehen Liegenden. Sie hämmerte gegen die Tür, die sofort von einer Zwergin mittleren Alters aufgerissen wurde, als hätte sie sie bereits kommen sehen.

„Tara muzba!“, rief die Frau ins Haus hinein. In der Diele erschien ein Mann und starrte Marie mit unverhohlener Skepsis an. Er sagte etwas zu Tara in ihrer Sprache.

„Wie geht es Nyr?“, fragte diese stattdessen zwischen zwei Atemzügen und quetschte sich an ihm vorbei. Marie vermutete, dass dies der werdende Vater war, denn er war leichenblass. Sie huschte an dem schwarzhaarigen Hünen vorbei, um Tara in ein Zimmer zu folgen. Vor Schmerz erbleicht lag Nyr auf einem Bett. Schweiß stand ihr in Perlen auf der Stirn. Um sie herum: ein Pulk an Frauen. Als man Marie in der Zimmertür bemerkte, drehten sich alle zu ihr um. So auch die Frau, die vor dem Bett gestanden und den Blick auf die Schwangere fast gänzlich verdeckt hatte. „Rá kaqui talnur?“, blaffte sie in Taras Richtung. Ihr Ton ließ auf nichts Nettes schließen. Ihr Zimmermädchen suchte mit großen Augen ihre Hilfe.

„Tara hat mich gebeten, Euch zu helfen.“ Damit sprach Marie nicht die Hebamme an, mit der sie es aller Wahrscheinlichkeit nach hiermit zu tun hatte, sondern die junge Frau, die dort um ihr Leben rang. Matt hob das Mädchen den Kopf, um die Fremde anzusehen, die dort in Männerklamotten stand. „Mein Name ist Marie. Ich bin Heilerin und Hebamme und kann Euch helfen.“ Als Marie zu ihr wollte, versperrte ihr die zuerst gerufene Hebamme den Weg. Ein übler Körpergeruch ging von dieser Frau aus, der Marie die Nase rümpfen ließ.

„Ihr seid also die Menschenfrau, die unser König hierher geschleppt hat.“ Im Raum war ein hörbares Einatmen von allen zu hören. Die Tanten in der Zimmerecke begannen zu tuscheln.

„So ist es“, zischte Marie. „Und deswegen solltet Ihr mir mehr Respekt erweisen.“ Die Angesprochene machte ein düsteres Gesicht. Ehe sie ihren Unmut freien Lauf lassen konnte, kam Marie ihr zuvor. „Wie kommt Ihr bloß auf die Idee, einer Frau mit einem Kuhfladen Besserung verschaffen zu können?“

„Jede Wehmutter weiß doch, dass die Hitze des Dungs giftige Säfte aus dem geöffneten Körper zieht“, entgegnete die Alte zänkisch und mit starkem Akzent. Marie erhaschte einen Blick auf ihre dunklen Zähne, als sie keifte: „Dort, wo ich herkomme, wird das schon seit Generationen so gemacht.“

„Das ist abergläubischer Unfug! Alles, was Ihr damit bewirkt, ist diese Frau umzubringen.“

„Was bildet Ihr Euch überhaupt ein?“ Die Hebamme holte aus ihrer Umhängetasche ein Stück Papier und hielt es Marie direkt ins Gesicht. „Da! Lest selbst! Ich habe eine amtliche Zulassung als Hebamme – von Eurem Verlobten persönlich unterzeichnet! Was habt Ihr vorzuweisen?“

Marie starrte gegen die in Khuzdul verfassten Zeilen samt Thorins Unterschrift und musste ihre Antwort auf diese Frage runterschlucken. Ihr Wort war das Einzige, das sie hatte. „Dieses Stück Papier ist nichts wert angesichts Eurer Methoden bei einer solchen Geburt. Und deswegen werdet Ihr dieses Haus sofort verlassen.“

Demonstrativ verschränkte die Hebamme die Arme vor der Brust. „Ich wurde bereits für meine Dienste bezahlt.“

In diesem Moment grellte ein Schrei von Nyr durch den Raum. Sofort war Tara an ihrer Seite. Marie wandte sich an den werdenden Vater, der hinter ihr stand, und hilflos zu seiner Frau sah. „Wenn Ihr wollt, dass Eure Frau und Euer Kind überleben, werft diese Hochstaplerin hier raus. Lasst mich Eurer Familie helfen, ehe es zu spät ist. Ich werde mein Möglichstes geben, sie zu retten. Das verspreche ich Euch.“

Der Mann zögerte, bis schließlich die Angst in seinen Augen in Zorn umschlug. „Geht! Nehmt Euren verdammten Lohn und geht!“

Ungerührt zuckte die Hebamme mit der Schulter. „Mir soll´s Recht sein.“ Damit rauschte sie von Dannen. Die Haustür war noch nicht ins Schloss gefallen, da war Marie bei Nyr, die mit großen blauen Augen zu ihr heraufsah. Die Schmerzen konnte Marie der jungen Frau nicht nehmen, aber sie wollte alles daran setzen, dieses Baby heil auf die Welt zu holen. Das Leben von Mutter und Kind lag von nun an in ihren Händen.

„In welchem Abstand kommen die Wehen?“

„Alle 90 Sekunden.“

Verwundert drehte Marie sich nach dem Stimmchen um. In der hintersten Ecke stand - fast selbst noch ein Kind - ein Mädchen mit Ähnlichkeit einer grauen Maus in einer viel zu großen Schürze. „Und wer bist du?“

„R-Rani, Eure Hoheit. Mistress Favli meine Mentorin… Ich auch gehen?“

Die einfache Tatsache, dass das Mädchen ihrer Mentorin nicht gefolgt war, ließ Marie auf gute Absichten der Schülerin hoffen. „Wenn du etwas Anständiges lernen willst, kannst du hierbleiben und mir zur Hand gehen. Ich brauche als allererstes etwas Wasser zum Händewaschen.“ Marie bemerkte ihren Verlobungsring, zog ihn vom Finger und verstaute ihn in der Hosentasche. Die Schülerin verschwand, um das Gewünschte zu holen. In der Zwischenzeit bat Marie auch die restlichen Frauen höflich, aber bestimmt aus dem Haus. So viele Leute auf einem Haufen konnte sie nicht gebrauchen. Tara übersetzte Maries Anweisungen. Die Tanten und die werdende Großmutter kamen ihrem Wunsch ohne Umstände nach. An Taras Bruder gewandt sagte sie: „Ihr dürft bleiben, wenn Ihr wollt.“

„Ich bleibe. Kann ich irgendetwas tun?“

„Steht Eurer Frau bei.“ Marie wusch sich die Hände in der Schüssel, die Rani ihr hielt. Dann nahm sie auf der Bettkante Platz. „Ich muss dich untersuchen.“ Nyr nickte bloß und ließ sich das lange Unterhemd hochschieben. Marie legte ihre Hände auf den prallen Leib und tastete die Lage des Kindes behutsam ab. Was sie fühlte, bestätigte es. „Dein Baby wird mit den Füßen voran geboren. Ich kann es nicht mehr drehen, dafür ist die Geburt schon zu weit vorangeschritten. Wir müssen deinem Kind dabei helfen, den Weg zu finden.“

„Ich hab solche Angst… Ich schaff das nicht.“ Eine Träne rollte Nyr über die sommersprossige Wange. Ihre Schwägerin fing sie mit einem Taschentuch auf und drückte ihr einen Kuss auf das Haar.

„Du wirst das schaffen, mell coin. Marie wird dir helfen.“ Voller Hoffnung blickte sie zu ihrer Herrin. Lautlos schwebte die Frage nach Nyrs Schicksal zwischen ihnen, die Marie zum jetzigen Zeitpunkt weder beantworten wollte, noch konnte.

„Kannst du Wasser erhitzen und Zucker darin auflösen?“, wandte sie sich erneut an das junge Mädchen. „Wir müssen sie kräftigen. Und gibt es hier jemanden, der Kräuter verkauft?“ Rani bejahte. „Gut. Ich brauche ein paar Dinge.“ Sie zählte dem Mädchen alles auf, was sie brauchen könnte und hoffte, dass sie es verstand. Zur Sicherheit ließ sie die Zutaten nochmal von Tara übersetzen. Thanus, der werdende Vater, gab ihr Münzen und den Befehl mit auf dem Weg, sich ja zu beeilen.

„Nyr, ich möchte, dass du dich hinstellst. Geh ein paar Schritte.“

Unsicherheit flammte in ihrem Blick auf. „Aber… Mistress Favli hat mir gesagt, ich soll liegen.“

„Verzeih meine Direktheit, aber Mistress Favli ist nicht mehr hier. Du musst mir jetzt vertrauen.“

Für einen Moment sah Nyr sie an, so als wüsste sie nicht, ob sie das wirklich konnte. Doch dann sah sie ein, dass sie keine andere Wahl hatte. „Thanus?“ Mit der Kraft ihres Ehemannes schaffte es Nyr aus dem Bett. Kaum, dass sie mit beiden Füßen auf dem Zimmerboden stand, brach eine gewaltige Wehe über sie herein, die sie schreien ließ.

„Das sind Presswehen. Du musst anfangen, dein Baby nach unten schieben.“

„Ich kann das nicht!“

„Doch, du kannst! Stütz dich auf mich ab. Ich helfe dir dabei.“ Marie zeigte Nyr, die sich mit beiden Hände an ihren Schultern festhielt, wie sie atmen musste und zählte von 10 runter, wenn wieder eine Wehe kam, damit Nyr sich bemühte lange genug zu pressen. Sie sorgte sich um die junge Frau, die nach der durchgestandenen Nacht am Ende ihrer Kräfte war, jedoch ließ sie keine Sekunde zu, dass jemand anderes ihre Gedanken erraten konnte. Nach dem Abklingen der Wehe stieß sie stöhnend die Luft aus.

„Sehr gut, Nyr. Du machst das hervorragend. Halt dich jetzt an deinem Mann fest bis die nächste Wehe kommt und versuch dich zu entspannen. Ich weiß, das klingt unmöglich, aber du musst deine Kräfte schonen. Sammle deine Kräfte in jeder Pause.“ Marie hätte sie auch weiterhin festhalten können, doch sie wollte dem werdenden Vater eine Aufgabe geben. Kaum ausgesprochen war Thanus zur Stelle. Man sah ihm deutlich an, wie sehr ihn der Umstand fertig machte, in keinster Weise seiner Partnerin die Schmerzen abnehmen zu können. Schon etliche Kinder hatte Marie auf die Welt geholt und das Verhalten der Männer oft genug studieren können. Die meisten waren nicht bei einer Geburt dabei. Ein paar von den Anwesenden saßen kreideweiß in der Ecke und wieder andere waren ihr aus den Schuhen gekippt. Thanus gehörte zu der Sorte Mann, die goldwert war. Allein seine Anwesenheit reichte aus, Nyr ein besseres Gefühl zu geben. Zwischen den Wehen sank ihr Kopf an seine breite Brust. Ihrem Instinkt folgend wiegte sie ihr Becken hin und her, gehalten von ihrem Mann, der sanfte Worte in ihr Ohr flüsterte.

Zum Glück kam Rani schon nach kurzer Zeit wieder. Sie hatte nicht alles besorgen können, doch mit dem, was sie dabei hatte, konnte Marie etwas anfangen. Zusammen mit Tara setzte sie in der Küche einen Sud auf dem Herd auf, den sie Nyr einflößen wollte.

Mittlerweile hatte sich eine Traube aus Schaulustigen vor dem Haus versammelt, als sich herumgesprochen hatte, dass die Verlobte des Königs hier war. Man versuchte durch die Fenster einen Blick auf das Geschehen im Inneren zu erhaschen. Während Tara schimpfend die Vorhänge zuzog, ignorierte Marie die Treiben und konzentrierte sich voll und ganz auf ihre Aufgabe.

Während Rani weitere Utensilien im Haus auftrieb, schickte Marie Tara zurück zur Arbeit. Sie durfte nicht länger unentschuldigt fehlen. Piljar hatte sicher schon Verdacht geschöpft. Anfangs war ihr Zimmermädchen überhaupt nicht begeistert davon. Mehrmals musste Marie ihr versichern, dass sie mit Ranis Unterstützung alleine zu Recht kommen würde und Tara wiederum versprach unverzüglich nach Dienstende sie abzuholen, falls Marie bis dahin noch nicht wieder zurück war.

Tara verabschiedete sich von ihrem Bruder und ihrer Schwägerin und versicherte, schon in ein paar Stunden wieder zurück zu sein. Als sie gehen wollte, fing Marie sie an der Haustür noch einmal ab. „Bitte erzähl Thorin nicht, wo ich bin oder was ich hier tue.“

Tara bekam riesige Augen. „Mylord wird dich suchen, wenn er sieht, dass du nicht da bist.“

„Er wird viel mehr als das…“ Als Tara sie fragend ansah, gestand Marie den Grund für ihre Bitte. „Er möchte nicht mehr, dass ich diese Art von Arbeit erledige. Nicht, nachdem ich jetzt hier lebe.“ Es versetzte ihr genau wie Tage zuvor einen tiefen Stich im Herzen.

„Amboss und Esse! Ich hätte dich niemals fragen dürfen. Wenn du jetzt wegen mir in Schwierigkeiten gerätst…“

„Lass Thorin meine Sorge sein. Du hast richtig gehandelt. Ich muss hierbleiben, bis ich sicher sein kann, dass es Nyr und dem Baby gut geht. Thorin wird fragen, ob du weißt, wo ich hingegangen bin, und du wirst verneinen.“

„Ich kann Mylord nicht anlügen!“

„Du brauchst ja nicht lügen. Du musst einfach nur den Mund halten, wenn er dich fragt.“ Vorwurfsvoll sah ihr Zimmermädchen sie an. Sie beide wussten, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war. „Bitte, Tara, tu mir den Gefallen. Lass mich jetzt nicht hängen.“ In diesem Moment schrie Nyr nach Maries Hilfe. „Ich nehme alles auf mich, aber bitte, lass es ihn nicht herausfinden. Ich verlass mich auf dich! Ich muss jetzt wieder zu Nyr.“

„Ich gebe mein Bestes. Durin sei mit dir.“ Wiederstrebend verließ Tara das Haus und Marie kehrte an Nyrs Seite zurück. Es gab keinen Ort in Erebor, an dem sie besser aufgehoben war als an diesem.

 

 

11

 

 

Müde aufgrund des Schlafmangels und hungrig wegen dem ausgelassenem Mittagessen kehrte Thorin von seinem Anstandsbesuch aus den Schmieden zurück. Nur ein Punkt auf einer langen Liste.

Die Arbeiter hatten das Schlachtfeld, das nach ihrem Kampf mit Smaug dort unten übriggeblieben war, weitgehend aufgeräumt. Die Reparaturarbeiten an den Schmelzöfen gingen zügig voran, wenngleich der Zufluss von den zerstörten Wasserrädern bis jetzt noch nicht wieder genutzt werden konnte.

Thorin war froh, vorerst keine Baupläne oder Skizzen mehr studieren und absegnen zu müssen. Die Mittagsstunde war schon lange vorüber und als der Vorsaal vor ihm auftauchte, entschied er sich, der Küche einen Besuch abzustatten.

„Wegtreten.“ Die beiden Soldaten, aus denen seine Eskorte bestanden hatte, zogen sich auf seinen Befehl hin zurück.

„Mylord.“ Ein Wachsoldat vom Vorsaal hatte scheinbar schon auf seine Rückkehr gewartet. Er verließ seinen Posten und kam seinem König auf dem Flur entgegen, der dies missbilligend in Kauf nahm. Durch die Stadt hatten sie schon lange gebraucht, weil er an jeder Wegkreuzung eingeladen wurde, sich irgendetwas anzuschauen. Jetzt wollte er nur noch etwas essen und dann an seinem Schreibtisch den Berg an Dokumenten, Listen und Protokollen in Angriff nehmen, die schon darauf warteten, erledigt zu werden.

„Was gibt es, Soldat?“, fragte Thorin, ohne sich etwas von seinen eigentlichen Gedanken anzumerken. Seine Gefühle wahrte er hinter einer gut einstudierten, über Jahre erlernten Maskerade aus königlicher Gelassenheit. Die eigenen Bedürfnisse mussten noch einen Moment länger warten.

„Eine Frau wollte zu Euch, Mylord.“

„Was für eine Frau?“ Die Schultern der Wache zuckten unter ihrer Panzerung und Thorin unterdrückte den Drang, mit den Augen zu rollen. „Ich habe keine Zeit für Mädchen, die Aufmerksamkeiten dieser Art wollen. Ich überlass es Euch, Ihr schöne Augen zu machen.“

„Ich glaube nicht, dass sie dafür hier ist, Mylord.“

„Was will sie dann?“ Thorins Geduld war so langsam aufgebraucht. Er hatte wenig Lust, eine Verehrerin am Hals zu haben wie eine Klette im Haar.

„Zuerst wollte ich sie wegschicken“, fuhr der Soldat fort, „doch sie bestand darauf, auf Euch zu warten. Ich hab sie gegenüber der Kleinen Bibliothek hingesetzt, damit sie niemanden im Weg rumsteht. Bis jetzt macht sie keinen Ärger, sitzt nur da und wartet. Ach, und sie gab mir das hier mit der Bitte, es Euch zu übergeben.“ Er zog einen Briefumschlag hervor. „Zu Eurer Sicherheit hab ich bereits hineingesehen.“

Jetzt war Thorins Aufmerksamkeit geweckt. Als er den Umschlag nahm, war etwas kleines Hartes darin ertastbar. Er öffnete den Brief und schüttete den Inhalt in seine hohle Hand.

„Soll ich Sie wegschicken, Mylord?“

Thorin merkte, wie ein Lächeln seine Lippen kitzelte, als er den goldgelben Bernstein in seiner Handfläche betrachtete und Geister der Vergangenheit zu tanzen begannen. „Nicht nötig.“

 

~

 

Marie wich Nyr nicht mehr von der Seite. Alle saßen mittlerweile auf den Dielen des Schlafzimmers versammelt, weil Nyr dort zusammengebrochen war. Thanus hockte in ihrem Rücken und stützte seine pressende Frau. Von Zeit zu Zeit legte er mit verzweifelter Präzision kalte Tücher auf ihren Rücken oder ihr in den Nacken, die von Rani vorbereitet wurden.

Die junge Schülerin war flink wie ein Eichhörnchen und brachte Marie alles, wonach sie verlangte, auch ohne, dass sie es auszusprechen brauchte. Sie war ein mitdenkender Schatten, der immer in ihrer Reichweite blieb.

Unter Maries Anleitung kämpfte Nyr von Wehe zu Wehe weiter um das Leben ihres noch ungeborenen Kindes, obwohl die Fäden ihres eigenen Lebens mehr und mehr zu reizen drohten.

Winzige Füßchen waren das Erste, was von dem Kind zu sehen war. Marie griff nach den Beinchen und hielt sie fest.

„Nyr, du hast es gleich geschafft. Noch einmal pressen! Ich helfe deinem Kind. Du spürst nur meine Hände.“ Das Kinn auf die Brust gelegt drückte Nyr, genau so wie Marie es ihr gezeigt hatte. Die wiederum saß zwischen ihren weit gespreizten Beinen, ein Bein von ihr über der Schulter liegend. „Noch einmal! Schieb. Schieb. Schieb.“

„AHHH!“

„Weiter, weiter, weiter!“ Das Heikelste kam jetzt. Marie musste verhindern, dass der Kopf des Babys stecken blieb „Halt! Jetzt atmen.“ Die Frauen hechelten gemeinsam im Chor, während Marie ihre andere Hand tiefer zwischen dem Kindsleib und der geweiteten Vulva schob. „Luft holen und jetzt nochmal alles geben. Einmal noch, Nyr, nur noch ein einziges Mal! Dann kannst du dein Baby in den Armen halten. Rani, das Handtuch.“ Ein letztes Mal entwickelte die Zwergin Bärenkräfte…und plötzlich war es da. Ein feuchtes, von weißer Schmiere bedecktes Baby rutschte in ihre Hände. Sofort legte Marie das Handtuch über das scheinbar leblose Kind und begann kräftig zu reiben… Bis endlich ein quiekender Schrei erklang. Freude und Erleichterung hielten Einzug in diesem Haus.

Nyr weinte, als Marie ihr das Kind auf die Brust legte. „Es ist ein Junge. Meine herzlichsten Glückwünsche.“ Noch völlig überfordert mit ihren Emotionen hielt sie die Hände über ihr Kind, das lautstark seine Ankunft verkündete. Thanus drehte sich weg, damit er unbeobachtet seine Augen trocknen konnte.

„Mein Baby, oh mein Baby… Da bist du ja.“ Rosige Fingerchen klammerten sich um Nyrs Zeigefinger. Während die frisch gebackenen Eltern sich über ihren Sohn beugten, band Marie die Nabelschnur mit einem Bindfaden nah am Kind ab und durchtrennte mit einem Messer den zähen Strang, den Mutter und Kind neun Monate lang verbunden hatte.

„Jetzt machen wir dich erstmal sauber, du kleiner Schreihals.“ Sie nahm das Kind und legte es auf das Bett, wo weitere Handtücher und eine Schüssel mit warmen Wasser parat standen. Mit kindlichem Staunen schaute Rani dabei zu, wie Marie das Neugeborene sauber machte und es von Kopf bis Fuß untersuchte, um sicherzugehen, dass es die lange Geburt unbeschadet überstanden hatte. „Zehn Zehen, zehn Finger und schwarze Haare genau wie der Papa.“ Der Kleine hatte gehörig etwas gegen diese Sonderbehandlung und ließ seinen Unmut lautstark freien Lauf. „Ja, ich weiß…so kalt. Gleich bist du wieder bei Mama.“ Marie wickelte ihn in saubere Tücher. Dann gab sie ihn Nyr zurück und zeigte ihr, wie sie ihr Baby an die Brust legen musste. Der Kleine hatte schon jetzt einen unstillbaren Hunger. Erst als er die Milch schmeckte, gab er Ruhe. Nyr bettete ihr Kind eng in ihre Arme und blickte verliebt auf ihren selig nuckelnden Sohn, während immer noch Tränen über ihr Gesicht kullerten.

„Habt ihr schon einen Namen?“

„Tallin soll er heißen.“

„Danke… Danke, Euer Gnaden.“ Thanus fiel vor ihr auf die Knie und beugte den Kopf in Ehrfurcht. „Wir sind Euch für immer zu tiefstem Dank verpflichtet. Egal, was Ihr als Lohn verlangt: Ihr bekommt es zehnfach.“

Beschwichtigend legte Marie eine Hand auf die Schulter des Mannes und fühlte, wie das Gewicht mehr und mehr von ihm bröckelte, welches die Verzweiflung hinterlassen hatte. „Das Lächeln Eurer Frau und der erste Atemzug Eures Sohnes waren mein Lohn. Ich will nichts haben, denn ich habe bereits alles bekommen, was ich wollte. Es war meine Pflicht, Eurer Familie zu helfen. Ihr geht am besten jetzt raus und überbringt ihnen die frohe Botschaft. Man wartet sicher schon auf ein Lebenszeichen von uns.“

Das ließ sich der stolze Vater nicht zweimal sagen und eilte in Richtung Haustür. „Es ist ein Junge! Ich hab einen Jungen!“, hörten sie seine Stimme auf der Straße.

Gerade, als sie Nyr ins Bett geholfen hatten, erklangen Stimmen im Haus und kurz darauf strömte die Familie ins Zimmer. Glückwünsche wurden überreicht und das Aussehen des Kindes angepriesen. Eine Tante machte Tee für alle. Für Thanus gab es einen großzügigen Schuss Rum dazu. Eine andere verschwand, um etwas in der Küche zu zaubern. Männer trugen ein Fass Bier aus dem Keller vor das Haus, um ganz in Zwergenmanier mit Freunden und Nachbarn auf das Wohl von Mutter und Kind zu trinken. Zwei Kinder scharrten sich um das Neugeborene in Nyrs Armen und warfen schüchtern einen Blick auf ihren Cousin. Marie wurde von jedem aus der Familie herzlich gedrückt, ungeachtet, dass Blut und sonstige Körperflüssigkeiten an ihr klebten. Welten verschmolzen. Ängste und Gedanken flogen davon, wie befreite Vögel. Sie war nicht länger die Verlobte des Königs. Sie war eine Zwergin, die genau hierher gehörte.

 

~

 

„Amris.“

Bei seiner Stimme fuhr sie herum. Sie hatte so versunken vor dem Gemälde an der Wand gestanden, sodass sie ihn gar nicht hatte kommen hören. Nun zauberte ein Lächeln tiefe Grübchen in ihre Wangen. „Mylord.“ Sie vollführte einen so tiefen Knicks vor ihm, wie es einer Frau möglich war.

Ein Lachen entstieg Thorins Kehle. „So vornehm? Wir hatten alle Förmlichkeiten doch bereits abgelegt.“ Mit offenen Armen überwand er die letzten Meter und schloss sie in eine Umarmung. „Lass dich ansehen.“ Er trat zurück, um sie von der Sohle bis zum Scheitel zu mustern. „Bei Durin, du bist es wirklich. Was tust du hier?“

Thorin hatte nicht mehr damit gerechnet, Amris eines Tages wiederzusehen. Nach seiner Rückkehr in die Blauen Berge hatte er die Dirne nicht mehr aufgesucht und es auch nicht versucht. Ihr plötzliches Wiedersehen wühlte ihn auf und ließ Erinnerungen an eines der dunkelsten Kapitel seines Lebens zurückkehren.

„Auf dich warten“, antwortete Amris wie selbstverständlich. „Als neue Bürgerin dieses Königreiches, wollte ich einen alten Freund überraschen.“ Sie streckte die Arme aus, als wollte sie „Ta-daa!“ sagen.

„Komm, lass uns in aller Ruhe sprechen. Ich lade dich ein. Du musst mir alles erzählen.“ Er hielt ihr seinen Arm hin, in dessen Armbeuge sich Amris sanft einharkte.

„Es wäre mir eine Ehre.“

Als Thorin mit ihr in den Wohnraum eintrat, schreckten sie Tara auf, die gerade dabei war, das Bett im angrenzenden Zimmer zu machen. „Tara, bring bitte meinem Gast und mir etwas zu Essen“, rief er und zog Amris den Stuhl am Esstisch ab.

„Mylord.“ Tara war so schnell an ihnen vorbei und verschwunden, dass Thorin über die Schnelligkeit seines Zimmermädchens nur staunen konnte. Neugierig sah sich seine Begleitung im Raum um, während er gegenüber platznahm und ihren Anblick in sich aufsog. Etwas an ihr war anders als früher. Was genau, konnte er nicht benennen. Er studierte ihr Gesicht, und fand, dass das geheimnisvolle Mädchen aus den Eredluin heute noch viel hübscher als früher war. Vielleicht war es auch Einbildung, aber er hätte schwören können, dass die goldenen Sprenkel in ihre braunen Augen zu glimmen schienen. Ihr Haar war länger und noch immer waren blonde Strähnen eingeflochten. Auch der kleine Zopf mit der roten Holzperle war noch immer an derselben Stelle.

Ihre Zweisamkeit wurde jäh unterbrochen, als Tara ein Tablett herein trug. Zum Henker, sie musste in die Küche gerannt sein.

„Sagt meiner Verlobten, dass wir einen Gast haben.“

Die Wangen seines Zimmermädchens wurden feuerrot. Einsern starrte es auf den kalten Braten, das Brot und die darum drapierten Weintrauben, welche sie vom Tablett nahm und zwischen ihnen abstellte. „Ich werde Mylady zur gegebenen Zeit unverzüglich unterrichten. Wünscht Ihr noch etwas?“ Sie hatte es eilig, Wein aus der Karaffe in die beiden Gläser zu füllen, sodass sie etwas zu großzügig einschenkte als eigentlich üblich.

„Nein, das wäre alles“, sagte ihr Herr und überlegte, was das alles bedeuten konnte. Ehe er nach Marie fragen konnte, war Tara jedoch schon wieder verschwunden.

„Deine Verlobte nicht da?“ Amris griff nach dem Weinglas und prostete ihm zu.

Thorin tat es ihr gleich. „Anscheinend nicht. Sie hat sich sicherlich mit einer der anderen Frauen getroffen oder ist bei meinen Neffen und lässt sich herumführen.“

„Vielleicht ist es besser so.“

„Was meinst du?“

Amris bemaß ihn mit einem so vorwurfvollen Blick, dass selbst ein Blinder das gesehen hätte. Thorin kniff die Augen zusammen. „Das ist doch Schnee von gestern.“

„Ich war eine Hure, Thorin. Und du mein Freier. So einfach sind die Fakten und genauso bitter würde es für Marie sein, wenn sie davon erfährt. Keine Frau möchte die Liebschaft ihres Verlobten an ihrem Tisch sitzen sehen. Du müsstest sie anlügen und das möchte ich nicht. Ich bin hierhergekommen, um dich wiederzusehen, nicht um Zwietracht zu säen. Ich habe nicht die Absicht, einen Keil zwischen euch zu schlagen. Ich will niemanden verletzen.“

Sie war wieder da. Das Straßenmädchen mit dem Herzen auf der Zunge. Thorin trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch, als er darüber nachdachte, was er Marie sagen sollte. Amris Besuch sollte nicht wieder ein Punkt auf einer langen Liste von Lügen sein. „Du hast mal wieder Recht“, sagte er schließlich. „Ich bin froh, dass du trotzdem das Wagnis eingegangen und gekommen bist. Nun erzähl, ich möchte wissen, wie es dir ergangen ist die letzten Jahre.“

„Ich habe eine andere Tätigkeit gefunden, falls das deine erste Frage sein sollte.“

Er hatte gleich gemerkt, dass dieser süße Geruch nach Rosenblüten, der sie stets umgeben hatte, fehlte. „Das wäre tatsächlich meine erste Frage gewesen. Ich wollte jedoch nicht so plump sein und mit der Tür ins Haus fallen.“ Seine Antwort brachte sie zum Lächeln. „Also, wie hast du´s geschafft, da rauszukommen?“

„Ich habe einen großzügigen Gönner gefunden, der mir viel Extralohn gab. Der Rest war harte Arbeit und ein beherzter Sprung ins Ungewisse.“

„Ich hatte dich auch freigekauft“, erinnerte er sie. „Du hättest mich nur lassen müssen. Ich hätte dir und deiner Schwester schon viel früher ein besseres Leben ermöglicht.“

„Und dann? Was wäre dann gewesen? Nichts für Ungut, Thorin, aber ich hätte mich wieder abhängig von jemand anderen gemacht. Ich wollte unabhängig sein, mein eigener Herr und Meister sein. Frei sein. Und das hätte ich nur alleine schaffen können.“

„Du hast es geschafft.“

Die Stille, die für einen Moment einkehrte, offenbarte die Überbleibsel einer Verbindung, die sie beide einst eingegangen waren.

„Genauso wie du.“

Ihr Lächeln und ihre Worte bedeuteten Thorin in diesem Augenblick sehr viel. Sie waren echt und aufrichtig und erinnerten ihn erneut daran, wie sie ihn in seiner größten Not gerettet hatte. Er drohte, die Orientierung im Nebel zu verlieren, als sie ihm das gab, was er brauchte: einen Ort, an dem er geborgen war. Fernab von königlichen Verpflichtungen. Fern von der Trauer und dem Schmerz, der ihn gepaart mit Alkohol von innen heraus auffraß. Fern von dem Nebel, der alles und jeden verschluckte, sein Hirn lähmte und ihn vergessen ließ, wie sich das Leben anfühlte.

Wenn sie die Tür ihres kleinen Zimmers verriegelt hatte, hatte sie die Welt vor ihm ausgesperrt. Hier konnte er seinen Kummer ausblenden, sein Herz zusammenflicken und wieder etwas spüren. Wenigstens für ein paar gekaufte Stunden. Scheiße, ja, sie war eine Hure gewesen. Aber sie war noch viel mehr als das. Sie hatte ihn gewaschen, seine Wunden versorgt, ihn zum Lachen und zum Weinen gebracht. Sie hatte mit ihm geschimpft und ihn geküsst, ihn vor die Tür gesetzt und ihn aufgefangen, als andere ihn fallen gelassen hatten. Dieses kleine Zimmer in dem Bordell wurde ein Stück weit zu seinem Zuhause und dieses Mädchen zu einer Freundin und Verbündeten.

„Ich hab mich nie bedankt.“ Irritiert sah sie ihn an. Zu plötzlich waren seine Worte gekommen. „Ich hab mich nie bei dir bedankt. Das hätte ich schon viel früher tun sollen. Danke, Amris. Für alles.“

„Ich konnte dich nicht dich selbst überlassen. Du warst etwas Besonderes, Thorin.“ Ihre Hand war plötzlich sehr nah an dem Glas, das er in seiner Hand hielt. „Ich hab dich nicht vergessen können.“ Ihre Finger berührten seine. Sehnsucht zu ihm tragend.

Ihre Nähe beunruhigte ihn auf eine Art, wie sie es eigentlich nicht tun sollte. Amris Blick ruhte ganz anderes als noch vor wenigen Augenblicken auf ihm. Ehe er seine Hand wegziehen konnte, tat sie es.

Als hätte sie sich an ihm verbrannt, wich sie zurück. „Tut mir leid. Ich wollte nicht… Das hätte ich nicht tun dürfen.“

Thorin griff ihre Hand und hob sie an seinem Mund. Sein Kuss war so sacht, als wäre sie eine Prinzessin und Amris Kopf wurde purpurrot. „Und ich hätte das nicht tun dürfen.“ Er zwinkerte ihr zu und ihre verkrampften Schultern lösten sich sichtlich. „Dennoch…“, fuhr Thorin fort. „Wir sollten diese Art von Treffen nicht allzu oft wiederholen. Wir sind nicht mehr dieselben, die wir vor ein paar Jahren noch waren.“

Amris nickte. „Du hast Recht“, seufzte sie. „Vieles ist passiert.“

„Ich würde dich trotzdem gerne wiedersehen. Du bist eine Freundin. Und Freundschaften sollte man pflegen.“

„Dann wirst du mich Marie vorstellen?“

„Natürlich.“

Amris wirkte zufrieden mit ihrer neu geschlossenen Vereinbarung. „Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn ihr beiden mich mal besuchen kommt.“ Sie griff nach dem Wein und schenkte ihm nach. „Kennst du die Rosengasse, unweit von Frors Hammer?“, fragte sie plötzlich.

„Gewiss. Was ist da?“

„Ab sofort und ganz offiziell Amris & Anits Atelier.“

Seine Augen drohten ihm aus dem Kopf zu fallen. „Du hast deine eigene Künstlerwerkstatt eröffnet?“ Ihr Strahlen war Antwort genug. „Amris, das ist… Das ist großartig!“ Thorin sprang auf, umrundete den Tisch und riss sie in eine Umarmung. „Oh, Amris, ich bin ja so stolz auf dich.“

Das Mädchen aus den Eredluin fiel ihm um den Hals. Ihr Lachen wärmte sein Herz und ihre geflüsterten Worte schenkten ihm neue Hoffnung. „Träume können wahr werden, Thorin. Gibt ihnen Flügel und sie werden wahr.“

 

~

 

Aus Respekt vor Nyr war die Familie nach einem kurzen Besuch heimgekehrt. Während die Männer zusammen mit Thanus vor dem Haus auf den Stufen traditionell auf die Geburt seines Sohnes tranken, saß in einem Schaukelstuhl in der Zimmerecke Thanus und Taras Mutter und wiegte den schlafenden Tallin. Glücklich ruhten ihre Augen auf ihrer Schwiegertochter, die gewaschen und in einem sauberen Nachthemd gehüllt den Schlaf der letzten Nacht nachholte. Am Fußende des Bettes saßen Rani und Marie und löffelten den Eintopf, den eine der Tanten zubereitet hatte. Damit sie Nyr nicht störten unterhielten sie sich flüsternd.

„Unglaublich. Wie Ihr das alles gemacht habt… Woher Ihr so viel über Geburtskunde wissen?“

„Mein Wissen stammt von meinen Eltern. Ich habe schon sehr früh ihnen bei Patienten geholfen. Auch du warst mir heute eine große Hilfe, Rani. Ich danke dir dafür. Das hast du gut gemacht.“

Die Wangen des Mädchens wurden dunkel vor so viel Lob. „Mistress Favli hat…mich nie so nah… smolic…schauen lassen.“

Augenblicklich wurde Maries Miene düster. Dieser Name würde für immer einen miesen Beigeschmack hinterlassen. Dass Thorins Unterschrift unter ihrer Zulassung gestanden hatte, war für sie immer noch unbegreiflich. „Du solltest deinem Lehrmeister bitten, dir eine andere Mentorin zu geben. Mistress Favli ist absolut ungeeignet, um es gelinde gesagt auszudrücken.“

„W-Würdet Ihr…meine Mentorin sein?“

Marie blickte zu dem Mädchen, das an ihren langen Zöpfen spielte und sich nicht traute, ihr in die Augen zu schauen. Diese Frage hatte sie geahnt und sich schon eine Antwort zurecht gelegt. „Ich fühle mich geschmeichelt, Rani. Ich wäre jedoch nicht besonders gut dafür geeignet.“

„Aber Ihr so viel wissen. Ich von Euch lernen.“

„Rani, hör mir zu.“ Die Augen groß und voller zerstörter Hoffnungen schaute die Schülerin sie an. Marie tat es in der Seele weh, ihr keine bessere Antwort geben zu können. Sie hoffte, die Kleine würde verstehen, wieso sie es nicht konnte. „Du bist sehr klug und hast Talent. Du wirst später einmal eine sehr gute Heilerin und Hebamme sein. Du solltest dir jedoch jemand anderen suchen, der dich in die Heilkünste einweiht. Ich werde nicht die nötige Zeit haben, die du eigentlich brauchst und auch verdienst hast. Wahrscheinlich darf ich das sogar gar nicht.“ Das Mädchen schien sehr niedergeschlagen zu sein. Marie hielt es jedoch besser so, ehe sie sich noch mehr Hoffnungen machte, wo keine zu erwarten waren. „Auch wenn ich keine Mentorin in direktem Sinne für dich sein werde, verspreche ich dir, mich persönlich um deine Zukunft zu kümmern. Ich sorge dafür, dass du den besten Mentor in ganz Erebor bekommst.“

„Wirklich?“

„Großes Ehrenwort. Du solltest jetzt lieber zurückkehren und deinem Lehrmeister erklären, was geschehen ist, ehe sie Erebor wegen einer vermissten Schülerin auf den Kopf stellen.“

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht hüpfte Rani vom Bett. Es war nicht das, was sie sich erhofft hatte, jedoch schien sie froh über Maries Unterstützung zu sein. Vielleicht erhellte auch die Tatsache ihr Gemüt, ihre alten Mentorin nicht mehr dienen zu müssen. Letztes konnte Marie sich jedenfalls sehr gut vorstellen…

Sie verabschiedete sich von dem kleinen Tallin, den die Großmutter ihr extra dafür tiefer hielt, und machte einen niedlich anzuschauenden Knicks vor Marie, die ihr die Haustür aufhielt. „Wir sehen uns.“ Sie schaute dem Mädchen nach, die zwischen den trinkenden Männern hindurch hüpfte und dann loslief, bis es außer Sichtweite war. Mit einem erschöpftem, aber glücklichem Seufzer kehrte die Heilerin ins Schlafzimmer zurück. Bei ihrem Eintreten erhob sich die Großmutter.

„Ich werde heute am späten Abend nochmal wiederkommen, um nach Nyr zu sehen. Danke für das leckere Essen.“

„Nein, ich danke Euch für Eure Mühen, Eure Hoheit. Ohne Euch wären wir verloren gewesen.“

„Nicht dafür. Es war keine leichte Geburt. Nyr muss sich im Wochenbett schonen. Ihr müsst Ihre Temperatur stündlich überprüfen. Falls irgendetwas sein sollte, sie Fieber bekommt oder sie stärker als für den Wochenfluss üblich blutet, ruft mich sofort. Das ist ganz wichtig. Dasselbe gilt natürlich für das Baby.“

Die ältere Frau griff ohne Scheu nach Maries Hand und drückte sie. „Das machen wir. Vielen Dank, Uzbada.“

Lächelnd erwiderte Marie ihre Geste und beugte sich über das Neugeborene, um dessen Haarflaum zu streicheln.

 

In der Zwischenzeit hatten sich Nachbarn und Freunde zu den Männern gesellt, um auf die geglückte Geburt anzustoßen. Als Marie die Haustür hinter sich zuzog, war es, als betrat sie eine Bühne. Scheu lächelnd ging sie durch die respektvoll geschaffene Gasse aus Männern und Frauen, die ihr ihre Aufwartung machen wollten. Hände streckten sich nach der Verlobten des Königs aus, als wolle man sie berühren, um sich zu vergewissern, dass sie es leibhaftig war. Lob und Anerkennung regneten von allen Seiten. Jeder Zweite lud sie auf ein Bier ein und bei jedem winkte sie höflich ab. Endlich war sie bei Thanus angekommen, der sie von den anderen Gratulanten etwas abschirmte. „Es wird Zeit für mich zu gehen“, sagte Marie an den Hünen gewandt. „Ich schaue heute Abend nochmal nach Eurer Frau. Ihr habt das sehr gut gemacht vorhin.“

„Passt auf! Demnächst hängt Thanus seinen Schmiedehammer an den Nagel und wird Wehmutter!“

Der frisch gebackene Vater badete in dem ausbrechenden Gelächter und zapfte dem Witzereißer noch ein Bier vom Fass. „Mylady, es wäre eine Selbstverständlichkeit für mich, Euch sicher durch die Stadt zu begleiten.“

„Vielen Dank für Eure Umsicht. Ich möchte Euch jedoch nicht vom Feiern abhalten. Ich finde schon allein den Weg zurück.“ Voller Zweifel legte sich seine Stirn in Falten. Marie bemerkte die Regung in seinem Mundwinkel, ganz so, als ob er etwas erwidern wollte, es aber letztendlich runterschluckte.

„Wie Ihr wünscht, Mylady.“

Sie verabschiedeten sich und Marie verließ das Haus in die Richtung, aus der sie heute Morgen mit Tara gekommen war. Ganz in der Nähe entdeckte sie einen Brunnen und wollte sich am Wasser erfrischen, bevor sie den Rückweg antrat. Sie wollte nicht auf Tara warten, bis diese aus ihrer Schicht entlassen wurde und sie abholte. Sie war schon viel zu lange fort. Vielleicht war Thorin zurück und suchte schon nach ihr. Sie nahm sich vor, auf direktem Wege zurück nach Hause zu gehen, bevor Thorin auf die Idee kam, einen Suchtrupp zusammenzutrommeln.

Das Wasser aus dem Berg war eiskalt und herrlich. Sie hielt die Hände in das steinerne Becken unter dem kleinen Rinnsal und schöpfte sich etwas davon ins Gesicht. Dann versuchte sie, die Flecken auf dem Wams und der Hose auszuwaschen, was jedoch nur mäßig Erfolg hatte.

„Gratuliere. Du bist Gesprächsthema Nummer Eins in diesem Viertel.“

Marie fuhr herum und starrte die Frau an, die am Brunnenrand lehnte. „Ninak, wie kannst du mich so erschrecken?“

„Hab ja nicht damit gerechnet, dass du so schreckhaft bist.“ Ninak wies mit einem Kopfnicken auf die Wohnstuben hinüber, von denen Marie bekommen war. „Hast du wirklich gerade ein Kind auf die Welt geholt?“

„Das ist mein Beruf“, gab Marie zurück und streifte das restliche Wasser von ihren Händen. Zu ihrer Überraschung wirkte Ninak sehr erstaunt darüber. „Und wo kommst du her?“

„Meine Werkstatt ist da die Gasse runter. Hab die ganze Aufregung mitbekommen.“ Sie wartete ab, bis Marie sich die Haarbänder und -nadeln aus der Kopfhaut gezogen hatte. Schließlich fiel ihr langes Haar in wirren Locken um ihre Schultern.

„Ohhrr! Schon viel besser.“

„Und ich dachte schon, das sollte ein neuer Modetrend werden. Vogelnest oder so.“

Marie spritze Wasser in ihre Richtung, vor dem Ninak quickend zurück wich. „Wieso warst du so erstaunt darüber, dass ich einer Frau bei der Geburt geholfen habe?“

„Ach, egal.“

„Raus damit. Ich möchte es wissen.“

Als sähe sie dort etwas ganz Interessantes, betrachtete Ninak ihre Schuhspitzen. „Weil ich nicht damit gerechnet habe...“ Zerknirscht blickte die Zwergin sie an.

Marie nahm ihre Haarnadeln und -bänder vom Brunnenrand und stopfte sie sich in ihre Hosentasche. „Falls du dir eine eingebildete Prinzessin gewünscht hast, muss ich dich enttäuschen. Ich bin nicht so.“ Dann wandte sie sich zum Gehen ab.

„Hey, so war das nicht gemeint!“ Ninak holte sie ein und stellte sich ihr in den Weg. „Marie, so war das echt nicht gemeint. Es ist nur…“

„Was?“

„Du bist so anders als Thorins letzte Beziehung. Verzeih, das hätte ich für mich behalten sollen, aber du wolltest es ja unbedingt wissen.“

Innerlich seufzte Marie. Würde Ninak ihre Bedenken über sie irgendwann über Bord werfen können? „Schon in Ordnung“, wimmelte sie ab. Sie wollte dieses Gespräch nicht weiter fortführen. „Ich muss zurück. Man wird mich schon suchen.“ Ninaks Antwort überraschte sie.

„Ich kann dich ein Stück begleiten. Falls du magst.“

Marie lächelte über den Wandel der sonst so unnahbaren Frau. Vielleicht blätterte ihre harte Schale tatsächlich so langsam ab. „Liebend gern.“ Sie folgte Ninak, die die Richtung vorgab. Nach wenigen Meter stutzte diese. „Sag mal, sind das Thorins Sachen?“

„Jap.“ Marie fiel da etwas ein und griff in ihre andere Hosentasche. „Und das ist sein Ring.“

Ninaks Mund stand offen, als sie den funkelnden Ring sah. „Hat er…?“

Marie nickte und steckte zur Bestätigung ihren Verlobungsring wieder an den Finger. „Ist er nicht wunderschön?“ Als Ninak sie schwunghaft in eine Umarmung zog, glaubte sie zu träumen.

„Das ist er. Durins Segen, Marie. Ich freue mich für euch.“ Ihre blauen Augen strahlten und verströmten neuartige Wärme. Dieser Tag schien voller unvorhergesehener Wendungen zu stecken.

 

Du bist das Gesprächsthema Nr. 1 in diesem Viertel.

Das letzte Mal, als Maries Person in aller Munde war, zog das einen Rattenschwanz an Gerüchten und abfälligen Bemerkungen hinter sich her. Die Menschen in Kerrt redeten und zeigten mit dem Finger auf die plötzlich geschrumpfte Frau. Sie konnten ja nicht ahnen, dass es Maries freier Wille gewesen war. Ein Stück weit war sie selbst schuld an der Gerüchteküche, denn Hilda und Anna mussten die Lüge aufrecht erhalten, der schwarzhaarige Zwerg habe sie verlassen, nachdem der Verdacht nach Gonzos unnatürlichen Todes auf die Gefährten fiel, die kurz davor in dem Wirtshaus noch eine Schlägerei vom Zaun gebrochen hatten. Mit dieser Lüge lenkte Marie den Verdacht von sich selbst weg, eröffnete aber ein Lauffeuer aus Gerüchten unter den Dorfbewohnern, dessen Auswirkungen brutal an ihrer Seele nagten. Und sie begann den Fehler, die Worte an sich heranzulassen.

Anfangs dachte sie, das Gerede einfach überhören zu können, sich zu behaupten und ihr Gesicht zu wahren. Wie naiv sie doch gewesen war…

In diesen Tagen hatte sie am eigenen Leib erfahren müssen, dass Worte genauso tief schneiden konnten wie eine scharfe Klinge aus Stahl. Erst nachdem sie Donja vor den Augen und Ohren der Dorfbewohner als Lügnerin entlarvt hatte, erlangte sie ihre Anerkennung zurück. Sie hatte geschworen, sich nie wieder zu verstecken. An diesen Schwur wollte sie festhalten. Und daran musste sie auch. Denn sie war nicht länger eine Heilerin in einem vergessenen Dorf östlich des Nebelgebirges. Sie war die Verlobte des Königs.

Ninak hatte sich bereits von ihr verabschiedet und ihr den restlichen Weg beschrieben. „Findest du allein zurück?“, hatte sie mehrmals gefragt und augenrollend die Antwort „Ich werde schon nicht verloren gehen“ bekommen.

Nun genoss Marie die Ruhe und das Alleinsein. Sie hatte Zeit über alles nachzudenken, was in den letzten 24 Stunden passiert war.

Sie musste Anna unbedingt einen Brief schreiben. Es gab so viel, dass es zu erzählen galt! Nicht nur Meilen schienen sie von ihrem alten Heim zu trennen. Es war, als läge Kerrt in einer ganz anderen Welt. Ein Zurück schien es nicht mehr zu geben. Zurück wollte sie auch gar nicht.

Die Bewohner Erebors, die ihr auf dem Weg begegneten, hielten ihr vor Augen, dass sie keine Zwergin mehr unter Riesen war. An ihrem Körper war nichts mehr ungewöhnlich. Sie unterschied sich nur noch von der fehlenden Gesichtsbehaarung von den Frauen hier, worüber sie ehrlicherweise auch ganz froh war.

Auf einer Empore blieb sie stehen, legte die Arme auf den Stein der Balustrade und ließ ihren Blick in die Stadt hinein gleiten, die nun ihr Zuhause sein sollte. Viele Werkstätten, Marktplätze oder Geschäfte waren noch leer. Doch Stück für Stück kehrte das Leben nach Erebor zurück. Die Gestalten von Zwergen huschten über die Gassen, an ihrem Traum vom Neuanfang arbeitend. Hammerschläge hallten über Plätze. Fensterläden standen offen. Staub und Asche wurden weggefegt. Dampf quoll aus Gassen hervor. Wäsche wurde aufgehangen. Ein Ponywagen ratterte irgendwo unter ihr entlang. Schon bald würde dieses Königreich zu seiner alten Stärke wachsen, da war Marie sich sicher. Wenn einer es schaffen würde, Erebor aus der Asche auferstehen zu lassen, dann war es Thorin.

Mit geschlossenen Augen sog sie Geräusche, Gerüche und die Atmosphäre unter dem Berge ein. Das Alleinsein war eine Wohltat. Die letzten Tage hatten stark an ihren Nerven gesägt. Die Beziehung zu Thorin war noch nie so zerbrechlich gewesen. Sie hatten zu wenig Zeit miteinander verbracht in ihrem Leben, als dass sie wüsste, wie sich ein Streit mit ihm anfühlen würde. Der Aufprall auf den Boden der Tatsachen war ein Weckruf, dass das Zusammenleben nicht nur aus rosa Wolken bestehen würde.

Dies war das Reich seiner Väter. Dies war seine Heimat, für die er sein Leben riskiert hatte. Für das er und seine Männer einen Krieg in Kauf genommen hatten. Der Krieg war vorbei, der Drache tot… Und trotzdem schien ihr Glück von einem Schatten verfolgt zu werden.

Kannst oder willst du mir nicht alles erzählen?

Ich will es nicht. Denn es kann sein, dass du mich danach nicht mehr lieben kannst. Ich habe mich verändert.

Krieg verändert jeden Mann, Thorin.

Es ist nicht der Krieg. Es ist noch so viel mehr. Ich verschweige es dir, um dich zu schützen, mell nin. Nicht, um dich auszuschließen. Kannst du das verstehen?

Was war es bloß? Welche schreckliche Tat war so zu rechtfertigen? Als sie bemerkte, dass ihre Gedanken sich im Kreis drehten, knurrte sie frustriert auf. Sie brauchte dringend Hilfe. Mit wem könnte sie darüber sprechen? Wer würde ihr die Wahrheit sagen? Gandalf wäre wahrscheinlich am besten dafür geeignet. Da fiel ihr ein, dass der Zauberer ja etwas mit ihr besprechen wollte. Gab es da wohlmöglich einen Zusammenhang? Es musste so sein, sonst hätte Thorin gestern Abend nicht so heftig reagiert. Der Zauberer war ihre Chance, endlich Licht ins Dunkel zu bringen. Apropos Licht.

Ihre Aufmerksamkeit blieb plötzlich an dem goldenen Schimmer hängen, der mehrere dutzend Meter unter ihr in der Tiefe auszumachen war. Marie beugte sich vor, um mehr erkennen zu können. Brannte dort unten ein Feuer? Nein, der goldene Glanz war reglos. Kann das dort unten vielleicht…

Etwas schrappte über Stein. Das Geräusch ließ sie zusammenfahren. Marie drehte sich um und schaute in den schlecht ausgeleuchteten Gang hinein, der sich hinter ihr eröffnete. Überall waren noch Spinnweben und Staub vergangener Jahre.

„Hallo? Ist da wer?“ Hohl erklang ihre Stimme als Echo und schreckte den Schatten auf. Ein Umriss formte sich aus der Dunkelheit und eine Stimme sprach.

„Du hättest nicht hierherkommen sollen.“

Maries Herz klopfte gegen ihre Rippen. „Wer ist da?“ Der Schatten wich vor ihr und ihrem scharfen Ton zurück. „Wer bist du?“

Die Stimme der Frau erklang ein letztes Mal. „Niemand.“ Schnell laufende Tritte verhallten am anderen Ende des Ganges und hinterließen nicht nur ein Echo, sondern auch ein ungutes Gefühl.

 

 

12

 

 

Schon auf der Treppe hinauf zum Vorsaal war Thorins aufgebrachte Stimme zu hören. „Euer Gnaden, Ihr solltet Euch beeilen“, raunte ihr der Wachposten vor dem Eingangsportal zu. „Mylord ist nicht erfreut über Euer Fernbleiben.“ Dankend nickte sie dem freundlichen Soldaten zu, während sie innerlich fluchte. Vielleicht konnte sie das Schlimmste noch verhindern.

Marie beschleunigte ihre Schritte und sah schließlich ihren Verlobten, der sich vor Tara aufgebaut hatte.

„Euer Gnaden, ich weiß wirklich nicht, wo sie ist!“ Tara hatte den Kopf so weit zwischen die Schulterblätter gezogen, wie man es beinahe nicht für möglich halten würde. Wie Espenlaub zitterte sie vor ihrem König, der einer großen, gefährlichen Gewitterwolke gleichkam.

„Thorin.“

Als Tara ihre näherkommende Herrin entdeckte, hätte sie fast gejubelt vor Erleichterung. Thorin hingegen starrte seine Verlobte an, als wäre diese eine Spukerscheinung. Nur kurz hielt dieser Zustand an. Was folgte, war das unvermeidbare Donnerwetter.

„Wo bist du verdammt nochmal gewesen? Ich habe überall nach dir gesucht!“

„Ich habe einer Frau beigestanden, ihr Kind auf die Welt zu holen“, erklärte sie ihm mit ruhiger Sachlichkeit, bevor sie sich Tara zuwandte. „Alles ist gut gegangen.“ Marie nahm ihre Hände und drückte sie. „Es ist ein Junge. Geh zu ihnen. Du hast für den restlichen Tag frei.“

„Oh, Marie, ich kann dir gar nichts sagen, wie dankbar ich bin.“ Wenn sie für jedes Danke, was sie am heutigen Tag schon bekommen hatte, stattdessen eine Münze bekommen hätte, hätte sie schon ein hübsches Sümmchen zusammengesammelt.

„Jetzt geh“, befahl sie ihr nachsichtig. „Wir sehen uns morgen.“

Das ließ sich Tara nicht zweimal sagen. Doch bevor sie das tat, fiel sie Marie um den Hals und drückte sie ganz feste. Sich der Situation wieder bewusst werdend, strich sie hektisch ihre Schürze glatt und knickste wohlerzogen vor ihrem König, der dies alles missbilligend toleriert hatte. „Mylord.“ Mit gerafften Röcken verließ Tara die Gefahrenzone.

Noch einmal atmete sie tief durch, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit Thorin zu. Blitzende Augen und eine Wut begegneten ihr, die seinen Oberkörper unter seinem Hemd spannte. Unausweichlich war die Konfrontation.

„Falls du eine Entschuldigung verlangst, so muss ich dich enttäuschen. Ich habe nur meine Pflicht getan.“

Der Zorn in seiner Stimme war mit der bloßen Hand zu greifen, als er antwortete: „Es ist nicht deine Pflicht, ein Kind auf die Welt zu holen. Dafür haben wir Hebammen.“

Alles, was er damit bezweckte, war Öl ins Feuer zu schütten. „Darauf komme ich noch zu sprechen, mein Lieber“, giftete sie mit ausgestreckten Finger zurück.

Thorin machte Anstalten, nach der Hand zu greifen, die vor seinem Gesicht schwebte. Schnell genug wich Marie zurück. „Komm mit nach oben. Ich habe einiges mit dir zu besprechen.“ Er wollte sie mit sich ziehen, hielt aber nochmal inne und musterte sie mit einer Mischung aus Irritation, Zorn und Ekel von oben bis unten. „Wie siehst du überhaupt aus?“

„Gefällt es dir? Es ist deine Kleidung.“ Weil sie ihn noch mehr reizen wollte, lächelte sie zuckersüß. Sie saß am längeren Hebel. Für sein überspitztes Verhalten sollte er sie um Verzeihung bitten, nicht umgekehrt. Sie hatte nichts falsch gemacht.

Nun war Thorin am Kochen. „Du kommst jetzt sofort mit.“ Er packte ihren Arm und führte sie grob Richtung Treppe.

„Ich kann alleine gehen, Eure Hoheit!“ Sie versuchte, sich von ihm loszureißen, doch sie hatte keine Chance gegen seine Kraft. „Au! Thorin!“ Er ignorierte ihr Gezeter und schleifte sie einfach mit.

„Ruft die Mannschaften zurück“, knurrte er dem zweiten Soldaten am Treppenaufgang zu, der starr wie eine Statue seinen Posten nicht verlassen hatte.

„Mannschaften? Du hast Mannschaften aufgestellt, um nach mir zu suchen?“

„Du hast mir keine andere Wahl gelassen.“

„Du bist… Aua! Lass mich los!“

„Du benimmst dich mal wieder absolut kindisch.“

„Und du bist ein Arsch!“

Niemand lief ihnen über den Weg. Keine Bediensteten traute sich auf die Flure. Sie alle hatten sich in Sicherheit gebracht.

Bis in ihre Gemächer schleifte Thorin sie. Dort angekommen schloss er die solide Eichentür mit einem Rums, der noch bis in die Eingangshallen zu hören sein musste. Mit trotzig verschränkten Armen verharrte Marie in der Mitte des Wohnraums und wartete ab.

In einem Versuch, sein Gemüt zu beruhigen, fuhr ihr Verlobter sich über das Gesicht, stemmte dann die Hände in die Hüften. „In Ordnung. Lass uns wie zwei Erwachsene über die ganze Sache reden.“

Selbstsicher begegnete Marie seinem Blick und reckte trotzig das Kinn. Das Duell konnte beginnen.

„Ich war den halben Tag unterwegs, komme wieder und musste feststellen, dass du nirgends aufzufinden bist. Keiner konnte mir sagen, wohin du bist. Piljar wusste von nichts - niemand hatte einen Schimmer. Du hast nicht mal eine Nachricht hinterlassen. Ich musste den Schneider wieder fortschicken, der für heute angemeldet war.“

„Das hole ich morgen nach. Es sind doch bloß Anziehsachen.“

„Wo wir gerade davon sprechen...“

Marie sah an sich hinunter und warf die Arme in die Luft. „Das ist einfach praktischer, wenn man ein Kind auf die Welt holt.“

„Das sind meine Sachen.“

„Es musste schnell gehen heute Morgen.“

An seiner Schläfe begann eine Ader zu pochen. „Heute Morgen? Du bist seit heute Morgen weg?! Marie, wir haben es Abend!“

„Schwierige Geburten dauern nun mal seine Zeit. Und ja, auf dem Rückweg habe ich mich…“

„Bist du etwa alleine durch Erebor? So?“

Er nahm ihr das Wort aus dem Mund und schaffte es, sie nur noch wütender zu machen. „Ich hab Ninak unterwegs getroffen. Sie hat mich ein Stück begleitet, den Rest des Weges wollte ich allein gehen. Ich hab mir die Stadt angeguckt. Darf ich das etwa auch nicht?“

„Du hättest dich verlaufen können. Du kennst dich doch gar nicht aus.“

„Das habe ich auch! Aber ich habe dann ganz einfach nach dem Weg gefragt. Das macht man so, da wo ich herkomme.“

Thorin fasste sich an die Nasenwurzel, als hätte er schreckliche Kopfschmerzen. „Liebling… Dir ist noch nicht klar, was es heißt, an meiner Seite zu stehen. Du kannst nicht einfach…“ Er gab seine angefangene Argumentation auf und funkelte sie stattdessen erneut an. „Und was hatte Tara mit der ganzen Sache zu tun?“

„Tara trifft keine Schuld“, widersprach sie sofort. Dass er sie dafür verantwortlich machte, durfte sie nicht zulassen.

„Irgendjemand muss dir doch diesen Floh ins Ohr gesetzt haben.“

„Das ist kein Floh!“ Sie konnte nicht verhindern, vor Wut mit dem Fuß aufzustampfen. „Das ist meine Pflicht als Heilerin! Und wehe, du bestrafst Tara! Es war mein freier Wille, ihrer Familie zu helfen. Was hätte ich denn tun sollen? Mutter und Kind sterben lassen?“ Thorin schnaubte und ging an ihr vorbei, als wäre er ihr überdrüssig. Marie aber lief ihm nach. Sie war noch lange nicht fertig. „Thorin, versteh doch, es war ein Notfall. Ich musste es tun. Du hättest diese schmierige Hebamme sehen sollen, die da war.“

Vor seinem Schreibtisch fuhr er herum. „Wenn schon eine Hebamme vor Ort war, warum musstest du dann auch noch dort aufkreuzen? Wie bist du überhaupt dahin gekommen?“

„Tara hat mich dorthin gebracht, aber das spielt keine Rolle! Hör mir doch bitte zu! Diese Hebamme wollte Nyr mit Kuhscheiße…“

„Wer ist Nyr?“

„Die junge Frau, die dort um ihr Leben kämpfte. Diese versiffte Hebamme hat mir ein Stück Papier unter die Nase gehalten, was ihr erlaubt, in Erebor als Hebamme zu arbeiten. Und rate mal, was da drauf zu sehen war. Deine Unterschrift!“

Thorin setzte sich auf seinen Stuhl hinter seinem Schreibtisch und gab ungerührt zurück: „Ja, ich weiß.“

Marie fiel aus allen Wolken. „Wie, du weißt?“

Erneut wischte er sich übers Gesicht und strich dabei seinen Bart nach, als befürchte er, er würde ihm wirr vom Kinn abstehen. „Ich unterschreibe hunderte solcher Zulassungen. Für jeglichen Beruf. Ich habe keine Ahnung, ob die Leute dafür geeignet sind. Das entscheide nicht ich.“

„Wer entscheidet das?“

„Marie, jetzt steigere dich da nicht rein.“

„Wer entscheidet das, wer eine Zulassung als Hebamme bekommt?“, wiederholte sie ihre Frage. Sie dachte gar nicht daran, aufzugeben.

Thorin verschränkte die Arme, antwortete jedoch angesichts ihres bohrenden Blicks schließlich. „Die Gildenmeister. In diesem Fall der Gildemeister der Heiler. Ihm unterliegen alle Heiler und Wehmütter. Wenn jemand in seinen Augen geeignet dafür ist, stellt er einen Antrag, aufgrund dessen ich die Zulassung unterschreibe und besiegle.“

Die Hände fest auf die Tischkante gestemmt beugte Marie sich über den Schreibtisch zu ihm. „Und du? Kannst du sowas auch entscheiden?“

„Ich habe allmächtige Entscheidungsgewalt“, antwortete er ihr mit eisenhartem Blick. Sollte sie sich davon einschüchtern lassen? Sicherlich nicht.

„Gut.“ Noch näher beugte sich Marie, bis nur noch eine kleine Lücke aus Luft ihre Gesichter trennte. „Ich will so eine Zulassung.“

Seine Mimik erfror. „Du spinnst wohl.“

„Du weißt, dass ich mehr als geeignet dafür bin.“

„Und ich sage, nein.“

„Ich will so eine Zulassung.“

„Wofür?“

„Für Notfälle. Und für meinen angegriffenen Stolz.“

„Marie…“

Diese hielt ihm die offene Hand hin. „Die Zulassung.“

All ihre Karten waren gespielt. Ihre Hände waren leer. Nun war Thorin am Zug.

Mit mahlenden Kiefern starrte ihr Verlobter sie an, als wäre sie ein giftiges Tier, das ihm an den Kragen will. Versteinert saß er vor ihr, bis er schließlich eine Schublade aufzog und ein Siegelstempel herausholte.

Marie beobachtete angespannt, wie er aus dem Sekretär zwischen etlichen Ledermappen eine herauszog und ein bereits vorgefertigtes Dokument daraus vor sich auf den Schreibtisch ablegte. Immer wieder suchten seine Augen die ihre, als würde er sich vergewissern, dass sie ihm auch ja zusah. Mit Bedacht tunkte er seine Schreibfeder in das Tintenfässchen. Messerscharf lag Maries Blick auf jeden Silbenschwung, den die Feder vollführte. Zum Schluss tröpfelte er Wachs auf den unteren Abschnitt und drückte das Siegel in die noch warme rote Masse: das Rabenpaar Erebors, Rücken an Rücken fliegend, die Krallen kampfbereit erhoben.

Der König reichte ihr das unterschriebene und gesiegelte Dokument, doch ehe Marie es greifen konnte, zog er seine Hand zurück. „Nur für Notfälle.“

„Nur für Notfälle“, bestätigte Marie ihm seine Bedingung und hielt einen Moment später die Zulassung für Heiler und Wehmütter in den Händen.

Thorin beobachtete seine Verlobte, die ihren Körper nun gegen den Schreibtisch lehnte, als würden die letzten Stunden ihren Tribut fordern. Zum ersten Mal an diesem Tag fiel ihm die Erschöpfung auf, die sich als Schatten um ihre Augen gelegt hatte. In diesem Moment ließ Marie jene über das Dokument wandern, obwohl die Zeilen in Khuzdul für sie bis auf ihren Namen und seine Unterschrift unleserlich sein würden. Sie hatte das, was sie wollte, und dennoch sah sie nicht glücklich aus. Verflucht! Diese Frau würde ihm noch jegliche Nerven rauben.

Thorin wollte die prekäre Angelegenheit aufklären, die nicht nur Marie sich selbst, sondern auch ihm am heutigen Tag beschert hatte. Er stand auf und bewegte sich vorsichtig auf sie zu. „Bitte lass uns nochmal von vorne anfangen…“

„Du verstehst das nicht“, sie wich ihm aus, noch nicht bereit, seine Nähe zuzulassen. „Wäre ich nicht da gewesen, wäre Nyr gestorben und mit ihr das Baby.“ Ihre Augen waren die einer Wildkatze, funkelnd vor Leidenschaft. Ein Spiegel ihrer zurückgehaltenen Emotionen. Sie sorgte sich wirklich um diese fremde Frau, deren Kind sie heute auf die Welt geholt hatte. Thorin hatte keine Ahnung, was tatsächlich vorgefallen war. Es musste Marie jedoch sehr mitgenommen haben. Ehe er einen Beschwichtigungsversuch starten konnte, ergriff seine Verlobte das Wort und führte ihm erneut vor Augen, wie facettenreich ihre einzigartige Persönlichkeit doch war.

„Ich lasse niemanden in Erebor herumlaufen, der keine Ahnung von der Geburtskunde hat und Frauen, hilflos in ihrer Not, gefährdet. Zu allem Überfluss bekommt so jemand noch eine Schülerin an die Hand. Das ist unverantwortlich.“ Er sah, wie sie neuen Atem schöpfte, den Rücken durchdrückte. Marie drehte sich zu ihm um, das Kinn erhoben, die Stimme klar und unmissverständlich. „Es ist meine Pflicht, für das Volk Erebors zu sorgen. Deswegen werde ich mich um diese Angelegenheit persönlich kümmern. Und du wirst mir dabei helfen.“

Irritiert zeigte Thorin mit dem Finger auf sein Gesicht.

„Ja, du! Du hast mit deiner Unterschrift dieser Frau erst möglich gemacht, unser Handwerk in den Schmutz zu ziehen. Und außerdem spielst du eine nicht ganz unwesentliche Rolle in diesem Land, klar so weit?“

Na toll. Er musste es in ihren Augen ja gründlich verbockt haben. Durin, er hatte noch nicht einmal eine Ahnung, vom wem hier überhaupt die Rede war. In den Tagen vor seinem Aufbruch nach Kerrt hatte er so viele Dokumente vor der Nase gehabt, dass er sich gar nicht daran erinnern konnte, was für Zulassungen er überhaupt unterschrieben hatte. Eines stand aber fest: Maries Bericht hatte ihn an dem althergebrachten Vorgehen stark zweifeln lassen. Es war nicht nur Kritik an einer einzelnen Frau aus der Gilde der Heiler. Es war Kritik, die er an sich selbst richtete und musste eingestehen, dass Handlungsbedarf bestand. Was, wenn dies kein Einzelfall war?

Thorin setzte sich wieder auf seine vier Buchstaben und bewirkte, dass Marie näher zu ihm trat.

„Ich brauche dich, weil du weißt, was ich machen darf und was nicht. Du weißt, wie ich etwas sagen kann oder lieber sein lasse.“ Ihr Ton war um einiges versöhnlicher, als noch vor wenigen Minuten. Sie meinte es wirklich ernst. „Ich will für unser Volk da sein, Thorin, und dafür brauche ich deine Unterstützung. Ich kann das nicht alleine.“

„Einverstanden. Was schlägst du vor?“

„Wie jetzt?“ Sie stand völlig verdattert da. Offenbar wunderte es sie, einfach so bei ihm damit durchzukommen. Thorin schmunzelte in sich hinein. Indem Marie ihre Pläne verfolgte, würde er es mit seinen ganz eigenen tun.

Abwartend schlug er die Beine übereinander und falteten die Hände vor dem Bauch. „Ich will von dir hören, was du als nächstes vorhast, um meine Zustimmung zu geben oder mein Veto einzulegen.“

„Ähm. Ich weiß nicht.“ Marie machte es sich auf dem Schreibtisch bequem, sodass sie ihm gegenüber saß. „Welche Möglichkeiten haben wir denn?“

Gut. So konnte er arbeiten. „Was sind deine Ziele?“

„Ich will auf alle Fälle, dass diese Frau keine Geburt mehr leiten darf. Sie ist eine Gefahr für andere. Und am besten sprechen wir auch mit dem Gildemeister. Er ist doch für die Leute zuständig, die ihm unterstehen. Warum hat er die Fähigkeiten dieser Frau nicht auf den Prüfstand gestellt, bevor er ihr so eine Zulassung besorgt hatte? Und wir müssen natürlich für Rani einen neuen Mentor finden.“

Aufmerksam hörte sich Thorin alles an, was sie zu sagen hatte. Nach kurzer Bedenkzeit sagte er schließlich: „Morgen findet eine öffentliche Audienz statt. Ich könnte den Gildemeister und diese Hebamme vorladen.“

„Schon Morgen? Das wäre großartig! Ich will keine Petze sein, aber diese alte Vettel hat sehr unschöne Sachen mir ins Gesicht gesagt. Sie war so respektlos.“

„Du könntest sie auf ihre Verfehlungen ansprechen. Doch bedenke, es werden eine Menge Leute uns zusehen. Du musst deine Worte wohl überlegen und darfst dich nicht zu etwas verleiten lassen, was dich in ein schlechtes Licht rückt. Du musst deine persönlichen Angelegenheiten beiseiteschieben. Das Wohl unseres Königreiches muss für dich an erster Stelle stehen.“ Bei seinen Worten schluckte Marie merklich. „Diese Audienz ist eine gute Gelegenheit deinen Platz einzunehmen.“

Als zukünftige Königin. Die Worte schwebten unausgesprochen zwischen ihnen. Marie senkte den Blick auf ihre Zulassung, die sie noch immer in den Händen hielt.

Da saß sie nun, seine Zukünftige. In seinen getragenen Klamotten von gestern Abend. Blutbefleckt und mit wirrem Haar, das heute sicherlich noch keine Bürste gesehen hatte. So war sie durch die Stadt gelaufen. Allein, ohne Soldaten oder Anstandsdamen. Aufopferungsvoll und neugierig. Doch jetzt waren ihre Augen groß und voller Zweifel. Wieder einmal.

Marie wusste nicht, welche Pflichten sie von nun an besaß, was es hieß, an seiner Seite zu stehen. Sie kannte weder die Etikette ihres Ranges noch die Abläufe eines Lebens in den höchsten Kreisen von Durins Volke. Sie hatte noch so viel zu lernen.

Einem aufkommenden Gedanken folgend stand Thorin auf und ging zum Sekretär hinüber. Aus dem Klappfach nahm er ein gehärtetes Kissen aus königsblauem Samt heraus. Als er sich damit umdrehte, konnte er ihr Staunen verfolgte. Es war das erste Mal, dass sie die Krone Erebors zu Gesicht bekam.

„Würdest du sie…?“ Als Aufforderung, dass sie es tun sollte, gab er ihr ein stummes Zeichen. Marie glitt vom Schreibtisch, nahm behutsam die Krone und hob sie über sein Haupt. Vorsichtig aus Angst, sie könnte sie irgendwie beschädigen, setzte sie sie ihm auf und trat dann zurück, um ihn in seiner ganzen Pracht ansehen zu können. Bei allen Himmeln dieser Welt… Als sie das dunkle Metall, den schwarzen Onyx und das Gold sah, welche dieses einzigartige Kunstwerk formten, wurde ihr wieder einmal bewusst, was ein beeindruckender Mann Thorin war. „Sie passt so gut zu dir.“

Thorin ergriff ihre Hände und hielt sie sanft in den seinen, in der Hoffnung, so die Kälte zu vertreiben, die klammheimlich das Band zwischen ihnen vereist hatte. „In der Schlacht um Moria ging die Krone unsers Landes verloren. Ich schmiedete diese Krone kurz vor Ausbruch des Krieges neu und hoffte dadurch, auf diesem Wege mein Geburtsrecht einzufordern. Ich wollte endlich zu dem werden, der ich immer sein sollte.“

„Du hast sie gefertigt?“

Er nickte und sah, wie ihr der Mund offenstand. „Manchmal da fühlt sich dieses Metall auf meinem Kopf so fremd und unwirklich an, als würde mir mein Gedächtnis einen Streich spielen, indem es mir vorgaukelt, alles Erlebte wäre gar nicht passiert und ich immer noch ein heimatloser Prinz. Doch dann sehe ich dich vor mir und weiß, dass kein Traum mir solche Gefühle bescheren kann.“ Sein Körper schmiegte sich vertraut an den ihren, die Hände legte er liebevoll um ihr Gesicht. Seine Daumen glitten über ihre Wangen und ließen Marie mit einem warmen Kribbeln im Bauch die Augen für einen Atemzug schließen. Liebe erfüllte jeden Winkel ihrer Seele.

„Eines Tages wird auch dir eine Krone gegeben aus Silber und Kristall. So, wie sie meiner Großmutter und deren Mütter davor gegeben worden ist. Auch wenn ein Kranz aus den schönsten Wiesenblumen vielleicht eher zu dir passen würde.“ Als er dies sagte, hob sich sein linker Mundwinkel zu dem schiefen Schmunzeln, welches Marie so gerne sah. Auch sie musste bei dem Gedanken lächeln. Ihre Taille wurde von seinen Armen umschlossen und seine Lippen berührten ihre Stirn für einen langen, intimen Kuss. Da war er wieder: der Schmetterling, der in ihr Saltos und Kreise vollführte. Wie von selbst schoben sich ihre Arme an seinem Bauch entlang und kamen auf seinem Rücken zum Liegen.

„Du hast mir Sorgen bereitet, mell nin.“

Marie kuschelte sich an ihn, atmete seinen Duft. Eine stille Entschuldigung.

Als Thorin weitersprach, spürte sie die Vibrationen seiner Stimme in ihrem Ohr. „Ich möchte, dass du einen guten Eindruck machst und als die meine anerkannt wirst. Nicht in meinen Augen, doch in den Augen anderer bist du eine Fremde.“ Sein durchdringender Seufzer regte etwas in ihrem Herzen und brachte es ins Wanken. „Ach, Marie, was soll ich mit dir anstellen? Du machst es mir nicht wirklich einfach, läufst alleine und wie eine Vagabundin ausschauend durch die Stadt, weil du ein Kind auf die Welt holen musstest. Die Gerüchte, die du damit losgetreten hast, haben sich bestimmt schon in ganz Erebor ausgebreitet, ehe ich dich ganz offiziell meinem Volk vorstellen konnte, wie ich es eigentlich für den morgigen Tag geplant hatte. Man wird denken, dass ich meine Verlobte nicht unter Kontrolle habe, dass sie mir auf der Nase herumtanzt. Ich wollte dich gebührend vorstellen. Nun hast du selbst es getan – auf deine ganz eigene Art und Weise.“

„Wenn du jetzt wegen wir Spott bekommst, tut mir das leid. Das war wirklich nicht meine Absicht.“

Thorin tat es mit einem Schulterzucken ab. „Wir werden sehen, was geschieht. Du solltest dich jetzt umziehen. Ich lasse etwas für uns zum Essen heraufbringen. Du musst sicher Hunger haben“, sagte er und betätigte den Seilzug neben seinem Schreibtisch, damit es in der Küche klingelte. Der Kuss schmeckte nach Frieden, als Maries Lippen die seinen liebkosten. Sie sah ein Lächeln zwischen seinem Bart erscheinen, ehe sie seinem Rat folgt und sich ins Schlafzimmer zurück zog.

Marie legte die benutzten Sachen im Ankleidezimmer auf eine kleinen Bank nahe der Tür ab, in der Hoffnung, die Zimmermädchen würden sie so zum Waschen mitnehmen. Während Thorin im Nebenraum der herbeigerufenen Bediensteten Anweisungen gab, schlüpfte Marie in ihren Grauen, unnützen Mantel und erfreute sich einen Moment an dessen Weichheit. Als die Luft rein war, tapste sie barfüßig über die Teppiche ihres Gemachs, vorbei an Thorin, der wieder am Schreibtisch saß und etwas las. Bei ihrem Erscheinen hob er beiläufig den Kopf. Mehr als üblich ließ Marie im Gehen ihre Hüften schwingen und bewirkte, dass sein Blick sie verfolgte. Zur Krönung ihres kleinen Auftritts ließ sie die Kordel des Mantels aus ihren Fingern rutschen, sodass sie ihm für einen Moment einen sehr tiefen Einblick gewährte. Es führte dazu, dass er sie anstarrte, als wäre sie ein Stück Fleisch. Grinsend raffte Marie das Fell um sich. Nachdem sie dem Gewittersturm die Stirn geboten hatte, konnte sie einem kleinen Spielchen mit dem Feuer nicht widerstehen.

Im Waschraum suchte sie den Abtritt auf und gönnte sich danach an dem Waschtisch, der gleich zwei Personen Platz bot, eine Wäsche. Feines Porzellan gefüllt mit frischem Wasser und kuschelweiche Handtücher lagen dort um die Waschschüsseln bereit. Darüber hatte man einen Spiegel angebracht, der in einem goldenen Rahmen eingefasst war. Marie klopfte mit der Fingerspitze dagegen und musste feststellen, dass das nur oberflächlich war. Hingegen… Über ihre Schulter sah sie zur der mit Leinentüchern verhüllten goldenen Badewanne. Anna wird mir das nie glauben…

In der Sorge, dass schon das Abendessen hereingebracht werden könnte und sie sich sputen musste, huschte sie zurück ins Schlafzimmer. Ohne von seiner Arbeit diesmal aufzublicken, hielt Thorin ihre Zulassung in die Luft, die sie offenkundig liegengelassen hatte. Im Vorbeigehen schnappte sie sich das Dokument und tauschte es gegen einen Schmatzer auf einer haarige Wange aus. Unschlüssig, wo sie das Schriftstück in Zukunft aufbewahren sollte, rollte sie es und legte es erstmal auf das Frisiertischchen. Ebenfalls hatte man dort ihre aus Kerrt mitgebrachten Habseligkeiten abgelegt. Viel war es nun wirklich nicht.

Marie strich über den Einband des Buches, in das ihre Eltern ihr gesamtes Wissen niedergeschrieben hatten und ließ die Gedanken an das Haus am Waldrand zu, die einen Schmerz des Vermissens mit sich brachten. Auf einmal fielen ihr die drei großen Truhen auf, die an der Wand standen. Sie hätte schwören können, dass die heute Morgen noch nicht hier gestanden hatten. „Was sind das für Truhen, Thorin?“ Marie öffnete eine davon und blickte auf das feinbestickte Mieder eines Kleides in Rot und Gold. Es war ein bisschen staubig, doch die Fäden schimmerten edel.

Sie hörte, wie sein Stuhl über den Boden schrappte. Kurz darauf erschien er in der Tür. „Ah, er hat sie schon vorbeigebracht.“

„Das müssen Dutzende sein! Von wem sind die alle?“ Marie schob die Stofflagen in den unterschiedlichsten Farben zur Seite, um sich bis an den Boden der Truhe vorzuarbeiten.

„Von meiner Schwester.“

Marie hielt inne und drehte sich zu ihm um. Schon oft hatte sie den Ausdruck gesehen, der nun wieder auf seinem Gesicht seine Schatten warf. „Die gehörten Dis?“ Er nickte. „Ich habe die Bilder auf dem Kamin gesehen. Sie ist wunderschön.“

Ihr großer Bruder lächelte. „Das war sie.“ Er kam zu ihr und öffnete die nächste Truhe. Bis zum Rand war diese mit Büchern gefüllt. „Fili hat sich in den Gemächern seiner Eltern heimisch gemacht. Die Sachen hat er aussortiert. Die Jungs wollten die Kleider nicht weggeben, deswegen hab ich vorgeschlagen, dass du sie mal anprobieren könntest. Sie müssen natürlich noch geändert werden. Und die Bücher“, er tätschelte den Rand der Truhe wie ein altes Pferd, „Vielleicht magst du sie ja lesen. Dis hat Bücher geliebt. Immerzu steckte sie mit der Nase in einem.“

„Ich werde die Kleider in Ehren tragen und ihre Bücher wie meine eigenen behandeln. Dis hätte sich sicherlich darüber gefreut.“

Das Worte ihres Bruders wärmte ihr Herz. „Sie hätte dich gern gehabt, mell nin. Sehr, sehr gern.“

 

 

13

 

 

Da ist ja unsere Ausreißerin!“ Kili küsste seine Tante zur Begrüßung auf die Wange.

„Jetzt fängst du auch noch an.“ Halbherzig gab sie ihm für seine Stichelei einen Klaps.

„Du hast den Männern jedenfalls etwas Abwechslung beschert“, sagte sein Bruder und begrüßte Marie auf dieselbe Art und Weise. „Ich glaube, es hat ihnen sogar Spaß gemacht, nach einer verschollenen Frau zu suchen.“

„Tut mir leid, sie enttäuscht zu haben, falls sie sich Finderlohn erhofft hatten.“

„Wo in aller Welt hast du dich denn herumgetrieben? Unser Onkel ist durch die Gegend gelaufen wie von der Tarantel gestochen.“

Bei Kilis Schilderung blickte Thorin finster drein.

Mit einem belustigten Seitenblick auf ihren Verlobten legte Marie den Arm um diesen. „Ich musste euren Onkel schon erklären, dass eine Geburt manchmal viel Zeit in Anspruch nimmt und ein Kind sich selten an die gemachten Pläne seiner Eltern hält.“

Die Jungs schauten einander höchst verwundert an. „Du hast ein Kind auf die Welt geholt?“

„So ist es. Tara, mein Zimmermädchen, hat mich um Hilfe für ihre Schwägerin gebeten. Ich bin sofort mit ihr mit und konnte verhindern, dass ein Unglück über die Familie hereinbrach. Es hätte leider auch anders ausgehen können.“ Den erneut hochkommenden Groll über Mistress Favli und ihren unterirdischen Heilkünsten musste Marie wie einen schlechten Geschmack runterschlucken.

Kili stieß einen kleinen Pfiff aus. „Nicht schlecht für den ersten Tag.“

Die Küchenhelferinnen, die währenddessen das Abendbrot auf dem Esstisch hergezaubert hatten, standen in Reih und Glied und warteten darauf, dass die Königsfamilie Platznahm, um ihnen einzuschenken. Marie bedankte sich bei Fili, der ihr galant den Stuhl abgezogen hatte. Ein silberner Kerzenleuchter in der Tischmitte sorgte für genügend Helligkeit, in dem mittlerweile dämmrigen Gemach. Die Sonne dürfte kaum noch über dem Horizont zu erkennen sein und erinnerte Marie daran, dass sie heute noch bei Nyr vorbeischauen musste. Ihr wurde Wein eingeschenkt. Den Männern servierte man volle Bierkrüge.

„Habt Dank.“ Marie schenkte dem jungen Küchenmädchen ein Lächeln, welches dies scheu erwiderte. Sie strich über ihr Kleid, um unauffällig dessen Sitz zu kontrollieren. Lange hatte sie vor ihrem riesigen Kleiderschrank gestanden und überlegt, was für den Anlass eines normalen Abendessen geeignet war. Die Kleider, die man schon für sie besorgt hatte, wirkten unfertig, wie sie da so einsam auf der Stange hingen, sodass ihre Aufmerksamkeit an bekannten Kleidungsstücken hängen geblieben war.

Mit einem wehmütigen Lächeln hatte sie den Stoff ihrer Kleider betastet, die in Windeseile man bereits gewaschen und getrocknet in den Schrank gehängt hatte. Es waren jene, die sie in ihrem Rucksack hierhergebracht hatte. Ihr hellblaues Kleid mit dem sandfarbenem Mieder, das mittlerweile, trotz Annas Änderungskünsten, hier und da ausgebessert werden musste, sowie ihr früheres bestes Kleid, das durch den Zauber an ihrem Körper mitgeschrumpft war: ein weinroter Rock, dazu ein Mieder aus weichem, ebenholzfarbenem Hirschleder und einer weißen Bluse, welche die Schultern freiließ. Daneben hatte sie in ihrem Rucksack nur noch Platz für zwei Paar Hosen und zwei Hemden gefunden, welche völlig aus dem Gesamtbild entrückt in den Fächern lagen.

Letztendlich hatte sie sich für ihr bestes Kleid entschieden, ohne zu wissen, dass so viel Aufwand gar nicht nötig gewesen wäre. Die Jungs trugen gemütlich aussehende Pullover und Hosen aus weichem Stoff. Kili war nur in Wollsocken hereingetapst. Thorin trug dieselben Sachen, wie vorhin, doch auch diese wirkten legerer als jene von gestern Abend mit denen sie heute herumgelaufen war. Unter Zeitdruck hatte sie noch ihre Haare so energisch gekämmt, dass er verwundert ins Zimmer geschaut hatte, um nachzusehen, warum sie so fluchte.

Marie blickte den gedeckten Tisch entlang, ohne im ersten Moment zu wissen, warum sie ein Lächeln auf den Lippen spürte. Man hatte ihnen eine Suppe als Vorspeise vorgesetzt, die die Männer schon fast leer gelöffelt hatten. Brot und verschiedene Wurstsorten, Gehacktes mit Zwiebeln und eingelegte Gurken, dazu ein Brett voller Käsestücke, drapiert mit Weintrauben standen ebenfalls zwischen ihnen. Als Nachspeise warteten kleine Gebäckstückchen, die aussahen wie kleine Törtchen, auf einem Servierwagen nebenan. Ihr gegenüber saß Fili, neben diesem sein Bruder und Thorin zu ihrer Rechten. Sie waren nur zu viert und wären da nicht die Bediensteten gewesen, die alles hübsch hergerichtet hätten und nun wieder diskret verschwunden waren, wären da nicht silbernes Besteck und silberne Teller und ein großzügiger Wohnraum mit Wänden aus Fels und schönen Möbeln, hätte sie denken können, sie säßen gemütlich zu Abend in ihrem Haus am Waldrand. Wie eine ganz normale Familie.

Ein Kloß bildete sich plötzlich in ihrem Hals, als sie an den anderen Teil ihrer Familie dachte, den sie zurückgelassen hatte. Trotzdem, ihr Lächeln hielt an. Zwischen all dem Neuem schenkte dieser Abend Marie ganz sanft ein Stück Normalität zwischen all dem Neuem und Unbekannten. Dankbarkeit wärmte ihre Seele.

„Liebling?“ Sie bemerkte, dass sie von einem Paar sturmgraue Augen beobachtet wurde. „Woran denkst du gerade?“

„An uns.“ Sie schaute zur gegenüberliegenden Seite des Tisches. „An unsere Familie.“ Die Lächeln von Kili und Fili drangen bis in ihr Herz vor. Dort, wo die beiden jungen Männer schon längst einen Platz hatten. „Ich bin glücklich“, flüsterte sie und spürte daraufhin Thorins Hand ihre greifen. Ich liebe dich formten seine Lippen, stumm und aufrichtig.

Ich dich auch.

Maries Augen strahlten wie Smaragde und ließen es in seiner Brust wummern. Als hätte sie gemerkt, noch gar nichts gegessen zu haben, nahm sie ihren Suppenlöffel. Nur schwer konnte Thorin sich von ihr losreißen und seine Aufmerksamkeit wieder seinem eigenen Essen widmen. Leise prasselte das Feuer im Hintergrund, spendete dem großen Raum Wärme und familiäre Geborgenheit.

„Ich hab dir etwas vorbeigebracht, Marie. Hast du´s schon gesehen?“

Marie hob den Blick zu Fili. „Oh, ja. Vielen Dank dafür.“

„Keine Ursache“, erwiderte er und suchte zur Bestätigung den Blick seines Bruders, der mit vollem Mund ordentlich reinhaute. „Wir mussten so langsam mal aufräumen und haben uns gedacht, vielleicht möchtest du die haben. Die mit den Mottenlöchern haben wir schon aussortiert.“

Thorin bot an, morgen den Schneider damit zu beauftragen. „Du brauchst immer noch eine Garderobe. Du hast kaum etwas zum Anziehen“, erinnerte er sie. „Ich bin sehr gespannt, wie die Kleider an dir aussehen werden.“

Marie nickte, verschwieg jedoch, dass sie allein bei dem Gedanken Herzklopfen bekam, in die Kleider einer Prinzessin zu schlüpfen. Das Teuerste, was je ihre Haut berührt hatte, war das weiße Spitzenkleid, das sie sich für damals das Sommerfest in Dale von ihrem Erspartem besorgt hatte, um dem jungen Prinzen aus Erebor zu gefallen, von dem sie hoffte, er würde an diesem Abend in die Stadt kommen.

„Und wir erst“, sagte Fili und lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück zu diesem Abend.

„Wo finde ich euch? Ich muss euch unbedingt besuchen kommen.“

„Auf dem Flur“, er zeigte nach unten und meinte wohl das Stockwerk unter ihnen, „gehst du nach rechts. Dann findest du meine Zimmer. Wenn du in die andere Richtung gehst, kommt zuerst gegenüber der Treppe der Speisesaal, wo wir uns gestern Abend alle getroffen hatten. Dann kommt Kilis Gemach und dann die Räume von Dwalin und Ninak und eins weiter die Räume von Balin und Wilar.“

„Sie wohnen auch hier?“ Maries Euphorie ließ die Brüder grinsen.

„Na klar. Sie gehören schließlich zur Familie.“

„Bilbo und Gandalf wohnen zurzeit im Gästetrakt“, fügte Fili hinzu. „Wo der ist, zeige ich dir dann. Dort findest du auch Tauriel.“

Aufs Stichwort hin schluckte Kili aufgeregt sein angebissenes Brot runter. „Du musst sie unbedingt kennenlernen! Sie hat nach dir schon gefragt.“

„Wer ist Tauriel?“ Marie war irritiert. Diesen Namen hatte sie noch nie gehört. Er hörte sich weiblich an.

„Eine Elbe aus dem Grünwald. Sie ist unser Gast.“

„Bitte was?“ Marie glaubte, sich verhört zu haben. „Du veralberst mich.“

„Schön wär´s“, grummelte es neben ihr. „Die Jungs haben diese Frau zu uns eingeladen, kurz nach meinem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit. Sie verfügt über ein wenig Heilwissen.“

„Ein wenig?“ Das stieß Kili sauer auf. „Sie hat so einiges drauf.“

Die Miene seines Onkels war so herzlich wie die eines Steins. „Wie gesagt, die Jungs waren der Meinung, dass sie mir helfen könnte, und schmuggelten sie durch das Tor.“

„Ein Jahrhundertstreich! Nur um das nochmal gesagt zu haben.“

Thorin funkelte seinen jüngsten Neffen stumm von der anderen Seite des Tisches an. Dass seine Jungs – sein eigen Fleisch und Blut! - eine Elbe nach Erebor gebracht hatten, hatte er ihnen immer noch nicht verzeihen können. Diesem aufmüpfigen Jungen sollte er mal gehörig die Ohren waschen. Er war zu nachlässig gewesen… Diese Elbe hätte Erebor schon längst wieder verlassen sollen.

„Wie habt ihr sie kennengelernt?“ Seine Verlobte war ganz begeistert von der Elbe und beugte sich wissbegierig über den Tisch. Thorin hätte am liebsten gekotzt.

„Das war so…“ Kili erzählte ihr, dass Tauriel eine der Elben aus dem Grünwald war, die die Gefährten gefangen genommen hatten. Er schilderte ihre Beweggründe, den Zwergen und deren Verfolger, die Orks, bis nach Seestadt zu folgen und berichtete von seiner Morgulvergiftung und Tauriels Rettung in letzter Sekunde. Besonders an dieser Stelle klebte Marie an seinen Lippen und wollte alles bis ins kleinste Detail darüber erfahren. Kili musste seine Tante vertrösten, dass Tauriel am besten selber darüber berichten sollte. Außerdem erfuhr Marie von der Hilfe, die sie von den Elben während des Krieges erfahren hatten und den Preis, den Tauriel dafür zahlen musste. „Nach ihrer Verbannung entschied sie sich vorerst in Dale zu bleiben, um den Menschen dort zu helfen. Wir haben sie gebeten mit uns nach Erebor zu kommen, um unseren Onkel zu helfen.“

„Und wann gedenkt sie wieder zu gehen?“

Alle sahen Thorin an. Auf Kilis Stirn zeichneten sich eine Zornesfalte ab. „Wo soll Tauriel denn hin?“

„Mir egal“, entgegnete er. „Sie ist schon viel zu lange hier.“

Verborgen von der Tischplatte fasste Marie nach seinem Knie; eine völlig nutzlose Geste der Beschwichtigung, denn er hatte nicht vor, von seinen Standpunkt abzuweichen. Er konnte seinem Neffen dies nicht länger durchgehen lassen. Irgendwann musste diese Frau schließlich gehen. Er war genesen und die Zeit, die sie hier verbracht hatte, eindeutig ausreichend.

„Thorin, lass das Mädchen so lange hierbleiben, wie es möchte. Es ist ziemlich aufregend bei einem anderen Volk zu leben“, redete Marie ihm ins Gewissen. Doch da stieß sie bei ihm auf Granit.

„Mein Volk redet schon.“

„Die Leute haben sie doch schon fast wieder vergessen. Sie hat so gut wie keine Kontakte. Sie darf ja nicht einmal alleine aus ihren vier Wänden.“

„Kili…“

„Onkel?“

„Es reicht. Ich diskutiere nicht länger.“

„Ich jedenfalls“, sagte Marie rasch, bevor die beiden Streithähne erneut anfangen konnten, „werde Tauriel morgen einen Besuch abstatten. Es gibt einiges, was ich über sie erfahren möchte. Würdest du mich begleiten, Kili?“

„Liebend gerne.“

„Morgen ist die Audienz. Denk dran“, warf Thorin ein und biss grimmig in sein nächstes Wurstbrot.

Kilis verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. „Politik.“

„Ich erwarte von euch Pünktlichkeit und Aufmerksamkeit.“

„Wir werden da sein, Onkel“, antwortete Fili für sie beide. „Marie, du bist auch dabei?“

„Mhm. Ich muss etwas klären. In eigener Sache sozusagen.“

„Da bin ich ja mal gespannt.“

„Außerdem…wird es Zeit, mich an meine neuen Aufgaben zu gewöhnen.“ Marie spürte Thorins Blick stolz auf ihr ruhen.

Fili versuchte, sie aufzumuntern. „Wir mussten uns auch erst an unser blaues Blut wieder gewöhnen. Gar nicht so einfach, wenn man durch die Wildnis gezogen ist und gewisse Freiheiten gelebt hat.“

„Wenn wir schon von dem morgigen Tag sprechen“, begann Thorin und lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf sich, „möchte ich dich um einen Gefallen bitten. Einen Moment.“ Er stand auf und holte aus dem Schlafzimmer etwas. Hilfesuchend schaute sie zu den Jungs, doch diese zuckten bloß mit den Achseln. Als ihr Onkel jedoch mit einer Schatulle wiederkehrte, machten die Brüder große Augen. „Oh“, kam von Kili. Marie wurde mulmig zumute und als er damit vor dem Tisch stehen blieb, steigerte sich dieses Gefühl nochmal um das Doppelte.

„Ich würde Morgen gerne das an dir sehen.“ Er klappte die Schatulle auf und ihr blieb das Herz stehen.

„Thorin…“ Mit Beinen wie Wackelpudding erhob sie sich und starrte auf das Collier. Winzige Schimmer brachen sich im Feuerschein in allen Regenbogenfarben in den kristallartigen Steinen, die wie ein Kunstwerk an einer Silberkette angeordnet auf dem Samt ruhten. Der Anblick des funkelnden Schmuckes ließ sie zurückweichen. „Das kann ich nicht tragen.“

„Die Steine von Lasgal werden schon seit Generationen an die nächste Trägerin weitergegeben. Nun werden sie dir gehören.“

„Du machst Witze.“ Sein Gesicht blieb reglos. Nein. Er machte keine Witze. „Das… Das kann ich unmöglich tragen!“ Als wären diese Steine gefährlich, wich sie noch einen Schritt zurück. „Thorin, du bist verrückt.“ Unbeirrt hob er das Collier aus seiner Schachtel. Die Steine funkelten in seinen Händen wie ein einziger, kostbarer Schatz. So kostbar wie ein ganzes Leben.

„Ich würde gerne sehen, wie es an dir aussieht.“

„Das ist… Ich… Na gut. Aber nur ein Mal.“ Marie drehte ihm den Rücken zu und nahm ihre Haare zur Seite. Sie zitterte innerlich vor Nervosität, als er ihr den Schmuck umlegte, und insgeheim auch ein wenig vor Ungeduld. Wie würde es aussehen? Kalt kam das Collier auf ihrem Dekolleté zum Ruhen. Als hätte das Schicksal es geahnt, besaß ihr Kleid einen großzügigen Ausschnitt, perfekt geschaffen für so ein großes Schmuckstück. Marie sah die Blicke von den Jungs und wusste nicht, ob sie lachen oder besorgt sein sollte. Fili und Kili sahen ihre Tante an, als sahen sie ein dreiköpfiges Einhorn.

Seine Stimme rieselte wie Samt ihr über den Rücken. „Dreh dich um, mell nin.“ Mit einem flattrigen Gefühl im Herzen kam sie seiner Bitte nach… Und erstarrte.

Thorins Augen waren augenblicklich auf den Glanz der Steine geheftet. Aus weiter Ferne hörte er seine eigene Stimme. „Wie schön du bist.“ Seine Finger schwebten über der Kette, streichelten den Übergang von Edelsteinen und nackter Haut. „Einzigartig...“ Wie das Heraufziehen der Nacht drang aus seiner Brust ein Gefühl durch Knochen und Fleisch, als würde eine Schlange sich heimlich ihren Weg durch Erde und Matsch bahnen. Mehr und mehr kroch Dunkelheit aus allen Ecken. Und mit ihr erwachte das Raubtier.

Eine innere Stimme befahl seinen Augen, sich nicht wegzubewegen. Thorin verlor sich in den Reflektionen der Edelsteine, während der Raum, in dem sie standen, sich auflöste, unbedeutend wurde. Die Dunkelheit konnte ihm nichts anhaben. Die Steine von Lasgal badeten ihn in Licht. Farbtupfer, winzig klein, sprenkelten die Haut, auf der sie lagen. Plötzlich konnte er das Blut hören, das der Pulsschlag an der Kehle durch den Körper der Frau pumpte. Tuck. Tuck. Tuck. Tuck. Direkt vor ihm.

Die Bestie drückte gegen die Wände seines Gefängnisses, suchte eine Lücke, um zu entkommen. Hungrig nach Gold und Blut.

„Onkel.“ Die Stimme riss Marie aus ihrer Starre. Die schimmernden Augen verloren ihre Bannkraft, als die Jungs sich zwischen sie schoben. Fili griff nach Thorins Händen, die immer noch über ihrer Haut geschwebt hatten und riss sie fort. Sie verlor das Gleichgewicht, wurde von Kili aufgefangen, ehe sie stolpern konnte. Der Druck in ihrem Brustkorb machte sie drauf aufmerksam, dass sie die Luft angehalten hatte.

„Wir sollten die Kette wieder einpacken. Mit dem Kleid hier sieht es etwas unpassend aus, findest du nicht?“

Fili. Das war Filis Stimme. Sein Neffe stand dort, wo zuvor noch Marie gestanden hatte. Was hatte er gesagt? Filis bohrender Blick drückte sich in seine Pupillen hinein, als würde er ihn verbrennen wollen. „Ja…du hast Recht“, antwortete er ihm, ohne zu wissen, ob es richtig war. Doch dann spürte er es. Ein Zerren in seinem Körper, als würde dieser ihm nicht alleine gehören. Pechschwarze Dunkelheit strömte auf ihn ein und drohte, ihm die Luft abzuschnüren. Thorin musste sich wegdrehen, presste die Augen zu und konzentrierte sich auf seine Sinne. Er musste sich beruhigen!

Der Drache zog unruhig seine Kreise. Smaugs Frustration konnte er auf der Zunge schmecken. Wie ein Raubtier, dessen Beute ihm entkommen war. Die Erkenntnis, dass er die Kontrolle verloren hatte, sickerte wie Gift in sein Bewusstsein.

„Kili, kümmerst du dich um Marie?“, hörte er Fili wie hinter dichten Nebel sagen. „Sie sieht etwas blass aus plötzlich.“ Er konnte Marie nicht ansehen, so sehr es ihm danach drängte. Ihr Leben war das höchste Gut, das es zu beschützen galt. Sein Körper bebte. Es zerriss ihn in Zwei, nicht zu ihr zu dürfen, um sicherzugehen, dass es ihr gut ging, sie unverletzt war.

Unsicher und irritiert, von dem, was sie gerade gesehen hatte, fasste Marie sich an die Stirn. Ob ihr übermüdeter Geist daran schuld war? Fili schien Recht zu haben; sie spürte auf einmal eindringliche Kälte. Zittrig fand sie ihre Stimme wieder. „Ich fühle mich auch auf einmal nicht gut.“

„Das ist die Aufregung.“ Kili legte den Arm um sie und schob sie in die andere Richtung, weg von den anderen beiden. „Du musst für Morgen dringend noch ein paar Kniffe lernen. Wenn schon unser Onkel so hin und weg von dir ist, wie werden die anderen dann reagieren?“

„All diese Kleider, dieser Schmuck…“ Seufzend blieb Marie stehen, sodass auch er stehen bleiben musste. Sie wusste, dass sie sich nicht verrückt machen durfte, doch eine Frage beschäftigte sie besonders und machte, dass die Angst zurückkehrte. „Was ist, wenn ich morgen alles falsch mache, was man falsch machen kann?“ Sie sah zu Thorin hinüber, doch dieser hatte ihr den Rücken zugekehrt und sah ins Kaminfeuer. Marie suchte Antworten in Kilis dunklen Augen. „Ich fühle mich wie ein Bauerntölpel. Ich weiß ja noch nicht einmal, wie ein richtiger Knicks gemacht wird.“

Kilis Lächeln war entwaffnend. „Du musst vor niemanden knicksen, Dummerchen.“

„Da fängt es schon an!“

Ihre Reaktion brachte ihn zum Lachen. „Komm her. Ich zeig es dir.“ Kili führte sie in den angrenzenden Raum. „Als allererstes brauchen wir ein Buch.“

„Ein Buch?“

„Das legen wir dir auf den Kopf.“

„Wieso denn das?“

„Damit du Haltung bewahrst.“ Die Türen knackten hinter ihnen ins Schloss und ließen ihre Stimmen leiser werden. Sie war in Sicherheit.

„Onkel.“ Fili berührte ihn an der Schulter, wie ein scheues Tier, das es nicht zu erschrecken galt. Am liebsten hätte er seine Hand weggeschlagen. Thorin fuhr herum und konnte den Drang nicht unterdrücken, auf und ab zu laufen. Irgendetwas tun. Nur nicht stehen bleiben.

„Es wird schlimmer. Fili, es wird immer schlimmer.“

„Du musst konzentriert bleiben. Du darfst die Kontrolle nicht verlieren.“

„Ich muss zu ihr.“ Er rannte gegen Filis ausgestreckte Hände, die ihn an Ort und Stelle festnagelten.

„Glaubst du allen Ernstes, ich lass dich da rein? Jetzt, in deinem Zustand?“

„Ich bin in Ordnung.“

Nur wiederwillig ließ Fili ihn los. „Ach ja? Noch vor ein paar Sekunden sahst du aus, als würdest du Marie zerfleischen wollen. Deine Augen haben sich wieder verändert. Genau wie damals.“

Thorin fuhr sich beidhändig durch die Haare, eine nutzlose Angewohnheit, die ihn kein Stück weiterbrachte. Er war unvorsichtig geworden. Er hatte die Gefahr ausgeblendet, in die er sie – in die er alle gebracht hatte. Fili hatte Recht: er durfte die Kontrolle kein zweites Mal verlieren. Was dann geschehen würde, war unvorhersehbar.

„Onkel, da gibt es noch etwas, was du wissen solltest.“

Der verzweifelte Gesichtsausdruck seines Neffen ließ ihn Schlimmes erahnen. Wie verkorkst konnte dieser Tag noch werden?

„Gandalf ist weg.“

Thorin blinzelte verwirrt, konnte sich im ersten Moment keinen Reim darauf machen. „Weg? Was meinst du mit weg?“

„Gandalf hat heute Erebor verlassen. Ich bekam die Nachricht, kurz nachdem Maries Verschwinden bemerkt worden war. Die Wachmannschaft am Tor sagte, er sei wie der Wind davongebraust.“

Sein Puls schnellte erneut in die Höhe. Diesmal vor Zorn auf den Zauberer. „Wieso? Was hat er gesagt?“

„Er würde hier nicht mehr gebraucht werden.“

Ein derber Fluch steckte in Thorins Kehle fest. Dieser Zauberer dachte wohl, er wüsste alles besser! Falls Gandalf will, dass er ihm hinterherreitet und ihn auf Knien bettelnd um Verzeihung bittet, hatte er sich aber gewaltig getäuscht! Thorin konnte gut auf ihn und seine irrsinnigen Ideen verzichten.

„Verstehst du den Ernst der Lage? Wir haben nichts, was dich retten kann.“

„Es gibt keine Rettung, Fili.“

Seine Antwort ließ den jungen Prinz zurückweichen, als hätte ihn eine Peitsche getroffen. Trauer und Unverständnis waren ihm ins Gesicht geschrieben. „Hör auf, so etwas zu sagen! Es gibt ein Heilmittel. Mit Maries Hilfe werden wir es finden.“

„Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.“ Thorin war von kalter Ruhe erfüllt. „Wir können nicht mehr die Hilfe von Gandalf erwarten. Es wird Zeit, dass ich mir selbst helfe.“

„Was hast du vor?“

„Überleben. Den nächsten Tag und den darauffolgenden. Bis ich einen Weg gefunden habe, Smaug zu töten. Und diesmal ein für alle Mal. Egal, was es kosten mag.“ Thorin ging an ihm vorbei und steuerte die Tür zum Schlafzimmer an, ohne sich von seinem Neffen aufhalten zu lassen.

„Onkel, nicht...“

Er brauchte sein Lebenselixier. Sein Licht in der Dunkelheit. Er muss sie fühlen, sie schmecken, sie riechen und mit eigenen Augen sehen, dass es ihr gut ging, um das Pochen seines gequälten Herzens zur Ruhe zu bringen.

Er schob die Flügeltüren auseinander und das Buch rutschte Marie vom Kopf. Sie und Kili hatten sich zu Thorin umgedreht, der plötzlich die Türen aufgerissen hatte und nun zwischen denen verharrte. Marie trug nicht mehr die Lasgal-Kette, was ihm sofort auffiel, stattdessen strahlten ihre Augen, als sie ihn erblickte und schenkten ihm so neue Luft zum Atmen.

„Ähm, ich denke unsere kleine Übung ist für heute beendet.“

Marie bedankte sich bei Kili mit einem Lächeln, bückte sich nach dem Buch und ging damit zu ihm. Ihre Lippen berührten seine, ließen etwas in ihm explodieren, ohne dass sie es ahnen konnte. Vertraut schlang sie die Arme um ihn, legte die Wange an seine Brust, so als wäre er ewig fortgewesen. Sofort wurde ihr Körper von seinen Armen umschlossen. Seine Hand legte sich um ihren Hinterkopf und hielt sie behutsam wie ein Schatz an sich gepresst. Sein sicherer Hafen.

„Hey.“

„Hey“, sagte er genauso leise und spürte sogleich ihre Hände liebevoll sein Gesicht berühren.

„Geht es dir gut?“

Aus dem Augenwinkel sah er seine Neffen, die in ihrer Nähe standen und so taten, als wären sie gar nicht anwesend. Er nickte und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Blinzeln. Atmen. Weiterleben.

„Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Du warst so komisch eben.“

„Komisch?“

„Du sahst besorgt aus.“

„Das war ich auch.“

„Wieso? Was ist los?“

Er schaffte es, ein Lächeln auf seinen Lippen erscheinen zu lassen. „Du sahst so schön aus.“ Verlegen wich sie seinem Blick aus. „So schön, dass der Gedanke, dich zu verlieren, grauenhaft wehtat.“

Unsicherheit flammte in dem Grün ihrer Augen auf. „Wieso solltest du mich verlieren?“

„Vielleicht gefällt dir das Leben hier nicht. Was ist, wenn du deine Entscheidung bereuen wirst? Mir ging so vieles auf einmal durch den Kopf. Verzeih mir, wenn ich dich erschreckt habe. Es war ein langer Tag und ich war zu sehr in Gedanken.“

„Ach, Thorin...“ Sie schlang die Arme um seinen Hals und zog seinen Kopf zu sich herab. „Ich habe mich doch schon längst entschieden.“ Seine Lippen fanden die ihre. Es blieb nicht bei einem Kuss. Gebend und nehmend verschmolzen ihre Lippen und entfachten das Feuer der Leidenschaft erneut. Ein Räuspern ließ die beiden innehalten.

Atemlos und mit roten Wangen löste sich Marie von ihm. „Ihr seid ja immer noch da.“

Kili hob die Hände, als müsste er seine Unschuld unterstreichen. „Tut euch keinen Zwang an. Wir lassen euch dann mal alleine.“

„Danke nochmal für die Tipps, Kili. Ich werde sie beherzigen.“

„Jederzeit gerne. Na dann, schönen Abend noch.“

„Oh, Mist!“ Marie wirbelte zu Thorin zurück, als sei ihr plötzlich etwas ganz Dringendes eingefallen. „Ich muss noch zu Nyr! Das hätte ich fast vergessen.“ Fragend sahen alle drei Männer sie an. „Ich habe versprochen, dass ich nach ihr und dem Baby noch einmal sehe. Es dauert nicht lange. Ich bin gleich wieder da und dann machen wir es uns gemütlich.“

„Ich komme mit.“

„Was?“

„Was??“, echoten Fili und Kili im Chor.

„Ich komme mit. Ein Spaziergang wird, denke ich, gut tun.“

Marie strahlte über das ganze Gesicht und warf sich gleich erneut in seine Umarmung. „Das hört sich fantastisch an!“

Über Marie hinweg sah er eindeutig, wie Fili etwas erwidern wollte, den Mund jedoch unverrichteter Dinge wieder schloss.

Es war sinnlos, Thorin von irgendetwas abzuhalten, was er sich in den Kopf gesetzt hatte.

 

14

 

 

Meine liebste Anna,

ich habe so viel zu erzählen und kann es kaum in Worte fassen. Erebor ist viel schöner und viel größer, als ich mir es je vorgestellt habe. Ich wünschte sehr, dass ihr bald schon die Schönheit dieser Stadt mit eigenen Augen sehen könnt. Mich hat Erebor von der ersten Minute an verzaubert. Wenn ich in den Hallen unter dem Berge stehe, fühle ich mich schrecklich klein und gleichzeitig erfüllt mich Stolz, Thorin an meiner Seite zu wissen. Nun verstehe ich seine Entschlossenheit und seinen Mut, die er für dieses Land und dieses Volk erbracht hat. Er gibt sich große Mühe, dass ich mich hier schnell zu Hause fühle. In den nächsten Tagen wird er mir alles zeigen. Obwohl ich schon viel gesehen habe, war es nur ein kleiner Teil dessen, was Erebor in Wahrheit ausmacht.

Ich habe die Zwerge, Bilbo und Gandalf wiedergesehen. Allen geht es gut und ich bin unendlich erleichtert darüber. Sie haben nach euch – meiner Familie in Kerrt– gefragt und ich habe alles über euch erzählt. Sie danken euch, dass ihr so gut auf mich achtgegeben habt die vergangenen Monate. Das, was ihr für mich getan habt, vergesse ich nie…

 

Der Stoff des Nachthemdes war federleicht und schmiegte sich schimmernd wie die Oberfläche einer Perle über ihren Körper. Viel zu kostbar für so ein unwichtiges Kleidungsstück, das man nur zum Schlafen trug. Nicht in diesem Leben.

Den Rest der drei engbeschriebenen Briefseiten überflog sie, bis sie auf der letzten angekommen war.

 

Hundert Küsse,

 

Marie

 

Vorsichtig legte sie die Schreibfeder beiseite und seufzte. Diesen Brief zu schreiben hatte ihr viel Kraft gekostet. In der Tinte hatte sie alles verewigt, was Platz in ihrem Herzen brauchte und erzählt werden musste. Wehmut malte ein Lächeln auf ihre Lippen, als sie sich Mels Begeisterung vorstellte, wenn ein sprechender Rabe ihnen den Brief bringen würde.

Im Ofen glühten Kohlen, während draußen der Wind kalt und schneidend um den Gipfel des Erebors heulte, als verfluchte er den immer stärker werdenden Frühling und weinte um seinen gefallenen Bruder, den Winter. Eine Kerze spendete ihr Licht, reflektierte sich orange auf dem Braun ihrer Haare, während ihr Spiegelbild ihr Gesellschaft leistete. Vor ihr auf dem Frisiertisch lag zwischen unbekannten Tiegeldosen, Pinsel und allerlei Schnickschnack für die Haare einer Zwergenfrau eine in Silber gefasste, ganz neue Bürste. Doch diese war für Marie ohne Bedeutung. Sie griff zu der danebenliegenden, der aus Holz und mit groben Borsten - zu ihrer Haarbürste. Vielleicht sollte sie die andere als Geschenk für Anna einpacken. Annas verzücktes Gesicht schwebte bildlich vor ihrem inneren Auge und ließ Marie in sich hinein lächeln. Die Bürste glitt durch ihre Strähnen und verschluckte den Schimmer, um ihn einen Moment später wieder glänzend freizugeben, während ihre Gedanken erneut zu dem Besuch von vorhin zurückkehrten.

Nyr war gezeichnet von der harten Geburt, doch sie hatte gestrahlt über das ganze Gesicht, als sie Marie das Zimmer betreten sah. Dass Thorin ebenfalls gekommen war, um ihr Kind zu sehen, erfüllte nicht nur sie, sondern auch Thanus mit großem Stolz. Es war eine Ehre für sie, den Befreier ihres Landes und totgeglaubten Kriegshelden in ihrem Heim willkommen zu heißen. Sofort wurde Thorin etwas zu Essen und zu Trinken angeboten, was er höflich ablehnte. Mit seinem langen, dunklen Mantel und der Krone auf dem Kopf wirkten die Räume des bescheidenen Hauses noch kleiner und karger, sobald er sie betrat. Zu Maries Erleichterung ging es der jungen Mutter den Umständen entsprechend gut. Nach stundenlangem Zechen stand Thanus zwar etwas schwankend jedoch mit stolzgeschwellter Brust da, als man dem König seinen Sohn in die Arme legte.

Sanft hatte Thorin den schlafenden Tallin auf und ab gewogen und lächelnd auf das Neugeborene geblickt. „Ich heiße Erebors jüngsten Bewohner willkommen.“ Er streichelte die Stirn des Neugeborenen und malte ein Zeichen darauf, welches sie noch nie gesehen hatte. „Möge Durins Esse hell und warm für dich brennen und stets ein Platz an seiner Tafel für dich frei sein.“ Seine Gesten und Worte weckten eine Sehnsucht, so tief verwurzelt wie ein Instinkt, und ließen Marie schmerzlich den dargebotenen Anblick und was er bedeuten könnte realisieren.

Tallin besaß dieselben schwarzen Haare wie Thanus. Dieselben schwarzen Haare wie Thorin. Dieses Kind in seinen Armen… Es hätte genauso gut seines sein können.

Marie erwischte den Gedanken auf frischer Tat und erneut löste er eine Reihe an unterschiedlichen Gefühle in ihr aus. Thorin mit einem Baby in den Armen hatte etwas in ihr ausgelöst, was sie noch nie derart heftig spürt hatte. Ohne, dass sie Einfluss darauf hatte, suchte ihre Hand ihre Leibesmitte.

Ein flacher Bauch. Mehr nicht. Der dünne Stoff ihres Nachthemdes konnte die Realität nicht verschleiern.

Ein Schatten verdunkelte das Licht. Wärme schmiegte sich an ihren Rücken, setzten sie in Brand. Ihre Haare wurden beiseitegeschoben. Stattdessen legten sich große Hände auf ihre Schultern. Küsse auf nackter Haut. Thorin.

Die Sanftheit seines Bartes verschwand und er begann, ihre Schultern zu massieren. „Komm endlich ins Bett, Liebling. Es war ein langer Tag.“

Sie legte die Hand auf seine und brachte ihn so zum Innehalten. Marie drehte sich zu ihm um, blickte zu ihm hinauf. „Bist du glücklich mit mir?“

Irritiert sah Thorin sie an, dann ging er vor ihr in die Hocke. Dass etwas nicht stimmte, spürte er natürlich sofort, als habe er einen sechsten Sinn entwickelt für alles, was sie betraf. Sie konnte unmöglich ihre Gefühle vor ihm geheim halten. „Natürlich bin ich glücklich mit dir. Wieso fragst du so etwas?“

Marie starrte seinen nackten Oberkörper an und fühlte plötzlich Scham wegen ihrer dummen Frage. Doch ihre Befürchtungen waren die letzten Stunden immer lauter geworden, sodass sie nicht mehr totzuschweigen waren. „Hast du je über eigene Kinder nachgedacht?“

Zu ihrer Überraschung entließ er die angehaltene Luft. „Das ist es also“, murmelte er und schob ihr eine Strähne zurück hinters Ohr. „Ist es wegen dem Baby?“

Seit Thorins Rückkehr waren sie oft intim gewesen und natürlich waren noch keine Anzeichen einer Schwangerschaft in Sicht. Dennoch haderte Marie mit ihren Gedanken. „Was ist, wenn ich dir keine Kinder gebären kann?“, sprach sie sie laut aus. „Ich will nicht, dass du es bereust, mich ausgewählt zu haben…“

„Schhh…“ Er nahm ihre Hände und erdete sie. Er war ihr Ruhepol. Ihr Zuhause. Auf einmal waren ihr ihre eigenen Gedanken peinlich, ihre Ängste lächerlich. In so kurzer Zeit konnte sie kein Wunder erwarten. Alles, was sie damit bezweckte, was, sich selbst unter Druck zu setzen. Das Beste würde sein, einfach abwarten und den Dingen ihren Lauf zu lassen.

„Ich bin glücklich, so wie es ist. Ich habe alles, was ich mir gewünscht habe.“

Verunsichert studierte sie sein Gesicht. „Aber…wird das nicht von einem König verlangt, einen Erben zu zeugen?“

Zu ihrer Überraschung lachte er. „Ich habe doch schon einen Erben.“

„Aber Fili ist der Sohn deiner Schwester.“

„Er ist mein Junge“, lautete seine Antwort. „Auch wenn er nur mein Neffe ist, ist er so gut wie mein Sohn. Ich habe ihn als den zukünftigen Herrscher dieses Landes erzogen. Eines Tages wird er meinen Platz einnehmen und König sein. Doch hören wir auf über etwas zu sprechen, was noch in ferner Zukunft liegt. Was ist mit dir, mell nin? Wünscht du dir Kinder?“

„All die Jahre habe ich nie wirklich den Wunsch verspürt. Ohne einen Mann…“, sie zuckte mit den Schultern, als wäre dies Erklärung genug.

„Ich habe nie nach dem Grund gefragt.“ Thorins Hand nahm die ihre. Bei jeder Bewegung sandte sein Daumen kleine Wellen aus Glück über ihre Fingerknöchel, während er nachdenklich ihren Verlobungsring betrachtete. „Wieso hast du diese Entscheidung getroffen? Du hättest als verheiratete Frau ein besseres Leben führen können. Nach dem Tod deiner Eltern wärst du nicht allein gewesen.“

Über seinen Einwand musste sie lächeln. In einem unterschied sich Thorin auch nicht von anderen Männern: alle hielten es für selbstverständlich, dass eine anständige Frau verheiratet sein musste, damit sie glücklich war. „Ich war nie allein. Anna und Mel waren meine Familie. Ich hatte alles, was ich brauchte. Ich war frei und ungebunden. Nur wenigen Frauen wird dies zu Teil.“

„Was ist mit Greg? Hätte er der Richtige sein können?“

Sie machte große Augen. „Wer hat dir davon erzählt?“

„Ich habe es vermutet.“

„Oh.“ Marie stellte sich die beiden Männer nebeneinander vor. Verschiedener hätten sie nicht sein können. „Greg war mehr als ein Freund, das stimmt, aber zu einem Ehemann hat es dennoch nicht gereicht. Eines Tages hat er tatsächlich um meine Hand angehalten.“ Thorins Mund verkniff sich zu einer harten Linie. „Ich habe unsere Beziehung beendet, noch ehe sie richtig angefangen hat. Weil mein Herz Nein gesagt hat. Da war immer noch dieser Funken Hoffnung in mir, dass du irgendwo dort draußen bist und mich ebenfalls nicht vergessen hast.“

„Ich habe dich nie vergessen, Marie.“ Dann schmunzelte er. „Ich bin froh, dass du Nein gesagt hast.“

„Ich auch.“ Sie lächelten einander an. Marie sah auf den funkelnden Ring an ihrer Hand, die immer noch in seiner lag. Wie schnell die Dinge sich ändern können. Noch vor einem dreiviertel Jahr hatte sie nicht ahnen können, welch unglaubliche Wendungen ihr Leben schon sehr bald erfahren sollte.

Thorin machte sie darauf aufmerksam, dass sie ihm noch eine Antwort schuldete. Marie seufzte, fasste sich an die Stirn und warf ihre Haare zurück, bevor sie sich dranmachte, das Gefühlschaos der letzten Stunden zu entwirren. „Ich weiß es nicht. Eigentlich schon, ja. Kinder mit dir wären schön…doch ich fürchte, dass es dafür schon zu spät ist. Bruna hat Recht. Meine Uhr tickt.“

Thorins Kommentar dazu war anderer Natur. „Bruna redet gerne und viel, wenn der Tag lang ist.“

„Aber sie hat Recht. Ich bin längst keine junge Frau mehr.“

„Unsinn.“

„Thorin, weißt du, wie alt ich bin?“

„Und was soll ich sagen?“

Marie verdrehte die Augen. „Bei dir ist das weniger bedeutend.“

„Ich glaube“, fuhr er um einiges ernster fort, „dass dein Alter da weniger mit zu tun hat, Liebling.“

„Denkst du, es funktioniert nicht, weil ich ein Mensch bin?“ Sein Nicken machte ihr klar, wie tief der Wunsch in Wahrheit bereits gewurzelt hatte. Enttäuschung nistete sich in ihrer Brust ein, als ihr schlagartig bewusst wurde, was das bedeutete. Der Zauber hatte nur ihr Äußeres verändert. Ihre unterschiedliche Herkunft hatte er nicht ausradieren gekonnt.

Thorin sah den unglücklichen Ausdruck in ihrem Gesicht und rückte noch ein Stück näher. „Wenn es dein Wunsch ist, dann adoptieren wir eben ein kleines Kind. Oder zwei oder drei. Ganz egal.“

Sie starrte zu ihm herab und konnte es kaum glauben. Thorin wollte ein fremdes Kind zu ihrem eigenen machen? „Würdest du das wirklich tun?“

„Wenn es dich glücklich macht, jederzeit.“

Ihr Herz krampfte sich vor Liebe zusammen. „Oh, Thorin…“ Zärtlich nahm sie seinen Kopf zwischen ihre Hände und betrachtete den Mann vor ihr, der schon so viele Hindernisse in seinem Leben bewältigt hatte und nun bereit war, ihr einen kleinen Wunsch mit einer so großen Bedeutung zu erfüllen.

„Egal, ob es mein eigenes oder ein fremdes Kind letztendlich ist“, sagte er, „das entscheidest ganz allein du. Geb mir Bescheid, wenn du dich dazu bereit fühlst. Denk in aller Ruhe darüber nach.“

„Du ahnst nicht, wie viel mir das bedeutet.“ Sie lehnte sich über seine Schulter und wurde von ihm festgehalten. Von dem Mann, der ihr Leben war.

„Wir werden einen Weg finden, mell nin. Und falls uns eigene Kinder vergönnt bleiben, dann ist es so. Niemand verlangt das Unmögliche von dir.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, als wäre dies ein Siegel, das seine Worte in Stein meißelte.

Einem Einfall folgend sprach Marie ihre Idee laut aus. „Ich kenne ein paar Kräuter, die den Kindersegen beschleunigen können.“ Thorin erhob sich und sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihn weiterhin ansehen zu können.

„Ober wir versuchen es auf die Zwergen-Art-und-Weise.“

„Und die wäre?“ Marie konnte so schnell gar nicht gucken, wie er sie gepackt und sich über die Schulter geworfen hatte. Sie kreischte und strampelte mit den Beinen ohne den Hauch einer Chance. Machtlos versuchte sie ihr Nachthemd zu Recht zu schieben, um das Nötigste zu verdecken. Mit einem wölfischen Grinsen und einem hübschen Blick auf ihre Kehrseite trug Thorin sie zum Bett hinüber und warf sie zwischen die Kissen.

 

~

 

Ihre Haut strahlte aus der Dunkelheit wie Alabaster, ihre Hüften rieben sich auf der Mitte seines Körpers, feuchtes Fleisch hielt in ihrem Besitz. In der Stille war ihr beider Atem zu hören, keuchend vor Lust. Das leise Stöhnen aus ihrem Mund war wie Musik für seine Ohren. Seine Hände glitten ihre Schenkel hinauf und legten sich auf ihren Hintern, griffen in das willige Fleisch, drückten sie tiefer, damit sie alles von ihm nahm. Marie öffnete den Mund, ihr Kopf kippte nach hinten, die Augen geschlossen für einen Moment des völligen Glücks. Sie beugte sich zu ihm herab und küsste ihn.

„Mach weiter.“ Sie gehorchte. Die Hügel ihrer Brüste wippten im hereinbrechendem Mondlicht so einladend über ihm, dass er nicht anders konnte als sie zu streicheln und zu drücken. Als er in eine rosige Warze kniff, jauchzte sie vor Wonne und Schmerz. Das ließ ihn lächeln. Seine rechte Hand schob sich unter eines der Kopfkissen und griff nach etwas, was dort versteckt war. Thorin lächelte immer noch, als er den Arm hochriss. Sie erkannte die Gefahr erst, als die Spitze der Klinge ihren Brustkorb durchstieß. Den Körper durchzuckte es. Ungläubig starrte Marie auf den Knauf des Messers, das ihr bis zum Heft im Körper steckte. Dann starrte sie Thorin an. Ein Rinnsal aus Blut lief zwischen den Brüsten der Frau hinab, bis es schließlich warm auf seinen Bauch tropfte. Gurgelnde Laute entwichen ihrem Mund, als sie zu sprechen versuchte. Blut quoll der sterbenden Frau über die Zunge. Er richtete sich auf, packte ihren erschlaffenden Körper und leckte ihr das Blut aus dem Mundwinkel.

Schlaft gut, Eure Hoheit.“

Der Aufprall drückte Thorin jegliche Luft aus den Lungen. Schmerz jagte sein Rückgrat hinauf bis in seinen Schädel, während sein Innerstes von Pein zerfressen wurde. Am Fußboden windend versuchte er die letzten Bilder dessen loszuwerden, was er gesehen hatte. Der Schluchzer steckte ihm in der Kehle fest, als er ausspuckte, seinen Mund rieb, um den Blutgeschmack loszuwerden, der erschreckend echt auf seiner Zunge lag. „Warum tust du das?!“ Er schlug heftig mit der Faust auf den Steinboden. „DU MONSTER!!“

„Thorin!“ Hinter ihm raschelten Decken und Kissen. Marie hatte sich im Bett aufgesetzt. Nur ein Trick. Alles nur ein scheiß Trick.

Er rappelte sich auf, tastete sich in die Richtung vor, in die er die Tür vermutete. Er musste so schnell wie möglich raus hier, ehe er…

„Du hast es versprochen.“

Ihre Stimme nagelte ihn auf der Stelle fest. Obwohl er wusste, dass es nicht echt gewesen war, musste er weg von diesem Schauplatz des Grauens. Er wollte nicht mehr daran erinnert werden, wie es sich angefühlt hatte, als das Messer zwischen ihren Knochen hindurch in ihren Körper stieß. Er wollte ihren geschockten Gesichtsausdruck nicht mehr vor Augen haben. Ihr Blut nicht mehr schmecken. „Ich kann nicht. Ich…“ Eine Träne lief ihm über das Gesicht.

Du bist ein jämmerlicher Wurm, Eiccchenschild. Du kannst mich nicht ignorieren!

„Folge meiner Stimme, Liebling.“

Sssieh es ein, du kannst deine kleine Freundin nicht vor mir fernhalten! Beenden wir unser Spielchen. Ergib dich endlich!

„Marie, bitte…“

„Komm zurück zu mir. Finde mich.“

Der Drache knurrte erbost, als Thorins Füße ihn zurück zu der wartenden Frau brachten. Wie eine Motte in der Dunkelheit zog es ihn zu seinem Licht hin, obwohl Schwärze durch seine Venen kroch und das Raubtier sein Herz vor Zorn in tausend Fetzen riss.

„Finde mich.“ Ihr Nachthemd erschien vor ihm. Er streckte die Hand nach ihr aus, spürte Wärme. Zärtlich zog sie ihn zu sich hinab.

Marie bettete ihn in ihre Arme, legte die Decke über ihn. „Es war nur ein Traum. Ich bin hier.“ Wie bei einem frierenden Kind strich sie ihm über den Körper, fuhr ihm immer wieder durchs Haar. „Schlaf weiter.“

Thorin rollte sich zusammen, machte sich so klein wie er konnte, damit sie seine Tränen nicht bemerkte und das Monster ihn in Ruhe ließ.

 

15

 

 

Marie hielt das Ohr an die geschlossene Tür und lauschte mit klopfendem Herzen dem Stimmengemurmel. Es mussten Hunderte sein, die sich an diesem Morgen auf den Emporen der Thronhalle versammelt hatten, um der Audienz ihres Königs beizuwohnen und einen Blick auf diese Menschenfrau erhaschen zu können, die ihr König eigenhändig nach Erebor gebracht hatte und die durch einen Zauber genauso aussehen soll wie eine Zwergin. Marie musste nicht Mäuschen spielen, um zu sehen, dass die Plätze auf den Emporen gerammelt voll waren. Natürlich waren alle gekommen, die noch einen Platz ergattern konnten. Es war so klar wie Kloßbrühe, dass sie die Hauptattraktion war.

Erneut warf sie einen Blick zurück zu Kili und Fili, die im Gespräch mit Balin vertieft waren. Für diesen Anlass hatten die beiden edel aussehende Kettenrüsten gewählt. Die Kettenreihen von Kilis Panzerung waren golden, der gestärkte Stoff nachtblau. Seine Haare hatte er zu einem Zopf gefasst, sein Bart, stoppelig wie immer, obwohl Marie sich einbildete, dieser wäre etwas länger als noch vor ein paar Monaten. Sein blonder Bruder trug eine dunkle Rüste mit einer dunkelgrünen und schiefergrauen Panzerung, bestehend aus Plättchen und Rauten. An den Säumen und an seiner Kapuze zierte sie eine schmale, schwarze Fellkrempe. Balin hielt einen Zepter ähnlichen Stab in der Hand. Sein Bart strahlte vor dem purpurroten, bodenlangen Mantel wie Schnee. Ab und zu sah Marie Ori durch die Zimmer wuseln, mal beladen mit Schriftrollen, mal schleppte er Bücher und Federkiele hin und her.

Kili blickte zu seiner Tante herüber und zwinkerte ihr zu. Im Gegensatz zu ihr schienen die Jungs nicht aufgeregt zu sein, obwohl sie selbst noch nie an einer offiziellen Audienz ihres Königs teilgenommen haben mussten. Marie versuchte zu lächeln und rief sich Kilis Tipps nochmal ins Gedächtnis. Aufrecht stehen. Kopf gerade. Ein wenig lächeln. Das kriegst du hin.

Sie überlegte, ob sie sich noch schnell ein Buch holen könnte, um etwas an ihrem Gang zu üben. Diese Räumlichkeiten an der Rückseite des Thronsaals, so hatte Fili ihr erzählt, waren Besprechungszimmer und Aufenthaltsräume für Gäste. Auf dem Flur standen daher kleine Sitzgelegenheiten. Bedienstete huschten umher, um es den Wartenden so angenehm wie möglich zu machen. Man bot ihr etwas zu trinken an und servierte kleine Häppchen gepudertes Gebäck. „Vielen Dank.“ Marie nahm sich so eines, damit ihr rebellierender Magen Ruhe gab, und steckte sich das süße Gebäck in den Mund.

Hoffnungsvoll sah sie zwischen den Männer hindurch den Flur hoch und schleckte den Puderzucker von ihren Fingern. Wo blieb Thorin bloß? Sie hatte ihn an diesem Tag noch nicht zu Gesicht bekommen. Die Betthälfte neben ihr war verlassen gewesen, als Piljar sie in der Früh weckte. Thorin hatte zu dem Zeitpunkt schon Vorkehrungen für den Tag getroffen, hieß es. Als kleine Aufmerksamkeit hatte er ihr ein mit Blumen dekoriertes Frühstück ans Bett bringen lassen. Für die schönste Frau der Welt stand in seiner Handschrift auf einem beigelegten Kärtchen.

Wenn er doch nur schon hier wäre. Sie nahm einen tiefen Atemzug gegen die Aufregung, nur um danach zum gefühlten fünften Mal den Sitz ihres Kleides zu überprüfen, froh darüber diesmal nicht verschnürt worden zu sein.

Bei der Stimme ihres Verlobten blickte sie erleichtert auf. Unter raumgreifenden Schritten bauschte sich sein Mantel auf, während die blitzblanken Kettenreihen seiner Rüste genauso schwarz schimmerten wie das Obsidian der Krone, an deren Ecken und Kanten das Licht von den Kerzenhalter an den Wänden reflektiert wurde. Seine eindrucksvolle Erscheinung in gold und schwarz zog Marie ehrfurchtsvoll in ihren Bann. Thorin war der König, der er schon immer sein sollte.

Als sein Blick auf Marie fiel, stoppten seine Beine für eine Sekunde. Ohne sich etwas von seinem inneren Kampf anmerken zu lassen, beschleunigte er seine Schritte, grüßte seine Neffen im Vorbeigehen und war im nächsten Augenblick bei ihr. „Mylady.“ Als seine Lippen die ihre berührten, konnte er ihr Lächeln spüren. Es war wie pures Gift für ihn.

„Guten Morgen. Ich wollte schon einen Suchtrupp losschicken.“

Ihrer Neckerei verfehlte ihre eigentliche Wirkung. Mit kalter Stimme stellte er fest: „Du trägst die Kette.“

„Du wolltest sie doch an mir sehen, schon vergessen?“

„Du siehst bezaubernd aus.“ Sein Kompliment bewirkte, dass eine zarte Röte ihre Wangen streifte und sie ihren Einwand vergaß.

„Findest du?“ Wie ein kleines Mädchen strich sie verlegen über den Stoff ihres Kleides und drehte sich hin und her. „Es ist etwas…zu viel für meinen Geschmack. Und zu lang.“

„Es ist perfekt“, beharrte Thorin und zwang seine Augen ihre Gestalt auf und ab, nur um etwas anderes anzusehen als die funkelnden Steine, die ihren Hals schmückten. Man hatte irgendetwas mit ihrem Gesicht gemacht. Ihre Wimpern schienen voller zu sein, ihre Augen größer und ihre Lippen waren so rosig, dass sie einen Mann zum Küssen verführen konnten. Das Oberkleid aus einem fließend leichten Stoff war in einem lieblichen rosa gehalten, und passte zu dem kräftigen Braun ihrer Haare, die man in einer Flechtkunst nach hinten gebunden hatte, wo sie in lockeren Zöpfen auf ihrem übrigen Haar lagen. Traditioneller Haarschmuck war detailverliebt in den feinen Zöpfen und in die Strähnen eingearbeitet, die nach vorn über ihren Schultern lagen. Unter der Brust öffnete sich das Oberkleid und enthüllte aus Silberfäden gestickte Ranken auf dem darunterliegenden, elfenbeinfarbenen Unterkleid. Ein reichverzierter Silbergürtel taillierte den lockeren Stoff. Ebensolcher Schmuck war auf ihren nackten Schultern drapiert und hielt alles an Ort und Stelle. Die Stofflagen umspielten ihren Körper, während sie gleichzeitig ihre Schultern und Arme freiließen und so anmutig Haut zeigten. Es war nicht zu viel und nicht zu wenig und gerade richtig nach seinem Geschmack, um einen bleibenden Eindruck bei seinem Volk zu hinterlassen. Das Collier wurde eindrucksvoll von dem verträumten Kleid in Szene gesetzt. Und genau das war das Problem.

„Du hättest das Spektakel heute Morgen miterleben müssen“, erzählte Marie und blies die Wangen auf bei dem Gedanken an das Schlachtfeld, das ihr Gemach in den Morgenstunden gewesen war. Tara, Mim, Piljar und zwei weitere Zofen, die Marie noch nicht kannte, waren wie emsige Bienen durch ihr Schlafzimmer geflogen. Überall hatten Sachen herumgelegen. Der extra für diesen Anlass herbeigerufene Schneider war ein netter, kleiner Mann mit Glatze, gezwirbeltem Schnauzbart und buntem Gehrock, der immer etwas zu erzählen hatte und kaum seine Finger stillhalten konnte. Meister Falo und seine Helferinnen hatten kistenweise Kleider dabeigehabt und Marie vor die schier unlösbare Aufgabe gestellt, sich für ein Kleid zu entscheiden. Jedes war seiner Meinung nach „wunderprächtig“ und „absolut hinreißend“. Zu ihrer Überraschung aber stellte sich Falo als wahrer Zauberer heraus. Er hielt ihr einen Stofffetzen an den Körper und während er schon das fertige Kleid vor seinen Augen sah, sah Marie bloß ein lebloses Stück Stoff. Als sie allmählich den Überblick verlor, kam ihr Tara zu Hilfe und bat Falo, sie zu überraschen. Und das tat er auch. Als Marie nach gefühlten Stunden auf dem Hocker das fertige Kleid im Spiegel sah, war sie sprachlos.

„Thorin, stell dir vor“, flüsterte sie ihm hinter vorgehaltener Hand zu, „ich trage Schminke! Ist das nicht unglaublich?“, und klimperte übertrieben mit den Wimpern, damit er es sah.

Ich auch, hätte er fast erwidert, konnte aber seine Antwort gerade noch runterschlucken. Er freute sich wirklich für sein Mädchen, dass er ihr mit Meister Falo eine Freude gemacht hatte. Es kam zu dem Unvermeidlichem. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als Marie näher kam. Er starrte ihre Nasenspitze an, um keinen Zentimeter tiefer zu rutschen.

Sie strich über seine Rüste und zupfte an einem imaginären Fussel. „Wie geht es dir, Liebling?“ Ihre Hände verharrten auf seiner Brust, in der es zu glühen begann.

Er schluckte gegen das finstere Gefühl an, dass sich erneut in seinem Blut aufpuschte. „War schon mal besser.“ Ihre grünen Augen blickten besorgt zu ihm auf. Er setzte dem ein Ende. „Komm, lassen wir sie nicht länger warten.“ Thorin gab den anderen einen Wink und stellte sich neben ihr vor die geschlossene Tür.

Marie legte ihre Hand auf seinen dargebotenen Arm und griff mit der anderen in ihren Rock wie man es ihr gezeigt hatte. „Lass uns darüber reden. Bitte.“

„Es war nur ein Albtraum, Marie. Nichts weiter.“

Sie presste den Mund aufeinander. Die Türen wurden geöffnet.

Augenblicklich verstummte das Stimmengewirr. Marie sah die Thronhalle sich vor ihnen öffnen und ihr Herz rutschte ihr endgültig in den Magen. Für einen Rückzieher war es zu spät. Thorin setzte sich in Bewegung und sie musste ihm folgen – ihre Rolle an der Seite eines Königs einnehmen. Außer ihrem Pulsschlag konnte sie im ersten Moment kaum etwas anderes wahrnehmen. Als sie die Plattform erreichten und sie am Thron vorbei die ganze Halle hinabsehen konnte, machte sie den Fehler und schaute nach oben. Als sie die Massen sah, die sich auf den Emporen rundherum versammelt hatten, schwindelte es ihr. Hunderte Augenpaare waren auf sie gerichtet. Leise murmelte es über ihren Köpfen.

Nicht stolpern. Bloß nicht stolpern. Ihre Hand hielt krampfhaft den Stoff ihres Kleides. Thorin umrundete den Thron und führte sie zu dem eigens für diesen Tag aufgebauten Stuhl, den man direkt daneben platziert hatte. Marie fluchte innerlich, als sie realisierte, dass sie sich jetzt hinsetzen musste. Wieso musste dieses Kleid so lang sein? Sie versuchte, sich so zu drehen, wie man es ihr gezeigt hatte, um möglichst elegant dabei auszusehen. Doch Falo hatte es gut mit ihr gemeint; der Stoff war so leicht, dass er wie ein treuer Gefährte ganz von selbst an die richtige Stelle fiel. Mit einem großem Dankeschön an den ulkigen Schneider im Geiste ließ sich Marie mit Knien weich wie Pudding auf dem reich verzierten Stuhl nieder. Währenddessen schwang mit einer eleganten Drehung ihr Verlobter seinen schweren Mantel herum und ließ sich mit kühler Würde auf seinem Thron nieder. Marie beneidete ihn.

Zu ihrer Überraschung griff er zu ihr herüber, legte seine Hand auf die ihre und löste so ihren Griff um die Armlehne. „Der arme Stuhl“, raunte er und schenkte ihr mit seinem Schmunzeln ein Stück Sicherheit. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie das Holz erwürgte. Marie lächelte und erlaubte es sich, tief durchzuatmen.

Auch Thorin atmete durch – wenngleich aus einem völlig anderen Grund. Zu seinem Leidwesen hatte er bemerkt, dass der Arkenstein über ihren Köpfen die Edelsteine der Lasgal-Kette noch eine Spur mehr strahlen ließ. Er hätte sie bitten sollen, sie abzulegen, doch das hätte ihn verraten, dass etwas nicht stimmte.

Hübsch, nicht wahr?, hallte die Stimme des Drachen hämisch.

Halt die Klappe! Thorin zwang vorerst seine Aufmerksamkeit von der Frau an seiner Seite weg und konzentrierte sich auf das, was um ihn herum geschah. Zu seiner Rechten hatten sich seine Neffen ebenfalls auf ihre Stühle niedergelassen, die er vorsorglich aufstellen lassen hatte. Als Prinz hatte Thorin schon einige Audienzen von seinem Großvater beigewohnt und sich innerlich schon auf einige Stunden Arbeit eingestellt.

In diesem Moment schaute Fili zu ihm herüber und ließ seine Gedanken durch seine Augen zu ihm sprechen. Alles in Ordnung, versuchte er seinem Jungen still zu übermitteln. Schon die ganze Zeit musste er sich zwingen, nicht in seinem Gesicht herumzutasten. Niemand hatte ihn bis jetzt darauf angesprochen. Die Schminke musste also ihren Zweck erfüllen. Auf seine Bitte hin hatte Piljar ihm die Schatten im Gesicht übergepudert, die die letzte Nacht hinterlassen hatte. Seine alte Zofe hatte geschimpft wie ein Rohrspatz, dass er nicht gesund aussah und ihm empfohlen, die Audienz abzusagen und sich stattdessen aufs Ohr zu legen.

„Ich bin froh, dass Ihr Euch Sorgen um mich macht, Piljar. Eine ruhelose Nacht ist jedoch nichts, was mich aufhalten könnte, meine Pflichten zu erfüllen.“ Puff!, haute sie ihm die nächste Ladung ins Gesicht.

Angeekelt versuchte er, dem Zeug zu entkommen. „Wie viel denn noch?“

Wie eine Mutter ihren ungezogenen Jungen hielt Piljar ihn am Kragen fest. „So haltet gefälligst still! Ich gebe mein Bestes, Mylord. Diese Augenringe sind nun mal sehr dunkel.“ Mit einem Schwämmchen bearbeitete sie sein Gesicht als wollte sie ihm Dellen hineinschlagen.

„Ich bin schon viel zu spät dran…“

„Mylord…“, hob sie warnend die Stimme. Widerwillig ergab er sich. Nach einer schieren Ewigkeit stemmte die rüstige Frau die Hände in die Hüften und musterte sein Gesicht von allen Seiten. „Ich bin nicht so geschickt wie Mim, aber das müsste reichen.“

Thorin kontrollierte sein Aussehen im Spiegel und war überrascht von dem, was er sah – oder besser gesagt, nicht mehr sah. Er fuhr wieder zu Piljar herum. „Zu niemandem ein Sterbenswort.“

Vorwurfsvoll sah die Zofe ihn an. „Ich muss doch sehr bitten…“

„Ihr seid ein Schatz, Piljar.“ Er drückte der verdatterten Zwergin einen Kuss auf die Wange, bevor er davon eilte, um noch rechtzeitig am Thronsaal zu sein. Piljar hatte zwar die Schatten unter seinen Augen wegschminken können, die Risse in seinem Herzen konnte niemand so schnell heilen.

Er hatte gewartet, bis er sicher sein konnte, dass Marie schlief. Dann hatte er sich aus dem Zimmer geschlichen und die restliche Nacht auf dem Sofa verbracht. Seine Suche nach etwas Schlaf war vergeblich gewesen und so hatte er wach gelegen bis es Zeit war, aufzustehen.

Thorin wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Balin sich vor dem Thron positionierte und zu ihm herüber sah, wartend auf sein Zeichen. Der König Erebors nickte seinem Berater zu. Dreimal pochte Balin mit dem Stab auf das Felsmassiv und das Stimmengemurmel verstummte. Die Audienz war offiziell eröffnet.

Als Balin den Ersten beim Namen rief, wurde seine Stimme weit durch die Hallenschiffe getragen. Die riesigen Türen am anderen Ende öffneten sich und ließen einen Mann eintreten. Vor den zwei Stufen zum Übergang der Plattform blieb er schließlich stehen und verbeugte sich vor der Königsfamilie. Nun sah man seine einfache Kleidung, bei der noch versucht wurde, den Dreck der Straßen auszubürsten.

Marie beobachtete, wie Thorin reagierte. Mit kühler Gelassenheit nickte ihr Verlobter dem Mann zu, die Jungs blieben reglos, daher entschied sie sich ebenfalls still sitzen zu bleiben und Augen und Ohren offen zu halten. Als der Mann jedoch in Khuzdul zu sprechen begann, machte er ihr einen Strich durch die Rechnung.

Der König hob die Hand und der Hereingebetene hielt mitten im Satz verunsichert inne. „Ich bitte Euch, in der Gemeinen Zunge zu sprechen – sofern Ihr dazu fähig seid. Meine Verlobte muss erst noch unsere Sprache erlernen. Ich möchte sie nicht ausschließen. Sprecht, damit wir alle Euer Begehren verstehen. Dasselbe gilt für alle, die hier und heute sprechen!“ Das Gemurmel über ihren Köpfen wurde minimal lauter. Der Blick des Zwerges huschte zu Marie. Diese versuchte ihm aufmunternd zu zunicken, während sie spürte, wie Hitze ihr ins Gesicht schoss.

„Nun, meine Sprache ist nicht die beste“, fuhr der Mann mit starkem Akzent fort. „Ich werde versuchen, mich so gut es geht auszudrücken. Verzeiht mir, Uzbada.“

Als hätte jemand ihr einen kleinen Stoß im Geiste gegeben, spürte Marie, dass sie etwas sagen musste. Damit ihre Stimme nicht ins Stolpern geriet, räusperte sie sich vorsichtshalber noch einmal - etwas, was ihr Kili ebenfalls geraten hatte. „Ich danke Euch für Eure Mühe.“

Von rechts kam keine Reaktion. Fili zeigte ihr aber schnell den Daumen nach oben. Auch der Mann vor ihnen schien beruhigt zu sein und begann nun, den Grund seines Vorsprechens zu erläutern. Unweit von Balin saß Ori an einem kleinen Schreibpult und schrieb alles in einem Protokoll nieder.

Bereits vor dem Drachenangriff wohnte die Familie Steinbrecher in Erebor, doch er und seine Frau waren erst vor zwei Tagen in Erebor mit einem Rucksack und dem eingetroffen, was sie am Körper trugen. Als er sein altes Heim wieder beziehen wollte, musste er feststellen, dass eine andere Familie bereits dort eingezogen war. Marie verstand die Problematik: es galt also darüber zu urteilen, wem das Haus und all sein Inventar rechtmäßig gehörte. Doch während sie noch überlegte, wie sie dieses Problem lösen würde, hatte Thorin sich bereits gedanklich in den Fall eingearbeitet.

„Ich kann Euch nicht verwehren, das zurückzufordern, was rechtmäßig Eurer Familie gehört. Es handelt sich jedoch nur um ein einfaches Wohnhaus, dessen Besitz Ihr beansprucht.“

„Aber es ist das Eigentum meiner Eltern gewesen! Wir bewohnten es schon seit Generationen“, protestierte der Mann, dessen langer Zopf hinter seinem Rücken hin und her schwang. Ein strenger Blick seines Königs zügelte ihn. Thorin fragte, ob er schon eine neue Tätigkeit gefunden habe, was jedoch unglücklich verneint wurde.

„Was habt Ihr gelernt?“

Diese Frage überraschte den Zwerg. Zuerst aber musste er nach dem richtigen Wort suchen. „Wagen… bauen.“

„Stellmacher?“ Ein eifriges Nicken folgte und in Thorins Gedanken verknüpfte sich eine Information mit einer anderen. „Ich möchte ehrlich zu Euch sein. Ich werde keine Familie aus einem Haus vertreiben, welches sie zu ihrem Heim gemacht hat.“ Die Hoffnung im Gesicht des Herrn Steinbrechers zerfiel zu Staub. „Genauso wenig werde ich Euch unverrichteter Dinge wieder fortschicken. Deshalb mache ich Euch ein Angebot.“ Der Saal horchte auf. „Ich bin mir sicher, ich habe kürzlich von einer noch unbewohnten Stellmacherei gehört. Drüben im Westviertel. Balin?“

„So ist es“, pflichtete ihm sein Berater bei. „Zudem liegt eine Wohnstube direkt darüber.“

„Hat schon jemand Anspruch darauf erhoben?“

„Nein, Mylord.“

Zufrieden mit seinem aufgegangenen Plan wandte sich Thorin zurück an den wartenden Zwerg. „Wie klingt das für Euch? Ihr hättet nicht nur ein neues Heim, sondern auch eine Perspektive für die Zukunft. Natürlich steht Euch darüber hinaus eine Entschädigung zu, da Ihr auf Euer Recht verzichtet musstet. Jedem aus Eurer Familie werde ich zweihundert Goldmünzen zukommen lassen. Ori, stell ihm bitte eine Quittierung aus und sorg dafür, dass ihm im Anschluss der Schadensersatz ausgezahlt wird. Ich hoffe, dass damit die Sache erledigt ist. Nehmt Ihr mein Angebot an?“

Während dem Mann die Augen aus dem Kopf zu fielen drohten, hörte der Zwergenkrieger den Drachen angesichts der Tatsache fauchen, dass man sich großzügig an seinem Schatz bediente. Mit aller Macht versuchte Thorin, dass Drücken und Zwängen in seiner Brust auszublenden, und die Bestie allein durch die Kraft seines Willens zum Schweigen zu bringen. Als der Mann vor ihm auf die Knie sank, musste Thorin sich zur Ruhe zwingen.

„Ich bin nur ein einfacher Mann… Mein König, Ihr habt meiner Familie und mir all unsere Sorgen genommen. Wir sind Euch zu tiefstem Dank verpflichtet.“

Thorin lächelte besonnen. „Nutzt die Chance für einen Neuanfang. Ihr dürft gehen.“

Abermals verbeugte sich der Mann vor ihm und dann auch noch einmal vor Marie, ehe er zu Ori hinüber ging. Nachdem die Formalitäten geklärt waren, verließ der nun nicht mehr Heimatlose unter weiteren Verbeugungen die Thronhalle.

„Das war Nummer Eins“, seufzte Thorin, als der Zwerg außer Hörweite war, und erntete von seiner Verlobten ein zufriedenes Lächeln. „Wenn doch nur alle Probleme so einfach zu lösen wären.“ Er setzte sich gerader hin und gab Balin das Zeichen, den nächsten hereinzubitten.

Etliche Zwerge warteten an diesem Morgen, um ihr Begehren ihrem König vorzutragen. Mal handelte es sich um Lappalien, manchmal steckten festgefahrene Diskussionen unter Streithähnen dahinter, die einige Zeit in Anspruch nahmen. Stunden vergingen. Nicht immer konnte Thorin die Erwartungen der Bittenden erfüllen. Manches Mal hatte es sogar den Anschein, als wollte man den neuen König auf die Probe stellen. Marie stellte fest, dass Thorin immer einen Weg zu finden versuchte, mit dem alle Beteiligten zufrieden sein konnten. Außerdem schlussfolgerte sie, dass sich die Zwerge vor der Audienz anmelden mussten, damit sie aufgerufen werden konnten. Das ließ sie dem Moment entgegenfiebern, wenn Balin den Name einer gewissen Hebamme verkündete. Wie lange müsste sie noch auf heißen Kohlen sitzen und ihren zurechtgelegten Text überdenken? Würde sie es schaffen, respektiert zu werden? Bei der nächsten Gelegenheit musste sie eine Möglichkeit finden, Ori zu fragen, wie viele Namen er noch auf der Liste stehen hatte, damit das Warten endlich ein Ende hatte.

Nachdem Thorin ein paar Zwerge in hohe Ämter berufen hatte, erschien eine kleine Gruppe von Frauen als nächstes. Zu ihrer Überraschung hatten alle kleine Körbchen dabei. Bei ihrem König angekommen knicksten die herausgeputzten Damen sittsam.

„Euer Gnaden, wir wollen Eure kostbare Zeit nicht aufhalten“, begann die ältere, kugelrunde Zwergin in der Mitte sogleich. „Wir sind wegen Euch gekommen, Mylady.“

Wie eine Kuh vor dem Scheunentor starrte Marie zurück. „Wegen mir?“, rutschte ihr plump heraus.

Ein Dauerstrahlen lag auf den Gesichtern ihr gegenüber. „Aber ja, Mylady. Wir haben schon so viel von Euch gehört! Es ist uns eine Ehre, Euch persönlich unsere Aufwartung zu machen und Euch diese kleinen Willkommensgeschenke zu überreichen.“

Ihrem Bauchgefühl folgend erhob sich Marie von ihrem Platz, ohne vorher nach rechts zu schauen, und stieg zu den Frauen hinab, die sich sogleich um sie scharrten und ihr begeistert den Inhalt ihrer Körbe präsentierten. Kleine Gläser Marmelade, ein buntes Schultertuch und Sträuße aus Wildblumen kamen zum Vorschein. „Es ist nichts Besonderes, Mylady“, sagte eine der Frauen, als müsste sie sich rechtfertigen, „aber wir haben alles selber gemacht.“

„Nicht doch, es ist wunderhübsch.“ Maries Freude über die kleinen Willkommensgeschenke war nicht gespielt. Die Gesten der Frauen berührten sie. „Wie lieb von euch. Das bedeutet mir viel.“

„Verzeiht mir meine Neugierde, aber stimmt das, was man sich erzählt? Habt Ihr das Kind von Thanus Hammerschlag auf die Welt geholt?“ Plötzlich redeten die aufgeregten Frauen alle durcheinander. Auch oben auf den Emporen wurde das Gemurmel deutlich lauter.

Kaum von Marie bejaht regneten Lobensbekundungen auf sie ein. „Wie selbstlos von Euch!“ Ein entschiedenes Räuspern ihres Königs ließ die plappernden Frauen wie eingeschüchterte Schafe zusammenhuschen.

„Ich danke Euch im Namen meiner Verlobten“, richtete Thorin das Wort an die Gruppe. Zwei Bedienstete erschienen und nahmen die Gaben entgegen. Mit einem Blick zur Seite gab Thorin seiner Verlobten zu verstehen, dass es Zeit war, sich wieder zu setzen.

„Nein, wir haben zu danken.“ Noch ein Knicks, dann wackelten die Frauen aufgeregt schwatzend von Dannen.

Marie setzte sich wieder. „Wie mache ich mich bis jetzt?“

„Für eine blutige Anfängerin gar nicht mal so übel. Du bist liebenswürdig und das gefällt ihnen. Doch die eigentliche Herausforderung kommt erst noch, mell nin, denk dran.“

Ihre Antwort troff nur so von Galgenhumor. „Danke, dass du mich daran erinnerst. Ich hätt es fast vergessen.“

Thorin fasste nach ihrer Hand und hob sie für einen Kuss an seinen Mund. „Keine Angst. Ich bin gleich hier drüben, falls du mich brauchen solltest.“

„Wie heldenhaft…“

„Tauriel aus dem Grünwald!“

Balins Ankündigung spitze sämtliche Ohren. Die Augen eines jeden Anwesenden richteten sich auf die Frau, die nun den Thronsaal betrat. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass Marie eine Elbe zu Gesicht bekam. Anmutig und schön sollen sie sein, so erzählt man, und außerdem so langlebig, dass sie beinahe die Unsterblichkeit berührten. Letzteres konnte Marie nicht beurteilen – anmutig und schön war Tauriel jedoch alle Mal.

Elbische Ohren schauten unter ihrem kupferroten Haar hervor, das so lang war, dass es ihr bis über den Steiß reichte. Ihre Schritte waren leichtfüßig, als ob sie über den freilaufenden Weg schweben würde. Die enganliegende Kleidung ihres Volkes in verschiedenen Grün- und Brauntönen war perfekt angepasst an ein Leben im Einklang des Waldes. Das Gemurmel schaukelte sich immer lauter hoch, sodass Balin schließlich mit seinem Stab pochen musste.

„Eure Hoheit.“ Die hochgewachsene Frau fiel in eine steife Verbeugung. Als sie aufblickte, huschten ihren Augen für den Bruchteil einer Sekunde zur Seite. Marie folgte ihrem Blick und sah zu ihrer Verwunderung wie Kili die Elbe mit aufeinandergepressten Kiefern anstarrte.

„Tauriel“, erklang die Stimme des Königs, freundlich aber deutlich kühler als bei den vielen Bittenden seines Volkes zuvor. „Was führt Euch zu mir?“

„Mylord, ich trete heute zu Euch, um Euch für meinen Aufenthalt in Eurem Reich zu danken. Hier sein zu dürfen hatte eine große Bedeutung für mich.“

„Hatte?“

„Ich werde Erebor in drei Tagen verlassen.“

Fili hielt seinen Bruder am Ärmel fest, als dieser sich regen wollte.

Einen Moment lang beobachtete Thorin die Elbe, ob sie noch etwas durch ihre harte Schale sickern ließ. „Darf ich fragen, wieso?“

„Ich bekam einen Brief, in dem man mich bat, ins Waldlandkönigreich zurückzukehren, um über meine Verbannung neu zu entscheiden.“

„Und wie habt Ihr diesen Brief erhalten?“

„Über den gewöhnlichen Postverkehr, Mylord. Eure Briefträger hatten das an mich adressierte Schreiben bereits geöffnet“, antwortete sie ihm trotz allen Umständen höflich.

Thorin schwieg dazu, machte sich aber im Geiste eine Notiz, dass die Überwachung der Elbe auch in diesem Punkt geklappt hatte. „Nun, wenn Ihr gehen wollt, wird Euch niemand aufhalten. Euch steht es frei Erebor zu verlassen. Ich wünsche Euch alles Gute.“

„Vielen Dank, Euer Gnaden.“ Sie verbeugte sich ein zweites Mal und machte auf dem Absatz kehrt.

„Kili, reiß dich zusammen…“, zischte Fili und versuchte, seinen Bruder zum Bleiben zu zwingen. Ein scharfer Blick von ihrem Onkel und die Brüder nahmen sich zusammen.

Marie war noch dabei, die letzten zwei Minuten sacken lassen, da lehnte Thorin sich schon wieder zu ihr. „Gleich ist es so weit.“

„Was? Jetzt schon?“

„Findest du nicht, dass ich sie lange genug hab warten lassen? Sie stehen sich seit heute Früh die Beine in den Bauch. Das sollte sie so kooperativ wie möglich machen.“

Mit der Wucht eines Faustschlags kehrte die Nervosität zurück und bescherte ihr ein flaues Gefühl im Magen. Ich kann das nicht... Die Namen wurden aufgerufen und Marie hatte keine Chance mehr, ihre Entscheidung rückgängig zu machen: begleitet von einem älteren Mann erschien die Hebamme.

Favli sah genauso schmierig aus wie bei ihrem ersten Aufeinandertreffen. Marie erschrak, als sie den Hass in den Augen der Frau sah, der allein ihr galt. Die Frau, die beinahe fürchterliches Unheil über Thanus kleine Familie gebracht hatte. Als der kleine Tallin vor ihrem inneren Augen auftauchte, verschwanden die Gedanken des Scheiterns. Stattdessen gab die Erinnerung an ihre Pflicht für dieses Volk ihre Entschlossenheit den nötigen Funken. Plötzlich musste Marie an all die Male denken, in denen sie sich wünschte, vom Erdboden verschluckt zu werden.

Warst du ihnen nicht gut genug? Oder hast du´s dir mit ihnen nett gemacht und sie dann laufen gelassen? Vielleicht war das ja auch ihre Belohnung für ihre Dienste. Welche Dienste? Die als Heilerin oder als ihre Hure?

An all die Male, in denen ihr Wunsch belächelt und ihre Liebe zu dem Zwergenkrieger nicht verstanden wurde.

Warum hast du das gemacht? Schau dich doch nur mal an. Wegen solch einem Barbaren hast du dich verzaubern lassen? Wie naiv bist du eigentlich? Sie haben dich nur ausgenutzt. Die sind fort, für immer und ewig, die siehst du nie wieder. Du warst nur eine Kerbe im Bettpfosten. Er hat dir das Herz gebrochen und das wird er auch wieder tun. Sooft er will. Er hat dir nur etwas vorgemacht, dir nur Lügen erzählt…

Thorin war von den Toten zurückgekehrt und hatte sein Versprechen gehalten. Er war hier, er war an ihrer Seite. Er war der König Erebors. Heute und für immer. Alle Neider, alle bösen Zungen; sie alle sollten es sehen. Ich werde mich nie wieder verstecken. Dann standen sie vor ihnen. Die Zeit der Abrechnung war gekommen.

Die Einberufenen erwiesen der Königsfamilie ihren Respekt. „Mylord, Ihr ließet uns rufen.“ Dem Mann neben Favli schien der Umstand höchst unangenehm zu sein. Nervös strich er seine Schürze glatt, die wohl nur eine Art Uniform war, wie Marie feststellte, da sie eine breite, besticke Borte aufwies und so aussah, als wäre noch nie ein Blutfleck darauf gelandet.

Der Gildemeister der Heiler und Wehmütter besaß stahlgraues, streng zurückgekämmtes Haar, das bereits von weißen Strähnen durchzogen war. Sein Oberlippenbart war zu zwei gezwirbelten Schnecken gekringelt, der Rest seiner eindrucksvollen Pracht in einem dicken Zopf sorgfältig gebändigt, dessen Ende in den Gürtel gesteckt worden war. Auf seiner Nasenspitze saß eine kleine Brille, über die er mit blauen Augen zu ihnen aufblickte. Marie nahm sich vor, den sympathisch erscheinenden Mann besser kennenzulernen und ihm trotz seiner Verfehlung, diese Frau in seine Gilde aufzunehmen, eine Chance zu geben. Doch erstmal würde sie ihn ein wenig zappeln lassen...

„Nicht ich habe Euch einbestellt“, antwortete Thorin und wies mit einer Geste zu Marie. Der Saal geriet ein weiteres Mal an diesem Tag in Aufruhr.

Offensichtlich wusste der Einbestellte nicht so recht mit der Information umzugehen und verbeugte sich erneut. „Meister Jora. Zu Euren Diensten, Mylady.“ Er zupfte seiner Begleiterin am Ärmel, wohl eine Aufforderung, dass sie es ihm gleichtun sollte. Selbst ein Blinder konnte den Widerwillen erkennen, mit dem die Hebamme in einen kaum ernstgemeinten Knicks fiel.

Marie schluckte an ihrer staubtrockenen Kehle und nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Wir haben uns noch nicht kennengelernt, Meister Jora“, sprach sie so ruhig und klar, dass sie von sich selbst überrascht war. „Ihr seid derjenige, dem die Gilde der Hebammen und Heiler unterliegt, habe ich mir sagen lassen. Das Haus der Heiler ist Euer.“

„So ist es, Mylady.“

„Ihr müsst ein Meister Eures Fachs sein, nehme ich an.“

„Ihr schmeichelt mir, Euer Gnaden...“

„Dann frage ich mich“, verschärfte sie deutlich ihren Ton, „wie es dazu kommen konnte, dass Ihr eine Frau wie diese in Eure Gilde aufnehmt?“ Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte Jora nach Luft. Marie hatte Mitleid mit ihm, hielt jedoch ihre zurechtgelegte Maskerade als wütende Herrin aufrecht.

„Ich…nun ja“, er kam in Erklärungsnot. „Mistress Favli erbat um Aufnahme, als es Erebor noch an vielem mangelte. Heiler waren rar und gerade nach dem Krieg unentbehrlich.“

„Und da nahmt Ihr die Erstbeste?“

„Mylady, ich bin untröstlich…“ Mit Händen und Füßen versuchte er sich zu erklären. „Sie gab an, schon jahrelang Hebamme gewesen zu sein. Ich glaubte ihr.“

„Meister Jora“, sie trommelte mit den Fingern auf die Armlehne und lehnte sich vor, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, „wie kann es sein, dass eine Hebamme einer Gebärenden einen Kuhfladen auf den geöffneten Schoß legen will? Ist das ein Vorgehen, wie es Erebors Heiler praktizieren?“

„Einen Kuhfladen?“ Völlig vor den Kopf gestoßen schaute er neben sich. Mistress Favli starrte jedoch unentwegt Marie an. „Ich kann mir das nicht erklären, Eure Hoheit.“

„Ich mir bei bestem Willen auch nicht.“ Maries Augenmerk richtete sich nun auf die Hebamme. Deren mürrische Miene ließ keinen ihrer Gedanken nach außen dringen. „Ihr solltet dankbar sein, dass meine Zofe den Mut hatte, mich um Hilfe zu beten. Ihr hättet das Kind - wenn nicht auch die Mutter - umgebracht. Das kommt fast einem Mordversuch nahe, wenn Ihr mich fragt. Wie viele Frauen in Erebor haben durch Euch unnötige Qualen durchgemacht? Was habt Ihr noch für Behandlungsmethoden auf Lager? Krötenschleim und dunkle Zaubersprüche?“ Von oben prasselten hereingerufene Verwünschungen und verachtenden Blicke auf die Frau ein. Die Alte ballte die Fäuste. Immer noch blieb sie still, obwohl die Rufe von Vätern und Müttern immer lauter wurden. Balin musste schließlich für Ruhe sorgen. Unbewegt hob Favli das Kinn. Ihr Stolz war ungebrochen. Fragt sich, wie lange noch.

„Euer Lohn war Euch wichtiger als das Leben der jungen Frau“, fuhr Marie fort, als der Sturm an Beschwerden abgeebbt war. „Ihr habt ihn einkassiert, noch ehe Ihr einen Blick auf Nyr geworfen habt, wie mir meine Zofe berichtete. Auch als ich das Haus betrat und meine Hilfe anbot, hatten ihr nichts als Verachtung für mich übrig. Ihr habt mir nicht den nötigen Respekt erwiesen, der mir zusteht.“ Aus dem Augenwinkel bemerkte Marie, wie die Jungs große Augen machten. Bei Thorin erhaschte sie den Eindruck, dass er damit beschäftigt war, sein Schmunzeln zu verbergen.

„Ich werde nicht zulassen, dass Ihr noch einen Finger an eine Frau oder an ein Kind legen könnt. Daher…“ So königlich wie sie sich einbildete zu wirken, stand Marie auf und schaute auf die vor ihr stehende Frau herab, um ihr Urteil zu sprechen. „Favli Steinbuche, mit der mir übergebenen Aufgabe enthebe ich Euch mit sofortiger Wirkung Eures beruflichen Standes als Heilerin und Hebamme.“

Endlich kam Leben in die Frau. Maries Entscheidung zerbrach Favlis Trotz und hinterließ nichts als erbärmliche Auflehnung einer längst Gefallenen. „Das könnt Ihr nicht tun!“, schmetterte sie ihr entgegen.

„Ich habe es bereits getan. Gebt mir Eure Zulassung. Ihr braucht sie nicht mehr.“

„Das… Ihr…“ Zornerfasst holte sie das Dokument aus ihrem Beutel und zerriss es. Der Saal schnappte nach Luft. „Da hast du deinen Willen, Flittchen!“ Sie warf die Überbleibsel ihres Stolzes von sich. Die Papierhälften segelten über den Weg in die Tiefe der Halle hinab. Von ihrem Wutausbruch überrumpelt starrte Marie sie mit offenem Mund an, bis ein Donnergrollen durch den Saal knallte.

SCHWEIGT!“ Thorin hatte sich erhoben und fuhr Favli mit gebleckten Zähnen und vor Zorn lodernden Augen an, den Finger warnend auf sie gerichtet. „Seid dankbar, dass nicht ich Euer Urteil gesprochen habe!“ Die Alte biss sich auf die Zunge und starrte zu Boden.

Mit pochendem Herzen setzte Marie sich und streckte die Hand nach Thorin aus, damit er es auch tat. Sie begegnete seinem Blick und vermittelte ihm still ihren Dank, ehe sie sich der Frau widmete, für die sie keinerlei Mitleid empfand.

„Ihr dürft nun gehen. Vorerst als freie Bürgerin dieses Reiches. Den Rest werden Erebors Bewohner erledigen. Ich bin mir sicher, einige haben eine Rechnung mit Euch offen.“ Plötzlich keimt in Marie der Wunsch auf, noch etwas anderes loszuwerden. Etwas, was von Bedeutung war. „Bevor Ihr geht, möchte ich noch eines klarstellen. Bei unserem Aufeinandertreffen gestern nanntet Ihr mich ‚die Menschenfrau, die unser König hierher geschleppt hat‘. Ich bin von niemanden ,hierher geschleppt´ worden, weder getragen noch gezerrt. Ich bin aus freien Stücken hierhergekommen, weil ich mein Leben mit dem Mann verbringen will, den ich liebe. Deswegen habe ich Gandalf, den Zauberer, gebeten, meinen Körper zu verändert. Um ein unbeschwertes Leben führen zu können, um nicht ständig daran erinnert zu werden, was uns unterscheidet, sondern um dem Stärke zu geben, was uns eint. Ja, ich bin als Mensch geboren und aufgewachsen. Aber vor allem bin ich eine Frau, die sich der Heilkunst verschrieben hat. Nicht nur für das Volk der Menschen, sondern auch für das Volke Durins, das ich in mein Herz geschlossen habe. Ihr könnt so viel Zweifel gegen mich hegen, wie Ihr wollt. Es ist mir egal. Denn ich habe meinen Platz gefunden.“

Favlis Kopf lief rot an. „Ihr habt kein Recht hier zu sprechen – egal, ob Ihr verzaubert wurdet oder nicht“, platzte es aus ihr heraus. „Ihr werdet niemals eine von uns sein!“ Tumult brach aus. Erboste Rufe schallten von oben herab.

Thorin platze endgültig der Kragen. „Es reicht! Ich habe Euch lange genug Euer respektloses Verhalten meiner Verlobten gegenüber toleriert! Wachen, setzt diese Frau vor die Tür.“

„Nicht nötig! Ich werde zurück in die Eisenberge gehen. Da weiß man mein Wissen wenigstens zu schätzen.“

„Das trifft sich gut. Ich werde meinem Vetter Dain Eisenfuß vor Euch warnen, falls Ihr auf die Idee kommen solltet, dort ebenfalls eine Zulassung als Wehmutter zu beantragen.“

Zwei Wachen packten die alte Fettel. Wutentbrannt schrie Favli auf und machte sogar Anstalten, sich aus den Griffen zu winden. Unbeeindruckt schleiften die Männer sie einfach mit. Die Türen am Ende der Halle wurden hinter ihnen geschlossen und beendeten das Drama.

Marie gönnte sich einen Moment der Ruhe und lauschte dem Gemurmel, das die Halle erfüllte. „Meister Jora.“ Der Gildemeister war ein wenig blass, als er näher trat. „Eine junge Schülerin namens Rani war dieser Frau zugeteilt“, sagte Marie und ließ ihre Maskerade fallen. Sie war abgespannt und unendlich froh, es hinter sich gebracht zu haben. „Ich habe dem Mädchen versprochen, mich um einen neuen Mentor für sie zu kümmern. Ich möchte, dass Rani den besten Heiler in Obhut gegeben wird. Das Mädchen hat in meinen Augen großes Potenzial, das gefördert werden muss. Würdet ihr Euch darum kümmern?“

„Das steht außer Frage, Eure Hoheit. Ich werde Euren Wunsch sofort umsetzen.“

„Danke.“ Marie schenkte dem Mann ein Lächeln. Auch Meister Jora schien um einiges erleichtert zu sein. „Ich hoffe, dass wir uns nächstes Mal in Eurer Lehrstube treffen könntet. Ich möchte mir gerne Eure Arbeit ansehen, wenn ich dürfte. Außerdem biete ich Euch meine Zusammenarbeit an. Es wäre mir eine Freude mit Euch in engem Austausch zu stehen.“ Von rechts spürte sie einen stechenden Blick, doch Marie ließ sich davon nicht beirren. Thorin musste endlich einsehen, dass es unmöglich war, sie von ihrer Berufung abzuhalten.

„Mylady, es wäre mir eine große Ehre, Euch in meinem Haus willkommen zu heißen. Ich stehe Euch jederzeit zur Verfügung.“

„Vielen Dank für Euer Vertrauen, Meister Jora. Ihr dürft nun gehen.“ Der Zwerg verbeugte sich und verließ mit einem erleichtertem Lächeln im Bart die Thronhalle. Erschöpft lehnte Marie sich zurück und sah zu Thorin. Er blickte sie ebenfalls an.

„Habe ich eigentlich schon erwähnt, was für eine beeindruckende Frau du bist?“, flüsterte er, damit ihre Worte ungehört blieben. „Ich sollte mich vor dir in Acht nehmen.“

Ein Lächeln begleitete ihre gespielt ernste Warnung. „Das solltest du.“

Sie musste wohl einen sehr erschöpften Eindruck auf ihn machen. Er nahm ihre Hand und die seine. „Nicht mehr lange, mell nin. Hältst du noch durch?“ Ihr kurzer Moment der Ungestörtheit wurde durch Balin unterbrochen. Dieser gab Thorin ein Zeichen, sodass er sich näher zu ihm beugte, damit sein Berater ihm etwas zuflüstern konnte. Als Marie mit ansah, wie ihrem Krieger alles aus dem Gesicht fiel, kroch ein mehr als ungutes Gefühl in ihrem Körper empor.

„Ich habe ihren Namen zu spät auf der Liste gesehen“, beteuerte Balin.

„Was will sie?“

„Sie hat keinen Grund angegeben. Soll ich sie wegschicken lassen?“

Thorins Antwort war frostig wie ein Eisblock. „Nein, ruf sie herein.“

„Thorin, was ist los?“ Die Frage hätte sie sich sparen können. Einen Wimpernschlag später wusste sie es. Marie hatte gedacht, das Schlimmste an diesem Tag hinter sich gebracht zu haben…bis Balin den nächsten Namen aufrief und Marie an ihren Glauben an eine gerechte Welt zweifeln ließ.

„Sladnik aus dem Hause Draumhall!“

Der Name reichte aus, um sie den Weg hinabstarren zu lassen, und alle Götter zu beschwören, dass nicht sie es war. Als die Türen erneut geöffnet wurden, wurde Marie jedoch bewusst, dass die Mächte dieser Welt ihr nicht länger wohlgesonnen waren.

 

16

 

 

Mein König.“ Sladnik fiel in einen beispiellos perfekten Knicks, während Marie sie vor ihrem inneren Auge vor Neid erwürgt. Mit Schrecken musste sie feststellen, wie perfekt diese Frau zu Thorin passte. Wie sie sich bewegte, ihr Aussehen, ihre Körperhaltung… Sie war die geborene Königin. Ihr Haar war das Auffälligste an ihr: hell wie Mondlicht bildete es einen scharfen Kontrast zu dem ganz in schwarz und blutrot gehaltenem Trauerkleid, das ihrer Schönheit nicht mal ansatzweise gerecht wurde. Natürlich musste Thorins ehemalige Verlobte wunderschön sein. Was hatte Marie erwartet? Dass er damals sein Herz an eine alte, zahnlose Frau verlor? Trotzdem kam sie um den Wunsch nicht herum, dass Sladnik hässlich wie die Nacht hätte sein sollen. Stattdessen machte ihre Anmut es Marie leicht, noch mehr Hass für diese Frau zu empfinden als ohnehin schon.

Ihre Augen waren groß und blau, als Sladnik aufblickte. „Es ist mir eine Freude und zugleich eine große Ehre Euch kennenzulernen, Mylady“, richtete sie mit einem strahlenden Lächeln das Wort an sie. „Meine Glückwünsche zu Eurer Verlobung.“

Vor so viel Nettigkeit war Marie völlig vor den Kopf gestoßen. Ihr wurde bewusst, dass sie sie immer noch anstarrte, beobachtet von Erebors Volk. Bevor sie jedoch irgendetwas dergleichen erwidern konnte, wurde ihr plötzlich die vor Spannung aufgeladene Luft gewahr, die sich um sie herum ballte. Sie drehte den Kopf zu dem Mann neben ihr und sah Verachtung aus jeder Faser seines Körper strömen.

„Was willst du hier, Sladnik?“, knurrte Thorin, jegliche Form der Etikette abgelegt. Das Gemurmel im Saal wurde heftiger. Etwas ging vor sich da unten vor dem Thron, was die Zuschauer nicht einordnen konnten.

Sladnik versuchte, ihr Gesicht nicht zu verlieren, was ihr jedoch kaum gelang. Die Enttäuschung zeichnete bittere Spuren in dem Schwung ihrer Brauen. „Ich hatte gehofft, dich unter vier Augen sprechen zu können.“ Ein Zittern lag in ihrer Stimme, während es in ihren Augen zu schwimmen begann.

„Du kannst genauso gut hier sprechen.“

„Liebling, tu ihr den Gefallen.“

Er starrte Marie an als wäre sie von Sinnen und musste sich zu ihr lehnen, damit seine Worte ungehört blieben. „Wieso sollte ich das tun?“

„Sieh sie dir an. Es muss wichtig für sie sein. Vielleicht will sie sich entschuldigen wegen dem von damals. Außerdem ist sie in Trauer. Bitte sei nett zu ihr und tu ihr den Gefallen.“ Als er bloß schnaufte, setzte sie nach. „Bitte hör dir an, was sie zu sagen hat und dann lass sie gehen.“ Letzteres sollte eigentlich heißen: Ich will diese Frau nicht in meinem Leben haben, aber das hätte Marie nicht laut sagen können und so hoffte sie, dass ihr Verlobter es zwischen den Zeilen verstehen würde. Sie beobachtete, wie es in ihm rumorte. Es ging ihm absolut gegen den Strich, Marie ebenfalls, aber vielleicht waren sie diese Frau dann ein für alle Mal los, wenn er ihr diese Chance gab.

Thorin erhob sich von seinem Thron. „Die Audienz wird unterbrochen.“ Unter dem einsetzenden Stimmengewirr erhoben sich die Jungs ebenfalls. Marie tat es ihnen gleich, froh darüber eine Pause und etwas Bewegung zu bekommen. Ohne dazu aufgefordert werden zu müssen schritt die Zwergin in dem schwarzen Kleid die Stufen zu ihnen herauf und folgte Thorin hinter die Kulissen des Thronsaals. Als sie an Marie vorbeiging, lächelte sie ihr voller Dankbarkeit zu. Dieser blieb nichts anderes übrig als dem einstigen Paar nachzusehen und zu hoffen, dass sie keinen Fehler gemacht hatte.

 

~

 

Eine Bedienstete brachte ein Tablett mit Gläsern, eine zweite trug eine Weinkaraffe in das Zimmer. Sie stellten alles auf das kleine Tischchen in der Mitte der Sitzgelegenheiten und verschwanden diskret. Als die Tür sich hinter ihnen schloss, wurde ihm bewusst, wie viel diese Frau sich hier eigentlich herausnahm.

Ohne dass er ihr einen Platz angeboten hatte, ließ Sladnik sich auf die Polster eines der grünen Sofas sinken und bediente sich sogleich am Wein. „Willst du dich nicht setzen?“

„Ich stehe lieber.“

Sladnik nahm seine Antwort ohne Reaktion zu Kenntnis, nippte an dem Wein und drehte das Kristallglas in ihren Fingern hin und her, während sie seinem Körper von oben bis unten musterte. „Gut schaust du aus. Die Narbe gibt dir eine verwegene Note.“

Thorin, am anderen Ende des Raumes positioniert, lehnte sich gegen den Türrahmen und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. „Hören wir auf mit diesen Spielchen.“ Wut und Enttäuschung füllten seinen Mund. „Ich tue das nur, weil Marie mich darum gebeten hat, ist das klar? Also sag, was du zu sagen hast, ehe ich es mir anders überlege.“

Sie machte einen Schmollmund und begann seelenruhig, ihre voluminösen Zöpfe nachzufahren, die ihr im Sitzen bis zum Bauch reichten. „Seit wann bist du so ein Griesgram?“

Nie wieder hatte Thorin diese Frau wiedersehen gewollt. Die verstrichenen Jahre waren bedeutungslos und schwächten kaum den Groll und die Enttäuschung ab, die in seinem Herzen erneut entflammten - im Gegenteil, sie bestärkten es nur. Wie die blühende Unschuld saß sie vor ihm und führte ihn an der Nase herum. Damals wie heute.

Mit einem Mal waren sie zurück. Die Erinnerungen an den Moment, in dem sie ihre Verkleidung in einem unbeobachteten Moment abgelegt hatte. Dass er damals das Gespräch belauscht hatte, war einem Zufall geschuldet. Er war einfach zu falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Während der Prinz hinter der Tür verharrt hatte, hatte er das Gespräch von Sladnik, ihrem Bruder und ihrer damaligen Zofe mitangehört und so ihre wahren Absichten erfahren. Dass sie ihm nur wegen der Krone und wegen dem Reichtum, den Thrors Erbe für sie eines Tages bereithalten würde, wollte. Der Schatz Erebors war ihr Ansporn gewesen, ihn zu umgarnen und sein Lebensmittelpunkt zu werden, damit so schnell wie möglich ein Ring an ihrem Finger steckte. Ihr Aufeinandertreffen war arrangiert worden. Sie stammte aus einem der ältesten und angesehensten Häuser dieses Reiches, doch wie so vieles ging auch die Blütezeit ihrer Familie mit Smaugs Angriff unter. Im Nachhinein war ihm klar, wieso Sladnik alles getan hatte, um so schnell wie möglich von ihm schwanger zu werden. Als Mutter eines Thronerben hätte er sie nicht so einfach von sich stoßen können. Ohne dass er es gemerkt hatte, hatte sie ihn benutzt und ausgequetscht wie ein blutsaugendes Insekt. Bis zu jenem Abend.

Dis hatte ihre Bedenken dieser Frau gegenüber nicht nur einmal geäußert. Blind von der ersten Liebe hatte Thorin seiner Schwester nicht zugehört, ihr Wort nicht für voll genommen und es als Rivalitäten unter Frauen abgetan. Als er jedoch hinter dieser Tür stand, war sein Herz vor seinen Füßen zerschellt. Noch am selben Abend hatte er Sladnik mit samt ihren Hofdamen und ihrem ganzen Hab und Gut vor die Tür gesetzt und die Verlobung aufgelöst.

„Sie ist hübsch. Und so ganz anders, als ich sie mir vorgestellt habe.“

Thorin stieß sich von der Wand ab. „Du hörst mir jetzt genau zu…“ Er benutzte das Sofa ihr gegenüber als Abstandshalter, die Hände auf die Rückenlehne gestemmt, damit er nichts unüberlegtes tat. „Glaubst du allen Ernstes, du kannst mich mit dieser billigen Nummer täuschen? Mich mit dieser Aufmachung erweichen?“

Alles, was sie tat, war ihn anzustarren. Schließlich senkte sie den Blick, als könne sie ihm nicht länger in die Augen schauen. „Ich bin Witwe, Thorin.“

„Und ich soll dir glauben?“

„Glaub, was du willst!“, funkelte sie ihn an. „Ich bin nicht hier, um dir etwas vorzuspielen.“

„Ach nein?“

„Nein“, erklang ihre felsenfeste Antwort. „Alles, was ich will, ist dich um Verzeihung zu bitten. Nach dem Tod meines Mannes will ich einen Neustart in meiner alten Heimat – mit einem reinen Gewissen. Ja, ich habe damals einen Fehler begangen. Ich war jung und egoistisch...“

„Oh, nein! Du wusstet ganz genau, was du tust, spiel hier nicht das unschuldige, kleine Ding! Du hast mich benutzt, Sladnik, du und dein Bruder! Ihr habt unter einer Decke gesteckt.“

„Sprich nicht von meinem Bruder!“, schoss sie heftig zurück. Er hatte wohl direkt ins Wespennest gestochen. „Er ist in Moria gefallen. Er kommt nicht zurück.“

„Das wusste ich nicht.“

„Wie auch?“ Sie kippte den Wein mit einem Zug runter und schaute in ihr leeres Glas, während sie den Geschmack wirken lässt. „Wäre mein Ehemann den Genüssen des Lebens nicht so zugetan gewesen, wäre er noch am Leben. Und dann säße ich nicht hier.“ Erneut griff sie zur Karaffe. „Ich hab dir übrigens von ihm erzählt bei unserem letzten Treffen in den Blauen Bergen.“ Thorin sah sie fragend an. „Du kannst dich nicht erinnern?“ Die Feststellung amüsierte sie anscheinend aus irgendeinem Grund. Sie kicherte. „Wahrscheinlich nicht. So betrunken, wie du warst.“

Ein seiner Schläfe begann eine Ader zu pochen. Thorin war drauf und dran, sie zurechtzuweisen, dass sie vergaß, mit wem sie sprach, aber Sladnik redete einfach weiter. Genauso, wie er gehofft hatte.

„Ich habe dich in dieser heruntergekommenen Spelunke gefunden. Auch damals habe ich dich um Verzeihung gebeten, doch du hast mir kaum zuhören gekonnt. Ich habe dir erzählt, dass ich heiraten werde, doch es war dir egal. Einfach egal… Und dann hast du mich auch noch beleidigt… Du hast meine Verzeihung nicht angenommen und deshalb schulde ich sie dir noch. Deswegen bin ich hier. Damit mein Gewissen rein ist.“

„Wieso sollte ich dir glauben?“

„Weil es die Wahrheit ist.“

„Nein, ist es nicht und das wissen wir beide. Du wolltest noch etwas anderes von mir an diesem Tag.“ Ihr stand der Mund offen. Ehe sie sich verteidigen konnte, fuhr Thorin mit seiner Version der Geschichte fort. „Du bist zu mir gekommen, damit ich dich zurücknehme. War das nicht der eigentliche Grund deines Anstandsbesuchs? Du hast mir von deinem herzzerreißenden Los erzählt, einem Mann heiraten zu müssen, den dein Vater dir ausgesucht hatte. Du hast verheult um eine zweite Chance gebettelt, damit ich dir diese Ehe erspare. Du wolltest es wieder tun: mich ausnutzen, um deinen Vorteil daraus zu ziehen. Aber, weißt du was, Sladnik? Ich hätte dir niemals eine zweite Chance gegeben. Weil es für mich damals wie heute nur eine Frau in meinem Leben gab. Und das bist nicht du.“

Lange starrte sie ihn an. Ihre Stimme war hohl und kaum zu verstehen, als sie Worte wieder fand. „Wie konnte ich bloß denken, dich um Verzeihung bitten zu können?“ Eine Träne rollte über ihre Wange und lief hinab bis an ihr Kinn. „Darf ich jetzt gehen?“

 

~

 

Als sie Sladnik auf sich zukommen sah, versuchte Marie, ihre Erleichterung nicht zu zeigen, dass das Warten vor geschlossenen Türen eher als gedacht ein Ende hatte.

„Tut mir leid, dass ich so hereingeschneit bin“, entschuldigte sich die Frau mit den silbernem Haar, als sie vor ihr stand. Schon wieder ein Schachzug von ihr, den Marie so nicht vorausgeahnt hatte. „Es war ein Fehler, hier aufzutauchen.“

Marie bemerkte die Spuren, die Tränen auf ihrer hellen Haut hinterlassen hatten, ehe sie mit einer unwirschen Geste fortgewischt wurden. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Der Gedanke, sie zu trösten, war ihr zuwider. Was war in den letzten zwei Minuten hinter dieser Tür vorgefallen? Weil ihr nichts Klügeres einfiel, sagte Marie: „Euer Verlust tut mir leid.“

Sladnik bedankte sich. Als sie die Willkommensgeschenke der Frauen aus Erebor sah, die man auf einen Tisch auf dem Flur deponiert hatte, drehte sie schnell ihren Kopf in die andere Richtung. Ihr Blick fiel auf Kili und Fili, die unweit von ihnen die Köpfe zusammengesteckt hatten. „Sie sehen tatsächlich aus wie Dis und Karif.“ Ein wehmütiges Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Zeit heilt alle Wunden, so sagt man doch, oder? Ich hoffe bloß…“ Sie brach den Satz ab, seufzte. „Ich hoffe, ihr Onkel kann mir irgendwann verzeihen.“ Dann zwang sie ihre Augen von den Prinzen weg und zurück zu Marie. Die Frauen waren gleichgroß und konnten sich so direkt in die Augen schauen. Blaue blickten in grüne. „Ich gestehe, ich hatte große Vorurteile gegen Euch, Marie, aber als ich vorhin Eure Rede gehört habe... Das hat mein Bild von Euch auf den Kopf gestellt. Ihr habt alles richtig gemacht bei dieser scheußlichen Frau. Ich hätte mir damals sowas nicht zugetraut. Vielleicht, also nur wenn Ihr möchtet… Es wäre eine Ehre für mich, wenn Ihr auf einen kleinen Klatsch bei mir vorbeischauen würdet. Ich habe mir ein Anwesen meiner Familie in der Oberstadt sichern gekonnt. Dann könnten wir uns besser kennenlernen.“

Eher küsse ich einen Ork… „Das ist sehr nett von Euch. Ich behalte es im Hinterkopf.“

Als Thorin auftauchte, begann Sladnik den Rückzug. Sittsam knickste sie vor ihr. Marie quittierte es mit einem Nicken, wie man es ihr gezeigt hatte, und sah zu, wie Sladnik auf dem Absatz kehrt machte. Auch die Jungs sahen der beeindruckenden Frau nach, die erhobenem Hauptes die Räumlichkeiten verließ. Sie drehte sich zu Thorin um. „Was hast du mit ihr gemacht?“

„Gar nichts hab ich mit ihr gemacht“, gab er ihr harsch zurück. Sie konnte an dem Klang seiner Stimme erkennen, wie viel Groll er immer noch gegen diese Frau hegte, selbst als sie schon fort war. „Was wollte sie von dir?“

„Sie hat mich zum Plauderstündchen eingeladen. Und von dir?“

„Eine Entschuldigung.“

„Ich weiß nicht warum, aber ich glaube, es war aufrichtig gemeint.“

Ihr Verlobter war anderer Meinung. „Nie im Leben. Diese ganze Vorstellung war gespielt. Halt dich von ihr fern, Marie.“

„Nichts lieber als das.“ Thorin kam näher und sie schloss die Augen, als der König ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Ein paar Herzschläge im selben Takt, dann war der Moment, um durchzuatmen, vorüber.

„Komm, bringen wir´s zu Ende.“ Er ergriff ihre Hand und winkte Balin und Ori zu sich, damit er einen Blick auf die Liste werfen konnte, wer noch um eine Audienz bei ihm gebeten hatte.

 

~

 

Sie war nicht da, als Kili in das Gästezimmer stürmte. Den ganzen Weg hier herauf war er gerannt, nur um ein leeres, in Fels gehauenes Zimmer vorzufinden. Während er nach Atem rang, fiel sein Blick auf das penibel gemachte Bett. Nie hatte Tauriel sich beschwert, dass es zu kurz oder zu niedrig für sie war. Sie war zufrieden mit der winzigen Kammer gewesen, die man ihr zugeteilt hatte, obwohl diese nur sehr spärlich möblierte war. Kili hatte noch nie so viel Bescheidenheit erlebt.

Er trat näher zu dem Stapel aus Stoff, der zusammengelegt auf der spiegelglatt gezogenen Decke ruhte. Jene Kleidung, die er für sie organisiert hatte. Am Fußende stand ein Rucksack. Sie hatte bereits gepackt. Seine Lunge pumpte nicht nur Luft durch seinen Körper. Sie katapultierte seine Gefühle von seinen Zehen bis in die Haarspitzen. Zorn und Hilflosigkeit erfassten den jungen Prinzen erneut. Kili lief aus dem Zimmer und zur nächsten Treppe. Bis zu den königlichen Gemächern war es jetzt nicht mehr weit. Nach kurzer Zeit erreichte er die Räumlichkeiten, die einmal seinem Onkel gehörten und in denen sie auf sein Erwachen gewartet hatten.

In derselben Kleidung, in der sie damals nach Erebor gekommen war, saß Tauriel im Schneidersitz auf seinem Bett. Ihre Augen waren geschlossen, die Hände ruhten auf ihren Knien, die Finger zu Schalen geformt, als hielten sie Wasser darin. Meditieren nannte sie das. Das ein oder andere Mal hatte er sie dabei beobachtet und es sogar selbst ausprobiert, doch jetzt sollte sie damit aufhören. Sie sollte ihm in die Augen schauen und sagen, dass sie sich umentschieden hatte. Dass sie bleiben würde. Bei ihm.

„Ich habe mich schon gefragt, wann du kommen würdest.“

Mit einem Fluch in der Kehle knallte er die Tür zu. Tauriel zuckt zusammen und sah ihn endlich an. Er durchquerte den Raum und baute sich vor ihr auf. „Ich fordere eine Erklärung.“

„Es gibt nichts zu erklären“, lautete ihre schneidend kalte Antwort. „Du hast erfahren, was es zu erfahren gab.“

Ein Déjà-vu suchte ihn heim. Plötzlich war sie wieder da. Die Elbe, die er im Düsterwald traf, als die Spinnen jagt auf sie gemacht hatten. So unnahbar, kalt und berechnend.

„Hör auf damit!“ Irritiert starrte Tauriel ihn an. „Hör auf so… so elbisch zu sein!“, gestikulierte er wild. „Wie du sprichst! Wie du dasitzt!“

„Was redest du da? Ich war schon immer elbisch. Ich verstelle mich nicht.“

„Nein, das ist nicht die Tauriel, die ich kennengelernt habe.“

„Ich habe nie damit aufgehört, eine Elbe zu sein, Kili.“ Sie erhob sich in einer grazilen Bewegung und stieg vom Bett herunter. „Ich bin, was ich bin. Und du bist, was du bist. Wir sollten das endlich einsehen.“

Die Glaskuppel ihrer Traumwelt, welche sie schützend umschlossen hatte, zerbarst in tausende tödliche Splitter. Der Zauberbann war gebrochen.

Ganz so als wollte sie den größtmöglichen Abstand zu ihm einnehmen, schlich sie an ihm vorbei. „Ich muss gehen, Kili. Bitte, versteh das.“

„Wieso?“

Wieso? Das fragst du allen Ernstes?“

„Thranduil hat dich verbannt. Dir sollte es egal sein, wenn er dich zu sich pfeift wie einen abgerichteten Hund.“

Ihre Miene verfinsterte sich. „Es ändert nichts an der Tatsache, dass er immer noch mein König ist.“

„Er ist ein Arsch.“

Sie ließ das unkommentiert. „Er ist derjenige, der über meine Verbannung urteilen kann“, erinnerte sie ihn.

„Und wie geht es weiter, wenn Thranduil deine Verbannung nicht aufhebt? Was ist dann?“ Sie hatte keine Antwort darauf. „Du läufst in ein offenes Messer! Der will dich kalt machen, weil du dich gegen ihn aufgelehnt hast.“

„Das würde er nicht tun. Legolas würde sowas nicht zulassen.“

Als Kili diesen Namen hörte, legte sich ein rotes Tuch über seine Augen.

„Vielleicht darf ich zurückkehren, jetzt nachdem etwas Gras über die Sache gewachsen ist.“

Er könnte nicht glauben, was er da hörte. „Du willst zurück?“

„Natürlich will ich zurück“, antwortete sie und wusste nicht, dass sie im selben Moment die Splitter tiefer in sein Herz trieb. „Ich vermisse meinen Wald. Ich vermisse das Waldlandreich. Es ist mein Zuhause.“

Kili wünschte, er könnte die gemeinsam verbrachte Zeit einfach fortwischen. Ungeschehen machen. Denn dann würde es ihn jetzt nicht so zerreißen. Doch die Erinnerungen an die vergangenen Monate waren so präsent in diesem Moment. Und es schmerzte einfach nur.

Bereits im Thronsaal war ihm klar geworden: wenn sie ging, dann würde es für immer sein. Sein Onkel würde kein ein zweites Mal erlauben, der Elbe Einlass zu gewähren. Sobald sie den Fuß auf die Torbrücke gesetzt hatte, würde er sie nie wieder sehen. Es würde ein Abschied für immer sein.

Tauriel wusste es und trotzdem tat sie so als wäre es normal. Als wäre es legitim, einfach aus seinem Leben zu verschwinden. Nach all dem, was sie erlebt hatten! Er sah ihren Körper, so starr wie eine Bogensehne auf Spannung vor sich stehen. Sie versuchte, ihre Gefühle wegzudrängen, sich dagegen aufzulehnen. Tauriel wollte nicht wahrhaben, was er schon längt fühlte. Die Worte explodierten in seinem Herzen, steckten es in Brand. „ICH HABE DIR MEINE WELT GEZEIGT! Ich habe dir Geheimnisse anvertraut, die niemand außerhalb dieses Berges kennt! Ich habe Verbote ignoriert, mich strafbar gemacht. Du hast unsere Bücher gelesen, unsere Karten studiert, unser Wissen kennengelernt! Ich war mit dir in den Mienen, in den entferntesten Winkeln dieses Berges, sogar in der Schatzhalle…Und du willst zurück in diesen blöden Wald.“

Tauriel schlang die Arme um ihren Körper, wollte seine Worte nicht an sich heranlassen. „Hör auf, Kili. Bitte. Mach es mir nicht noch schwerer.“

Er machte einen Schritt auf sie zu und sie einen von ihm weg. „Wenn du die Wahl hättest…“ Seine Augen suchten die ihre. Suchten nach Hoffnung. „Wenn du wieder in die Dienste dieses Mannes treten könntest, würdest du es tun? Oder würdest du mit mir kommen?“

„Mit dir kommen?“

„Wir hauen ab, lassen alles hinter uns. Niemand wird uns aufhalten. Wir kaufen uns einfach ein Schiff - nur du und ich, segeln, wohin der Wind uns trägt, machen Rast, wo es uns gefällt.“

„Kili…“

„Ich will das Meer sehen! An weißen Küsten wandern. Ist es nicht das, wonach du dich gesehnt hast? Über den Horizont, bis ans Ende der Welt?“

Mit aller Kraft versuchte sie, die Tränen fortzublinzeln. „Ich habe Verpflichtungen. Genauso wie du.“

„Ich habe nur eine Verpflichtung“, widersprach er, „jene, die mein Herz mir befiehlt.“

Sein Bekenntnis ließ ihre Verzweiflung deutlich werden. „Sag das nicht...“

„Komm mit mir, Tauriel.“ Er kam ihr ganz nah. „Gib uns eine Chance.“ Doch Tauriel drehte sich abrupt von ihm ab, entriss ihm ihre Hände, nach denen er zu greifen gewagt hatte. Kili packte sie. „Sag mir, dass das kein Lebewohl ist! SAG ES MIR!“ Plötzlich hielt sie einen Dolch in der Hand. Stahl blitzte auf, sie wirbelte mit einem Schrei zu ihm herum. Kili wich der Waffe aus und packte die Hand, die sie führte. Tauriel schrie ihre Verzweiflung heraus. Er hielt stand und überwältigte sie. Der Klang des Metalls auf dem nackten Fels ging in ihrem Kampf unter. Mit aller Kraft rangen sie miteinander. Keiner wollte den anderen gewinnen lassen.

„Lass mich los, Zwerg!“ Sie versuchte, ihn sogar hochzuheben, doch die schwere Kettenrüste und der sichere Stand waren sein Vorteil. Sie stießen gegen die Kommode neben dem Bett. Etwas fiel herunter, ging scheppernd zu Bruch. Kili stellte seinen Fuß hinter den ihren. Dann ließ er sich fallen und riss sie mit sich. Tauriel fiel über sein Bein und landete mit dem Rücken auf dem Bett. Er nagelte sie auf der Matratze fest.

„Ich würde dir jeden Stern vom Himmel holen! Ich würde Berge für dich versetzen und die Zeit besiegen! Versteh das doch endlich, verdammt!“

Haltlos lief der Beweis ihres inneren Kampfes über ihre Wangen. Sie drehte das Gesicht von dem seinen weg, welches wenige Zentimeter über dem ihrem schwebte, kniff die Augen zu. Weitere Tränen folgten. „Wir können nicht… Es ist nicht richtig.“

„Wie kann sich Liebe falsch anfühlen?“ Sie sah zu ihm auf und Kili war für immer verloren. Noch hielt er ihre Hände gepackt, nun jedoch verschwand die Gegenwehr. Ihr Widerstand brach entzwei. Sie konnten nicht länger ihre Gefühle füreinander bekämpfen. „Keine Angst“, flüsterte er und senkte langsam den Kopf, bis seine Lippen die ihre berührten. Der Kuss brannte auf seiner Haut. Hitze verschlang sein Herz. Der schlanke Leib unter seinem wurde weich und nachgiebig. Tauriel drückte sich an ihn, kostete seine Hingabe mit ganzen Körper aus. Ihr Herz war leicht und frei – befreit von dem Mut eines Prinzen. Ihre Küsse schmeckten wie eine verbotene Frucht, sie machten süchtig und ließen ihn anfangen, die enganliegende Kleidung von ihrem Körper zu schälen…

 

~

 

Noch ein kleiner Stups und ein wenig nach links gedreht, dann ruhten die kleinen herzförmigen Steine aneinandergeschmiegt inmitten der Bilder von Thorins Familie. Ihr Gold schimmerte im Schein des lodernden Kaminfeuers als würden die Steine von einem inneren Licht erhellt. Marie trat zurück und betrachtete für einen Moment zufrieden das Ergebnis, bevor sie sich auf das Sofa zurückzog, wo das Buch ihrer Eltern lag. Sie schlug die Beine unter sich zusammen und machte es sich damit in der Wärme des Feuers bequem.

„Wünscht du noch etwas, Marie?“ Ihr Zimmermädchen nahm Holz aus dem Korb und legte es aufs Feuer als befürchte sie, ihre Herrin würde es nicht warm genug haben.

„Nein, danke, Tara. Ich will einfach nur die Beine hochlegen.“

Die Zwergin mit dem dunklem Haar klopfte ihre Hände ab und erhob sich. Ein Lächeln zierte ihr hübsches Gesicht. „Muss ein aufregender Tag für dich gewesen sein.“

„Und anstrengend.“ Tara gegenüber erwähnte sie nicht, dass sie froh war, aus diesem schönen jedoch beängstigend luxuriösem Kleid raus zu sein und dieses Collier zurück in die Schatulle tun zu können. Mit offenem Haar, in Nachthemd und Morgenmantel bekleidet genoss es Marie in kuscheligen Wollsocken gesteckt auf diesem roten Sofa zu liegen und weder Gedanken an ihre Aussehen noch auf ihre Wirkung auf andere zu verschwenden und von niemanden beurteilt zu werden.

„Was ist das für ein Buch?“, fragte Tara. „Das ist ja riesig.“

„Ich zeig´s dir. Komm, setz dich.“ Von dieser neuartigen Aufforderung überrascht zögerte Tara merklich, bis schließlich die Neugier überwog. Marie legte das Buch auf ihren Schoß, sodass beide hineinschauen konnten. „Das ist von meinen Eltern. Sie haben ihr ganzes Wissen darin niedergeschrieben.“

„Was steht da?“

„Hierin sind allerlei Pflanzen und Rezepte aufgeführt. Eine Art Lexikon“, erklärt sie und blätterte durch die teils schon vergilbten Seiten, zwischen denen einige Zettelchen steckten. „Das hier ist Ammenkraut.“

„Das ist wunderschön.“ Vorsichtig strich Tara über die feine Zeichnung der Pflanze, die die Hälfte des Blattes einnahm.

„Von meinem Vater. Meine Mutter hat die Texte dazu verfasst. Vor vielen Jahren hat meine Urgroßmutter damit angefangen und meine Eltern haben es fortgeführt. Deswegen ist es so dick und schon so abgenutzt.“

„Hast du von ihnen dein Heilwissen?“

„Ja, ich habe es von Klein auf beigebracht bekommen.“ Wärme erfüllte ihre Seele, tröstlich wie eine Umarmung. „Bei uns Zuhause, in Dale, da drehte sich von morgens bis abends alles um die Heilkunst. Wir hatten im Erdgeschoss einen Raum, wo meine Eltern Patienten empfingen und Salben und Tinkturen verkauften. Und oben auf dem Balkon zogen wir Kräuter und Blumen in Kübeln heran. Ich streunte zwischen Behandlungszimmer und Küche hin und her und spielte unter den Tischen, ehe ich alt genug war, um meinen Eltern zu assistieren. Es roch überall nach Kräutern und irgendetwas köchelte immer auf dem Herd oder wartete darauf, gestampft oder gekocht zu werden. Manchmal gab es Tage, da standen die Leute bis auf die Straße und warteten, dass sie an der Reihe waren. Ich kann mich an so vieles erinnern.“

„Das hört sich nach schönen Erinnerungen an.“

„Wir waren glücklich…bis der Drache kam.“ Ihre Worte ließen Schrecken und Traurigkeit in die Herzen der Frauen eindringen. Die Zwergin schlug die Augen nieder. Sofort bereute Marie es. Vielleicht hatte Tara ja sogar Familienangehörige bei der Katastrophe verloren. Wie unbedacht von ihr.

Ehe sie etwas sagen konnte, was die Stimmung rettete, fragte Tara: „Hast du großen Ärger wegen mir bekommen?“

„Ein bisschen. Aber gräm dich nicht. Ich hab alles wieder gerade gerückt.“

„Da bin ich aber froh. Mylord war ziemlich aufgebracht. Er hat sich Sorgen gemacht, dass du in Erebor verloren gehst.“

„Er ist manchmal…“ Marie suchte nach einem passenden Ausdruck, damit ihr Zimmermädchen nichts Falsches verstand. „Etwas…überfürsorglich.“

„Mylord will, dass es dir gutgeht“, beteuerte Tara. „Und er liebt dich.“

Eine feine Röte wärmte ihre Wangen, die nicht vom Kaminfeuer her rührte. „Ich bin ihm nicht mehr böse. Ich kann ihn sogar ein Stück weit verstehen, aber er muss auch mich verstehen. Das hier“, allesumfassend schwebte ihre Hand über dem Buch, „ist nun mal Teil meines Lebens. Ich kann es nicht so einfach aufgeben. Ich weiß, dass ich hier gebraucht werde. Als Heilerin.“

„Und als unsere Königin.“

Königin. Dieses Wort fühlte sich immer noch so fremd an. Marie wich Taras Blick aus, sah stattdessen ins Feuer und kaute auf ihrer Lippen herum – eine lästige Angewohnheit. Die Flammen tanzten und verfraßen Holz und Borke, während ihre Gedanken hin und her sprangen. „Thorin bekommt das ganz gut alleine hin.“

„Eine Königin ist nicht nur für ihr Volk da, Marie.“ Ihr Zimmermädchen war näher gerückt und saß nun ihr zugewandt bei ihr. Ihre Augen glänzten, als sie sprach: „Jeder König braucht eine Frau an seiner Seite, die ihm den Rücken freihält, die ihn aufbaut und Kraft schenkt. Sie ist sein Ohr und sein…“ Während sie nach dem Wort in der Sprache suchte, die sie beide verstanden, tippte sie sich an die Schläfe, bis sie das richtige gefunden hatte. „Sein Verstand. Sie hat genau so viel Macht wie er – auf eine andere Art und Weise. Beide repräsentieren ihr Reich als eine Einheit. Er mag vielleicht die Gewalt über sein Land und sein Volk innehaben, sie jedoch besitzt auch die Gewalt über ihn und hält die Fäden in der Hand, die ihn lenken.“ Als hätte sie ihr soeben ein Geheimnis offenbart, zwinkerte ihr Zimmermädchen.

Marie lächelte wohlwissend. „Vielleicht sollten wir tauschen. Du und ich.“ Sie blickten einander an und prusteten im nächsten Augenblick los.

Die Kaminuhr schlug zur vollen Stunde. Beim Klang des kleinen Glockenspiels nahmen sich die Frauen wieder zusammen. „Ich muss los.“ Tara stand auf. „Man wartet Zuhause auf mich. Wünscht du noch etwas, bevor ich gehe?“

Marie war versucht mit den Augen zu rollen. „Ich werde mich nie daran gewöhnen, dass du das fragst.“

„Als eine Bedienstete der Königin ist es meine Aufgabe, dass du alles hast, was du wünschst.“

Ich weiß, seufzte Marie innerlich, während Tara die Sofakissen auflockerte und neu drapierte. Sie würde noch eine ganze Weile brauchen, um sich an ihr neues Leben zu gewöhnen.

„Wann möchtest du aufstehen?“

„Schluss jetzt! Das entscheide ich morgen selber. Na los, du hast schon längst Feierabend.“

Anklagend hob Tara den Zeigefinger. „Eine Bedienstete hat nie wirklich frei“, erklärte sie, als würde sie einen Kodex zitieren, den sie in und auswendig kannte. „Sie ist da, wenn man sie ruft und…“

„Du bist ja genauso schlimm wie Thorin. Mach, dass du nach Hause kommst!“, schimpfte ihre Herrin kaum ernstgemeint. „Wir sehen uns morgen.“ Mit einem Grinsen im Gesicht knickste Tara und verschwand.

Als sie gegangen war, schob Marie das Buch unter das Beistelltischchen neben dem Sofa und schaute dem Kaminfeuer zu, die Ruhe des Abends genießend. Heute war kein Brief für sie angekommen und so konnte sie nur weiterhin sehnsüchtig auf das Antwortschreiben aus Kerrt warten. Sie musste unbedingt wissen, wie es Anna, Mel und Greg ging, und sie musste ihnen von der Audienz berichten. Dass sie ihre erste Feuertaufe unbeschadet überstanden hatte und dass Thorin ziemlich stolz auf sie war. Hoffentlich hatten sie dem Raben ausreichend zu Fressen gegeben. Marie hatte es extra in ihrem Brief erwähnt. Ohne eine Belohnung konnten die Vögel ziemlich stur sein, weshalb sie damals stets für den Raben, der heimliche Briefe zwischen einem Prinzen und einem Mädchen aus Dale überbrachte, etwas vom Essentisch hatte mitgehen lassen.

Geplätscher von Wasser lenkte sie von ihren Gedanken an ihr altes Leben ab. Marie verließ die gemütliche Couch und tapste zum Waschraum. Warmer Wasserdampf quoll ihr entgegen, als sie die Tür öffnete und ein amüsiertes Lächeln ihre Lippen streifte. „Darf man behilflich sein?“

In der Badewanne hockte Thorin und war gerade dabei mit kompliziert aussehenden Verrenkungen seinen Fuß mit einer Salbe einzuschmieren. „Dreckmist…“

Schmunzelnd trat Marie ein und schloss die Tür hinter sich. Sogleich legte der Krieger sein Bein über den Wannenrand, damit sie besser an seinen Fuß rankam, und hielt ihr den überdrüssig gewordenen Tiegel der Salbe entgegen. Mit Hocker und Salbe ausgestattet setzte sie sich neben die Wanne. Neugierig roch sie daran, überschlug im Kopf die Rezeptur anhand dessen, was ihre Nase ihr verriet, rieb die wachsartige Paste zwischen zwei Fingern und beäugte dabei die feine Verarbeitung des Holzes des Tiegels. "Die ist gut. Von wem ist die?"

"Von der Elbe“, antwortete er und verzog plötzlich das Gesicht.

„Tut es weh?“

„Hmmm. Halb so schlimm.“

„Ich weiß, dass du viel Arbeit aufzuholen hast, doch du solltest es nicht übertreiben, Liebling. Das tut dir nicht gut, wenn du den ganzen Tag auf den Beinen bist. Du bist noch nicht wieder vollständig genesen, auch wenn du das vielleicht denkst. Schon dich lieber noch eine Weile.“

„Mir geht es gut“, war alles, was er sagte.

Seinem stoischen Widerspruch konnte sie auf die Schnelle nichts entgegenhalten. Beim Einmassieren der Salbe fühlte Marie die vielen Unebenheiten, dort wo Azogs Schwert ihm die Knochen gebrochen hatte. Gleichzeitig sah sie die Narben, die die feindliche Waffe hinterlassen hatte, in aller Deutlichkeit. Oben auf dem Fußrücken und unter der Sohle. Wie ein Nagel durch ein Brett… Unwillkürlich lief es ihr kalt den Rücken runter. Was damals genau in jenem Augenblick geschah, konnte sie nur erahnen. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, kam sie dennoch nicht drum herum, über das Leben nachzudenken, das diesem Mann erneut geschenkt wurde. Der Krieger lag mit geschlossenen Augen und zurückgelegten Kopf in dem heißen Badewasser. Wasserperlen hingen an den dunklen Haaren auf seiner Haut. Auf seiner Brust ruhte die Kette, die er nie ablegte. Jene Kette, die sein Leben gerettet hatte. So ein kleiner, unscheinbarer Anhänger… Vermag tatsächlich so ein kleines Ding, die Gesetze der Natur aus ihren Fugen zu heben?

Erneut fuhren ihre Finger die Narben entlang, die als Einzige von dem Wunder übrig geblieben waren. „Wie hast du das nur überleben können?“ Ihr Flüstern brach die Stille für einen Atemzug. Thorin schwieg. Es war keine Frage, auf die sie eine Antwort wollte. Es gab keine Antwort, um das zu erklären, was damals im Lazarett geschehen war.

„Erzähl mir etwas, mell nin“, wisperte er zwischen Wasserdampf und Stille. Müge klang seine Stimme und Marie nutzte die Gelegenheit, um ihn und sich selber auf andere Gedanken zu bringen. Sie erzählte ihm von Suurin und den anderen, die nach der Versammlung schon auf sie gewartet hatten und sie mit Umarmungen beinahe erdrückten. Nicht nur gratulieren wollten die Frauen ihr, sondern sie für Erledigungen in der Stadt für den nächsten Vormittag einladen. Sie sprachen davon, Madame Asrik einen Besuch abzustatten, damit Meister Falo ihnen etwas für die Versammlung der Sieben, die schon sehr bald stattfinden sollte, schneidern konnte. Außerdem berichtete sie, dass dieser heute Morgen die Truhen mit den Kleidern, die die Jungs für sie beiseitegelegt haten, mitgenommen hatte, um sie für sie umzuändern. Thorin war zufrieden damit, doch Marie grinste in sich hinein. Man gut, dass er nicht wusste, dass sie bei Meister Farlo auch einen ausreichenden Vorrat an Hemden und Hosen vorbestellt hatte.

„Außerdem will ich Tauriel gleich Morgen aufsuchen. Ich durfte noch nie jemanden von dem Volk der Eldar begegnen. Das muss ich ausnutzen. Es gibt so vieles, was ich sie fragen möchte.“ Ihr Gefährte teilte ihren Enthusiasmus kein Stück. Er schaute sie an, als würde sie ihm die langweiligste Geschichte erzählen, die er je gehört hatte. „Ob du willst oder nicht, ich werde ihr einen Besuch abstatten.“

„Tu, was du nicht lassen kannst. In drei Tagen ist sie weg und Erebor ein Problem leichter.“

„Kili schien vorhin ziemlich aufgebracht deswegen zu sein…“, erwähnte sie, während sie weiterhin die Salbe in seinen Fuß einmassierte.

„Mit diesem Jungen stimmt irgendetwas nicht. Ich habe die ganze Zeit ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache.“

„Ich glaube, er ist ziemlich angetan von ihr.“

Seine Miene erfror. „Das soll wohl ein Scherz sein.“

Marie konnte nur mit den Schultern zucken. „Wäre ihm jedenfalls nicht zu verübeln… Sie ist sehr hübsch.“

„Noch ein Wort und ich verlasse den Raum.“

„Ach, Thorin“, seufzte sie und blickte ihn nur belustigt an. „Lass dem Jungen doch ein wenig das Schwärmen. Haben wir nicht alle schon mal jemanden angehimmelt, den wir nicht haben konnten?“

„Hör lieber auf, bevor ich noch mehr Puls kriege.“

Marie konnte nur schwer ernst bleiben. Sie wusste, dass sie ein schwieriges Terrain erreicht hatte und konnte dennoch über den grummeligen Zwerg dort im milchigen Badewasser nur schmunzeln. Für heute sollte es jedoch genug sein. Morgen würde sie selber Nachforschungen anstellen.

Zufrieden mit ihrer Behandlung schraubte Marie die Salbe zu, räumte den Hocker beiseite und begann, sich Morgenmantel und Nachthemd zu entledigen. „Ist hier noch ein Platz frei?“ Als Antwort rückte Thorin bis an den Wannenrand und schob die Beine für sie auseinander. Noch schnell streifte sie ihre Socken von den Füßen, ehe sie zu ihm stieg. Heißer Dampf stieg von der Wasseroberfläche auf und liebkoste ihre Haut. Vorsichtig ließ sie sich ins Wasser sinken und wurde an eine genauso heiße Brust gezogen. Das Wasser umschloss ihre nackten Leiber wie ein Kokon aus Geborgenheit. Ihr Kopf ruhte auf seiner Brust, während ihre Finger durchs Wasser glitten und kleine Wellen die Oberfläche kräuselten.

„Du hast mir noch gar nichts von der Versammlung erzählt.“

„Nein?“ Thorin schöpfte Wasser in die hohle Hand und benässt ihr Haar.

„Nein. Alle reden davon als sei es das Ereignis des Jahres.“

„So kann man das auch nennen. Versammlungen dieser Art habe eine lange Tradition bei meinem Volk.“ Dann fing er an, Strähnen an ihrer Kopfseite zu verlesen und seine Finger durch ihr nassen Haar zu ziehen. Marie schloss die Augen, genoss seine Fürsorge in vollen Zügen, hörte seiner Stimme und dem Schlagen seines Herzens zu.

Die Versammlung der Sieben war eine Einberufung aller Zwergenreiche. Abgesandte aller Königshäuser sollten schon zum nächsten Vollmond in Erebor eintreffen. Seit Wochen laufen die Vorbereitungen. Thorin versicherte ihr, dass er die meiste Arbeit von ihnen beiden haben werde. Ihre Aufgabe würde es sein, die gute Gastgeberin zu spielen und sich um die weiblichen Begleitungen der Fürsten zu kümmern. Die Festlichkeiten sollten drei Tage dauern und beinhalteten einige wichtige Aufgaben. Verträge würden geschlossen werden, Freundschaften gepflegt. Erebor musste seinen Platz wieder im Kreise der Königreiche finden. Er muss über den Handel unter den Reichen verhandeln. Jede Menge Politik also, mit der Marie nicht wirklich etwas anfangen konnte.

„Wissen sie von mir?“, lautete eine der Fragen, die sie beschäftigte.

„Ich habe die Einladungen rausschicken lassen, bevor ich nach Kerrt aufbrach. Man kann also sagen, dass du eine Überraschung sein wirst.“

„Na, super.“

„Ich wünschte, ich könnte es dir ersparen, mein Liebling, aber diese Versammlung ist sehr wichtig für Erebor.“

„Schon gut. Bis dahin werde ich mich noch an einiges angewöhnen müssen“, sagte sie und sah ihre imaginäre Liste an Dingen, die sie bis zum nächsten Vollmond wissen musste, immer länger werden. „Thorin?“

„Hm?“

„Zeigst du mir morgen das Gold?“ Es wurde mucksmäuschenstill im Raum.

„Ich werde versuchen es einzurichten“, antwortete er, mehr mit sich selbst beschäftigt als mit der Tragweite ihres Wunsches. „Ich weiß es aber noch nicht genau. Muss die liegengebliebenen Sachen noch abarbeiten…“ Ohne, dass sie etwas davon mitbekam, zerschellten seine Gedanken aneinander wie brechendes Eis. Er war seit Monaten nicht mehr in der Schatzhalle gewesen, hatte diesen Ort gemieden wie Wanderer ein giftiges Moor. Wie sollte er bloß den Anblick des Schatzes aushalten?

„Oh, bitte!“ Voller Vorfreude fuhr Marie zu ihm herum. Wasser schwappte auf. „Ich kann es kaum erwarten, den Schatz zu sehen!“ Ihre funkelnden Augen waren kaum auszuhalten.

Thorins Hals wurde immer enger. „Ich versuche es.“

„Wie groß ist er?“

„Was?“

„Das Gold. Wie viel ist es?“

Ruhig… Ganz ruhig… „Das lässt sich schwer schätzen. Es ist auf jeden Fall mehr als du dir vorstellen kannst.“ Das Wasser war nicht länger ruhig. Ohne von der Gefahr etwas zu ahnen, hatte Marie das Monster aufgeschreckt. Smaugs Geist regte sich in seinem Gefängnis und Thorin spürte die Aufmerksamkeit des Drachen sich auf Marie richten.

Atmen. Einfach weiteratmen. Das Drängen und Ziehen unter seiner Haut wurde immer stärker, dann erklang Smaugs Stimme in seinem Kopf.

Wie fühlt es sich an, sie Tag für Tag anzulügen?

Thorin presste die Kiefer aufeinander. Seine Hände griffen in die Laken, die die Wanne auskleideten. Die das Gold vor ihm verbergen sollten.

Ich verzeihe dir deine Auflehnung ein letztes Mal. Mein Angebot steht. Nun bist du am Zug. Schlag ein und verbünde dich mit mir, es ist für alle das Beste.

„Ich kann es kaum erwarten“, sagte Marie erneut und machte auf einmal Anstalten, sich auf ihn zu zubewegen. Smaug grummelte. Das Geräusch aus der Kehle eines Drachen, so nah und so tief, ging ihm durch Mark und Bein. Wasser perlte über ihrem Oberkörper, als sie sich neben seinem Kopf auf der Wanne abstützte und auf seinen Schoß glitt.

Jetzt weiß ich, was du an ihr findest... Willst du sie wirklich opfern, nur weil dein Stolz dir wichtiger issst? Jammerschade. Ich dachte, dir liegt etwas an ihr... Leg deinen Starrsinn ab, Thronräuber, und verbünde dich mit mir. Dann werde ich sie verschonen. Versproccchen…

Bewegungsunfähig starrte Thorin zu ihr auf. Mit verführerischen Bewegungen strich sie ihm über die Schultern und die Brust. Atmen… ATMEN!

Als wäre dies nicht schon genug, ging ihre Fragerei weiter. „Was willst du mit dem Gold anstellen?“

Wie er seine Stimme fand, war ihm in diesem Moment schleierhaft. „Es muss einiges in Erebor repariert werden…“

„Ja, aber da bleibt doch noch sicherlich etwas übrig vom Gold.“

Ihre Hüften… Thorin glaubte, sterben zu müssen.

„Wieso habt ihr überhaupt so einen Schatz? Das ist doch pure Verschwen…“

Sein Überlebensinstinkt übernahm all sein Handeln. „Stopp!“ Er packte Marie mit beiden Händen. Endlich hielt sie still. Irritation stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie auf diese Weise auf Abstand gehalten wurde. Thorin machte zwei tiefe Atemzüge gegen die Dunkelheit in seinem Körper. Er mied ihren Blick und presste hervor: „Würdest du bitte von mir runter gehen?“

„Oh. Ich, ähm… Wie du meinst…“ Sie rutschte von ihm runter.

So schnell er Halt bekam, stand Thorin auf, stieg aus der Wanne und riss ein Handtuch an sich. „Tut mir leid, ich…bin nicht in Stimmung.“

„Wir können auch nur kuscheln“, versuchte sie ihn wieder ins Wasser zu locken, als er schon begann, sich flüchtig abzutrocknen.

„Es ist schon spät.“ Er schlang das Handtuch um seine Hüften. „Ich muss noch ein paar Listen durchgehen. Balin wartet darauf.“

„Oh.“ Die Enttäuschung malte Spuren in ihr Gesicht. „Würdest du mir auch ein Handtuch reichen?“ Verpufft war die Intimität wie Staub im Wind.

 

~

 

Wie Milch strahlte die helle Haut ihrer Beine zwischen den Fellen. Ihr Haar glänzte mit dem Abendrot am Himmel um die Wette. Ihr Atem und ihr Duft hüllten ihn ein und ihre Fingerspitzen, die zärtlich durch das Haar auf seiner Brust fuhren, schickten ihn tiefer und tiefer in einen dämmrigen Zustand. Beide hatten die Augen geschlossen und fühlten die Wärme des anderen Körpers, noch die vergangenen Minuten genießend. Plötzlich riss Tauriel den Kopf hoch. „Hast du die Tür verriegelt?“

Ihre Worte mussten sich erst einen Weg durch sein, vor Glücksgefühlen benebeltem Hirn bahnen. „Kili? Kili, da ist jemand!“ Erst jetzt verstand er es. Alarmiert schreckte er hoch. In diesem Moment klopfte jemand an der Tür.

„Kili, bist du da?“

Er und Tauriel sprangen aus dem Bett. „Einen Moment!“, schrie er, in der Hoffnung, sein Bruder würde es beherzigen. Kurz vor einem Herzinfarkt stehend zwängte er sich in seine Hose,. „Versteck dich!“ Die Elbe warf die Hände in die Höhe und wirbelte auf der Suche nach einem Versteck herum.

„Kann ich reinkommen?“

„MOMENT!!“ Kilis Blick überflog das Bett und das Chaos, welches sie veranstaltete hatten, währenddessen klappte Tauriel seinen Schrank auf und zwängte sich rückwärts zwischen seine Klamotten. Die Kleidung!

„Kili, was soll das? Bist du auf‘m Schacht?!“

Er sammelte alle weiblichen Sachen vom Fußboden auf, die er so schnell finden konnte, und schleuderte sie in den Schrank, wo Tauriel, nackt wie sie war, bereits kauerte. Dann knallte er die Tür zu. Einen Wimpernschlag später kam Fili hereinspaziert.

Kili wirbelte zu seinem Bruder herum. „Was an, ich komme gleich, hast du nicht verstanden?“

„Was ist los mit dir?“

„Gar nichts. Was soll mit mir los sein?“

Fili sah zum Bett hinüber. „Hast du gepennt?“

„Hmm.“ Mit all seinem schauspielerischem Talent gähnte und streckte er sich ausgiebig. „Bei der Audienz wäre ich schon fast eingeschlafen.“ Um vom zerwühlten Bett abzulenken, trat Kili seinem Bruder direkt vor die Nase. „Also, was willst du?“ Doch dieser ging an ihm einfach vorbei.

„Wir müssen reden, Kili.“

„Wenn du schon so anfängt…“

Fili setze sich auf die Bettkante und Kili brach der Schweiß aus. „Du kannst doch nicht so ein Theater wegen dieser Elbe veranstalten - und das vor aller Augen. Was sollen die Leute denken? Kili, wir stehen in der Öffentlichkeit.“

„Die Öffentlichkeit kann mich mal.“

„Du gehörst zur Königsfamilie – schon vergessen? Du musst lernen, wo dein Platz ist. Ich habe den meinen gefunden“, sprach sein Bruder, so ruhig und mit sich selbst im Reinen, dass er plötzlich viel älter und weiser wirkte als er tatsächlich war. „Und das solltest du auch.“

Kili drehte sich von ihm weg. Er hatte die ständigen Vorwürfe satt. Doch Fili ließ nicht locker. Etwas anderes hatte er auch gar nicht erwartet…

„Du bist Prinz dieses Landes und auch du hast Pflichten. Außerdem bist du ein Zwerg und sie eine Elbe, also krieg das endlich in dein Hirn rein und vergiss sie. Dass Tauriel geht, ist die richtige Entscheidung. Sie war lange genug hier.“

„Du kennst sie ja gar nicht!“, polterte es aus ihm heraus. „Bis auf ein paar Worte habt ihr doch nie miteinander gesprochen. Du hast ihr noch nicht einmal eine Chance gegeben.“

„Wieso sollte ich das? Sie gehört nicht hier her und das weißt du auch. Es ist das Beste, wenn sie…“ Mitten im Satz brach er ab. Sein Bruder wusste nicht, was Fili entdeckt hatte, bis dieser im nächsten Moment zu schnüffeln begann. Wie ein Jagdhund drehte Fili sich hin und her, um auszumachen, woher dieser Duft rührte. Dann entdeckte er etwas. Dort, wo er saß, zog Fili etwas unter der Decke hervor. „Sag mir jetzt bitte nicht…“ Ein Strumpf aus grüner Wolle kam zum Vorschein.

„Das ist meiner“, verteidigte sich Kili und verschränkte betont gleichgültig die Arme. Im nächsten Moment schon erbleichte er, als Fili den Strumpf drehte und eine kleine grüne Schleife erschien. Er ließ ein Ende des Strumpfes los und Kili musste machtlos mitansehen, wie dieser sich zu seiner vollen Länge ausrollte. So lang und dünn, dass er unmöglich einem Zwergenmädchen passen würde. Sein Bruder hob den Blick zu ihm. Todesernst. „Wo ist sie, Kili?“

„Wo ist wer?“

„Schluss mit den Spielchen! Ist sie unter dem Bett?“ Fili machte Anstalten unter dieses kriechen zu wollen. „Wo hast du sie versteckt?“

„Ich habe niemanden versteckt!“ Kili zog ihn da weg, doch sein Bruder schubste ihn beiseite und durchkämmte den Raum.

„Tauriel, komm raus!“

„Sie ist nicht hier!“

„Für wie blöd hältst du mich eigentlich?“ Er drückte ihm den Strumpf als Beweismittel ins Gesicht. „Tauriel, ich weiß, dass du hier bist! Komm raus, verdammt!“

„Hör auf hier herumzuschreien!“

„Ich schreie doch gar nicht!!“

Wie von Zauberhand öffnete sich die Tür des Kleiderschrankes. Erst eine Türhälfte, dann die andere. Entgeisterte starrte Fili die Elbe an, die sich zwischen Kilis Klamotten hindurchschob und sich nun vor ihnen aufrichtete. Mit Schamesröte im Gesicht versuchte sie, ihre Sachen vor ihre Blöße zu halten, während ihre roten Haare ihre Brüste verbargen. „Hallo, Fili.“

Kili schlug seinen Bruder gegen die Brust, damit dieser zu gaffen aufhörte.

Wie ein Fisch auf dem Trockenem schnappte Fili nach Luft. „Du… Sie…“

„Ich kann alles erklären…“

Fili wirbelte zu ihm herum. „Was gibt es da zu erklären?! Ihr habt sie doch nicht mehr alle! Ihr alle beide! Das ist kompletter Wahnsinn! Du hast ja noch nicht einmal die Tür verschlossen?! Stell dir mal vor, unser Onkel wäre reingekommen? Wie kann man so unverantwortlich sein! Hörst du mir überhaupt zu?“

Ehe noch jemand hereinkommen konnte, eilte Kili ungeachtet der Schimpftirade zur Tür und wagte einen Blick den Flur entlang. Keine Seele war zu sehen. Er schloss die Tür wieder und legte diesmal den Riegel um. Danach holte er Tauriel die Bettdecke. Dankbar hüllte sie sich darin ein und schenkte ihm einen kurzen Blick, während sein Bruder zornerfüllt zusehen musste. Ihre Augen, nur den Bruchteil einer Sekunde, setzten ihn von Neuem in Brand.

„Ich liebe sie, Fili.“ Die Worte waren ausgesprochen, noch ehe er darüber nachdachte. Filis Kinnlade klappte herunter. Tauriel sah zu Boden, klammerte sich am Zipfel der Decke fest, doch er erwischte das Lächeln, was ihre Lippen hob. „Ja“, er sah die Frau an, die die Welt für ihn bedeutete und all Ängste waren auf einmal fort, „ich liebe sie.“

„Oh, nein, das tust du nicht! Du bildest dir das ein.“

Die Worte seines Bruders hinterließen pures Gift. Kili funkelte ihn an, sein Innerstes vor der Zerstörung schützend. „Was weiß du schon? Du hast doch gar keine Ahnung!“

„Ich weiß, dass du dich da in etwas hineinverrennst, was du noch bitter bereuen wirst.“

„Dann soll es so sein.“

Mit den Nerven am Ende vergrub Fili das Gesicht in den Händen. „Dann kann doch nicht wahr sein… Ist dir eigentlich klar, was du hier tust? Thorin bringt sie um, wenn er das erfährt. Schon mal daran gedacht? Und dich enterbt er und wirft er vor die Tore.“

„Wir können es nicht rückgängig machen.“ Die Brüder sahen zu der Elbe, die auf dem Bett kauerte, die Decke fest um sich geschlungen. Ihr Anblick zerriss ihm das Herz. Kili ging zu ihr, setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand, hielt sie fest. Er wollte jeden Moment, jeden Berührung auskosten, ehe es vorbei war.

Fili sah von Kili zu Tauriel und wieder zurück. Zu ihrer Überraschung kam er zu ihnen herüber und gab Tauriel ihren Strumpf zurück. Seine Stimme war um einiges ruhiger als noch vor wenigen Augenblicken, doch seine Wut war immer noch zu spüren. „Das muss aufhören. Habt ihr verstanden?“

Sie nahm den dargebotenen Strumpf. „Es wird nicht wieder vorkommen.“ Es wurde still, als man auch auf eine Antwort von ihm wartete.

„Ja, es kommt nicht wieder vor“, knurrte Kili und wusste im selben Moment, dass er dieses Versprechen nicht halten konnte.

„Das will ich hoffen.“ Fili trat noch näher und flüsterte: „Das, was in diesen Wänden vorgefallen ist, darf niemals herauskommen. Hört ihr? Niemals.“

„Niemals“, antwortete Kili und besiegelte damit ein Geheimnis, das sie von nun an zu dritt teilten.

„Noch drei Tage“, Fili faltete flehend die Hände. „Reißt euch bitte für drei Tage zusammen. Geht das?“ Tauriel nickte. Kili nickte. „Gut.“ Fili sah die beiden vor sich auf dem Bett ein letztes Mal eindringlich an, dann schüttelte er sich und machte auf dem Absatz kehrt.

„Wohin willst du?“, rief Kili ihm nach.

„Mir was zu Trinken besorgen, damit ich diese Bilder aus meinem Kopf kriege!“ Fili machte die Tür hinter sich mit einem Rumsen zu, als wollte er sicher gehen, dass sie auch zu war.

„Tut mir leid“, wisperte Tauriel, als die Stille in die Gemächer einkehrte.

„Nein, mir tut es leid. Ich wollte nicht, dass so etwas passiert.“

Die Nacht füllte das Zimmer mehr und mehr mit Schatten, als sie endlich aufstanden und begannen, die Fetzen aufzusammeln, die ihre geplatzte Traumwelt hinterlassen hatte. Wortlos zogen sie sich an und Tauriel verschwand still und heimlich aus dem Gemach des Prinzen.

 

17

 

 

Kein Gelb zu Eurem hellen Haar, meine Liebe! Was ihr braucht, ist ein Blau wie dieses hier.“ Madame Asrik war eine wohlhabende Dame mit schillernder Persönlichkeit. Sie hieß die Vier in ihrem Geschäft in der Rosengasse unter Verbeugungen Willkommen, schenkte ihnen von der ersten Minute an ihre volle Aufmerksamkeit und war ununterbrochen mit Rat und Tat zur Stelle, während ihre Helferinnen einen Stoff nach dem anderen holten und wieder wegräumten. Gerade präsentierte sie Suurin Seide in einem wunderschönen Mitternachtsblau. Der Turm auf ihrem Kopf, den ihre dunklen Haare darstellten, war zu einer Fadenspule geflochten, in der zwei überdimensionale Nähnadeln steckten. Ihre goldenen Ketten und Ringe funkelten mit ihren Augen um die Wette, das Geschäft ihres Lebens witternd.

„Marie, wie gefällt dir Taft?“

Die Angesprochene versuchte, das Gesicht nicht zu verziehen. Was Bruna da hochhielt, sah aus, als hätte ein Riese in den Himmel gegriffen und ein Stück aus einer rosaroten Wolke herausgeschnitten. „Etwas zu viel für meinen Geschmack“, antwortete sie ausweichend. „Dir würde es viel besser stehen.“

Bruna hielt sich das rosa Etwas an den Körper. „Findest du?“

„Damit ziehst du auf jeden Fall die Blicke auf dich. Wie findest du das hier? Ich mag das Blau“, sagte Marie und blickte auf den Stoff, den sie zwischen all den anderen ausgegraben hatte. Mittlerweile lagen auf dem großen Präsentationstisch dutzende Stoffbahnen und Tücher kreuz und quer übereinander, sodass man sich mitunter durcharbeiten musste. Kaum ausgesprochen schwebte Madame Asrik herbei.

„Eure Hoheit, mit Verlaub. Ich habe bei Euch an etwas Beeindruckenderes gedacht“, sprach sie und warf einen anderen Stoff über den von Marie ausgewählten. Augenblicklich entfuhren ihren Begleiterinnen begeisterte Töne. Marie stand der Mund auf, als sie auf das intensive Rot starrte. „Dazu noch das.“ Tüll und ein feines Gewebe wurden darüber gelegt und plötzlich glitzerte der ganze Tisch. Madame Asrik quittierte ihr Staunen mit blitzenden Augen. „Silber- und Goldfäden. Feinste Handarbeiten aus dem Süden, Mylady. Wie geschaffen für Euch.“

Maries Finger zog es magisch zu Madame Asriks Kreation. So etwas hatte sie noch nie gefühlt, geschweige denn gesehen. Winzige Steinchen waren in dem Gewebe eingearbeitet. Das darunterliegende Rot und die Goldfäden spiegelten sich in diesen wieder, als würden überall winzige Feuer flackern.

„Ihr werdet die Schönste des Abends sein. Ihr seid Erebors Flamme. Ich sehe es schon vor mir!“

„Gekauft!“, schoss es aus Minars, Sus und Brunas Munde gleichzeitig.

Hilflos blickte Marie zu ihren Begleiterinnen, denen die Vorfreude in den Gesichtern geschrieben stand, und erkannte, dass sie nichts entgegnen konnte, was die verzückten Frauen umstimmen könnte. Neben ihr wartete Madame Asrik strahlend auf eine Bestätigung. Ihr Herz pochte spürbar, als sie über ihren Schatten sprang. „Ich nehme es.“

Die Frauen jubelten. Su kreischte los und hüpfte auf und ab. Madame Asrik fiel in eine tiefe Verbeugung. Die Fadenspule musste an ihrem Kopf festgeklebt sein, denn sie blieb selbst jetzt an Ort und Stelle. „Eine vortreffliche Wahl.“

Maries Blick begegnete Minars und sie spürte, dass Minar als Einzige ihre wahren Gedanken erraten hatte. Während die Helferinnen bereits alles beiseiteräumten, kam die schwarzhaarige Zwergin zu ihr, legte den Arm um sie und führte sie so ein paar Schritte weg.

„Los, raus mit der Sprache.“

„Es ist nur…“ Su und Bruna waren wieder von Madame Asrik belagert, sodass ihr Gespräch unter ihnen blieb. Marie seufzte und spürte auf einmal die Last auf ihren Schultern, den Erwartungen eines ganzen Königreiches zu entsprechen. „Minar, ich habe noch nie so viel auf einmal ausgegeben. Das muss doch Unmengen kosten! Diesen Luxus… Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich so viel für Kleidung ausgebe. Wird Thorin mir böse sein?“ Zu ihrer Überraschung verzog Minar das Gesicht zu einer Grimasse. Irritiert starrte Marie sie an, bis sie erkannte, dass Minar versuchte, ernst zu bleiben und nicht in Gelächter auszubrechen. „Was ist so lustig?“

„Amboss und Esse! Du bist die komischste Frau, die ich je getroffen habe.“

„Wenn ich geschmeichelt sein soll, sag mir Bescheid.“

„Falls du Angst hast, deinen Verlobten arm zu machen, dann kann ich dich beruhigen. Das würdest du nichts einmal in hundert Jahren schaffen. Du wirst es verstehen, wenn du den Schatz gesehen hast. Dann denkst du ganz anders darüber.“

Beim besten Willen, Marie konnte sich die Dimensionen dieses mysteriösen Schatzes nicht vorstellen. Gestern Abend schon konnte Thorin ihr darüber nichts sagen und irgendwie beunruhigte sie der Umstand mehr und mehr. „Ich brauche wohl einfach noch Zeit, um mich daran zu gewöhnen. Wie ist es für dich? Bist du an sowas, wie das hier gewöhnt?“

Ihre linke Augenbraue ging steil in die Höhe. „Mein Mann ist Spielzeugmacher, ich habe fünf Kinder. Rate mal, wie viel wir damals zum Leben hatten.“

„Tut mir leid. Ach, vielleicht stelle ich mich auch einfach nur an. Ich will euch den Tag nicht vermiesen.“

„Unsinn, das tust du doch nicht! Wir genießen es so sorglos zu sein. Unsere Männer sind am Leben. Erebor ist frei. Wir können es uns leisten, dieses Leben zu führen. Ich versichere dir, es gibt keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Die dunklen Zeiten sind vorbei. Dein neues Leben hat begonnen. Entspann dich und genieß es. Außerdem müssen wir Erebors Wirtschaft ankurbeln. Also such dir noch etwas aus. Madame Asrik wird sich freuen.“

„Du hast Recht. Danke für dein offenes Ohr, Minar.“

Sie zwinkerte ihr zu. „Jederzeit wieder.“

Mit dem Vorwand noch ein wenig zu stöbern, streifte Marie durch die Regalreihen, in denen sich dutzende Stoffe verschiedenster Farben, Muster und Varianten stapelten. Sie sollte der Schneiderei in Kerrt ein paar Stoffballen zusenden. Anna und die anderen Näherinnen würden damit sicherlich tolle Kleidungsstücke gewinnbringend an Kunden verkaufen können. Stoffe aus Erebor wären sicherlich ein Kassenschlager in dem verträumten Dorf fernab der großen Handelsrouten. Insgeheim hätte Marie ihre Freundin an diesem Morgen gerne dabei gehabt. Mit der Schneiderkunst kannte sie sich zu wenig aus. Anna würde wissen, was sie alles für ein Ballkleid brauchen würde. Allein bei dem Gedanken, bald unter Königen und Kriegshelden speisen zu müssen, wurde ihr ganz flau im Magen. Bald war der Mond voll. Dann würden Abgesandte aller Zwergenreiche in Erebor eintreffen und ihren jahrhundertealten Bund neu besiegeln. Bis dahin musste sie sich an das Leben unter raufbeinigen und stolzen Männern gewöhnen, die Eleganz einer Königin besitzen und sich einen ausreichenden Wortschatz in Khuzdul aneignen. Sie wollte einen guten Eindruck bei den Fürsten hinterlassen – gerade, weil sie eine Fremde war. Aber vor allem wollte sie, dass Thorin stolz auf sie war.

Nicht zum ersten Mal an diesem Tag wanderte ihre Hand zu dem kleinen, aber sehr schweren Säckchen, welches sie in der Innentasche ihres Rockes verwahrte. Heute Morgen hatte es auf dem Esstisch gelegen. Piljar hatte ihr mitgeteilt, dass Mylord es ihr zur Verfügung gestellt hätte. Neben ein paar Silberlingen und Kupferlingen als Wechselgeld fand sie in dem Säckchen mehrere Goldmünzen. Noch nie hatte sie so viel auf einmal mit sich herumgetragen. War es wirklich egal, für was sie es ausgab?

Marie überwand ihren Respekt gegenüber dem fremden Edelmetall und holte eine der Goldmünzen hervor. Im Licht, welches aus der Stadt durch die Schaufenster in Madame Asriks Geschäft hereinfiel, schimmerte das Gold. In der Hammerprägung wurde das Gesicht von Thror sichtbar. Der Gedanke, alles an einem Tag auszugeben, schien ihr verrückt. Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht alles auf einmal auszugeben und Thorin einen Teil zurückzugeben. Sie wollte seine Macht nicht ausnutzen und zum Wohle Erebors wirtschaftlich haushalten.

„Wir brauchen noch davon… Und davon!“, hörte sie Su in diesem Moment und ließ ihre sparsamen Gedanken lächerlich wirken. Sie trat näher an die Schaufenster, um herauszufinden, ob die Soldaten, die die Frauen seit heute Morgen begleiteten immer noch vor dem Laden warteten. Sie spähte durch die Scheiben und sah ihre Umrisse vor dem Laden. Natürlich standen sie noch da. Ihre Leibwächter hatten wie Schatten an ihnen geklebt – ein weiterer Umstand, an den sich Marie gewöhnen musste. Doch bei allen neuen Eindrücken und Veränderungen… Immer wieder gab es Momente, die wie Sonnenstrahlen durch Wolken blitzten und Licht auf ihr alten, auf ihr normales Leben als einfache Frau warfen.

Schon früh an diesem Morgen war sie wach geworden. Ein paar Herzschläge lang verbrachte sie im Bett und schaute unbemerkt ihrem Mann beim Ankleiden zu – ein Bild, an das sie sich liebend gern gewöhnen würde. Als sie entdeckt wurde, stand sie auf und holte sich einen Kuss von dem mächtigsten Mann Erebors, bevor sie sich zusammen für den Tag fertig machten. An der Tür erbettelte Marie einen Abschiedskuss nach dem anderen, bis sie ihn schließlich in seine Pflichten entließ.

Marie beschloss, vor dem Frühstück ihr neues Heim ein wenig zu erkunden. Sie ging nach unten und schlenderte über den Flur der königlichen Gemächer, bis ein köstlicher Duft ihr in die Nase stieg. Sie folgte ihren Sinnen eine weitere Treppe hinunter und fand kurze Zeit später die Küche. Dort waren Bruna und ihre Helferinnen schon fleißig dabei, das Tagwerk vorzubereiten, als man sie bemerkte. Alle hielten mitten in der Arbeit inne.

„Guten Morgen“, wünschte Marie mit einem breiten Lächeln in die Runde. Als der erste Schreck der Bediensteten überwunden war, knicksten und verbeugten sich alle vor ihr. „Bitte, ihr könnt ruhig weiter machen. Ich wollte euch nicht stören. Ich will mich nur ein bisschen umsehen, wenn es recht ist.“ Die Frauen und Mädchen schauten sich gegenseitig an, als wüssten sie nicht, was sie mit dieser Information anfangen sollten. Sie wirkten scheu und geradezu ängstlich und Marie befürchtete, dass sie sich Sorgen machten, wohlmöglich in Ungnade zu fallen.

„Ihr habt eure Herrin gehört! Na, macht schon! Maulaffen feilhalten könnt ihr später auch noch.“ Wilar scheuchte die Mädchen auseinander und machte ihrer Mannschaft Beine, indem sie ein paar Anweisungen auf Khuzdul hinterherschickte. Marie schenkte der ergrauten Dame ein Lächeln und ließ sich von ihr alles zeigen, während Bruna ihre Aufgabe als Küchenchefin nachging und dafür sorgte, dass die Vorbereitungen für den Tag weiterhin liefen. Es gab einiges in den gewölbeartigen Räumen zu sehen, die mit mehreren Kochfeuern und Arbeitsplatten ausgestatten waren. Darüber waren Töpfe und Pfannen aufgehängt, die für eine ganze Armee reichen würden. Unter der Decke hingen haufenweise Schinken, Würsten und Kräuter. Maries Herz schlug höher. Man zeigte ihr die verschiedenen Arbeitsschritte und die Vorratskammern, von denen gleich mehrere an die Küche anschlossen. Marie roch an Gewürzen, durfte hier und da mal kosten. Allmählich tauten die Bediensteten in ihrer Gegenwart auf und störten sich schon bald nicht mehr an den hohen Besuch – auch nicht, als Marie sich eine Schürze umband.

Als die Frauen und Mädchen sahen, wie sie den Teig griff und mit ihnen zusammen knetete, lachten sie und wirkten sehr gelöst. Ein Liedchen wurde angestimmt und die Zwerginnen kneteten im Takt, reichten die Stücke an ihre Nachbarin weiter und erledigten die nächsten Handgriffe spielend leicht. Marie hatte Mühe mitzuhalten und ließ sich alles ganz genau zeigen. Im gleichen Zuge lernte sie ein wenig Khuzdul, da die meisten Küchenfrauen wie sich herausstellte ihre Sprache nicht verstanden und sie sich mit Händen und Füßen erklären mussten. Marie zeigte auf Dinge und man sagten ihr das dazugehörige Wort, was sie wiederum wiederholte.

Ihre Plauderei neben der Arbeit endetet, als Wilar etwas durch die Küche rief und alle zu Maries Verwunderung mit den Fäusten auf die Tische und Arbeitsplatten pochten. Bruna drehte sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihr um. „Frühstück! Komm, Marie. Wir müssen zusehen, dass alle satt werden.“

Plötzlich stand Marie mitten im Getümmel. „Ist das bei euch normal, dass man das Geschirr und Besteck wirft, anstatt es zu tragen?“ Bestürzt musste sie wieder einmal mitansehen, wie Teller, Messern und Gabeln durch die Luft flogen.

„So geht es doch schneller“, antwortete daraufhin ein junges Mädchen sorglos und griff einen Teller direkt aus der Luft. Als Marie dann auch noch Eier fliegen sah, war es vorbei. In rekordverdächtigter Zeit wurde ein kleines Frühstück für alle gezaubert. Pfannen voller Eier und Speck wurden aufgetischt und alle ließen es sich zusammen an einem Tisch schmecken. Diejenigen, die keinen Platz mehr gefunden hatten, saßen mampfend und schwatzend auf den Arbeitsplatten.

Jede Minute hatte Marie unter den Bediensteten genossen. Leider war die Zeit vorangeschritten und sie und Bruna brachen auf, um sich für das Treffen fertig zu machen.

Mit ihren Gedanken an die herzliche Begegnung von heute Morgen vertieft merkte Marie die Aufregung auf der Straße vor dem Geschäft zunächst nicht. Erst als eine Eskorte von Soldaten direkt vor ihren Augen vorbeiging, wurde sie auf sie aufmerksam. In ihrer Mitte ihr Verlobter.

Eilig trat sie näher an das Schaufenster heran, um einen besseren Blick zu Erhaschen, und drückte sich die Nase an der Scheibe platt. Das Glas war hier und da getrübt, sodass sie nur verfolgen konnte, wie die Soldaten nicht weit von Madame Asriks Geschäft hielten und wie Thorins Silhouette in das Gebäude auf der anderen Straßenseite verschwand. Sie legte die Stirn in Falten. Hatte er nicht gesagt, dass er heute den ganzen Tag den Zustand der Mienen begutachten wollte? Was machte er hier oben in der Stadt?

„Marie, wie gefällt dir Senfgelb?“, erklang eine Frage aus ihrem Rücken und lenkte sie von dem Geschehen dort draußen ab.

 

~

 

Ungeduldig beobachtete Marie, wie ihre Einkäufe in Leinen eingepackt und mit Strohbändern verknotete wurden. „Wer soll das alles tragen?“

„Die Soldaten?“, erwiderte Su unbekümmert. „Dafür sind sie doch da.“

„Wir haben sie zu lange warten gelassen.“

„Das ist ihre Aufgabe, coin mell“, beruhigte sie Minar. „Keine Sorge. Stundenlanges Warten gehört zu ihrem täglichen Brot dazu.“

Während Madame Asriks Helferinnen die Einkäufe nach draußen trugen, verabschiedete sich diese unter mehreren Verbeugungen und Lobesbekundungen von den angesehenen Frauen – sie hatte das beste Geschäft ihres Lebens am heutigen Morgen gemacht.

Als sie aus dem Laden traten, blickte sich Marie sofort um, doch weder Thorin noch seine Eskorte waren zu sehen. Das Aushängeschild des Ladens, in den er verschwunden war, zeigte zu ihrer Verwunderung zwei Pinsel. Einzig ihre vier Leibwächter standen mit den Paketen unter den Armen auf der Straße, stumm wie Statuen auf die nächsten Anweisungen wartend. Ein wenig enttäuscht war sie, dass sie Thorin nicht mehr getroffen hatte.

Als Marie schon dachte, den Einkaufsbummel hinter sich gebracht zu haben, eröffneten ihr die drei, dass es jetzt zum Schuhmacher ging, denn sie brauchten natürlich noch farblich passende Schuhe. Marie biss sich auf die Lippen und hatte keine andere Wahl, als auch dies über sich ergehen zu lassen. Ohne einen Kommentar und ohne eine wahrzunehmende Regung unter den Helmen stapften ihre Leibwächter hinter ihnen her. Nach einer weiteren Ewigkeit verließen die Frauen das Geschäft des Schuhmachers, den Bruna ausgewählt hatte, und Marie war froh, dass sie diesmal nur Bestellungen aufgegeben hatten und den Soldaten keine weiteren Pakete aufdrückten.

„Das hat Spaß gemacht! Wir sollten ab sofort immer zusammen einkaufen gehen.“ Su glich einem strahlenden Sonnenschein, als sie wieder auf die Straße traten. Vor Freude konnte sie kaum still stehen. „Ich kann es nicht erwarten, Meister Farlo die Stoffe zu bringen! Das wird fantastisch!“

„Das stimmt, das sollten wir öfters machen.“

Bruna war genauso begeistert. „Sagt mir Bescheid. Ich bin wieder mit von der Partie.“

„Hat es dir gefallen, Marie?“

„Es ist ungewohnt für mich. Aber danke, dass ihr mich mitgenommen habt.“

Bruna legte ihren fleischigen Arm um sie und zog sie an sich ran. „Du gewöhnst dich schon dran, Süße. Keine Bange.“

„Wir werden dich natürlich immer mitnehmen.“

„Und wenn wir dich mitschleifen müssen!“

Die Zwerginnen lachten über Suurins Euphorie und Marie lächelte von einem Ohr zum anderen. In den drei Frauen hatte sie in kürzester Zeit echte Freundinnen gefunden. Die blonde Su war flippig und leicht zu begeistern, die Minar war stiller, aber eine sehr gute Beraterin und die dicke Bruna war eine Jägerin des neuesten Klatsch und Tratsch, wusste über alles und jeden Bescheid und kannte die besten Läden in der Stadt. Sie waren Grund auf verschieden, aber alle besaßen ein Herz aus Gold.

„Mädels, ich muss nach Hause, ehe mir meine Jungs die Stube auseinander nehmen“, beklagte Minar. Bruna bot an, gleich mitzukommen, denn ihr Heim liege ja auf dem Weg. Auch Su wollte los.

„Geht ihr ruhig“, antwortete Marie. „Ich würde gerne noch Meister Jora einen Besuch abstatten.“ Die drei tauschten unsichere Blicke aus und Marie erkannte das Problem. Sie verdrehte die Augen. „Wenn ich einen Soldaten mitnehme, seid ihr dann zufrieden?“

„Wie wärs mit zwei?“, harkte Su vorsichtig nach.

„Einer oder keiner.“

„Schon gut, du hast gewonnen.“

„Wir nehmen deine Einkäufe mit“, versicherte ihr Minar.

„Ich danke euch. Das ist sehr lieb.“

Ohne etwas sagen zu müssen, reichte einer der Soldaten seinem Nachbarmann die Pakete und trat vor. „Mylady, es wäre mir eine große Ehre, Euch sicheres Geleit zu geben.“

Zufrieden stemmte Marie die Hände in ihre Taille. „Seht ihr? Ich habe alles im Griff.“ Ihnen blieb nichts anderes mehr übrig als Marie alleine losziehen zu lassen. Während drei Soldaten vollbeladen mit den Einkäufen und Minar, Su und Bruna im Schlepptau aufbrachen, wandte sich Marie an den übriggebliebenen Mann. „Wie weit ist es bis zum Haus der Heiler?“

„Ein gutes Stück werden wir gehen müssen, Mylady“, erklang seine tiefe Stimme durch den Schlitz seines Helms.

„Das ist gut. Ich sehe mir gerne die Stadt an. Würdet Ihr mir den Weg zeigen?“ Er streckte den Arm in die entgegengesetzte Richtung und ließ ihr den Vortritt. Eine lange Zeit gingen sie wortlos hintereinander her. In aller Ruhe konnte Marie die Stadt unter dem Berge betrachten, doch immer wieder drehte sie sich nach ihrem Begleiter um. Dessen graue Rüstung sah an ihm viel leichter aus, als sie wahrscheinlich in Wahrheit war, und knirschte typischerweise bei jedem Schritt leise. Zu seiner Uniform gehörte eine dunkle Hose und hohe, ebenfalls gepanzerte Stiefel. Die Rüstung war schlicht und ohne Verzierungen, weswegen Marie vermutete, dass er keinem hohen Rang angehörte. Ihr Leibwächter war so groß wie Thorin und hatte stetes eine Hand an seinem Waffengürtel, wo sein Schwert befestigt war. Alles, was man von ihm persönlich sah, war sein dunkelblonder Bart, der unter dem Helm hervorschaute und bis über seinen Brustharnisch reichte. Ein paar dünne Strähnen waren ineinander verwoben, ansonsten war seine Pracht ohne jeglichen Schmuck.

Marie blieb stehen und auch er blieb stehen. „Kommt an meine Seite.“

Er folgte ihrem Befehl, griff jedoch nach der Waffe und blickte sich um. „Alles in Ordnung, Eure Hoheit?“

Über seine Wachsamkeit musste sie schmunzeln. „Es ist alles in Ordnung. Ich wollte bloß, dass wir nebeneinander gehen.“

„Wenn Ihr das wünscht, Mylady.“

„Ja, bitte. So ist es viel angenehmer für mich.“

„Wir müssen hier entlang.“ Er nahm ihre Aussage kommentarlos zur Kenntnis und führte sie auf einen Treppengang zu, der sich um eine der monumentalen Säulen schlängelte, die den Anschein machten, das Gewicht des Berges auf ihren Schultern zu halten. Sie blickte über das Geländer in die bodenlose Tiefe und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie weit Erebor in den Berg hinein reichte.

Auf dem Weg nach unten ging Marie an der Innenseite, ihr Begleiter mittig der Treppe, um zwischen ihr und jedem Fremden zu stehen, der ihnen entgegenkam. Sie wurde von den Bewohnern des Berges erkannt und man zollte ihr eilig Respekt, indem man sich vor ihr verneigte. Maries Wangen färbten sich rot. „Guten Tag“, sagte sie der alten Angewohnheit geschuldet oder nickte verhalten, wie man es ihr gezeigt hatte. Der Soldat schirmte sie stets von der Bevölkerung ab, die allesamt sichtlich überrascht waren, der Verlobten des Königs zu begegnen. Schließlich waren sie ein paar Ebene tiefer angekommen und ihr Begleiter lenkte sie wieder zwischen Gebäudekomplexen, Geschäften und Wohnstuben hindurch. Um dem unangenehmen Schweigen zu entgehen, beschloss Marie, ein Gespräch anzufangen.

„Wie ist Euer Name?“

Merklich zögerte er. „Raik, Sohn von Ruska“, antwortete er schließlich, sehr überrumpelt von ihrer Frage.

„Ich heiße Marie.“

„Ich weiß, Mylady.“ Sie konnte sein Lächeln nicht sehen, doch sah seine blauen Augen durch den Schlitz seines Helmes aufleuchten.

„Wart Ihr schon mal in einer Stadt der Menschen, Raik?“

„Nein, Euer Hoheit.“

„Es ist nicht viel anders als hier – abgesehen von der atemberaubenden Architektur. Ich kann mich nicht sattsehen an Erebor. Ist es in den anderen Königreichen der Zwerge viel anders?“

„Nein, Euer Hoheit. Die Städte ähneln sich alle. Jede hat jedoch ihren eigenen Charakter.“

„Liegen sie alle unter Tage?“

„Ja, Euer Hoheit.“

„Wie findet Ihr Euch zurecht? Ich würde mich verlaufen, wenn ich die Sonne nicht sehen kann.“

„Zwerge können sich sehr gut unter Tage orientieren.“

„Das ist mir auch schon aufgefallen. Ihr sprecht die Gemeine Zunge sehr gut, Raik.“

„Vielen Dank.“

„Raik, würdet Ihr mir einen Gefallen tun.“

„Natürlich, Mylady.“

„Würdet ihr Euren Helm abnehmen? Ich komme mir sehr dumm vor, wenn ich nicht weiß, wie mein Gegenüber aussieht. Ich will Euch jedoch nicht in Schwierigkeiten bringen, aber ich würde mich aber sehr darüber freuen.“

„Wenn dies Euer Befehl ist, habe ich ihn auszuführen.“ Sie blieben stehen. Raik nahm den Helm ab und klemmte ihn unter seinen Arm. Zum Vorschein kam ein Mann mit dunkelblondem, als Knäul zusammengebundenem Haar, das unter dem Helm versteckt gewesen war. Er besaß blaue Augen und einen relativ kurzen Schnauzbart, während der Rest seines Bartes schon eine ordentliche Länge besaß.

Marie lächelte. „Nun habe ich ein Gesicht zu der Stimme, die mir schon die ganze Zeit bekannt vorkommt. Ihr wart derjenige, der mich vorgestern gewarnt hatte, als mein Verlobter mich gesucht hatte, ist es nicht so?“

„Ich stehe oft vor dem Saal, Mylady.“

„Dann sehe ich Euch ja in Zukunft öfters. Vorausgesetzt ich erkenne Euch mit dem Ding da“, sie wies mit einem Kopfnicken auf seinen Helm. Sein Mundwinkel verzog sich. Sie hatte es tatsächlich geschafft, Raik so etwas wie ein Lächeln zu entlocken.

 

Auf ihrem Weg zum Haus der Heiler verliebte sich Marie mehr und mehr in die Stadt unter dem Berge. Es gab belebtere Viertel mit Geschäften, anderen bestanden nur aus Wohnstuben. Diese wurden, wie sie von Raik erfuhr, Dûm genannt. Die großen Straßen waren für Pony- und Ochsenkarren bestimmt, andere Gassen und Straßen waren schmaler und nur fürs Fußvolk. Viele Werkstätten und Geschäfte waren noch dunkel und karg, Spinnweben hingen in aus den Angeln gerissenen Fenstern und Türen. Verlassen vor so vielen Jahren.

„Könnt Ihr mir sagen, wie es den Bewohnern des Berges geht, Raik?“

„Wir sind mitten im Wiederaufbau, Mylady. Jeder trägt seinen Teil dazu bei, Erebor wieder seine alte Stärke und Beständigkeit zu geben. Der Drache hat vieles beschädigt, aber die gekappten Handelsrouten sind momentan noch das größere Problem. Güter sind noch so knapp, dass man die Wagen schon in den Eingangshallen abfängt. Wir unterbinden dies und begleiten die Fuhren dorthin, wohin sie gehören. Auf Geheiß des Königs sind Männer und Tier scharenweise los, um Vorräte nach Erebor zu holen. Es gibt momentan noch zu viel Nachfrage für zu wenig Ware. Doch man merkt, dass es von Woche zu Woche besser wird. Aller Anfang ist steinig. Wir sind voller Hoffnung und Zuversicht, jetzt, da ein neues Zeitalter für unser Land angebrochen ist.“

Marie wusste, wovon Raik sprach. „Ich weiß, wie es ist, alles zu verlieren. Und ich kenne das Gefühl der Euphorie und der inneren Stärke, sein Heim neu zu schaffen.“

„Das…“ Er räusperte sich. Maries Geständnis schien dem Soldaten sehr unangenehm zu sein. „Das wusste ich nicht, Eure Hoheit.“

„Wie auch?“ Sie lächelte ihn nachsichtig an. „Aber bitte, erzählt mir mehr über dieses Land. Ich höre Euch gerne zu.“

Raik kam ihrer Bitte nach und ließ Marie in alten Erinnerungen schwelgen, als das geheimnisvolle Zwergenreich noch vor ihrer Haustür gelegen hatte. Früher waren die weiten Ebenen mit einem Wald bedeckt, der die Bewohner Dales und die des Erebors versorgt hatte. Durch das verheerende Drachenfeuer war alles niedergebrannt und bis heute verdorrt. Erebor hatte keine Landwirtschaft. Marie sah ein großes Problem darin. Der Handel war elementar wichtig für dieses Land. Erebor lebte davon. Raiks Schilderungen erfrischten ihre eigenen Erinnerungen. Früher fuhren etliche Wagen pro Tag gen Erebor und wieder hinaus, um die Güter, die in den Werkstätten und Schmieden der Zwerge geschaffen wurden in die Städte der Menschen zu bringen.

„Ihr seid hier aufgewachsen?“

„Ja, meine Familie stammt aus Erebor. Es ist mir eine große Ehre meinem Land und Euch zu dienen, Majestät.“

Nicht nur, dass Marie sich sehr geschmeichelt von seinen Worten fühlte. Sie merkte auch, wie stolz Raik auf sein Land war. Er war nur einer von vielen und Marie wurde einmal mehr bewusst, dass die Gefährten nicht nur ein Königreich befreit hatten, sondern einem Volk ihre Heimat zurückgegeben hatten.

Marie wurde auf eine kleine Gasse aufmerksam, in der Stände aus alten Brettern zusammengezimmert worden waren und aufgespannte Segeltücher vor kleinen Lädchen zum Verweilen luden.

„Da ist Markt“, erklärte Raik, der wohl ihren neugierigen Blick bemerkt hatte. „Die Leute tauschen Dinge und Neuigkeiten aus.“

„Können wir uns da umschauen?“

„Gut. Bleibt aber in meiner Nähe.“ Sie bogen in die kleine, verwinkelte Gasse ein und Marie tauchte ein in die raue, aber sehr liebenswürdige Welt von Durins Volk. Man feilschte hart, man bot alltägliche Dinge zum Tausch an oder trank einen Humpen Bier zusammen. Meist waren es Frauen, die mit Körben in der Armbeuge auf einen guten Tausch hofften und die Hälse streckten, um bei dem Nachbarn in die Auslage zu schauen.

Sie entdeckte einen Laden, bei dem man etwas durch großzügige Durchreichen an wartende Kunden verteilte. Münzen wanderten in die aufgehaltene Hand der Verkäuferin. Über ihnen hing ein Schild, das einen Korb voller Gebäck und Brote zeigte. „Ist das ein Bäcker?“ Alleine bei dem Gedanken an Essen spürte Marie ihren Magen aufbegehren. Die Dürfte, die von dort zu ihnen getragen wurden, machten ihren plötzlichen Heißhunger nicht weniger schlimm. Raik bejahte. „Ich würde mir gerne etwas zu Essen kaufen. Möchtet Ihr auch?“

„Das ist mir verboten.“

„Oh. In Ordnung. Wartet kurz, ich bin gleich wieder da.“ Ihr Leibwächter verstand dies als Befehl und verharrte, wo er war, auch wenn seine Miene sein Bedenken preisgab. Als Marie an die Auslage des Bäckers herantrat und einen Blick auf die Gebäcke und Brote erhaschte, fiel ihr dummerweise ein, dass sie sich ja nicht verständigen konnte. Ehe sie auch nur einen weiteren Gedanken an diese Hürde verschwenden konnte, war sie schon an der Reihe. „Ähm, ich hätte gerne das da“, sagte sie ein wenig unbeholfen und zeigte mit dem Finger auf ein nett aussehendes Brötchen, von dem sie hoffte, dass es süß war. Die Frau ihr gegenüber griff nach dem richtigen Gebäck, doch dann zögerte sie und kniff die Augen zusammen. Ihr Blick blieb an Maries Gesicht hängen und an dem nicht vorhandenen Bart einer Zwergin. Da wusste Marie, dass sie erkannt worden war.

Der Verkäuferin fiel vor Schreck das Brötchen aus der Hand und stammelte etwas. Es waren nur zwei kleine Wörter, doch diese hatten zur Folge, dass sich jeder im Umkreis von wenigen Metern nach ihr umdrehte. Marie konnte noch nicht einmal mehr „Hallo“ sagen; schon drängte jeder zu dem Bäcker, um einen Blick auf die Verlobte ihres Königs und Kriegshelden zu erhaschen. Sofort war Marie eingekreist. Sie hatte alle Händen voll zu tun, die freundlichen, aber sehr aufdringlichen Bürger abzuwimmeln und sich ein bisschen Luft zu verschaffen. Verkäufer eilten herbei, um ihr etwas unter die Nase zu halten. Frauen wollten mit ihr schwatzen, Marie konnte nur ausweichend lächeln. Die Bäckerin hielt ihr das Brötchen wie einen Schatz hin. „Danke schön, das sieht köstlich aus.“

„Auseinander! Tretet zurück!“ Wie ein Wellenbrecher pflügte Raik durch die Schaulustigen und drängte die Bürger von Marie weg. In dem Trubel landete eine Frau auf dem Hosenboden und der Inhalt ihres Korbes verteilte sich auf der Gasse. Marie war sofort bei ihr.

„Habt Ihr Euch etwas getan?“ Sie nahm die ältere Dame bei der Hand und half ihr wieder auf die Beine. Diese wirkte sehr erschrocken, als sie mit großen Augen zu ihr aufblickte. „Nat ba´ragg, Uzbada.“

„Tut mir leid, ich verstehe Euch nicht. Wartet, ich helfe Euch.“ Marie sammelte die Einkäufe auf und legte sie ihr zurück in den Korb. Plötzlich war da eine dritte Hand. Ein junger Bengel schnappte sich das Brot der alten Frau und rannte davon. „Hey!“, rief Marie und sah nur noch seine Kehrseite.

„Mylady, soll ich den Dieb ausfindig machen?“ Mit dem Griff am Schwert verfolgte Raik den Jungen mit den Augen.

„Nein, das war doch bloß ein Kind“, hielt Marie ihn zurück und wandte sich der Frau zu. „Nehmt das. Ich hoffe, Ihr könnt Euch ein anderes Brot kaufen.“

Überrascht blickte die Dame auf die Goldmünze, die Marie ihr in die Handfläche legte. Dann hob sie die Augen zu den ihren, drückte die Münze ganz fest an ihre Brust und lächelte glückselig.

„Mylady, bitte.“ Raik wurde ungeduldig.

„Auf Wiedersehen“, sagte Marie zu der Dame, warf den Bewohnern des Viertels, die um sie herum standen einen letzten Blick zu, bevor sie sich von Raik wegführen ließ. „Sie waren nur neugierig und etwas ungestüm“, begann sie sofort einen Beschwichtigungsversuch, als sie unter sich waren. Dass er sich um ihr Wohl Sorgen machte, hatte sie nicht gewollt.

Raik öffnete den Mund, machte ihn aber unverrichteter Dinge wieder zu. Seine Stellung verbot es ihm, Mahnungen an seine Herrin zu richten.

Marie zog den Kopf zwischen die Schultern und grinste entschuldigend. „Ich mache es Euch nicht gerade leicht, oder?“

Er entließ nur ein tiefes Seufzen und bemaß sie eines eindeutigen Blickes.

 

~

 

„Euer Hoheit, welch eine Überraschung!“ Jora umrundete seinen Schreibtisch und kam auf seinen Gast zu, sichtlich erfreut, Marie in seiner Lehrstube zu sehen.

„Verzeiht mir, dass ich unangekündigt hier vorbeischaue.“

Seine grauen Bartschnecken wippten, als er heftig den Kopf schüttelte. „Papperlapapp! Ihr seid mir jederzeit willkommen in meinem Hause. Ein kleiner Rundgang?“

„Nichts lieber als das. Mein Begleiter wird uns folgen.“ Marie wies auf Raik, der hinter ihr den Türrahmen ausfüllte.

„Sicher, sicher. Bitte, hier entlang.“

Das Haus der Heiler war ein freistehendes, rundliches Gebäude mit wunderschöner Mosaikarbeit auf den Fußböden. Meister Jora nannte den Grundriss ein Oktagon, was auch immer das heißen mag, und wurde von Marie mit Fragen über die Heilkunde, die hier gelehrt wird, gelöchert. Jora hatte geduldige Ohren und beantwortete jede ihrer Fragen ausführlich.

„Meine Schüler sind heute alle Zuhause“, erklärte er, während sie durch die leeren Flure schritten. „Morgen früh findet wieder ein Kurs statt. Knochenrichten steht auf dem Plan. Oh, nur keine Sorge, Mylady, unsere Schülern dürfen sich an Tierknochen versuchen“, versicherte er, nachdem er Maries erschrockenen Blick gesehen hatte.

Das Untergeschoss, in dem auch Meister Joras Arbeitszimmer lag, wurde von Torbögen durchbrochen. Die Säulen bildeten einen wunderschönen Gang, der um einen Innenhof herum führte. Dieser war mit einem plätschernden Brunnen ausgestatten und von einer Statue von einer Zwergin bewacht.

„Dort oben sind die Schreibstuben und Lehrräume untergebracht. Außerdem haben wir eine kleine, aber feine Sammlung von Büchern.“

„Eine Bibliothek für Kräuterkunde?“

„Nicht nur Kräuterkunde.“ Mit stolzgeschwellter Brust rückte er die kleine Brille auf seiner Knollnase zu Recht. „Alles, was mit der Heilkunst zu tun hat.“

Allein die Vorstellung durchflutete Marie mit einem Hochgefühl des puren Glücks. „Das hört sich unglaublich an. Es ist einfach so wunderschön hier.“ Magisch wurde sie von der Statue im Innenhof angezogen und sie entdeckte allerlei Details. In der einen Hand hielt die steinerne Frau ein aufgeschlagenes Buch, in der anderen ein Lavendelsträußchen als Symbol für die Lehre der Heilpflanzen. Als Marie an ihrem Gürtel eine Kräutersichel entdeckte, krampfte sich ihr Herz zusammen. Schmerzlich wurde ihr bewusst, was sie alles hinter sich gelassen hatte.

„Ihr seht ihr zum Verwechseln ähnlich, Euer Gnaden“, erklang die Stimme des Gildenmeisters hinter ihr.

Ihre Hand löste sich von der Kräuterkundigen. „Ich bin nicht wie sie“, formten ihre Lippen lautlos. Es auszusprechen, wagte sie nicht. „Ich bin nicht nur hier, um Eure Lehrstube zu bestaunen.“ Die Gedanken an ihren Wald und ihren Kräuterschrank begrabend straffte sie die Schultern und drehte sich zu dem Lehrmeister um. „Ich habe ein paar Fragen an Euch, Meister Jora. Zum Beispiel würde ich gerne wissen, wer meinen Verlobten nach dem Krieg versorgt hat, um ihm meinen Dank auszusprechen.“

„Tut mir leid, aber ich kann Euch dazu nicht viel sagen. Alles, was ich weiß ist, dass es ein Mann aus den Blauen Bergen war, der mit dem Kriegstross kam und später wieder dorthin zurückkehrte.“

Ihre Hoffnungen, von dem Heiler mehr über den schicksalshaften Tag und die Lyrif-Kette zu erfahren und somit ein Stück Licht ins Dunkel zu bringen, erloschen. „Wenn das so ist, könntet Ihr vielleicht einen Brief an die Gilde der Heiler der Blauen Bergen schicken und ihm meinem tiefsten Dank übermitteln? Es ist mir ein wichtiges Anliegen.“

„Das werde ich ohne Umschweife tun.“

„Das wäre wunderbar. Vielen Dank.“

„Ich wäre sehr gerne in jenem Moment dabei gewesen“, gestand Jora, „hätte es mit meinen eigenen Augen sehen wollen. Die Erzählungen, was an diesem Tag geschah, kursieren unter dem Volk. Die Nachricht, unser König sei am Leben, ging herum wie ein Feuer. Es pflanzte in den Herzen eines jeden im Lazarett neuen Mut. Wisst ihr, wie er seitdem genannt wird?“

„Nein. Wie?“

Dechtanogh. Der Totgeglaubte. Er war tot, doch er ist zurückgekehrt in die Welt der Lebenden. Ein Wunder...“ Mit den Gedanken woanders strich er seinen Bart nach, dann beuge er sich zu ihr und flüsterte: „Es gibt ein Gerücht.“

Ihre inneren Warnsignale schrillten. Ihre Sinne waren hellwach, als auch sie näher kam. „Welches Gerücht?“

„Manche halten es für Altweibergeschwätz. Nichts, was man wirklich Beachtung schenken sollte. Ich für meinen Teil habe da so meine Zweifel…“

„Meister Jora…“

„Nun, man sagt, dass unser König Drachenblut besitzt und deswegen unsterblich ist.“

Maries Erwartungen zerfielen in Schall und Rauch. „Drachenblut? Das erzählt man sich?“

„Altweibergeschwätz, sag ich ja.“

Da die Umstände von Thorins Genesung und die Existenz der Lyrif-Kette immer noch geheim waren, versuchten die Zwerge sich natürlich einen Reim darauf zu machen, was passiert war. Gerüchte damit loszutreten war eine unweigerliche Folge dessen. Welche Kraft Gerüchte hatten, wenn sie erst einmal freigelassen wurden, hatte Marie am eigenen Leib erfahren müssen.

Sie versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. Seit Tagen war sie kein Stück näher an Thorins Geheimnis gekommen.

„Wie kann ich Euch noch helfen, Mylady?“ Der ältere Zwerg ahnte zum Glück nichts von dem, was sie beschäftigte und Marie beschwor, auch in Zukunft alles daran zu setzen, die Existenz der Lyrif-Kette zu verschweigen. Die Wahrheit würde all jene Machtbesessenen und nach Unsterblichkeit Gierenden dazu animieren, zu versuchen, Erebor einen weiteren Schatz zu rauben.

„Ich bin auf der Suche nach Arzneien und Pflanzen. Könnt Ihr mir aushelfen?“

Ein schelmisches Lächeln erhellte sein Gesicht. „Kommt, Euer Hoheit. Hier entlang.“ Neugierig folgte sie ihm auf die anderen Seite des Innenhofes, wo er eine Tür aufschloss. „Wir gehen durch die Hintertür.“ Er hielt sie ihr auf und als Marie eintrat, schlug sie sich die Hand vor ihren, vor Staunen offenstehenden Mund.

Ehrfürchtig überquerte sie die Schwelle des kleinen Kräuterladens und wurde augenblicklich von den Düften aberhunderte Kräuter und Blüten eingehüllt. Salbei, Melisse, Pfeffernelken, Lavendel, Eiskraut, Minze, Hasentau, Fenchel, Ammenkraut, Honigschwanz… Die Düfte ließen sie die tiefgehende Verbindung spüren, welches sie mit der Erde, den Wäldern und Wiesen besaß. Durch die Fensterfront und die Eingangstür gegenüber drang Licht in den dämmrigen Verkaufsraum. Die Wände waren mit Holz vertäfelt, das in einem Blau gestrichen war. Die kantigen Reliefs im Holz waren mit goldener Farbe betont und verliehen dem Raum zusammen mit dem Blau einen außergewöhnlichen Charme. Zu ihrer Linken gab es eine lange Theke. Die dahinterliegende Wand bestand vollständig aus meterlangen Regalen, die hunderte Deckelvasen aus Porzellan enthielten. Die rußgeschwärzten Querbalken waren kaum noch zu erkennen, denn über ihren Köpfen hingen überall zum Trocknen aufgehängte Kräuterbündel und Wurzeln.

„Euer neuer Lieblingsort?“

Marie drehte sich zu ihrem Gastgeber um und konnte das Glitzern in ihren Augen nicht verbergen. „Meister Jora, ich… Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Wie eine Traumwandlerin schritt sie durch den Laden, während er ihr freudestrahlend zusah und damit begann, die Lampen und Kerzenteller an den Wänden zu entzünden. Raik hatte sich in einer Ecke positioniert, wo er dem Geschehen beiwohnte. In goldenes Licht getaucht sah Marie überall Utensilien für die Verarbeitung und Konservierung der Pflanzen. Meister Jora erklärte, dass jeder Heiler sich hier mit Kräutern für seine Heilstube eindecken konnte oder im Hinterzimmer seine eigen gepflückten Pflanzen verarbeiten konnte. Als Marie die gläsernen Glocken sah, die man über Pflanzentöpfe gestülpt hatte, wurde ihr bewusst, dass dies die ersten Pflanzen waren, die sie in Erebor sah.

„Als Heilerin dürft Ihr jederzeit hier herkommen und Euch das nehmen, was Ihr braucht.“

Sie fuhr zu ihm herum und musste an dem Stein in ihrer Kehle schlucken, der sich dort eingenistet hatte. „Ich bin keine Heilerin. Nicht mehr.“

„Nein.“ Plötzlich stand Jora vor ihr und Marie sah den weisen Zwerg in die Augen. „Ihr seid eine heilkundige Frau und so, wie es mir zugetragen wurde, seid Ihr auch in Besitz einer Zulassung. Und damit auch eine Heilerin“, sprach er und hielt ihr einen Schlüssel hin. „Dieser Laden steht Euch Tag und Nacht offen.“

Marie spürte die zurückgehaltenen Tränen aufsteigen. Sie griff nach dem Schlüssel und nach seiner Hand. „Ihr ahnt nicht, wie viel mir das bedeutet. Danke, von ganzem Herzen Danke.“

Jora legte seine große Hand über die ihre und drückte sie. Sein Lächeln sprach mehr als tausend Worte.

„Ich… Entschuldigt.“ Peinlich berührt wischte sie sich die Augenwinkel, während Joras Lächeln anhielt. „Ich habe aufgeschrieben, was ich benötige.“ Marie kramte in ihren Taschen und zog einen Zettel hervor.

Jora nahm ihn entgegen, entfaltete ihn und las die Zutaten. „Ihr habt Schlafprobleme?“

„Mein Verlobter. Ich glaube, es ist der Krieg. Er kommt nicht zur Ruhe.“

„Ich verstehe. Viele Männer geht es ähnlich. Mal sehen, ob ich noch etwas da habe…“ Meister Jora ging zu dem Wandregal und stieg auf die dafür vorgesehene Leiter. Dann stieß er sich ab und rollte von Schienen gehalten los. Während er vor sich hin murmelnd von einer Zutat zur anderen rollte, stromerte Marie ebenfalls am Regal, immer ihm ausweichend. Tatsächlich waren die Porzellanvasen auch in der Gemeinen Zunge beschriftet. Sie entdeckte Pflanzen, die sie anhand der Blätter kannte, Beschriftungen auf Fläschchen, die sie entziffern konnte und als sie Deckel hob, verrieten die entströmenden Düfte ihr den Inhalt. Mit klopfendem Herzen zog sie einen zweiten Zettel hervor und machte sich selbst ans Werk. Sie nahm alles aus dem Laden, was sie brauchte, und stellte es auf die Theke.

Als der Heiler mit einer gut gefüllten Schale Kräuter und Blüten zu ihr kam, bekam Marie rote Wangen angesichts seines fachkundigen Blickes auf die Zusammenstellung ihrer Zutaten. „Für mich. Ich hoffe, dass es wirkt.“

„Das wird es. Ihr habt aber die wichtigste Zutat vergessen.“

Irritiert schaute Marie auf ihre Zutaten, überprüfte noch einmal die Messung der kleinen Waage, das Gegengewicht, welches sie genommen hatte, roch in den Stampfer und konnte ihren Fehler nicht finden.

Jora nahm ihre Hand in seine und tätschelte sie wie ein alter Freund. Aus seinen Augen sprach Güte und aus seinem Mund klang der weise Ratschlag eines Freundes. „Ein Pflänzchen wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Es bedarf Geduld, damit die Frucht der Liebe reifen kann.“

 

~

 

„Tante Marie, ich möchte dir gerne jemanden vorstellen.“ Als Kili sie zum Tisch begleitete, erhob sich Tauriel respektvoll.

„Eure Hoheit, es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen.“

Gerade als sie mit Raik nach Hause aufbrechen wollte, sagte dieser, dass Kili in der großen Bibliothek auf sie warten würde. Er lässt ausrichten, dass die Elbe auf dem Grünwald sich mit ihr treffen möchte. Woher Raik diese Information hatte, war Marie schleierhaft. Er war doch immer bei ihr gewesen, oder etwa nicht? Trotz seiner Statur war er leise wie eine Maus und hätte wahrscheinlich mühelos kurz fortgewesen sein können, während sie mit Meister Jora im Gespräch vertieft gewesen war. Die Soldaten mussten untereinander gut vernetzt sein und über sichere Informationswege verfügen, sodass Neuigkeiten und Befehle schnell durch ganz Erebor getragen werden konnten.

Raik hatte sie auf direktem Wege zur großen Bibliothek geführt - ein weiterer Ort in Erebor, an dem Marie in Zukunft viel Zeit verbringen wird. Große und schwere Portaltüren bewachten einen weiteren Schatz dieses Landes. Keiner aus Gold und Juwelen, sondern ein Schatz an Wissen, der im Herzen des Berges schlummerte. Eine Treppe führte in den Saal hinab, oben entlang verlief eine Empore und darüber zwei weitere. Im Halbdunkel des großzügigen Saals sah Marie überall Regale voller Bücher und Schriftrollen. Sie konnte nicht glauben, so viele Bücher an einem Ort zu sehen und stellte sich die aberwitzige Frage, wie lange es wohl dauern würde, sie alle zu lesen.

„Nein, es ist mir eine Ehre“, antwortete Marie. „Ich habe schon viel von Euch gehört, Tauriel. Ihr müsst die Welt von Durins Volk ordentlich auf den Kopf gestellt haben. Und bitte, nennt mich Marie. Diese ganzen Förmlichkeiten sind noch ziemlich fremd für mich.“ Im Hintergrund zog Raik sich diskret zurück.

Das Lächeln auf dem Gesicht der Elbe wirkte echt und aufrichtig. Sie brauchte keinen Schmuck, um ihre Schönheit zu unterstreichen. Ihr Lächeln schmückte sie wie kein Geschmeide es besser gekonnt hätte. Schon in der Thronhalle hatte Marie ihre Anmut bestaunen können. Von nahem aber sah Tauriel noch viel schöner aus. Der Schein der Lampen ließ ihre langen Haare kupferrot schimmern und ihre Alabasterhaut leuchten. Marie konnte nicht anders, sie musste diese feinen Elbenohren ansehen.

„Das kann man wohl sagen“, erwiderte Kili und rückte seiner Tante den Stuhl zurück. Neben aufgeschlagenen Büchern standen auch Karaffen und Gläser auf dem Tisch und eine Schüssel voller Kekse. Die beiden saßen hier wohl schon länger. Er selbst nahm gegenüber, neben Tauriel Platz. „Ich habe mir gedacht, dass ihr beide euch kennenlernen wollt, jetzt da Tauriel bald zurück in den Grünwald gehen wird. Ich habe ihr erzählt, dass du eine Heilerin bist. Tauriel übrigens auch.“

„Keine Richtige“, wimmelte diese sofort ab. „Ich bin nicht mit den Heilkundigen meines Volkes zu vergleichen.“

„Hallo? Du hast meine Morgul-Vergiftung geheilt, schon vergessen?“

Marie schnappte nach Luft. „Stopp! Von vorne. Ich muss alles darüber wissen!“

Die Luft um sie herum war geschwängert vom Geruch verstaubten Papiers vergangener Jahrhunderte, während Tauriel und Marie sich über die Heilkunst und über Tauriels Volk unterhielten. Die beiden unterschiedlichen Frauen verglichen ihre Fertigkeiten und Marie lernte, wie man Königskraut oder Artvelas, wie es bei Tauriels Volk genannt wurde, anwenden konnte, um Morgul zu heilen. Als Kili sah, wie begeistert seine Tante jedes Wort aufsog, schob er ihr ein Blatt Papier und eine Schreibfeder rüber. Ersteres schrieb Marie euphorisch sogleich von oben bis unten voll. Die heilenden Zaubersprüche konnte Tauriel ihr jedoch nicht beibringen. Diese Fähigkeiten waren dem Volk des Lichts zugehörig.

Außerdem erfuhr sie, wie die Jungs es geschafft hatten, eine Elbe durch das Haupttor zu schmuggeln und wie Thorin reagiert hatte, als sie plötzlich vor seinem Krankenbett stand. „Der Arme!“ Marie konnte sich seinen Gesichtsausdruck sehr gut vorstellen und konnte nicht in sich halten. Die Vorstellung war einfach zu komisch. Als Tauriel von ihrer Heimat erzählte, spürte Marie die tiefe Verbundenheit, die die Elbe zu diesem Wald hegte. Sie konnte die Schilderungen nur bestätigen. Das, was sie auf ihrer Reise von dem Grünwald sehen durfte, war wunderschön gewesen. Gerne würde Marie einmal das verborgene Waldlandreich kennenlernen. Dieser Traum – so befürchtete sie jedoch – würde nicht so schnell in Erfüllung gehen. Die Fehde zwischen Zwergen und Elben war auch nach Jahrhunderten noch nicht begraben.

Während die schöne Elbe sprach, bemerkte Marie, dass Kilis Augen ununterbrochen mit einem Leuchten auf ihr lagen. „Bist du traurig, dass sie geht, Kili?“

Etwas überrumpelt sah der Angesprochene seine Tante an. „Ich glaube“, begann er, „dass es an der Zeit ist, dass sie zurückkehrt.“

„Werdet ihr euch wiedersehen?“

„Nein“, antwortete Tauriel. Ein kleines Wort und eine so große Bedeutung.

Marie entdeckte den Schmerz in Kilis Augen und schaute schnell woanders hin. Also doch. „Ich verstehe.“

„Mylady.“ Alle drei drehten sich nach Raik um. Der Soldat war nicht allein. Ein junger Mann war bei ihm, den Marie nicht kannte.

„Vundur, Sohn von Undur. Zu Euren Diensten.“ Er verbeugte sich. „Ich komme im Auftrag von König Thorin.“

„Thorin? Wieso schickt er Euch?“

„Ich soll Euch etwas in seinem Namen zeigen, Mylady. Es ist eine Überraschung. Ihr müsstet mir allerdings dafür folgen.“

Der Schatz, schoss es ihr sofort durch den Kopf. Würde Thorin es wahr machen und ihr endlichen Erebors Schatz zeigen? Fragend schaute sie zu Kili und Tauriel.

„Geh nur“, sagte er. Die Elbe nickte.

Zum Abschied streckte sie die Hände nach den beiden aus. Mit der einen ergriff sie Kilis, mit der anderes Tauriels. „Wenn du gehst, werden wir uns noch einmal sehen. Ich werde am Tor sein und dich mit Kili zusammen verabschieden.“ Ihr Blick huschte für den Bruchteil einer Sekunde zu Kili hinüber und verriet Marie das Pochen ihres Herzens.

„Das wäre schön.“

Mit diesem Versprechen ließ sie die beiden zurück und folgte begleitet von Raik dem jungen Mann namens Vundur. „Wohin gehen wir?“, fragte sie, als die Bibliothek hinter sich gelassen hatten.

„Das werdet Ihr schon sehen“, antwortete der Schwarzhaarige mit einem Schmunzeln im noch kurzen Bart. „Ich würde sonst zu viel verraten.“

Der Geruch, der an Vundur lastete, irritierte sie. Er roch nach Leder und…Pferd? Auf dem Weg nach Erebor hatte Marie diesen Geruch zur Genüge kennengelernt. Sie war sich sicher, dass Vundur gerade aus einem Stall kommen musste. Wieso würde Thorin diesen Mann schicken?

Raik war ihr zuverlässige Schatten. Er nahm seine Pflicht sehr ernst und begleitete Marie auch jetzt, die eigentlich erwartet hatte, tiefer in den Berg gebracht zu werden. Doch sie schlugen eine ganz andere Richtung ein und ließen sogar die Stadt unter sich zurück. Als sie fragte, ob es noch weit sei, bejahte er dies. Raik bot an, eine Sänfte zu organisieren. Dankend lehnte sie ab. Die Vorstellung, mit einer Sänfte durch die Gegend getragen zu werden, war ihr zu wider. Es dauerte eine Weile, die Gänge wurden breit und hoch und plötzlich sah sie helles Licht. Nie hatte Marie gedacht, dass der Anblick von Tageslicht sie so fesseln würde. Die untergehende Sonne traf sie mitten ins Gesicht. Die Höhlendecke musste eingestürzt sein, denn das Gestein war zugemauert. Große halbrunde Fensteröffnungen ließen Licht und Luft herein.

„Es hat damals einen großen Erdrutsch gegeben“, erklärte Vundur und setzte mit hörbarem Stolz hinzu: „Wir haben die letzten Wochen jeden Stein hier umgedreht, um es wieder herzurichten.“

Vor ihnen eröffnete sich eine Boxengasse nach der anderen. Marie war erstaunt, tatsächlich Stallungen hier zu finden. Torbögen und dicke Wände teilten diese in verschiedene Bereiche ab. Kleine Fenster ganz oben ließen Lichtstrahlen zu Boden fallen. Es roch nach Gras und Heu und das Schnauben und Scharren von Pferden war zu vernehmen. Die Trennwände waren wie alles hier aus Fels, nur die Boxentüren waren aus Holz. Über diese schauten hier und da Pferdeköpfe ihnen nach.

„Hier ist es“, sagte Vundur auf einmal und Marie blickte auf ein Pony, das auf der Stallgasse angebunden stand. Sie schaute zwischen dem grinsenden Vundur und dem Tier hin und her. Dann dämmerte es ihr.

„Eine Stute, brav wie ein Lamm. Mylord hat sie persönlich für Euch ausgesucht. Sie wird Euch gefallen.“

Behutsamen Schrittes ging sie zu dem Tier, das mit gespitzten Ohren ihr Näherkommen beobachtete. Ihre ausgestreckte Hand wurde beschnüffelt und für ungefährlich befunden. Marie streichelte der Stute durch die dichte weiße Mähne und betrachteten das goldfarbene Fell, was von der untergehenden Sonne schimmerte. Ihre Enttäuschung über den Ausgang von Thorins Überraschung runterschluckend streichelte sie dem Pony den Hals.

„Du bist also mein Goldschatz heute, hm?“ Das große braune Auge blinzelte, ganz so, als wollte es ihr zustimmen.

 

~

 

„Da kommt er.“ Kaum, dass sie Schritte vor der Tür hörten, huschten Tara und Marie ins Schlafzimmer. Die Eingangstür öffnete sich und jemand betrat die Diele.

„Marie, bist du da?“

„Im Schlafzimmer!“ Hinter dem Paravent schlüpfe sie aus ihrem Morgenmantel und in die dunkle Spitzenwäsche, die Tara ihr herausgesucht hatte. Sie hörten Thorin im Wohnzimmer. „Ich habe schon auf dich gewartet.“

„Tut mir leid. Es gab viel zu tun.“

„Du hörst dich erschöpft an, Liebling.“

„Bin ich auch. Es war ein langer Tag.“

„Halt still“, flüsterte ihr Zimmermädchen hinter ihr und drückte ihr das Oberteil zusammen.

Sie wusste nicht wieso, aber sie zitterte innerlich vor Nervosität. Ihre Hände waren schwitzig und in ihrem Bauch flatterten hunderte Schmetterlinge. Wie alt bist du?, schallte sie sich selbst. So nervös war sie zuletzt in der Sommernacht. Doch egal, wie oft sie mit Thorin das Bett geteilt hatte, heute Abend sollte alles anders sein. Taras Zerren an ihr lenkte sie von ihren Plänen ab. Sie versuchte immer noch, die Häkchen zuzumachen.

„Du hast zugelegt“, bemerkte sie trocken.

Marie zwängte ihre Oberweite in die weichen Schalen der Spitzenwäsche, die irgendwie nicht so wollte wie sie. „Es ist zu klein.“

„Du bist zu groß. Ich dachte, es passt für deinen Elfenkörper...“

„Gib mir das andere. Das Nachthemd.“

Allmählich wurde Thorin auf das Treiben hinter dem Paravent aufmerksam. „Ist wer bei dir, Marie?“

„Tara. Sie hilft mir bei etwas“, wimmelte Marie ab und streifte das kurze, feine Nachthemd mit den kleinen Trägern über. „Besser?“

„Besser.“

Etwas polterte. Thorin musste sich die Stiefel ausgezogen haben. Das Bett knarzte unter seinem Gewicht. Na bitte, schon mal ein Anfang.

„Für dich hat ein Rabe ein Paket gebracht“, sagte er. „Ich hab es dir auf den Tisch gelegt.“

„Danke, Liebling. Ich schau es mir später an.“

„Hat dir mein Geschenk gefallen?“

„Oh, Thorin, Goldi ist so bezaubernd.“

„Goldi?“

„Na, wegen ihrem Fell.“

Tara tupfte noch schnell etwas Duftwasser ihr an den Hals. „Vergiss den Trank nicht.“

„Himmel, ja.“

Sie grinste. „Den Rest schaffst du, glaube ich, alleine...“ Flink wie ein Langfinger stahl sich Tara davon. Marie hörte noch, wie sie ihren Herrn grüßte. Kurz darauf knackte die Tür drüben ins Schloss. Nun war sie allein mit ihrem Verlobten.

„Ich bin froh, dass du da bist. Ich habe dir so viel zu erzählen. Mein Tag war voller Überraschungen.“ Das kleine Glasfläschchen schmiegte sich kalt und glatt in ihre Hand. Mit einem Ruck entkorkte sie es und trank alles in einem Zug aus, um dem widerwärtigem Geschmack des grünem Pflanzensuds nicht länger als nötig ausgesetzt zu sein. Sie verzog das Gesicht und hoffte auf den Nachlass des bitter schmeckenden Gebräus. Was hatte ihre Mutter immerzu gesagt? „Es soll nicht schmecken. Es soll helfen.“ Marie sandte alle Hoffnungen in Myrrtes Rezept. Noch drei Mal durchatmen, dann war es Zeit, zu ihm zu gehen.

„Liebling, wir…“ Ihr Lächeln erlosch wie eine Kerze, ihre Worte verloren sich in der Luft wie Rauch. Thorins übermüdeter Körper hatte Tribut an den langen Tag gezahlt. Von einem wahren Gefühlchaos erfasst trat sie zu dem schlafenden Mann. Sorgenfalten standen ihm auch im Schlaf auf der Stirn. Sie brachte es nicht übers Herz, ihn aufzuwecken. Stattdessen schob sie ihn so gut es ging in eine bequemere Position und legte die Decke über ihn. Dann löschte sie das Licht und verließ das Schlafzimmer.

Für einen Augenblick lehnte sich Marie gegen die geschlossene Tür und kämpfte gegen das Engegefühl in ihrem Hals an. Das leere, nutzlose Fläschchen warf sie auf die nebenstehende Kommode und wischte sich über die brennenden Augen.

Das Kaminfeuer war ihre einzige Licht- und Wärmequelle, als sie sich in seiner Nähe auf das Sofa zurück zog, die nackten Beine gegen die nächtliche Kälte angezogen. Das Paket war kaum größer als eine Schachtel und sehr leicht. Als Marie es öffnete, fielen plötzlich hunderte bunte Blütenblätter ihr in den Schoß. Irritiert starrte sie auf das Chaos und auf die Briefe, die am Fußboden lagen. Von Anna, Greg und Mel, stand auf einem geschrieben. Marie riss den Brief an sich und zerrte das Papier aus dem Umschlag.

 

Liebste Marie,

voller Sehnsucht haben wir deinen Brief erwartet. Tut uns leid, wenn du mit einer Antwort schon eher gerechnet hast, aber Mel konnte sich nicht von dem Raben trennen und wir wollten Hilda und den anderen auch die Chance geben, dir zu schreiben.

 

Marie sammelte auch die anderen Briefe auf. Es stimmte! Einer war von Hilda und einer sogar von Sonna.

 

Alle fragen nach dir. Seit du fort bist, ist Kerrt verändert.. Wir wünschten so sehr, du wärst hier. Wir haben so viel zu berichten.

 

Zeilen mit unterschiedlichen Handschriften wechselten sich ab. Den Großteil des Briefes hatte Greg geschrieben, doch hier und dort waren Sätze in einer krakeligen Handschrift, die die eines Kindes ähnelten. Anna musste ihr zuliebe angefangen haben, Schreiben und Lesen zu lernen. Je mehr sie las, desto mehr füllten sich ihre Augen mit Tränen. Das erste Mal, seit sie fort war, spürte sie echtes Heimweh.

 

Unsere Hochzeit wird früher als geplant stattfinden. Schon Ende dieser Woche. Wir hätte es dir viel lieber persönlich erzählt, aber länger kann ich nicht warten. Marie, ich bin schwanger…

 

Die schwarzen Striche verschwammen vor ihren Augen. Eine Träne nach der anderen kullerte ihr über die Wangen. Akribisch, um die wertvollen Worte nicht zu beschädigen, wischte sie sie schnell fort, als sie auf das Papier hinab tropften.

 

Ich hatte die ganze Zeit schon so ein Gefühl. Jetzt sind wir uns sicher. Mel wird eine große Schwester. Sie hat sich so gefreut, als sie es erfahren hatte.

 

Sie las und weinte und weinte und las. Die vielen Zeilen erfüllten ihr Herz mit Freude und Schmerz gleichermaßen und zerrissen es in zwei Teile.

 

Sie und Strolch sind mittlerweile nicht mehr voneinander zu trennen. Ihr habt ihr einen Herzenswunsch erfüllt. „Unser Kalb“ nennt Greg ihn mittlerweile, weil er uns die Haare vom Kopf frisst. Wenn du ihn sehen würdest, erschreckst du dich, welch Schuss er gemacht hat. Wir haben ihn genauso lieb gewonnen wie Mel.

 

Bei den Gedanken an den jungen Hund, der tollpatschig über seine eigenen Pfoten gestolpert war, musste sie lächeln. Strolch hatte ein Zuhause bei liebenden Menschen gefunden. Sie dachte an den Tag des Abschieds zurück, wo Thorin und Greg ihm eine rote Stoffschleife umgebunden hatten und Mel ihren neuen Weggefährten in die Arme schloss. Die Erinnerungen an den Abschied ließen sie aufschluchzen. Mehr Tränen bahnten sich ihren Weg. Ihre Finger fuhren durch die Blüten. Sie hatte sie sofort erkannt. Anna musste sie für sie gesammelt haben. Zu dieser Jahreszeit blühten sie auf der Lichtung zu tausenden. Zwischen all den Farbtupfern lag ein kleiner Zweig einer Birke. Die Birke, unter der die Gräber ihrer Eltern ruhten.

Fest an ihr Herz presste sie die Briefe, die Blüten und den Zweig, während ihr Schluchzen im schattengefüllten Raum verklang. Die Wände in Erebor waren kalt und dick. Niemand hörte ihr Herz brechen.

 

 

18

 

 

Nebelschwaden lagen über dem Eis, strichen ihm um die Beine und tauchten die Welt in helles Grau. Sein Puls raste.

Er konnte das Schwert in seinen Händen kaum noch halten, fühlte, wie unter Wolle und Leder der Schweiß eisig über seinen Körper lief. Er war am Ende seiner Kräfte.

Aus dem Nebeldunst tauchte der Turm auf…und in dessen Ruine sah er seinen Jungen. Azog schleifte Fili bis an die Kante, unter ihm metertief der freie Fall. Filis Rufe wurden über den zugefrorenen Fluss getragen. Er solle fliehen, er solle laufen… Sein Onkel aber schüttelte den Kopf. Er konnte ihn nicht zurücklassen.

Doch die Vergangenheit war nicht mehr dieselbe. Die Karten wurden in dem Moment neu gemischt, als Azog sein verkrüppelten Arm hob und das Schwert Fili in den Rücken stieß. Thorins Atemzug blieb ihm in der Kehle stecken. Machtlos musste er mitansehen, wie Fili in sich zusammen sackte und keinen Laut mehr von sich gab. Wie wertlose Lumpen ließ Azog ihn fallen. Am Fuße des Turms schlug Filis Leichnam auf, direkt vor den Füßen seines Bruders.

Vor Hass geleitet rannte Kili los, Vergeltung für seinen Bruder übend. Auch Thorin rannte los, musste ihn davon abhalten, in ihre Falle zu laufen. Er musste ihn retten!

Das Eis weitete sich aus, länger und länger wurde die Entfernung bis zum Ufer. Thorin rannte, doch bewegte sich kaum von der Stelle, taumelte, stolperte. Er würde es nicht schaffen.

„Schau her! Schau her, Zwerg!“ Der Dämon aus der Schattenwelt stand auf dem zugefrorenen Fluss. Auch dieses Mal war er nicht allein. Das Bild, was sich ihm bot, raubte Thorin den letzten Funken Licht aus seinem Leben.

Ihre grünen Augen starrten ihn an, blickten tief in seine Seele hinein. Azogs Schwertarm lag um ihren freigelegten Hals, hielt ihren Hinterkopf an seinen Bauch gedrückt. An der Klinge klebte noch Filis Blut, tropfte neben ihrem Körper auf das Eis unter ihren Füßen.

„Onkel!“

Er wandte den Blick von Marie ab und suchte die Umgebung nach dem Rufenden ab. Am Ufer tauchte Bolg auf, Kili im Nacken gepackt. Sein Junge konnte sich nicht gegen den Ork wehren. Sein Griff würde ihm sonst das Genick brechen.

Triumphierend beobachtete Azog die Panik in seinen Augen, als er realisierte, dass er sie nicht beide retten konnte. „Für wen wirst du dich entscheiden, Eichenschild?“

Thorins Blick hetzte zwischen Marie und Kili hin und her. Er schluckte, versuchte sein Atem zu kontrollieren, während die Angst ihm keinen klaren Gedanken fassen ließ. Langsam schob Azog seine Hand an Maries Gesicht, packte ihr Kinn, quetschte ihren Mund zusammen. „Fass sie nicht an!“

„Entscheide dich!“

Marie riss ihren Kopf aus den Fingern des Orks. „Thorin, rette Kili.“

„Nein…“

„Geh! Ich will es so!“ Azog presste sie an sich, als Marie versuchte, sich von ihm loszureißen. „GEH!!!“

Thorin kniff die Augen zusammen und lief los. Besiegelte ihr Schicksal.

Das Ufer kam schnell näher. Er hob Orcrist zum Schlag…

Er hatte tatsächlich geglaubt, dass er wenigstens seinen Jungen retten konnte.

Er hatte den Fehler gemacht, ihnen Glauben zu schenken. Hatte sie alle getötet.

Das Ufer war noch nicht einmal in greifbarer Nähe, da packte Bolg Kili, drückte ihn nieder. „NEIN!!!“ Vor seinen Augen rammte der Ork das zugespitzte Ende seiner Waffen Kili in die Brust. Thorin starrte auf seinen sterbenden Jungen und grausam hallte Azogs Lachen.

„Hattest du wirklich geglaubt, du könntest sie retten?“

Tränenverschmiert fuhr Thorin herum, sah zu Marie… In diesem Moment teilte das Schwert ihre Haut. Das Blut schoss aus ihrem geöffneten Hals. Das Licht ihrer Augen erlosch…

Sein Schrei grellte durch den Nebel und durch das Schlafzimmer. Schweißgebadet saß Thorin im Bett und starrte in die Dunkelheit. Aus dem Schlaf gerissen sah Marie den Umriss ihres Verlobten, der kerzengerade neben ihr saß und nach Atem rang.

„Es war nur ein Traum“, sprach sie auf ihn ein, doch als ihre Hand ihn berührte, zuckte er zusammen wie ein geschlagenes Tier. In der nächsten Sekunde strampelte er die Decke fort und stolperte auf die Tür zu.

„Thorin!“ Marie schälte sich selbst aus den Fellen und lief ihm nach. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, dennoch floh er, als wäre ein Monster hinter ihm her. „Thorin, ich bin es! Wach auf!“ Sie konnte ihn nicht einholen. An der Treppe angekommen, verlor sie ihn.

Marie sah nur noch seinen Schatten hinter der Ecke verschwinden. Es kroch ihr den Hals empor und machte ihr das Atmen schwer: die Erkenntnis, dass er erneut die Flucht anstatt ihre Nähe gesucht hatte.

Der nächtliche Tumult hatte die Wachen aufgeschreckt. Einer kam die Treppe hinaufgeeilt, um nach ihr zusehen.

„Geh ihm nach! Lasst ihn nicht allein.“

Der Soldat machte sofort kehrt. Als er fort war, überrollte das Zittern ihren Körper wie ein brechender Damm. Marie sank auf der Treppe zusammen, konnte ihr Schluchzen nicht mehr stoppen. Mehr und mehr entglitt Thorin ihr in eine Welt, aus der sie ihn nicht retten konnte.

 

 

19

 

 

Irgendetwas geht da vor sich“, murmelte Kili und schlug die Decken beiseite. Er langte nach seiner Hose. „Ich schließe dich ein. Niemand wird hereinkommen.“

Tauriel setzte sich im Bett auf. „Nein, ich schließe von innen ab. Sobald es ruhiger wird, schleiche ich mich davon.“ Kili öffnete den Mund, um zu widersprechen. „Niemand wird mich bemerken“, versicherte sie ihm. „Nimm die Laterne mit.“

„Gut“, er küsste sie. „Gib Acht.“

„Du auch, melindo.“

Nur mit Hose und Socken bekleidet schlüpfte Kili durch die Tür und schloss sie gewissenhaft sofort wieder hinter sich, um sein Geheimnis gut behütet zu wissen. Wenn rauskäme, was er hier trieb, dann wäre er ein toter Mann. Mag sein, dass sein Bruder tief enttäuscht von ihm sein wird, wenn er es rausbekäme, doch Kili konnte nicht anders.

Auf dem Flur war nichts mehr zu hören. Von den Stockwerken tiefer wurden Stimmen durch die nächtlichen Gänge getragen. Da er sich eingebildet hatte, Marie rufen gehört zu haben, wollte er zuerst dort nach dem Rechten schauen. Die richtige Entscheidung, wie sich schon nach wenigen Metern herausstellen sollte.

„Marie?“ In einem sehr knappen Nachthemd hockte sie auf der Treppe. Bei seinem Näherkommen hob sie den Kopf, blickte ihn aus rotgeweinten Augen an. „Was ist passiert?“ Er stellte die Laterne ab und setzte sich zu ihr. Besorgt musterte er sie von oben bis unten. Sie wischte sich die Augen trocken und ihre Hände an ihren Knien ab, als könnte sie ihre Tränen ungeschehen machen. Offenbar war es ihr peinlich, hier so von ihm gefunden worden zu sein. „Was ist passiert?“, widerholte er.

„Er hatte wieder einen Albtraum. Er ist geflüchtet. Ich hab versucht, ihn aufzuhalten.“

Dass in der Vergangenheit sein Onkel von Albträumen geplagt wurde, wusste Kili. Dass sie ihn nun wieder heimsuchten, hatte er nicht mitbekommen. Aber dass es so war, verwunderte ihn kein Stück. Sein Geist kam nicht zur Ruhe, weil er einen Eindringlich um sich wusste. Smaug war wie ein Parasit, der ihm unter die Haut gekrochen war und sich von seiner Lebenskraft ernährte. Diese Albträume waren von Smaug. Kili würde seinen Bart darauf verwetten. Der Drache musste die Bilder aus den Erinnerungen seines Onkels stehlen und Träume daraus formen. Es waren strategische Angriffe auf seine Psyche, weil Thorin nicht aufgab, nach einem Ausweg zu suchen. Doch die Kraft seines Onkel reichte nicht für ewig. Wie lange würde er es noch schaffen, dem Drachen zu widerstehen?

„Wieso bist du noch wach?“, fragte Marie.

„Ich hab noch nicht geschlafen“, sagte er wahrheitsgemäß. „Soll ich dir etwas zu trinken besorgen?“ Marie schüttelte den Kopf. War ihr schlecht? Sie sah jedenfalls so aus. „Lass uns reingehen. Dir muss kalt sein.“

Im Gemach seines Onkels brachte Kili das Kaminfeuer wieder in Gang, um für mehr Licht und Wärme zu sorgen. „Ist wer bei ihm?“

Die Arme um ihren Körper geschlungen, hatte Marie sich auf dem Sofa niedergelassen und starrte in das knackenden Feuer. „Ich glaube, Soldaten. Ich weiß es nicht genau. Es ging alles so schnell.“ Stille. „Es ist grausam, ihn so zu sehen, Kili.“

Kili drehte sich zu seiner Tante um und fühlte ihren Schmerz.

„Er hat mir auf den Weg hier her erzählt, wovon er träumt. Von Azog und dem Krieg. Von dem Drachen. Dass er seine Familie wieder und wieder sterben sieht. Ich komme mir so machtlos vor, ihm dabei zusehen zu müssen.“

Nicht nur sie war machtlos. Seit Gandalf fort war, fühlten er und die anderen sich hilflos Thorins Willen ausgeliefert. Damals hatten sie es ihm alle schwören müssen, dass sein Geheimnis bei ihnen sicher war. Diesen heiligen Schwur haben die Gefährten bis heute nicht gebrochen, denn seit Thorin wieder in Erebor war, warteten sie darauf, dass er es Marie von sich aus erzählen würde… Bis jetzt war all ihr Warten vergeblich gewesen. Wann würde endlich die Wahrheit ans Licht kommen und sein Onkel ihr erzählen, dass Smaugs Geist überlebt hat und nun in ihm gefangen war?

„Sag mir, was ich tun soll, Kili.“

Es zerriss ihm das Herz, sie so sehen zu müssen. Wenn er ehrlich war, empfand er Wut auf seinen Onkel, der ihr immer noch nicht die Wahrheit gesagt hatte und anscheinend es auch nicht so schnell vor hatte. Wovor fürchtete er sich? Vor der Reaktion des Drachen? Oder vor ihrer Abweisung?

„Versuch mit ihm zu reden“, sprach er ihr ins Gewissen, als er sich zu ihr setzte. „Ich werde dasselbe tun. Versprochen.“

„Er kapselt sich total ab. Er flüchtet, anstatt bei mir zu bleiben. Ich erreiche ihn gar nicht.“

„Ich glaube, er will dich einfach nicht mit seinen Problemen belasten.“

„Das ist doch Unsinn.“ Marie hielt es nicht mehr auf dem Sofa aus und begann aufgewühlt auf und ab zu laufen.

„Er will dir nicht wehtun. Das ist alles.“

„Dieser Sturkopf! Ich will ihm helfen. Wieso versteht er das nicht?“

Ihr aufreizendes Nachthemd verbarg kaum ihren Körper und Kili fiel auf, dass seine Tante schon viel gesünder aus als noch bei ihrer Ankunft. Thorins Anwesenheit und Erebors gutes Essen schienen ihrem Körper gut zu tun.

Da er wusste, dass an Schlaf so schnell nicht mehr zu denken war, schlug er vor, mit ihr zu warten, bis Thorin wiederkam.

„Ich kann nicht hier herumsitzen und einfach nichts tun“, widersprach sie und stapfte ins angrenzende Schlafzimmer.

Kili sprang auf. „Was hast du vor?“

„Ich gehe ihn suchen. Das hätte ich schon viel eher machen sollen.“ Marie kehrte mit einem Bademantel zurück und schlüpfte in das graue Fell. „Wo könnte er sein, Kili?“, fragte sie und schnürte die Kordel fest um ihre Taille.

Er zog nur die Schultern hoch.

„Können wir zur Schatzhalle gehen?“

„Jetzt? Es ist mitten in der Nacht.“

„Ist das verboten?“

„Dorthin gehen? Nein.“

„Dann komm. Vielleicht ist Thorin ja da.“

„Ich glaube nicht…“ Kilis Argument hatte angesichts seiner bereits aufbrechenden Tante keine Wirkung mehr. „Ähm, gut. Auf zur Schatzhalle.“

 

Die Einzigen, die ihnen auf ihrem Weg ins Heiligtum des Berges begegneten, waren wachestehende Soldaten und Statuen aus dunklem Stein. Im Lichtschein der Laterne durchschritten sie gemeinsam lange, düstere Portalgänge. Dumpf klang Kilis Stimme von den meterdicken Wände um sie herum, als er verkündete: „Hier ist es.“

Neugierig sah Marie an ihm vorbei ins nächtliche Grau, aus dem sie von hier nur monumentale Säulen sah, die eine Höhlendecke über sich hielten.

„Der erste Anblick könnte etwas überwältigend sein“, warnte er sie vor, denn er hatte ja keine Ahnung, wie seine Tante reagieren würde. Für ihn war der Anblick des Goldes schon ein Stück Normalität geworden, doch wie würde es für Marie sein?

Seine Aufmerksamkeit galt gespannt ihr, während sie die letzten Meter überwand. Als Marie das Ende des steinernen Podestes betrat und in die Weite der Schatzhalle hineinblicken konnte, wurden ihre Augen groß. Und größer… und größer. Mehrmals hintereinander blinzelte sie, doch - oh Wunder! - das Gold war immer noch da.

Kili konnte sein Grinsen nicht unterdrücken. „Den Trick hab ich auch schon versucht.“

„Ist das echt?“

„Natürlich ist das echt! Was glaubst du denn? Du kannst dich ja gern selbst davon überzeugen.“ Das ließ sie sich nicht zweimal sagen.

Marie ging die letzten Treppenstufen hinunter, bis diese einfach aufhörten. Verschüttet von Goldmünzen. Noch etwas unschlüssig stand sie vor dem schlummernden Schatz. Dann setzte sie einen Fuß auf das Gold, balancierte auf dem unebenen Untergrund und nahm den zweiten dazu. Es knirschte und klirrte unter ihren nackten Füßen. Mit einem Keuchen ließ sie sich auf die Knie fallen und vergrub die Hände in den Münzen. Erst jetzt schien die Realität in ihr Bewusstsein zu sickern. „Habt ihr das alles aus den Mienen?“, fand sie ihre Sprache wieder.

„Jupp.“

„Alles?“

„Jupp. Mein Urgroßvater hat viel schürfen lassen…“

„Viel?! Das ist ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts!“ Plötzlich sprangen die letzten Silben als kräftige Echos von den Wänden zurück. Sie zuckte zusammen.

„Ja, man muss hier etwas leiser sprechen.“ Kili trat zu ihr. Dort, wo die Laterne ihr Licht hinwarf, schimmerten die Münzen, als aalten sie sich in der ihnen zu Teil werdenden Aufmerksamkeit.

„Was man damit alles tun könnte… Niemanden auf der Welt würde es mehr schlecht gehen“, sprach Marie ihre Gedanken aus und gab damit nur einen Bruchteil ihrer Güte preis, die sie in Wahrheit besaß. Ihre Leidenschaft, ihr Grund auf gutes Herz und ihre aufopferungsvolle Art und Weise hatte Kili am eigenen Leib kennengelernt. Noch heute konnte er ihre Umarmung spüren, vom Gefühl umgeben, behütet und sicher zu sein. Und noch heute konnte er in stillen Momenten hören, wie sie für ihn dieses alberne Lied sang, als er im Fieberwahn um sein Leben kämpfte. Sein kochendes Hirn hatte ihn vorgespielt, seine Mutter wäre zurückgekehrt.

Marie war genau die Mutter, die er sich für jedes Kind wünschen würde. Seine leibliche Mutter durfte er nie wirklich kennenlernen. Umso glücklicher war er, dass er von nun an drei Mütter im Herzen tragen dufte. Dis. Ninak. Und Marie.

Sie war das Beste, was seinem Onkel hätte passieren können. Ohne sie wäre er nicht der, der er heute war. Sie hatte ihm die magische Kette geschenkt und ohne es zu wissen sein Leben gerettet. Sie war der Antrieb gewesen, weiterzumachen. Weiterzukämpfen. An das Gute im Leben zu Glauben.

Bei Durins Arsch, das Schicksal wollte, dass diese beiden Personen zusammen waren! Er wäre der letzte Zwerg, der nicht alles daran setzten würde, dem Schicksal einen Gefallen zu tun und für ihr Wohlergehen zu sorgen. Er hatte diese außergewöhnliche Frau sehr lieb gewonnen. Sie war schon längst fester Bestandteil seiner Familie. Und für seine Familie würde er alles tun. Deshalb war es nur noch eine Frage der Zeit, wann er seinen Schwur brechen würde, um ihr die Wahrheit zu erzählen.

Der vergoldete Ramsch und der Schmuck, der überall zwischen den Münzen lag, hatten es Marie angetan. Sie hob einige vergoldete Schätze auf und sah sie sich genauer an. „Wieso hat Thror so viel Gold angehäuft? Was bezweckte er damit?“

Kili wagte es nicht auszusprechend, dass sein Urgroßvater der Drachenkrankheit erlegen war. Anstatt Antworten zu geben, würde er dadurch nur offene Fragen hinterlassen.

Er hatte keinen blassen Schimmer, wie alt Marie eigentlich war. Gerade lag eine kindliche Begeisterung auf ihrem Gesicht, Staunen und auch irrwitzige Begeisterung für etwas, was sie zum ersten Mal in ihrem Leben sah. Sie schöpfte Münzen in die hohlen Hände und warf sie in die Luft, sodass sie im nächsten Moment auf sie niederregneten.

„Das ist Unglaublich! Wie weit geht das da runter?“

„Ein bisschen. Vorsicht!“ Er griff ihren Arm, um sie aufrecht auf dem Gold zu halten.

„Komm! Ich will alles sehen.“ Sie ergriff seine Hand und zog ihn mit sich. Mehr rutschend als gehend gelangten sie tiefer in die Halle, die von ihrem Bau einem alten Amphitheater glich. Kili hielt die Lampe so hoch er konnte, um ihnen genügend Licht zu geben. Es funkelte und glitzerte überall um sie herum. Ein Meer aus Gold und Edelsteinen.

„Endlich verstehe ich es“, murmelte Marie. „Deshalb also Krieg und das Blutvergießen. Der Schatz von Erebor…“ Sie hob eine Münze auf und betrachtete gedankenverloren das Abbild des einstigen Königs. „Was für ein Mann mag Thror gewesen sein?“

„Ein Verlorener“, wisperte Kili.

 

~

 

Als Kili die Schritte wahrnahm, drehte er den Kopf. Aus dem Gang hinter ihm tauchte der Umriss seines Onkels auf. Ein wenig erleichtert atmete er auf, als er sah, dass er nicht allein war. Eine Hand auf seinem Rücken, ganz so als müsste er ihn sanft zum Vorwärtsgehen drängen, erschien Fili an seiner Seite. Die Brüder wechselten einen jener Blicke, mit dem sie ohne Worte alles untereinander austauschten. Fili sah ebenfalls aus, als wäre er in dieser Nacht unsanft aus dem Schlaf geholt worden und machte ein Gesicht, als wäre jemand gestorben.

Na großartig. Mit gesundem Argwohn richtete Kili sein Augenmerk auf seinen Onkel. Dieser war voll und ganz auf Marie fokussiert. Auf dem Fels zusammengerollt lag sie neben Kili, den Kopf auf sein Bein gebettet und schlief wie ein Murmeltier. Der Schein der Lampe malte Schatten in Thorins Gesicht, als er näher trat.

Kili legte die Hand auf ihren Körper. „Sie schläft.“

Thorin drehte sich so, dass er mit dem Rücken zur Halle stand und Kili realisierte, dass er dies tat, weil er das Gold noch nicht einmal ansehen konnte. Voll bekleidet stand er da, unter seinen Augen dunkle Schatten. Seine Wangen wirkten hohl und seine Augen waren klein vor Müdigkeit. Er sah schrecklich aus.

„Du hast nicht erzählt, dass du wieder träumst.“ Kili sprach nur so laut, wie er es wagen konnte, damit Marie nicht wach wurde.

„Jetzt wisst ihr‘s“, lautete seine knappe Antwort. Er beugte sich vor. „Gib sie mir.“

Kili machte keine Anstalten. Er blickte zu seinem Onkel empor, die Hand auf Maries Körper ruhend. „Wann erzählst du es ihr?“

„Kili…“

„Wann?“

„Bald.“

Der junge Prinz musste sein Flüstern beherrschen. „Merkst du, dass sich die Geschichte wiederholt? Als wir aus Kerrt aufbrechen mussten, hast du es ihr auch erst am Abend davor gestanden. Du machst denselben Fehler wie damals.“

„Mag sein, dass ich einen Fehler mache“, lautete Thorins abgeklärte Meinung. „Aber es ist ein Fehler, mit dem ich leben kann, wenn ich weiß, dass ich sie so am besten schütze.“

„Du schützt sie nicht; du setzt eure Beziehung aufs Spiel. Marie ist doch nicht dumm. Sie weiß längst, dass etwas hinter ihrem Rücken vor sich geht. Onkel, du musst es ihr sagen. Sie will dir helfen. Wir alle wollen dir helfen.“

Aus seinen Augen sprühten kalte Funken. „Wie soll sie mir helfen? Wie soll irgendwer mir helfen? Den Geist eines Drachen mit Kräutertränken und guten Worten vertreiben? Glaubst du, dass du oder irgendjemand sonst Einfluss auf den Willen eines Wesens nehmen kann, das die Macht hatte, einen solchen Fluch zu wirken und seine Seele daran zu binden? Ihr wisst nicht, mit was wir es hier zu tun haben. Smaug erpresst mich mit ihrem Leben. Er will, dass ich mich mit ihm verbünde und spielt mit mir, will mich brechen. Er ist in meinem Kopf, in meinen Träumen. Er hört alles mit, sieht alles. In diesem Moment, wenn wir miteinander sprechen.“ Er nahm einen tiefen Atemzug, schloss die Augen und rieb mit festem Druck über seine Brust. „Ich habe nicht die Absicht, sie zu belügen. Ich versuche, sie möglichst lange von dem Einfluss des Drachen fernzuhalten. Auch wenn das unweigerlich bedeutet, sie von mir fernzuhalten. Und jetzt gibt sie mir.“ Thorin bückte sich, um seine Arme unter Maries Körper zu schieben. Kili ließ ihn gewähren. Es tat ihm weh, als er sah, wie sanft Thorin sie in seine Arme hob. Als wäre sie ein Schatz. Sie regte sich im Schlaf und wurde an seine Brust gebettet. „Schschsch…“ Als er sich schon zum Gehen abwenden wollte, hielt er noch einmal inne und wandte sich ihm zu. „Danke, dass du dich um sie gekümmert hast.“

„Es ist das Mindeste.“

Thorin drehte sich um und verschwand mit Marie im Schatten. Auch Kili drehte sich um und sah wieder in die Weite der Schatzhalle. Sein Seufzen gab seinem Bruder den Anlass, sich zu regen. Fili setzte sich neben ihn, teilte still seine Verzweiflung und seinen Zorn und schaute mit seinem Bruder auf das Vermächtnis ihrer Väter.

 

 

20

 

 

Tak! Tak! Kratz! Die Spitzte des Dolches hämmerte kleine Scharten in das Holz. Tak! Tak! Kratz! Tak! Tak! Kratz-Tak!

Ninak blickte von ihrer Arbeit auf und durchbohrte sie mit einem mörderischen Blick. „Wenn du nicht gleich aufhörst, meinen Tisch in ein Stück Käse zu verwandeln, schicke ich dich los zum Harz holen.“

Eine Entschuldigung murmelnd löste Marie ihre verkrampften Finger von dem Griff und legte die Waffe hin. Dann stützte sie den Kopf in die Hände und schaute Ninak zu, wie diese Pfeife rauchend letzte Feinarbeiten an Maries Auftragsarbeit erledigte. Vorhin hatte sie versucht, etwas Brauchbares aus der Zwergin herauszubekommen. Ninak war an diesem Tag jedoch kaum wortreicher als ein Stein. Sie schien auf etwas ziemlich schlecht gelaunt zu sein. Oder jemanden.

Marie konnte es nachvollziehen. Ihre eigene Laune war an diesem Tag auch nicht die beste. Vergangene Nacht musste sie in der Schatzhalle eingeschlafen sein. Erst als Thorin sie in ihr Bett legte, war sie wach geworden. Marie wollte nicht mit ihm streiten. Stattdessen hatte sie sich herumgerollt und es ihm überlassen, ob er sich dazu legte. Als er sich auszog und zu ihr kam, rechnete sie ihm das als ersten Annäherungsversuch an. Raue Beine schmiegten sich an ihre. Wortlos wurde sie an seine Brust gezogen, von starken Armen festgehalten. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war die Hitze seines Körpers, bevor sie erneut ins Reich der Träume überglitt.

Die Bedienteten hatten sie schlafen gelassen. Erst als es schon Zeit für das Mittagessen wurde, wachten sie am nächsten Tag auf, genauso verknotet, wie sie eingeschlafen waren. Ohne ein Wort zu sprechen hatten sie im Bett noch ein wenig miteinander gekuschelt, bevor sie aufgestanden waren. Beim Essen hatte Marie erst gar nicht versucht, irgendetwas aus Thorin rauszubekommen. Dafür sprachen sie über andere Dinge: sie von den Überraschungen der vergangenen Tage und er von seiner Arbeit und den Vorbereitungen für die kommende Versammlung. Er teilte mit ihr seine Pläne, welche Handelsverträge mit welchem Fürsten er schließen wollte und verriet ihr einige Eigenarten der Könige der Sieben Reiche.

Als sie auf den Kräuterladen zu sprechen kam, wagte sie sich vorsichtig vor und erzählte, dass sie ihm etwas zum Einschlafen mitgebracht hatte. „Es ist eine Art Tee. Man lässt die Kräuter und Blüten im heißen Wasser ziehen. Ich habe mir gedacht, dass dir das helfen kann.“

„Danke, Marie.“ Seine Worte hörten sich aufrichtig an und sie glaubte ihm.

 Aufmerksam und interessiert für die Belange des anderen hörten sie zu, stellten Gegenfragen und aßen in Ruhe ein traditionelles Mittagsmahl. Da ihr ein wenig unwohl in der Magengegend war, aß Marie nicht viel von dem deftigen Fleischgericht, aber sie genoss es, wieder Zeit mit dem Mann zu verbringen, dessen Leben sie teilen wollte. Heute würde Thorin von seinem Schreibtisch aus arbeiten. Marie hatte überlegt, ob sie auch daheim bleiben sollte, hatte ihre Überlegung jedoch wieder verworfen. Mit Thorin den ganzen Tag in denselben vier Wänden aushalten zu müssen, ohne dass es Streit geben würde, wäre nahezu unmöglich gewesen. Sie wollte den Tag nicht kaputt machen, der so gut begonnen hatte. Also ging sie mit der Erklärung, Ninak einen Besuch in ihrer Werkstatt abzustatten.

„So“, machte diese und schnitt den letzten Faden ab. „Leg es mal an.“ Sie raffte ihre Lederschürze und rutschte vom Hocker. Marie umrundete den Tisch, gespannt auf das, was Ninak ihr gefertigt hatte. „Das kannst du wie‘n Strumpfband tragen“, nuschelte sie mit ihrer Pfeife im Mundwinkel. „Mach mal‘n Rock hoch.“ Marie tat wie befohlen und Ninak schlang ihr den Ledergurt um den Schenkel. Nachdem sie ihn ihr festgemacht hatte, war Marie überrascht von dem angenehmen Tragegefühl. Es schmiegte sich total weich um ihr Bein. Außerdem war das Leder breit genug, damit sie sich nicht eingeschnürt fühlte. „Auf dieser Höhe trägst du es. Du brauchst nur einen Rock mit eingenähter Tasche, wo du ein Loch in ausreichender Größe durchmachst. Dann kannst du den Dolch aus deiner Tasche von deinem Bein ziehen“, erklärte Ninak und demonstrierte es pantomimisch. „Klar soweit?“

„Sollte ich hinkriegen.“

„Amboss und Esse, du hast echt Beine wie‘n Reh“, kommentierte sie mit einem Hauch von Neid Maries Aussehen, bevor diese ihren Rock wieder runterließ. „Jetzt den. Hab mir gedacht, das Muster würde dir gefallen.“ In dem femininen Waffengürtel, den Marie entgegen nahm, waren florale Ornamente mit hellen Fäden eingestickt. Es sah aus als wäre er mit Ranken geschmückt.

„Ninak! Der ist wunderschön.“ Sie legte ihn sich um die Hüfte und schloss die Schnalle. Dann nahm sie ihren Dolch und steckte ihn in die dafür vorgesehene Scheide. Da Marie Rechtshänderin war, hatte Ninak die Scheide links angebracht, damit sie besser danach greifen konnte. Als Marie fertig war, präsentierte sie sich von allen Seiten.

„So langsam siehst du aus, wie eine echte Zwergin.“ Ninak schlag ihren Arm um Maries Hals und zog sie an sich. „Vielleicht sollte ich dir noch ein paar Haare ins Gesicht malen…“

„Untersteh dich!“ Es entbrannte eine kaum ernstgemeinte Rauferei. Ninak hatte ihren Spaß mit der viel zierlicheren Marie. Pfeife rauchend wehrte sie die Konter problemlos ab, als würde ein Riese ein kratzbürstiges Kätzchen auf eine Armlänge Abstand halten.

„Heute soll schönstes Wetter sein, hab ich mir sagen lassen.“

„Man kann das Wetter hier unten eher schlecht einschätzen“, antwortete Marie und gab auf, ihr auch mal eins auszuwischen.

„Wie wär´s mit ‘nem Ausritt? Ich bin gespannt auf dein neues Pferdchen.“

Das Strahlen ihrer Gegenüber war Antwort genug.

 

Als Marie etwa eine Stunde später bei den Stallungen ankam, wartete bereits Goldi gestriegelt und gesattelt vor ihrer Box. Zur Begrüßung streichelte sie ihrer Stute die Stirn. „Hallo, meine Süße. Wollen wir es heute mal wagen, wir beide?“ Klappernde Hufe kündigten das Näherkommen eines weiteren Ponys an.

„Na, fertig?“ Wie sie hatte Ninak sich in der Zwischenzeit umgezogen und führte in Hose und Wams gekleidet ein graues Pony mit schwarzer Mähne, dunklen Beinen und einem schwarzen Strich auf dem Rücken herbei. Sie hatte ihr Haar kunstvoll zu einem Mohawk geflochten. Es sah nicht nur schön aus, es hatte auch einen ganz praktischen Zweck, denn nun konnten ihr ihre Haare nicht mehr in den Blick fallen. Eng an ihrer rechten Kopfhaut waren drei Reihen geflochten, der Rest ihrer Locken fiel über ihren Nacken. Ihre linken Kopfseite, dort wo sie die Haare ungewöhnlich kurz trug, kam nun besonders zur Geltung. Wie Ninak das in so kurzer Zeit hatte machen können, war Marie ein Rätsel. Wahrscheinlich saßen die geübten Handgriffe bei dem Volke Durins so tief wie der Drang eines Kleinkindes, zu gehen und zu laufen.

Während die Kriegerin selbst auf ihr Pony stieg, ließ sich Marie von einem Stallknecht in den Sattel helfen, bevor er noch einmal den Sitz des Sattelgurtes gewissenhaft überprüfte.

„Meine Herren, wir reiten allein“, lautete Ninaks Befehl an die beiden Soldaten, die Marie hierher begleitet hatten. „Öffnet uns das Tor.“ Die Soldaten gingen zu einer Kurbel, um die Ketten geschlungen waren. Es ratterte, als die Männer die Kurbel bewegten und das Tor am Kopf der Stallgasse in die Höhe gehievt wurde. Ohne Scheu vor dem Lärm bewegten sich die Ponys auf das hereinströmende Sonnenlicht zu. Der Stall lag in den Berg gebaut und als die Frauen das Tor passierten, löste Erde und Gras den Felsboden ab. Wind wehte ihnen entgegen und vor ihnen lagen die von der Sonne geküssten Berghänge und -wiesen des Erebors. Im Schritt ging es hinein in ein kleines Tal. Überall hatten sich Blumen und blühende Gräser aus der harten Erde gekämpft, um Insekten mit ihrem Duft und ihren bunten Farbtupfern im übrigen Grau und Braun der Landschaft anzulocken. Der Himmel war strahlend blau und Wolken zogen so tief, dass mitunter die Spitzten der Gesteinsformationen ihre Bäuche berührten.

Ninak nutzte die Gunst der Stunde und zeigte Marie, wie man die Zügel richtig hielt und man bequem und sicher im Sattel saß, wie man anhielt oder in die nächste Gangart wechselte. Im Schritt war noch alles leicht. Im Trab jedoch musste sich Marie erst an den flinken, kurzen Schritt ihres Ponys gewöhnen. Ferrox Gangbild war so ganz anders gewesen. Die ersten Meter waren äußerst holprig und wurden von Ninaks Gefeixe begleitet. Ihre Begleiterin konnte sehr gut reiten und musste mit Marie im Schlepptau des Öfteren warten. Doch Goldi war lammfromm. Marie brauchte sie nicht antreiben. Die blonde Stute lief einfach hinter Ninaks hinterher. Als diese jedoch angaloppierte, rannte auch Goldi los.

„Bleib mit deinem Hintern im Sattel! Nicht mit den Beinen an den Pferdebauch klammern! Lehn dich zurück wie in einen gemütlichen Sessel! Hände runter!“ Anfangs hatte Ninak es sehr schwer mit ihr, aber je mehr Strecke sie ritten, desto sicherer fühlte sich Marie. Und irgendwann passte sich ihr Körper dem Rhythmus des Pferderückens an als wären sie eins.

„Jetzt hast du‘s raus!“ Marie sah die Begeisterung ihrer Weggefährtin und lächelte über das ganze Gesicht. Die Frauen ritten im Einklang nebeneinander, während eine atemberaubende Landschaft an ihnen vorbeizog. Marie schloss die Augen, ließ sich den Wind ihrer alte Heimat um die Nase wehen und ihre Haare in den Himmel tragen.

Sie ritten so weit bis Marie nicht mehr wusste, so sie waren. Mäusefell, wie Ninaks Pony hieß, trabte eine Kuppe hinauf. Marie trieb Goldi an, damit sie nicht den Anschluss verlor und als sie nebeneinander zum Stehen kamen, staunte sie. Vor ihnen glitzerte das Wasser eines Bergsees gleißend hell im Sonnenlicht. Schilf und hohe Rohrgräser wuchsen an seinen ausgedehnten Ufern und in der Ferne schaukelten Wasservögel auf, vom Wind hopsenden Wellen. Überrascht hier einen See vorzufinden, sah Marie ihre Begleiterin an.

„Der Zarâmsijrevas.“ Ninak stieg aus dem Sattel und führte ihr Pony die letzten Meter zum Ufer hinunter.

Marie kletterte von Goldis Rücken und schickte sich an, ihr zu folgen. Kaum hatte sie sie eingeholt, schlüpfte Ninak aus ihren Stiefeln. „Was soll das werden?“

„Wirst du gleich sehen.“ Keine halbe Minute später rannte eine splitterfasernackte Zwergin zum Wasser und ließ sich jauchzend ins kalte Nass fallen. „Komm rein! Es ist herrlich!“ Ihr Übermut war ansteckend.

Mit ihrem Pony als Sichtschutz schälte Marie sich ebenfalls aus ihren Klamotten und legte diese über Goldis Rücken, die sich bereits zusammen mit Mäusefell desinteressiert von dem Treiben ihrer Reiterinnen am Gras bediente. Überflüssigerweise sah Marie sich noch einmal nach allen Seiten um, bevor sie beschützt von der Abgeschiedenheit dieses Ortes wie die Natur sie geschaffen hat ans Wasser trat. Kaum leckte es an ihren Füßen, schlotterte sie. Himmel, da konnte sie unmöglich rein!

„Komm schon, kleines Weichei!“

Den Spott nicht auf sich sitzen lassend traute Marie sich ein kleines Stückchen tiefer rein. Wasser bis knapp an die Knöchel zählte für Ninak wohl nicht. Wild entschlossen kam sie auf sie zu. „Nein, Ninak, nein!“ Die Zwergin packte sie. Marie schrie auf, als das kalte Wasser des Bergsees ihre Körper umschloss. Sie strampelte wie ein ertrinkendes Tier. Ninak lachte aus vollem Hals, während Marie sich auf die Beine kämpfte und so schnell ans Ufer eilte, wie sie konnte. „Du bist verrückt!“

Ninak kam hinterher und zog aus ihren Satteltaschen zwei Handtücher. „Damit du mir nicht erfrierst.“

„Wie gnädig.“ Die beiden Frauen versuchten, so schnell wie möglich trocken zu werden, jede mit einem Grinsen im Gesicht. Sie wollte nicht hinstarren, konnte es jedoch nicht vermeiden, als sie sich zurück in die Klamotten zwängte. Ihre geübten Augen sahen die Narben, die Ninaks Körper bedeckten. Ein paar wenige hatte sie an den Armen und den Schultern. Quer über ihren Unterbauch jedoch zog sich eine große. So eine Narbe kam nicht von der Arbeit in einer Werkstatt oder bei einem Training mit dem Schwert. So eine Narbe bekommt nur jemand, der in einer Schlacht gekämpft hatte.

„Das ist der Grund, warum ich keine Kinder kriegen kann.“

Beim Starren ertappt hob Marie den Blick, doch Ninak hatte sich bereits wieder abgewandt und fuhr ungerührt mit dem Anziehen fort. Zumindest tat sie so. „Du hast es vielleicht schon von den anderen gehört.“

„Was ist damals geschehen?“, fragte Marie, ohne tatsächlich eine Antwort von ihr zu erwarten.

„Moria“, erklang der Name dieses unheilvollen Ortes.

„Du warst dort?“, fragte Marie schockiert. Im nächsten Moment fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. „Du warst in dem Lager.“

„Ja.“

Vor ihrem innerer Auge sah sie Thorin als gebrochener Mann ihr gegenüber am Krankenbett seines Neffen hocken. Sie hatten sich gerade erst wiedergefunden und doch vertraute er ihr seine Lebensgeschichte an, als wäre sie nie fortgewesen. Sie setzte sich ins Gras und schlang genau wie damals die Arme um die angezogenen Beine, als würde sie ihm ein zweites Mal zuhören. „Thorin hat mir erzählt, was damals geschah.“

Es dauerte nicht lange, da ließ Ninak sich neben ihr nieder. Eine Weile sahen die Frauen schweigend über den See, der Toten dieses Tages gedenkend. Der Atem des Einsamen Berges kräuselte die Wasseroberfläche und Ninaks Stimme durchschnitt die friedliche Stille.

„Ich gebe niemanden die Schuld daran.“ Dass ihre Haare nass geworden waren, schien sie nicht zu stören. Kein Zittern kam über ihren Körper, während die Erinnerungen an diesen Tag sie heimsuchten und sie ihren Kopf aufrecht hielt.

„Das habe ich nicht erwartet“, entgegnete Marie. „Schlimme Dinge passieren, ohne dass wir Einfluss nehmen können. Schlimme Dinge sind es, die uns letztendlich zu denen machen, die wir heute sind.“

Ninaks Blick ging durch sie hindurch, als sähe die Zwergin etwas tief Verborgenes in ihr. „Du kennst das Gefühl, wenn du deinen Mann in einen Krieg ziehen lassen musst. Dieses Gefühl, nichts tun zu können. Hilflos zu sein. Machtlos, weil du eine Frau bist.“

„Ja.“

„Ich habe mich freiwillig als Wache für das Lager gemeldet. Noch vor dem Morgengrauen zogen unsere Krieger aus. Ich blieb zurück…und ließ Dwalin ziehen.“

„Wärst du ihm gefolgt?“

„Bis in den Tod“, lautete ihre Antwort. Marie glaubte ihr jedes Wort.

„Aber du bist geblieben.“

„Ja, weil ich eine Aufgabe hatte.“ Ihre Augen waren genauso blau und unergründlich wie der See vor ihnen, als sie sich ihr anvertraute. „Wir Frauen und Mädchen hatten alles vorbereitet und konnten von nun an nur noch warten, bis man uns die ersten Verletzten bringen würde. Es herrschte eine Anspannung, die einem die Luft nahm, wenn man sich ihr hingab. Ich konnte nicht im Zelt hocken und einfach nur warten. Ich bin stundenlang um das Lagers gelaufen, habe an den Grenzen patrouilliert. Dort sah ich ihn.“ Die wiederhochkommenden Erinnerungen packten Ninak, sodass sie die Fäuste ballte und rasend vor Wut wurde. „Dieser Ork stand einfach nur da! Er machte sich nicht einmal die Mühe, sich zu verstecken. Er schaute einfach nur herüber, sah mich hämisch an!“ Sie musste der Wut mit tiefen Atemzügen entgegenhalten. „Dann gab dieser widerwärtige Ork das Zeichen zum Angriff. Scharenweise kletterten sie über die Felsen und ich begriff, dass wir verloren waren. Wir waren nur eine Handvoll kampffähige Frauen. Wir hätten es niemals gegen so viele Orks schaffen können. Ich bin gerannt so schnell ich konnte, um die anderen zu warnen, doch es war bereits zu spät. Sie griffen das Lager von zwei Seiten an. Die meisten hatten nicht den Hauch einer Chance. An diesem Tag habe ich viele Frauen und Kinder sterben sehen. Sie wurden verschleppt, ermordet, vergewaltigt. Die Orks vergingen sich an uns und steckten die Zelte in Brand. Ich fand Dis in dem Getümmel und befahl ihr, mit den Kindern wegzulaufen. Das war das letzte Mal, dass ich sie sah.“

„Als mir Thorin von Moria erzählte, habe ich mich gewundert, wieso eine Prinzessin an diesem Ort war.“

„Dis war…“ Sie begann von Neuem. „Dis hat sich sehr verändert, musst du wissen. Nach dem Angriff des Drachen war sie sehr zurückgezogen und klebte an den Kindern wie eine überführsorgliche Glucke. Ihre Ehe litt sehr darunter. Dis kam sich oft unnütz und ohne Aufgabe vor. Deshalb hat sie sich dem Kriegstross angeschlossen. Mitzukommen war ihre eigene Entscheidung gewesen. Ihr Vater, ihr Bruder, ihr Mann; alle hatten es ihr verboten. Dis kam trotzdem mit. Und als wir schon auf halber Strecke waren, saßen plötzlich die Jungs mit ihr auf dem Wagen. Sie hatte sie einfach heimlich mitgenommen. Karif hat getobt, als er es herausfand, aber Dis blieb bei ihrer Entscheidung. Weil sie sich nicht von ihnen hatte trennen können. In den Wochen zuvor hatte sie sich heimlich in der Lazaretthilfe ausbilden lassen. Sie hatte Bücher über das Versorgen von Wunden bis spät in die Nacht studiert. Ich hatte damals nie wirklich einen Draht zu ihr, aber sie vertraute mir in einem stillen Moment an, dass sie sich einmal im Leben nützlich fühlen wollte.“

„Sie hat Fili and Kili in dieser Truhe versteckt. Sie hat sie gerettet.“

„Ja“, wisperte Ninak. „Ja, das hat sie.“ Der Wind trug ihr Flüstern in den Himmel hinauf und die Strahlen der Sonne strahlten warm auf sie herab. Wildgänse landeten in der Ferne. Hinter ihnen war das Schnauben der grasenden Ponys zu hören. Es war blasphemisch, an einem Ort wie diesen von Krieg und Tod zu sprechen.

„Was ist mit dir geschehen, Ninak?“

„Tja“, machte sie zu Maries Überraschung amüsiert über die Frage. „Das, was mit einem wohl oder übel geschieht, wenn man sich einer Horde Orks in den Weg stellt. Ich würde es nicht mit allen aufnehmen können, vielleicht konnte ich aber den anderen so eine Chance zum Entkommen geben, so mein Gedanke. Mich erwischte es einfach. Ich sank in den Matsch und als wäre das nicht schon schlimm genug, kippte mein Gegner, den ich eben noch ausgeweidet hatte auf mich und begrub mich unter einer stinkenden Masse an Lumpen und Gedärmen. Sie dachten, ich wäre tot und ließen mich liegen. Das hat mir letztendlich wohl das Leben gerettet. Ich wachte erst im Lazarett wieder auf, neben meiner Pritsche kniete Dwalin und...“, ihre Stimme wurde dünn, „hat gebetet für mich….“ Ein Blinzeln. Ein Schlucken. „Marie, du kannst dir nicht vorstellen…“ Sie musste sich zusammen reißen, damit die Emotionen sie nicht überwältigen. Marie konnte sie nicht trösten, denn sie musste mit aller Kraft ihre eigenen bekämpfen.

„Keine Lieder sangen wir und keine Feste feierten wir. Zu viele Tote waren zu beklagen. Wir gingen zurück in die Blauen Berge. Der Rest ist Geschichte.“

Nie in ihrem Leben hatte Marie auf einem Schlachtfeld gestanden. Nie hatte sie in einem Krieg kämpfen müssen. Sie hatte ja noch nicht einmal Orks wirklich zu Gesicht bekommen. Wenn sie jetzt erzählen würde, sie hätte sich mal mit einer Widersacherin im Schlamm gewälzt, hätte Ninak nur die Nase gerümpft. Neben einer echten Kriegerin zu sitzen, machte Marie bewusst, welch ein behütetes Leben sie in Kerrt weitab der Schlachtplätze und des Blutvergießens gehabt hatte. „Ich muss dir danken, Ninak.“

„Ist jetzt nicht die Geschichte, die man auf einer Feier zum Besten geben sollte.“

„Das meine ich doch nicht. Du hast dich um Kili und Fili gekümmert, als Thorin nicht in der Lage dazu war. Dafür möchte ich dir danken.“

Irritiert über die Bedeutung ihrer Worte beäugte Ninak sie. „Er hat es dir erzählt?“ Marie nickte. „Scheiße, er muss dich echt lieben.“

Sie musste lächeln. „Man mag es kaum glauben.“ Ninak verfiel in grübelndes Schweigen und Marie konnte förmlich sehen, wie ihr Gedanken nun den Jungs galten und ihr ein Lächeln zauberten.

„Ich liebe sie wie meine eigenen Söhne.“

„Danke, dass du und Thorin solch großartige Männer aus ihnen gemacht habt.“ Ninak nahm ihre Dankbarkeit zur Kenntnis, doch ihr Lächeln gefror. Mit einem Mal wurde sie unruhig und man sah ihr deutlich an, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. Weil sie nicht wusste, was genau in ihr vorgeht, wartete Marie ab, bis sie von selbst den nächsten Schritt tat. Ninak konnte so lange mit sich selbst ringen, wie sie wollte: irgendwann musste es einfach heraus.

„Wenn wir schon mal auf der sentimentalen Schiene unterwegs sind… Es gibt da noch etwas, was du wissen solltest. Ich habe dir Unrecht getan und muss mich bei dir entschuldigen.“

„Wovon spricht du?“

„Als wir von dir erfuhren, hatte ich Angst, dass…“ Sie stöhnte auf und verdrehte die Augen. „Auf die Gefahr hin, dass sich das jetzt total schwachsinnig für dich anhört: ich hatte Angst, du könntest Fili und Kili eine bessere Mutter sein.“

Etwas knackte in Maries Herzen. „Oh, Ninak…“

„Ich wollte meine Jungs nicht an eine Fremde verlieren. Das war egoistisch von mir.“

„Ninak, du irrst dich.“ Marie rückte näher und brachte sie dazu, ihr in die Augen zu schauen. „Ich könnte nie eine bessere Mutter für sie sein, als du es ihnen warst! Ich könnte nie deinen Platz einnehmen. Die Jahre mit ihnen kann nicht ich und auch niemand sonst euch mehr wegnehmen. Ich möchte dich nur bitten, dass du mich ein Teil ihres Lebens werden lässt. Ich habe Fili und Kili sehr gern. Sie bedeuten mir viel.“ Ninak brachte nur noch ein Nicken zustande und Marie sah ihre Unterlippe gefährlich zittern, während ihr eigener Blick mehr und mehr verschwamm.

„Hör auf! Bring mich nicht zum Heulen.“

„Ich kann nichts dafür“, jammerte Marie. „So bin ich nun mal.“ Im nächsten Moment zogen sich die Frauen gegenseitig in eine Umarmung, umklammerten einander als würden sie in der Vergangenheit ertrinken, wenn nicht. Ninaks undurchdringliche Mauern waren gefallen. Sie hatte ihr Herz für Marie geöffnet und hielt ihre neugewonnene Freundin ganz fest. Sie waren zwei Pole, die die Anziehung und den Abstoß des anderen brauchten, um nicht aus der Bahn zu geraten.

Ninak löste sich als Erste und zog sehr undamenhaft die Nase hoch. „Wenn wer fragt, ich habe nicht geweint. Es war der Wind, verstanden?“

Marie lächelte, schloss die Augen und genoss den Frieden auf den Dächern der Welt. „Nur der Wind.“

 

 

21

 

 

In den darauffolgenden Tagen war Marie nur noch mit den Vorbereitungen für die Versammlung beschäftigt. Neben all den Vorkehrungen, die sie treffen musste, bekam sie einen Schnellkurs in „Wie-verhalte-ich-mich-als-zukünftige-Königin?“ Kili und Fili übten mit ihr die Namen von vergangenen und derzeitigen Königen. Thorins Stammbaum lernte sie auswendig und wurde bei jeder Gelegenheit in Khuzdul abgefragt, egal in welcher Situation oder zu welcher Tageszeit. Nebenbei musste sie mit den Bediensteten die Abläufe planen und das Festessen vorbereiten. In allen Gassen, in allen Läden sprach man nur noch von der Versammlung der Sieben. Es war das Ereignis des Jahres, das die Bewohner des Berges mit Vorfreude und Neugier erfüllte.

Der Mond tat Marie keinen Gefallen. Er folgte unbeirrt seiner Natur und wurde unaufhaltsam voll. Dann war es so weit.

Die Thronerben aller sieben Reiche reisten nach Erebor und wurden gemeinsam von Marie und Thorin am Haupttor empfangen. Wie es Brauch war überreichte Marie den mächtigsten Männern ihres Volkes nach der Begrüßung Bier und Fleisch als Zeichen, dass sie weder Hungern noch Dürsten müssen und dass man die Vorräte gerne mit ihnen teilte. Wenn ihr Gast den Krug nicht sofort austrank, galt dies als unhöflich. Doch oft vergaßen die Zwergenfürsten fast die gute Sitte, denn sie starrten alle im ersten Moment Marie an. Von jedem wurde sie von oben bis unten gemustert. Dass sie keine echte Zwergin war, sprach niemand aus, Marie sah es hinter ihren Schädeln jedoch rattern und fürchtete bereits die unvermeidbare Fragerei, welche ihr später an diesem Tag noch blühen würde. Am Abend sollte es ein großes Fest zu Ehren Erebors Befreiung geben, bevor in den darauffolgenden zwei Tagen die Verhandlungen der neuen Bündnisse abgehalten werden würden.

Ohne Unbehagen und mit unüberhörbarem Stolz stellte Thorin sie als seine Zukünftige vor und bekam oft ein paar scherzhaft rüde Bemerkungen, wieso er nichts von ihr erzählt hatte und was ihn dazu geritten hätte, sein Junggesellenleben aufzugeben. Anfangs hatte Marie Furcht vor den Blicken der Fürstenpaare, doch sie sollte sich täuschen. Die Männer machten ihr ungeahnt schmeichelhafte Komplimente und zollten ihr Respekt, die Frauen waren etwas zurückhaltender und ließen Marie nicht einschätzen, was sie in Wahrheit von ihr hielten. Der junge und überaus gutaussehende König aus Nogrod küsste sogar ihre Hand, woraufhin sie feuerrot anlief.

Marie fiel auf, dass die Begrüßungen sehr unterschiedlich ausfielen. Manchmal trat Thorin kühl und respektvoll auf, bei dem Nächsten zog man sich in eine raue Umarmung und verteilte kumpelhafte Rückenklopfer. So kam es, dass Marie auch Dain Eisenfuß kennenlernte, König der Eisenberge und Vetter von Thorin.

„Das ist also die Frau, die dir den Kopf verdreht hat“, stellte Dain mit seiner Reibeisenstimme fest und Marie versuchte nicht allzu dümmlich zu lächeln. „Kann man dir echt nicht verübeln, alter Kamerad.“ Laut und herzlich war seine Lache, als er Thorin auf den Rücken schlug.

„König Dain“, wie bei allen anderen Fürsten auch knickste Marie vor dem Krieger, der sich in der Schlacht der Fünf Heere einen Namen gemacht hatte.

„Nur Dain, Schätzchen. Wir sind doch praktisch eine Familie! Ha-ha-haaa!“ Seine Lache dröhnte in ihrem Ohr, als er sie so fest an sich drückte, dass ihr die Luft wegblieb.

Zu der traditionellen Begrüßung gehörten nicht nur Bier und Fleisch für die Gäste, sondern auch die Übergabe einer Waffe. Die Könige brachten alle ein Schwert oder eine Axt mit, welche sie ihrem Gastgeber übergaben. Damit zeigten sie, dass sie ihm vertrauten und keinen Hinterhalt vermuteten.

An diesem Tag mussten Marie und Thorin zwischen dem Gästeflügel, wo die Fürstenpaare und deren Angehörige einkehrten, und den Eingangshallen hin und her eilen. Die Könige reisten nicht nur mit mehreren Stunden Unterschied an, sondern auch mit einem kleinen Gefolge aus Leibwächtern und Bediensteten, die auch einen Platz zugewiesen bekommen mussten. Kolonnen aus Wagen und Kutschen rollten durch die von Soldaten abgeriegelten Eingangshallen und wurden von den Bewohnern Erebors von den Emporen aus beäugt, um ja nichts zu verpassen.

Neben Dain war es ein anderer Mann, mit dem ihr Verlobter lange im Gespräch verweilte. Eine Kutsche rollte vor, die als Wappen zwei gekreuzte Äxte zur Schau trug. Thorin, der natürlich das Wappen der Streitaxt und Arbeitsaxt sofort erkannt hatte, ging zum Wagen und öffnete ihn. Im Inneren saß ein Greis mit schneeweißem Haar, der große Augen machte, als er den Mann vor sich erkannte. Sogleich wollte er aus dem Wagen klettern. Thorin stützte den Gebeugten und half ihm sicheren Stand auf der Brücke zu finden. Immer wieder drückte der Weißhaarige seine Oberarme und schüttelte den Kopf. „So viele Jahre mussten vergehen, ehe wir uns hier an diesem Ort wiedersehen.“

Marie sah, dass die Worte ihrem Verlobten zu Herzen gingen. „Ich bin froh, dass du gekommen bist, alter Freund.“

„Nach der holperigen Fahrt ist mein Hinterteil noch platter als ohnehin schon! Aber Durin soll mir den Buckel runterrutschen, wenn ich mir das Spektakel entgehen lassen hätte!“

Das brachte Thorin zum Lachen. „Bevor wir uns in den alten Zeiten verlieren, habe ich die große Ehre, dir jemanden vorstellen. Das ist Marie, meine Verlobte. Marie, das ist Baryn, Sohn des Baron, König der Blauen Berge und Freund der Familie.“

Der alte Zwerg, dessen Bart fast bis zu seinen Knien reichte, machte große Augen.

Marie verbeugte sich. „König Baryn, es ist mir eine große Ehre Euch in Erebor willkommen zu heißen“, sprach sie auf Khuzdul und reichte ihm den Krug Bier als Willkommensgruß.

Baryn war alt, doch die Würde eines Königs war ihm bis ins hohe Alter anzusehen. Seine blauen Augen drückten Scharfsinn und Freundlichkeit aus, als er sie musterte. „Welch reizende Überraschung“, sagte er und nahm den Krug entgegen. Nachdem er das Bier getrunken und seinen Mund mit dem Ärmel abgewischt hatte, raunte er verschwörerisch zu Thorin: „Du musst mir alles erzählen.“

 

~

 

Die Sonne war bereits hinter dem Horizont verschwunden, doch an diesem Abend funkelte und glänzte es im großen Festsaal in den verschiedensten Farben, wie nie ein Sonnenaufgang sie besser malen könnte. Die mit weißen Edelsteinen gespickten Kronleuchter und die Feuerstätten brannten und füllten den Saal mit goldenem Licht – fast siebzehn Jahre später, nachdem alles Licht aus Erebor verschwunden war.

Wie das aufgeregte Brummen von freudigen Hummeln, die den Anfang des Sommers kaum erwarten konnten, schwirrten hunderte Stimmen durch den Saal und belebten ihn mit Freude und Lebenslust. Lautes Gelächter breitete sich über reich gedeckte Tafeln aus. Knusprig gebratene Spanferkel und halbe Hammel drehten sich an den Feuern. Fröhliche Musik wurde gespielt, die dazu einlud, ausgelassen zu tanzen. Bedienstete gingen umher und servierten Kelche und Humpen mit Wein und Bier, nach denen man gerne und oft griff. Königinnen und Prinzessinnen hatten sich in teure und ausgefallene Kleider geworfen, behangen mit farblich passendem Schmuck und mit dem ehrgeizigen Ziel, die Schönste von allen zu sein.

Die Könige der Sieben Reiche standen in Grüppchen beisammen. Man teilte Neuigkeiten, man feierte das Leben und das Beisammensein, begrüßte alte Freunde oder nickte alten Rivalen verhalten zu. Neben den Gästen aus den anderen Königreichen waren auch die Gefährten und ihre Ehefrauen Anwesend. Bilbo wurde zu einem wahren Frauenmagnet. Zwerginnen rissen sich förmlich um den Hobbit, der schon eine lebende Legende ihrer Tratsch- und Klatschgeschichten geworden war, und wollten von ihm alles erfahren.

Seitdem sie als Kriegshelden aus der Schlacht hervorgegangen waren, gehörten die Gefährten zu der Elite von Durins Volk und wurden von jedem nach den Geschehnissen in Erebor ausgefragt. Die Geschichte von der Rückeroberung Erebors und Thorins wundersamer Genesung waren natürlich die Gesprächsthemen des Abends. Ein Abend, um das Ende von Smaugs Herrschaft zu feiern. So dachten sie…

In dem Gold und dem schwarzen Obsidian seiner Krone spiegelten sich die Lichter, als Thorin seine Gäste begrüßen. Jeder fragte, wo seine Verlobte steckte, und jedem antwortete er lachend, dass sie sich wahrscheinlich nicht entscheiden könne, was sie anziehen sollte. Als er sich abwandte, konnte er die aufgesetzte Maskerade oft nicht mehr aufrecht halten. Wie er diesen Abend überstehen sollte, wusste er nicht. Schon jetzt war es ein Spießrutenlauf. Während Smaug ihn die letzten Tage relativ in Ruhe gelassen hatte, war er an diesem Abend präsenter als je zuvor. Der Drache ergötzte sich an den Kronen der Fürsten, dem Schmuck und den Edelsteinen an jeder Frau und an der Unwissenheit überall um ihn herum, ihnen so nah zu sein. Nicht nur, dass überall sein Typ gefragt war, die Stimme des Drachen in seinem Kopf lenkte Thorin von seinen Pflichten als Gastgeber ab. Ein weiteres Mal sah er sich um, ob er Marie schon entdecken konnte.

Schau nur, wie sie lachen und sich freuen, knurrte Smaug. So ahnungslos wie Sccchafe, die den Wolf nicht unter ihnen sehen…

Sein Wirt konzentrierte sich auf seine Umgebung. Sein Mädchen und die Bediensteten hatte beim Schmücken des Festsaals ganze Arbeit geleistet und hatten ihm ein ganz anderes Gesicht gegeben.

Wieso gibst du dich mit ihnen ab? Sie sind jämmerlich unbedeutend im Gegensatz zu uns.

Es gibt kein UNS, Schlange, konnte Thorin nicht für sich behalten.

Rede dir das nur weiter ein, Thronräuber.

Lange Stoffbahnen hing von der Decke und verbargen die kühlen Felswände. Auch an den Kronleuchtern waren sie befestigt und schufen ein sanftes Baldachin im Saal.

Sie denken, sie wären uns ebenbürtig. Sie denken, ihr wärt alle gleich. Aber da täuschen sie siccch. Es gibt einen bedeutenden Unterschied.

Thorin antwortete ihm nicht.

Du besitzt den Arkenstein. Er macht dich zu etwas ganzzz Besonderem.

Er verdrehte die Augen und eine Frau in seiner Nähe schaute ihn komisch an. Schnell drehte er sich um und ging auf die ausladende Treppe zu. Große Stufen führten hinauf zu dem zweiten Ein- und Ausgang des Saals. Thorin schaute zu den Soldaten, die dort Wache standen. Einer nickte. Thorin nickte zurück. Alles in Ordnung.

Versuch nur, mich zu ignorieren, Thronräuber. Du weißt selber, dass ich Recht habe.

Er heftete seine Augen auf die Blumenranken, die um die Geländer geschlungen waren. Marie und die anderen Frauen hatten Stunden damit verbracht, die Girlanden aus Blumen und Wiesengräser wickeln. Er fokussierte sich auf die Farben, die Formen, roch an ihnen, betastete sie. Alles, nur um sich von der Stimme in seinem Kopf abzulenken und seinen Gedanken, seinen Händen eine Aufgabe zu geben.

Du hast den Arkenstein und so viel Gold, wie kein anderer. Aber du kannst noch mehr haben… Ich könnte dir dazu verhelfen, der mächtigste Mann der Welt zu werden. Der einzzzige König. Verbünde dich mit mir und du kannst du die anderen mühelos tö… Etwas ließ den Drachen verstummen.

Der Saal geriet in Aufruhr. Die Männer standen mit offenen Mündern da und durch die Frauen und Mädchen ging ein Raunen. Thorin blicke die Stufen der Treppe hinauf… und spürte sein Herz von den einen auf den anderen Moment aufhören zu schlagen.

Verschwenderisch prachtvoll war ihr bodenlanges, blutrotes Kleides mit winzigen Edelsteinen und südländisch anmutenden Ornamenten bedeckt. Die funkelnde Pracht aus Rot, Silber und Gold bedeckte ihren Oberkörper und verteilte sich dann üppig über den Stoff. Das Kleid lag eng um ihre Kurven und stellte sie unvergleichlich zur Schau. Ab ihrer Taille wandelte sich das Oberkleid in eine weit ausgestellte Schleppe, die einer Göttin würdig war. Auf dem kräftigen Braun ihrer offenen, zu großen Locken gelegten Haare ruhte ein goldenes Diadem, das an Sonnenstrahlen und Flammen erinnerte.

Thorins Herz kam rumpelnd wieder in Gang, als seine Verlobte die Treppe herunterschritt. Er befahl seinem Hirn, seine Lebensfunktionen aufrecht zu erhalten und machte wie von Fäden gezogen ein paar Schritte auf sie zu. Ihr Lächeln brachte ihn wieder in die Bahn und ihre grünen Augen, die im Kontrast zu dem Rot und Gold standen, schufen einen sicheren Hafen, der ihn erneut daran erinnerte, welche Macht sie über ihn besaß.

Seine Hand streckte sich nach ihr aus, um sie auf den letzten Stufen in Empfang zu nahmen. Marie ergriff sie und atmete erleichtert aus, als wäre die Treppe ihre größte Sorge an diesem Abend gewesen. „Entschuldige meine Verspätung. Madame Asrik und Tara haben einfach nicht aufgehört an mir herumzuzupfen.“

„Du sieht…“ Er musste sich räuspern, als seine Stimmbänder vom Frosch in seinem Hals gequetscht wurden. „Du sieht atemberaubend aus.“ Thorin wusste nicht, wo er hinschauen sollte. Der Umstand, dass sie mit Gold bedeckt war, machte ihn nervös. Durin, diese Frau war so wunderschön und gleichzeitig so tödlich für ihn. Smaug war plötzlich still und Thorin wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Doch nicht nur der Drache war verstummt.

„Alle sehen uns an“, raunte Marie und sah an ihm vorbei in den Saal, wo Gespräche nur schleppend wieder aufgenommen wurden.

„Nun ja, du hast den Auftritt des Abends hingelegt.“

Seine Worte bewirkten, dass Hitze ihr ins Gesicht schoss. „Madame Asrik und Meister Falo ist das geschuldet. Ich hab gleich gewusst, dass das viel zu viel für mich ist.“

„Nein“, er hob ihr Kinn, damit sie ihn ansah, „das bist du. Das bist alles du.“ Zu Hunderten brachen sich die Lichter in den aufgenähten Steinen und ließen sein Mädchen in Rot und Gold leuchten, als würde ein Feuer sie umgeben. „Endlich sehen sie dich, wie auch ich dich sehe.“ Seine Hände legten sich sanft um ihr Gesicht. „Du bist die Liebe meines Lebens und die zukünftige König Erebors. Alle sollen das sehen“, sprach er und küsste ihre roten Lippen. Ihr Lächeln bewirkte, dass es in seinem Körper noch heftiger kribbelte. Thorin hätte liebend gern diesen Kuss vertieft, doch wie so üblich rief die Pflicht. Er trat an ihre Seite, legte ihre Hand in seine Armbeuge und spürte ihr Zittern. „Alles in Ordnung?“

„Wenn ich mich übergeben muss, töte mich.“

Ihr makabrer Wunsch ließ ihn lächeln. „Keine Sorge, Mylady. Dann stelle ich mich schützend vor Euch.“ Dass ihr Magen die letzten Tage rebelliert hatte, hatte Thorin mitbekommen. Er konnte sich gut vorstellen, was in Marie, einer bürgerlichen Frau aus einem verschlafenen Dorf in diesem Moment vorgehen mochte, in den höchsten Kreises seines Volkes eingeführt zu werden. „Atme tief ein und lass nicht los. Ich bin bei dir“, flüsterte er und ging voran.

An der Seite ihres Königs schritt Marie durch die Gasse, die die Gäste ihnen schufen. Von überall trafen sie die Blicke und ihr blieb nichts anderes übrig, als in ihnen zu baden. Frauen musterten sie von oben bis unten und raunten ihrer Nachbarin hinter vorgehaltener Hand etwas zu. Getuschel war aus den hinteren Reihen zu hören.

Es war ein Déjà-vu, das ihr nichts mehr anhaben konnte. Marie konzentrierte sich auf ihr einstudiertes Lächeln und baute eine Glaskuppel um sich herum auf, ließ all die schlechten Erinnerung an das Gerede und die fiesen Worte von damals abprallen und hob das Kinn. Das flaue Gefühl in ihrem Magen verschwand gänzlich, als sie überall bekannte Gesichter entdeckte. Suurin, Minar, Bruna und Ninak hatten sich ebenfalls herausgeputzt für diesem Abend und begeisterten Marie mit ihrem Anblick. Ihr Lächeln wandelte sich: es wurde echter, lebendiger.

„Ihr seht so toll aus“, konnte Marie es nicht lassen, ihnen zuzuflüstern, was die Lächeln ihrer Freundinnen noch breiter machte.

Ninak nickte ihr beeindruckt zu. Dann sah sie zu Dwalin und stupste ihn mit dem Ellenbogen an. „Kannst den Mund jetzt wieder zu machen.“

Neben ihm standen Kili und Fili. Himmel, waren das die dreckigen Jungen aus der Wildnis, die halb tot in ihr Behandlungszimmer geschleppt worden waren? Die jungen Prinzen waren nicht wiederzuerkennen. Kili pfiff leise, was Marie die Röte zurück auf die Wangen brachte. Bifur winkte ihr zu und Marie winkte zurück. Dori verbeugte sich galant und Bofur nahm sogar seine Mutze ab. Marie hatte es schon immer gewusst: sie konnte sich auf diesen verrückten Haufen verlassen.

Thorin führte sie in die Mitte des Saals und sie bemerkte, dass alle Fürstenhäuser sich dort bereits versammelt hatten. Die Könige kamen in einem großen Kreis zusammen und es war, als würde Thorin in diesen Kreis neu eintreten. Er blieb stehen und griff an seine linke Seite, wo Orcrist an seinem Gürtel hing. Der König Erebors zog das große Schwert und reckte es.

„Meine Brüder!“ Seine Stimme wurde weit getragen und jeder, der noch nicht still war, war es spätestens jetzt. „Schwört ihr mir die Treue als Verbündete?“, fragte er feierlich. „Schwört ihr, mein Land zu verteidigen, wenn ich euch rufe? Schwört ihr unserem Volk zu dienen, indem ihr die Gesetze wahrt und euren Brüdern zur Seite steht? Dann gebt mir hier und heute euer Wort. Lasst diesen Tag der Beginn einer neuen Ära werden, voll Frieden und Wohlstand.“

Dain war der Erste, der seine Waffe zog und zu ihm kam. „Mein Wort. Meine Ehre. Mein Hammer.“

König Baryn erhob sich von seinem Stuhl und reckte trotz seiner alten Tage seine Waffe, als hätte er nie etwas anderen in seinem Leben getan. „Mein Wort! Meine Ehre! Meine Axt!“

Die anderen Könige taten es ihnen gleich. Sie kamen zusammen und legten ihre Waffen im Schwur aneinander. Thorin blickte in die Gesichter ihm gegenüber und war froh, dass er den Plänen des Drachen vorerst einen Riegel vorgeschoben hatte und den Weg für neue Bündnisse freigemacht hatte.

Aus seinem Augenwinkel sah er, wie Marie glücklich zu ihm aufblickte. Ihre Hand legte sich auf seine Brust, ohne zu wissen, dass gerade ein Raubtier versuchte, vor Wut ihn in Fetzen zu reißen. „Thror wäre sehr stolz auf dich“, wisperte sie. Thorin antwortete nicht. Niemand bemerkte, welch schweren Kampf er focht.

 

~

 

All ihre Befürchtungen sollten sich bewahrheiten: sie war die Kuriosität des Abends. Jeder wollte die verzauberte Menschenfrau in eine Unterhaltung verwickeln und leider waren es immer dieselben Fragen. Marie lächelte ihr Dauerlächeln, während sie von einem Gespräch zum nächsten rutschte. Dafür musste sie sich noch nicht einmal von der Stelle bewegen. Alle strömten zu ihr hin, um sie kennenzulernen. Eigentlich sollte sie sich geschmeichelt fühlen, doch die Mehrheit der Anstandsbesuche war aus reiner Sensationslust. Besonders die Königinnen aus den Silberbergen und Aule belagerten sie zusammen mit ihren Anstandsdamen wie hungrige Hyänen. Obwohl Marie sie schon zwei Mal gebeten hatte, langsamer und deutlicher zu sprechen, taten die Damen von Rang und Namen ihr keinen Gefallen und so fiel es ihr schwer den Gesprächen in Khuzdul zu folgen. Manchmal musste auch jemand für sie übersetzen. Die Zwerginnen verstanden die Gemeine Zunge nicht. Wozu auch? Sie haben sich noch nie bei einem anderen Volk zurecht finden müssen. Es war lauter belangloses Zeug, über das man sich die meiste Zeit unterhielt. Oberflächlichkeiten und zur Schaustellung von Protz und Prunk. Sie merkte, dass manche Frauen eine andere Einstellung hatten, tiefergehende Gespräche jedoch konnte sie von ihnen am ersten Abend auch von ihnen nicht erwarten.

Unauffällig suchte Marie die Umgebung nach Rettung ab, bis sie die roten Haare von Ninak ganz in ihrer Nähe entdecke. Als sie schon überlegte, wie sie ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken sollte, sah Ninak in ihre Richtung. Hilf mir!, formte Marie sofort mit den Lippen, doch Ninak lächelte nur schadenfroh und hob ihr Bier zum Prost. Ich hab mir den Schmied ausgesucht. Du den König, sollte das wohl heißen. Marie strafte sie mit einem finsteren Blick und musste sich wohl oder übel wieder den anstrengenden Frauen widmen.

„Ich habe heute Abend noch keine Eurer Anstandsdamen gesehen, meine Teure“, bemerkte gerade die Fürstin aus den Silberbergen und Gemahlin von König Ubba.

„Das ist wohl dem Grund geschuldet, dass ich gar keine habe.“

„Wer sorgt denn für Euer Wohl?“

„Ich komme gut alleine zurecht. Wenn ich in der Stadt unterwegs bin, nehme ich meine Freundinnen mit oder lasse mich von Soldaten begleiten. Sie haben einen guten Sinn für Humor.“

Die Damen glotzten sie an wie Kühe das Scheunentor. „Ihr sprecht mit Soldaten?“

„Ja, natürlich. Sprecht Ihr nicht mit Euren?“

„Um Durins Willen! Soldaten sind ein rauer Schlag Mann.“

Marie konnte es nicht für sich behalten: „Wollt Ihr nicht wissen, wer Euch beschützt? In wessen Hände Ihr euer Reich lasst?“

„Das ist nicht unsere Aufgabe. Wir haben genug anderes zu tun.“

Edelsteine zur Schau tragen und Kinder gebären. „Natürlich“, antwortete Marie höflich. „Entschuldigt mich bitte.“ Sie wagte es, die Traube an Frauen zu verlassen und flüchtete zu Minar, Bruna und Su, die an einem der langen Tische standen und sich am Festessen bedienten.

Minar schaute sie bemitleidenswert an. „Deinem Gesicht nach zu urteilen, läuft es nicht gerade wie am Schnürchen.“

Marie seufzte, ehe sie ihren Unmut freien Lauf ließ. „Ja, ich bin als Mensch geboren. Nein, es war mein eigener Wunsch mich verzaubern zu lassen. Das Kleid ist von Madame Asrik und Meister Falo. Ich heiße Marie… Nicht, Mali. Es ist mir eine große Ehre Euch kennenzulernen. Nein, ich bin erst vor kurzem nach Erebor gekommen. Nein, ich kenne nicht den Unterschied zwischen Rubinen und Amethysten. Ja, ich verbringe gerne Zeit in der Küche und in den Werkstätten meiner Freunde und ja, ich rede mit Soldaten. Ohhrrrr!“

„Hier, Süße. Trink erstmal was.“

Marie griff nach dem von Su angebotenen Weinkelch und genehmigte sich einen ordentlichen Schluck. „Wenn ich noch einmal meine Lebensgeschichte erzählen muss, schreie ich.“

„Du hast schon mit so vielen gesprochen. Du müsstest doch die Neugierigsten schon… Oh, Marie, ich sag es ja nur ungern, aber da kommen wieder zwei junge Damen.“

Marie erdolchte Su mit den Augen. Ihr blieb jedoch nichts anderes übrig, als den Rest ihres Weines zu kippen und sich dann mit einem einstudierten Lächeln zu den Prinzessinnen umzudrehen, die sie kennenlernen wollten.

 

~

 

„Ihr müsst die Obsttörtchen probieren“, schwärmte Dori. „Die sind einmalig.“

„Das süße Zeug kannst du alleine essen.“ Während Nori zum Schinken griff, schob sich Bombur ein Törtchen quer in den Mund.

„Das sind also die berühmten Befreier Erebors…“, schnurrte eine weibliche Stimme hinter ihnen und ließ Nori, Bombur, Dori und Bofur sich umdrehen. Mit schwingenden Hüften kamen zwei Frauen näher und musterten die Männer, die sich einen Namen gemacht hatten, mit einem gewissen Funkeln in den Augen. Beim Anblick der überaus hübschen Frauen wurden die Männer ganz verlegen. Bombur grinste, Erdbeeren und Mandarinen vor dem Zahnfleisch.

Nori war der, der seine Schockverliebtheit am schnellsten überwand. „Leibhaftig, meine Teuersten.“ Mit geschwellter Brust schlenderte er zu den Damen und schwebte elegant in deren Mitte. „Habt ihr schon die Geschichte gehört, wie ich gegen den Drachen gekämpft habe?“

Das versetzte die Frauen in helle Aufregung „Nein, Ihr müsst es uns erzählen!“

„Unbedingt!“

Nori lächelte, harkte die Damen bei sich unter und schlenderte mit ihnen von dannen. Den übrigen Dreien blieb nichts anderes übrig, als den weggeschnappten Frauen hinterherzusehen.

Bofur seufzte. „Da geht er hin mit unseren Törtchen.“ Das gab Bombur den Anlass, sich noch eines zu genehmigen.

 

~

 

„Darf ich sie Euch mal kurz entführen? Besten Dank.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Ninak Marie von dem Kronprinzen aus den Eredinbar weg.

„Hey, du solltest mich nicht jetzt retten“, beschwerte sich Marie, als sie außer Hörweite des attraktiven Mannes waren.

„Du kannst dich auch nicht entscheiden.“ Grummelnd begleitete Ninak sie zurück zu den anderen. „Da habt ihr sie. Seid ihr jetzt zufrieden?“

„Schätzchen, du hast noch gar nichts gegessen.“ Brunas Mutterinstinkte verschafften Marie eine kurze Auszeit. „Komm. Wir halten dir den Rücken frei. Iss erstmal was.“

Dankbar für die Pause nutzt Marie die Gelegenheit, um endlich einen Happen zu sich zu nehmen. Sie war kurz vorm Verhungern! Die Tafeln wurden beständig von dem Küchenpersonal aufgefüllt, damit die Gäste keinerlei Wünsche offen hatten. Stundelang hatte Marie in der Küche geholfen und akribisch die Vorratskammern nochmal um das doppelte aufstocken lassen. Sie kannte den Appetit von Durins Volk und war froh, dass Erebors Versorgung durch den florierenden Handel wieder als gesichert galt.

Gerade überschlug sie nochmal die Anzahl der Fässer in den naheliegenden Kammern und rätselte, ob die auch tatsächlich reichen würden, als Su auf jemanden aufmerksam machte.

„Kennt ihr die Frau da oben?“ Die Blicke der anderen wanderten hinauf zum zweiten Saaleingang und der kleinen Empore dort. „Sie steht schon eine Weile da, aber sie kam bisher nicht runter.“

„Nein, ich kenne sie nicht.“

„Ich auch nicht.“

„Vielleicht nur eine, die sich hereingeschlichen hat.“

„Was will die denn hier?“

„Sie ist doch nur neugierig.“

„Nein, nicht sie.“ Bereits in Verteidigungsstellung starrte Minar in eine ganz andere Richtung. Sofort folgten die Freundinnen ihrem abwertenden Blick und Marie fiel alles aus dem Gesicht.

In einem Traum aus Weiß und Gold schälte sich eine Frau aus den Gästen und kam direkt auf sie zu. „Euer Gnaden, Ihr seht bezaubernd aus!“

Ohne den Hauch einer Chance auf Gegenwehr bekam Marie ein Küsschen rechts und links. „Sladnik.“

„Der Abend ist einfach wunderbar“, schwärmte diese drauf los. „Die Dekoration ist hinreißend. Ich hab mir sagen lassen, dass ihr das wart. Ihr bringt wahrlich frischen Wind in dieses Haus.“

„Sladnik“, allmählich fand Marie ihre Sprache wieder, „welch eine Überraschung. Ich habe Euren Namen gar nicht auf der Gästeliste gesehen.“

Ihr Name hatte nie auf der Gästeliste gestanden. Diese Frau sollte nicht hier sein. Anscheinend war ihre Trauerzeit vorbei. Ihre Haare waren locker hochgesteckt und schimmerten im Licht der Kronleuchter wie Perlglanz. Um ihren Hals trug sie passend zum Kleid an einem großen Collier Goldmünzen zur Schau. War das dieselbe Frau, die in Schwarz gekleidet reumütig vor dem Königsthron trat und unter Tränen um Verzeihung gebeten hatte?

„Oh, ich kenne ein paar Damen noch von früher und wollte nicht unhöflich sein und nicht vorbeischauen. Ich musste einfach. Schaut! Man fängt an zu tanzen. Würde es Euch etwas ausmachen, wenn ich mir schnell einen Tanz mit Eurem Verlobten reserviere, bevor er von den vielen jungen Dingern belagert ist? Ich hoffe, wir können so unser Kriegsbeil begraben.“

Angesichts solcher Dreistigkeit fehlten Marie die Worte.

In diesem Moment kam Thorin in Sichtweite und Maries Herz geriet ins Stolpern. Denn als ihr Verlobter die Frauen sah, fiel sein Blick auf Sladnik und seine Augen brannten sich in ihre Erscheinung. Er starrte sie an, ohne etwas mehr von seiner Umgebung wahrzunehmen.

„Oh, da ist er ja“, hörte sie Sladnik flöhten, doch sie konnte nicht von ihrem Verlobten wegschauen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

„Hoppala!“ Ninak stürzte nach vorne und der Rotwein, der sich soeben noch in ihrem Kelch in ihrer Hand befand, klatschte Sladnik mitten auf die Brust. Das Kleid war augenblicklich von roten Schlieren durchnässt. Selbst ihr Gesicht hatte einiges abbekommen, sodass der rote Saft von ihrem Kinn tropfte.

„Dwalin!“ Dwalin, der hinter ihr stand, schaute sie nur verdattert an. „Oh, das tut mir ja so schrecklich leid! Mein Mann ist manchmal etwas stürmisch, wenn er zu viel getrunken hat. Ich hoffe, das geht wieder raus.“

„Du…“ Sladnik war kurz vor dem Explodieren. Mit geballten Fäusten starrte sie Ninak hasserfüllt an. Diese jedoch starrte genauso zurück, in ihren Augen ganz deutlich „Verzieh dich, Schlampe“ stehend. Sladnik versuchte ihre Würde nicht zu verlieren, doch scheiterte jämmerlich. Ihr blieb nichts anderes übrig als auf dem Absatz kehrt zu machen und davon zu rauschen.

„Ich konnte diese blöde Kuh noch nie leiden.“

Während die anderen in Gelächter ausbrachen und Ninak als Heldin des Abends feierten, konnte Marie ihre Augen nicht von ihrem Verlobten abwenden. Über die Jahre hatte sie die verschiedensten Verletzungen gesehen. Immerwährende Schmerzen lassen Menschen ganz still werden. Sie sind in sich gekehrt, ziehen sich zurück wie eine Schnecke in ihr schützendes Haus. Wollen unsichtbar werden. Ihre Stille war ein Indiz und wenn man sie lange genug beobachtete, konnten sie in einem unbeobachteten Moment den Schutz nicht mehr aufrecht halten, den sie so stur verteidigten. Egal, ob Mensch oder Zwerg.

Es war wie ein Hebel, der sich in ihrem Hinterkopf umlegte und der ihren Beinen den Befehl gab, loszulaufen. Seine Verletzungen, die er von dem Krieg davongetragen hatte, kamen ihr als erste in den Sinn und sie ging im Geiste die einzelnen Handgriffe durch, die sie bei einer Untersuchung machen würde. Thorin sah in ihre Richtung, ihre Blicke trafen sich. Sie entdeckte die Panik in seinen Augen und griff in ihr Kleid, um schneller zu laufen. Plötzlich war Bilbo an seiner Seite und verschaffte ihr die Möglichkeit, einmal durchzuatmen, und sich wieder zur Ruhe zu bewegen. Es waren nur wenige Meter, die sie voneinander trennten, doch die Gäste erschwerten ihr das Durchkommen. Mit knappen Entschuldigungen wimmelte Marie sie ab, die Gesichter dazu nahm sie gar nicht wahr. Sie konnte nur zu Bilbo schauen, sah wie er mit Thorin sprach und ihn dann zu den Türen begleitete. Fort von hier.

Ohne zu zögern, folgte Marie ihnen.

 

„Hier ist gut.“ Als Bilbo die Tür schloss, reichte der Lichtschein unter dem Türspalt gerade aus, dass man sich in der kleinen Kammer orientieren konnte. Thorin ließ sich auf einer der Kisten fallen, die man hier zusammen mit Fässern lagerte, und blieb schwer atmend sitzen. „Sag mir, was ich tun soll.“

Er hob die Hand. „Fünf Minuten. Gib mir…fünf Minuten.“

Während er die Augen schloss und sich auf seine Atmung konzentrierte, stemmte der Hobbit die Hände in die Seiten, marschierte drei Schritte nach rechts, drei Schritte nach links. „Wir müssen etwas tun“, brach es aus ihm heraus.

Thorin schnaufte. „Wunderbare Idee. Und was?“

„Ich weiß es doch auch nicht“, er raufte sich die braunen Locken, fuchtelte wild in der Luft herum. „Kannst du ihn denn nicht irgendwie…wegsperren?“ Anklagend zog Thorin eine Augenbraue hoch. „War nur ein Vorschlag.“

Thorin schätzte Bilbos Hilfeversuche sehr, doch er hatte gerade anderes zu tun, als auch noch seinen aufgewühlten Freund zu beruhigen. „Ich kriege das hin. Er ist… gerade ziemlich nah…und nicht sehr erfreut, so lange…ignoriert zu werden.“

Bilbo fuhr herum und zeigte wütend mit dem Finger auf ihn. „Er ist ein selbstverliebter, narzisstischer Wurm. Sag ihm das!“

„Brauch ich nicht. Er hat dich gehört.“

Bilbo kniff den Mund zusammen, knickte den Finger wieder ein und ballte die Hand zur Faust, als könnte er es noch ansatzweise rückgängig machen. Tapfer rückte er seine Weste zurecht. „Auch gut.“

„Er hat übrigens noch eine Rechnung mit dir offen.“

„Das habe ich befürchtet.“

Müde und ausgelaugt lehnte Thorin sich nach hinten, legte den Hinterkopf auf die Kisten und schloss die Augen. „Ich bestell schöne Grüße.“

Sein Galgenhumor und seine Sturheit in Kombination konnte Bilbo nicht länger hinnehmen. „Mir reicht´s. Ich hol Hilfe.“

„Nein!“

„Thorin, sei bitte einmal in deinem Leben vernünftig. Du kämpfst hier gerade gegen etwas, was du nicht alleine schaffst. Niemand schafft das.“ Kaum hatte ausgesprochen wurde die Tür aufgerissen.

„Na, endlich. Hier seid ihr.“ Marie rauschte in die kleine Kammer und war sofort an Thorins Seite. „Liebling, was ist mit dir?“ Neben ihm hockend fühlte sie mit der einen Hand seinen rasenden Puls, legte die andere an seine Stirn. Und alles, was Thorin konnte, war sie anzustarren.

Ein Tsunami aus Emotionen erfasste ihn. Ihre Anwesenheit machte alles nur noch schlimmer. Es war, als hielt er mit aller Kraft einen tollwütigen Hund an seiner Kette, der nach einem Kaninchen kurz vor seiner Schnauze schnappte. Nur viel, viel größer.

Ohne wissen, dass wenige Zentimeter vor ihr eine Bestie unter seiner Haut wütete, die ihren Tod will, kam Marie ihren Pflichten als Heilerin nach. „Du bist ganz heiß. Bilbo, hol bitte Wasser.“

„Kommst du alleine klar?“

Marie antwortete. Dabei hatte die Frage gar nicht ihr gegolten. „Ja. Am besten du holst mir Oin auch gleich hinzu.“

Bilbo zögerte, doch er hatte keine andere Wahl, wenn er Verstärkung holen wollte. Vielleicht würde das ein Stück helfen, Thorin aufzuzeigen, was für ein Drahtseilakt er hier bewältigen wollte. Er war wenige Meter gekommen, da griff Bilbo in seine Tasche hinein und zog den Ring heraus, den er Tag und Nacht bei sich trug. Wenn er es so schnell und so diskret wie möglich durch den Festsaal schaffen wollte, brauchte er mehr als flinke Füße.

„Dein Fuß oder deine Seite?“ Ihre Stimme erreichte sein Ohr, doch schaffte sie es kaum durch den Krieg in seinem Körper zu ihm durchzudringen. „Wo hast du Schmerzen? Thorin? Thorin, hörst du mir zu?“

Smaugs Hass für Marie war überwältigend. Wie schwarzes Pech rollte er durch seine Adern und vergiftete sein Herz.

„Das geht so nicht“, in ihrem Murmeln war ihre Frustration zu hören. „Du bleibst hier und bewegst dich nicht von der Stelle.“ Marie erhob sich und eilte zur… Das Licht erlosch, als die Tür vor ihrer Nase zugeschlagen wurde.

Sie fuhr herum und wurde augenblicklich gegen das Holz gedrückt. Beim Zusammenstoß ihrer Körper keuchte sie auf, starrte in das Gesicht über ihr. Silbern glühende Augen verschlangen sie beim lebendigen Leib. Langsam beugte Thorin sich zu ihr, roch an ihrem Hals. Schmiegte seine Wange an ihr. Tuk. Tuk. Tuk. Tuk. Ihre Halsschlagader. Pulsierendes Blut.

„Thorin…?“ Ein Grummeln trat aus seiner Kehle, tief aus seinem Körper kommend. Sie riss die Augen auf. Als seine Hand federleicht ihre Wange streifte, stellten sich all ihre Härchen auf. Kalt rieselte es über ihre Haut. War es vor Verlangen oder Furcht? Marie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Seine Lippen liebkosten ihre Haut, malten auf ihrem Hals Spuren aus Küssen. Das sanfte Streichen seines Bartes dazu war die reinste Folter. Ihre Hände, die zuvor in Abwehrhaltung gegen seine Brust gestemmt waren, griffen in sein Hemd und hielt sich daran fest, als ihre Knie weich wurden. Sie stöhnte leise, bog den Hals. Sein Körper strahlte eine unglaubliche Hitze aus. Er glaubte, zu verbrennen. Thorin suchte Schutz und Halt, schob seine Hand unter ihr Genick und griff in ihre Haare, während die andere ihren Körper so nah an den seinen drückte, wie es möglich war. „Rette mich…“ Marie presste den Mund auf seinen und schenkte ihm neues Leben. Stück für Stück rutschten ihre Finger tiefer und fanden endlich die Knopfleiste seiner Hose, unter der es schmerzhaft drückte. Thorin stöhnte vor Dankbarkeit laut auf. Er konnte es nicht länger hinauszögern. Er brauchte sie JETZT.

Der Krieger drängte sie von der Tür weg. Im Halbdunkeln tastete er hinter sich. „Komm.“ Marie gehorchte aufs Wort und ließ sich von ihm auf eines der Fässer heben. Er stellte sich zwischen ihre gespreizten Beine und mit vereinten Kräften rafften sie voller Ungeduld ihr Kleid. Bei der Masse an Stoff fluchte er, doch wurde Sekunden später mit feuchtem, willigem Fleisch belohnt. Ein Schrei kam über Maries Lippen, als er heftig in sie eindrang. Das Gefühl ließ sie schwindeln, doch ihre Beine, ihr Körper waren fest in seiner Gewalt. Schnell wich der Schmerz in Lust. Willenlos lag sie auf dem Holz und gab sich ihm blind vor Vertrauen und Ekstase hin. Ihre verzückten kleinen Schreie und ihr Stöhnen spornten Thorin an, weiterzumachen, und das Feuer zu ertragen, das ihre Körper in Brand gesetzt hatte.

 

„Hier. Sie sind hier drin.“ Bilbo fasste den Türgriff, drückte ihn runter und erlebte eine Überraschung. Sie bewegte sich kein Stück. Irritiert versuchte er es nochmal, doch auch bei diesem Versuch blieb die Tür zu. Mit großen Augen starrte er zu den anderen. „Der Riegel ist vorgelegt.“

Dwalin drängte sich durch die Gefährten. „Thorin?“ Er klopfte, hielt das Ohr ans Holz.

„Ist er mit ihr da allein drin?“, fragte Gloin vorwurfsvoll, als er ebenfalls vortrat, um zu lauschen.

Trotz seines Hörtrichters bekam Oin mal wieder nichts mit. „Was ist los? Was geht da vor sich?“ In diesem Moment hörten sie Marie hinter der verschlossenen Tür schreien.

„Er bringt sie um!“, Bofur drehte durch. „Tritt die Tür ein!“

Dwalin verlor keine Zeit mehr. Er rammte seinen Stiefel gegen das solide Holz, wieder und wieder. Es nützte nichts. Bofur war völlig fertig. „Beeil dich!“

„Was glaubst, du was ich hier mache?!“

„Ihr müsste es zusammen versuchen!“, rief Bilbo.

„Gut. Alle zusammen!“ Dwalin, Gloin, Bofur und Oin brachten sich in Position. „Auf drei. Eins. Zwei. Drei!“ Die Männer wurden zum Rammbock. Sie nahmen Anlauf, die ersten Zwei drehten die Schulter, die anderen gaben Schubkraft von hinten. Zur gleichen Zeit wurde die Tür von innen geöffnet. Die Männer fielen vorneüber ins Leere und landeten auf allen Vieren in der Kammer.

„Was ist passiert? Wo sind sie?“ Vergeblich suchte Bofur Orientierung mit seiner Mütze vor den Augen, grapschte und purzelte über den strampelnden Haufen.

Gloin nahm sie ihm aus dem Gesicht und haute sie ihm wieder auf die Rübe. „Falscher Alarm.“

Händchenhaltend standen Marie und Thorin vor dem Knäul aus Zwergen. „Habt ihr euch etwas getan?“, fragte Marie sofort.

Dwalin kam wieder auf die Füße und klopfte sich den Staub ab. „Nein“, gab er finster zurück.

„Warum macht ihr so einen Lärm vor der Tür?“

„WIR??“

Bilbo hielt ihn am Ärmel zurück. „Wir dachten, dir ist etwas passiert.“

„Wie ihr seht, geht es uns gut. Komm, Marie. Ich hab Hunger.“ Thorin zog sein rot anlaufendes Mädchen aus der Kammer. Im Vorbeigehen sah er Bilbo an und machte sich den Hosenstall zu. Die Vorstellung war beendet.

 

~

 

Dem Himmel sei Dank schien ihr Fernbleiben niemanden aufgefallen zu sein. Der Abend war bereits in vollem Gange. Sie schlängelten sich durch das ausgelassene Trinkgelage, ihre Hand in seiner erinnerte sie daran, dass sie noch einige Stunden zu bewältigen hatten. Auf direktem Wege führte Thorin sie zu einem der Feuer, schirmte sie dabei von den Gästen ab. Dankbar ließ sich Marie von ihm eskortieren. Sie brauchte erstmal einen Moment, um das Gedankenchaos zu ordnet und ihren berauschten Körper wieder unter Kontrolle zu bringen.

Die Hitze des Feuers lag fast unerträglich auf ihrer Haut, als er Fleisch vom Spieß für sie auf Teller häufte. Ein Küchenmädchen wurde heran gewunken und er nahm einen Humpen Bier und einen Weinkelch für sie vom Tablett. Er hielt ihr ihren Teller hin, während er das Bier in einem Zug austrank als ob er halb verdurstet wäre. Marie kostete vom Fleisch, ohne den Mann ihr gegenüber aus den Augen zu lassen, der ihr so schrecklich fremd geworden war. „Reden wir darüber oder schweigen wir es tot?“

Für einen Augenblick stellten seine Kiefer ihre Arbeit ein. Sein Blick huschte zu ihr und Marie sah in dem Grau seiner Augen keine Antwort.

„Asyl!“ Wie zwei Wirbelwinde rauschten Kili und Fili zwischen sie.

Jeder trat ein Schritt zurück, die Lücke nun zwischen ihnen groß und klaffend. Mit all ihrer Selbstbeherrschung musste Marie sich zusammenreißen, um den Sturm in ihrem Inneren standzuhalten, der ihr den Boden unter den Füßen wegzureißen drohte.

„Sind sie hinter uns?“ Abgehetzt, als wären Orks hinter ihnen her, schaute Fili zurück.

Verzweifelt versuchend, den Blickkontakt wieder herzustellen, schaute Thorin Marie an, doch diese hatte sich von ihm abgewandt. Alle Verbindungen gekappt. Er konnte nichts weiter tun, als sich seinen Neffen zuzuwenden. „Fili, Kili, was ist los?“

„Die Königinnen haben ihre Töchter und Enkelinnen dabei, das ist los!“ Wenn Kili ein kleiner Junge gewesen wäre, hätte er sich am liebsten hinter Maries Rock versteckt. „Wir werden schon den ganzen Abend belagert“, beschwerte er sich. „Sie kleben wie Kletten an uns.“ Anklagend zeigte er mit dem Finger auf seinen Onkel. „Das hast du eingefädelt, gib es zu!“

„Wundert euch das, dass die Mädchen eure Aufmerksamkeit wollen?“, entgegnete er. „Ihr seid zwei Prinzen im heiratsfähigem Alter. Ihr passt genau in das Beuteschema von jungen Prinzessinnen.“

Das trug nicht gerade zur Erheiterung bei. „Na schönen Dank auch.“

Inzwischen war der Rest der Gefährten zu der Familienversammlung dazugestoßen. Die Männer hatten dem Gespräch halb folgen können und versuchten nun, die Jungs mit gut gemeinten Sprüchen aufzumuntern. Sie würden sich bloß anstellen… Andere könnten von so einer Auswahl nur träumen... Das sollte den eingeschüchterten Jungs wohl mehr Mut verleihen.

„Die kratzen sich wegen uns bereits gegenseitig die Augen aus“, erzählte Fili. „Schaut doch nur, sie warten schon wie die Geier!“

Tatsächlich. Ein große Anzahl herausgeputzter Mädchen drängten sich wie eine Herde aufgeregt gackernder Hühner zusammen. Mit den Ellenbogen versuchte man, ganz vorne zu stehen, um von den Prinzen gesehen zu werden.

„Sucht euch einfach ein hübsches Mädchen aus und tanzt mit ihr“, konnte Marie ihnen nur mit auf dem Weg geben. „Ihr würdet ihnen eine große Freude bereiten.“

Kili verschränkte bockig die Arme. „Ich will mir aber kein Mädchen aussuchen.“

Sein Bruder kratzte sich den blonden Schopf. „Wie soll man sich da entscheiden?“ Erneut sah er zu den Prinzessinnen, die daraufhin ihm zuwinkten und sich von ihrer Schokoladenseite zeigten.

Ohne, dass man danach gefragt hat, wurden sofort persönliche Empfehlungen Kund getan.

„Nimm die Rothaarige mit dem blauen Kleid.“

„Die andere, mit der Stupsnase.“

„Nein, die daneben.“

Dwalin wölbte seine Handflächen vor seiner Brust. „Nimm die mit den großen…“ Ein Räuspern schnitt ihm das Wort ab. Er sah in das nicht gerade begeisterte Gesicht seiner plötzlich neben ihm stehenden Ehefrau und grinste zuckersüß.

Fili atmete tief aus. „Auf in die Schlacht.“ Er marschierte los und brachte damit die Mädchen in helle Aufregung.

„Sei nett zu ihnen, Kili“, redete Marie auf ihn ein. „Versuch es.“

„Ich guck einfach nicht hin“, entschied er und folgte seinem Bruder.

„Was macht er?“

„Ich glaube, er hat die Augen zu“, antwortete Dori genauso irritiert.

Während Fili zu einem Mädchen mit rotem Haar und blasser Haut ging, lief Kili blind auf die Gruppe zu, die sich schubste und drängte, um direkt vor seiner Nase zu stehen.

„Das gibt noch Tote, das sag ich euch.“ Nori konnte kaum hingucken.

Von etlichen Zaungästen wurde beobachtet, wie Kili mit zugekniffenen Augen die Reihe abging, schließlich stehen blieb und einfach die Hand ausstreckte. Auf dem Gesicht der hübschen Blondine, die vor ihm stand, breitete sich Unglaube und Glück aus. Gerade wollte sie nach seiner Hand greifen, da schob sich eine Matrone dazwischen, genauso groß wie breit und mit einem Unterbiss wie eine Bulldogge ausgestattet, und schnappte sich die Hand des Prinzen. Vom kräftigen Händedruck überrascht öffnete Kili die Augen. Beim Anblick seiner Auswahl riss er augenblicklich die Hand zurück. „Ohne mich!“ Er drehte sich um und ergriff die Flucht. Während das „zarte Mauerblümchen“ ihm nur hinterherschmachten konnte, heulte die Blondine los. Marie versuchte Kili aufzuhalten. „Tut mir leid. Ich kann das nicht.“ Mit knappen Worten stürmte er an ihr vorbei, doch Marie lief ihm nach. Auf dem Flur vor dem Festsaal holte sie ihn schließlich ein und hielt ihm am Ärmel fest.

„Kili, bitte bleib stehen.“ Nur widerwillig gehorchte er. „Ich weiß, wie du dich fühlst, Kili.“

„Das glaube ich kaum.“

„Wie meinst du, habe ich mich damals gefühlt, als ich mich in einen jungen Prinzen vom Volk der Zwerge verliebt habe? Glaub mir, ich habe mir dieselben Fragen gestellt, die auch du dir stellst. Aber dein Onkel und ich konnten es nicht verhindern, dass wir uns nicht liebten. Liebe orientiert sich nicht an Grenzen oder Verboten. Sie hat ihre eigenen Pläne und schlägt Richtungen ein, ohne dass wie eine Chance haben, sie davon abzubringen. Sie ist zu mächtig.“ Aufmunternd drückte sie seinen Arm und schenkte ihm ein Lächeln. „Ich weiß, die du dich fühlst. Wenn man sich in jemanden verliebt hat, der für einen verboten ist.“

Irritiert sah er sie an, überspielte sein schneller schlagendes Herz. „Was redest du da?“

„Du und Tauriel?“ Er schüttelte heftig den Kopf, Marie aber hatte das Spiel längst durchschaut. Schon beim ersten Kennenlernen hatte sie gemerkt, dass da mehr zwischen dem ungleichen Paar war. „Du kannst deinem Kopf widersprechen. Du kannst versuchen, dein Bauchgefühl zu ignorieren. Aber das Herz können wir nicht belügen.“ Seine Verteidigung fiel in sich zusammen. Mit einem Seufzer sah er zu Boden, wo der Scherbenhaufen seiner Lüge lag.

Marie hatte Mitleid mit ihm. „Du vermisst sie, hab ich Recht?“

„Sehr.“

„Weißt du, ob sie gut im Grünwald angekommen ist?“

„Sie hat noch keinen Brief geschrieben.“

„Das wird sie sicher nachholen“, versuchte sie ihn zu beruhigen. „Sie hat einige Sachen zu klären.“

„Hoffentlich.“

„Das wird schon. Du hast nichts zu befürchten. Ich bin die Letzte, die dich dafür verurteilen würde. Dein Geheimnis ist bei mir sicher.“

Er nickte, wirkte erleichtert aber gleichzeitig auch zutiefst traurig. „Danke.“

„Nichts zu danken. Und wenn du keine Lust auf quirlige Mädchen hast, wie wärs mit einem Tanz mit deiner alten Tante?“

Auf seinem Gesicht breitete sich ein Strahlen aus. Er trat zurück und verbeugte sich traditionell. „Es wäre mir eine Ehre.“ Sie wollten zurück zum Saal, da drehte sich Kili zu ihr und drückte sie. „Hab dich lieb, Tante Marie.“

„Oh, Kili.“ Sie nahm ihn fest in den Arm, strich über sein dunkles Haar. „Ich dich auch, mein Junge.“

 

Eingeharkt in seinen Arm kehrte Marie mit Kili in den Saal zurück. Auf direktem Wege gingen sie zur Tanzfläche, wo die schnelle und lebensfrohe Musik andere Pärchen dazu eingeladen hat, ausgelassene Kreise zu drehen. Marie musste die Schleppe ihres Kleid über ihren Arm legen, doch es hinderte sie nicht daran mit Kili zu tanzen. Es machte mit ihm unheimlich Spaß, es war befreiend. Sie lachten, alberten herum und genossen die Unbeschwertheit, nach der sich beide eine lange Zeit gesehnt hatten. Zwerge verstanden es, Feste zu feiern. Es war wild, es war ausgelassen und so langsam machte sich der viele Wein bemerkbar. Vom Drehen wurde ihr ganz schwindelig. Auf einmal rutschte ihre Hand aus Kilis und sie verlor den Halt. Als sie schon dachte, jede Sekunde mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufzuschlagen, wurde sie aufgefangen. Vor Schreck hielt sie sich an den starken Armen fest, blickte ihrem Retter ins Gesicht. Und spürte ihr Herz rasen.

„Ihr solltet vorsichtiger sein, Euer Hoheit.“

Thorins Stimme ließ etwas in ihren Lungen beben. Sie schluckte an ihrer trockenen Kehle. „Mylord.“

Er stellte sie wieder auf die Füße, dann verbeugte er sich, so ehrfürchtig als wäre sie eine Königin und er ein armer Mann. „Würdet Ihr mir diesen Tanz schenken?“ In diesem Moment begann das nächste Lied und ihr wurde bewusst, dass eine andere Antwort als „Ja“ hohe Wellen schlagen würde, beobachtet vom höchsten Kreise ihres Volkes. Sie musste seine Hand ergreifen. Es war die Hand ihres Verlobten und gleichzeitig die eines Fremden.

Thorin legte seine andere hinter ihren Rücken, um sie zu führen, drehte die Schulter und begann mit ihr zu schweben. Sie waren das schillernde Paar der Tanzfläche. Die Lichter des Saals verschmolzen um sie herum. Marie reiste in die Vergangenheit. Sie kehrte Heim und erlebte das Sommerfest und den ersten Tanz mit ihm ein zweites Mal. Bunte Lampen warfen Lichtflecken auf ihr weißes Kleid, sie roch den Duft des Sommers. Grillen zirpten. Es war ungewöhnlich warm und sie sah den jungen Prinzen aus Erebor lächeln, der sich wieder einmal heimlich nach Dale geschlichen hatte. Viele Jahren sind seitdem vergangen. Was hatte das Schicksal sich dabei gedacht, ihre Wege zu trennen, nur um Jahre später ihn aus der Dunkelheit des Waldes heraustreten zu lassen und ihre neu aufgebaute Welt für immer zu verändern?

Ein Wimpernschlag und die Bilder aus ihrem vorherigen Leben waren fort. Sie blickte dem König Erebors in die Augen. Marie war gefesselt von seinem Anblick, sie konnte nicht aufhören, ihn anzusehen. Der Saal drehte sich um sie herum, Gelächter, Trinklieder und Gespräche verstummten. Zwischen ihnen wurde es ganz still.

„Vertrau mir“, flüsterte Thorin.

Marie legte den Kopf in seine Halskuhle, atmete seinen herben Duft, während die Welt sich weiterdrehte. Vertrauen… Wieso fiel es ihr so schwer?


22

 

 

Es war mitten in der Nacht, als sie wach wurde. Zunächst wusste sie nicht, was sie geweckt hatte, bis sie jemanden im Wohnraum lärmen hörte. Beim Gedanken an den Verursacher konnte sie nur mit den Augen rollen. Kurz darauf wurde die Schlafzimmertür geöffnet und ein betrunkener Zwerg stolperte herein. Anscheinend wollte er extra leise sein, in seinem Zustand aber erreichte er genau das Gegenteil. In gebückter Haltung kam er ins Zimmer geschlichen, tastete sich bis zum Bett vor und haute volle Kanne mit dem Stiefel gegen den Pfosten. „Autsch!“ Er kippte zu Boden und krabbelte weiter, bis er über die Bettkante guckte. „Marie?“, wisperte Thorin. „Bist du wach?“

„Jetzt ja.“

„Das ist gut.“ Vergnügt glucksend zog er sich hoch, versuchte, seine Stiefel auszuziehen, verlor das Gleichgewicht und stürzte rücklings aufs Bett. Marie ächzte unter der Wucht. „Es hat sich ausgezahlt für uns, Weib!“, rief er und schlug ihr aufs Hinterteil. Grimmig raffte Marie die Decke enger um sich. „Ich hatte sie an den Eiern! Ha!“

„Thorin, du bist betrunken.“

„Harte Verhandlungsgegner die Kerle, ja. Meine Strategie war unschlagbar. Abstriche waren dabei, aber meine Pläne sind aufgegangen. Soll ich dir sagen, warum?“ Marie wartete, bis er die Antwort selbst lieferte. „Weil sie die Ware haben und ich das Gold. Ha! Ab sofort, kannst du mich den Verhandlungskönig nennen.“

„Schön, dass du deine Ziele erreicht hast, oh großer Verhandlungskönig. Und jetzt leg dich hin und schlaf. Ich bin hundemüde.“

Er rollte sich zu ihr herum, halb nun auf ihr liegend. „Och, was bist du denn jetzt so?“

Bei seinem Atem verzog sie angeekelt das Gesicht. „Du riechst wie ein ganzes Wirtshaus. Was habt ihr getrunken?“

„Bier. Gaaaanz viel Bier.“

Marie traute ihren Augen kaum. „Habt ihr euch etwa geprügelt?“ Im schwachen Schein des noch glimmenden Ofens konnte sie tatsächlich ein blaues Auge bei ihm sehen.

Doch Thorin schien das nicht zu stören. Er grinste. „Du solltest dir Ubba mal ansehen. Der hat meine Rechte geküsst.“

Marie verdrehte erneut die Augen und legte sich wieder hin. „Wieso müssen Zwerge sich immer prügeln?“

„Wenn die Verhandlungen festgefahren sind, ist das das beste Mittel, Unstimmigkeiten aus dem Weg zu räumen.“

„Das ist barbarisch.“

„Nein, Politik.“

„Während du trinken und dich mit deinen Freunden prügeln konntest, musste ich wieder den ganzen Tag die verehrten Damen bei Laune halten.“

„Was ist denn gegen Kuchen essen und Klatsch und Tratsch verbreiten einzuwenden?“

„Sie sind anstrengend! Und nervig! Ich weiß nicht mehr, was ich noch alles mit ihnen unternehmen soll. Diese drei Tage haben voll und ganz ausgereicht. Ich kann es kaum erwarten, wenn sie morgen abreisen. Ich trage ihnen persönlich die Koffer raus.“

„Weißt du was?“

„Was?“

„Lass uns morgen ausreiten. Nur du und ich. Hmm?“

Marie zögerte. Dennoch stimmte sie zu, denn die Vorstellung endlich mal wieder Zeit mit ihm allein und unbeobachtete von anderen zu verbringen, war zu verlockend. „Na schön, aber nur, wenn du jetzt schläfst.“

Thorin murmelte irgendetwas, das so ähnlich klang wie „Gute Nacht“.

Über seine Betrunkenheit schmunzelnd kuschelte Marie sich in die Decken… bis das Schnarchen neben ihr begann. Mit einem Tritt in seinem Allerwertesten schaffte sie es, dass er sich rumdrehte und wurde schließlich mit Ruhe belohnt. Sie legte sich wieder hin, den nächsten Tag herbeisehnend.

 

~

 

„Schätzchen, es war ganz wunderbar bei Euch! Lasst uns sofort wissen, wann die Hochzeit ist.“ Während die Gemahlin von Ubba Maries Hände fast zerquetschte, hatte diese ein strahlendes Lächeln auf den Lippen. Nicht weil ihr die selbstgefällige Frau so sympathisch war, sondern weil ihr Tross der letzte war, der Erebor verließ. Mit Sack und Pack warteten die Wagenführer und Fußsoldaten auf der Brücke auf die Beendigung des Geplänkels.

Neben den Frauen standen sich die Fürsten mit versteinerten Mienen gegenüber. Thorins Auge war nur ein bisschen blau, dafür sah Ubbas Nase übel aus. Sein linkes Auge war durch die Schwellung nur halb zu öffnen. Er sah aus, wie eine alte, zerrupfte Eule mit Klappauge.

„Eine Salbe zur Linderung. Ich habe sie persönlich gemacht.“ Marie überreichte dem König eine kleine Schachtel, in der sie die Tiegeldose verpackt hatte.

„Mit den besten Grüßen aus Erebor!“, konnte sich Thorin nicht nehmen hinzuzufügen.

Ubba nahm die kleine Schachtel grimmig entgegen. Damit war für ihn die Verabschiedung vorbei. Die hohen Herrschaften bestiegen ihre Kutsche. Peitschen knallten, dann setzten sich die Zugtiere in Bewegung. Ihre Gastgeber blieben noch am Tor stehen, bis die Wagen im Tal waren. Die Distanz reichte Marie aus. Sie war die Erste, die sich umdrehte. Thorin folgte ihr auf dem Fuße. „Schließt das Tor!“, rief er und sogleich schoben sich die Torhälften hinter ihm zusammen. Erebor gehörte wieder ihnen.

 

~

 

Goldi schaute schon mit gespitzten Ohren über ihre Boxentür, als Marie den Stalltrakt betrat. „Da ist ja mein Mädchen!“ Sie herzte und küsste ihre Stute. Schon den ganzen Vormittag hatte sie sich auf den Ausritt gefreut. Die Natur und der Atemhauch des Berges waren genau das Richtige nach diesen drei nervenaufreibenden Tagen. „Schau mal, was ich dir mitgebracht habe.“ Aus ihrer Tasche zauberte sie einen Apfel, den sich Goldi genüsslich schmecken ließ.

„Mylady.“

„Guten Tag, Vundur.“ Marie machte für den jungen Stallmeister Platz, der Goldi das Halfter überzog und sie aus der Box führte. „Kann ich behilflich sein?“

Ihr Angebot brachte ihn zum Lachen. „Wenn Ihr Euch auch nur halb so geschickt anstellt, wie ich glaube, dass Ihr Euch anstellt, dann sind wir im Handumdrehen fertig.“

Es war eine willkommene Abwechslung in die Arbeit mit den Pferden eingeweiht zu werden. Marie bekam gezeigt, wie sie das dichte Fell dieser robusten Rasse putzte, Strohhalme aus Schweif und Mähne bekam und wie die Hufe auszukratzen waren. Vundur beantwortete all ihre Fragen mit Freude. Gerade legte er den Sattel auf Goldis Rücken, als jemand dazukam.

Marie drehte sich um und konnte über den schwarzen Hengst nur staunen, den Thorin aus einem anderen Stallabteil hereinführte.

Als Thorin seine Verlobte auf sich zukommen sah, kehrte sein Lächeln zurück. In Hemd und Hose und mit geflochtenem Haar gefiel sie ihm genauso gut wie in teure Kleider gehüllt. Er beobachtete, wie sie fasziniert zu seinem Pony trat und es streichelte.

„Er ist wunderschön.“ Der rabenschwarze Hengst besaß eine üppige Mähne und mit dem schwarzen Zaumzeug und Brustblatt und den goldenen Schnallen war er zusammen mit seinem Reiter eine eindrucksvolle Erscheinung.

„Sein Name ist Nachtschatten.“ Marie schaute an der Pferdenase vorbei seinen Besitzer an. Ihre smaragdgrünen Augen leuchteten und Thorin spürte sein Herz klopfen. Sie lächelten einander für einen stillen Moment an. Der Hengst musste wissen, dass es gleich rausging, denn er scharrte schon ungeduldig mit dem Huf und schlug mit dem Kopf. „Vorsicht, er hat Temperament.“

Sie trat zurück. „Er ist schön, aber ich glaube nicht, dass er auch so schnell ist wie meine Goldi.“

Thorin erwiderte ihr freches Schmunzeln. „Herausforderung angenommen.“

Marie kehrte zu ihrem Pony zurück und löste Vundur ab. „Mylord.“ Der Stallmeister hielt am anderen Steigbügel gegen, damit Thorin schonend für den Pferderücken aufsteigend konnte. Als er oben war, saß auch Marie bereits. Ein weiterer Stallknecht entfernte sich gerade von ihr. Mit einem Nicken gab Marie zu verstehen, dass es losgehen konnte. Das Tor wurde geöffnet und sie ritten gemeinsam auf die Hochebene hinaus.

Der Wind ließ die feuchten Nebelschwaden, die seit dem Morgen zwischen den Bergkuppen und Hängen feststeckten, schnell ziehen. Beide hatten sich dementsprechend angezogen. Maries grüner Wollmantel schützte gegen den Wind und der klammen Nässe. Sie sog die frische Luft in ihre Lungen und hörte der Stille und dem rhythmischen Knirschen des Leders und der Pferdehufe zu. Moos und flache Gräser wechselten sich mit vereinzelnd verstreuten Wildblumen ab, die in der kargen Erde zwischen Felsen und Geröll ein Plätzchen gefunden hatten. Die trittsicheren Ponys kamen auch mit dem steinigen Terrain gut zurecht. Nachtschatten schritt mit gebeugtem Hals und geblähten Nüstern neben Goldi her. Anscheinend wollte er ihr imponieren, doch Goldi zeigte sich desinteressiert und legte sogar die Ohren an, sobald er ihr zu nahe kam.

„Gib´s auf, Großer. Wenn sie nicht wollen, wollen sie nicht.“ Kameradschaftlich klopfte Thorin ihm den Hals.

„Andere Paare würden jetzt wahrscheinlich über das Wetter reden.“

„Wahrscheinlich.“

„Aber wir sind nicht wie andere Paare, hab ich recht?“ Ihr Unterton war deutlich herauszuhören.

„Nein“, antwortete er, seine Miene wurde zu Stein, „das sind wir nicht.“ Die Stimmung kippte.

„Wann haben wir aufgehört, ehrlich zueinander zu sein, Thorin?“

Wie überaus mutig von ihr…

Beim Klang der fremden Stimme schnellte sein Puls sofort in die Höhe. Jedes Mal so nah, dass er sich einbilden könnte, er stünde direkt hinter ihm.

Alleine mit dir hier draußen… Meilenweit ohne jegliche Hilfe…

Nachtschatten fiel zurück und er bemerkte, dass seine Hände die Zügel zu straff hielten. Thorin konzentrierte sich auf das Reiten, blickte nach vorn zu Marie und antwortete Smaug. Du hast ja gar keine Ahnung, wie mutig sie ist.

Smaug konnte darüber nur lachen. Sie hat das Monster in dir gesehen. Glaubst du, sie will dich immer noch an ihrer Seite haben, sobald sie erfahrt, dass ihr geliebter Krieger gar kein Held ist? Lass es wie ein Unfall aussehen. Niemand wird merken, ob ein Sturz ihr das Genick gebrochen hat oder du…

„Du musst mir vertrauen, Marie!“

Marie blickte zurück, Wut und Unverständnis in den Augen. „Das kann ich nicht. Nicht mehr.“ Sie schnalzte, woraufhin Goldi lostrabte.

„Jetzt warte doch mal.“ Thorin schloss zu ihr auf. „Glaubst du, mir macht das Spaß? Ich versuche doch nur, dich zu schützen! Begreif das doch endlich!“

„Ich brauche keinen Schutz“, schoss sie heftig zurück. „Ich brauche dich. Ohne Lügen. Ohne Geheimnisse“, rief sie und galoppierte los, direkt in eine dicke Nebelwand hinein. Die feinen Wolken rauschten an ihr vorbei. Sie schaute über die Schulter und ein schwarzer Blitz schoss heran. Wie ein junger Gott jagte Thorin tief über den Pferdehals gebeugt ihr hinterher. Marie trieb ihre Stute an, ritt enge Wendungen, um ihn zu entkommen. Goldis Fell wurde von der weißen Masse verschluckt. Sie schaffte es, mehr Abstand zwischen sich zu bringen, ritt, um ihn zu verwirren, mehrere großen Kreise und hörte daraufhin, wie Thorin irgendwo rechts von ihr vorbei preschte. Plötzlich riss etwas. Sie rutschte, versuchte instinktiv sich am Sattel festzuhalten, doch das nützte nichts. Sie konnte nur noch die Hände dem heranrasenden Erdboden entgegenstrecken.

 

Thorin war als Erster auf der anderen Seite der Nebelwand angekommen. „Hooo“, er brachte seinen Rappen zum Stehen und drehte ihn herum. Jeden Moment rechnete er damit, dass Marie hinter ihm erschien. Viele Sekunden verstrichen. Der Nebel zog weiter, ohne eine Reiterin auszuspucken.

Nervös drehte Nachtschatten sich um die eigene Achse und Smaugs Lachen hallte grausam in seinem Schädel. Blanke Angst kroch ihm das Rückgrat hinauf. Thorin drückte dem Hengst die Stiefel in den Bauch und galoppierte zurück. Auf einem Hügel angekommen sah er zuerst Goldi, die auf der Ebene ohne Sattel stand und an einer Stelle scharrte. Dort vor ihr entdeckte er ihren grünen Mantel.

Noch im Galopp sprang er vom Pferd. „Marie!“ Reglos lag sie zwischen Heidekraut. So vorsichtig wie möglich drehte er sie auf den Rücken. Sie war blass und hatte die Augen geschlossen. Er fasste ihr an den Hals und schnappte erleichtert nach Luft, als er einen kräftigen Puls spürte. „Was ist passiert?“ Thorin blickte zu Goldi, die ihrer Herrin nicht von der Seite gewichen war. Sie trug keinen Sattel mehr. Dieser lag wenige Meter abseits. Ein leises Stimmchen erklang. „Thorin?“

„Ich bin hier.“ Er unterdrückte den Drang, sie in seine Arme zu ziehen. Er wusste nicht, ob sie sich etwas gebrochen hatte. Kraftlos war ihr Blick, als sie zu ihm aufblickte. Sie wirkte schläfrig, war aber bei Bewusstsein. „Alles wird gut“, er strich ihr etwas Dreck von der Wange. „Ich bring dich nach Hause.“

Marie nickte bloß und fasste sich an die Stirn. „Mein Kopf…“ Er brauchte ihr nicht zu sagen, dass sie ruhig liegen bleiben musste. Sie schloss die Augen und versuchte sich nicht zu rühren.

„Ich bin gleich zurück“, sagte Thorin und sammelte den Sattel ein. Sofort fiel ihm der durchgerissene Gurt auf. Er nahm ein Ende davon in die Hand und befühlte die ungewöhnlich aussehende Bruchstelle. Das kann nicht sein… Die Erkenntnis schlug ein wie ein Blitz. Er krallte die Hände in den Gurt, erwürgte den Zorn, der sein Herz erfasste und es lähmte.

Das Wichtigste war jetzt, Marie heil nach Hause zu bekommen. Danach würde er sich jemanden vorknöpfen.

 

~

 

„Mylord, Ihr seid schon zurück?“ Vundur kam ihnen auf der Stallgasse entgegen. „Hat das Wetter umgeschlagen?“

Thorin war gerade vom Pferd gestiegen, da packte er ihn am Kragen. Es donnerte laut, als er ihn an die nächstgelegene Boxentür drückte. „Siehst du das?!“ Er hielt ihm den kaputten Gurt vor die Nase. „Er wurde angeschnitten! Meine Verlobte hätte tot sein können!“

Die Augen vor Schreck weit aufgerissen starrte Vundur zwischen seinem König und dem Sattelgurt hin und her.

„Thorin, hör auf!“ Marie hielt sich auf Nachschattens Rücken kaum gerade, dennoch versuchte sie ihn irgendwie aufzuhalten.

„Mylord, b-bitte habt Erbarmen! Beim Satteln war alles in Ordnung gewesen, ich schwöre es! Ich würde Mylady nie etwas antun wollen!“

Thorin war kein Stück überzeugt. „Wer soll es sonst gewesen sein?“

„Wo ist die Frau?“, hörte er Marie einwerfen. „Mir hat eine Frau aufs Pony geholfen. Sie hat den Gurt nochmal angezogen.“

„Hier arbeitet keine Frau, Mylady.“

Thorin verstärkte seinen Griff. „Nennst du meine Verlobte eine Lügnerin?“

„N-N-Nein, Mylord!“

„Sie hatte schwarze Haare und trug dreckige Arbeitsklamotten. Sie muss hier arbeiten.“

„Mylady, ich kenne meine Leute. Hier arbeitet keine Frau.“

Mit glühendem Blick musterte er den Stallmeister. Mehr war in diesem Moment nicht aus ihm rauszubekommen. „Du kannst froh sein, dass ihr nichts weiter passiert ist.“ Thorin ließ ihn los.

Vundur rutschte zu Boden und hielt sich den Hals. „Kann ich irgendetwas tun?“

Thorin kehrte zu Marie zurück und half ihr aus dem Sattel. Als sie stand, knickten ihr die Beine ein. Ohne Umschweife hob er sie auf seine Arme. „Schickt mir einen Heiler aufs Zimmer. Und zwar sofort.“

 

„Das Handgelenk ist nur verstaucht. Der Rest sind blaue Flecken und Kopfweh. In ein paar Tagen ist alles wieder gut.“

„Danke, Oin.“

Der grauhaarige Mediziner nickte, stand auf und ließ die Anwesenden allein. An seiner Stelle setzte sich Kilis aufs Bett und griff nach Maries nicht bandagierter Hand.

„Keine Sorge“, flüsterte diese und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. „Halb so schlimm.“

„Überall waren Steine. Du hättest dir den Kopf aufschlagen oder dir den Hals brechen können.“

„Onkel, bitte.“ Fili versuchte, dessen Gemüt im Zaum zu halten. „Es werden gerade Zeugen gesucht, die etwas beobachtet haben. Man versucht bereits alles Mögliche, um etwas über diese Frau herauszufinden. Wir dürfen den Kopf nicht verlieren. Besonders du nicht.“

Der Angesprochene atmetet durch und fuhr sich durch die Haare. Ein stummes Eingeständnis, sich zu bemühen.

„Bist du dir sicher, dass es nicht doch ein Unglück war?“, sprach Marie und blickte ihn fragend an.

Mit einem Seufzen ließ er sich ebenfalls zu ihr nieder, den Sattelgurt als Beweisstück hatte er immer noch dabei. „Siehst du das?“ Er berührte die ausgefranste Stelle, wo der dicke, steife Stoff in lange Fäden zerrissen war. „Auf dieser Hälfte ist der Gurt gerissen, aber Sattelgurte reißen nicht einfach so. Der saubere Schnitt hier ist die Ursache. Jemand hatte den Gurt angeschnitten. Du solltest vom Pferd stürzen. Das war ein Anschlag.“

„Wer könnte dahinterstecken?“, fragte Kili. Die Tatsache, dass jemand ihr ernsthaft Schaden wollte, hatte nicht nur ihn sichtlich aufgewühlt.

„Vundur auf keinen Fall“, warf Marie sofort dazwischen. „Es muss diese Frau gewesen sein.“

„Kannst du dich an noch etwas anderes erinnern?“, fragte Thorin. „Denk nochmal nach. Jeder noch so kleine Hinweis ist wichtig.“

Ihre Stirn legte sich in Falten, als sie in ihrem Gedächtnis nach etwas Brauchbarem forschte. „Sie hatte die Kappe tief ins Gesicht gezogen. Schwarze Haare schauten hervor. Erst dachte ich, es war ein Mann, aufgrund der Kleidung. Sie stand schon bei Goldi, als ich dazukam. Sie sprach kein Wort, half mir auf und überprüfte noch einmal den Gurt. Ich hab nicht hingesehen.“ Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich hatte ihr vertraut.“

„Ich hab sie auch nur aus dem Augenwinkel gesehen“, gestand Thorin zähneknirschend.

„Wir haben es also mit einer schwarzhaarigen Frau zu tun“, fasste Fili die Fakten für alle zusammen. „Das macht es nicht unbedingt leichter. Aber sie hat nicht gesprochen und auch versucht, ihr Gesicht zu verbergen. Also müsst ihr euch schon mal begegnet sein. Fällt dir da jemand ein?“

„Wer würde dir schaden wollen, Tante?“, fragte Kili. „Jemand muss dich ganz schön hassen, um so eine Tat umzusetzen.“

„Ehrlich gesagt fällt mir da nur eine Person ein: Mistress Favli.“

„Diese Hebamme?“

„Sie war nicht gerade begeistert, als ich sie öffentlich vorführte und ihr ihre Zulassung abgenommen habe. Auf sie würde die Beschreibung jedenfalls passen.“

„Aber würde sie denn wirklich so weit gehen, nur weil ihr Stolz angegriffen ist?“

„Das werden wir herausfinden.“ Thorin hielt das Rumsitzen nicht mehr aus. „Ich werde die Soldaten auf sie ansetzen. Ich will alles über sie wissen. Ob sie tatsächlich zurück in die Eisenberge gegangen ist oder sich immer noch in Erebor aufhält. Was sie macht, wo sie wohnt, wann sie schläft und was sie isst. Wir krempeln ihr Leben um.“

„Thorin.“ Schon auf dem halben Weg nach draußen hielt Marie ihn nochmal auf. Er blieb stehen und warf einen Blick zurück. „Versuch bitte niemanden voreilig umzubringen.“


23

 

 

Meine liebste Anna,

die Tage vergehen so schnell, ich komme nicht hinterher, euch von ihnen zu berichten. Drei Monate ist es nun schon her, seit Thorin zurückgekehrt ist und Erebor zu meinem neuen Zuhause gemacht hat. Der anbrechende Sommer im Hochtal ist genauso schön, wie ich ihn in Erinnerung hatte. In Erebor bekomme ich jedoch nicht so viel davon mit. Ich bin nun mal nicht wie eine richtige Zwergin und kann tagelang unter der Erde leben. Wenn ich die Sonne zu lange nicht sehe, bekomme ich schlechte Laune. Ich gehe unheimlich gerne auf den Berghängen und den Ebenen Kräuter und Blumen sammeln – ganz so wie zu meinen Kindertagen. Nie hätte ich gedacht, einmal an diesen Ort zurückzukehren. Ich verbringe viel Zeit in dem Kräuterladen bei Meister Jora. Das Buch meiner Eltern habe ich dem Haus der Heiler zur Verfügung gestellt und bin sehr glücklich damit. Genau das ist es, was ich wollte, Anna. Mein Wissen und das Wissen meiner Eltern hilft den Bewohnern des Erebors und wird auch für künftige Generationen zur Verfügung stehen. Stell dir vor, ich gebe ab und an sogar Unterricht für Meister Joras Schüler! Ist das nicht unglaublich? Thorin hat es mittlerweile aufgegeben, mich davon abzuhalten. Er hat wohl endlich eingesehen, dass die Heilkunst zu mir gehört. Ihm zuliebe halte ich mich aber davon fern, in den Heilstuben selber Kranke und Verletzte zu versorgen. Das überlasse ich lieber unseren Heilern und Hebammen. Sie machen ganz fantastische Arbeit.

Manchmal holen ich und Ninak unsere Ponys, wenn sie fertig mit der Arbeit ist, und reiten aus. Keine Sorge, die gute Nachricht zuerst: mir geht es inzwischen wieder gut. Die Person, die wir in Verdacht hatten, konnte es nicht gewesen sein. Sie war zu dem Zeitpunkt tatsächlich in den Eisenbergen. Leider konnte bis jetzt niemand anderes gefunden werden, der für den Anschlag in Frage kommt, aber zum Glück gab es keine Vorkommnisse mehr dieser Art. Seitdem sind einige Tage ins Land gezogen und alles erscheint nur noch wie ein schlechter Streich. Ich kann es kaum erwarten, Mel Goldi und die anderen Ponys zu zeigen. Sie würde sich in meinen Liebling auf den ersten Blick verlieben. Küss sie für mich! Ich vermisse meine Kleine.

Auf unserem Balkon habe ich große gläserne Glocken stehen unter denen Pflanzen in der Sonne wachsen – ein Geschenk von Thorin. Er überhäuft mich regelrecht mit Geschenken.

Letztens war es eine komplett neue Ausrüstung für mein Pony, dann mal wieder Kleider, Bücher über Kräuterkunde, Schmuck oder Edelsteine… Nebenbei bemerkt, ich hab dir wieder etwas zukommen lassen. Ich hoffe, dir gefällt es.

Jeden Tag lerne ich etwas dazu und bekomme regelmäßig Geschichts- und Politikunterricht von Balin. Inzwischen kann ich mich in Khuzdul gut verständigen - Fili und Kili, Thorins Neffen, sind gute Lehrer. Wir quatschen jede freie Minute in Khuzdul, um mich zu verbessern. Doch die beiden machen sich auch des Öfteren ein Spaß daraus, mir Unsinn beizubringen. Es gibt über 40 Wörter für Steine! Könnt ihr euch das vorstellen? Die Unterschiede habe ich immer noch nicht so ganz verstanden… Zwerge haben zu Steinen und Metall eine unsterbliche Liebe, wie ich festgestellt habe.

Ninak ist eine meiner besten Freundinnen geworden. Auch Tara, eines der Zimmermädchen, hat immer ein offenes Ohr für mich und berät mich mit Freude bei meiner Garderobe. Du bleibst natürlich meine beste Freundin, Anna! Ich habe den anderen schon so oft von dir und Mel und Greg erzählt.

Es gibt Tage, da habe ich vergessen, dass ich als Mensch geboren wurde. Die Kultur von Durins Volk erscheint für Fremde ruppig, laut und ungehobelt. Ich habe sie fest ins Herz geschlossen. Ein anderes Leben kann ich mir nicht mehr vorstellen.

Doch es gibt auch Tage, da wünschte ich, Thorin wäre nicht König dieses Landes, und stelle mir das Leben, das wir führen würden vor, wenn er ein ganz normaler Mann mit einem einfachem Beruf wäre. Die Würde, die er mit dieser Krone trägt, ist groß und lässt ihren Schatten auf mich fallen. Es ist momentan sehr schwer zwischen uns, Anna. Manchmal fühle ich mich einsam, obwohl er neben mir steht oder mit mir an einem Tisch sitzt. Ich bin bis jetzt nicht hinter das Geheimnis gekommen, dass er mit sich herumträgt, und das nagt an mir…

 

Du schickst mir Goldschmuck??? MARIE! Du kannst doch nicht schon wieder etwas schicken!

Mir egal, dass du jedes Mal schreibst, du könntest - ich glaube dir nicht!

Ich wusste gleich, dass du wieder etwas in das Päckchen getan hast. Der Rabe flog so komisch. Ich dachte schon, er hätte Speck angesetzt und fliegt deshalb so schwerfällig. Mel füttert die Raben jedes Mal mit so viel Hundefutter, dass ich fürchte, sie würden gar nicht mehr von unserem Fensterbrett abheben. Sie wartet schon immer auf die Vögel und nimmt sie als Erste in Empfang. Greg muss ihr dann sofort deine Briefe vorlesen, sie kann es immer kaum erwarten, Neuigkeiten aus Erebor zu erfahren.

Du würdest dein Haus fast nicht wiedererkennen. Es gibt jetzt auch einen Gemüse- und Blumengarten und in der Scheune wohnen neben deinen Ziegen auch wieder zwei Kühe. Greg hat sogar ein Pferd gekauft, damit der Weg zur Schneiderei kürzer ist. Frische Eier haben wir auch jeden Tag. Ich konnte nicht verhindern, dass Mel allen Tieren Namen gibt.

Wie du siehst, habe ich an meiner Schrift gearbeitet. Greg muss mir aber immer noch manche Sachen

vorschreiben, damit ich die richtigen Buchstaben benutze. Das Lesen klappt schon besser. Ich übe weiter, versprochen.

Die Schwangerschaft setzt mir ganz schön zu. Ich hoffe, dass meine Übelkeit bald nachlässt. Ich kann kaum Essen riechen, dann wird mir schon schlecht. Inzwischen kann ich meinen Bauch nicht mehr verstecken. Ich muss doch schon weiter sein als angenommen…

Unsere Hochzeit war traumhaft schön! Ich wünschte so sehr, du wärst dabei gewesen! Wir haben uns das Eheversprechen unter der großen Linde gegeben, du weißt schon, ein Stück Flussaufwärts. Halb Kerrt hatte Gregs Vater eingeladen, er war sehr großzügig und ich glaube, dass er sehr stolz auf seinen Sohn ist. Ich verstehe mich mittlerweile mit meinen Schwiegereltern erstaunlich gut. Sie haben ihre rauen Schalen abgeworfen und freuen sich auf ihr erstes Enkelkind.

Das Neuste weißt du ja noch gar nicht! Donja hat ebenfalls geheiratet: einen edlen Kaufmann.

Sie hat dann wohl doch eine Partie nach ihrem Geschmack gemacht. Das Beste ist, dass sie nicht mehr in Kerrt wohnt, sie ist in sein Haus gezogen, irgendwo in einer großen Stadt. Weit weg von mir…

Sie war auch nicht zu unserer Hochzeit eingeladen, diese dumme Kuh! Zum Glück, sie hätte nur den Tag ruiniert. Ich trug ein weißes Kleid und einen Blütenkranz. Wir haben bis spät in die Nacht hinein getanzt. Tagsüber hatten wir strahlenden Sonnenschein und bestes Wetter. Mel und andere Kinder haben Blumen gestreut. Sie hat es sogar geschafft, Strolch zu trainieren, dass er uns die Ringe bringt. Ach, Marie… Ich kann stundenlang darüber schreiben.

Aber dein letzter Brief hat mich beunruhigt. Was hat Thorin für ein Geheimnis? Was ist da los zischen euch?

 

Wehe, du schickst mir die Sachen wieder zurück! Ich habe so viele Kleider im Schrank, dass ich wochenlang immer ein anderes anziehen könnte und so viel Schmuck, wie ich nie tragen könnte. Bitte, nimm meine Geschenke an. Ich weiß doch, dass ihr euch darüber freut. Und wenn sie dir nicht gefallen sollten, verkauf sie und leg das Geld für das Baby zurück.

 

Ich glaube, es wird ein Junge! Hilda sagt, dass man das nicht sagen kann, aber ich habe da so ein Gefühl... Der alte Danner würde sich am meisten über einen Enkel freuen, der einmal die Schneiderei übernimmt. Greg sagt, ihm sei es egal. Wenn es nach ihm ginge, würde er am liebsten gleich das nächste machen. Männer…

Wann ist denn eure Hochzeit? Seid ihr schon in der Planung? Du hast in letzter Zeit gar nichts mehr darüber geschrieben.

 

Ich habe etwas Merkwürdiges erlebt, Anna. Ich musste dir sofort schreiben, ehe ich denke, dass ich es mir nur eingebildet habe. Heute war ich in der Bibliothek und wollte mir neue Bücher ausleihen, da habe ich Thorin beobachtet. Ich habe mich hinter einem Bücherregal versteckt. Wieso ich das gemacht habe, weiß ich nicht. Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich es tun müsste. Er hat mich nicht bemerkt und ich bin ihm nachgeschlichen. Ja, das war vielleicht nicht ganz richtig von mir, aber ich wollte unbedingt wissen, was er hier macht. Ich folgte ihm im sicheren Abstand und als er in einer Lücke zwischen zwei Regalen verschwand, habe ich gewartet, aber er kam nicht wieder hervor. Nach ein paar Minuten bin ich dorthin und stand plötzlich vor einem halbleeren Bücherregal. Thorin war spurlos verschwunden. Unschlüssig stand ich noch da, bis ich schließlich wieder zurück gegangen bin und mich auf der Empore versteckt habe. Von dort oben hatte ich einen guten Überblick. Irgendwann sah ich ihn durch die Regalreihen gehen und ließ ihn vorbei. Als ich die Eingangstür schließen hörte, lief ich zurück und suchte an der Stelle, wo ich ihn aus den Augen verloren hatte. Mir fiel nichts Ungewöhnliches auf, bis ich die Kratzer und die Schmarren auf dem Steinboden sah. Es sah so aus, als wäre das Regal bereits mehrmals in der Vergangenheit weggeschoben worden. Also probierte ich mein Glück und das Regal bewegte sich tatsächlich! Ich vergewisserte mich nochmal, dass ich allein war, dann schob ich es ganz beiseite. Dahinter war ein Gang in den Fels geschlagen. Ich hatte keine Lampe dabei, aber ich war zu neugierig, als dass ich erst eine holen wollte. Also tastete ich mich hinein und nach ein paar Schritten war da eine kleine Kammer. Dort lagen einige Bücher und Schriftrollen in einem einzelnen Regal. Es gab auch einen Tisch und einen Stuhl. Aber mehr nicht. Auf dem Tisch lagen Bücher aufgeschlagen und das Wachs der Kerzen war noch warm. Thorin musste hier gewesen sein. Als nächstes entzündete ich die Kerzen und schaute mir die Bücher an, doch die Handschrift war so krakelig als hätte sie ein tattriger Greis geschrieben, dass ich nur schwer die Worte lesen konnte. Diese Bücher waren sehr alt. Sie sind noch im Alt-Khuzdul geschrieben, was ich nicht lesen kann. Wieso versteckt man diese Bücher in dieser Kammer? Ich hatte Angst, dass mich jemand einschließen könnte und verließ die geheime Kammer wieder und schob das Regal zurück.

Erst im Nachhinein fiel mir ein, dass ich ja ein Buch hätte mitgehen lassen können, um irgendjemanden danach zu fragen. Als ich später am Tag wieder in die Bibliothek bin und erneut das Regal beiseiteschob, war die Kammer komplett leer! Die ganzen Bücher und die Schriftrollen waren weg! Ich habe mir das doch nicht eingebildet.

 

Wie gruselig! Hast du mit Thorin gesprochen??? Was sagte er???

 

Wenn ich das Gespräch suchen will, weicht er mir aus oder blockt ab. Ich komme gar nicht mehr an ihn ran. Nichts ist mehr, wie es einmal war. Wir leben so gut wie getrennt voneinander. Er ist viel unterwegs und ich unternehme viel mit den anderen. Wenn ich ihn zu Besuchen begleite oder ich einer Audienz beiwohne, tun wir vor unserem Volk so, als wären wir das strahlende Königspaar. Aber das ist nur Schall und Rauch. Ich fühle mich in seiner Nähe unwohl. Manchmal sieht er mich an, als müsste er sich mein Gesicht einprägen. Im nächsten Moment kann er mir nicht in die Augen schauen. Er hat angefangen, alleine in den Bergen zu trainieren. Er ist stundenlang da draußen, bei Wind und Wetter. Wenn er geht, dann rüstet er sich, als würde er in einen Krieg ziehen. Er bereitet sich auf irgendetwas vor und das alles ohne mich.

Hinzukommt, dass Thorin von schlimmen Albträumen heimgesucht wird. Er trinkt abends einen Schlaftee von mir, damit kann er zwar besser einschlafen, aber er trinkt ihn inzwischen literweise und schläft oft am Schreibtisch oder auf dem Sofa ein, kaum dass er sich hingesetzt hat. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er süchtig nach diesem Tee ist. Ich muss ihn davon wegbekommen, auch wenn dann die Albträume zurückkehren sollten. Es ist schlimm, Anna. Ich halte ihn dann ganz fest und wecke ihn langsam auf. Es gab schon Nächte, wo er um sich geschlagen hat. Ich habe schon den ein oder anderen Hieb abbekommen, aber es ist mir egal. Ich kann ihn nicht alleine mit seinen Dämonen lassen. Wenn ich ihn festhalte, ist es der einzige Moment, wo er meine Nähe zulässt. Thorin teilt das Bett nicht mehr mit mir. Ich habe Angst, dass er mich nicht mehr liebt.

 

Marie, mir gefällt das nicht. Thorin kann nicht einfach dir sein halbes Leben verschweigen. Er kann dich nicht einfach beiseiteschieben, auch wenn er als König viel zu tun hat. Greg ist momentan nicht gut auf ihn zu sprechen. Und ich auch nicht! Du musst ihn zur Rede stellen, und zwar schnell!

 

Ich habe einen Soldaten auf ihn angesetzt. Raik ist sein Name und ich vertraue ihm mein Leben an. Heute Morgen habe ich ihn, als er Wache hatte, aufgesucht und ihm einen Geheimauftrag erteilt. Zuerst war er damit nicht einverstanden, aber ich konnte ihn überreden, mir diesen Gefallen zu tun. Er wird Thorin auf Schritt und Tritt als Leibwächter zur Seite stehen und mir Meldung geben.

 

Du spionierst ihn aus???

 

Ich spioniere ihn nicht aus… Ich bekomme nur täglich Meldung, was er so den Tag lang getan hat und wo er alles war. Das ist alles. Aber bislang konnte ich nichts Ungewöhnliches feststellen. Außer, dass er mehrmals bei einer Malerin war. Sie hat eine Künstlerwerkstatt in der Rosengasse. Ich weiß nicht, was er da will. Ich habe ihn aber auch nicht gefragt. Sonst fliege ich vielleicht auf. Aber ich bleibe dran.

 

Ich mache mir wirklich Sorgen um dich, Marie. Schon zwei Wochen habe ich nichts mehr von dir gehört. Ist etwas passiert? Antworte bitte!

 

Anna, es ist furchtbar. Ich erkenne ihn nicht mehr wieder. Die anderen tun so, als wäre er nicht da, wenn sie zusammen in einem Raum sind. Alle scheinen wütend zu sein und Thorin scheint auf alle anderen wütend zu sein. Er hegt einen Selbsthass, das ist unvorstellbar. Niemand spricht es an. Alle versuchen irgendwie eine heile Welt aufrecht zu halten, doch nichts ist mehr in Ordnung. Thorin ist in seiner eigenen Welt gefangen und lässt niemanden mehr an sich heran. Auch mich nicht.

 

Marie, sag ein Wort und ich setze alle Hebel in Bewegung, um nach Erebor zu kommen.

 

Nein, Anna, du solltest in deinem Zustand nicht den langen Weg auf dich nehmen. Bleib bitte Zuhause. Ich werde Thorin heute Abend zur Rede stellen. Ich kann nicht mehr so weitermachen.

Suurin, Bruna, Ninak und Minar kommen gleich zum Tee. Ich berichte dir. Versprochen.

Ich liebe dich. Marie

 

~

 

„Ein neues Rezept. Ihr habt die Ehre, als Erste zu probieren.“ Voller Stolz stellte Suurin ein Tablett kleiner Küchlein in die Mitte. „Hab den ganzen Morgen dafür in der Küche gestanden.“

„Schlechter als dein letzter Backversuch kann es ja nicht werden“, bemerkte Ninak und beäugte die Küchlein äußerst skeptisch als wären diese hochgiftig. Bruna und Minar griffen schon danach. Letztere wippte ihr jüngstes Kind auf dem Knie. Der kleine Junge griff nach dem, was seine Mutter in der Hand hielt, und wollte auch.

„Salz und Zucker hat doch jeder schon mal verwechselt“, verteidigte sich Suurin. „Marie, greif zu.“

„Hm? Ähm, ja danke.“ Obwohl sie keinen Appetit hatte, nahm sie aus Höflichkeit eines der Stücke.

„Wo bist du denn schon wieder mit deinen Gedanken?“

Woanders. Ihr Blick fiel auf ihren Verlobungsring und wie so oft in letzter Zeit machte Kummer ihr das Herz schwer, als sie den Smaragd und die Diamanten betrachtete. Es war noch gar nicht so lange her, dass sie Hoffnung auf einen Neuanfang in Erebor hatte. Je länger sie hier war, desto größer wurden die Zweifel an ihrer Entscheidung. Vielleicht war es noch nicht zu spät, ihre Beziehung zu retten.

Einfach weitermachen wie die letzten Wochen, einsame und kalte Nächte neben einem Mann, der nicht mehr derselbe war zu verbringen, konnte sie nicht mehr. Heute Abend würde sie das Gespräch suchen und sich nicht mehr von ihm abwimmeln lassen. Sie würde Thorin das Messer auf die Brust setzen. Er musste ihr endlich das Geheimnis verraten, das ihn kaputt machte. Sie konnte nicht länger zusehen, wie sie auf den Abgrund zusteuerten.

Marie schaute in die Runde und versuchte wie schon seit Tagen heimlich ein paar Hinweise zu finden. Wonach genau sie jedes Mal Ausschau hielt, wusste sie selbst nicht. Immer, wenn sie aus ihren Freundinnen etwas rausbekommen wollte, blockten diese ab oder sagten, dass sie nichts wüssten. Aber Marie wusste, dass sie logen. Irgendetwas ging vor sich hinter Wänden und verschlossenen Türen, wovon sie nichts mitbekommen sollte.

Als ihr Blick bei Bruna ankam, viel es ihr wie Schuppen von den Augen. Wieso war sie nicht schon viel eher darauf gekommen? Die Zwergin aus der Küche wusste immer als erste über den neusten Klatsch und Tratsch Bescheid. Vielleicht konnte sie mit ihrer Hilfe schon Vorarbeit leisten. Marie überlegte. Sie musste mit etwas Einfachem anfangen. Etwas, wo niemand Verdacht schöpft, in welche Richtung ihre Fragerei ging.

„Bruna, kennst du die Malerin aus der Rosengasse? Ich hab gehört, sie soll gut sein.“ Das war natürlich eine Notlüge. Von Raiks Meldungen wusste sie, dass ihr Verlobter regelmäßig der Werkstatt einen Besuch abstattete. Was er dort genau tat, konnte ihr Raik nicht sagen, denn die Soldaten mussten immer draußen vor der Tür warten. Ihr gegenüber hatte Thorin noch nie ein Wort darüber verloren.

„Du meinst Amris und Anits Atelier. Es sind zwei Schwestern aus den Blauen Bergen. Amris ist die Malerin von den beiden. Aber wo wir gerade von dieser Frau sprechen… Habt ihr schon das Munkeln über sie gehört?“ Ihre Zuhörerinnen schüttelten die Köpfe. „Sie war nicht immer Malerin… Oh, nein.“

„Jetzt mach es nicht so spannend“, beschwerte sich Ninak.

Um ihre innere Unruhe zu überspielen, biss Marie in das Kuchenstück.

Der Aufmerksamkeit vollends bewusst räusperte sich Bruna und ließ dann die Bombe platzen. „Stellt euch vor: sie war eine Hure.“

In diesem Moment zerbrach ihre Welt in tausend Scherben.

Galle schoss ihr die Speiseröhre hoch. Marie schlug die Hand vor den Mund, sprang auf und rannte zum Waschraum. Sie konnte gerade noch die Tür zum Abtritt aufreißen, dann warf sie sich vor die Toilette und kotze sich die Seele aus dem Leib.

Hure. Die Bedeutung dieses Wortes ließ ihren Körper rebellieren. Sie kniff die Augen zu, versuchte Luft zu holen und das Zittern auszuhalten. Kaputt. Alles war kaputt.

Die anderen kamen ihr nachgelaufen und fanden sie auf dem Boden kniend in dem kleinen Raum. Ninak nahm ihr die Haare hoch, strich ihr über den Rücken. „Su, was hast da reingemacht?“

„Nichts Ungewöhnliches! Marie, es tut mir so leid.“

Marie hob die Hand, doch dann kam ein erneuter Schwall. Sie legte die Stirn auf ihren Arm und schloss die Augen.

Dort, wo ihr Herz sein sollte, war nur noch ein schwarzes Loch. Das war es also. Sein Geheimnis.

 

~

 

Als die Klinke der Eingangstür heruntergedrückt wurde, versteifte sich ihr Körper. Tapfer wischte sie sich über das Gesicht, obwohl alles in Schutt und Asche lag, strich dann ihr Mieder glatt und erhob sich von dem Sofa, auf dem sie die letzten Stunden allein mit sich und ihren Gedanken ausgeharrt hatte. Der Wunsch, das Kaminfeuer würde Funken werfen und alles verbrennen, war Stunde um Stunde stärker geworden.

Wie jeden Abend zog sich der König Erebors in der kleinen Diele die Stiefel aus, kam ins Wohnzimmer und hing seinen Mantel über die Lehne seines Schreibtischstuhles. Als nächstes würde er seine Krone in dem Sekretär verschließen… Thorin wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er aufblickte. „Marie.“ Vor ihm, mitten im Wohnraum stand seine Verlobte und starrte ihn an. Sofort sah er, dass etwas nicht stimmte. Sie sah ihn an, wie sie es noch nie getan hat, Wut und Verzweiflung in rotgeränderten Augen.

Noch ehe er fragen konnte, stieß sie hervor: „Dein Geheimnis“, die Fäuste geballt, das Kinn trotzig erhoben, um ihn in die Augen zu sehen, „ich weiß darüber Bescheid.“

Thorin schloss seinen offenstehenden Mund und warf seinen Mantel auf den Schreibtisch. Sein Hirn musste erstmal diese Information verarbeiten und die bereits lange zuvor zurechtlegten Worte hervorholen, mit denen er beginnen sollte. Verflucht, sie hätte es nicht über Dritte erfahren sollen. Sich die Frage zu stellen, wer es ihr erzählt hatte, war überflüssig. Früher oder später hätte sie es erfahren müssen. Jetzt war der Zeitpunkt da, den er so lange herausgezögert hatte. „Marie, ich…“ Seine Verlobte hatte jedoch nicht vor, ihre Konfrontation auch nur für drei Sekunden ruhen zu lassen, um ihm eine Chance zu geben.

„Warst du wieder bei ihr?“

Ihre Frage überraschte ihn sehr. Thorin kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Von wem sprichst du?“

„Tu nicht so scheinheilig!“ Die Heftigkeit, mit der sie ihm antwortete, hatte er nicht kommen sehen. „Ich weiß, dass du regelmäßig bei ihr bist, also hör endlich auf mit deinen Lügengeschichten.“

Wäre da nicht ihre Verzweiflung und der flammende Zorn gewesen, hätte er denken können, dass sie sich das alles nur einbildete. Doch Marie sah wahrlich nicht aus, als wüsste sie nicht, was sie hier tat. Bei den Göttern, was war passiert? „Ich kann dir nicht ganz folgen.“

„Amris - wenn das überhaupt ihr richtiger Name ist. Hilft dir das auf die Sprünge? War sie eine Trosshure und hat dir dein Krankenbett warmgehalten? Oder hast du dir eine Mätresse gesucht, als ich nicht mehr gut genug war?“

Oh, Scheiße… „Liebling, das ist ganz anders als du denkst.“ Vorsichtig näherte er sich ihr. „Ich kann es dir erklären.“

„Fass mich nicht an!“, fauchte sie, hob abwehrend die Arme. Ihre Reaktion versetzte seinem kaputten Herzen einen Tritt. „Du bist ein Lügner, Thorin Eichenschild! Ich weiß, dass du bei ihr warst. Wie lange geht das schon mit euch?“

„Du irrst dich. Ich habe nichts mit dieser Frau! Sie ist eine Freundin.“

„Wieso sollte ich dir glauben?“ Tränen liefen ihr über das Gesicht, für die sie nicht mehr die Kraft hatte, sie zurückhalten. „Wieso sollte ich dir auch nur ein Wort noch glauben? Du sprichst nicht mehr mit mir. Alle reden hinter meinem Rücken, lügen mich an. Alle meiden dich, sind wütend auf dich. Du schläfst nicht mehr mit mir, beachtest mich kaum noch! Glaubst du, ich bin blind? Glaubst du, du kannst mich einfach beiseiteschieben und dir eine andere Frau anlächeln? Machen das alle großen Könige so?“ Die Intensität an Emotionen, die aus ihr herausbrachen und ihm entgegengeschleudert wurden, zwang ihn fast in die Knie. Alles, was er sagte, Beschwichtigungsversuche und Versuche, dass sie ihm endlich zuhörte, hatten keine Wirkung mehr. Maries Seele war gebrochen. „Nimm deinen blöden Ring“, sie zog ihn sich vom Finger und drückte ihn in seine Hand. „Ich will ihn nicht mehr haben.“

Instinktiv umklammerte Thorin das Schmuckstück, damit es nicht zu Boden fiel.

Marie drehte sich weg, umschlang ihren zitternden Körper. „Ich hätte nie mit dir kommen sollen.“

In diesem Moment brach sein Herz entzwei. Trotz ihrer Trennung hier und jetzt konnte er sie nicht gehen zu lassen. Wenn er es tat, wäre alles, wofür er je gekämpft hatte, umsonst gewesen. „Marie, bitte, hör mir zu. Hör mir doch zu!“ Er bekam sie am Arm zu packen. „Ich kann dir alles erklären!“

Watsch! Die Ohrfeige traf ihn hart. Thorin ließ sie los und hielt sich das schmerzende Gesicht. Sie flüchtete ins Schlafzimmer und knallte die Türen hinter sich zu. Er griff nach den Klinken, doch sie hatte sich eingeschlossen.

Awwww. Wie rührselig…, erklang Smaugs Stimme.

Augenblicklich quoll die Finsternis wie schwarzes Magma aus seiner Brust und verseuchte sein Blut. Nein… „Marie, mach auf!“ Er hämmerte gegen das Holz. „Ich flehe dich an!“

Aus dem Zimmer hörte er sie schluchzen. „Ich hasse dich!“

Amüsiert klang das Grummeln der Bestie, tief aus der Dunkelheit seines eigenen Ichs. Hörst du das? Gib endlich auf. Du hast ihre Liebe verloren. Sie wird dich nie wieder zu sich lassen… Wie eine Schlange kroch Smaugs Geist durch sein Fleisch, nach einem Schlupfloch suchend, das ihn entkommen lässt. Die Gitterstäbe seines erschaffenen Gefängnisses begannen sich langsam aufzulösen. Thorin bekam keine Luft mehr. Smaug schnürte sie ihm ab. Diese Tür war alles, was ihn von ihr trennte und doch war es ein unüberwindbares Hindernis. Ihm schwanden die Kräfte. Verzweifelt rutschte er an ihr herab.

Atmen! Leben!

„Die Wahrheit… Ich erzähle dir die Wahrheit!“

Es hat keinen Zweck. Wieso vergeudest du deine Zeit noch mit dieser schwachen Frau? Sei ein Mann. Nimm dein Schwert und schlag die Tür ein. Dieser jämmerliche Mensch ist nicht mehr von Bedeutung. Du brauchst sie nicht. Töte sie!

Er kniff die Augen zu, presste sich die Hände auf die Ohren. „RAUS AUS MEINEM KOPF!!“

TÖTE SIE!

„Der Drache…“, er schnappte nach Luft. „ICH BIN DER DRACHE!!“


24

 

 

Ich wünschte, ich könnte dir eine andere Geschichte erzählen als die, die ich dir jetzt erzähle, mell nin. Ich wünschte, Bard hätte Smaug vom Himmel geschossen und die Sache wäre ein für alle Mal erledigt. So würde eine gute Geschichte enden; mit einem Helden, der das Unmögliche möglich machte und ein Monster tötete.“ Vor der Tür zum Schlafzimmer kniete er, auf blankem Felsboden hockend. Vor dem winzigen Spalt. Dem winzigen Funken Hoffnung. „Aber ich kann dir eine solche Geschichte nicht erzählen…weil Smaug… Weil Smaug nicht tot ist.“

Der Rucksack, den sie soeben noch am Packen war, fiel erschlafft zurück. Marie drehte sich um und starrte zu der Tür, wartend auf seine Stimme, dass sie weitersprach, während zugleich Unverständnis und eiskaltes Grauen durch ihren Körper wallte, die seine Worte auslösten.

„Es stimmt… Bard hat seine verwundbare Stelle mit einem schwarzen Pfeil getroffen, doch nur sein Körper fand in dieser Nacht auf dem See den Tod. Sein Geist hat überlebt und ist durch einen Fluch auf mich übergegangen. Er hat gewusst, dass eines Tages der Erbe von Thror kommen würde und band seine Seele an Erebors Gold, lange bevor wir den Berg überhaupt erreichten.“ Unter Qualen berichtete Thorin von dem Moment, als er in den verwaisten Eingangshallen die goldene Glocke berührte, die dort jahrelang zwischen Asche und Schutt gelegen hatte. Das Holz der Tür an seiner Stirn erdete ihn, als er diesen Moment ein weiteres Mal durchlebte, die Kälte des tonnenschweren Goldes spürte und Smaugs Abbild direkt vor ihm erschien. Der Drache hatte auf ihn gewartet.

„Es geschah einfach, ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte.“ Er breitete seine ganze Seele vor ihren Füßen aus, als kniete er nackt und schutzlos vor ihr. Immer wieder musste er Pausen machen, um Luft zu bekommen. So viel Kraft raubte die Wahrheit, er sprach jedoch weiter, redete sich frei und ertrug Smaug, der immer noch versuchte, einen Weg zu finden, ihn zu manipulieren, die Tür einzuschlagen und Marie zu töten. Thorin hielt den Kopf gesenkt, um keinen Blick in Orcrists Richtung zu werfen, und erzählte von der Drachenkrankheit, die bereits vor dem Erreichen des Einsamen Berges mehr und mehr hervorgetreten war, während er den schwersten Kampf seines Lebens focht. Smaugs Fluch in Kombination mit Thrors Erbe hatte damals alles nur noch verheerender gemacht.

„Ich habe so oft an dich gedacht, Marie…bis die Gedanken immer seltener wurden. Ich wollte endlich König sein, egal was es kosten mag…hatte nur noch das Gold im Sinn. Ich wollte, dass es uns allein gehört. Mein ganzes Sein hat sich auf diesen verfluchten Schatz konzentriert und an das Finden des Arkensteins. Ich habe nicht mehr gegessen, nicht mehr geschlafen. Ich musste den Arkenstein finden, eher konnte ich nicht König sein, redete ich mir ein. Dass ich krank bin, wollte ich nicht wahr haben. Ich war ruhelos, gehetzt, geplagt. Meine Pläne konzentrierten sich nur um den Stein und um das Sichern des Goldes. Als man uns als Diebe und Unruhestifter in Esgaroth gefangen nahm, hatte ich den Menschen einen Anteil am Gold versprochen, wenn sie uns zum Berg aufbrechen ließen… Ein Mittel zum Zweck war es. Nichts weiter. Nicht im Traum dachte ich daran, dieses Versprechen einzulösen. Lieber wollte ich, dass sie erfroren, anstatt Essen und Trinken mit ihnen zu teilen und ihnen ein Dach über den Kopf zu geben, geschweige den ihren versprochenen Anteil am Schatz. Sie waren ja nur Menschen… Smaugs Geist übernahm mehr und mehr mein Denken und Handeln. Der Verdacht, jemand von uns könnte den Arkenstein gefunden haben und ihn mir vorenthalten, grub sich in mein Hirn wie ein Wurm in einen faulen Apfel. Von dem Gedanken kam ich nicht mehr los und verdächtigte letztendlich sogar meine Männer. Es war Bilbo, der den Arkenstein vor mir versteckt gehalten hatte, um so das Schlimmste zu verhindern. Sein Mut kostete ihn fast das Leben. Als ich es herausfand, hätte ich ihn beinahe die Wehrmauer herunter geworfen.“

Die Habseligkeiten, die sie soeben noch in ihren Rucksack tun wollte, hielt sie fest an ihr Herz gedrückt, als es erneut brach. Sie presste die Augen zu, doch seine Worte konnte sie nicht ausblenden.

„Ich habe dich verleugnet, Marie“, sprach die Stimme im anderen Raum. „Ich wollte nichts mehr mit dir zu schaffen haben, weil du ein Mensch warst. In meinen Augen warst du schwach, unbedeutend und nicht mehr zu gebrauchen. Ich dachte, du hast mit der Lyrif-Kette mich verhext und riss sie mir vom Hals. Allein und auf mich gestellt erschienst du mir wie ein Stern in dunkler Finsternis. Ich habe dich gesehen... Du warst mein Licht. Du warst immer mein Licht, wenn ich keinen Ausweg mehr fand. Ich… Scheiße…“

Seine Geständnisse rissen ihre Seele in winzige Fetzen und ließen die Tränen ungehemmt laufen.

„Ich habe solch schlimme Dinge gedacht, gesagt und getan, für die ich mich hasse… Ich habe Dwalin den Tod angedroht. Ich habe Fili Gewalt angetan… Ich wählte den Krieg anstatt den Frieden, als ich die Wahl hatte… Ich… Marie, du musst mir glauben: ich wollte dich nie anlügen. Aber ich musste es… Ich wollte nicht, dass du in mir das Monster siehst. Ich habe den größten Fehler meines Lebens gemacht und nun schwebst du in großer Gefahr. Bitte…du musst mir gut zuhören. Smaug erpresst mich mit deinem Leben. Er will, dass ich mich mit ihm verbünde. Er ist immer noch so real wie du und ich, du musst mir glauben! Ich höre ihn, auch jetzt, wenn ich mit dir spreche. Ich kann seine Stimme hören, sie ist in meinem Kopf... Irgendwie habe ich es geschafft, ihn einzusperren. Ich habe ein Gefängnis erschaffen, ich sehe es vor meinen Augen, wenn ich sie schließe. Irgendwie habe ich ihn eingesperrt... Aber das nützt nichts mehr. Smaugs Geist ist zu mächtig geworden. Er kann in meine Träume eindringen und meine Erinnerungen stehlen. Er hat selbst meinen Tod überlebt und in seinem Gefängnis ausgeharrt, als ich zwischen der Welt der Lebenden und der Toten umhergeirrt war. Du bist eine einzigartige Frau, Marie. Aber diesmal gibt es kein Heilmittel... Niemand kann so einen Fluch brechen. Auch du nicht. Smaug wird von Woche zu Woche stärker. Ich kämpfe Tag für Tag, aber er frisst mich von innen heraus auf. Ich kann nicht mehr für deine Sicherheit garantieren. So oft habe ich dich bereits durch meine Hände sterben sehen. Er lässt mich dabei zugucken, trachtet nach deinem Leben. Er hasst dich. Du bist nicht mehr sicher, hörst du? Weder bei mir noch bei irgendjemanden sonst hier in Erebor. Deswegen habe ich auch so lange gezögert, du dir zurückzukehren. Ich musste genesen, damit ich eine Chance hatte, einen Ausweg zu finden. Aber nach Wochen mit den Gedanken an dich hielt es nicht mehr aus. Du hast also allen Grund wütend auf mich zu sein… Ich wünschte nur, du würdest es verstehen… Bitte, ich… Ich weiß einfach nicht mehr weiter.“

Alle Worte waren gesprochen. Zu mehr war er nicht mehr fähig. Thorin hob den Kopf und wartete.

Doch im Zimmer vor ihm regte sich nichts.

Die Tür blieb verschlossen und die eintretende Stille rückte erdrückend auf ihn ein. Und mit der Stille erlosch der letzte Funken Hoffnung. Ein letztes Mal schlug er mit der Hand gegen das Holz. Vergeblich.

„Verzeih mir“, wisperte er und schaffte es, aufzustehen. Der König Erebors nahm seine Krone ab und legte sie neben der Tür nieder. Dann verließ er das Gemach, einzig mit dem Gedanken, so schnell wie möglich Distanz zwischen sich und ihr bringen, ehe es zu spät war.

 

 

25

 

 

Du hast jedes Recht zu erfahren, was passiert ist. Eines muss ich dir aber vorneweg sagen. Ich werde in Zukunft vorsichtiger mit meinen Versprechen sein, Marie.

Als sie die Tür öffnete, hatte sie nicht damit gerechnet, dass er immer noch hier war. Auf der anderen Seite überkam sie eine tiefe Traurigkeit, als sie den Wohnraum leer vorfand. Marie machte noch einen Schritt, betrat ein Schlachtfeld, was niemand außer ihr sehen konnte.

Ich werde dir nicht alles erzählen können, vielleicht werde ich das nie, aber ich verspreche dir, dass ich dir erzählen werde, was ich kann.

Kannst du oder willst du mir nicht alles erzählen?

Das Feuer war bereits runtergebrannt und eine Leere breitete sich aus.

Ich will es nicht. Denn es kann sein, dass du mich danach nicht mehr lieben kannst. Ich habe mich verändert.

Ihr Blick fiel zu Boden und zu dem Gegenstand, der dort lag. Marie hob die Krone auf, die er vor der Tür zurückgelassen hatte.

Krieg verändert jeden Mann, Thorin.

Im tiefschwarzen Obsidian sah sie mehrfach ihr Spiegelbild und in ihren Erinnerungen saß ein Todgeglaubter an ihrem Esstisch, seine Worte so präsent wie heute.

Es ist nicht der Krieg. Es ist noch so viel mehr. Ich verschweige es dir, um dich zu schützen. Nicht, um dich auszuschließen. Kannst du das verstehen?

Als sie zwischen dem Metall und dem Gesteinsglas das eingearbeitete Gold sah, erfasste sie die Wut. Sie legte die Krone auf den Schreibtisch, bevor auch sie das Gemach verließ. Mit blutendem Herzen und von flammender Wut beflügelt lief sie die Treppe runter und steuerte zielstrebig auf den Speisesaal zu. Es war Zeit für das Abendessen und wie jeden Abend hatte man sich dort bereits eingefunden, als Marie hereinstürmte. „Ihr wusstet es!“ Dwalin, Ninak, Balin, Wilar, die Jungs und Bilbo sahen sie an als wäre sie ein Geist, der gerade aus der Wand getreten war. „Ihr wusstet es die ganze Zeit!“

Während die anderen noch ziemlich überrumpelt waren, war es Bilbo, der tonlos feststellte: „Er hat es ihr gesagt.“ Die anderen begriffen die Tragweiter seiner Worte und erhoben sich alarmiert von der Tafel. Die Jungs machten als erste Anstalten, auf sie zu zugehen. „Tante Marie…“

„Wie konntet ihr so lange schweigen und zugucken?!“ Vielleicht tat sie ihnen unrecht. Vielleicht aber auch nicht. Marie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Ihre Wut entlud sich wie ein Waldbrand, weil sie nicht anders konnte, weil sie nicht wusste, wohin sie mit ihren Gefühlen sollte.

„Wir mussten es ihm alle schwören. Es war sein Wille und sein Befehl.“ Als wäre sie ein panisches Tier streckte Fili die Hand nach ihr aus, doch Marie wich zurück. Seine Worte änderten nichts daran, dass sie tief enttäuscht von ihnen allen war.

„Weder meine Gefühle noch unsere Beziehung waren euch wichtig genug, dass ihr euer scheiß Ehrgefühl einmal hinten anstellen konntet! Ich kann nicht glauben, dass ihr DAS ALLES für euch behalten habt.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und ignorierte die Rufe der anderen. Marie raffte ihren Rock und rannte die Treppe hinunter. Sie musste hier so schnell wie möglich weg, ehe sie etwas sagte, was sie später bereuen würde.

Blind lief sie durch die Treppenhäuser und Bauten unter dem Berge. Ob jemand ihren Weg kreuzte? Sie konnte es nicht sagen. Krieg wütete in ihrem Körper, der alles niedermetzelte, woran sie geglaubt hatte.

Ein goldenes Meer tauchte vor ihr auf und ließ sie realisieren, dass sie bis in die Schatzhalle gelaufen war. Auch als die Treppenstufen vom Gold verschluckt wurden, hielt Marie nicht an. Die Masse klirrte und schepperte unter ihren Schuhen, als verhöhnte der Schatz sie, auf dem so lange eine Feuerschlange gelegen hatte. Mit einem Schrei packte sie den erstbesten Gegenstand in ihrer Reichweite und schleuderte ihn die Goldberge hinab. Ihr Schrei schallte von den Säulen und der Höhlendecke in mehreren Echos und belebte ihre Lungen mit neuer Luft. Händeweise riss sie aus dem unebenen Untergrund und warf den Ramsch so fest und so weit wie sie konnte, bis die Münzen unter ihr nachgaben. Sie fiel rücklings ins Gold und blieb schwer atmend liegen. Während Echos um sie herum verklangen, bahnten sich die Tränen erneut ihren Weg. Die salzigen Tropfen liefen über ihre Haut bis auf das Gold hinab, dessen Kälte sie überall am Körper spürte.

 

~

 

Als Bilbo das von den Feuerschalen erhellte Gold sah, blieb er stehen und durchkämmten mit den Augen die Umgebung. „Nein. Nein. Auch nein“, murmelte er. „Dort auch nicht. Dahinten? Kann ich nicht sehen.“

Die hereinbrechende Nacht und die damit schwierigen Lichtverhältnisse erschwerten die Suche. In der ganzen Stadt waren die Gefährten bereits am Suchen und Bilbo hoffte sehr, dass die Männer so klug waren, diskret und heimlich dabei vorzugehen. Sie mussten sie finden, ehe das Volk Wind davon bekam und Erebors bestgehütete Geheimnis ans Licht zerrte.

Plötzlich entdeckte er jemanden mitten im Gold sitzen. Er musste zweimal hinschauen, doch es war tatsächlich Marie. Na, endlich! Erleichterung durchströmte ihn, die jedoch schnell in Schwermut umschlug, als er dieses entfremdete Bild sah. Bilbo rückte sein Halstuch zu Recht und atmete einmal tief durch, ehe er die Stufen hinab ging.

Marie hörte sein Näherkommen und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, wer es wagte, ihre Einsamkeit zu stören. „Lass mich allein, Bilbo.“

Der Hobbit ballte die Fäuste und drückte die Schultern durch. „Nein.“

Marie warf ihm einen bösen Blick zu. Als er näher kam, drehte sie sich wieder nach vorn und beschloss, ihn zu ignorieren.

Ungeachtet dessen setzte sich Bilbo neben ihr. Es war ihm egal, dass sie nicht gut auf ihn und die anderen zu sprechen war, aber er musste die Gelegenheit nutzen und es schaffen, dass sie ihm zuhörte. Es hing so viel davon ab. „Als allererstes solltest du wissen, dass er alles, was er getan hat, für dein Wohlergehen war. Thorin hat es dir verschwiegen, weil er dich schützen wollte.“

„Er hat mich von sich ferngehalten“, presste Marie hervor und Bilbo konnte den Schmerz in ihren Augen am eigenen Leib spüren. „Er hat versucht, das alles ohne mich zu schaffen.“

„Er hat versucht, Smaug von dir fernzuhalten“, widersprach er. „Auch wenn das unweigerlich bedeutet, sich selbst von dir fernzuhalten, und er dich damit sehr verletzt hat. Das muss sich alles wie schrecklicher Verrat anfühlen und ich kann deine Enttäuschung uns gegenüber verstehen, Marie. Du hast uns vertraut, du hast Thorin vertraut. Und wir haben dieses Vertrauen gebrochen. Deswegen bin ich dir etwas schuldig.“ Bilbo nahm sich zusammen und holte neue Luft. „Das was ich jetzt tue, hätte ich schon viel früher machen sollen.“ Er drehte sich so, dass er sie stets ansehen konnte und begann, die Geschichte zu erzählen. Die wahre Geschichte von der Rückeroberung Erebors.

Ein nicht enden wollender Fluss aus Wörtern und Sätzen sprudelte aus seinem Mund. Es musste alles raus, endlich ihr Gehör finden, damit er seinen inneren Frieden finden konnte. Bilbo erzählte von der Veränderung, die in Thorin vorgegangen war, von silbern schimmernden Augen, wenn der Drache nah unter seiner Haut lauerte und von dem Wahnsinn, in den er mehr und mehr abdriftete, ohne dass sie etwas tun konnten. Er berichtete von dem Gespräch mit Balin und über die Auswirkungen der Drachenkrankheit. Von Thorins nächtlichen Arbeitsstunden in den Schmieden, alleine und zurückgezogen tief unter dem Berge. Von dem Verdacht, den er hegte, einer von ihnen hätte den Arkenstein an sich genommen. Und von der Angst, die ihm heimsuchte, als ihm klar wurde, dass Thorin ihn umbringen würde, wenn er herausfand, dass er den Arkenstein tatsächlich Smaug gestohlen hatte aber ihm vorenthielt. Seine Entscheidung, den Arkenstein vor ihm fernzuhalten, hat er aus dem Bauch heraus und von der einen auf die andere Sekunde beschlossen. Er erzählte von Thorins Albträumen, von seinen Worten. Dass er sie nie geliebt habe. Dass sie eine Hexe wäre, die ihn verzaubert hatte.

Marie ertrug alles. Sie stellte keine Fragen, doch in ihrem Gesicht wechselten sich Zorn, Unverständnis und Trauer ab. Wie es in ihr in diesem Augenblick aussehen mochte, wollte er sich nicht vorstellen. Bilbo kam nicht drumherum auch von dem Krieg zu erzählen und schließlich von dem Moment, als er seinem sterbenden Freund nicht von der Seite gewichen war. Eine Träne rollte über ihr Gesicht, als Marie Zeugin wurde, wie ein Wunder geschah.

„Thorin hat sein Leben für das Ende des Krieges gegeben und sich geopfert, damit das Gute die Chance auf den Sieg bekommt. Er ist für uns alle gestorben.“ Damit beendete Bilbo seine Erzählungen fürs Erste und wartete auf eine Reaktion von ihr. Zunächst sah Marie weiterhin stur in die Halle, doch dann drehte sie ihren Kopf und sie ihm in die Augen.

„Ist das die Wahrheit?“, wisperte sie.

„Jedes Wort.“

Marie nahm seine Antwort mit einem Nicken zur Kenntnis, atmete dann tief ein und aus, als müsste sie innerlich das Gehörte an einem Ort in ihrem Geist verschließen.

„Wir warteten alle auf den Tag, an dem er endlich aufwachen würde. Es war schrecklich, ihn so zu sehen. Die Jungs haben Tag und Nacht an seinem Bett gewacht und auf ihn aufgepasst, ihn gewaschen, gefüttert und gepflegt. Er sah aus wie ein Toter. Als er erwachte, war das für uns alle ein großer Schock aber auch eine Erleichterung. Schnell stellte sich jedoch heraus, dass Smaugs Geist immer noch in ihm gefangen war. Es war sein Wunsch und sein Befehl gewesen, dich nicht zu benachrichtigen. Wir boten mehrmals an, dich an seiner Stelle zu holen, aber er lehnte jedes Mal ab. Er wollte zuerst einen Weg finden, diesen Fluch zu brechen und Smaugs Geist loszuwerden. Anfangs hatte er noch Hoffnung, dass du ihm helfen könntest, sobald du in Erebor bist. Mittlerweile hat er diese Hoffnung aufgeben. Marie, ich bitte dich inständig, gib ihm noch eine Chance. Du bedeutest seine Welt für ihn. Dieser Schatz, dieser Thron, er würde alles für dich aufgeben. Glaub mir! Du musst ihn suchen und zurückbringen. Er braucht dich jetzt in diesem Moment mehr denn je.“ Seine Worte ließen sie hellhörig werden. „Thorin ist verschwunden“, gestand Bilbo todernst. „Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Wir suchen ihn schon überall.“ In ihrem Gesicht erschien plötzlich blanke Furcht. Das entging Bilbo nicht im Geringsten. „Was ist vorhin passiert? Was ist geschehen? Marie, sag!“

„Wir haben uns gestritten. Und ich hab ihm gesagt, dass ich ihn hassen würde. Was ist, wenn er sich etwas antut, Bilbo? Oder wenn Smaug…?“

„Wir dürfen jetzt nicht in Panik verfallen.“ Bilbo stand auf und zog auch Marie zurück auf die Beine. Woher er diese Ruhe nahm, dass er auch etwas davon für sie abgeben konnte, wusste er nicht. Was er aber definitiv wusste war, dass Thorin wahrscheinlich in keiner guten Verfassung war. Was Smaug in seinem labilen Zustand alles anrichten konnte, war keine Frage des Ob, sondern nur noch eine Frage der Zeit.

„Wir müssen ihn finden, Bilbo.“

„Geh du zurück nach Hause und warte dort, falls er zurückkehrt. Ich sag den anderen, dass du wohl auf bist. Vielleicht sind sie schon zurück und haben ihn mitgebracht. Wir werden ihn finden. Alles wird gut.“ Es war eine Floskel, die man leichthin sagte, um den anderen zu beruhigen und auch ein Stück weit, um sich selber Mut zuzusprechen. Nie zuvor hatte Bilbo sich ein „Alles wird gut“ mehr gewünscht als in diesen dunklen Stunden.

 

~

 

Den ganzen Weg zurück konnte Marie an nichts anderes mehr denken als an Thorin. Keuchend erklomm sie Stufe um Stufe, Bilbo dicht auf den Fersen. Sie dachte nicht daran, langsamer zu laufen. Er hatte seine Krone zurückgelassen. War das ein Zeichen des Abschieds? Der Gedanke, er könnte sich etwas angetan haben, ließ sie nicht mehr los und ließ sie den Moment fürchten, wenn er sich bewahrheiten sollte.

Als sie zurück am Speisesaal ankamen, sahen sie Dwalin und die Jungs über Stadtpläne gebeugt stehen, die auf einer der langen Tafel ausgebreitet lagen. „Ich sag ihnen, dass es dir gut geht“, japste Bilbo zwischen zwei Atemzügen, die er bitter benötigte. „Geh du nach oben.“ Bei seiner Stimme wurden die Männer auf die Rückkehrer aufmerksam. Marie wechselte einen schnellen Blick mit ihnen. Dankbar jetzt nicht mit ihnen sprechen zu müssen, ließ sie Bilbo bei ihnen zurück und nahm die letzte Treppe alleine.

Die Tür stand noch offen, als Marie in ihre Gemächer zurückkehrte. Das Kaminfeuer war ausgegangen, die Kerzen in den Wandhaltern waren die einzige Lichtquelle. Doch gegen die Dunkelheit der hereingebrochenen Nacht kamen auch sie nicht an.

„Thorin? Bist du hier?“ Ihr Ruf blieb unbeantwortet. Das Laufen forderte ihren Tribut. Ihre Lungen schrien nach Luft. Sie musste sich vor auf die Knie beugen und die Augen schließen. Ihr war schon wieder so schlecht. Neben der Übelkeit kamen jedoch auch die schrecklichen Bilder zurück. Wie tief würde man fallen, wenn man sich in die bodenlose Schwärze der Schächte fallen ließ? Und wann würde man aufschlagen? Dieser Gedanke ließ ihren Körper Halt an der Wand suchen. Am Ende ihrer Kräfte legte Marie die Hände vors Gesicht und atmete gegen die eiserne Enge in ihrer Brust an. Was hatte sie nur getan?

Plötzlich klirrte es hell in der Dunkelheit. Der Schreck fuhr ihr bis in die Knochen und ließ ihr Herz ein paar Takte überspringen. Marie löste sich von der Wand und tastete sich in die Richtung vor, aus der das Geräusch gekommen war. Mit rasendem Puls setzte sie in der Dunkelheit einen Schritt vor den anderen. Rechts kam der Schreibtisch und ihre Hände griffen das Holz, um sich an der Kante entlang zu tasten. Die Kerzen an der Wand ließen die Umrisse der Möbel allmählich erkennbar werden. Jemand stöhnte. Wieder klirrte es, als würde Glas gegen Glas stoßen. Als Marie den Schreibtisch umrundete, sah sie jemanden dort liegen.

„Thorin.“ Sofort kniete sie sich zu ihm und nahm seinen Kopf in ihre Hände. „Thorin…“ Augenblicklich schlug die Erleichterung in Sorge um. Er hatte die Augen geschlossen, lehnte apathisch am Schreibtisch gelehnt. „Liebling, hörst du mich?“ Auch auf ihre erneute Ansprache rührte er sich nicht. Schnell fand sie den Grund dafür. In seinem Schoß hielt er eine fast leere Schnapsflasche. Neben ihm lagen noch drei weitere. Alle leer. „Hast du das alles getrunken?“ Sie rüttelte an ihm, setzte mit ihren Fingerknöcheln einen Schmerzreiz auf seiner Brust, doch auch das ließ ihn nicht aus seinem Rausch aufwachen. „Wie viel hast du getrunken?“

Er brummte etwas Unverständliches bis schließlich eine Silbe Sinn ergab. „Vier“, sagte er und hielt drei Finger hoch.

Fassungslos über die Menge, die ein Zwerg in so kurzer Zeit schaffen konnte, begann Marie alle Flaschen außerhalb seiner Reichweite zu stellen, doch als sie die letzte aus seiner Hand nehmen wollte, wehrte er sich. „Schschsch, du hast genug.“ Nach kurzem Aufbäumen sackte sein Köper wieder in sich zusammen. Marie machte sich daran, ihm hochzuhelfen und stieß schnell an ihre körperlichen Grenzen. Der Krieger war viel zu schwer. Sie konnte ihn unmöglich ziehen, geschwiege denn tragen. Sie brauchte Hilfe.

Kaum mehr bei Bewusstsein legte sie ihn so auf die Seite, dass er, wenn er sich in der kurzen Zeit erbrach, nicht erstickte. In dieser halbwegs sicheren Position ließ Marie ihn zurück, lief erneut zum Speisesaal und setzte dem Organisieren der Suchtrupps ein Ende. „Thorin, er hat sich betrunken!“

Dwalin und die Jungs wechselten einen einzigen Blick untereinander. Sofort folgten sie Marie, eine alte Sorge in den Augen, die nur die drei verstanden.

 

„Aufstehen! Hoch mit dir.“ Mit vereinten Kräften zogen Dwalin und Kili ihn auf die Beine. Thorin konnte kaum stehen, hing wie ein nasser Sack zwischen ihnen und murmelte Unverständliches. Bilbo wurde losgeschickt, um aus der Küche Wasser und Fenchel zu holen. Damit sie Licht hatten, hielt Fili eine Lampe in die Höhe.

Als die Männer Thorin ins Bett bringen wollten, hielt Marie sie zurück. „Bringt ihn in den Waschraum. Wir müssen den Alkohol aus ihm rausbekommen. Ich fürchte, er hat eine Vergiftung.“

„Vergiftung?“, echote Kili verständnislos. „Man kann sich daran vergiften?“

Marie rieb sich die Nasenwurzel und dachte nicht zum ersten Mal dran, einem Zwerg eine zu scheuern.

„Beruhig dich, Mädchen“, Dwalin versuchte gutgemeint die Situation ein wenig zu entschärfen. „Er hat nur ein bisschen viel getrunken.“ Dafür erdolchte Marie ihn mit funkelndem Blick. „Schon gut“, grummelte er und befolgte lieber ihre Anweisungen, ehe er sich noch eine fing.

„Was hast du vor?“, fragte Kili, als er half, seinen Onkel in den kleinen Nebenraum zu schleppen.

„Über die Schüssel mit ihm“, antwortete Marie stattdessen, die bereits am Waschtisch stand. Dwalin und Kili gehorchten, Thorins Oberkörper kippte von selber nach vorne. „So ist gut.“ Marie packte seine dunklen Haare und verdrehte sie zu einem Zopf, den sie Kili in die Hand drückte. „Festhalten.“

„Und nun?“

Die Frage erübrigte sich. Beherzt steckte sie Thorin zwei Finger in den Mund.

„Hab das Wasser!“ Bilbo war zurückgekehrt. Die Helfer verzogen die Gesichter, als der erste Schwall kam, und Bilbo verließ rückwärts den Raum.

 

Schon oft hatte Thorin Piljar die gute Seele dieses Heims genannt. Auch heute Nacht traf diese Beschreibung auf die alte Frau zu. Bilbo hatte sie vorhin in der Küche noch angetroffen. Trotz der späten Stunde hatte sie sofort ihr Hilfe angeboten und war durch ihre ruhige und optimistische Art der Anker, an dem sich alle festhielten.

Dankend nahm Marie von ihr einen Becher heißen Tee entgegen und wärmte sich die Hände daran. Ihre Augen wanderten zurück zum Bett und zu Thorin, den man entkleidet und dort hineingelegt hatte. Wie Wächter lehnten seine Neffen mit verschränkten Armen an der Wand und rührten sich nicht. Auf einem Hocker, der viel zu klein für ihn ist, kauerte Dwalin und Bilbo saß am Fußende der Matratze und drehte Däumchen.

„Das ist ja nicht zum Aushalten. Ihr tut ja geradezu so, als sei jemand gestorben.“ Die eingekehrte Stille wurde von der ergrauten Zofe beendet, die beschwingt Holz im Ofen in der Zimmerecke nachlegte. „Sechs Jungs habe ich großgezogen“, plauderte sie und wischte ihre Hände an ihrer Schütze ab. „Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft ich sie ins Bett gebracht habe, wenn sie einen über den Durst getrunken hatten. Eines war aber immer bei allen gleich: sie verfluchten den Schnaps am nächsten Morgen und schworen, nie wieder ein Glas auch nur in die Hand zu nehmen. Früher oder später haben sie alle ihre Vorsätze über den Haufen geworfen. Das wird bei Mylord auch nicht anders sein. Also, Kinder, husch, husch! Ihr solltet zu Bett gehen. Ihr auch, Mylady“, fügte sie hinzu, als müsste sie auf diese ein besonderes Auge haben. „Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“ Mit diesen Worten und einer Berührung an Maries Arm wackelte Piljar von Dannen.

Aus seiner Starre erwachend rieb Dwalin sich die steifen Beine und stand auf. Der Krieger legte seine große, tätowierte Hand auf Maries Schulter. Er wollte etwas sagen, doch dann überlegte er es sich anders. Wortlos machte sich er aus dem Staub. Kili blieb bei ihr stehen. „Marie, wir…“

Sie hob die Hand und er verstummte. „Wir reden morgen.“ Der junge Prinz nickte. „Gute Nacht, Kili.“

„Gute Nacht“, antwortete er und folgte seinem Ziehonkel.

Mit einem Seufzer verließ auch Marie ihren Posten. Piljar hatte Recht. Mehr konnte sie heute nicht mehr tun. Im Wohnraum trat sie an das wärmende Kaminfeuer heran, welches man glücklicherweise wieder in Gang gebracht hatte, und schlürfte ihren Tee. Das war keine gute Alternative, denn sie merkte schnell, wie sie mehr und mehr in ihre Gedanken und Thorins Worte versank, bis ihr Blick zu dem Schreibtisch wanderte.

Marie zog den Stuhl zurück und setzte sich. Einige Stapel Papiere, ungeöffnete Briefe und Schriftrollen, die den Anschein nach über Tage liegen geblieben waren, waren überall auf dem königlichen Arbeitsplatz verteilt. Bei dem geordneten Chaos machte sie dicke Backen, zog einfach ein Blatt davon raus und begann zu lesen. Wie lange sie so dasaß, wusste sie nicht. Irgendwann bemerkte sie Fili im Türrahmen. Sie hatte ganz vergessen, dass er noch da war. Schweigend trat der blonde Prinz an ihre Seite, überflog die Arbeit und begann, ihr die in Khuzdul geschriebenen Zeilen auf dem Papier in ihrer Hand vorzulesen und erklärte, was man damit machen müsste und welche Entscheidungen noch getroffen werden mussten. Kaum ausgesprochen griff Marie nach einer Schreibfeder und tunkte sie ins Tintenfässchen. Sie hatte keine Ahnung, ob sie die Berechtigung hierfür hatte, aber nach dem Geschehen von heute, hatte sie keinen Kopf, um sich darüber Gedanken zu machen. Sie reichte das Papier mit ihrer darauf verfassten Entscheidung an Fili weiter. Mit hochgezogenen Augenbrauen las er sie durch.

„Das ist… mal was anderes. Aber gut. Anders, aber wirklich gut.“ Er kramte das königliche Siegel hervor und machte sich dran, Wachs zu erwärmen. „Das nächste?“

Das Feuer knackte und prasselte ruhig vor sich her. Die Zeiger der Uhr auf dem Kaminsims drehten ihre Runden und aus einem kleinen Bilderrahmen schaute ihnen Dis zu, wie Marie und Fili die Aufgaben eines Königs abarbeiteten. Auf einer der Listen für Güter, die die Wagenkolonnen für ihre Aufträge benötigten, fügte Marie noch einiges hinzu und schrieb drei Nullen hinter die Zahl ganz unten auf dem Blatt. Als er das sah, machte Fili große Augen, gab aber keine Widerworte.

Es war spät in der Nacht, als alle Stapel und Schriftrollen verschwunden und Thorins Schreibtisch aufgeräumt und sauber war. Marie übergab Fili die Listen und Protokolle, damit er sie Morgen an die richtigen Leute weitergeben konnte. Nachdem er sich alles unter den Arm geklemmt hatte, beugte er sich zu ihr und küsste seine Tante auf die Stirn. Schmerz flutete ihr Herz, als es begann, sich langsam wieder zusammenzufügen.

 

~

 

Als sie zurück ins Schlafzimmer kam, lag Thorin noch genauso wie sie ihn zurückgelassen hatte. Ihren Instinkt, bei ihm Atmung und Puls zu kontrollieren, musste sie unterdrücken. Lass ihn schlafen, ermahnte sie sich.

Im Ankleidezimmer wechselte sie ihr Kleid gegen ihr Nachthemd ein und flocht ihre Haare zu einem langen Zopf. Überall löschte sie die Kerzen, bevor sie sich zu ihm ins Bett legte. Der Gedanke, lieber auf dem Sofa die Nacht zu verbringen, kam nicht eine Sekunde auf. Es war doch immer noch Thorin, der dort lag. Der Mann, der zweimal zu ihr zurückgekehrt war. Der Mann, dessen Herz sie heute gebrochen hatte. Was würde der nächste Morgen für sie bringen? Welche Worte würden fallen und für welche war es noch nicht zu spät, sie zurücknehmen?

Lange schaute Marie in der Dunkelheit zu ihm rüber, lauschte seinen Atemzügen und betrachtete sein im Schatten liegendes Gesicht, doch die Gedanken an Smaug vergingen nicht. Was war der Plan des Drachen? Was tat er jetzt gerade in diesem Moment? Wusste er, dass sie da war? Beobachtete er sie? Oder war er gerade dabei, erneut Albträume aus Thorins Erinnerungen zu weben? RAUS AUS MEINEM KOPF!!!

Marie zwang sich die Augen zu schließen, nicht mehr daran zu denken. Sie wechselte die Seite, rollte sich in die bequemste Position. Die Kissen, Decken und Felle des Königsbettes waren herrlich weich und warm, aber Marie konnte sie nicht genießen. Erneut wechselte sie die Position, doch auch nach etlichen Minuten konnte sie nicht einschlafen. Obwohl es schon so spät war, wollte der Schlaf einfach nicht kommen. Stattdessen machte sich ihr Magen bemerkbar und erinnerte sie wie ein quengelndes Kind an das ausgefallenen Abendessen.

Den Versuch, Schlaf zu finden, gab Marie endgültig auf. Sie schälte sich aus den Decken und schnappte sich Morgenmantel und Laterne. Auf Socken schlich sie durch die nächtlichen Flure bis runter in die Küche. Es war noch viel zu früh. Erst in ein paar Stunden würden die Frauen die Öfen und Feuer entzünden und ihr Tagwerk beginnen. Marie stellte die Laterne auf die lange Arbeitsplatte und stöberte von ihrem Bauch dazu verführt zwischen Töpfen und Einmachgläsern. Getrocknete Tomaten, Erdnussbutter, Dörrpflaumen, eingelegte Gurken…

Über der erkalteten Feuerstelle hing ein großes Bratenstück, das noch für den nächsten Tag reichen sollte. Mit einem Messer schnitt sie ein Stück davon ab und stecke es sich in den Mund. Awww. Fast hätte sie laut aufgestöhnt. Das tat so gut! Seit dem Törtchen von Su hatte sie nichts mehr gehabt und das hatte sie auch nicht wirklich genießen können. Marie lud sich ein Brett voll, bis die Erdnussbutter sie anlächelte. Sie sah zurück auf die Bratenstücke und wieder zurück zur Erdnussbutter. Kurzerhand tunkte eins davon in die helle Masse, kostete und verzog überrascht das Gesicht. Gar nicht mal so schlecht…

„Ah, du hast den Braten also auch schon gefunden.“

Ihr wäre der Bissen fast im Hals stecken geblieben. Aus der angrenzenden Vorratskammer kam Ninak herausspaziert und trug die Hinterkeule eines Schweins auf der Schulter, während sie mit der anderen Hand etliche Tontöpfe balancierte. „Himmel, Ninak, machst du denn hier noch so spät?“

„Das gleiche wie du, würd ich sagen.“ Sie wuchtete den Schinken auf die Arbeitsfläche, der ein paar Pfund wiegend musste und zog sich einen der Hocker heran. Dann zauberte sie ihren Dolch aus ihrem Morgenmantel und schnitt großzügig davon ab. „Auch?“

Marie nahm neben ihr Platz, hielt ihr ihr Brett entgegen und stellte fest, dass der Umstand sie gar nicht verwunderte, dass Ninak selbst im Schlaf bewaffnet war. Würde sie jedoch noch einen Morgenstern unter ihrem Nachthemd hervorholen, würde sie sich Gedanken gemacht. Im Schein der Laterne taten sich die Frauen an dem gütig, was die Küche hergab.

„Ich bin froh, dass es endlich raus ist“, murmelte Ninak.

„Sag mir nicht, dass du auch davon wusstest.“

Sie zuckte mit den Schultern und aß weiter. „Dann halt nicht.“

„Ich glaub es nicht! Bin ich die Einzige in Erebor, die keine Ahnung hatte?“

„Die Gefährten und wir Frauen sind die Einzigen.“

Maries Augenbraue ging steil in die Höhe. „Über 20 Leute nennst du ,die Einzigen´?“ Schuldabweisend breitete ihre Freundin die Hände aus. „Was ist mit Piljar und den anderen Bediensteten?“

Ninak schüttelte den Kopf. „Niemand außer uns. Es ist das bestgehütete Geheimnis.“

„Na, herzlichen Glückwunsch.“

„Marie, hör zu. Es tut mir wirklich leid - uns allen tut es leid. Du hast Recht, wir hätten verhindern müssen, dass es so weit kommt. Dieses Versteckspiel war fragil wie ein Kartenhaus. Niemand wollte verantwortlich sein, wenn es bricht. Wir haben auf Thorin vertraut und waren an sein Wort gebunden. Ich wünschte bloß… Ich wünschte, ich könnte es irgendwie ungeschehen machen.“

Marie nahm ihre aufrichtige Entschuldigung zur Kenntnis. Seufzend steckte sie sich das nächste Stück Erdnussbutter-Fleisch in den Mund.

„Ohne dich, wäre er schon lange verloren.“

Die Worte waren tödlich. In ihrem Hals wurde es eng.

„Wie geht es ihm denn?“ Sie zuckte mit den Schultern und Ninak nickte, als verstünde sie es. „Zum Glück war Dwalin da und nicht ich. Damals in den Blauen Bergen habe ich ihn oft so gesehen. Das reicht für mein restlichen Leben.“ Als die Antwort Schweigen war, setzte sie hinterher: „Hat er irgendetwas gesagt?“

„Nein. Dazu war er nicht in der Lage.“

„Scheiße.“

„Ja. Scheiße.“

Aus Frust schraubte Ninak das Glas Gurken auf. Marie tat es ihr gleich und zog die getrockneten Tomaten ran.

„Das ist gut“, schwärmte Ninak und aß gleich von der Spitze ihres Dolches den Erdnussbutter-Schinken-Braten. „In letzter Zeit könnte ich eine ganze Ziege verspeisen.“

Mit vollem Mund blickte Marie auf ihr Stück kalten Braten und auf das Pöttchen Erdnussbutter, in das sie gerade wieder stippen wollte. Fleisch und Erdnussbutter… Schlagartig verging ihr der Appetit. Sie würgte den letzten Bissen runter und starrte auf das zusammengewürfelte Essen zwischen ihnen. „Ninak?“

„Aye?“

„Isst du öfters nachts?“

„In letzter Zeit schon. Sag aber Dwalin nichts davon. Sonst muss ich ihm noch etwas mitbringen. Dabei hat er selber unter dem Bett ein Vorrat an…“

„Wie lange bin ich schon hier in Erebor?“, schleuderte Marie die Frage heraus, während ihr Herz immer schneller pochte, stolperte, sich überschlug...

Unbeeindruckt knabberte ihre Freundin an ihrem Schinken. „Solltest du das nicht selber am besten wissen?“

„Ninak, bitte!“ Sie stand kurz vor dem Durchdrehen. „Es ist wichtig.“

„Ähm, drei Monate? Ja, drei. Ungefähr.“

Oh, Himmel… Alle Himmel dieser Welt… Marie schloss die Augen. Das Gefühl, die Wände um sich herum einstürzen zu spüren, würde immer deutlicher. „Wann hattest du das letzte Mal deine Blutung?“

„Hallo? Ich esse gerade.“

„Beantworte mir einfach meine Frage.“

„Ich nehme das nicht so genau. Ähm… Puh, da muss ich erstmal nachdenken.“

Marie wartete auf eine Antwort und hätte vor Ungeduld fast in die Tischkante gebissen. Bevor die Zwergin ihr irgendetwas brauchbares liefern konnte, platze es aus ihr heraus. „Ninak, kann es sein, dass du schwanger bist?“

Diese zeigte ihr den Vogel und biss erneut in eine Gewürzgurke. „Ich kann keine Kinder bekommen, schon vergessen?“

„Wer hat dir das gesagt?“

„Der Heiler, im Lazarett damals. Amboss und Esse, was ist denn los mit dir?“

Nach dieser Information konnte Marie nicht mehr sitzen bleiben, sondern tigerte in der Küche auf und ab. „Was ist, wenn er sich geirrt hat? Die Umstände in dem Lazarett haben sicher die Beurteilung verfälscht. Was ist, wenn deine Verletzung nicht so tief war, wie angenommen? Hast du morgendliche Übelkeit?“

„Nein.“

„Verhütet ihr?“

„Was tun wir?“

„Ver- ach egal, vergiss es. Hast du zugenommen in der letzten Zeit? Wird dir übel, wenn du gewissen Dinge riechst?“

Allmählich verstand Ninak, dass Marie es ernst meinte und hielt es auch nicht mehr auf ihrem Platz aus. Ihre Augen sprachen Bände, als sie näher trat, Gewissheit bei ihr suchend. „Marie, glaubst du wirklich, dass ich…?“

„Wir.“

Verständnislos blickte sie sie an.

„Wir“, wiederholte Marie und holte neuen Atem. „Ich glaube, wir sind schwanger.“

Ninak starrte zurück, sichtlich fertig mit der Welt. „Was…? W-wieso…? W-warum…?“

„Wir haben Heißhunger. Du hast keine Übelkeit. Aber ich schon. Ich habe es auf die Nervosität vor der Versammlung geschoben.“ Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr wurde Marie in ihrem Verdacht bestätigt. „Schau doch bloß, was wir hier essen.“ Anklagend zeigte sie auf die Erdnussbutter-Experimente. Mit offenem Mund hörte ihr Ninak zu, doch die Erkenntnis war noch nicht bis zu ihr vorgedrungen. „Weißt du, warum ich dich fragte, wie lange ich schon in Erebor bin? Weil ich, seitdem ich hier bin, nicht ein einziges Mal meine Blutung hatte.“

„Du meinst…?“

„Ich will keine Heilerin mehr sein, wenn ich mich irre.“ Im nächsten Moment riss Ninak sie in eine Umarmung und auch Marie klammerte sich an ihr fest. Der sichere Boden drohte jeden Augenblick unter ihren Füßen wegzubrechen. Sie hielten einander fest, um nicht zu fallen. Drei Monate.

Drei Monate war es her, dass Thorin zu ihr zurückgekehrt war und mit ihr ein paar Tage in dem Haus am Waldrand verbracht hatte.

„Ich habe immer gedacht… Oh, Marie…“

Trost und Halt geben hielt Marie sie fest, um für sie da zu sein. Sie freute sich aufrichtig für ihre Freundin, die wahrscheinlich schon viele Jahre diesen unerfüllten Wunsch gehabt hatte… und doch wurde die eigene Freude überschattet von etwas Größerem. Etwas viel Gefährlicherem.

Über Ninaks Schulter hinweg starrte sie ins Leere. Klauen streckten sich zu ihrem notdürftig geflicktem Herzen aus und lähmten es plötzlich vor Angst - nicht um sich selbst, sondern Angst um das ungeborene Leben in ihr. Marie blinzelte und versuchte, die finsteren Gedanken zu vertreiben, indem sie ihre verrücktspielenden Emotionen mit ihrem Verstand erdete. Noch war gar nichts sicher. Es war nur ein Verdacht ihrer jahrelangen Erfahrung geschuldet. Sie brauchten Gewissheit – das war sie Ninak schuldig.

„Ich könnte dich untersuchen.“ Ninak trat zurück und wischte Tränen und den Rotz am Ärmel ihres Morgenmantels ab. „Wenn du auch ähnlich weit bist wie ich, dann kann ich das feststellen“, fügte Marie als Erklärung hinzu.

„Kannst du das wirklich?“

„Ja. Aber…“

„Was aber?“

„Nur dich. Und nicht mich selber.“

Davon ließ sich ihre Euphorie nicht bremsen. „Dann suchen wir uns halt jemand, der es kann. Fällt dir jemand ein?“

„Ja, ich kenne da jemanden.“

„Na los, worauf warten wir noch?“

„Es ist mitten in der Nacht!“

„Denkst du, ich warte bis zum nächsten Tag? Komm jetzt, wir klopften ihn aus dem Bett.“

 

Unablässig bollerte Ninaks Faust gegen die Tür.

„Wir wecken noch die ganze Nachbarschaft auf.“ Vor Scham und Kälte hatte Marie den Mantel fest um ihr Nachthemd geschlungen, tippte von einem Fuß auf den anderen und schaute sich nach allen Seiten um.

„Bist du sicher, dass er hier wohnt?“

Kaum ausgesprochen öffnete sich endlich ein Fenster im Obergeschoss und ein graues Haarmonster blinzelte aus dem Schlaf gerissen auf die Straße runter. „Um Durins Willen, wer macht da so einen Radau?!“ Der Gildemeister der Heiler und Wehmütter staunte nicht schlecht, als er zwei Frauen in Morgenmänteln vor dem Tor seiner Lehrstube stehen sah.

„Meister Jora, verzeiht, dass wir Euch wecken.“

Da erkannte er Maries Stimme. Weil er befürchtete, etwas Schlimmes könnte passiert sein, rief er ihnen leise zu, dass sie auf ihn warten sollten. Er schloss das Fenster und kurze Zeit später öffnete er das Tor, noch schnell eine Jacke überziehend, um halbwegs vorzeigbar zu sein.

Die Unruhestifterinnen schlüpften ins Innere des Hauses und wurden sofort von Kopf bis Fuß gemustert. „Uns fehlt nichts“, versicherte Marie ihm. „Aber meine Freundin und ich brauchen Eure Hilfe. Es kann nicht bis zum nächsten Morgen warten.“

„Kommt mit in mein Arbeitszimmer.“ Ohne Umschweife führte Jora die Frauen von hohem Stand durch die Korridore des Gebäudes bis zu dem Raum, den Marie bereits kannte. Sie wurden hereingebeten und Meister Jora entzündete die Lampen für sie. „Also. Was ist so dringend, dass es nicht bis Morgen warten kann?“

Nun lag es an Marie, zu erklären, weshalb sie mitten in der Nacht bei ihm aufkreuzten. Sie berichtete von ihrem Verdacht und zählte für den Heiler die Fakten auf. „Ich vertraue Euch, Jora.“

Der ergraute Mann, dessen Bartschnecken als offene Strähnen an seinen Mundwinkeln runter hingen, zögerte nicht lange. „Ich verstehe. Wenn ich bitten dürfte?“ Mit ausgestreckter Hand wies er auf den hinteren Teil seines Arbeitszimmers, der von einem Vorhang abgetrennt war.

Als ihre Freundin nicht reagiert, musste Marie sie dorthin schieben. „Keine Sorge. Es ist nur etwas unangenehm.“ Hinter dem Vorhang war eine kleiner Behandlungsraum mit einer Pritsche, auf die Jora eine Decke legte, um es bequemer zu machen.

„Du zuerst“, bat Ninak, die wohl ein wenig Muffensausen bekam.

„Nein, du. Ich bleibe bei dir“, sagte Marie und erklärte ihr, was sie machen musste. Nur widerwillig legte sich Ninak auf die vorbereitete Pritsche. Der Heiler saß bereits auf einem Stuhl vor ihr und als er sie bat, die Beine anzuwinkeln und zu spreizen, bekam sie einen hochroten Kopf. Die charakterstarke Kriegerin riss sich zusammen, obwohl Marie all die wüsten Beschimpfungen in ihrem Blick sah, die sie gerne dem alten Mann an den Kopf geklatscht hätte. Stattdessen kniff sie die Augen zu und ließ alles über sich ergehen. Ihre Hand suchte die von Marie und ihre Freundin hielt sie fest, um ihr in diesen Bangen Sekunden die Treue zu halten.

Als Meister Jora fertig war und sich die Salbe von den Fingern wischte, sagte er: „Drei, vielleicht sogar vier Monate. Alles fest umschlossen. Wie eine Walnuss in der Schale. Da passiert nichts mehr.“ Ninak starrte ihn an, seine Worte zu verstehen versuchend.

Mit einem strahlenden Lächeln beugte sich Marie zu ihr. „Es ist wahr. Ninak, du bekommst ein Kind!“

Die Nachricht brachte Ninaks Dämme erneut zum Brechen. Ihre Freude war so überschwänglich, dass sie zuerst Meister Jora und dann Marie um den Hals fiel. „Ich muss es sofort Dwalin erzählen. Er wird mir das nie glauben.“

Marie belächelte ihre Reaktion. Sie freute sich für Dwalin und Ninak aus tiefstem Herzen, aber mit jeder verstreichenden Sekunde wusste sie auch, dass ihr Zeitpunkt näher rückte.

Dann war er gekommen und sie konnte es nicht länger herauszögern. Ihr Herz sprang ihr fast aus der Brust, als sie Platz nahm und ihr Nachthemd hoch schob, um Jora frei gewähren zu lassen. Obwohl er behutsam vorging, war es sehr unangenehm. Sie versuchte, nicht zu verkrampfen. Ihr Puls raste. Ihr war schwindelig. So viele Gedanken schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf.

Was ist, wenn sie sich getäuscht hatte? Was ist, wenn sie bereits zu alt war? Was ist, wenn…? Was ist, wenn nicht…?

Hibbelig wie ein kleines Kind vor dem Zuckerladen war Ninak an ihrer Seite und hielt ihr die Hand. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit bis Jora endlich fertig war. Jedes seiner Worte brannte sich für immer in ihr Gedächtnis ein und entfachte ein Feuer in ihr, was sie so noch nie verspürt hatte.

„Euer Hoheit… Ich darf auch Euch frohe Kunde überbringen. Ihr seid auch etwa drei Monate weit. Meine herzlichsten Glückwünsche.“

Ninak kreischte ihr ins Ohr und die Zeit blieb für einen ewig langen Moment stehen. Da war Freude, Glück, aber da war auch Angst und Lethargie. Da war so viel auf einmal.

Thorin. Vor ihren Augen erschien der Mann ihres Lebens und alles kam wieder in Bewegung.

Als sie die verhaltene Reaktion von ihrer Freundin bemerkte, war Ninak darüber bestürzt. „Freust du dich denn gar nicht?“

„Ich hab nur nicht damit gerechnet“, versuchte Marie zu erklären, wofür sie selber kaum Worte hatte. Immer noch lag ihre Welt in Schutt und Asche und jetzt kam auch noch ein Kind hinzu. Das machte die letzten Stunden nicht wirklich leichter.

„Wirst du es Thorin sagen?“

„Natürlich…aber nicht jetzt. Es ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt.“

„Verstehe“, murmelte ihre Freundin.

Marie rutschte von der Pritsche und richtete ihren Mantel. „Um einen letzten Gefallen muss ich Euch noch bitten, Meister Jora. Ich bitte um Eure Verschwiegenheit. Meine Schwangerschaft soll erstmal ein Geheimnis bleiben.“

„Kein Sterbenswort verlässt meine Lippen.“

Marie schenkte ihm ein Lächeln. „Ich wusste, dass ich mich auf Euch verlassen kann.“

Wenig später verließen sie und Ninak das Haus der Heiler und gingen durch das langsam erwachende Erebor. Sie trafen Nachtwächter, die die letzten Runden drehten, Soldaten, die zur Frühschicht aufbrachen. Viele Worte wechselten sie nicht. Jede von ihnen war in ihre eigenen Gedanken vertieft. Auf dem Flur der königlichen Gemächer trennten sich schließlich ihre Wege und noch einmal drückte Ninak sie an sich. „Egal, was kommen mag. Ich bin für dich da.“

 

~

 

Die Morgenröte zog langsam über die Berghänge. Durch die Schlitze der Vorhänge versuchte das allererste Licht des neuen Tages hereinzuschleichen und die Schatten der Nacht zu vertreiben.

Marie saß auf der Bettkannte und betrachtete Thorin eine lange Zeit. Sie kam nicht darum herum, diesen besonderen Mann zu berühren. Ihre Fingerspitzen schwebten über die Narbe in seinem Gesicht, über seine Wange und seinen schwarzen Bart, ohne ihn zu aufzuwecken. Ab sofort waren da nicht nur er und sie. Da war noch jemand anderes. Ein kleines Wesen unter ihrem Herzen. Ein neuer Grund, wofür es zu kämpfen galt.

Obwohl sie die ganze Nacht auf gewesen war, verspürte Marie auch jetzt keine Müdigkeit. Im Gegenteil. Der Spiegel in der Zimmerecke zog sie magisch an. Sie kam nicht darum herum, sich auszuziehen und näher an den Spiegel zu treten. Die Spuren der Trennung waren die letzten Monate über verschwunden. Ihre Rippen waren längst nicht mehr zu sehen. Sie sah gesund und gestärkt aus, ihre Rundungen waren die alten. Zielstrebig fokussierte sich ihr Blick auf ihren Bauch. War da tatsächlich schon eine kleine Wölbung ihres Unterleibs? Vielleicht, so dachte sie, bildete sie sich das auch nur ein. Durch ihre von Natur aus eher schlanke Figur würde man sicherlich schon in den nächsten Wochen mehr erkennen. Es nicht mehr verstecken können...

Mit einem Schmerz, der tief in ihre Seele vordrang, blickte Marie zurück zum Bett und zu der lauernden Gefahr, die über ihnen schwebte. Wenn Thorin von dem Baby erfuhr, so würde es unweigerlich auch Smaug. Sie würde dem Drachen ein neues Druckmittel, um Thorin in die Knie zu zwingen und seinen Willen zu brechen, förmlich auf dem Silbertablett präsentieren. Was dann passieren würde, war unvorhersehbar.

Ihre Hände legten sich unterhalb ihren Baumnabels auf ihren Körper, so sanft und achtsam, als würden sie ein Schatz unter sich waren. „Ich lass nicht zu, dass dir etwas passiert. Das verspreche ich dir.“ Thorins Geheimnis war gelüftet. Dieses kleine Wunder würde ihres sein.

 

 

26

 

 

Wie jeden Morgen erschien Tara und brachte als erstes ein Korb Feuerholz herein. An diesem Morgen jedoch wurde sie von Marie überrascht, die sich bereits fertig für den Tag machte. Ihre Herrin bat, leise zu sein und nahm sie mit ins Ankleidezimmer, wo sie ihr behilflich sein sollte. Bei der Auswahl des Kleides leuchteten die Augen des Zimmermädchens vor Begeisterung auf. Der ausgestellte Rock war mit dezenten Gräsern und Blumen in gedeckten, braunen Farben geschmückt, das Oberkleid und die geschlitzten, locker aufgebauschten Ärmel hingegen waren von einem kräftigem Gelb. Tara war hin und weg.

„Was hast du vor so früh am Morgen?“, fragte sie, während sie Marie in Sekundenschnelle die Haare genauso hochsteckte, wie auch sie sie gerne trug.

„Es gibt da noch etwas, was ich erledigen muss.“ Aufmerksam und zuvorkommend wie immer hielt Tara ihr den passenden Umhang in demselben Gelbton auf, damit sie hineinschlüpfen konnte. „Könntest du ein kleines Frühstück vorbereiten? Thorin wird, glaube ich, keinen besonders großen Hunger haben, wenn er aufwacht.“

„Schon so gut wie erledigt! Gab es gestern Abend etwas zu feiern?“

„Du weißt doch, wie Männer sind“, lautete ihre ausweichende Antwort.

Tara gluckste. „Dann bringe ich Mylord lieber auch etwas gegen Kopfschmerzen.“

An der Tür schob Marie sich die Kapuze des Umhangs über den Kopf und ließ Tara ruhigen Gewissens bei Thorin zurück. Entschlossenen Schrittes lief sie an den Soldaten vorbei, die im Vorsaal der königlichen Gemächer Wache standen. „Raik, Ihr begleitet mich.“

Der Angesprochene musste sich beeilen, um seine Herrin einzuholen. „Mylady, wohin des Weges so früh am Morgen?“

„Zu der Malerin in die Rosengasse.“

 

Zwei Pinsel auf dem Aushängeschild über ihren Köpfen zeigten, wo man Amris und Anits Atelier fand. Weil er es sich so angewöhnt hatte, wenn er mit Marie unterwegs war, trug Raik seinen Helm unter den Arm geklemmt und beobachtete mit den Augen eines Falken das morgendliche Geschehen auf den Straßen der Stadt, während er gleichzeitig seine Herrin im Blick behielt.

Diese spähte durch die Bleiglasfenster ins Innere des Ladengeschäftes. Der Geschmack von Blut ließ sie bemerken, dass sie sich die Unterlippe vor Nervosität aufgebissen hatte. Fluchend presste sie die Hand an die Stelle, um zu überprüfen, ob man es sah. Nein, zum Glück nicht. Seufzend straffte Marie die Schultern. Schluss mit dem Hinauszögern! Sie konnte nicht länger nur in den Laden spähten, ohne zu wissen, wonach sie Ausschau hielt. Sie musste es wissen, sich selbst davon überzeugen, was Thorin hier so oft wollte. Wenn diese Frau nicht seine Geliebte war, was war sie dann für ihn?

„Ich gehe allein. Wartet hier.“ Raik hielt sie nicht auf, als Marie ihren Mut zusammen nahm und die Klinke der Eingangstür runter drückte. Das Bimmeln eines kleinen Glöckchens über der Tür ließ sie zusammenzucken.

„Bin sofort da!“, flötete eine weibliche Stimme aus einem Hinterzimmer und ließ Maries Herz bis zu ihrem Hals schlagen. Die Tür fiel langsam hinter ihr ins Schloss und sie trat ein paar Schritte in den Laden. Er war von überschaubarer Größe, nah an den Fenstern waren Gemälde auf hölzernen Ständern platziert, damit man auch von der Straße einen Blick auf sie werfen konnte. Andere waren aufgereiht im Raum und an den Wänden zu bestaunen. Viele Spiegellampen versuchten die Bilder unter Tage im besten Licht zu präsentieren. Eine kleine Sitzecke lud zu Gesprächen mit Kunden ein, während daneben eine Treppe ins Obergeschoss führte. Ihre Neugierde überwiegte. Marie trat an ein Bild im opulenten Rahmen, was den schneebedeckten Einsamen Berg im Sonnenuntergang zeigte, und staunte über die realistischen Pinselstriche und wie die goldgelben Farben des Himmels vom Schnee eingefangen wurden.

„Zu Euren Diensten, verehrte Dame. Was kann ich für Euch tun?“

Marie fuhr zu der Frau herum, die hinter ihr stand. Sie war jünger als sie selbst und trug über ihrem Kleid eine Schürze, die voller Farbklecke und Striche war. Augenscheinlich war sie gerade am Arbeiten gewesen, ihre Ärmel waren noch hochgekrempelt. Neben Sommersprossen auf ihrer, für Zwergenfrauen ungewöhnlichen Stupsnase und Wangen hatte sie einen roten Strich am Kinn. Ihre Barthaare waren hauchfein, ihr braunes, halblanges Haar hochgesteckt. Nur ein Zöpfchen, in das eine blonde Strähne hineingearbeitet und mit einer roten Holzperle beschwert war, schaute heraus. Ihre goldbraunen Augen strahlten ihr, einer potenziellen Kundin entgegen. Ihre Schönheit machte es Marie nicht leichter, keinen Groll über sie zu hegen. „Seid Ihr Amris?“, fragte sie ebenfalls auf Khuzdul.

„Die bin ich. Wer möchte das wissen?“ Marie schlug ihre Kapuze zurück und fixierte sie mit festem Blick. Überraschung und Verunsicherung waren Amris ins Gesicht geschrieben. „Euer Hoheit…“, sich an ihre Manieren erinnernd fiel sie in einen so tiefen Knicks, dass sie bis fast auf die Dielen nieder sank.

„Ich habe ein paar Fragen an Euch, auf die ich Antworten will.“ Plötzlich war Maries Stimme gefährlich am Beben. Sie musste gegen den Zorn atmen, den diese Frau in diesem Moment in ihr auslöste. „Was habt Ihr mit meinem Verlobten zu schaffen?“

Ihre Direktheit verschlug Amris für einige Augenblicke die Sprache. Mit einer Mischung aus Unbehagen und Panik starrte sie Marie an und suchte nach Worten, die ihr offenbar fehlten. „Mylady, ich weiß nicht, worauf Ihr hinauswollt…“

„Ich glaube, dass wisst Ihr ganz genau. Mein Verlobter war bei Euch und das mehrfach. Also hört auf, mich für dumm zu verkaufen.“ Härter als beabsichtigt war ihr Ton, geschürt durch die Angst, hinter ihren schlimmsten Befürchtungen könnte tatsächlich etwas Wahres stecken. Amris versuchte in ihrem Blick zu lesen, wie viel Marie wusste oder ob es nur geblufft war, bis sie einsehen musste, dass sie so nicht weiterkam. Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Vorhang fallen zu lassen.

Ihr Blick ging zu Boden, ihre Schultern sackten nieder. „Ich werde Euch alles erklären. Aber nicht hier.“ Sie ging zur Ladentür, um sie abzuschließen.

Als Raik dies sah, kam er alarmiert näher. Marie hob die Hand, um ihren Beschützer zu signalisieren, dass alles in Ordnung war. Daraufhin nickte er und zog sich wieder zurück.

„Euer Begleiter und Ihr habt nichts zu befürchten“, bemerkte die Malerin kalt und abgeklärt und ging voran. Mit klopfendem Herzen folgte Marie ihr ins Obergeschoss. Dort öffnete sich ein geräumiger Wohnraum, in dem auch die Küche untergebracht war.

„Wen bringt du da mit, Amris?“

In einem Sessel saß eine junge Frau und war am Stricken. Marie wunderte sich. Irgendetwas stimmte an dem Bild nicht. Die kleine Blondine hatte den Blick nicht auf die Stricknadeln in ihren flinken Fingern gerichtet, die in Rekordtempo eine Masche nach der anderen aufnahmen, sondern sah geradeaus die Wand an.

„Marie aus Kerrt.“

Mit dieser Antwort hätte wahrscheinlich niemand in Erebor dieser Tage gerechnet. Anit drehte ihnen das Gesicht entgegen und Marie sah die milchige Färbung ihrer Pupillen. Mit Bestürzung realisierte sie, dass diese junge Frau dort völlig blind sein musste.

Als sie begriff, dass ihre Schwester keine Scherze machte, erhob sich Anit eilig.

„Bitte, bleibt sitzen. Das ist nicht nötig.“ Den Umständen geschuldet war es Marie plötzlich schrecklich unangenehm hier in diesem Haus zu stehen. Sie fühlte sich wie ein Eindringling, der vor hatte, nichts als Unruhe zu stiften.

„Mylady…also das nenne ich eine Überraschung.“ Vor Begeisterung wrangen ihre Hände das Nähzeug und das gestrickte Teil. „Hätte ich das gewusst, hätte ich…“

Amris beendete ihr Stammeln. „Eure Hoheit, das ist meine Schwester Anit. Sie ist mit mir zusammen aus den Blauen Bergen gekommen.“

„Es ist mir eine Ehre Euch kennenzulernen. Ich hab schon so viel von Euch gehört!“ Hätte Anit sehen können, hätte sie das verkrampfte Lächeln ihres Gastes wahrgenommen. Wie Amris eine blonde Strähne in ihrem Haar trug, so trug Anit eine braune Strähne mit einer blauen Holzperle in dem ihren. Unübersehbar verband diese Schwestern weit mehr als ihr gleiches Blut.

„Verzeiht mir, dass ich am frühen Morgen bei Euch unangemeldet vorbeikomme“, Marie besann sich zurück auf den Grund, weshalb sie hier war, „aber ich habe etwas Wichtiges mit Eurer Schwester zu klären.“

Sie musste es an ihrem Ton gemerkt haben. Anits Mundwinkel fielen wie Laub im Herbst. „Oh. Dann werd´ ich mal…“

„Nein, bleib“, entschied ihre Schwester. „Es gibt nichts, was du nicht auch weißt.“ Amris wies auf das Sofa in der Raummitte. Marie setzte sich auf den angebotenen Platz. Die Malerin selbst nahm am äußersten Ende des Sofas Platz, aus Respekt, vielleicht aber auch, weil sie befürchtete, Marie könnte ihr im Gesprächsverlauf noch an die Gurgel gehen.

Um die peinliche Stille gar nicht erst eintreten zu lassen, begann sie fast augenblicklich. „Es stimmt. Thorin war in den letzten Wochen regelmäßig hier.“

Diese Information hatte Marie bereits von Raik bekommen. Es war das, was sie zwischen den Zeilen las, was sie beunruhigte. „Ich will die ganze Wahrheit“, forderte sie und startete einen Angriff, um die Fremde aus der Deckung zu locken. „Man sagt über Euch, dass ihr eine Hure wart.“

„Dieses Leben habe ich hinter mir gelassen“, antwortete Amris eisenhart und blickte sie finster an. „Aber ja, auch das stimmt. Viele Jahre habe ich in den Blauen Bergen als solche gearbeitet. In dieser Zeit habe ich Thorin kennengelernt.“ Der Konter hatte gesessen.

In Maries Adern gefror das Blut. Sag es nicht…. Sag es bitte nicht… Amris tat ihr den Gefallen nicht.

„Er war mein Freier gewesen.“

Der Schmerz war überwältigend. Er brach über sie herein wie eine Tsunamiwelle und stellte ihre Gefühle erneut in kürzester Zeit auf den Kopf. Marie konnte es nicht mehr ertragen, dieser Frau in die Augen zu schauen. Einem Instinkt nach legte sie die Hand schützend über ihren Bauch. Als sie sich ihrer unbedachten Reaktion besann, nahm Marie sich zusammen und versuchte weiterhin krampfhaft, ihre Gefühle zu verbergen.

„Ich habe ihn auf einer dunklen Gasse das erste Mal getroffen. Er war damals dem Alkohol verfallen. Ich hoffe, das ist nicht neu für Euch.“ Amris Worte drangen kaum bis zu ihr vor, obwohl sie das tun sollten. Marie musste sich mit aller Macht konzentrieren.

„Seine Welt war grau und trostlos, er hatte weder Ziele noch den Glauben an glückliche Zeiten. Er hat einen Ort gebraucht, an dem er seine Vergangenheit und die Gegenwart ruhen lassen konnte. Ich habe ihn mit in mein Zimmer genommen und gab ihm diesen Ort. Anfangs geschah es gegen seinen Willen, doch dann ließ er es zu.“

„Ihr habt ihn verführt.“

„Ja.“

Ihre Offenheit fachte ihren Zorn nur noch mehr an. „Wieso?“

„Weil ich ihm helfen wollte.“

So einfach lautete ihre Antwort und so einfach war es für Marie, Hass für diese Frau zu empfinden. Die dazugehörigen Bilder in ihrem Kopf waren kaum auszuhalten.

„Danach sah und hörte ich ein paar Tage nichts mehr von ihm, bis ich ihn unweit einer Kneipe einsammelte. Er lag in der Gosse, in seinem eigenen Erbrochenem. Er hatte sich geprügelt und ich nahm ihn mit ins Bordell, um seine Wunden zu versorgen. Die auf seinem Körper und die in seiner Seele. Alles, was zwischen uns war, war nur körperlich. Es war nie mehr als das gewesen. Es war nie Liebe.“

Ihre Wut wurde durchlöchert von einem anderen Gedanken, der mehr und mehr sich in den Vordergrund schob. Marie erschrak über sich selbst, dass sie diesen Hass in so einer Intensität zugelassen hatte, als sie begann, sich selbst zu hinterfragen. Was hatte sie Thorin vorzuwerfen? Das, was Amris erzählte war Jahre her. Zu dem Zeitpunkt waren sie längst kein Paar mehr. Nach dem Drachenangriff hatten sie nichts mehr voneinander gesehen oder gehört. Er hatte keine Verpflichtungen ihr gegenüber mehr gehabt. Was auch andersherum für sie galt. War Greg etwas anderes als Amris gewesen? Vielleicht waren da tiefgründigere Gefühle gewesen, aber vielmehr auch nicht. Ihr Zorn auf diese Frau verpuffte nicht gänzlich, aber er wurde weniger.

Wortlos stand Amris auf einmal auf und ging in ein angrenzendes Zimmer. Marie sah ihr nach.

„Ich habe zwar mein Augenlicht verloren, doch Eure Enttäuschung kann selbst ich sehen, Mylady“, sprach Anit, als sie unter sich waren. „Ich bürge für meine Schwester. Alles, was sie sagt, ist die Wahrheit.“

Marie schluckte, um das Engegefühl in ihrem Hals loszuwerden. „Nur ist sie manchmal schwer zu ertragen.“

„Zu Wahrheit gehört auch immer Mut. Es zeugt von großem Mut und Entschlossenheit, dass Ihr hierhergekommen seid.“

Ehe Marie etwas erwidern konnte, kam Amris zurück und hatte etwas dabei. Irritiert musterte sie die graue Mappe, die sie ihr hinhielt. „Was ist das?“

„Seht selbst.“

Mit einem mulmigen Gefühl nahm Marie sie entgegen und öffnete sie.

„Die habe ich gemacht, als er bei mir war.“

Ihr Herz geriet gefährlich aus dem Takt, als sie die Zeichnungen sah. Behutsam schob sie die Papierseiten auseinander und wurde machtlos in ihren Bann gezogen. Sie blickte ihrem Verlobten in die Augen, so echt als stünde er leibhaftig vor ihr. Sie sah ihn nackt auf dem Bauch liegen und schlafen. Jeder Faltenwurf des zerwühlten Bettes war erkennbar. Es war das letzte Bild, welches ihr den Atem raubte. Am Kopfteil eines Bettes lehnend war er gezeichnet bis zum Nabel, die Arme über ihm auf die Kissen gelegt blickte er dem Betrachter entgegen.

„Die Stunden bei mir taten ihm gut“, hörte sie Amris Stimme aus weiter Ferne sprechen, „doch es war kein Ende zu sehen. Er schaffte es nicht alleine, dem Alkohol zu entsagen, wurde träge und gab auf, etwas an seiner Situation ändern zu wollen. Er war seines Lebens überdrüssig wie ein alter Mann. Ich konnte nicht länger seine Untätigkeit ertragen und setzte ihn vor der Tür. Es war an der Zeit, dass er eine Entscheidung traf. Er ging und kam nie wieder. Einige Tage später erfuhr ich, dass er mit den Kindern geflohen war, als man sie von ihm trennen wollte. Die Jahre vergingen. Ich kehrte dem Bordell den Rücken und erfüllte mir meinen Traum, Malerin zu werden. Als sich die Kunde verbreitete, Erebor sei frei, zögerten wir keine Sekunde, um hier ein neues Leben zu beginnen.“ Auf Amris Gesicht erschien ein Lächeln und in ihren Augen leuchtete ein goldener Schimmer. „Als ich Thorin wiedersah, war sofort die alte Vertrautheit da. Ihr hättet seine Freude sehen sollen, als er erfuhr, dass ich in Erebor eine Werkstatt eröffnet habe.“ Sie rückte ein Stück nach vorne und beugte sich zu Marie, um ihre Worte zu unterstreichen. „Euer Hoheit, Thorin und ich sind Freunde. Ich hatte nie auch nur ansatzweise die Absicht, Euch auseinander zu bringen oder Euch etwas Schlechtes zu wünschen. Ich habe mein eigenes Leben. Wenn ihr dachtet, Thorin würde Euch mit mir betrügen, so habt Ihr Euch getäuscht.“

Reue breitete sich mit schwerem Gewicht auf ihrem Körper aus. „Ihr habt Recht“, sagte Marie. „Ich habe mich in Euch getäuscht.“ Sie wollte ihr die Mappe zurückgeben, doch Amris lehnte ab.

„Es steht mir nicht zu, sie länger zu behalten. Nehmt sie an Euch und verwahrt sie gut.“

„Ich kann die nicht annehmen!“, widersprach Marie, erschrocken von dieser Geste.

„Sie gehören Euch. Thorin gehört Euch.“

Ihre Worte waren voller Güte und schmerzten gleichzeitig. „Amris…ich…“

„Entschuldigung angenommen.“ Die Welt wurde auf einmal heller, freundlicher, als Amris Lächeln alles überstrahlte. Von Maries Schultern fiel ein Felsmassiv. „Wenn ihr wirklich wissen wollt, wieso Euer Verlobter bei mir war, dann folgt mir.“ Erneut stand Amris auf und überließ es diesmal Marie, ihr zu folgen. Zögernd sah sie zu Anit. Diese musste es bemerkt haben, denn sie nickte ihr aufmunternd zu. Nun war es Neugierde, die Marie antrieb, der Malerin hinunter in den Laden zu folgen. Sie gingen in den Nebenraum, der offenbar ihre Werkstatt war. Der Dielenboden war mit Farbsprenkeln bedeckt und überall standen Utensilien und unfertige Leinwände. Von einem weißen Tuch verhüllt thronte ein Bild von gigantischen Ausmaßen in der Mitte des Raumes. Es stand auf einem Stativ, doch alleine durch seine Maße war es riesig.

Zu genau diesem Gemälde ging Amris, stellte sie auf die Zehenspitzen und schlug behutsam das Tuch zurück. „Es sollte ein Hochzeitsgeschenk werden.“ Der weiße Stoff fiel zu Boden und Marie klappte sehr unköniglich der Mund auf. Ein wenig Stolz stemmte Amris die Hände in die Taille und genoss ihre Staunen. Marie starrte auf die abgebildete Frau, die aussah, wie sie selber. Doch das konnte sie unmöglich sein. Diese Frau dort war eine Göttin! Es war unheimlich und wunderschön zugleich. Sie trug das rote Kleid, welches sie auf dem Fest getragen hatte. Ihr kastanienbraunes Haar umspielte ihre Schultern. Sie war bis zum Bauch gezeichnet, es sah aus, als würde sie sitzen. Zwischen ihren Fingerspitzen hielt sie eine rote Rose. Es machte den Anschein, als habe sie gerade die Rose betrachtet und in dieser Sekunde zum Betrachter aufgeblickt. In den Iriden ihrer Augen tummelten sich die außergewöhnlichsten Grüntöne. Durch die Größe des Gemäldes konnte man von Nahem ausgearbeiteten Details sehen. Auf ihrem Haar lag ein goldener Schimmer, die Steinchen auf dem Kleid funkelten. Seit wann waren ihre Augen so grün? War ihre Haut wirklich so rein? War das tatsächlich sie?

„Ihr.“ Marie drehte sich verblüfft zu der Malerin um. „Die Frau oben auf der Empore, die uns beobachtet hatte. Das wart Ihr gewesen.“ Amris zog die Schultern bis zu den Ohren und grinste. „Wie habt Ihr…?“

„Ich kann mir Dinge sehr gut merken“, lautete ihre Erklärung. „Details sind auch nach mehreren Tagen kein Problem für mich. Das lieben meine Kunden.“

„Ihr habt mich schöner gemacht.“

Amris lachte. „Das brauchte ich gar nicht. Ich habe Euch so gemalt, wie Ihr seid.“

„Unmöglich…“ Sie war verführt, die Hand danach auszustrecken und dieses Kunstwerk zu berühren. Als hätte sie ihr Vorhaben von ihren Gedanken abgelesen, hielt Amris sie davon ab.

„Nicht anfassen! Die Farbe ist noch feucht.“ Sie machte sich daran, das Tuch wieder darüber zu schmeißen. „Es ist noch nicht fertig.“

„Soll das ein Witz sein? Es ist so wunderschön.“

„Für eine Hure gar nicht mal so übel, was?“

Marie musste erkennen, dass sie ihr Unrecht getan hatte. Aufrichtig war ihre Entschuldigung, als sie sagte: „Verzeiht mir, Amris. Euch zu verurteilen, war nicht richtig von mir.“

„Das bin ich gewöhnt. Keine Umstände.“

„Nein, ich muss mich wirklich entschuldigen. Ich hatte Angst, dass ich Thorin an eine andere verloren habe. Tut mir leid. Ich danke Euch für das Bild. Es ist unglaublich schön. Aber ich verdanke Euch noch viel mehr. Danke, dass Ihr für Thorin da gewesen wart, Amris. Ich bin froh, dass eure Wege sich gekreuzt haben.“

Amis suchte nach Worten. Schließlich nickte sie einfach nur und ein Lächeln zierte ihr hübsches Gesicht. „Ihr könnt Euch glücklich schätzen, Mylady. Er ist der außergewöhnlichste Mann, der mir je begegnet ist. Und das soll schon was heißen.“ Über ihren flapsigen Scherz mussten beide lächeln.

Als die Frauen vor dem Laden auftauchten, trat Raik näher, um seine Herrin im Empfang zu nehmen.

„Wenn auch andere Umstände schöner gewesen wären, so freue ich mich, Euch kennengelernt zu haben“, wandte sich Marie auf der Straße noch einmal an sie.

„Es war mir eine Ehre, Euer Hoheit. Ich gebe sofort Bescheid, wenn das Bild fertig ist.“

Marie lächelte. „Ich kann es kaum erwarten. Lebt wohl, Amris.“

Ein letztes Mal verneigte sie sich. „Mylady.“ Lange blieb die Malerin aus den Blauen Bergen vor ihrem Ladengeschäft stehen und sah ihr und dem Soldaten nach.

Als sie die Rosengasse hinunter gingen, amtete Marie tief durch, die Mappe mit den Zeichnungen fest an sich gedrückt, während sie ihren Schatten Raik an ihrer Seite wusste. Ihr Herz war leicht zurück durch die Stadt, doch beim ersten Treppenhaus, spürte sie den fehlenden Schlaf und welch Kraft die letzten Minuten gekostet hatten. Raik trat an ihre Seite und bot ihr seinen Ellenbogen an. Dankend blickte sie zu ihm auf und harkte sich bei ihrem Beschützer ein.

 

~

 

„Sie ist nicht fort, Mylord! Wie oft soll ich das denn noch sagen? Sie ist bestimmt jeden Moment wieder da.“

Den Kopf in die Hände gestützt hypnotisierte er das lächerlich kleine Brötchen auf dem Teller vor sich, wovon er nur einmal abgebissen hatte, und beschwor seinem Schädel, endlich mit dem Drehen aufzuhören. Wenn er noch einen Bissen von diesem mehligem Etwas nehmen musste, würde er Tara vor die Füße kotzen. Vielleicht würde sie ja dann aufhören auf ihn einzureden…

Als hätte sie seinen Wunsch gehört, verstummte ihr Plappern. Thorin blickte auf. In dieser Sekunde knallte ein Donnerschlag durch seinen Körper. In einem hellen Kleid mit einem ungewöhnlich kräftigem Gelbton stand Marie in der Diele und schaute ihn an.

„Seht Ihr, da ist sie. Hab ich es Euch nicht gesagt?“

Die Worte von Tara kamen nicht dort an, wo sie sollten. Thorin, der am Kopfende des Esstisches saß, starrte Marie an, als wäre sie eine Traumgestalt. Sie ist immer noch hier. Im selben Moment war er zutiefst erleichtert darüber, aber auch erschüttert über die Entscheidung, die sie gefällt hatte.

Von innerer Ruhe erfüllt entledigte sich die Heimgekehrte ihren Umhang an der Garderobe, schlüpfte aus den Schuhen und trat näher. Thorin erhob sich, den Kopf gesenkt, die Augen groß und voller Unsicherheit. Obwohl er mehrere Stunden geschlafen hatte, wirkte er keinesfalls ausgeruht. Seine Gesichtsfarbe war aschfahl, Schatten lagen unter seinen Augen, sein Bart wirkte struppig und genauso ungepflegt wie seine Haare. Er trug nur eine Hose und die Narben zeichneten sich bleich auf seinem Körper ab.

„Du bist hier?“, wisperte er fassungslos.

„Wo sollte ich sein, wenn nicht hier?“

„Du hast deine Sachen gepackt.“

Taras Kopf schoss hoch. Die nichtsahnende Zofe sah zwischen ihrem Herrn und ihrer Herrin hin und her.

Letztere reagierte sofort. „Tara, würdest du uns bitte allein lassen?“

Sich der Situation bewusstwerdend fuhr Thorin mit beiden Händen durch sein Haar und sank zurück auf den Stuhl. Weil sie spürte, gerade unfreiwillig in eine brenzlige Situation geraten zu sein, verlor Tara keine Zeit, von der Bildfläche zu verschwinden.

Als die Tür ins Schloss glitt, waren sie wieder allein, zurück auf ihrem ganz persönlichen Schlachtfeld. Die Luft wurde so dick, dass man sie mit einem Schwert hätte schneiden können. Bevor einer von ihnen dazu genötigt wurde, den Anfang zu machen, tat Marie etwas, womit er nicht gerechnet hatte: sie warf ihm eine graue Mappe auf den Tisch.

„Was ist das?“ Ihr Schweigen konnte er nicht deuten, doch als er das Mitbringsel aufschlug und die Zeichnungen erkannte, verlangsamte sich alles in ihm. Ungläubig sah er auf die Skizzen und auf den dort abgebildeten Mann. Es war lange her, seit er diese Bilder das letzte Mal gesehen hatte. Thorin schluckte an seiner staubtrockenen Kehle. „Woher hast du die?“

„Von Amris.“

Wenn man mit einer Antwort gerechnet hatte und sie gleichzeitig aber nicht hören wollte, so war es diese hier. Die Frage, ob Marie bei ihr war, erübrigte sich. Er konnte es an dem gefährlichen Schimmern in ihren Augen sehen.

Der Seufzer einer Entschlossenen kam über ihre Lippen, als sie nach dem Stuhl fasste, ihn zurück zog und sich zu seiner Linken setzte. Obwohl sie nur ein halben Meter trennte, war die Entfernung nie größer zwischen ihnen. „Du brauchst es nicht zu erklären. Ich weiß über eure Vergangenheit Bescheid. Amris hat mir alles erzählt.“

„Alles?“

„Alles.“ Er fasste sich an die Stirn. Wie es dahinter aussehen musste nach drei bis vier Flaschen hochprozentigem Schnaps, konnte Marie sich unschwer ausmalen.

„Du musst jetzt das Schlechteste von mir denken.“

„Ich war nicht gerade erfreut, lass es mich mal so sagen. Aber ich akzeptiere es…und bin dankbar...“ Sein Kopf ruckte hoch. Irritiert sah er sie an. „Dass sie bei dir war in dieser Zeit, meine ich. Und ja: ich war wütend auf dich und auf diese fremde Frau, sogar sehr wütend. Ich hätte ihr am liebsten den Hals umgedreht, als sie vor mir stand. Aber dann erzählte sie von damals und ich begriff mehr und mehr, dass ich mich irrte und welche Bedeutung sie für dich gehabt haben musste.“

Thorin blickte zurück auf die Zeichnungen in seinen Händen und erlaubte den Erinnerungen für einen kurzen Moment zurückzukehren, als Amris sein sicherer Hafen inmitten all der Trostlosigkeit war. Dankbarkeit war auch das, was er empfand für das Mädchen von der Straße, das ihn nicht aufgeben wollte als andere es schon getan hatten. „Wie hast du es erfahren?“

Die Antwort kam nur zögerlich. „Ein Soldat namens Raik hat mir täglich Meldung gegeben, was du gemacht hast und wo du warst“, gestand sie. „Eine heimliche Berichterstattung sozusagen. Er tat es auf meinen Befehl hin.“

Er konnte es nicht fassen, von ihr ausspioniert worden zu sein. Doch eigentlich überraschte es ihn nicht, dass Marie nichts unversucht lassen würde, um hinter sein Geheimnis zu kommen. „Klug von dir.“ Das musste er ihr eingestehen. „Und weil ich ein paar Mal bei Amris in der Werkstatt war, dachtest du, ich würde dich betrügen?“

„Es passte irgendwie alles zusammen. Dein Verhalten in letzter Zeit…“ Als wäre dies Erklärung genug, zuckte sie mit den Schultern. „Die Tatsache, dass dein Begleitschutz nie eintreten durfte, und die Gerüchte über Amris taten ihr übriges.“

Thorin blies die Luft aus den Lungen. Auch Marie wirkte müde und erschlagen. Dabei war das nur ein kleiner Teil der Wahrheit gewesen. Ein derber Fluch lag auf seiner Zunge. Bereits gestern Abend vor der Zimmertür, auf Knien bettelnd hatte ihr alles gestanden und doch schien es so, also läge sein Geheimnis immer noch auf seinen Schultern und zwang ihn nieder. Schon seit er wach war, war von Smaug weder etwas zu hören noch zu spüren. Die Stille beunruhigte ihn. War der Drache tatsächlich durch den übermäßigen Alkohol außer Gefecht gesetzt oder schaute er ihm einfach nur gerade genüsslich bei der Selbstzerstörung zu? Was es auch war, eines stand fest: es war die Ruhe vor dem näherkommenden Sturm.

Gerade wollte Thorin zu einem erneuten Erklärungsversuch ansetzen, da schob sich langsam eine Hand über den Tisch. Zaghaft legte Marie ihre Hand auf seine. Die sanfte Berührung ging durch seine Haut, direkt in sein Herz und ließ etwas darin explodieren. Ihre Worte waren wie Balsam. „Wie geht es dir, Liebling?“

Nicht nur, dass sie ihm diese einfache Frage stellte. Er glaubte auch, sich verhört zu haben. Wieso nannte sie ihn so? Bei Durin, warum war sie immer noch hier? Wollte sie allen Ernstes einfach so weitermachen wie bisher? Warum suchte sie nicht ihr Heil in der Flucht? Die Vorstellung, sie sitzt mit ihrem zukünftigem Mörder an einem Tisch, war grotesk. Warum fürchtete sie sich nicht vor ihm?

„Wieso hast du das getan, dich so zu betrinken?“, fragte sie mit leiser, einfühlsamer Stimme. „Wolltest du dich umbringen?“

Obwohl er diesen Gedanken in letzter Zeit tatsächlich niederzwingen musste, schüttelte Thorin den Kopf. Weil er nicht wollte, dass dieser Moment verging, ergriff er ihre Hand und hielt sie fest umschlossen, aus Angst, dies könnte die letzte Gelegenheit in seinem Leben sein.

„Deine Jungs hatten große Sorge um dich. Und ich auch. Ich hatte Angst, du könntest dir etwas antun.“ Der Ausdruck ihrer Augen und ihr Geständnis waren unerträglich.

„Er hat nicht aufgehört“, flüsterte Thorin und wusste, dass er den Dämon damit erneut heraufbeschwört. „Ich wusste mir nicht anders zu helfen.“

„Smaug“, sprach sie den Namen der Bestie aus. Er befleckte ihre reinen Lippen und verbreitete wie schon seit Jahrhunderten Unheil und Schrecken in den Herzen all jener, die ihn hörten.

„Ja“, raunte Thorin, „er befahl mir, dich umzubringen.“

Marie schluckte hart. Ihre freie Hand verschwand unter dem Tisch und sie atmete hörbar ein. „Bilbo hat mir alles erzählt“, sprach sie. „Über die Tage, die ihr in Erebor verbracht habt. Wie du dich verändert hast. Was Smaug, mit dir gemacht hat…“

Graue Augen versuchten konzentriert ihren Blick einzufangen. „Verstehst du jetzt, wieso ich es dir verheimlicht habe? Ich habe mich von dir distanziert, weil ich Smaug von dir fernhalten musste, damit er dir nichts antun konnte. Alles, was ich jemals wollte, war dich zu schützen, Marie.“

„Aber wie soll Smaug mir Schaden zufügen?“, fragte sie ungläubig und fuchtelte in der Luft herum, um ihre Worte zu unterstreichen. „Es ist...doch nur sein Geist.“

„Durch mich“, lautete die glasklare Antwort. „Er manipuliert meine Gedanken und Gefühle und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er auch meinen Körper kontrollieren kann und ihn für sich nutzt. Beinahe hätte er es schon geschafft. Du warst dabei, Marie. Du hast den Drachen gesehen.“ Der Unglauben stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sprachlos öffnete sich ihr Mund und Thorin fügte hinzu: „Auf dem Fest. In der Kammer.“

Eiskalt kroch ein Schauer ihr das Rückgrat empor. Plötzlich sah sie wieder das unnatürliche silberne Glühen seiner Augen ganz nah über ihr und wieder spürte sie, wie das Grummeln, was tief aus seinem Körper kam, ihre Lunge zum Vibrieren brachte. Es war das Knurren eines Drachen gewesen. Er hatte sie berührt, an ihr gerochen… Seine Hitze, seine Gier. Rette mich.

Marie starrte ihn an und Thorin schüttelte unglücklich den Kopf. „Das war nicht länger ich. Smaug stand dir gegenüber. Er war so nah… Ich konnte ihn nicht…“

Das flaue Gefühl im Hals runterschluckend nahm Marie sich zusammen. Sie musste das erst einmal verarbeiten, musste die ganze Sache ganz nüchtern betrachten. „Was hat Smaug vor? Abgesehen davon, mich zu töten.“

„Erebors Schatz, der Arkenstein… das ist ihm nicht genug. Er will das mächtigste und reichste Wesen von ganz Mittelerde werden.“

„Wie will er das schaffen?“

„Auf der Versammlung der Sieben hat er mir eingeredet, die anderen Reiche anzugreifen, die Könige zu töten und ihre Schätze an mich zu reißen. Ich soll Unruhen unter meinem Volk stiften und die Königshäuser gegeneinander ausspielen, sie gegeneinander aufhetzen. Er will, dass es zu Kriegen unter den Zwergen kommt. Die Sieben Reiche und all ihre Schätze sollen unter seine Herrschaft fallen. All das kann er jedoch nicht alleine tun, da seine Seele seinen Körper verlassen hat. Er braucht mich für seine Pläne und hat mir schon mehrmals ein Bündnis angeboten. Aber ich habe es immer ausgeschlagen und versucht, ihn zu ignorieren. Ignoriere niemals einen Drachen, mell nin. Smaug hat mir das mehr als deutlich gemacht. Seit Wochen versucht er jeden Trick, um mich zu brechen. Er hat es auf meine Schwachstelle abgesehen.“

„Welche?“

„Du, Marie.“

Die Erkenntnis schlug ein wie ein Blitz und machten ihr von Neuem deutlich, welchen nicht enden wollenden Albtraum Thorin schon so lange alleine bewältigen versuchte. Es war ein wunderschönes und zugleich auch verheerendes Geständnis. Ihre Instinkte schlugen Alarm. Smaug darf niemals von dem Baby erfahren, schoss es ihr erneut durch den Kopf. Aus Angst, Thorin oder Smaug selbst könnten in diesem Moment ihren Gedanken erraten, versuchte sie, ihren rasenden Puls und ihren Atem zu kontrollieren. Ohne es verhindern zu können, kehrte die Furcht um das ungeborene Leben in ihr zurück.

„Ich habe dich sterben gesehen, mell nin. Durch meine Hand. Auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn eine Klinge dein Fleisch durchstößt. Ich habe gehört, wie dir der Atem stockt. Ich kenne den Geschmack deines Blutes, habe die Todesangst in deinen Augen gesehen. Du schwebst in so großer Gefahr und das nur durch mich.“

Marie schöpfte neuen Atem für eine Frage, vor dessen Antwort sie sich fürchtete. „Glaubst du wirklich, Smaug wird eines Tages so mächtig, dass du...nicht mehr du selbst bist?“

Die Stimme ihres Gegenübers war eiskalt und abgeklärt: „Es ist nicht mehr eine Frage des Obs, sondern nur noch eine Frage des Wann. Sollte dieser Tag kommen, dann gibt es keine Hoffnung mehr.“

„Wir dürfen es nicht so weit kommen lassen!“, widersprach sie energisch. Plötzlich änderte sich der Ausdruck in dem ihr so vertrauten Gesicht. Kälte und Resignation strömten ihr entgegen und machten ihr klar, dass Thorins Kampfgeist die letzten Monate über bereits sehr gelitten hatte.

„Ja“, sprach er. „Deswegen wirst du Erebor noch heute verlassen.“

In kürzester Zeit legten seine Worte erneut alles in ihr lahm. Fassungslos starrte Marie ihn an. „Ist das dein Ernst?“

„Du bist nicht sicher in meiner Nähe.“ Thorin ließ ihre Hand los und erhob sich. „Pack deine Sachen. Nimm alles mit, was du möchtest. Du bekommst so viel Gold, dass du dir ein neues Leben aufbauen kannst. Dwalin wird dich zurück nach Kerrt bringen.“

Sie hielt es ebenfalls nicht mehr auf dem Stuhl aus und hielt ihm mit funkelndem Blick stand. „Ich werde nicht gehen!“

Thorin verlor die Beherrschung. „Ich kann dich nicht mehr beschützen, Marie!“ Seine aufgeladene Stimme donnerte ihr entgegen. In seinen Augen begann es zu schwimmen und ihr Herz brach erneut.

„Ich werde dich nicht allein lassen!“, schrie sie zurück. Das konnte er nicht mit ihr machen! Zu allem entschlossen überwand sie die von ihm geschaffene Distanz und baute sich Zentimeter vor seiner Brust auf, starrte zu ihm empor, während der Orkan in ihrem Inneren ihr die Tränen in die Augen trieb. „Ich habe in den letzten Stunden mehr durchgemacht als du dir je vorstellen kannst! Und jetzt sagst du einfach, ich soll verschwinden?! Wenn du denkst, ich überlasse Smaug kampflos meinen Mann, dann weißt du nicht, was Liebe ist!!“

„Liebe?“ Lautlos fiel eine Träne. „Wie kannst du nach all dem immer noch von Liebe sprechen?“

Schluchzend legte sie die Hände auf seine Brust. „Weil ich dich liebe.“ Seine Lippen formulierten ihren Namen. Ganz leis. Ganz zerbrechlich.

Er war ein Wrack, von tosendem Sturm umgeben, inmitten hoher See. Und auf einmal war da ein Licht am Horizont. Ein Leichtturm und ein Licht.

Ihr Körper wurden voneinander angezogen und der Krieger nahm ihr Gesicht behutsam in seine Hände. Raue Finger fuhren über ihre Wangen, über ihr Kinn, ihre Stirn. Marie schloss die Augen und schmolz unter seinen Berührungen dahin, während sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Zu viel war geschehen…

Jeden Millimeter sich einprägend und heilig sprechend kam er ihr ganz nah. „Ich bitte dich nicht um Verzeihung, denn ich weiß, dass du mir nie dafür verzeihen kannst. Ich wollte nicht, dass du das Monster in mir siehst.“

Seine Verzweiflung ging ihr durch Mark und Bein. Marie betrachtete den Mann, dem seit so vielen Jahren ihr Herz gehörte. „Du bist kein Monster“, wisperte sie, griff in seinen Nacken, hielt ihn bei sich. „Du bist kein Monster, hörst du?“

Auch Thorin konnte seine Gefühlen nicht mehr zurückhalten. Immer noch hielt er ihr Gesicht in beiden Händen, als könnte er nicht glauben, sie nach all dem bei sich zu haben. Der Wunsch, sie zu küssen, wurde übermächtig und wie von selbst senkte sich sein Kopf. Langsam kam er näher, seine Nase legte sich neben ihre, sie atmeten die Luft des anderen. „Amrá lime“, flüsterte er an ihren Lippen. „Jetzt und hier. Für alle Zeit. Mein Leben lang…“ Ihre Antwort wurde erstickt von einem Kuss, der die Macht hatte, die Welt für einen kleinen Augenblick still stehen zu lassen. Er war zart, geradezu vorsichtig, als wollte er ihr Zeit geben, falls sie doch noch einen Rückzieher machte. All seine Befürchtungen waren unbegründet.

Marie hatte ihre Entscheidung getroffen und verlor sich in diesen Kuss, als wäre es ich erster. Seine Lippen fuhren so zart über die ihre, als wäre sie eine Königin und er ein armer, unbedeutender Mann, doch es reichte aus, damit sie nach mehr verlangte. Marie zog ihn näher, drückte ihren Mund fester auf seine und schmiegte sich an seinen nackten Oberkörper, wollte ihn spüren lassen, was sie spürte. Was er ihr bedeutete…

Sanft beendete der Krieger ihre Küsse, bevor er den Kopf wegdrehte. Marie hielte ihn zurück und schaffte es, dass er sie wieder ansah. Der Schmerz in seinen Augen war kaum zu ertragen. „Wir stehen das gemeinsam durch. Du und ich.“

„Wie?“, wisperte Thorin. „Wie sollen wir einen solchen Fluch brechen?“

„Ich weiß es nicht“, gestand sie ehrlicherweise, „aber wir werden einen Weg finden. Es muss einen Weg geben.“

Ein Zittern kroch über seinen Körper, als fröstelte er plötzlich. „Halt mich fest.“ Sofort legte sie die Arme um ihn. Erschöpft sank sein Kopf auf ihre Schulter und sie hielt ihn genau wie damals in dem kleinen Nebenzimmer im Haus am Waldrand, als die Angst um das Leben seiner Neffen Thorin entmachtet hatten. Es waren genau dieselben Worte wie damals, die sie ihm heute ins Ohr flüsterte, damit sie in seinem Herzen wahr werden konnten.

„Solange noch Sterne Licht haben, ist nichts verloren.“ Sie hörte, wie er atmete. Sein Griff verstärkte sich, er suchte Halt und Kraft bei ihr und Marie gab ihm alles, was in ihrer Macht stand.

 

Wie lange sie so da standen, konnte niemand mehr von ihnen sagen. Irgendwann regte sich Thorin und wischte sich über die nassen Augen. Auch Marie tat es ihm gleich, löste sich dann von ihm und ging zum Schreibtisch hinüber, wo an der Wand daneben ein blaues Tau hing. Einmal dran gezogen und die Glocke in der Küche würde läuten. Als das erledigt war, kehrte sie zurück und schlang vertraut die Arme um seinen Bauch. Ein Schmunzeln lag auf ihren Lippen und auch sein Mundwinkel hob sich daraufhin zu dem schiefen Schmunzeln, welches sie so gerne an ihm sah.

„Wir bleiben heute den ganzen Tag Zuhause. Nur du und ich.“ Thorin öffnete den Mund, um zu protestieren, und bekam prompt ihren Finger auf die Lippen gedrückt. „Deine Termine habe ich bereits gestern alle abgesagt. Die Pflichten eines Königs können warten. Heute kümmern wir uns nur um uns. Hast du Hunger?“

Die Frage bewirkte, dass er das Gesicht verzog. „Allein bei dem Gedanken an Essen kommt´s mir hoch.“

„Dann lieber nicht.“

Da klopfte es bereits an der Tür. Es war Tara, die herein schlüpfte und die beiden in inniger Umarmung vorfand. Deutlich konnte man in ihrem Blick die Unsicherheit über das ablesen, was sich in ihrer Vorstellung in den letzten Minuten hinter verschlossenen Türen abgespielt haben musste.

„Wir wünschen heute niemanden zu sprechen, Tara. Könntest du das bitte weitergeben?“

„Ähm… ja, natürlich. Sonst noch etwas, Mylady? Etwas zu trinken oder zu essen?“

„Nein, danke. Ist noch genug Feuerholz für ein heißes Bad da?“

„Natürlich. Soll ich den Ofen entfachen und Wasser einlassen?“

„Das wäre traumhaft.“ In Sekundenschnelle verschwand Tara im angrenzenden Raum, als müsste sie dadurch etwas gut machen. Marie hatte Mitleid mit ihr. „Oh, je. Die Arme.“

„Ich glaube, wir haben sie etwas verwirrt“, raunte Thorin ihr leise zu, damit ihr Zimmermädchen es nicht hörte.

„Ich befürchte es.“ Als er begann, in seinen Hosentaschen nach etwas zu suchen, wurde Marie auf sein Treiben aufmerksam. Auf einmal zog er ihren Verlobungsring hervor. Er hatte ihn die ganze Zeit bei sich getragen.

„Gib mir deine Hand.“ Es wurde ein magischer Moment, als er ihr den Ring wieder auf den Finger schob. Beide hielten die Luft an, bis er wieder dort saß, wo er hingehörte.

Marie betrachtete das Funkeln der feinen Edelsteine und blickte zu ihrem Verlobten auf. „Ja, ich will.“ Sein Lächeln ließ unzählige Schmetterlingsflügel über ihre Haut kitzeln. Die Strapazen der vergangenen Nacht rückten für kurze Zeit in weite Ferne.

„Das Wasser ist noch kalt. Ansonsten ist alles vorbereitet.“

Die beiden wurden auf ihren Zaungast aufmerksam. „Danke, Tara“, antwortete Thorin. „Du kannst jetzt gehen.“

Ein Knicks und schon sauste sie davon.

 

Das Feuer in dem steinernen Ofen knackte und prasselte bereits laut von den Felswänden wieder. Das eiskalte Gebirgswasser würde schnell in der goldenen Wanne warm werden. Der Raum musste wohl einige unangenehme Erinnerungen hinaufbeschwöre, denn Thorin hielt auf einmal irritiert inne. „Hast du mir den Finger in den Hals gesteckt?“

„Öhmm…“ Marie biss sich auf die Lippe. „Vielleicht?“

„Ich glaube, jetzt haben wir alles durch.“

Sein entgeisterter Blick brachte Marie unfreiwillig zum Lachen. Sie bugsierte ihn zur Badewanne und während sie wohlduftendes Öl im Wasser verteilte, entledigte sich Thorin bereits den wenigen Kleidungsstücken, die er am Leib trug. Ein Bad war genau das, was er jetzt brauchte. Er bildete sich ein, immer noch den Geruch des Schnapses zu riechen. Uhhrrr! Er durfte noch nicht einmal daran denken.

Die Kälte schien ihm nichts anzuhaben, als er ins Wasser stieg. Marie passte auf, dass er nicht ausrutschte und hielt die Leinentücher an ihren Platz, als er sich setzte.

„Ich kann den Anblick von Gold nicht ertragen.“ Blinzelnd blickte Marie auf. Dass sie mit ihren Gedanken woanders gewesen war, hatte er gemerkt und fügte deshalb hinzu: „Die vielen Laken. Sie sollen das Gold vor mir verstecken.“

„Oh.“ Sie setzte sich auf den Hocker neben der Wanne. „Deswegen hast du mir also auch den Schatz nicht gezeigt.“

„Ja.“

Ihre Finger glitten über die Wasseroberfläche, als sie laut ihre Gedanken preisgab. „Ich frage mich, wie Smaug auf den Schatz reagieren würde.“

„Denk nicht mal daran, Marie.“

„Aber vielleicht können wir dich unempfindlich machen für Gold. Wie ein Pferd, was man an laute Geräusche gewöhnt.“

Thorin machte ein böses Gesicht. „Vergleichst du mich gerade mit einem Pferd?“

„Nein - also nicht direkt.“

„Marie, hör mir gut zu“, bat er eindringlich und wandte sich ihr zu, damit er ihre volle Aufmerksamkeit hatte. „Du solltest nicht mit etwas herum experimentieren, was dich töten könnte. Ich setze keinen Fuß mehr in diese Hallen, solange ich noch bei klarem Verstand bin.“ Das war sein letztes Wort und Marie verstand die Warnung.

Sie nickte, „in Ordnung“, und beließ es dabei. Einen Moment lang betrachtete sie ihren Verlobten und Vater ihres ungeborenen Kindes in der Wanne, aus der sich bereits die ersten Dampfwolken erhoben. Der Geruch nach Zedernholz und Honig verteilte sich im Raum, als sie ohne viele Worte zu verlieren die flüssige Seife auf seinem Körper verteilte. Thorin schloss die Augen und spürte, wie gut ihm das tat. Nach dem Haarewaschen nahm Marie einen groben Kamm. Sein langes Haar war sehr verknotet und so entwirrte sie geduldig jede einzelne Strähne, von denen manche silbern mit der Zeit geworden waren.

Die Lampen warfen ihre Lichter in den kleinen Raum und auch auf das Wasser. Thorin erblickte auf der ruhigen Wasseroberfläche sein Spiegelbild und fuhr sich über das Gesicht. Als er durch sein Bart fuhr, konnte er unter seinem Kinn ein Zöpfchen zusammennehmen.

„Er ist gewachsen“, stellte Marie fest.

Immer noch betrachtete Thorin sich auf der Wasseroberfläche, als er sagte: „Ich trage meinen Bart für all jene meines Volkes kurz, die im Drachenfeuer ihre eingebüßt hatten.“

„Ist es nicht an der Zeit, ihn wieder länger werden zu lassen?“

Thorin sah zu seiner Verlobten auf und spürte augenblicklich sein Lächeln zurückkehren. Neckisch wischte er ihr übers Kinn. „Irgendwann einmal.“

Er brauchte sie nicht darum bitten. Marie verstand es von ganz allein. Sie ging zu dem großen Waschtisch hinüber, der neben gleich zwei eingelassenen Waschschüsseln auch mehrere Schubfächer besaß. Aus einer dieser holte sie eine Schere und Rasierzeug. Doch anstatt, dass sie es ihm gab, stellte sie sich damit hinter ihm und kommandierte: „Kopf nach hinten.“

Thorin wich zurück. „Ich mache das selbst.“

„Komm schon… Hast du Angst, ich könnte dir eine Macke in den Bart schneiden?“

„Äh, ja? Marie, bitte. Da verstehe ich keinen Spaß. Gib es mir.“

„Denkst du, ich weiß nicht, wie du deinen Bart trägst?“, gab sie zurück und stemmte herausfordernd die Hände in die Hüften. „Vertrau mir einfach.“

Was folgte, waren gestammelte Verwünschungen auf Khuzdul. Unbeeindruckt hielt Marie an ihrem Vorhaben fest. „Jetzt stell dich nicht so an. Hinlegen, Kopf nach hinten, Mund halten.“

„Ich kann es nicht glauben“, murmelte Thorin, legte das Genick auf den Wannenrand und ergab sich. Doch bei aller Liebe… Als Marie unter sein Kinn fasste und die Haare zwischen Zeige- und Mittelfinger nahm, begann er zu schwitzen. „Nicht zu viel!“

„Ja, ja…“ Schnipp!, machte die Schere. Sofort kontrollierte er das Ergebnis auf der Wasseroberfläche. Marie reichte ihm einen Handspiegel, den er ihr aus den Händen riss und akribisch jeden Quadratzentimeter seines Gesichtes untersuchte. „Wir sind noch nicht fertig“, erinnerte die Stimme hinter ihm daran, dass ja auch noch der Rest seines Bartes gekürzt werden musste.

In den nächsten Minuten starb Thorin tausend Tode. Bei jedem kleinen Schnipp der Schere zuckte er innerlich zusammen. Zuletzt waren die zwei kleinen Flächen rechts und links unter seinen Mundwinkeln dran, für die Marie die Rasierklinge aufklappte. Beim Anblick des scharfen Messers musste er schlucken.

Ehe er den Mund aufmachen konnte, warnte die selbsternannte Barbierin: „Nicht sprechen, sonst mache ich dir eine Kante rein.“ Bei den Göttern… Worauf hatte er sich hier eingelassen?

Sie bestrich die kleinen Flächen sorgfältig mit Rasierschaum. Dann schwebte das Messer heran und machte sich ans Werk. „Nur noch Feinschliff.“ Marie rasierte verirrte Haare auf seiner Wange weg, die aus der Reihe tanzten. Zwei, drei Mal ein kurzes Kratzen auf seiner Haut, dann war es vollbracht. Thorin kontrollierte das Ergebnis erneut im Spiegel und das was er sah, überraschte ihn: er hätte es genauso gemacht.

Marie genoss ihren Triumph in vollen Zügen. „Gar nicht mal so schlecht… Obwohl mich ja schon interessiert hätte, ob du ohne Bart eher wie ein Mensch oder wie ein Goblin aussehen würdest.“

„Du kleine Nervensäge…“ Als wäre sie ein Sack Kartoffeln packte er sie und beförderte sie zu sich in die Wanne. Marie kreischte auf, das Wasser schwappte hoch und platschte eimerweise auf den Felsboden. Ihr Rock blähte sich auf wie ein Ballon, als sie an seine Brust gedrückt wurde. Klatschnass, aber glücklich.

Selbst das Lachen dieser Frau, das bis in den hintersten Winkel seines Herzens vordrang, besaß Heilkräfte.

 

Marie drehte ihm den Rücken zu und wurde von den schweren Stofflagen befreit. Das Kleid klatschte auf den Fußboden und im nächsten Moment hüllte sie ein Handtuch ein, das so groß war, dass er es mehrmals um sie schlingen konnte.

„Hast du letzte Nacht überhaupt geschlafen, mell nin?“, fragte er, als er sah, wie ihr die Augen zufielen. Sie schüttelte den Kopf und Thorin hob die eingewickelte Frau auf seine Arme. Auf dem Weg zum Schlafzimmer hielt er irritiert inne, als er an seinem Arbeitsplatz vorbei ging, der deutlich anders aussah als er ihn in Erinnerung hatte. „Was habt ihr gemacht?“

Lächelnd kuschelte sie sich an ihn. „Dies und das…“

Auch Thorin lächelte. „Marie aus Kerrt. Heilerin. Hebamme. Barbierin. Und nun auch noch Gelehrte. Was bist du noch alles?“ Er trug sie ins Bett und legte die Decke über sie. Da kämpfte sich eine Hand hervor und streckte sich nach ihm aus.

„Leg dich zu mir, Thorin“, bat sie leise. Natürlich zögerte er und sie sprach: „Lass uns stärker sein als Smaug.“

Er konnte ihr diese Bitte nicht abschlagen und so glitt er zu ihr unter die Decken und warf noch ein Fell über sie, damit sie es schön warm hatte. Marie robbte näher zu ihm, legte den Kopf auf seinen ausgestreckten Arm und schloss die Augen. Er war so stark, so kraftvoll und männlich. Sie vergrub das Gesicht in seinem Brusthaar, atmete seinen Geruch, während er ihr durchs Haar kraulte. „Erzähl mir etwas, Liebling.“

Thorin überlegte und entschied, ihr mehr über die letzten Wochen zu berichten. Belangloses Zeug zu erzählen, kam ihm in diesen Moment nicht in den Sinn. Es sollte dazu beitragen, dass sie ihn besser verstand. Und so erzählte er. Von der Drachenkrankheit, die einst seinen Großvater heimsuchte und auch auf ihn übergegangen war. Er erzählte von seinem stundenlangen Training in den Bergen, dass er sich für einen Krieg gewappnet hat, der in seiner Seele ausgefochten werden würde. Er beichtete, dass er zwar mit ihr gemeinsam ins Bett gegangen ist, aber gewartet hat bis sie eingeschlafen war, um dann die Nacht auf dem Sofa zu verbringen. Manchmal hat er auch die Nacht damit verbracht, heimlich in den Büchern über die Drachenkrankheit zu lesen, die Thror einst in einer geheimen Kammer versteckt hatte. Das gab Marie den Anlass, über die gruselige Entdeckung in der Bibliothek zu erzählen.

„Ich habe die Bücher fortgeschafft“, erklärte er. „Sie liegen jetzt in meinem Sekretär ganz unten. In der Hoffnung, wir übersahen etwas, habe ich sie in den Nächten studiert. Doch ich habe nichts gefunden.“

„Wir werden etwas finden, Thorin.“

Thorin hatte dem nichts mehr entgegenzusetzen. Nach einer langen Nacht und einem langen Morgen kehrte Ruhe ein. Thorin bette sie an sich und wachte über ihren Schlaf bis auch ihm langsam die Augen zu fielen. Marie war bereit für ihn zu kämpfen. Ihre Entschlossenheit und ihr Mut entfachte den winzigen Funken Hoffnung aufs Neue.

Der Kampf gegen Smaug hatte begonnen.

 

27

 

 

Die Ruhe war beendet, als jemand auf seinen Rücken tippte. Sich aus dem Reich des Schlafes herauskämpfend drehte sich Thorin zu der Person um, die plötzlich neben seinem Bett stand. Blinzelnd versuchte er seine Augen zum Funktionieren zu bringen und als er schließlich Fili erkannte, sank er zurück in die Kissen und legte die Arme wieder um Marie.

„Lass uns schlafen, Junge.“ Leider tat sein Neffe ihm diesen Gefallen nicht.

„Ich würde euch nicht wecken, wenn es nicht dringend wäre.“

Thorin stöhnte auf. „Was kann so dringend sein?“

 

Kurze Zeit später betraten er und Marie den Speisesaal und erlebten eine Überraschung. Alle Gefährten und die dazugehörigen Partnerinnen hatten sich dort bereits eingefunden. Man saß oder stand um eine der langen Tafeln versammelt und blickte zur Tür, als die beiden Nachzügler dazustießen. Auf den vielen bekannten Gesichtern erschien ein erleichterter Ausdruck, als man bemerkte, dass die beiden Händchenhaltend eintraten.

Doch das sollte nicht die einzige Überraschung sein. Jemand saß mit dem Rücken zu ihnen und drehte sich in diesen Moment um.

„Gandalf?“

Mit einem gütigen Lächeln im sonnen- und windgezeichnetem Gesicht erhob sich der Zauberer von der Tafel und kam Marie entgegen, um dann vor ihr in die Hocke zu gehen und mit ihr auf Augenhöhe zu sprechen. Ihre Wiedersehensfreude war so groß, dass sie Gandalf, dem sie so viel verdankte, als allererstes umarmte. Große Arme legten sich um ihre Gestalt und ihr wurde nach langer Zeit unter Durins Volk wieder bewusst, wie klein sie seit der Verwandlung geworden war. Sein Lachen wärmte ihr Herz.

„Marie aus Kerrt... Lass dich ansehen.“ Ihre Schultern verschwanden unter Gandalfs Händen, als er sie von oben bis unten musterte. „Wie ich sehe, bekommt dir das Leben in Erebor gut.“

„Für meinen Geschmack könnte es weniger turbulent sein“, entgegnete sie vielsagend.

„Gut, dass du es endlich erfahren hast.“

„Lass mich raten: du wusstest auch davon?“ Er nickte und sie machte gedanklich auf einer imaginären Liste hinter Gandalfs Namen einen Haken. Hoffentlich war er der Letzte, dem sie diese Frage stellen musste.

Ein Seufzen entkam ihrer Kehle. „Ich hätten deinen Rat hier gut gebrauchen können, Gandalf. Umso mehr bin ich froh, dass du wieder da bist. War denn der Zauberwettbewerb erfolgreich?“

„Zauberwettbewerb?“, wiederholte er verwundert und sah Thorin an.

Da ahnte Marie es. „Hätte ich es mir denken können…“ Vorwurfsvoll funkelte sie ihren Verlobten an, der bis jetzt verräterisch still gewesen war. Entschuldigend breitete Thorin die Hände aus. Auch die anderen Gefährten sahen lieber auf ihre Stiefel oder an die Wände, als Maries Blick zu erwidern. „Wenn du nicht auf einem Zauberwettbewerb warst, wo warst du dann, Gandalf? Und warum bist so plötzlich verschwunden?“

„Manchmal braucht es Abstand, um die Dinge aus einem anderen Blickwinkel sehen zu können.“ Mit diesen Worten erhob sich der Zurückgekehrte. „Setzt euch. Wir haben einiges zu bereden.“

Aufs Stichwort hin nahmen Dori und Bifur den Bediensteten, die gerade ein Tablett mit einer Pyramide aus Bierhumpen bringen wollten, die kostbare Fracht ab. Die überrumpelten Zwerginnen wurden von Nori aus dem Saal geschoben und als sie draußen waren, wurde hinter ihnen die Türen geschlossen. Das Geräusch des sich umlegenden Riegels ließ Marie schlucken. Die Worte, die in den nächsten Minuten in diesem Saal fielen, durften also nicht an die Öffentlichkeit geraten.

„Können wir anfangen?“, fragte Gandalf mit spürbarer Ungeduld. Zuerst musste sich jedoch noch jeder einen Platz suchen und ein Bier bekommen. Thorin schob seinen Krug weit von sich. Auch Marie gab ihren Kili, der sich über zwei Krüge sichtlich freute. Damit alle Platz hatten nahm Bofur Suurin auf seinen Schoß, Gloin stand hinter seiner Frau und Ori hockte mit einer Pobacke auf der äußersten Bankkante.

„Wir sind noch nicht vollzählig!“, bemerkte jemand. „Dwalin und Ninak fehlen.“

„Sie kommen bestimmt nach“, wollte Marie gerade einwerfen, da pochte jemand an der Tür.

„Das müssen sie sein.“ Minar eilte los und schaute vorsichtig durch den Türspalt. Als sie Dwalin und Ninak davor stehen sah, ließ sie sie schnell herein. „Los! Wir wollen beginnen.“ Unter Murren musste noch ein Stück gerückt werden, sodass Dwalin sich auf die Bank quetschen konnte und Ninak kurzerhand auf den Schoß nahm. Marie spürte den Blick ihrer Freundin. Ihre blaue Augen glänzten voller Glück. Sie nickte ihr heimlich zu und Marie nickte zurück. Dwalin wusste es.

„Wie ich sehe, wird Smaugs Fluch immer noch geheim gehalten.“ So eröffnete Gandalf das Treffen und bekam prompt vom anderen Ende des Tisches zurück: „Was hat er gesagt?!“

Gloin drückte seinem Bruder Oin seinen Hörtrichter ins Ohr. „Benutz den!“

„Und das wird auch so bleiben.“ Thorin, der dem Zauberer direkt gegenübersaß, hatte den Blick felsenfest auf ihn gerichtet.

Fast schon herausfordernd beugte sich Gandalf vor. „Wie lange könnt ihr das noch?“

Thorin biss die Zähne aufeinander und Fili sprang für ihn in die Bresche.

„Wir haben es die letzten Monate geschafft. Wir werden es auch weiterhin tun können.“ Die Gefährten gaben dem jungen Prinzen Recht.

„Es zu verschweigen ist das Beste für mein Volk“, sprach Thorin. „Ihr Wohlergehen steht für mich an oberster Stelle. Oder sieht einer von euch das anders?“ Sein Blick durchwanderte die Gesichter der Anwesenden. Niemand erhob Einwände.

„Glaubt ihr, dass unser Volk mich noch als König anerkennt, wenn sie erst einmal wissen, dass das Monster, das ihnen vor so vielen Jahren ihre Heimat stahl und ihr Volk fraß, gar nicht tot, sondern nun ein Teil von mir ist? Glaubt ihr, sie wollen mich dann immer noch auf den Thron sitzen sehen?“ Bedenkliche Stille trat ein. Um seine Worte zu unterstreichen, erhob sich Thorin. Alle Blicke folgten ihrem Anführer und König.

„Deshalb bitte ich euch inständig: sprecht es vor niemanden aus. Haltet euch weiterhin bedeckt über das, was damals geschah. Auch eure Söhne und Töchter dürfen nichts davon erfahren. Es muss ein Geheimnis bleiben. Den Frieden, den mein Volk momentan erfährt, will ich ihnen nicht nehmen. Ebenso bitte ich euch, das Geheimnis der Kette, die ich um den Hals trage, zu wahren. Ihr habt mit euren eigenen Augen gesehen, welche Macht dieser, auf den ersten Blick wertlose Anhänger besitzt. Um seine Kraft für sich zu nutzen, könnten Kriege entstehen. Seid euch drüber im Klaren. Seine Existenz muss ebenfalls geheim halten. Habe ich euer Wort?“ Die Zwerge brauchten keine Bedenkzeit. Kaum war seine Bitte verklungen, bollerten Fäuste auf die Tafel und ließen Thorin Stolz verspüren.

„Du hast unser Wort, mein Junge“, sprach Balin für alle hier Anwesenden.

Er setzte sich und merkte augenblicklich eine Hand auf seinem Bein. Verborgen von den Planken der Tafel ergriff Marie seine Hand. Ihre Finger verflochten sich ineinander und schenkten ihm Mut.

„Ich muss die Wahrheit wissen“, sagte sie an ihn gewandt. „Wieso ist Gandalf fortgegangen?“

Thorin seufzte und musste sich wohl oder übel fügen. „Gandalf hat den unsinnigen Versuch vorgeschlagen, Smaug hervorzulocken, um mit ihm zu sprechen.“ Die Erinnerung an den Tag, als sich ihre Wege trennten, schmeckte bitter. „Diese Rolle solltest du übernehmen, Marie. Er hat sich in den Kopf gesetzt, dass du irgendetwas bewirken kannst. Ich wollte nicht, dass du zum Köder wirst. Es kam zu Meinungsverschiedenheiten.“

„Aber was ist, wenn es klappt?“

Hatte sie ihm denn nicht zugehört?! „Marie, das ist keine Krankheit, gegen die man ein oder zwei Kräuter parat hat.“

„Das ist mir bewusst, aber wir sollten jede Möglichkeit ausprobieren.“

„Nein“, antwortete Gandalf zu ihrem aller Erstaunen. „Thorin hatte Recht. Es ist viel zu gefährlich.“

Auf der einen Seite triumphierte dieser innerlich über Gandalfs Einsicht und der Genugtuung, Recht gehabt zu haben. Auf der anderen Seite wusste er, dass, wenn selbst Gandalf sich fürchtete, sie alle am Arsch waren.

„Wer garantiert uns, dass, wenn wir Smaugs Geist tatsächlich an Thorins Oberfläche locken, er auch wieder dorthin verschwindet, wo er momentan aufbewahrt wird, sollten wir scheitern?“, teilte Gandalf seine Gedanken mit ihnen. „Ich habe mich und meine Kräfte überschätzt. Darum habe ich um Hilfe gebeten.“ Man horchte auf und Thorin bekam ein mehr als ungutes Gefühl.

„Ich war in den vergangenen Wochen nicht untätig gewesen. Unter anderem habe ich in der großen Bibliothek von Gondor nach etwas gesucht, was uns helfen könnte. Die besten Kampftechniken gegen einen feuerspeienden Drachen findet man dort zuhauf, doch über das Wirken eines Drachengeistes lässt sich nichts finden. Diese Art von postmortalem Fluch ist wahrscheinlich der erste seiner Art.“

Bofur lehnte sich zu seinem Nebenmann. „Post-was?“

Nori zog nur die Schultern hoch. Woher soll ich das wissen?, sollte das wohl heißen.

„Deswegen habe ich meine Idee verworfen und habe diejenigen um Hilfe gebeten, die ich für weise und mächtig halte, und ein Treffen organisiert. Die anderen Zauberer Mittelerdes; Saruman, Radagast, selbst die blauen Zauberer, sowie die einflussreichsten Elben westlich des Anduin werden sich in Bruchtal treffen. Ihr beide“, er zeigte nacheinander auf Marie und Thorin, ,,werdet mich dorthin begleiten.“

Aufgeregtes Murmeln breitete sich wie eine Tsunamiwelle im Saal aus. Gandalfs Plan erhitzt die Gemüter und spaltete die Anwesenden. Bei der Erwähnung des Treffpunktes erhellte sich Bilbos Gesicht begeistert auf und während Marie mit offenem Mund dasaß, glich Thorin innerlich wie äußerlich einer dunklen Gewitterfront.

„Elben? Was können Elben schon ausrichten?“, ließ jemand seinen Unmut freien Lauf.

„Ja! Wir wollen keinen elbischem Hokuspokus!“

Kili machte eine böses Gesicht in die Richtung des Rufenden.

„Wir führen Thorin doch nicht wie eine Zirkusfigur vor!“ Ninak musste ihren Mann zügeln, der ebenfalls von Gandalfs Idee so gar nicht begeistert war.

„Wer soll alles zu diesem Treffen mitkommen?“

„Wann ist es?“

„Wieso ausgerechnet Bruchtal? Bruchtal ist kacke!“

Gandalf fasste sich an die Nasenwurzel, als litt er schreckliche Kopfschmerzen.

Hilflos sah Marie von einem Zwerg zum anderen und das Gemurmel schaukelte sich immer höher. „Haben wir eine Wahl?!“ Die Krieger und Frauen blickten zu der Heilerin, die aufgesprungen war und nun mit geballten Fäusten über sie hinweg schaute. Ihr Brustkorb hob sich schnell und heftig. Vor Zorn. Vor Verzweiflung. Und vor der Furcht zu scheitern.

„Thorin hat mir erzählt, was er und was ihr in den letzten Monaten alles unternommen habt. Vielleicht ist dies die einzige Chance, Smaug mit vereinten Kräften für immer auszulöschen, versteht das doch!“ Das Beben ihrer Stimme konnte sie nicht unterbinden. Wenn die Zwerge Gandalfs Plan nicht zustimmten, drohte ihre Hoffnung auf ein freies, glückliches Leben zwischen den Fingern zu zerbröseln. „Wir sollten nach Bruchtal reisen, solange es noch möglich ist. Bitte legt euren Stolz ab und nehmt die Hilfe an. Schiebt eure Vorurteile und euer Misstrauen gegenüber anderen beiseite.“ Sie sah zu Thorin hinab und in seinen grauen Augen lag ihre ganze Welt.

„Ich flehe dich an…“ Sie sah, wie er mit sich kämpfte.

Es widerstrebte ihm zutiefst, als Thorin Gandalf ansah und fragte: „Wann soll dieses Treffen sein?“

„Beim nächsten Vollmond.“

„Vollmond ist schon in neun Tagen.“

„Je eher, desto besser. Wir dürfen Smaug keine weitere Zeit schenken. Ich werde mir in Dale ein neues Pferd nehmen und noch heute Abend wieder losreiten. Ihr solltet so schnell wie möglich folgen.“

Thorin schüttelte den Kopf. „Ich muss für meine Abwesenheit erst noch einiges klären. Übermorgen können wir frühestens aufbrechen.“

Marie sank zurück auf die Bank. „Heißt das, du willigst ein?“

Einen stillen Moment lang betrachtete der König Erebors ihr Gesicht und ihr aufflammender Zukunftsglaube. Für immer wollte er sich dieses Bild bewahren, ihre Schönheit einfangen und den Glanz ihrer smaragdgrünen Augen in einem Glas bei sich tragen, was ihn in der Dunkelheit allein mit Smaug leiten sollte. Thorin schaute auf ihre, in Erwartung geöffneten Lippen, die zum Küssen geschaffen worden waren, und nickte. „Wir werden nach Bruchtal reisen.“

Vor Erleichterung fiel sie ihm um den Hals. Zeitgleich schwoll das Gemurmel der Zwerge wieder an. Gandalf mitten unter ihnen sah aus, als hätte er nicht mehr mit dieser Entscheidung gerechnet und fächerte sich mit seinem Hut Luft zu.

„Ich will keine Spielverderberin sein“, die Stimme von Ninak bremste die aufkommende Euphorie, „aber was ist, wenn auch die anderen Zauberer und die Elben nichts ausrichten können?“ Es wurde so still wie auf einem Friedhof. Wieder sahen alle Gandalf an. Das Schweigen des Zauberers war Antwort genug.

„Dann hat Smaug gewonnen“, sprach Kili aus, was jeder dachte.

Vor Frust haute Marie mit der Faust auf den Tisch. „Er darf nicht gewinnen!“

„Nein“, Thorin berührte beschwichtigend ihre Wange. „Eher sterbe ich, als diesen Tag miterleben zu müssen.“

„Dir wird nichts geschehen. Wir haben jetzt einen Schlachtplan.“

„Ja, einen Schlachtplan“, murmelte er, doch die Worte waren leer. Angesichts der Angst und der Pein, die er bislang durchmachen musste, wirkte der winzige Funken Hoffnung, den Marie in seinem Herzen entfacht hatte, lächerlich klein.

„Dann ist es also beschlossen“, verkündete Gandalf. „Ich erwarte euch in Bruchtal.“ Thorin und Marie nickten. „Gut. Und jetzt brauche ich ein Bier.“

Trotz der Weltuntergangsstimmung mussten die Männer bei Gandalfs desolaten Zustand lachen. Man öffnete die Türen und schon kurze Zeit später bekam er sein Beruhigungsbier. Als das Mädchen aus der Küche sich wieder entfernt hatte, beugte sich der Zauberer näher zu Thorin. „Hat Smaug sich noch einmal gezeigt?“

„Einige Male hat er mich zu manipulieren versucht. Doch seit gestern ist er still und reglos. Er wartet, Gandalf.“

„Worauf?“

„Auf seine Chance.“

Ninak flüsterte Dwalin etwas zu, woraufhin ein Lächeln in seinem dunklen Bart erschien. Ein Klopfen auf Holz ließ die Gespräche verstummen. „Wo wir schon mal alle hier sind, wollten wir die Gelegenheit nutzen und euch etwas mitteilen.“ Ein wunderschönes Lächeln lag auf Ninaks Lippen. Kurz sah sie zu ihrem Mann, als könne sie so neuen Mut schöpfen, und verkündete dann: „So wie es aussieht, bekommen wir ein Kind.“

Dass die Nachricht Freude auslösen würde, damit hatte Marie fest gerechnet, doch so einen Jubel, hatte sie noch nie in ihrem ganzen Leben erlebt. „WAAAS?“, brüllte jemand. Suurin kreischte los. Niemand hielt es mehr auf seinem Platz aus. Alle strömten zu Ninak und Dwalin, denn sie wussten, dass es die beiden jahrelang erfolglos versucht hatten. Unglaube und Freude lagen auf jedem Gesicht. Die Männer teilten grobe Umarmungen, Rückenklopfer und Kopfnüsse massenhaft an den werdenden Vater aus.

„Wie hast du das gemacht?“

„Dachte, du hättest deine Pfeile schon verschossen?!“

„Ich schieße immer noch scharf, hahahaaa!“

Rüpelhaft warf sich Kili an die Brust seines Ziehonkels. „Und das auf deine alten Tage!“

Als Bilbo ihm die Hand reichen wollte, nahm der Krieger nicht nur seinen Arm, sondern zog den Hobbit zu sich, dass Bilbo eingeklemmt zwischen Muskelpaketen keine Luft mehr bekam. Zwischen all dem Gelächter und Johlen hockte Gandalf auf der Bank und ließ sich zufrieden sein Bier schmecken. Wie ein aufgeregter Hühnerhaufen scharrten sich die Frauen um Ninak und durchlöcherten sie mit Fragen: wie weit sie war, wie es ihr ging und ob man schon etwas sehen konnte.

„Drei bis vier Monate. Ist das nicht unglaublich?“ Ninak zog ihr Hemd über ihrem Bauch straff und legte die Hände darum, damit jeder das kleine Bäuchlein sehen konnte. Schon die ganze Zeit heulte Bruna ungehemmt und schnäuzte in ihre Schürze rein.

Doch bei all der Aufregung bemerkte niemand, dass Marie im Hintergrund blieb und ihre Freundin aus der Ferne mit Wehmut beobachtete.

„Komm her, du…!“ Sie musste mit ansehen, wie Thorin sich einen Weg zu Dwalin bahnte und seinem besten Freund herzlich gratulierte. Sein strahlendes Lächeln schmerzte Marie bis in die Knochen. Es fühlte sich wie Betrug an, dass sie ihm sein Glück verwehrte.

Ninak musste ihren Gesichtsausdruck gemerkt haben, denn sie stand plötzlich vor ihr und nahm sie in den Arm. Nur schwer konnte Marie in diesem Moment ihre Tränen wegblinzeln. „Ich kann es ihm nicht sagen“, flüsterte sie verborgen in ihrem roten Haar. „Smaug würde ihn damit endgültig brechen. Er darf es nicht wissen. Es ist so ungerecht...“

„Du wirst es ihm bald sagen können“, versuchte Ninak ihr Trost zuzusprechen. „Bleib stark, coin mell. Bleib stark.“ Für mehr war keine Zeit. Die anderen kamen dazu und Ninak startete ein Ablenkungsmanöver. Sie erzählte, dass Marie ihre Schwangerschaft erkannt hatte und von ihrem nächtlichen Überfallkommando beim Gildemeister der Heiler.

Starke Arme umfassten mit einem Mal ihren Körper und ein dichter Bart schmiegte sich an ihre Schläfe. Thorin. Ihr Herz zerschellte auf dem Fels, als seine Hände unbewusst ihr kostbares Geheimnis umschlossen, als könnte nichts und niemand es ihm je wegnehmen.

„Du hast es herausgefunden?“

Marie nickte. Zu sprechen wagte sie nicht, aus Angst ihre Stimme könnte brechen.

„Ich habe Dwalin noch nie so glücklich gesehen. Schau ihn dir an. Ich erkenne ihn kaum wieder.“ Er küsste sie auf die Wange und Marie musste die Augen schließen.

„Darauf müssen wir trinken!“ Bofur war auf die Tafel geklettert und reckte sein Bierkrug. Der Vorschlag stieß bei allen auf helle Begeisterung. Schon trugen die Bediensteten die nächste Pyramide aus Krügen herein.

„Aus dem Weg, meine Teuersten!“ An einem Bierfass aus den Vorratskammern schwer zu tragen eilten Kili und Fili vorbei und wuchteten ihr Diebesgut auf die Tafel. Wie ein braves Pferd tätschelte Kili das Fass. „Reicht für den Anfang.“

Als man ein frischgezapftes Bier Ninak zu schob und diese mit glänzenden Augen danach greifen wollte, wurde es ihr von Marie vor der Nase weg genommen. „Ah-ah-ah. Du nicht.“ Beim Anblick des Glas Wassers, welches ihr stattdessen hingestellt wurde, stützte Ninak entnervt den Kopf in die Hände, begleitet von ausbrechendem Gelächter.

 

~

 

Die Hufe ihrer Ponys trommelten über die Hügel und Hänge des Erebors. Der warme Wind peitschte Mähnen und Haare auf, wild und ungebändigt wie die raue Schönheit des Gebirges. Für die Wildnis des Einsamen Berges hatte Marie jedoch kein Auge. Verwirrung beherrschte ihre Gedanken.

Ohne zu wissen, was sie erhoffte zu sehen, klebte ihre Aufmerksamkeit an dem Reiter, der die Gruppe anführte. Unbeugsam und eigensinnig gleich dem Nordwind ritt der König Erebors seinen schwarzen Hengst. Obwohl sie ihn nur von hinten sah, konnte Marie seine grimmige Miene erahnen. Er hatte Orcrist auf seinen Rücken geschnallt und ein langes Bündel zwischen Nachtschattens Satteltaschen geschoben.

Sie sollten lieber Vorkehrungen treffen für ihren Aufbruch und die letzten Dinge für die Reise nach Bruchtal zusammenpacken. Marie wusste weder wohin sie ritten, noch hatte sie den Grund des Aufbruchs erfahren. Alle anderen wussten offenbar Bescheid, nur sie wurde wieder einmal von ihm im Ungewissen gelassen. Sie war nicht nur enttäuscht, sondern auch immer wütender, je länger sie schon unterwegs waren.

„Zieh dir Hose und Hemd an. Wir reiten in einer Stunde los.“ Das war alles, was er zu ihr gesagt hatte. Bei ihrer Frage, wohin sie ritten und was er vorhatte, hatte er nur zurückgegeben: „Das wirst du früh genug erfahren.“ Als er sich schon abwenden wollte, fügte er noch hinzu: „Nimm deinen Dolch mit.“ Seitdem lag in ihrem Magen eine kalte Faust.

Erneut warf Marie einen Blick zu Ninak hinüber, die mit wenigen Schritten Abstand an ihrer Seite ritt. „Es ist nicht mehr weit“, sagte die Kriegerin, so als hätte sie ihre Frage bereits erahnt.

Auf einem stämmigen Braunen bildete Dwalin das Schlusslicht, den Blick wie eine alte Anstandsdame auf seine vor ihm reitenden Frau geheftet. Als sich die Gruppe im Stall zum Aufbruch eingefunden hatte und Ninak mit ihrer Stute erschien, hatte Dwalin sie skeptisch von oben bis unten gemustert. „Willst du etwa mitkommen?“

„Ich bin schwanger, nicht krank!“, knurrte sie ihn an und war grimmig auf Mäusefells Rücken gestiegen.

„Er würde mich am liebsten in Watte packen.“

Aus ihren Gedanken aufschreckend blinzelte Marie mehrmals. „Hm?“ Ihre Freundin wies mit dem Kinn über ihre Schulter und Marie verstand, dass sie Dwalin gemeint hatte. „Er will, dass es dir gutgeht. Das ist alles“, nahm Marie den großen Krieger in Schutz.

„Aber es nervt jetzt schon. Tu dies nicht, tu das nicht. Lass mich lieber…“

„Lass ihn, Ninak. Die Situation ist auch für ihn neu. Er wird lernen, dir vertrauen zu müssen. Aber tu ihm und deinem Baby den Gefallen, manche Sachen ruhiger angehen zu lassen.“

„Du hast ja Recht“, seufzte sie schließlich, „ich muss mich auch erst noch daran gewöhnen.“ Sie drehte sich zu ihrem Aufpasser um. Liebe in ihrem Blick tragend. „Er hat eine raue Schale, aber ein weiches Herz, weiß du?“

Bevor das Schweigen einsetzte, ergriff Ninak erneut das Wort, so leise, dass nur die beiden es hörten. „Ein paar Stunden sind vergangen und dein Leben ist nicht mehr so, wie es einmal war.“ Ihre Worte drangen bis in Maries Seele vor, berührten einen immer noch wunden Punkt. Jedes einzelne Wort konnte sie nur allzu gut nachvollziehen. „Alles hat sich auf den Kopf gestellt und unwiderruflich verändert. Ich kenne mich mit Stahl und Feuer aus. Ich weiß, was ich mit einem Hammer, einer Esse und meinen eigenen Händen schaffen kann. Ich weiß, wie ich eine Waffe und ein Schild trage, um mich oder andere zu verteidigen oder jemanden zu töten, wenn es sein muss.“ Liebevoll legte sie die Hand auf ihren Bauch, der im Takt des Pferderückens mitschwang. „Aber ich habe keine Ahnung wie man ein Kind auf die Welt bringt. Und das macht mir Angst, wie ich sie noch nie kannte.“ Große, blaue Augen schauten sie an. „Wirst du mir helfen?“

Ihre Ehrlichkeit schmerzte auf schöne und verzweifelte Weise. Gleichzeitig wuchs durch Ninaks Vertrauen in sie das Gefühl der innigen Vertrautheit, die, seit sie sich am Bergsee ihr offenbart hatte, andauerte. Lächelnd lenkte Marie Goldi näher und streckte eine Hand aus. „Ich dachte schon, du fragst nie.“

Ihre kecke Antwort brachte ihre Freundin zum Lachen und davon flogen die dunklen Gedanken. Die Zwergin streckte ebenfalls die Hand aus und ihre Finger berührten sich. „Ich stehe an deiner Seite.“

„Und ich an deiner“, antwortete Marie und harkte feierlich ihren Zeigefinger in Ninaks. Grinsend ritten sie so eingeharkt weiter. „Wir haben Glück, dass ich Hebamme bin und keine Metzgerin.“

„Oh, verdammt, ja!“ Ihr lautes Lachen war ansteckend. Verwundert drehten sich ihre Wegbegleiter nach den beiden um, deren Gekicher dadurch wie das zweier junger Mädchen nur noch lauter wurde. Sie hörten erst auf, als zwei Ponys an ihnen vorbei preschten und Mäusefell und Goldi übermütig werden ließen. Sie ließen gegenseitig los und Ninak schüttelte den Kopf. „Schau dir unsere Kasperköpfe an.“

Als wären die unsichtbaren Pfade und der schwierige Untergrund ein Kinderspiel für Pferd und Reiter, galoppierten Kili und Fili zwischen den Felsen hindurch, die hier und da aus dem Hang schauten. Filis hübscher Schimmel setzte zum Sprung an und Marie blieb das Herz stehen. Er flog über einen tiefen Riss im Erdreich hinweg und reckte triumphierend eine Faust in die Höhe.

„Angeber!“, rief sein Bruder. So als wollte es ihm zustimmen wieherte sein braunes Pony. Auf der Stirn besaß es ein großes Abzeichen und hatte drei gestiefelte Beine. Anscheinend wollte es mal ein Schecke werden, doch die weiße Farbe ging seinen Eltern aus und so besaß er nur einen weißen Streifen an der Flanke, einen zweifarbigen Schweif und ein paar verirrte weiße Strähnen in der Mähne.

„Ich vermisse die Zeit, als ich sie mir einfach unter den Arm klemmen konnte“, murmelte Ninak, trieb ihr Pony an und galoppierte hinter den beiden her. Marie folgte mit Goldi und zusammen mit ihren Jungs flogen die Frauen über die kargen Hügel des Einsamen Berges.

Irgendwann erschien ein ausgetretener Pfad vor ihnen, der von den Hirten mit ihren Herden geschaffen worden war. Es ging steil den Berg hinauf und die Gruppe musste hintereinander weg reiten. Marie schaute nach vorne und versuchte stetig herauszufinden, wohin dieser Pfad sie führte. Nach ein paar Höhenmetern kamen sie auf einem ebenen Terrain mitten in steil abfallenden Hängen raus. Hier hielt die Gruppe an und Marie schaute sich neugierig um.

Ein kleiner Wasserfall fiel in der Ferne von den Klippen. Seine feine Gischt wurde mit dem Wind bis zu diesem, von der Natur geschaffenen Platz getragen und schwebte auf die festgetretene Erde nieder. An einer Seite ging der Platz mehr und mehr in die Hügel über, große Felsen und die steile Klippe begrenzten den Raum auf der anderen. Etwa drei Dutzend Meter zu ihrer Linken stand ein Holzgestell mit einer Baumscheibe, auf der mehrere bunte Ring aufgemalt waren. Gerade als sich Marie die Frage stellte, wer diese Schießscheibe hier oben nutze, stiegen ihre Begleiter aus den Sätteln.

Marie glitt ebenfalls von Goldis Rücken und klopfte ihrer Stute den Hals. „Ist das hier euer geheimer Übungsplatz?“, scherzte sie. In diesem Moment kam ihr Verlobter auf sie zu und Marie sah an dem Sturm in seinen Augen, dass er nicht für Scherze aufgelegt war.

„Du wirst lernen, dich zu verteidigen“, knallte er ihr ungeschönt vor die Füße. „Ninak wird dir alles beibringen, was du wissen und können solltest.“ Das Bündel, das er mitgebracht hatte, warf er zu Boden. Zum Vorschein kamen zwei Stöcke, genau so lang wie er groß war. „Die Jungs und Dwalin unterstützen euch.“

Perplex riss Marie die Hände hoch. „Moment mal, eine Sekunde!“ Sie starrte zwischen den Stöcken und ihm hin und her. „Ich soll kämpfen?“

„Du hast es selbst gesagt“, offenbarte Thorin unbewegt. „Wir brauchen einen Schlachtplan.“

„Aber…ich meinte damit doch…. Du hast… Ich habe noch nie in meinem Leben eine Waffe geführt!“

„Dann wird es Zeit.“

„Thorin, ich kann nicht…“ Ihre Widerworte erstickte er in einem Kuss. Er war brutal, er war rau und er durfte niemals enden.

Viel zu schnell war seine Nähe wieder fort. Als müsste er sich zwingen. Als würde etwas Schlimmes geschehen, wenn er sich ihr noch länger hingab. Er ging zurück zu Nachtschatten und stieg wieder aufs Pferd.

Aus ihrer Starre erwachend lief Marie ihm nach. „Wohin willst du?“

„Ich will Smaug nicht zusehen lassen. Ich würde dir vielleicht deine einzige Chance damit nehmen.“ Sie starrte zu ihm empor, doch Thorin schnalzte mit der Zunge und wendete seinen Rappen.

Die letzten Sekunden noch verarbeiten zu versuchend schaute Marie ihrem davon preschenden Verlobten nach. Der Wunsch, dass er geblieben war, wurde übermächtig.

„Lass uns loslegen. Wir haben einiges vor.“ Ninak nahm einen der Stöcke und wiegte ihn probeweise in der Hand.

Marie wirbelte zu den anderen herum. „Ihr wusstet, was er vor hatte?“

„Hättest du ohne weiteres eingewilligt, wenn du davon gewusst hättest?“, fragte Dwalin stattdessen.

Für einen Moment dachte Marie darüber nach und schloss ihren Mund.

„Dachte ich mir.“ Dwalin setzte sich auf einen Stein und die Jungs machten es sich im Gras bequem, ganz so als würden sie gleich etwas Lustiges zu sehen bekommen.

Mit einem mehr als ungutem Gefühl drehte sie sich zu Ninak um, die sie mit ernster Miene zu von oben bis unten wie ein Stück Metall bemaß, das es zu bearbeiten galt. Anscheinend hatte sie tatsächlich vor, eine Kriegerin aus ihr zu machen. Marie machte gedanklich schon mal ihr Testament.

„Also, hör zu und versuche die Dinge gleich beim ersten Mal umzusetzen. Ich widerhole mich nur ungern und wir haben nicht viel Zeit. Ich werde dir zeigen, wie du einen körperlich überlegenen Gegner außer Gefecht setzt oder so überwindest, dass du davon rennen und Hilfe holen kannst. Entscheidend ist, wie der Gegner dich angreift. Und was für eine Waffe er bei sich hat. Wir gehen als erstes davon aus, dass er keine Waffe hat“, sagte sie und warf demonstrativ den Sock zurück zum anderen.

Mittlerweile war Marie bei Panik angekommen. Sie hielt es nicht mehr aus. „Ninak, warte mal kurz! Was tun wir hier eigentlich?“

„Ich bringe dir bei, wie du dich gegen Smaug verteidigst, sollte er es schaffen, Thorins Körper in Besitz zu nehmen.“

„Ich soll mich gegen Thorin verteidigen?“

„Gegen Smaug“, korrigierte sie. „Wenn du es tun musst, dann gibt es Thorin nicht länger.“

„Aber…“

„Halt endlich den Mund, Mädchen, und hör zu.“ Dwalin hat sich erhoben und kam auf sie zu gestapft. Das Herz rutschte ihr endgültig in die Hose. „Deine Hoffnung in alle Ehren, aber wir müssen uns auch eine Strategie überlegen, wenn es zum Schlimmsten kommt, ehe wir Brauchtal erreichen. Keiner möchte sich das vorstellen, aber so ist es nun mal. Das gehört zu einem Schlachtplan dazu. Wir müssen uns auf alles vorbereiten. Wir müssen stärker sein als Smaug, verstehst du das?“

Marie schluckte an dem Kloß in ihrem Hals. Wir müssen stärker sein als Smaug. „Ich verstehe.“

„Gut. Gib dein Bestes.“ Er ging wieder zu seinem Beobachtungsposten und ein ganz anderer Gedanke kam auf.

„Das Baby…“, formte Marie lautlos mit den Lippen.

„Vertrau mir“, flüsterte Ninak, „ich würde nichts tun, was es in Gefahr bringen könnte.“ Dann räusperte sie sich und machte dort weiter, wo sie aufgehört hatte. „Also, wie ich schon sagte: die Situation entscheidet, wie der Angriff stattfinden wird. Kili, komm her.“ Der unfreiwillige Freiwillige kam zu den Frauen getrottet. „Wenn du von vorne angegriffen wirst, wird er sich wahrscheinlich auf deinen Hals konzentrieren. Entweder er drückt dich gegen eine Wand, versucht dich zu erwürgen oder will dir das Genick brechen.“

Marie versuchte das Engegefühl in ihrem Hals zu ignorieren.

„Ich zeige dir, wie du ihn in einem solchen Fall abwehren kannst. Greif mich an, Junge.“ Mit ausgestreckten Händen stürzte sich Kili auf seine Ziehtante. Kurz bevor er ihren Hals zu fassen bekamen, schlug sie ihm gegen die Arme, duckte sich seitlich unter ihnen hindurch und wich ihm so aus. Kili stolperte ins Leere. Spielend leicht hatte es ausgesehen, doch Marie bezweifelte stark, dass das bei ihr auch so aussehen würde. Sie wollte sich wirklich auf den Unterricht einlassen, aber ihre Gedanken waren ein einziges Chaos.

„Das wäre jetzt der Zeitpunkt, um wegzulaufen und Hilfe zu holen“, bemerkte Ninak und drehte Kili den Rücken zu.

Weglaufen. Hilfe holen. Das kriege ich hin.

Doch Kili hatte noch nicht aufgegeben. Als seine Tante scheinbar abgelenkt war, startete er einen zweiten Angriff von hinten. Sein Arme schlangen sich um ihre Kehle, Ninak aber packte ihn, zog ihn noch näher und warf ihren Oberkörper nach vorne. Kili wurde über ihren Rücken katapultiert und landete wie ein Sack Mehl auf der Erde. „Glaubst du ernsthaft, ich hätte den nicht kommen sehen?“ Ächzend rollte er sich herum. Sein Bruder lachte laut.

Die Kriegerin wandte sich zurück an ihrer Schülerin. „Jetzt du.“

Mit dem neuen Atemzug, den sie nahm, hoffte sie gleichzeitig auch mehr Mut zu fassen. Sie stellte sich in Position – oder so, wie sie dachte, sich richtig hinzustellen und machte sich mental bereit. Komm schon. Du kannst das.

Kili stand auf, klopfte sich den Dreck von den Klamotten und kam auf sie zu. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Das ist nicht Kili. Das ist Smaug. Das ist nicht Kili. Das ist Smaug, wiederholte sie im Geiste wie ein Mantra. Sie ließ ihn näher kommen, dann hob sie die Hände.

„Guter Stand“, kommentiere Ninak. „Jetzt wegdrücken!“

Sie versuchte, genau das zu machen, was Ninak getan hatte. Als sie jedoch die ausgestreckten Arme beiseite drücken wollte, dachte sie, wie würde Stahl bewegen wollen. Ihre Gegenwehr hatte kaum Wirkung und ehe sie sich versah, lagen Kilis Hände auf ihren Schultern und drückten zu.

Eine wütende Ninak schob sich dazwischen. „HALLO?? Nicht so zaghaft! Da will dich jemand umbringen!“ Sie haute ihr gegen den Arm.

„Aua!“

„Gleich nochmal!“

Wieder und wieder musste sich Marie gegen Kili auf diese Art verteidigen. Er schonte sie nicht, er ging es nicht langsam an und Marie landete mehrfach auf der Erde, wenn sie den Halt verlor. Frustriert klatschte sich Ninak die Hand auf die Stirn. „Du bist so gut wie tot.“

„Ich hab keine Kraft.“ Ihr Jammern klang selbst in ihren eigenen Ohren schwach. Was sollte das werden, wenn sie diese erste Lektion schon nicht umsetzen konnte?

„Sie hat Recht“, meinte Kili. „Sie ist echt ein Fliegengewicht.“

Doch Ninak wollte von all dem nichts wissen. „Stärke hat doch nichts mit körperlicher Kraft zu tun. Und komm mir jetzt nicht mit der Ausrede, dass du eine Frau bist. In Ordnung, wir müssen komplett bei null anfangen. Vielleicht sollten wir uns zuerst auf etwas anderes konzentrieren. Etwas, was du kannst.“ Plötzlich glomm in ihren Augen ein Funken auf und sofort wusste Marie, dass das nichts Gutes für sie bedeuten würde.

„Mal sehen, wie schnell du bist. Versuch Dwalin zu entkommen. Von Statur und Gewicht müsste er fast gleich mit Thorin sein. Ich gebe dir drei Sekunden Vorsprung. Eins.“

„Wie bitte?“

„Zwei.“

Ehe Marie realisierte, was sie tat, rannte sie los.

„Drei“, verklang das Kommando und Dwalin nahm die Verfolgung auf.

 

~

 

Der Wind zerrte an seiner Kleidung wie ein hungernder Bettler an dem Mantelsaum eines vorbeigehenden Herren. Tief über den Pferdehals gebeugt jagte Thorin über die leeren Ebenen und grasbedeckten Berghänge seiner Heimat. Nachtschatten trat weit aus und flog mit dem Wind und den Wolken um die Wette.

Die steil abfallende Klippe, die vor ihnen erschien, beendete den meilenweiten Ritt ohne Ziel. Ein Versuch, vor sich selbst zu flüchten. Der schwarzer Hengst kam zum Stehen, Thorin sprang von seinem Rücken und zog Orcrist. „SMAUG!!“ Weit wurde seine Stimme ins Gebirge getragen und schallte von den Felswänden wieder. Suchend drehte er sich im Kreis. „SMAUG!!“ Der Drache antwortete ihm nicht.

Thorin legte den Kopf in den Nacken und atmete die klare Luft, konzentrierte sich auf sich selbst. Am Himmel kreisten Greifvögel. Er verfolgte ihren Flug, sah ihnen dabei zu, wie sie Bahnen und Schleifen zogen, ehe er die Augen schloss…

Seine Anwesenheit drang schleichend zu ihm durch wie ein sich anpirschender Wolf. Nichts deutete auf ihn hin, bis zu dem Moment, an dem sein Opfer das Gefühl über den Nacken kroch, beobachtet zu werden. Langsam öffnete er die Augen und spürte sämtliche Haare sich auf seinem Körper aufstellen. „Ich dachte schon, ich wäre dich mit ein bisschen Alkohol losgeworden. Hatte eigentlich gedacht, du kannst mehr vertragen. Du enttäuscht mich.“ Dunkelheit ballte sich in seiner Brust, breitete sich in den letzten Winkel seiner Seele aus. Er roch ihn, schmeckte Blut, Asche und Rauch. Hörte ihn. Ein Grummeln, so alt wie die Zauber dieser Welt drang tief aus seinem Inneren, Hass und Abscheu in sich tragend.

Große Töne für einen so kleinen Mann in deiner Lage...

Smaugs Stimme war so nah, dass Thorin sich unweigerlich umdrehte. Doch natürlich stand er nicht hinter ihm. Nur Nachtschatten zupfte ein paar Meter abseits am Gras. Ansonsten waren sie ganz allein hier draußen. Der Gefängniswächter und sein Gefangener.

 

~

 

„Gar nicht mal so schlecht für jemanden, der so ungeübt ist wie du.“ Zufrieden mit Lektion 2 schaute Ninak auf eine japsende Marie, die auf Knien kauerte und jeden Moment ihre Lunge zu Tage beförderte. „Los, weiter geht’s.“

„Ich brauch eine Pause…“

„Du atmest, du kannst sprechen, du hast noch Luft. Weiter!“

Marie hob den Kopf und spie im Stillen sämtliche Verwünschungen in Richtung ihrer erbarmungslosen Lehrerin aus.

Die nächsten Stunden wurden zur Schwerstarbeit. Der Schweiß strömte ihr mittlerweile über den Rücken, brannte in ihren Augen und ließ ihr Hemd an ihrem Körper kleben. In schnellen, harten Abfolgen knallten die Stöcker aufeinander, als sie in die Grundlagen des Kämpfens eingeweiht wurde. Oft traf Ninak sie und malte ihr blaue Flecke unter die Haut. Marie beklagte sich kein einziges Mal, sondern biss die Zähne zusammen und ertrug jede Lektion stumm.

 

~

 

„Wo warst du so lange, Schlange? Wirst du etwa müde?“ Vor seinem inneren Auge tauchten bronzefarbene Schuppen hinter Gitterstäben auf. Ein großes orangenes Auge fokussierte sich auf ihn und die Stimme sprach:

Keineswegs. Es wird immer interessanter, findest du nicht auch?

Ohne etwas zu erwarten zu sehen, suchte er die Berghänge und Schluchten nach dem Schatten eines Tieres ab, das über ihm hinwegflog. Niemand konnte den Drachen sehen. Smaug war nur noch ein Geist, seine körperliche Gestalt in ihrem Gefängnis ein Konstrukt von Thorins Kopf, sich einen Gegner vorzustellen. „Eher nervig, wenn du mich fragst.“

Nervig ist nur deine Sturheit, Thrrronräuber. Es amüsiert mich, wie ihr das Unmögliche versucht. Eure Hoffnung ist geradezu lächerlich. Und dieser Zauberer ist der Dümmste von allen – gleich nach dir natürlich.

Thorin verdrehte die Augen. „Nur Dumme unterschätzen Gandalf.“

Was kann dieser Greis gegen mich ausrichten?, erwiderte Smaug unbeeindruckt. Was kann irgendjemand gegen mich ausrichten? Ich bin die mächtigste Kreatur jenseits des südlichen Meeres. Vom nördlichen bis zum östlichen Himmel, jeder kennt meinem Namen. Ich bin Feuer, ich bin der Tod…

„Ein einziger, winzig kleiner Pfeil hat dich vom Himmel geholt. Schon vergessen?“ Thorin fühlte die Genugtuung und konnte Smaugs hasserfüllten Blick förmlich sehen. „Du bist abgestürzt, wie eine angeschossene Gans. Du hast dem Gold den Rücken gekehrt und uns den Berg überlassen, nur um deine Rache auszuleben. Deine Überheblichkeit widert mich an.“

Mittlerweile hatte er Smaug dazu gebracht, hinter den Gitterstäben hin und her zu laufen. Zwischen seinen Brustschuppen glühte es. Das Drachenfeuer strahlte seine Hitze bis in seine eigene Brust. Den Drang, sich über die Haut zu reiben, musste Thorin unterdrücken. Er konnte sehen, wie die Krallen der Bestie ins Leere griffen, wie er Reihen von dolchartigen Zähnen entblößte und vor sich hin grummelte.

Spuck nur große Töne, Zwerg. Mach deine Witze. Fühl dich gut. Ihr wisst niccchts über die Macht, die iccch besitze. Glaubt ihr wirklich, Zauberer und Elben können mir etwas anhaben? Ihr reist völlig umsonst nach Bruchtal. Es ist zu spät. Iccch habe deine Seele bereits zerstört. Iccch habe dein Blut vergiftet. Iccch habe deine Träume zu meinem Eigen gemacht. Du hast mein Angebot ausgeschlagen und nun wird deine Familie für deinen Stolz bezahlen.

Thorins Hand um den Schwergriff wurde weiß, als er zudrückte.

Du hast es in deinen Träumen gesehen. Der jämmerliche Versuch, ihr etwas beizubringen, zögert nur ihren Tod hinaus. Am Ende wird sie durch deine Hand sterben. Aber wenigstens macht es das Ganze für mich nicht allzu langweilig.

Orcrist begann in seiner Hand zu zittern. Thorin sammelte seine Stimme. „Du weißt nicht, wie stark sie ist.“ Smaug lachte und er kniff die Augen zu. Grausam wallten seine verächtlichen Worte durch ihn hindurch.

Diese Frau ist schwach!, fauchte der Drache ihm entgegen und fachte mehr und mehr das Feuer an, das seinen Körper in Brand setzte. Sie wird nicht den Hauch einer Chance gegen mich haben! Verabschiede dich von ihr und deinen Neffen. Sie sind die ersten, die sterben werden.

Mit einem Schrei wirbelte Thorin das Schwert herum.

ICH ZERREISSE SIE VOR DEINEN AUGEN!

Er spaltete einen imaginären Gegner vom Schädel bis zur Hüfte. Die geschwungene Klinge zog weite Kreise und hinterließ eine Schneise der Verwüstung, die nur er sehen konnte. Fühlen konnte.

Deine eigenen Hände werden gefärbt sein mit ihrem Blut!

Thorin hackte, er zerstückelte, zerschnitt alles um sich herum.

Sie werden sich bei dir in Sicherheit fühlen und genau dann wirst du sie töten! DEINE FAMILIE LÖSCHE ICH AUS! DEIN LAND WIRD MEINES SEIN! ICH HOLE MIR DAS, WAS MEIN IST UND STÜRZE DIE ZWERGENREICHE INS CHAOS BIS DEIN VOLK MIR GEHÖRT!

Mit beiden Händen packte er die Waffe, rammte sie mit aller Kraft nach unten. Die Klinge fuhr tief in die Erde. „HÖR AUF!“ Sein Schrei schallte von den Berghängen wieder. Seine Hände griffen seinen eigenen Kopf, als könnte er ihn packen und ihn so daran hindern, ihn zu zerstören. Nutzlos griff er in sein Haar und versuchte verzweifelt die Wunde zuzudrücken, aus der sein Seelenlicht herausströmte.

Du kannst sie nicht vor mir retten, Eichenschild, flüsterte Smaug an seinem Ohr, als stünde er direkt hinter ihn.

Schwer atmend stand Thorin da und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Der Wind fuhr um seinem Körper, ließ ihn schwanken, ließ ihn frösteln und trug die unheilvollen Worte der Bestie wie ein Versprechen bis in den Himmel hinauf.

Sie werden alle sterben. Niemand kann mich besiegen…

 

~

 

„Schlag zu.“

Verwirrt sah sie zwischen Ninak und Fili hin und her. „Ich soll…?“

„Du hast richtig gehört. Benutz deine Faust. Du musst die Hemmung verlieren. Der erste Schlag kostet immer Überwindung.“

„Ich hab schon mal jemanden geschlagen“, warf Marie ein. Leider hatte niemand der hier Anwesenden ihren Sieg gegen Donja auf Kerrts schlammbedeckten Markplatz miterlebt und so glaubte ihr Ninak natürlich kein Stück.

„Ja, nee, ist klar. Los. Schlag zu.“

Marie sah Fili an, der mit verschränkten Armen vor ihr stand. Sie konnte doch nicht ihren Jungen schlagen! Anscheinend wollte er es ihr leichter machen und hielt ihr schon mal seine Wange hin. Sie hatte keine Wahl. Marie schluckte, dann ballte sie die rechte Faust.

Poch!, macht es an seinem Gesicht und Fili öffnete die Augen. „Das war alles?“

Ninak vergrub das Gesicht in den Händen. „Nochmal!“

Sie arbeiteten an ihrem Stand, an ihren Bewegungen und Marie lernte, wie sie schützend die Arme vor ihren Kopf halten und Schläge abfedern sollte. Danach kümmerten sie sich wieder um die Selbstverteidigung.

„Im Nahkampf ist das einer der effektivsten Wege, deinen Gegner bewegungsunfähig zu machen. Oft hast du nur Sekunden zum Reagieren, also sei schnell und zögere nicht.“ Ninak fasste Fili an den Schultern, dann rammte sie das Knie hoch. Instinktiv krümmte er sich zusammen, doch seine Ziehtante hatte zum Glück nur angedeutet. „Dorthin, wo es am meisten wehtut. Verstanden?“

„Ich glaube schon.“ Marie nahm Ninaks Platz ein. Fili packte sie am Kragen ihres Hemdes und sie hielt sich wiederrum an ihm fest. Wie Ninak zuvor deutete auch Marie es an, doch wieder krümmte sich Fili, als könnte er seine Instinkte nicht abschalten.

„Ich glaube, sie hat es verstanden!“, beendete er mit bleicher Gesichtsfarbe diese Übung, heilfroh, unbeschadet davongekommen zu sein.

„Gehen wir nun einen Schritt weiter.“ Ninak winkte ihren Mann zu sich, der gehorsam zu ihnen getrottet kam. „Thorin wird viel kräftiger sein als du. Du musst deshalb schneller sein als er. Greif deinen Dolch.“ Marie tat wie befohlen und zog ihn von ihrem Waffengurt. „Gut. Wenn du stichst, darfst du keine Sekunde zögern. Die Klinge kann zwischen den Rippen stecken bleiben oder sie prallt daran ab. Ein Bauchstich ist deshalb besser oder direkt in die Nieren.“ Ganz von allein drehte Dwalin ihnen den Rücken zu und Ninak zeigte zu beiden Seiten seitlich auf die richtige Stellen. „Hier und hier. Fest rein. Als Heilerin müsstest du ja wissen, welche Verletzungen tödlich sind. Das muss ich dir also nicht erklären.“

Augenblicklich gefror das Blut in ihren Adern. Von der einen zur anderen Sekunde wurde Marie klar, dass ihr gerade das Töten beigebracht wurde. Erschrocken wich sie zurück. „Du solltest mir zeigen, wie ich mich verteidige - nicht wie ich Thorin töte!“

Die Gesichtszüge der Kriegerin blieben unbewegt. „Vielleicht bleibt dir gar nichts anderes übrig.“

Übelkeit stieg ihr bis in den Hals hinauf und machte ihr das Atmen schwer. Ninak schloss ihre Finger feste um Maries, die immer noch den Dolch hielt, als wollte sie ihr die Waffe in die Haut drücken, damit sie sie niemals losließ. Plötzlich sträubte sich alles in ihr danach, diese Waffe zu halten. Sie wollte sie weder ansehen, noch berühren, noch besitzen. Das konnten sie nicht von ihr verlangen!

„Wenn du deine Waffe gegen ihn erhebst, ist es nicht länger Thorin! Das muss dir klar werden.“

Marie wehrte sich, versuchte zu entkommen, wollte sich verkriechen, verstecken, doch Ninak hielt sie erbarmungslos fest.

„Die Angst darf dich nicht beherrschen. Du musst zuschlagen. Zustechen. Zutreten. Ohne zu Zögern. Verstehst du? Es geht um dein Leben!“ Ihr Blick huschte nach unten und Marie hörte den ungesagten zweiten Satz im Geiste. Und um das Leben eures Kindes.

Ihr Herz wurde in zwei Teile zerrissen. „Ich kann das nicht…“

Gerade wollte Ninak etwas erwidern, da schweifte ihr Blick in die Ferne ab. Mit schreckgeweiteten Augen drehte sich Marie ebenfalls in die Richtung und sah den Reiter, der sich über den Hügel näherte. Thorin war zurückgekehrt.

Sie hatte keine Zeit, ihre Gedanken zu sortieren. Als wäre ein Dämon hinter ihm her, galoppierte er heran und war nur Sekunden später bei ihnen. Die Jungs und Dwalin erhoben sich, als Thorin aus dem Sattel stieg und ohne Umschweife auf sie zu kam. „Und?“, fragte er direkt an Ninak gewandt.

Diese machte dicke Backen und zuckte mit den Achseln. „Sie kann schnell laufen.“

Thorins Miene wurde zu einem einzigen Steinblock. „Ist das alles?“ Sein Blick richtete sich auf Marie, als hoffte er, von ihr etwas anderes zu hören.

Seine Verlobte schluckte an dem dicken Kloß in ihrer Kehle. „I-ich hab mein Bestes gegeben.“

Das gab Thorin den Anlass an der Schnalle des Schwergurtes herumzunesteln. Dann warf er die Waffe auf die Erde. „Zeig mir, ob dein Bestes gut genug ist.“ Er machte einen Schritt auf sie zu und Marie wich unweigerlich vor ihm zurück. „Kannst du mich töten, wenn du keine andere Wahl hast?“ Bedrohlich kam er auf sie zu, die Augen dunkel vor Kummer.

„Deshalb also sind wir hier“, wisperte Marie. „Ich sollte beigebracht bekommen, wie ich dich töte.“ Sein Schweigen war die Antwort. „Thorin, bitte…“

Niemand hielt es mehr an Ort und Stelle aus. „Los, Marie!“

„Nimm Haltung ein! Deine Füße!“ Die Anfeuerungsrufe der Jungs hatten keinerlei Wirkung.

Alles in ihr stäubte sich gegen das, was man von ihr erwartete. „Bitte… Thorin, bitte…zwing mich nicht dazu…“ Tränen nahmen ihr die Sicht.

„Tu es…“, formten seine Lippen.

Verzweifelt hob sie ihren Dolch und bleib stehen, obwohl jeder Teil ihres Körper sich weigerte. Die Spitze zeigte direkt auf seinen Hals, doch plötzlich war die Waffe schrecklich schwer.

„Zeig ihm, was ich dir beigebracht habe!“ Ninak schrie sich fast die Kehle raus. Wie eine Kampfrichterin stand sie neben ihnen und doch waren ihr die Hände gebunden.

Auch als die Klinge auf ihn zeigte, blieb Thorin nicht stehen. Mit starrem Blick kam er immer näher. Ihr ausgestreckter Arm zitterte wie Espenlaub.

„Stech zu! Jetzt! STECH DOCH ZU!“

Erst als der kalte Stahl seinen Hals berührte, blieb er stehen und Marie sah dem Vater ihres ungeborenen Kindes in die Augen. Derselbe Schmerz...

„Töte mich…“

In diesem Moment ließ sie los. Der Dolch fiel zu Boden und Marie sank auf die Knie, hielt schützend die Arme über ihren Kopf. Das Schluchzen brach aus ihr heraus und schüttelte ihren Körper.

Thorin sah auf Marie hinab, die vor seinen Füßen kauerte und ihre Verzweiflung herausließ. Die anderen standen hilflos drum herum. Ninak legte sich die Hand auf den Bauch und atmete tief durch. Fili raufte sich die Haare. Fluchend trat Kili einen Erdklumpen weg und Dwalin stemmte die Hände in die Hüften und ging ein paar Schritte.

„Komm her.“ Sanft, aber bestimmt fasste Thorin seine Verlobte unter die Arme und zog sie wieder auf die Beine. Sofort verbarg sie das Gesicht aus Scham in seiner Jacke. „Schschsch...“ Er konnte versuchen, ihr Halt und Trost zu geben, doch nichts würde ihre Seele davon erreichen. Es war ein tiefer Vertrauensbruch, den er am heutigen Tag herbeigeführt hatte. Er hielt seine Arme um Marie, die sich an ihn drückte und ihren Schmerz über seinen Verrat herausließ, blickte über sie hinweg in die Ferne und kämpfte gegen das betäubende Gefühl der Ohnmacht an.

„Es waren nur ein paar Stunden“, warf Ninak eilig ein. „Gib ihr mehr Zeit zum Trainieren.“ Dwalins Hand auf ihrer Schulter stoppte sie.

„Du kannst nicht aus ihr etwas machen, was sie nicht ist.“

„Wir können auf den Weg nach Bruchtal noch trainieren…“, versuchte es Fili noch einmal. Doch Thorin hatte bereits seine Entscheidung getroffen.

„Dwalin hat Recht.“ Der Wind fuhr ihnen durch die Körper und er legte die Arme enger um Marie. Niemals würde er zulassen, dass ihr etwas geschieht. „Wenn sie es nicht tun kann…dann müsst ihr es tun.“

Alle schauten ihn an. Auch Marie hob den Kopf und blickte zu ihm hinauf, seine Worte zu verstehen versuchend. Tausende Fragen lagen in ihrem Blick, die Ungewissheit und die unbeschreibliche Furcht vor das, was als nächstes geschehen würde… doch kein Einwand würde seine Entscheidung rückgängig machen können.

„Onkel, was hast du vor?“

Die Frage erübrigte sich, als er unter sein Hemd langte und die schwarze Schnur der Kette herauszog, die er Tag und Nacht um den Hals trug. Die Anwesenden wurden Zeuge, wie ihr König sich die Lyrif-Kette vom Kopf zog und stattdessen Marie umlegte. Fassungslos schaute diese erst auf den Anhänger, dann hob sie erneut das Gesicht, wollte etwas erwidern… Thorin ließ es nicht zu.

„Wenn sie reinen und aufrichtigen Herzen weitergegeben wird,“, sprach er, „beschützt sie ihren Träger vor jedem Feind. Sie hat mich vor dem Tod bewahrt und ich hoffe, dass sie auch bei dir ein Wunder vollbringt. Sie wird dein Leben beschützen, wenn ich es nicht mehr kann.“ Nun richtete sich sein Blick auf die Umstehenden und die Worte, die seine Lippen verließen, besiegelten sein Schicksal. Lange hatte er darüber nachgedacht und doch war er immer wieder zu diesem Punkt zurückgekehrt. Es auszusprechen war befreiend, es gab ihm die Gewissheit, das einzig Richtige zu tun. Die Hoffnung, seine Familie und sein Volk dadurch beschützen zu können. „Ihr müsst mir etwas versprechen“, richtete Thorin das Wort an sie alle.

Sein Vorhaben blieb nicht unbemerkt. Smaug schien seine Absichten zu spüren und das Treiben seines Wirtes beunruhigte ihn merklich. Eiccchenschild, was tust du da?

„Wenn der Tag gekommen ist, an dem Smaug meinen Körper unter Kontrolle hat… Wenn ich nicht mehr derjenige bin, der ich war, dann müsst ihr für Maries Schutz sorgen… und diesem Land einen Dienst erwiesen. Tötet mich, wenn ihr keine andere Wahl habt. Ich befehle es euch.“

„Nein!“ Mit aller Macht versuchte Marie seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Liebling, bitte, hör auf. Du musst das nicht tun! Bitte! Es gibt einen andere Weg… es muss einen anderen geben…“

Doch Thorin war starr wie eine Steinsäule, ihr Zerren an ihm, ihr Flehen ließen ihn unbewegt. Sie konnte ihm nicht umstimmen. „Gebt mir euer Wort.“

„NEIN! Tut es nicht!“ Marie wirbelte zu den anderen herum, doch er packte sie und hielt sie so fest bei sich, bis sie sich nicht mehr bewegen konnte. Sie zerrte und zog, versuchte sich loszureißen, sie irgendwie daran zu hindern… Alles war vergeblich.

Unter Tränen musste sie mit ansehen, wie schließlich Dwalin vortrat und auf ein Knie niedersank. „Wenn der Tag kommen sollte“, sprach der große Krieger mit belegter Stimme, „dann werde ich deine Familie beschützen… unser Volk vor dem Untergang bewahren…und deinem Befehl Folge leisten. Ich werde dich töten, mein Bruder. Das schwöre ich bei meiner Axt und allem, was mir heilig ist. Ich werde meinen Bruder töten.“

Die Worte gingen jedem unter die Haut. Thorin kämpfte mich sich selbst und hielt verzweifelt Smaugs Zorn aus. Mit dieser List hatte er ihn in Bedrängnis gebracht. An seiner Reaktion war abzulesen, dass er damit den Drachen in ernsthafter Sorge nicht nur um seine Pläne, sondern gar um seine ganze Existenz gebracht hatte. Sollte er sterben, würde auch Smaug für immer verschwinden. Ein weiterer Beweis für ihn, dass Richtige zu tun. Aber es war so schwer… Hätte er seine Hände nicht in Maries Kleidung gekrallt, so wäre er wahrscheinlich mit ihr in diesem Moment zusammengebrochen. Selbst als seine Jungs vortraten hielt er sich aufrecht, eine sich windende und zerrende Marie fest zugepackt, obwohl sein Innerstes längst tot und leer war.

„Fili, Kili… Das könnt ihr nicht…“ Maries Stimme war nur noch ein Wispern.

Unbewegt blickte Thorin seine Neffen an, die in diesem Moment vor ihm in die Knie gingen und ihre Dolche zogen. Die Klingen aufrecht vor ihre gesenkten Gesichter haltend sprachen sie: „Möge dieser Tag nie kommen… Ich schwöre es“, sagte Fili.

„Ich schöre es“, sagte auch Kili und Thorin musste die Augen schließen. Was tat er ihnen hier an?

Als Letzte trat Ninak vor und auch sie flehte Marie an, es nicht zu tun. Ohne Erfolg.

Genau wie die Jungs zog auch sie ihren Dolch, kniete nieder und folgte dem Befehl ihres Königs. „Ich schwöre es.“

Eine Träne fiel still und leise. Malte Spuren auf Thorins Gesicht.

 

28

 

 

Ratternd und ächzend hob sich eines der kleinen Tore empor, die die Stallungen mit dem Hochland verbanden, und öffnete den Weg für die zurückkehrenden Reiter. Es war ein langer und stiller Rückweg gewesen.

Sie ritten in den Berg; mit Augen und einem Herzen aus Eis Thorin voran, die anderen folgten bedrückt. Mitten unter ihnen trottete Goldi. Ihre Reiterin schaute mit rotgeränderten Augen hinab auf die Ohren ihrer Stute und sprach kein Wort. Auf dem ganzen Rückweg hatte sie geschwiegen, weder nach rechts, noch nach links geschaut. Marie wollte nicht die Gesichter derer sehen, die geschworen hatten, den Mann umzubringen, den sie liebte. Es war Verrat. Eiskalter Verrat.

Dankbar, dass ihre brave Stute den Weg allein fand, ließ Marie sie bis vor ihre Box laufen. Dort rutschte sie aus dem Sattel und stand einen langen Moment bei ihr, hielt sich an ihr fest, in der Hoffnung, geerdet zu werden. Doch die letzten Stunden konnte man nicht einfach ausblenden. Gesprochenen Worte nicht vergessen.

Obwohl sie dachte, keine Tränen mehr übrig zu haben, begannen sie erneut in ihren Augen zu brennen. Der Schmerz über Thorins Entscheidung drohte sie zu vernichten. Schon Morgen würden sie Gandalf folgen und sich auf die lange Reise nach Bruchtal begeben. Jetzt gleich würden sie die letzten Sachen packen, letzte Anweisungen für ihre Abwesenheit geben. Vielleicht würde Thorin noch den Rat einberufen oder ein paar Worte an ihr Volk richten… In der Ungewissheit, seine Heimat je wiederzusehen.

Wie sollten sie verheimlichen können, was geschehen war? Wie sollte sie bloß weitermachen, jetzt da sie wusste, was passieren würde, sollten sie scheitern? Wie sollte sie zusammen mit den Mördern des Mannes weiterleben, der ihre große Liebe gewesen war?

Jeder von ihnen hoffte, dass Gandalfs Plan aufgehen würde. Dass sie mit der vereinten Hilfe von Zauberern und Elben diesen Fluch brechen würden… Doch was war, wenn sie es nicht schafften? Dann wollte er erneut ein Opfer bringen, um sie vor Smaug zu retten. Er wollte sterben. Für sie. Für seine Familie. Für sein Volk.

Die unbeschreibliche Angst vor diesem einen Moment ließ Marie aufschluchzen. Wenn das seine Liebe war, wie weh musste es erst tun, wenn er sie hasste?

Ein Stallknecht näherte sich ihr und sie drückte ihm Goldis Zügel in die Hand. Ohne auf eine Antwort von ihm zu warten, lief sie davon.

„Onkel.“

Thorin, der gerade Nachtschatten zu seinem Quartier bringen wollte, schaute zu Fili. Sein Junge wies in die andere Richtung und Thorin sah gerade noch Marie, wie sie die Stallgasse hinunter eilte.

„Geh. Du solltest jetzt bei ihr sein.“ Ninak nahm ihm Nachtschatten ab und Thorin bedankte sich mit einem kurzen Nicken, ehe er ihr nachlief. Er musste sich anstrengen, sie nicht aus den Augen zu verlieren, denn sie huschte zwischen Stallknechten hindurch, wich geschobenen Mistkarren und geführten Ponys aus.

Kurz darauf lagen die Stallungen hinter ihnen und die Stille des Berges empfing sie. Marie hörte Stiefelschritt und drehte sich um. Als sie Thorin erblickte, presste sie die Zähne aufeinander. Obwohl sie völlig erschöpft war, rannte sie schneller, beflügelt von der Wut, nicht allein sein zu dürfen. Ohne zu wissen, wohin sie führte, nahm sie die erstbeste Treppe. Der Treppengang schlängelte sich eine monumentale Säule empor und ihre Beine protestiertem bei jeder Stufe mehr und mehr.

„Marie…“ Er war dicht hinter ihr und versuchte, die letzten Meter zwischen ihnen auch noch zu überbrücken. „Marie, bleib stehen.“

Weil sie einsah, dass sie unmöglich den ganzen Weg rennen konnte, blieb sie stehen. Er holte sie ein und Marie wirbelte fauchend herum. „Wieso hast du das getan?!“

Keuchend schaute Thorin in mit Tränen gefüllte Augen, die an keiner Wildheit verloren hatten, obwohl sie gebrochen waren. „Weil das die einzige Möglichkeit ist, Smaug ein für alle Mal zu vernichten, sollten wir scheitern.“

Ein Kopfschütteln. Ein Flüstern. „Das werde ich nicht zulassen…“

„Du musst“, lautete seine Antwort.

Als er es wagte, sich ihr zu nähern, wich Marie vor ihm zurück. Plötzlich war da kalter Fels in ihrem Rücken. „Ich kann dich nicht sterben sehen. Versteh das doch...“

Wie viel konnte er noch ertragen? Sein Kopf sank nieder, seine Stirn kam auf ihrer zum Liegen und sie verharrten in intimer Nähe. Das Pochen ihres Herzens wurde zu ihm getragen. Ein Klang, so vertraut wie eine alte Melodie.

„Nimm sie zurück.“ Sein Mädchen wollte sich die Kette vom Hals ziehen, doch seine Hände griffen die ihre und verhinderten es. „Nimm sie… Bitte.“ Marie versuchte es trotzdem, doch er wich keinen Zentimeter zurück. Stattdessen löste er ihren verkrampften Griff um die Schnur. Er hatte seine Wahl getroffen.

„Sie gehört dir“, flüsterte er und der Körper ihm gegenüber wurde von einem Zittern erfasst. Thorin fing sie auf, gab ihr alles, was in seiner Macht stand und doch war es nicht mal ansatzweise genug. Sie klammerte sich an seiner Jacke fest, als sie den Schmerz nicht länger ertragen konnte, und suchte Halt bei dem ihr so vertrauten Körper. Er strich ihr die Haare zurück, küsste ihre Stirn. „Es ist der letzte Ausweg.“

„Es ist Mord. Wie kannst du das nur von ihnen verlangen?“ Raue Hände wanderten an ihr Gesicht, jede Schwiele, jede Narbe kannte sie. Seine Daumen fuhren über ihre Haut, wischten die Tränen fort und Marie schmolz unter seinen Berührungen dahin. „Thorin…“ Seine Lippen fanden ihre.

Marie wurde gegen die Wand gedrückte und stöhnte auf, als ihr Körper, der Verräter, auf seinen reagierte. Ausgehungert krallte sie sich in seine Schultern, wollte ihn niemals wieder loslassen. Ihr Bein schlang sich um seine Hüften, der Versuch ihn irgendwie mit allen Mitteln bei sich zu halten.

„Verzeih mir…“ Er übersäte ihren Hals mit Küssen und Marie bot ihn ihm bereitwillig dar. In diesem Moment drängte alles in ihr danach, ihr Geheimnis mit ihm zu teilen und ihm von dem Baby zu erzählen. Sie wollte ihn glücklich sehen, er sollte erfahren, dass egal wie es enden sollte, etwas von ihm auf dieser Welt zurückbleiben würde. Über diesen Gedanken schrak sie. Allein die Vorstellung tat so weh…

Wieder wurde sie aufgefangen, als sie drohte, den Boden unter ihren Füßen zu verlieren. Sie musste ihm sagen, wie sehr sie ihn liebte. Es gab noch so vieles, was sie ihm sagen wollte… doch er brachte sie mit seinen Küssen zum Schweigen. Wortlos nahm er sie bei der Hand und Marie folgte ihm.

Es war später Nachmittag. Die Stadt war belebt. Thorin aber mied die Hauptverkehrswege und schlug mit ihr entlegene, von allen vergessene Gänge ein. Es ging tief in den Berg. Keine Fackeln brannten hier. Keine Lampen strahlten ihr Licht bis hier hin. Spinnweben und Staub wirbelten sie auf, als sie gemeinsam vor ihrem Dämonen flohen.

Kalte Dunkelheit umgab sie, doch Thorin ließ ihre Hand nicht los. Immer wieder drückten sie sich von Lust überkommend an die Felswände und vergruben sich in dem anderen. Berührungen in der Dunkelheit wurden ausgetauscht, geflüsterte Worte im Schatten gesprochen. Liebensbekundungen verließen seine Zunge, direkt aus seinem Herzen stammend und machten ihr die Knie weich.

„Ich liebe dich, Thorin Eichenschild…“

Er küsste sie in der Dunkelheit, als wäre dies die letzten Stunden, die ihnen blieben.

 

Die Wachen standen still, als ihr Herrscher mit seiner Verlobten im Vorsaal der königlichen Gemächer auftauchte. „Ich will von niemanden heute mehr gestört werden“, machte er unmissverständlich klar, ohne auch nur ein bisschen langsamer zu laufen. Marie an seine Hand geklammert senkte vor Scham den Blick, als könnten die Wachen ihre Gedanken erahnen.

„Jawohl, Mylord“, kam mehrstimmig zurück.

Kaum waren die Soldaten außer Sicht warf sich Marie erneut an seine Brust. Schon längst waren die Küsse nicht mehr zärtlich, sondern fordernd und rau und ihr beider Atem kam nur noch Stoßweise. Thorin langte unter ihr Hemd und…

„Also wirklich!“ Auf der Treppe kam ihnen Piljar mit einem Stapel Wäsche entgegen und ließ Marie und Thorin wie zwei pubertierende Kinder auseinander springen. „Eure Lordschaft, ich muss doch sehr bitten!“

Ihr Glucksen konnte Marie nicht unterdrücken, als Thorin sie schleunigst an der rot anlaufenden Zofe vorbeizog.

Sie hatten es kaum durch ihre Tür geschafft, da machte sich Marie an seinem Gürtel zu schaffen. Der Druck in seinen Lenden war mittlerweile im Unerträglichen angekommen. Thorin glaubte jeden Moment zu explodieren. Keuchend ließ er sich gegen die Tür fallen und drückte sie hinter sich zu. Endlich ungestört.

Schon fasste Marie in seine geöffnete Hose und wurde mit hartem Fleisch für das Warten belohnt. Hinter dunklen Wimpern schaute er ihr zu. Seine Hüften stießen im Rhythmus, während ihre Hände seine harte Erektion verwöhnten. Durin, er würde kommen, wenn sie nicht gleich aufhörte. Noch in der Diele stehend riss er ihr das Hemd vor der Brust auf. Anstandslos zerrte Marie sich den nutzlosen Stoff von den Schultern. Auch ihr konnte es nicht schnell genug gehen und als sie sich die letzten Kleidungsstücke entledigt hatte und nur noch in knielangen Strümpfen vor ihm stand, konnte Thorin nicht anders als diese herrliche Frau auf seine Arme zu heben. Die Hände fest unter ihrem Hintern gelegt trug er sie quer durch den Raum. Er konnte ihren schlüpfrig feuchten Schoß an seinem steil aufgerichteten Glied fühlen und glaubte, Sterne zu sehen. Bettelnd nach mehr küsste Marie ihren König, der sie bis ins Schlafzimmer trug und die Türen mit der Hacke zumachte. Sie waren verschwitzt. Sie waren dreckig. Sie rochen nach Pferd und Leder…und er wollte sie so sehr. Wenn sie nicht jetzt bekäme, würde er wahnsinnig werden.

Marie wurde auf Felle gebettet und sofort umschloss sein Mund eine ihrer rosigen Brustwarzen. Keuchend wölbte sie den Rücken und als er ihre andere zwischen die Finger nahm, schrie sie verzückt auf. Es grenzte an Folter, aber Marie war bereits in dunkler See versunken. Er war ein Dieb, weil er ihr Herz gestohlen hatte. Er war ein Mörder, weil er es gebrochen hatte. Und sie war ihm hoffnungslos verfallen, weil es ihm allein gehörte.

Marie riss an seiner Jacke, bis sie offen war. Ihr Mund verließ kaum seinen, als sie sie von seinen Schultern zog. Das Hemd folgte, ihre Hände schlangen sich um seinen Rücken. Jede Sekunde ihn bei sich haltend.

Er legte die Hand auf ihren Bauch und sie merkte die Tränen erst, als er sie sanft von ihrem Gesicht strich. Sein Mund folgte der Landschaft ihres Körpers und ließ sie auf das Ende seiner Reise hin fiebern. Thorin küsste ihre Brüste, griff in die einladenden Hügeln aus Fleisch zwischen denen die Lyrif-Kette lag und drückte zu, bevor sein Mund ihren Bauch erreichte. Sein Bart strich sinnlich über ihre sensible Haut, seine Lippen umkreiste ihren Nabel und er rückte immer tiefer, hob ihre Schenkel und verschwand zwischen ihnen. Marie grub die Finger ins Fell und schloss die Augen…

Das Klopfen an der Zimmertür ließ sie unsanft aus ihrem Rausch erwachen. „Euer Hoheit?“, piepste eine nervöse Stimme aus dem anderen Raum.

Ein dunkler Haarschopf tauchte zwischen ihren Schenkeln auf. Mit einem Ausdruck völliger Entgeisterung auf dem Gesicht, dass jemand es tatsächlich wagte, ihn zu stören, huschte Thorins Blick zur Tür. „Verschwinde!“, brüllte er denjenigen auf der anderen Seite an und senkte sich wieder zwischen Maries Beine.

„Mylord, verzeiht mir die Störung, aber…“

„Verschwinde oder du bist einen Kopf kürzer!“, rief der König und kümmerte sich unbeeindruckt weiter um seine Verlobte.

„M-Mylord, bitte!“

Es grummelte unter ihr und Marie blickte hinab. Bei seinem genervten Gesichtsausdruck musste sie schmunzeln. Sie griff nach den Fellen, um sich zu bedecken, während ihr Verlobter aufstand und notdürftig seine Hose zuknöpfte, was gar nicht so einfach war. Wutentbrannt stapfte er zur Tür und riss sie auf. „Was ist?!“

Der junge Soldat, der vor ihm stand, machte sich beinahe in die Hosen. „Euer Gn-Gnaden…“, stammelte er. „E-es tut mir schrecklich leid…“

Damit er ja kein Auge riskierte, lehnte sich Thorin so in den Türrahmen, dass er ihm gänzlich die Sicht versperrte. „Sprich endlich. Ich bin beschäftigt.“

Der Soldat schluckte schwer. „D-Der Arkenstein. Er ist weg.“


29

 

 

Blinzeln. Atmen.

„Was sagst du da?“

„Er ist…nicht mehr an seinem Platz. Wir haben es eben gerade erst b….“ Weiter kam er nicht.

Thorins Arm schnellte nach vorn, packte den Soldaten am Hals und nagelte ihn am Türrahmen fest. Hinter ihm rief Marie etwas, vielleicht seinen Namen, er hörte nicht hin. „Wie kann das sein?“, fauchte er. Nach der Wahrheit suchend bohrte sich sein Blick in den seinen, doch der Junge japste nur nach Luft und schlotterte am ganzen Körper, dass er keinen vernünftigen Satz herausbrachte.

„Thorin, lass ihn los!“, drang eine Stimme zu ihm durch. Marie? Atmen. Blinzeln.

Marie.

Er lockerte seinen Griff und der Soldat rutschte sich die Kehle haltend und hustend zu Boden. Thorin starrte zu ihm herab und sah ihn dennoch nicht. Der Arkenstein… Jemand hatte ihn gestohlen. Die Kontrolle entglitt ihm augenblicklich.

Die Veränderung geschah in ihrem Beisein, raubte ihr durch ihre verheerende Deutlichkeit den Atem, völlig machtlos zu sein. Der Mann, der eben noch ihr leidenschaftlicher Liebhaber gewesen war, stand mit geballten Fäusten über den am Boden kauernden, als wollte er ihn jeden Augenblick in der Luft zerreißen. Starr ging sein Blick durch ihn hindurch, als versuchte er immer noch, die Nachricht irgendwie zu begreifen. Sein Atem kam schnell, so als kostete sie ihm große Kraft. Das Unheimlichste aber waren seine Augen.

Noch nie hatte Marie etwas Derartiges gesehen. Das ihr so vertraute Grau hatte sich von jetzt auf gleich in ein unnatürliches Silber verwandelt. Wie flüssiges Silbererz glommen sie und bescherten ihr am ganzen Körper eine Gänsehaut.

Gerade hatte sie ihn erneut angesprochen. Er sah sie an, doch sein Blick ging ins Leere. Plötzlich drehte er sich einfach weg, stieg über den Soldaten und lief, ohne von ihr Notiz zu nehmen, los. Marie sprang vom Bett, wollte ihm nacheilen. Der Soldat bekam riesige Augen und drehte sich hastig um. Als sie bemerkte, dass sie nichts außer ihren Strümpfen trug, fluchte sie.

„Geh ihm nach!“ So schnell er konnte rappelte der Soldat sich auf. Gleichzeitig hastete Marie ins Ankleidezimmer, wo sie die erstbeste Hose aus einem Fach zog. Angelockt vom Tumult tauchte Tara im Zimmer auf.

„Hilf mir! Schnell!“ Marie warf sich ein einfaches Hemd über und bekam von ihrem Zimmermädchen sofort Stiefel gereicht.

„Marie, was ist los?“ Das Hemd saß kaum, da schnürte sie sich bereits die Stiefel zu. „Was ist passiert? Kann ich irgendetwas tun?“ Ihre Herrin antwortete nicht. Tara konnte nur zurück bleiben. Sie sah ihr nach, wie sie mit blanker Furcht in den Augen aus dem Gemach rannte.

 

~

 

Dass der Soldat die Wahrheit gesagt hatte, wurde ihm erst vollends klar, als er die Thronhalle erreichte. Bis zuletzt hatte er gehofft, dass es nicht stimmte. Dass sich jemand getäuscht hatte. Dass es ein Fehlalarm war. Dass es irgendeine Erklärung dafür gab…

Dunkel lagen die Hallenschiffe vor ihm. Die Feuerschalen brannten und doch waren diese Hallen ihr Licht beraubt. Das weiße Licht wie das eines Sterns, das den Thron seiner Väter erleuchtet hatte, war verschwunden.

Auf dem langen Weg zum Königsthron blieben seine Beine nach etlichen Stockwerken endlich stehen. Seine Lunge beförderte die Luft in und aus seinem Körper an ihrer Maximalbelastung und doch spürte er die Warnungen seines Körpers nicht. Was er spürte, war der Zorn und die Fassungslosigkeit über diese Dreistigkeit.

Gestohlen. Seine Gedanken kreisten, kamen nicht von der Stelle, setzten sich immer wieder neu zusammen und begannen von vorne.

Vor dem Thron stand Balin zusammen mit einigen Wachen. Als man Thorin bemerkte, drehten sich alle um, doch dieser starrte nur auf die leere Vertiefung, wo der Arkenstein seit Monaten friedlich geruht hatte.

Man hat ihn uns gestohlen… Smaugs Zorn über den Diebstahl sickerte wie Gift in Thorins Venen. Er konnte sich nicht gegen die fremden Emotionen, nicht gegen das Zerren und Reißen in seiner Seele wehren. Der Zorn der Bestie verband sich mit seinem eigenen und nährte ihn. Er ließ ihn atmen. Er konnte auf einmal klare Gedanken fassen. Seine Beine trugen ihn und er spürte weder Müdigkeit noch das Rebellieren seines Körpers.

Der König Erebors ballte die Fäuste, sog all den Zorn und das Entsetzen über diese Tat mit einem einzigen Atemzug in sich auf und seine Befehle grollten wie Donner durch die Hallen. „Schließt das Tor! NIEMAND VERLÄSST DEN EREBOR!“

In diesem Moment erreichte Marie zusammen mit Bilbo und den Jungs den Ort des Geschehens. Die Echos verhallten noch, da eilten Soldaten im Laufschritt an ihnen vorbei. Nach Atem ringend und ihren stechenden Bauch haltend verrenkte Marie beim Suchen ihres Verlobten ihren Hals. Sofort entdeckte sie ihn vor dem Thron. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie die extreme Anspannung seines Körpers sehen. Unter jedem Atemzug hoben und senkten sich seine Schulterblätter.

Mit glühenden Augen und gebleckten Zähnen drehte Thorin sich zu den bereits davoneilenden Soldaten herum und brüllte ihnen nach: „SUCHT DEN ARKENSTEIN! FINDET DEN DIEB UND BRINGT IHN MIR!“

Kili und Fili schoben sich vorbei und gingen zu ihrem Onkel. Auch Marie machte einen Schritt nach vorn, jedoch wurde sie von Bilbo sofort am Arm zurückgehalten.

„Die Drachenkrankheit“, wisperte der Hobbit. „Sie beginnt von Neuem.“

Ausgeliefert von der Bedeutung seiner Worten starrte Marie zu ihrem Verlobten. Glockenschläge ertönten. Eindrucksvoll gingen sie durch die Stadt unter dem Berge und verbreiteten schlimme Kunde.

 

~

 

Unstillbar hungrig leckten die Flammen an den Holzscheiten. Sie tanzten, flackerten. Warfen Licht auf ein blasses Gesicht und malten Feuerpunkte in grüne Augen. Tödlichen und zugleich wunderschön fraß sich das Element durch Borke und Holz und hinterließ Asche und Glut. Ihre Finger spielten unruhig mit dem Anhänger der Kette. Schon so lange starrte Marie in das Flammenspiel, dass sie sich fragte, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, seit das Verschwinden des Arkensteins entdeckt worden war. Das Warten kam ihr wie Stunden vor. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich nutzloser gefühlt. Die Heilerin in ihr drängte danach, in die Hallen hinunterzugehen und zu helfen. Irgendetwas tun. Ganz egal, was.

Und doch waren ihr die Hände durch ihre Vernunft gebunden, dass bereits alles getan wurde, was nötig war, um den Dieb und das Juwel zu finden.

Schon die ganze Zeit über verweilte ihre linke Hand auf ihrem Bauch. Das Stechen in ihrem Unterleib hatte dem Himmel sei Dank aufgehört und dennoch konnte sie die Hand nicht fortnehmen von ihrem zerbrechlichem Schatz. Die unbedachte Geste kümmerte sie nicht. Ihre Gedanken waren allein bei Thorin.

Nach zähen Stunden rieb Marie ihre müden Augen, setzte sich aufrechter hin und streckte ihre Glieder. Ein kurzer, überprüfender Blick zu den anderen, die sich an einer der Tafeln versammelt hatten, ehe sie sich erneut dem Kaminfeuer zuwandte.

„Wer würde so etwas nur tun?“, murmelte Dori gerade zum gefühlten zwanzigsten Mal und sprach das aus, was alle dachten.

Nori beschäftigte eine ganz andere Frage. „Wie kam der Dieb überhaupt an den Wachen vorbei?“ Die Frage war nicht ganz unwichtig.

Marie lehnte den Kopf gegen die Stuhllehne, während sie aufmerksam den Gesprächen folgte. Man hatte sich um Fili gescharrt, der erst vor ein paar Minuten dazugestoßen war. Die Nachricht vom Verschwinden des Arkensteins hat sich inzwischen wie ein Laubfeuer verbreitet und alle Gefährten im Speisesaal zu einem Krisentreffen versammeln lassen. Warten war das Einzige, was ihnen blieb.

„Die Soldaten halten vor dem Portal Wache“, erklärte der junge Prinz. Die letzten Stunden hatten bei ihm deutliche Spuren hinterlassen. Seine überreizten Nerven und die Fassungslosigkeit über die Tat waren ihm anzusehen. „Niemand hat Einlass in die Thronhalle erbeten. Der Dieb muss hinten reingegangen sein.“

„Sind dort die Türen immer offen?“, fragte jemand.

„Nein, nicht immer. Wenn Audienzen in der Thronhalle stattfinden zum Beispiel. Heute waren sie jedenfalls zu.“ Er zog die dicken Handschuhe aus und warf sie auf den Tisch. Fahrig strich er seinen blonden Bart glatt, stemmte dann die Hände auf die Tischkante. „Es gibt drei Möglichkeiten“, sprach er seine Gedanken laut aus. „Erstens: der Dieb hatte Schlüssel oder er wusste, wo sie zu finden ist. Zweitens: er hat sich Zugang zu den Dienstbotengängen verschafft. Drittens: er wusste, wann Wachablösung ist, und hat den Moment ausgenutzt.“

Die ganze Zeit über tigerte bereits Ninak auf und ab. Jetzt blieb sie stehen. „Wie geht es Thorin mit all dem?“

Bei seinem Namen drehte sich Marie sofort um. Zuerst sah Fili seine Ziehtante an, dann blickte er zu Marie herüber. Die Frage zu beantworten war nicht nötig. Marie hatte in seinen Augen bereits alles gesehen, was sie wissen musste.

„Er steht total neben sich“, antwortete Fili.

Marie merkte, wie einige Blicke unsicher zu ihr wanderten und drehte sich wieder um. Ihr kaputtes Herz stolperte in seinen eigenem Takt. Wie es in Thorins Inneren ausschaute, wollte sie sich nicht ausmalen. Was tat Smaug ihm an?

Zusammengesunken saß Ori mitten unter den Kriegern und schaute von einem Zwerg zum anderen. „Was sollen wir jetzt tun?“

Filis Schultern zuckten unter der Kettenrüste. „Warten. Für uns bleibt nichts mehr zu tun. Meine Männer durchkämmen bereits ganz Erebor und suchen Zeugen. Die Nachricht vom Verschwinden des Arkensteins hat sich längst verbreitet. Das Volk ist empört und zutiefst beunruhigt. Vielleicht hilf uns das. Man wird Augen und Ohren offen halten und selbst seinen Nachbarn und die Schwiegermutter unter die Lupe nehmen, da bin ich mir sicher. Wir haben auch Reiter nach Dale geschickt. Dort wird man sich umhören.“

„Was ist, wenn der Dieb schon weiter als Dale gekommen ist?“, warf Minar mit hörbarem Zweifel in die Runde. „Der Diebstahl könnte schon Stunden her sein, ehe das Fehlen des Arkensteins bemerkt wurde. Der Dieb könnte schon längst über alle Berge sein!“

„Dann wird es beinahe unmöglich, seine Spuren zu verfolgen“, grummelte Gloin, der sich, seit sie hier waren, zu einem großen rothaarigen Klumpen Abscheu verwandelt hatte.

Bifur, der neben Ori am Tisch saß, ließ seinen Kopf missmutig auf die Tischbretter sinken.

„Wir haben bereits den Thronsaal und die direkte Umgebung nach Hinweisen abgesucht“, fuhr Fili mit seinem Bericht fort, „aber wir haben bis jetzt nichts gefunden, was den Täter verraten würde.“

Marie hielt das Rumsitzen nicht mehr aus. Sie verließ die Hitze des Feuers und spürte sofort die Kühle des Raumes, als sie zu den anderen hinüber ging. Mit verschränkten Armen trat sie in den Kreis der Versammelten. „Wo ist Thorin jetzt?“

„Immer noch in der Thronhalle - jedenfalls war er dort, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.“

„Wer ist bei ihm?“

„Dwalin und mein Bruder.“

Marie atmete durch. Sie würden den beiden ihr eigenes Leben blind anvertrauen. „Das ist gut.“ Su legte ihr einen Arm um den Rücken und versuchte, ihr ein Lächeln zu schenken. Dankbar über die kleine Geste lehnte Marie sich an ihre Freundin.

Sie muss einen ziemlich mitleidserregenden Anblick abgeben, denn Bombur hielt ihr sogar seinen Teller hin, von dem er schon die ganze Zeit einen Keks nach dem anderen naschte. Marie versuchte, ihm zuliebe zu lächeln. „Danke Bombur, aber ich hab keinen Hunger.“

Er nahm seinen Teller wieder an sich und noch ein Keks wanderte in seinen Mund.

Plötzlich schlug sich Bofur die Hand an die Stirn. „Wir müssen einen Raben nach Bruchtal schicken! Gandalf muss erfahren, was passiert ist.“

Von den Anwesenden kamen frustrierte Stöhnen. Gloin sah so aus, aus würde er jeden Moment gegen ein Tischbein treten.

„Die Reise können wir uns jedenfalls sparen“, knurrte Fili.

„Fili hat Recht“, erklang Bilbos Stimme. „Thorin wird keinen Fuß aus den Berg setzen, eher der Arkenstein nicht gefunden ist. Er wird nicht aufgeben, nach dem Stein zu suchen.“

Mehrmals schlug Bifur seinen Kopf auf den Tisch. Vorsorglich schob Minar ein Sitzkissen zwischen seine Stirn und der Tischkante.

Versuchend, ihre schlimmsten Befürchtungen keinen Raum zu geben, atmete Marie gegen das Engegefühl in ihrer Kehle an. Durch den Diebstahl war ihr einziger verbliebener Plan, die einzige Chance, um den Fluch vielleicht wirklich brechen zu können, zunichte gemacht. Sollte Thorin der Drachenkrankheit erneut verfallen, dann war sein Schicksal besiegelt, sollte er nicht noch einmal einen Weg finden, sie niederzuzwingen. Marie schwindelte. Sie fasste nach Suurins Arm.

„Was ist das für ein ehrloser Zwerg, der so etwas tun konnte?“, grummelte Oin in seinen grauen Bart.

„Könnte ein Spion oder ein Meuchelmörder aus einem anderen Königreich gewesen sein. Mit dem Unterschied, dass er nicht morden, sondern etwas stehlen sollte.“ Von allen Seiten sah man Nori schief an. „Was denn? Findet ihr das nicht abwegig? Vielleicht hat sich jemand in einem Wagen versteckt und ist so an den Wachen am Tor vorbei. Du hast ja auch mit deinem Bruder eine Elbe in den Berg geschmuggelt, Fili.“

Abwehrend streckte der Prinz die Hände von sich. „Hey! Das ist auf Kilis Mist gewachsen, ich hatte da nichts mit zu tun!“

„Jetzt hab ich´s!“ Anscheinend war Nori gerade ein Licht aufgegangen. „König Ubba könnte uns eins auswischen wollen, weil Thorin nicht auf sein Handelsabkommen eingegangen ist. Er ist jedenfalls der Einzige, dem ich es zutrauen würde.“

Ninak verdrehte die Augen. „Und da lässt Ubba als allererstes den Arkenstein stehlen. Natürlich…“

Balin, der die ganze Zeit über still gewesen war, wurde es jetzt zu viel. „Das reicht! Hat jemand noch mehr Hirngespinste vorzutragen?“

Bofur wollte gerade den Mund aufmachen, hielt es jedoch klüger, ihn lieber zu zulassen.

„Schön, dann sollten wir uns jetzt alle wieder zusammenreißen“, mahnte der alte Zwerg. „Gerüchte und Täter ins Blaue hinein zu raten bringt uns nicht weiter.“

„Ich mein´ ja nur“, murmelte Nori und sank verstimmt zurück auf die Bank, wo schon Dori saß und seinen Halbbruder nur kopfschüttelnd musterte.

Die Tür ging auf. Dwalin und Kili erschienen mit Thorin. Alle starrten die Rückkehrer in der Hoffnung an, etwas Neues zu erfahren. Manche erhoben sich sogar von den Bänken.

„Und? Sagt schon! Gibt es etwas Neues?“, platzte Suurins Ungeduld aus ihr heraus.

Dwalin schüttelte den Kopf und erstickte damit alle Erwartungen im Keim. Sofort galt die Aufmerksamkeit des Kriegers wieder Thorin. Dieser schaute nur abwesend in die Runde. Er sah niemanden wirklich an, sondern nahm anscheinend nur wahr, dass viele anwesend waren. Kein Wort sprach er. Keine Regung war in seinen finsteren Gesichtszügen zu erkennen.

In der Thronhalle hatte Marie nicht mit ihrem Verlobten sprechen können und so wollte sie unbedingt jetzt die Gelegenheit nutzen, doch ihr fehlten die Worte, als sie die Veränderung im Saal bemerkte, die sich wie ein schwarzes Tuch über alles und jeden legte. Irritiert stellte sie fest, dass niemand Thorins Blick erwiderte. Augen senkten sich zu Boden. Die Frauen griffen nach einer Hand, die ihnen nah war. Selbst die Krieger wirkten eingeschüchtert, seit ihr König durch diese Tür dort geschritten war. Einige sahen sogar aus, als machte allein der Umstand mit Thorin im selben Raum zu sein sie nervös. Am auffälligsten war jedoch die eingetretene Stille. Niemand schien es wagen, zu atmen und Marie wusste, wieso. Sie fürchteten Thorin.

„Setz dich“, raunte Kili seinem Onkel zu und drängte ihn sanft zum Kamin zu gehen, weg von den anderen. Weg von ihr.

Marie verfolgte jeden seiner Schritte. Jemand hatte ihm in der Zwischenzeit einen Mantel umgelegt und als er sich in den Stuhl setzte, in dem sie zuvor die Stunden verbracht hatte, wirkte er um Jahre gealtert.

Kili ließ ihn dort sitzen und ging zu den anderen. Ein Blick unter Brüdern reichte, damit sie beide auf demselben Stand waren. Er machte dicke Backen, woraufhin Fili sich wegdrehte und seine Haare raufte.

Marie hatte genug gesehen.

„Hey…“ Bofur wollte sie zurückhalten, sie hatte jedoch damit gerechnet, dass man versuchen würde, sie aufzuhalten und wich ihm aus.

„Wollt ihr ernsthaft hier herumstehen wie eingeschüchterte Schafe?“, brach es aus ihr heraus. „Ihr tut ja geradeso, als wäre er ein Monster.“ Es auszusprechen, schmerzte genauso wie zu sehen, wie die anderen ihn anstarrten, als wäre er ein bösartiges Tier. Mehrere Gefährten machten den Mund auf, Marie aber drehte sich um. Sie würden sie sich nicht davon abbringen können, ihrem Verlobten in diesen schweren Stunden beizustehen.

Kili wollte sie aufhalten, doch Su stoppte ihn. „Lass sie. Vielleicht hilft sie ihm“, wisperte sie.

Zutiefst beunruhigt sah Kili seiner Tante nach, die einen Fuß vor den anderen setzte. „Sie weiß nicht, was sie tut.“

Die letzten Meter bewegte Marie sich nur noch ganz vorsichtig. Sie durfte ihn nicht bedrängen, darüber war sie sich im Klaren, aber sie musste ihn wissen lassen, dass sie bei ihm war.

Die Hitze des Kamins lag drückend auf ihrem Körper, als sie neben dem Stuhl langsam in die Hocke ging. Aus der Nähe wurde noch deutlicher, wie schrecklich erschöpft er war. Gleichzeitig ließ seine innere Unruhe, die bis nach außen strahlte, ihn nicht los. Sein rechter Fuß stand nicht ganz auf dem Boden, sodass sein Knie auf und ab wippen konnte. Thorin starrte in die Flammen, genau so wie sie es wenige Minuten zuvor getan hatte. Die Finger seiner rechten Hand rieben immer wieder nervös über seine Lippen. Völlig in sich gekehrt.

„Sei vorsichtig, Marie“, hörte sie jemanden flüstern. Das brauchte ihr niemand mehr zu sagen. Ihr Herz raste mittlerweile.

Marie wartete ab, ob er etwas sagen würde, doch auch nach einigen Augenblicken sah Thorin sie noch nicht einmal an. Ihre trockene Kehle ließ sie schlucken. Leise Worte verließen ihre Lippen. „Wir machen uns Sorgen um dich, Liebling. Ich mache mir Sorgen.“ Sie versuchte, ihre Stimme ruhig und gleichmäßig klingen zu lassen, obwohl sie heftiger mit sich selbst kämpfen musste als sie geahnt hatte. Am liebsten hätte sie Thorin geschüttelt und ihn angeschnauzt, sich gefälligst zusammen zu reißen. So gerne wollte sie ihn festhalten, ihm sagen, dass alles gut werden würde… Marie verbot es sich. Vielleicht würde sie damit nur mehr Schaden anrichten und Thorin noch weiter vor ihr weg flüchten lassen. Sie durfte ihn nicht in die Ecke treiben, sie musste ihn aber irgendwie erreichen. Die Distanz zu ihm war körperlich nur wenige Zentimeter und dennoch war er in einer ganz anderen Welt.

„Thorin, ich weiß, was der Arkenstein dir und deiner Familie bedeutet. Die Soldaten durchkämmen ganz Erebor. Es wird überall nach ihm gesucht. Wer auch immer ihn genommen hat, wir werden es herausfinden und wir werden den Arkenstein wiederfinden, hörst du?“ Auch ohne hinzusehen, wusste sie, dass alle Augen im Saal auf sie gerichtet waren. Alle… bis auf die ihres Verlobten. Unbewegt starrte Thorin in das Kaminfeuer und blieb stumm. Der unnatürliche Schimmer seiner Augen funkelten durch den Feuerschein nun golden, was nicht weniger beunruhigend war. Ganz im Gegenteil.

Unablässig wischten seine Finger über seine Lippen und auch sein Bein wippte immer noch auf und ab – Gesten, die sie von ihm gar nicht kannte. Marie musste einsehen, dass ihr Zureden nichts gebracht hatte. Verzweifelt dachte die Heilerin über das nach, was sie ihm noch sagen konnte. Sie musste ihn irgendwie ablenken von dem, was ihn so sehr beschäftigte.

„Was hat Smaug mit dir bloß gemacht?“, wisperte sie und hob in alter Angewohnheit die Hand. Gerade wollte sie ihm die Haarsträhnen zurücklegen, da stoppte sie. Nein, sie durfte ihn nicht berühren. Marie biss sich auf die Lippen und zog langsam ihre Hand wieder zurück. „Thorin, sieh mich an. Rede mit mir. Ich möchte dir helfen. Ich sehe, wie sehr du dagegen ankämpfst. Lass mich dir helfen. Wir schaffen das zusammen.“ Suchend nach einer Antwort, einer Regung, ein Zeichen der Verbesserung – ganz egal was - blickte sie zu ihm auf. Vergeblich war ihr Warten.

„Spricht Smaug zu dir?“ Es war ein Versuch, sich irgendeinen Reim auf sein Verhalten zu machen. „Was hat er alles zu dir schon gesagt? Was tut er in diesem Moment? Was möchte er von dir?“

„Marie, hör auf“, warnte jemand, spornte sie jedoch damit nur noch mehr an, nicht aufzugeben. Sie musste ihn endlich aus seinen Gedanken herausholen. Sie musste seinen inneren Kampf stoppen, ehe er sich selbst zerstörte. Und die beste Möglichkeit, dies zu schaffen…war Smaugs Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

„Liebling…“, Marie zitterte innerlich, als sie realisierte, was sie gerade dabei war zu tun, „ich möchte, dass du weißt, dass wir dich brauchen. Dass ich dich brauche. Egal, was Smaug dir einredet oder dich dazu bringen versucht, zu glauben… Du musst stärker sein als der Drache, hörst du? Du musst stark sein…für uns und unsere Familie. Für Kili, für Fili…und für unser Kind.“

Sein Bein hörte auf zu wippen und im Saal fiel ein Staubkorn zu Boden.

„Oh, nein…“, raunte Ninak.

Thorins Kopf drehte sich zu ihr. Silberne Augen starrten sie an, als würde er sie erst jetzt richtig wahrnehmen.

„Ich habe es erst vor Kurzem gemerkt, aber ich bin schon im dritten Monat. Ist das nicht unglaublich? Wir bekommen ein Baby.“ Ihr Lächeln gefror, als das Glimmen in seinen starren Blick sie Kälte verspüren ließ. „Freust du dich denn gar nicht?“, wisperte sie und wusste im nächsten Augenblick, dass sie einen Fehler begangen hatte.

Freuen?“ Die fremd klingende Stimme versetzte ihrem Herz einen Tritt als wäre es Müll. „Wie soll ich mich über ein Kind freuen, was mir untergejubelt wird?“

„Was…“ Ihre Kehle war wie zugeschnürt. „Was redest du da?“

Mach dich nicht lächerlich. Hat dich irgendein menschlicher Bauernbursche über den Winter vertröstet? Oder war es der blonde Soldat, mit dem du so viel Zeit verbringst?“

„Raik?“ Eine Träne fiel auf ihre Wange, ohne dass sie sie gespürt hatte. Alles, was sie fühlte, war ihr sterbendes Herz. „Wie kannst du so etwas sagen?“ Er hatte es geschafft, in wenigen Sekunden alles zu zerstören, an das sie noch geglaubt hatte. Dieser Mann dort vor ihr, was nicht länger der Mann, der er vorgab zu sein.

Ehe er noch ein Wort sagen konnte, erschien ein Soldat im Saal. „Euer Hoheit, es gibt Neuigkeiten.“

Thorin stand so ruckartig auf, dass Marie damit nicht gerechnet hatte. Sie wurde einfach beiseite geschubst, verlor das Gleichgewicht und wäre auf dem Felsboden aufgekommen, wenn sie den Aufprall nicht abgefedert hätte. Der Schmerz in ihren Handgelenken war nicht mit dem zu vergleichen, der sie in Zwei teilte. Er hätte ihr genauso sein Schwert in den Körper stoßen können. Es hätte nicht weniger geschmerzt.

Tränenverschleiert sah Marie ihm nach, wie er dem Soldaten folgte, ohne sich nach ihr umzudrehen. Als er verschwunden war, brach das Schluchzen aus ihr heraus. Sofort war Ninak bei ihr. Marie klammerte sich an ihrer Freundin fest, unfähig ihr Klagen und Weinen zu ersticken.

„Smaug hat ihm die Worte in den Mund gelegt. Das war nicht Thorin. Das war nicht er…“ Augenblicklich waren sie umgeben von den anderen.

Marie wollte Ninak wirklich Glauben schenken, doch sie hatte am eigenen Leib erfahren müssen, wie der Mann, den sie liebte, ihr genommen worden war. Sie presste die Augen zu und wurde festgehalten, als sie den letzten Halt unter den Füßen verlor.

 


30

 

 

Vielleicht waren es ihre überreizten Nerven oder ihre, durch die Schwangerschaft geschärften Sinne. Noch ehe die Nachricht zu ihnen getragen wurde, wusste Marie, dass etwas passiert war. Etwas, was den Ereignissen eines einzigen, langen Tages einen ganz neuen Lauf geben würde.

Wie das Summen eines Bienenstocks schwirrten aufgeregte Stimmen durch alle Straßen und Gänge. Trotz der fortgeschrittenen Abendstunden strömte jeder, der konnte, in Richtung Thronhalle. So auch Marie zusammen mit Ninak, Su, Minar und Bruna, die nicht von ihrer Seite gewichen waren. Mit einer schnaubenden Bruna im Schlepptau eilten die Frauen Ebene um Ebene abwärts und versuchten auf dem Weg zur Thronhalle an nähere Informationen zu kommen.

Man habe einen Mann in Dale aufgegriffen und zum König gebracht. Mehr war auf die Schnelle nicht zu erfahren, doch es reichte aus, um die Bewohner Erebors in helle Aufregung zu versetzen und Marie das Schlimmste fürchten. Wer der Mann auch war, er war in ernsthaften Schwierigkeiten.

Als sie den Weg zum Eingangsportal einschlagen wollte, wurde sie von Minar in die entgegengesetzte Richtung gezogen. „Wir schauen uns das von den Emporen an.“ Die Frauen versuchten schneller auf den Treppen voranzukommen und noch einen guten Platz zu ergattern. Das war allerdings gar nicht so einfach, denn auf den Emporen, die sind mehrfach rund um die Thronhalle zogen, drängte sich bereits das Fußvolk, um einen Blick auf den Mann zu erhaschen, den die Soldaten hereingeschliffen hatten. Trotz der Aufregung und dem Gedränge verhielt sich jeder so still wie möglich, um ja kein Wort zu verpassen, das in der Halle gesprochen wurde. Leises Geflüster wog wie Wellen durch die Halle. So gut es ging schob sich Marie auf der Suche nach einer freien Sicht durch die Schaulustigen, als sie plötzlich seine Stimme hörte.

Wieso sollte ich dir glauben?“

Ihr Puls schoss in die Höhe. Sie entdeckte Ninak ein paar Meter weiter hinter einer Säule hervor winken und atmete auf. Diese hatte ein freies Plätzchen gefunden, sodass Marie einen Moment später direkt an der Balustrade stand und in die Thronhalle hinabschauen konnte. Ihr Herz klopfte wild in ihrer Brust, als sie Thorin wiedersah. Vor ihm kauerte auf den Knien ein Mann. Ein Mensch.

Schnaubend wie eine alte Kuh schloss Bruna zu ihnen auf. „Was hab ich verpasst?“

„Die Soldaten haben ihn in Dale aufgegriffen“, erzählte Minar kurz und knapp. „Mehr wissen wir noch nicht.“

„M-Mylord, ich schwöre es! Ich habe Euch die Wahrheit gesagt“, war das Klagen des Mannes zu hören.

Thorin schien kein Stück überzeugt davon zu sein. „Eine Frau habe in der Mittagszeit Euren Verkaufsstand aufgesucht“, wiederholte er die Worte des Fremden. „Einfach so? War es abgemacht, wo und wann ihr euch trefft?“

Die Stimmen dort unten vor dem Thron reichten weit. Selbst von ihr oben waren sie zu vernehmen. Erebors Baumeister hatten ganze Arbeit geleistet.

„Was passiert hier gerade?“ wisperte Su zutiefst beunruhigt. Niemand gab ihr Antwort.

Marie starrte hinab auf das Verhör. Ihre Augen klebten an dem Mann mit den schwarzen Haaren, die er zu einem sehr langen Zopf trug. Er war von schmaler, langer Statur. Doch wie er da vor dem Zwergenkönig kauerte, wirkte er wie eine Maus vor einem Löwen. Seine lilafarbene Hose aus leichtem Stoff und seine grüne Weste, deren Pelzschärpen mit bunten Stickereien verziert war, weckten in Marie Erinnerungen. Sein Aussehen zeichneten ihn als einer von jenen fahrenden Händler aus, die früher Dale in den Sommermonaten besucht hatten. Mehrere Tage lagerten sie mit ihren Wagen und Tieren vor den Toren der Stadt. Sie waren nicht nur Händler, sondern hatten auch selbstgemachte Dinge verkauft und an dem Abend ihres Aufbruchs feierten sie mit den Bewohners Dales stets ein Fest, wo sie Kunststücke und Tricks vorführten. Der Umstand, dass er ein Mensch war, erschütterte Marie auf ungeahnte Weise. Die mehreren Monate unter Durins Volk hatten ihre wahre Herkunft in weite Ferne rücken lassen. Hinter dem fahrenden Händler standen zwei Soldaten bewegungslos wie die riesigen Statuen zu beiden Seiten der Thronhalle. Vielleicht waren sie es gewesen, die den Mann aus Dale geholt hatten.

Seine innere Unruhe konnte Thorin auch jetzt nicht unterdrücken. Langsam, jedoch mit unübersehbarer Spannung bewegte er sich auf und ab. Immer noch trug er nur Hose, Stiefel und einen Mantel, doch die Krone, die er trug, machte auch jedem Fremden klar, wer da vor ihm stand.

„Nein! Nein, Euer Gnaden“, beteuerte der Mann. „Ich bin ein Händler, meine Familie reist mit den Jahreszeiten. Uns verschlägt es hierhin und dorthin. Die Zwergin hatte mein Zelt aufgesucht und gefragt, ob ich Interesse daran hätte und zeigte mir den Stein. Er sei ein Erbstück gewesen. Sie sei in finanzieller Not und wollte ihn verkaufen.“

„Wie sah die Frau aus? Wer war sie? Nannte sie einen Namen?“

„Sie sagte, sie hieß Idil Holzaxt. Sie war eine Zwergin… also, naja sie sah jedenfalls so aus.“

„Etwas Besseres fällt dir nicht ein?“

„Ein Tuch!“ Seine Stimme überschlug sich. „Sie trug ein buntes Tuch über Mund und Nase, ihr Gesicht war halb verdeckt, ich…ich…ich konnte nur ihr halbes Gesicht sehen! Und sie war aus gutem Hause. Ihr Kleid war wie neu. Sie trug teuren Schmuck, sie…“

„Du passt auf Marie auf, Su“, flüsterte Ninak und verließ ihren Platz.

„Was hast du vor?“ Suurins Frage wurde überhört. Ninak schlich davon.

„Ich bin Händler, Mylord. Ich wusste, dass ich etwas Wertvolles da vor mir hatte und habe der Dame den Stein natürlich sofort abgekauft.“ Ein Raunen ging durch die Mengen. Hilflos schaute der Händler zum Volk der Zwerge empor, das von allen Seiten auf ihn herab blickte. Dann wurde er am Kragen gepackt und geschüttelt.

„Ihr habt also den Arkenstein? Wo ist er? Sprecht endlich!“ Thorins Gesicht war nur Zentimeter von seinem entfernt und Marie hielt die Luft an.

„B-b-bitte habt Erbarmen!“

WO IST DER ARKENSTEIN?!“

Der Mann griff in seinen Kragen, um nicht erwürgt zu werden. „Ich habe den Arkenstein nicht! Nicht mehr!“

Du lügst…“

„I-ich wusste nicht, dass Euch dieser Edelstein gehört! Ich komme nicht von hier! Ich habe noch nie etwas von einem Arkenstein gehört!“ Er wurde losgelassen und fiel zurück auf die Knie. Seiner überdrüssig wandte der König Erebors sich ab. „Bitte, Ihr müsst mir glauben!“ Als der Mann die Hand nach ihm ausstreckte, wurde er von den Soldaten niedergedrückt. Marie erschrak vor ihrer Brutalität, als sie ihn mit roher Gewalt auf das Felsplateau drückten.

Thorin hatte ihm den Rücken zugedreht und seine Stimme wurde leise. „Wie viel habt Ihr der Frau für den Arkenstein geboten?“

Der Saal war totenstill. Der Mann gab keine Antwort von sich.

Thorin wirbelte herum. „WIE VIEL?!“

Stotternd gab er die Summe preis und Durins Volk atmete hörbar ein. Für die Zwerge war es schwer zu begreifen. Stimmen redeten laut und durcheinander.

„Der Arkenstein wäre das Tausendfache wert gewesen“, zische Su neben Marie, die nicht reagierte. Der Wert dieses Steines war ihr völlig egal. Sie konnte ihre Aufmerksamkeit nicht von Thorin wegbewegen. Gerade eben hatte er noch bei der Nennung des Kaufpreises sich weggedreht, seine Emotionen versteckt, nun wandte er sich abermals dem Mann zu. „Wo ist der Stein jetzt?“

„Ich habe ihn meinem Sohn anvertraut. Er ist mit unserem besten Pferd losgeritten. Ich habe gute Beziehungen und wollte den Stein sofort einem unserer Stammkunden bringen lassen. Ich war mir sicher, er würde solch einen besonderen Stein sofort und zu jedem Preis abkaufen. Deshalb habe ich meinen Sohn sofort losgeschickt.“

Wer?“ Gefährlich nah beugte sich Thorin über den armen Mann. „Wer ist der Käufer?“

Sekunden vergingen bis er endlich sprach: „König Thranduil aus dem Grünwald.“


31

 

 

Beschimpfungen und entsetzte Rufe hagelten auf den Mann ein. „Lügner!“

„Dreckszigeuner!“

„Hängt ihn auf!“

„Tötet ihn!“ Hätten sie gekonnt, hätte es jetzt Steine geregnet.

„Mylord, habt Erbarmen! Ich hatte keine Ahnung!“ Mit Schrecken schaute der Händler sich nach allen Seiten um. Jemand warf einen Stiefel nach ihm. Er wurde getroffen und die Todeswünsche wurden immer lauter.

„Das war´s“, sagte Minar, „der ist so gut wie erledigt“, und sie sahen zu, wie sich Thorin von dem Mann abwendete. Sein Blick ging zu den Soldaten, die neben dem Thron Wache hielten.

„Bringt mir mein Schwert.“ Sein Befehl wurde von dem ausbrechenden Jubel verschluckt.

„Oje. Das sieht gar nicht gut für ihn aus. Marie, wir sollten…“ Sus Augen wurden tellergroß. Marie stand nicht mehr neben ihr. In diesem Moment kehrte Ninak zurück und sah Suurins entsetzten Blick. Die blonde Zwergin trat schnell einen Schritt zur Seite, als könnte sie den leeren Platz verstecken.

„Su, wo ist Marie?“

„Ähm… tja, also das ist jetzt blöd.“

Ninak verschwendete keine Zeit, um auszuflippen, sondern rannte in die Richtung, aus der sie gerade gekommen war.

Man reichte Thorin sein Schwert und das Volk jubelte. Alle drängten an die Balustraden, um ihren König anzufeuern und ja keine Sekunde zu verpassen, sodass der Weg frei war für eine Frau. So schnell ihre Beine sie trugen rannte Marie über die Empore. Immer wieder huschte ihr Blick in die Nischen und Ecken, hinter denen sie einen Zugang vermutete. Wo war die nächste Treppe, verdammt nochmal? Die Zuschauer tobten. Niemand achtete auf sie.

Thorin würde dem Mann vor aller Augen den Kopf abschlagen. Das konnte sie nicht zulassen.

Endlich erschienen Treppenstufen. Marie hastete den geschlagenen Fels hinab und dankte dem Himmel, dass sie Hosen, anstatt ein Kleid trug. Dann endeten die Stufen. War sie überhaupt auf der richtigen Ebene? Sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, sondern schlug die erstbeste Richtung ein, drückte eine Tür auf und stand plötzlich vor zugezogenen Vorhängen.

„Im Namen meiner Väter und…“

Die zwei wachestehenden Soldaten vor dem Vorhang hatten nicht mit einer rennenden Frau durch ihre Mitte hindurch gerechnet, sodass Marie ohne aufgehalten zu werden zum Thron gelangte.

„…spreche ich heute dieses Urteil…“

Sie sah Thorin über dem zusammengekauerten Mann stehen, die Waffe heben und ihr Schrei hallte von den Felswänden. „NEIN! Tu das nicht!“ Orcrist fuhr nieder und verharrte Zentimeter über dem Genick des Mannes. Nach Atem ringend blinzelte Marie. Sie befand sich plötzlich zwischen dem Händler und Thorin, so nah, dass sie sich fragte, wie sie hier her gekommen war. Wie sie die letzten Meter rechtzeitig geschafft hatte, daran konnte sie sich nicht erinnern. Eisige Kälte fuhr ihr in den Körper, als silberne Augen sie anstarrten. Verwirrung und Unglaube waren dem Mann ihr gegenüber ins Gesicht geschrieben. Seine markenten Züge, so vertraut und doch so fremd. „Du darfst ihn nicht töten“, presste Marie zwischen den Atemzügen hervor.

Der Todgeweihte merkte, dass sein letztes Stündlein vielleicht doch noch nicht geschlagen hatte und klammerte sich flehend an ihr Bein.

„Du darfst ihn nicht töten… Bitte…“

Thorin ließ zwar Orcrist sinken, doch er machte einen Schritt auf sie zu und Marie verspürte das erste Mal in ihrem Leben echte Angst in der Gegenwart des Mannes, den sie liebte. „Tritt beiseite.“

Er war ihr so nah, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste. Woher sie diesen Mut nahm, war ihr schleierhaft. Sie wusste nicht, was sie hier tat. Aber bei allen Himmeln, sie würde nicht zulassen können, dass er dieses unschuldige Leben beendete. „Das werde ich nicht“, antwortete sie und ertrug seinen funkelnden Blick. „Wenn du ihn jetzt tötest, nützt er uns nichts mehr.“

Er nützt mir gar nichtsss“, zischte Thorin und entblößte seine Zähne.

„Du irrst dich. Er ist der Einzige, der weiß, wie die Frau aussah, die den Arkenstein nahm. Sie ist der wahre Dieb. Sie solltest du bestrafen. Nicht ihn.“

„Er“, Thorin zeigte mit dem Finger auf den kauernden Mann zu ihren Füßen, „hat den Arkenstein an Thranduil verkauft!“

„Weil er es nicht besser wusste“, widersprach sie mit aller Härte. „Er ist selbst ein Opfer. Sperr ihn ein und verhör ihn zu einem späteren Zeitpunkt erneut. Vielleicht wird er uns dann mehr über die Frau erzählen. Wir müssen den Arkenstein zurückholen und die Diebin finden.“

Die Stille in der riesigen Halle rückte erdrückend auf sie ein. Man hätte einen fallenden Knopf hören können.

Als müsste er sie sich ganz genau ansehen, um zu begreifen, was sie hier gerade dabei war zu tun, schwebte Thorins Blick über ihre Gestalt, und sein Schnauben glich einer abfälligen Bemerkung. „Schafft ihn mir aus den Augen.“

Marie beendete das Blickduell als Erste und sah den Männer dabei zu, wie sie den Gefangenen hochzogen und fortführten. Sie sah ihnen nach und musste darauf vertrauen, dass sie ihn tatsächlich wegsperrten und der Fremde vorerst in Sicherheit war. Dennoch verspürte sie keine Erleichterung. Während die Zuschauer in heftiges Gemurmel verfielen, versuchte Marie ihr Zittern zu verbergen, das ihren ganzen Körper einnahm. Ein letztes Mal sah sie Thorin an und wollte sich zum Gehen abwenden… Orcrist fuhr hoch und scharfes Eisen versperrte ihr den Weg, Haaresbreite vor ihrem Bauch.

Mit rasendem Herzschlag riss sie den Kopf zu Thorin empor. Dieser beugte sich zu ihr, damit seine Worte unter ihnen blieben. Sein Atem strich über ihre Wangen, als er ihr ganz nah kam, und ließ sie erschaudern. „Solltest du je wieder meine Autorität in Frage stellen, wirst du es bitter bereuen. Hast du mich verstanden?“

Marie starrte ihn an und verspürte plötzlich flammenden Zorn. Sie presste die Lippen aufeinander und drehte den Kopf weg, weil sie diesen Mann nicht länger ansehen konnte. „Ja, Euer Hoheit.“ Er ließ sie passieren und Marie versuchte, so würdevoll wie möglich den Thronsaal zu verlassen, während sie den Hass eines Drachen im Rücken spüren konnte.

Ihre Beine bestanden aus Pudding und ihr Herz schlug viel zu schnell. Nur vage registrierte sie Ninak, die ihr entgegen kam.

„Bist du wahnsinnig?!“, knallte sie ihr wutentbrannt an den Kopf. „Was hast du dir dabei gedacht?“

Marie ging an ihr vorbei und auf die Gefährten zu, die auf dem Flur hinter dem Saal versammelt standen. Schnurstracks ging sie durch die ungläubig starrenden Männer hindurch, bis sie bei Bilbo angekommen war. „Ich brauche deine Hilfe, Bilbo.“

„Was hast du vor?“

„Etwas, was Thorin nicht gefallen wird.“

 

~

 

Eigentlich hatten sich die Wachen vor der Gefängnistür auf eine lange und sehr langweilige Nacht eingestellt. Im Schein einer Lampe machten sie es sich an einem kleinen Tisch bequem und holten gerade ein Würfelspiel heraus, als zwei andere Soldaten die enge Treppe hinab gestiegen kamen und einen Moment später vor ihrem Tisch standen.

„Wachablösung“, nuschelte einer der Neuankömmlinge durch den Seh- und Mundschlitz seines Helmes hindurch.

Verwundert sahen sich die beiden Spieler an. „Wir sind gerade erst hier her kommandiert worden.“

„Befehl ist Befehl. Ihr werdet woanders gebraucht. ´N heißer Tipp ist grade reingekommen. Im oberen Ostviertel wird die Diebin vermutet.“ Er ließ die Schultern unter seiner Rüstung gleichgültig zucken. „Aber wenn ihr lieber hier rumsitzen wollt, tauschen wir. Dann haben wir die Chance auf den Finderlohn.“

„Finderlohn?“ Erneut sahen sich die Beiden an. Dann erhoben sie sich und nahmen eilig Helme und Waffen. „Befehl ist Befehl“ wiederholte einer spöttisch.

„Viel Spaß noch.“ Der andere klopfte der Ablösung aufmunternd auf die Schulter und folgte seinem Kameraden die Stufen hinauf.

Als das Klappern der Rüstungen verklungen war, lehnten die beiden Neuen ihre Lanzen an die Wand und nehmen die Helme ab. „Ich hab dir doch gesagt, dass das funktioniert.“ Zufrieden mit sich selbst begann Bofur seine Mütze unter seinem Brustharnisch hervorzuziehen, wo er sie sorgsam verstaut hatte. Er schüttelte das zusammengedrückte Lammfell und setzte es sich wieder auf den Kopf.

In Sorge, der Helm hätte seine Frisur ruiniert, strich Dori seine weißes, streng zurückgebundenes Haar nach. „Ich kann nicht glauben, dass ich mich hierzu überreden lassen habe. Wo bleibt unser Meisterdieb?“

Kaum ausgesprochen klimperten Schlüssel. Kurze Zeit später stießen Bilbo, Marie und Nori hinzu. „Hab die Schlüssel“, flüsterte der Hobbit.

„Auf unseren Bilbo ist Verlass.“ Mit Stolz machte Bofur auf dem schmalen Gang Platz, damit Bilbo an die Gefängnistür kam.

Dori war alles andere als begeistert, als er seinen Halbbruder sah. „Dass du mit dabei bist, wenn etwas Illegales passiert, war ja klar.“

Ehe Nori etwas erwidern konnte, ging Marie dazwischen. „Reißt euch bitte zusammen. Für so etwas haben wir keine Zeit. Wir müssen uns beeilen.“

Das Quartier der Offiziere lag nur einen Katzensprung vom unterirdischen Gefängnis entfernt. Immer noch klopfte ihr Herz wie verrückt. Als sie eben auf Bilbo gewartet hatte, der den Schlüssel aus Filis Arbeitszimmer holen sollte, war sie fast umgekommen vor Anspannung. Zu allem Überfluss hatten ihre Augen ihr auch noch Streiche gespielt, als sie ins Zimmer gespäht hatte. Von der einen auf die andere Sekunde war Bilbo mit der Dunkelheit verschmolzen, so als wäre er gar nicht mehr da gewesen. Er war wirklich ein Meisterdieb… Trotz der hereingebrochenen Nacht war an Nachtruhe nach einem Tag wie diesen so schnell nicht zu rechnen. Sie können jederzeit entdeckt werden und wagten es deshalb nur im Flüsterton zu sprechen.

„Wer steht eigentlich oben Schmiere?“, fragte Dori.

„Ori.“

„Ori? Großer Gott…“

„Allemal besser Ori als Oin“, meinte Bofur.

Bilbo bekam die Tür auf und die Männer und Marie konnte in den Kerker vordringen. Letztere nahm die Laterne mit. Das war auch bitter nötig. Pechschwarze Dunkelheit empfing sie. Die Kerker von Erebor waren ein düsterer und bitterkalter Ort. Niemand hatte sich die Arbeit gemacht, die Spinnweben der letzten Jahre fortzuwischen. In dichten, weißen Schleiern hingen sie von den Decken und Wänden aus rohem, dunklem Felsgestein.

„Hier gibt es doch keine Ratten oder etwas doch?“, piepste Bofur auf einmal nervös.

„Machst du dir wegen kleinen Nagetieren in die Hosen?“ Gerade hatte Dori ausgesprochen, als etwas sein Gesicht streifte und ihn wie ein kleines Mädchen quieken ließ. „Iiihhh!“ Die anderen mussten sich ihr Lachen verkneifen. Dori machte ein böses Gesicht und wischte angeekelt die Spinnweben weg, die von der Decke hingen.

„Jungs, konzentriert euch!“, mahnte Marie. Die Laterne hoch erhoben damit sie genug Licht hatten schlich sie vorwärts. Zu ihren beiden Seiten erschienen Gitterstäbe aus der Dunkelheit. Eine leere Zelle nach der anderen gingen sie ab. „Hallo?“, rief sie leise, weil sie seinen Namen nicht kannte. „Wo seid Ihr?“

„Hier! Ich bin hier“, erklang es daraufhin und Marie atmete erleichtert auf. Im Lichtschein sahen sie einige Meter weite jemanden sitzen. Marie und ihre Begleiter beschleunigten ihre Schritte und standen kurz darauf vor dem Händler, der in Staub und Schmutz bereits an den Gitterstäben stand und auf sie wartete. Der Mann kniff die Augen zu, als die Lampe ihn blendete und Bilbo machte sich sofort am Schloss zu schaffen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Marie und entdeckte daraufhin an seiner Stirn eine Platzwunde. „Sie haben Euch geschlagen.“ Das Blut war im über die Schläfe gelaufen, doch es hatte zum Glück bereits aufgehört.

„Nur ein Kratzer, verehrte Dame“, wimmelte der Mann ab. „Es hätte weitaus schlimmer sein können. Was tut ihr hier?“, fragte er und sah erstaunt zu dem Hobbit herab, der am Schloss herumwerkelte.

„Wir verhelfen Euch zur Flucht. Im Gegenzug müsst Ihr mir alles über die Frau erzählen, woran Ihr Euch erinnern könnt.“

„Aber ich habe Eurem König doch schon alles gesagt, was ich weiß.“

„Ich will euch ja nicht unterbrechen“, mischte sich Bilbo ein, „aber es passt kein Schlüssel.“

„Was?“

„Es passt kein Schlüssel!“

Hektisch drückte Marie Nori die Laterne in die Hand und kam Bilbo zur Hilfe. „Hast du alle ausprobiert?“

„Schon zwei Mal! Der richtige Schüssel ist nicht dabei.“

„Sucht ihr den hier?“

Alle fuhren zu der Stimme herum. Mit einer Lampe in der einen und einem Schlüssel in der anderen Hand stand dort der Hauptmann Erebors.

Hinter seinem Rücken schaute ein bedröppelter Ori hervor. „Es tut mir so leid! Ich hab versucht, ihn aufzuhalten…“

„Ähm… Das ist nicht das, wonach es aussieht!“, versuchte Bofur einen eher mittelmäßigen Erklärungsversuch.

Filis Augenbraue ging steil in die Höhe. „Ach, nein? Wonach sieht es denn dann aus?“

Marie machte einen Schritt auf ihn zu. „Ich kann ihn nicht hier lassen, Fili. Bitte. Hilf uns.“

Fili senkte den Blick und sie sahen, wie er tief durchatmete, innerlich mit seiner Pflicht kämpfte. „Das ist Hochverrat. Ist euch das überhaupt klar?“

„Es wäre auch Verrat, nichts zu tun und zuzuschauen.“ Noch einen Schritt machte sie auf ihn zu, „du musst dich jetzt für eine Seite entscheiden, Fili“, auf ein Wunder hoffend. „Stehst du auf unserer Seite oder auf Smaugs Seite?“

Er starrte sie an. „Du kennst meine Antwort.“

„Ja. Und deswegen wirst du uns helfen.“

„Scheiße“, fluchte er und drückte Bilbo seine Laterne in die Hand. Dann machte er sich mit dem Zellenschlüssel am Schloss zu schaffen. Die Gittertür sprang auf und öffnete sich mit einem lauten Quietschen.

„Schnell“, raunte Marie dem Händler zu. „Erzählt mir alles.“

„Sie war eine Zwergin. Etwa so groß.“ Er hielt die Hand auf Maries Kopfhöhe. „Sie sprach akzentfrei die Gemeine Zunge.“

„Welche Haarfarbe hatte sie?“

„Rot. Aber das habe ich Eurem König doch schon alles gesagt. Bitte, lasst mich gehen. Ich muss zu meiner Familie. Sie haben mich von meiner Familie fortgebracht. Meine Frau wird umkommen vor Kummer.“

„Er kann uns nicht mehr erzählen, Marie. Wir sollten keine Zeit mehr vergeuden“, warnte Fili.

Zu gern hätte sie noch mehr erfahren, um irgendwie auf die Spur der Diebin zu kommen. Sie musste jedoch einsehen, dass sie hier an einer Sackgasse angekommen waren. „In Ordnung“, antwortete sie deshalb. „Bofur und Dori werden Euch aus Erebor bringen. Ihr könnt den beiden vertrauen.“

„Ich sorge dafür, dass man am Tor keine Fragen stellt.“

„Danke, Fili.“

Der Prinz zog seinen Umhang aus und reichte ihm den Mann. „Er wird Euch zwar nicht passen, aber er wird Euer Gesicht verdecken.“

„Wie kann ich Euch jemals dafür danken?“ Mit großen Augen schaute der fahrende Händler auf die Zwerge und auf Marie hinab. „Ihr habt Euch zwischen mich und Eurem König gestellt. Wer seid Ihr, edle Dame?“

„Mein Name ist Marie. Das ist alles, was Ihr wissen müsst. Ihr solltet Dale so schnell wie möglich verlassen. Was ist mir Eurem Sohn?“

„Wenn der Verkauf geklappt hat, wird mein Sohn auf uns an der Mündung des Waldflusses warten.“

„Dann nehmt Euer Geld und macht, dass Ihr Meilen gewinnt. Noch heute Nacht“, sagte Fili mit Nachdruck. „Kommt jetzt.“ Niemand erhob Einwände. Niemand wollte länger an diesem Ort sein.

Fili bildete die Nachhut, als man die Kerkerzellen verließ. Die Tür zum Gefängnis schlossen sie wieder ab, damit niemand voreilig das Verschwinden des einzigen Gefangenen bemerkte. Die Gruppe wartete, bis es der Fremde eingehüllt in Filis Umhang und begleitet von den unechten Soldaten durchs Tor geschafft hatte. Pfeifend gingen danach Dori und Bofur ihrer Wege, als wäre dies ganz normal und Fili kehrte zurück zu den Wartenden. Nori und Ori befahl er, zu gehen und niemanden davon zu erzählen. Die beiden nickten und huschten davon.

„In mein Arbeitszimmer.“ Ohne Widerworte folgten Marie und Bilbo. Die Anspannung fiel von ihnen ab, als er die Tür hinter ihnen schloss. Stöhnend ließ sich Bilbo in Filis Sessel fallen und streckte alle Viere von sich. In den letzten Monaten war Marie schon öfters hier gewesen und hatte ihren Neffen bei seiner täglichen Arbeit besucht, doch jetzt schien der Raum viel kleiner zu sein als gewöhnlich. Die entzündete Kerze auf dem Schreibtisch tauchten ihre Gesichter in unheimlich düsteres Licht, während der Rest des Zimmers in Dunkelheit lag.

Als könnte er es ungeschehen machen, hängte der Hauptmann Erebors die Schlüssel wieder an ihren Platz. Er drehte sich um und seine Augen suchten die von Marie. Große Sorge spiegelte sich darin wieder. „Du solltest Erebor verlassen. Noch heute Nacht. Kili wird mit dir gehen, wenn ich ihn darum bitte. Ich kann dich und das Kind nicht hier behalten.“

Seine Worte kamen nicht überraschend. Seit dem Moment, als sie ihre Schwangerschaft bekannt gemacht hatte, hatte sie mit so etwas gerechnet. Und so waren ihre Worte ruhig und bestimmt, denn ihre Entscheidung war längst gefällt. „Ich verlasse Thorin nicht.“

Fili wurde wütend. „Ich versuche hier gerade dein Leben zu retten! Was denkst du passiert, wenn er herausbekommt, dass du dem Mann zur Flucht verholfen hast?“

„Ich habe keine Angst vor ihm“, log sie.

„Nicht Thorin ist es, der dir Angst machen sollte“, sagte Bilbo auf einmal. „Ich habe Smaug gegenüber gestanden. Ich weiß, wie er tickt, wie unberechenbar er ist. Wir sollten alle Angst haben.“

Jetzt war es Marie, die wütend wurde. „Was ging dir durch den Kopf, als du dein Heim verlassen hast, Bilbo? Was hat dich angetrieben im Krieg zu kämpfen? Was hat dich zurückkehren lassen, als du den Arkenstein nach Dale getragen hast?“ Ihre Fragen verklangen im Zimmer und die beiden Anwesenden schwiegen betreten. „Ich habe Hoffnung. Nach allem, was geschehen ist habe ich meinen Glauben an das Gute nicht verloren. Ich kann nicht zulassen…“, die Worte stockten in ihrer Kehle und ihr Herz geriet ins Taumeln, „…ich kann Thorin nicht Smaug überlassen, ohne alles Erdenkliche auf dieser Welt versucht zu haben… Und ich kann ihn nicht sterben sehen, auch wenn er es so will.“

„Was meinst du?“, fragte Bilbo irritiert. Sie überlies es Fili, es zu erklären.

„Mein Bruder, Ninak, Dwalin und ich mussten Thorin schwören, dass, wenn es keine Heilung geben wird…wenn wir es nicht schaffen, ihn zu retten, wir unser Volk und Marie vor Smaug beschützen und ihn töten werden.“

Ihm fiel alles aus dem Gesicht. „Ihr wollt Thorin umbringen?“

„Wir müssen es. So haben wir es ihm geschworen.“

Der Hobbit fuhr sich fassungslos durch die kupferbraunen Locken und starrte ins Leere. „Das…das ist Mord. Das ist nicht richtig.“

„Es ist richtig, wenn wir damit das Schlimmste verhindern können“, widersprach Fili.

„Wann wisst ihr, dass ihr es… tun müsst?“

„Wenn Smaug vor uns steht“, lautete die Antwort.

„So weit wird es nicht kommen“, hielt Marie heftig dagegen.

„Er war schon verdammt nah dran“, warnte Fili sie eindringlich.

„Es. Gibt. Noch. Hoffnung“, knurrte sie zurück. „Das ist immer noch Thorin. Wir müssten den Arkenstein zurückholen, dann…“

„Was dann? Glaubst du, dann wird alles besser?“

„Ich weiß es doch auch nicht! Wenn ich ein Heilmittel wüsste, hätte ich es längst benutzt! Ich weiß nur, dass es noch nicht zu spät ist. Lasst ihn uns einfach einsperren. Wir könnten ihn alle zusammen überwältigen.“ Maries unbedachter Vorschlag stieß auf Granit.

„Damit würdest du es nur komplizierter machen“, hielt ihr Fili den Spiegel vor. „Solange du keine Krone auf dem Haar trägst und Königin bist, hast du als seine Verlobte keinerlei Befugnisse. Schon gar nicht einen Putsch gegen den König anzuzetteln. Das Militär würde dich festnehmen, ehe du bis drei zählen kannst. Und was Thorin dann mit dir machen würde, kannst du dir selbst ausmalen. Schlag dir diese Idee gleich wieder aus dem Kopf, Marie. Und ich bitte dich inständig, such nicht seine Nähe. Halte dich von ihm fern, so schwer es auch fällt. Er wird dir nicht zuhören. Du hast gesehen, zu was er fähig ist. So leid es mir tut, aber Thorin ist gefährlich. Glaubst du, niemand hat gesehen, wie er dir den Weg versperrt hat? Bei Durin, sollte er je wieder eine Waffe gegen dich erheben – geschweige dir etwas antun - werde ich das beenden. Und du wirst mich nicht daran hindern können, meinen Schwur einzulösen.“

Marie musste sich auf die Lippen beißen, um nichts mehr zu sagen.

„Ich habe meinem Onkel geschworen, dass ich unsere Familie beschützen werde.“ Fili kam näher und legte sachte eine Hand auf ihren noch unscheinbaren Bauch. „Ich werde nicht zulassen, dass meiner Familie etwas zustößt.“

Es war das erste Mal, dass jemand anderes sie dort berührte als sie selbst. Dieser einzigartige Moment hätte eigentlich Thorin gehören sollen. Ihr Schatz, der nicht länger ein Geheimnis war.

„Ich bitte dich ein letztes Mal: verlass Erebor.“

Eine Reihe unterschiedlichster Gefühle durchfluteten sie. Dieses kleine Wunder mit ihm teilend legte Marie ihre Hand auf seine und sah ihrem Jungen in die grau-grünen Augen, die voller Sorge waren. „Ich liebe dich, Fili. Aber ich liebe auch Thorin. Und deswegen werde ich nicht gehen.“

Fili erwiderte ihren Blick. „Ist das deine Entscheidung?“ Marie nickte und er stieß die angehaltene Luft aus. „Dann sei es so.“

 

~

 

Als eine nicht enden wollende, eintönige Masse flossen die Stufen unter ihm entlang. Sein Körper bewegte sich von selbst. Sein Geist aber war an einem ganz anderen Ort.

Auf der Suche nach seinem Licht schleppte sich Thorin vorwärts, begleitet von diesem Zwängen und Drängen in seiner Brust. Unter seiner Haut eine Bestie, die freigelassen werden wollte.

Er wollte das alles nicht mehr; diese Stimme in seinem Kopf. Er wollte nur noch seine eigenen Gedanken zurück, seinen Körper wiederhaben. Es war ein bitterer Kampf und er konnte nichts anderen tun, als zu zusehen, wie Smaug seine Seele Stück für Stück zerstörte. Er war seine Marionette.

„Aufhören…“ Selbst seine Stimme war nicht mehr seine eigene. Hilfe. Er brauchte Hilfe.

In dem Glauben, Marie zu Hause anzutreffen, hatte er Kili angelogen, um den Jungen abzuschütteln, der ihn auf Schritt und Tritt verfolgte. Sie trauten ihm nicht mehr. Gut. Er traute sich selbst auch nicht mehr.

Stockwerk um Stockwerk kämpfte Thorin sich den ewiglangen Weg zu den königlich Gemächer hoch. Er brauchte Marie. Er musste sie um Verzeihung…

Was willst du noch von dieser Frau?, beendete die Stimme in seinem Kopf diesen Gedanken, der es gewagte hatte, selbstständig zu entstehen und zu wachsen. Du brauchst diese widerspenstige Hexe nicht mehr.

Der lästigen Angewohnheit nachkommend, es dadurch irgendwie erträglicher zu machen, rieb sich Thorin über die Brust. Dort, wo einst sein Herz saß, war nichts mehr. Wie Leim klebte sein Geist zusammen. Zu viel spukte auf einmal darin umher. Eigentlich müsste er schleunigst mit den Ratsmitgliedern zusammenkommen, um alles für einen Angriff auf das Waldlandkönigreich vorzubereiten. Den Jungen konnten sie nicht mehr einholen. Einen zu großen Vorsprung hatte er bereits…

Eine Frau, die ihr Gesicht nicccht zeigen wollte. Rotes Haar. Ein Erbstück. Finanzielle Not. Smaug hatte das Denken übernommen und ließ ihn daran teilhaben - ob er wollte oder nicht. Wer könnte einen Nutzen aus dem Arrrkenstein schlagen?

„Sei endlich still…“

„Mylord.“ Ein Soldat kam ihm entgegen und Thorin versuchte mit aller Macht, sich auf seinen Gegenüber zu konzentrieren. „Der Händler hat Erebor verlassen, so wir Ihr es angeordnet habt.“

Das hasserfüllte Knurren der Bestie hallte tief aus seinem eigenen Ich empor. Drei Mal darfst du raten, wer das war…

Ins Leere starrend ließ Thorin den Soldaten einfach stehen. Seine Schritte waren nun jedoch schneller und sicherer. Smaugs Wut schmeckte er auf der Zunge und die wachen Instinkte des Tieres puschten ihn wie ein berauschendes Tabakskraut auf. Das konnte nicht wahr sein…

Erkennst du es jetzzzt endlich? Du wolltest nicht sehen, was die ganze Zeit offensichtlich war.

„Was redest du?“ Unter keinen Umständen wollte er mit ihm reden, doch Thorin konnte Smaugs Stimme nicht ausblenden. Sie war so nah, als liefe er Seite an Seite mit einem alten Bekannten durch das nächtliche Erebor.

Wer ist fremd in deinem Land? Denk nach, Eiccchenschild.

Als die Bedeutung in sein Bewusstsein sickerten, suchte Thorin an der Wand Halt. Der Flur schien meilenlang zu sein und sein Kopf jeden Moment zu explodieren. „Das ist Unsinn. Sie würde so etwas niemals tun.“

Ach, nein? Sie hat den Gefangenen befreit. Sie hat dich vor deinem Volk zum Narren gemacht. Nicht das erste Mal, dass sie sich dir widersetzt… Es war die Frau, die vorgab, diccch zu lieben! Sie hat den Arkenstein an ihresgleichen verkauft. Sie weiß seinen Wert nicht zu schätzen, deshalb hat sie ihn verramscht!

Plötzlich hielt er eine Türklinke in der Hand. Endlich Zuhause. Er drückte die Tür auf und stolperte in den Wohnraum. „Marie?!“ Sein Ruf verklang ungehört. Das Kaminfeuer, welches die Zimmermädchen nicht ausgehen lassen hatten, brannte einsam vor sich her. Von Marie war keine Spur.

Thorin warf den Mantel von sich, legte die Krone ab. Wasser… Er taumelte in Richtung Waschraum.

Du hast dich auf die falsche Frau eingelassen, Eichenschild. Mach die Augen auf!

Thorin füllte Wasser aus der Kanne in die Waschschüssel und schleuderte sich eine Handvoll davon ins Gesicht. Als die Kälte in seine Haut stach, stöhnte er auf. Hatte er Fieber? Er verglühte.

Diese Frau hat von Anfang an versucht, dich zu bezirzen und in deine Gunst zu kommen, begreif es endlich.

Wieder und wieder benässte er sein Gesicht.

Mach die Augen auf!

„LÜGNER!“ Thorin schaute auf und sah in dem Spiegel einen Fremden stehen.

Waren es nicht sogar ihre eigenen Worte gewesen? Schmerzhaft wühlte Smaug in seinen Erinnerungen herum und daraufhin erklang ihre Stimme in seinem Kopf: Wenn ich ihn dir klaue, bin ich die mächtigste Halb-Zwergin in ganz Mittelerde.

„Marie würde niemals…“

Du bist es, der die Lügen nicht mehr von der Wahrheit unterscheiden kann. Schau dich an. Sie hat dich um den Finger gewickelt. Sie hat dich schwach gemacht, dich verhext. Und dieses Kind ist auch nicht deins…

Es schepperte. Die Kanne zerbarst krachend an der nächsten Wand in ihre Einzelteile. Thorin wirbelte herum und begann rastlos im dunklen Raum Kreise zu drehen. „Was sollte Marie vom Diebstahl und Verkauf des Arkensteins haben? Sie hat alles, was sie will. Ich habe ihr meine Welt zu Füßen gelegt. Wieso sollte sie so etwas tun?“

Frag sie selbst.

„Sie hat es nicht getan. Ich brauche sie nicht zu fragen.“

Wenn du dir so sicher bist, schau in ihren Sachen nach, ob du etwas findest. Überzeug dich eines Besseren.

„Ich werde nicht in ihren Sachen wühlen!“

Smaug lachte freudlos. Du bist doch schon dabei…

Thorin blinzelte und sah, dass er plötzlich vor ihrem Frisiertisch im Schlafzimmer stand, eine Hand bereits an der Schublade. Wann hatte er den Waschraum verlassen und wieso gehorchte sein Körper ihm nicht mehr? Seine Hand zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt. „Du kannst mich nicht dazu zwingen.“

Tu es, befahl Smaug und Thorin zog die Schublade auf und griff hinein. Ihre Zulassung als Heilerin… Ihre Haarbrüste… Fläschchen aus Glas mit undefinierbarem Inhalt. Schmuck, den er ihr geschenkt hatte. Jede Woche hatte er ihr teure Schmuckstücke geschenkt. War das alles umsonst gewesen? Hatte sie das überhaupt zu schätzen gewusst? Hatte sie ihn je wirklich geliebt?

Ihre Seite des Bettes zog als nächstes seine Aufmerksamkeit an. Er steckte die Finger zwischen jede Ritze der Matratze, zog die Kissen hoch, suchte überall. Der Nachttisch wurde geöffnet. Auch da fand er nichts, was ihm half. Was tat er hier eigentlich? Verdächtigte er gerade wirklich Marie?

„Hier ist nichts“, sprach er und merkte im selben Moment, dass er noch nicht überall gesucht hatte. Thorin stürmte ins Ankleidezimmer und riss ihre Schränke auf. Unmengen von Kleidern und sonstiges Zeug hing dort. Er schob Haken auseinander, ohne zu wissen, wonach er genau suchte, durchwühlte die fein säuberlich geordneten Stofflagen. Bis sein Blick zum Boden des Schrankes fiel…

Glaubst du mir jetzt endlich, Eiccchenschild?

…und seine Seele zerbrach.

 


32

 

 

Sie hätte sich umdrehen und gehen sollen, als sie noch die Möglichkeit dazu hatte. Zurück zu Fili und Bilbo, hinunter zu den anderen, in den Schutz der Stadt... Ganz egal, wohin. Nun war die Chance dazu vertan.

Obwohl Thorin düster und bedrohlich mitten im Wohnraum stand, den Blick auf den Eingangsbereich geheftet, so als hätte er einzig und allein auf ihre Rückkehr gewartet, blieben ihre Füße an Ort und Stelle, weil ihr Herz es ihnen befahl.

Als es nach dem Schreck halbwegs wieder in einem normalen Takt schlug, merkte Marie, dass sie etwas sagen musste. „Wo ist Kili?“

„Kili ist nicht hier“, lautete die schneidend kalte Antwort.

Erst jetzt sah sie, dass er etwas in den Händen hielt. Ehe sie danach fragen konnte, warf er ihr das rote Knäul einfach zu. Irritiert fing sie es und bemerkte, dass es sich um Haare handelte. Marie ließ die langen, roten Strähnen durch ihre Finger fallen. Die Haare waren in eine Art Netz eingewebt und wurden so zusammengehalten. „Was ist das?“

„Sag du es mir.“

Was sie da hielt, konnte sie nur erahnen. In einem Buch von Dis hatte sie von so etwas gelesen. Fremde Haare, die man sich auf die eigenen setzen konnte. Perücke nannte man dies, wenn sie sich richtig erinnerte.

„Wieso habe ich das in deinem Schrank gefunden?“

Die Frage bewirkte, dass ihr der Mund aufstand. Marie wälzte ihr Gedächtnis um, doch sie konnte sich keinen Reim darauf machen. „Ich habe keine Ahnung. Diese Perücke sehe ich zum ersten Mal.“ In Thorins Augen loderte silbernes Feuer und in ihrem Magen verknotete sich etwas vor Unbehagen. Sie durfte nicht hier sein. Sie durfte nicht mit ihm alleine sein.

„Halte mich nicht zum Narren!“ Die Heftigkeit seiner Worte und seine aufeinandergebissenen Zähne unterstrichen seine Warnung mehr als deutlich.

Marie wich zurück, starrte den Mann ihr gegenüber an, der so schrecklich fremd war, und empfand eine große Leere, wo einst etwas von Bedeutung gelegen hatte. „Du hast meine Sachen durchwühlt.“ Er korrigierte sie nicht und ihr wurde bewusst, wie dieser Fund in ihrem Schrank in seinem labilen Zustand auf ihn wirken musste. „Thorin, das ist nicht meine!“ Sie schleuderte die unechten Haare auf das Sofa und streckte die leeren Hände weit von sich. Eines stand fest: sie musste alles daran setzen, ihn von der Wahrheit zu überzeugen, wenn sie ihren Kopf auf den Schultern behalten wollte.

„Ich weiß nicht, wie die in meinen Schrank gekommen ist. Jemand muss die dort hineingelegt haben, anders kann ich mir das nicht erklären. Liebling, du musst mir glauben…“

„Warum sollte ich dir noch glauben?“ Enttäuschung und nackter Schmerz beherrschten seine Stimme und trafen dort, wo es am meisten weh tat.

„Du willst also sagen…“, die Nähte ihres Herzens, die sie schon so oft geflickt hatte, brachen erneut und unwiderruflich auf, „dass du glaubst, ich hätte mich mit diesem Ding da verkleidet, um den Arkenstein zu stehlen?“

Als wäre sie Ungeziefer, schaute der König Erebors sie an. Ohne Vertrauen. Ohne Liebe.

Diebin, stand in seinen Augen geschrieben. Es tat so unglaublich weh.

„Belehr mich eines Besseren.“

„Das kannst du nicht ernst meinen…“ Schon längst schlug eine Glocke in ihrem Schädel wie wild Alarm. Sie musste von hier weg und zwar schnell! Die Absicht dazu hatte Marie nicht gehabt, aber die Worte voller Gram waren zu schnell ausgesprochen und gossen nur noch Öl ins Feuer. „Hat Smaug dir das eingeredet?“

Reizbar schoss er noch vorne. „Verdreh nicht die Fakten, Marie!“

Abermals wich sie vor ihm zurück und umfasste von ihren Instinkten geleitet ihren Bauch, um ihr Baby zu beschützen.

„Die Diebin hatte rote Haare und was finde ich in deinem Schrank? Richtig, eine rote Perücke. Und du erklärst das damit, dass du nicht wüsstest, wie die da hineingekommen ist? Ziemlich schwach.“

„Das ist die Wahrheit!“ Als er ihr noch näher kam, wich sie wieder zurück. „Ich habe den Arkenstein nicht gestohlen!“ Wie oft sollte sie das noch sagen? Ihre Stimmbänder verknoteten sich. Sie schluckte, versuchte krampfhaft die aufsteigenden Tränen niederzuringen. Er musste ihr glauben!

„Die Diebin verbarg ihr Gesicht hinter einem Tuch. Lange habe ich darüber nachgedacht. Sag mir, wieso tat sie das?“

Sie ging nicht darauf ein, versuchte stattdessen mit all ihrer Selbstbeherrschung sein unsinniges Verhör auszuhalten. Sie durfte nicht klein bei geben!

„Um etwas zu verbergen, was sie sonst verraten hätte. Was unterscheidet dich von einer Zwergin?“ Er zögerte die Antwort bewusst heraus und Marie kämpfte jede Sekunde mehr gegen die Panik und den Gedanken an, zur Tür zu rennen. Es war sinnlos wegzulaufen. Er würde sie in wenigen Sekunden haben. Thorin beugte sich vor, sodass ihre Köpfe auf derselben Höhe waren. Bewegungslos verharrte sie und versuchte ihre Angst zu verbergen, bis er die Antwort selbst lieferte.

„Der nicht vorhandene Bart.“

„Ich sage es zum letzten Mal: ich habe den Arkenstein nicht gestohlen!“ Schlag um Schlag quälte sich ihr Herz weiter. Es hämmerte gegen ihre Rippen, zappelte wie ein verletztes, panisches Tier. „Thorin, du kennst die Wahrheit. Du kennst mich… Ich flehe dich an…“

Nun war er es, der zurückwich. Ihre Worte ließen ihn jedoch völlig kalt, was Marie noch fassungsloser machte. Was war das für ein krankes Spiel, das er hier spielte?

Ein paar Schritte ging er, verschränkte dann die Arme hinter dem Rücken, als wäre er ein Soldat, der Haltung einnahm. „Du magst die Körpergröße einer Zwergin haben. Du magst dich kleiden wie wir und unsere Sprache sprechen. Aber du gehörst nicht zu uns. Du hast noch nie zu uns gehört. Gandalf mag deinen Körper verzaubert haben, aber du bist immer noch ein Mensch.“ Er spuckte das Wort „Mensch“ aus wie eine Beleidigung und Marie konnte bloß den Kopf schütteln angesichts der Veränderung, die binnen Stunden mit ihm geschehen war. „Du hast den Händler befreit und ihm zur Flucht verholfen, weil er einer von deinen ist. Du hast dich meinen Befehlen widersetzt, so wie du es schon immer getan hast.“ Thorins Stimme brach. Tränen standen ihm plötzlich ebenfalls in den Augen. „Du hast mich hintergangen!“, er zeigte mit dem Finger erst auf sie, bohrte denselben dann in seine eigene Brust. Er war am Ende des für ihn erträglichen angekommen. „Ich habe dir alles gegeben, was ich besitze! Alles, was mir heilig war. ALLES! Du warst das Wichtigste in meinem Leben! Ich habe dich geliebt…“ Seine Worte verklangen und ließen sie fallen, direkt in den Abgrund. „Smaug hatte Recht“, raunte Thorin und als könnte er ihre Gegenwart nicht mehr ertragen, wandte er sich von ihr ab, gab ihr damit den Todesstoß. „Es war ein Fehler, dir zu vertrauen.“

Hinter ihrer Stirn explodierten die Gefühle und bahnten sich unaufhaltsam ihren Weg. Marie langte zum Beistelltisch neben dem sie stand und packte nach der Karaffe. Das Kristallgefäße verfehlte Thorins Kopf um Haaresbreite und zerschellte am Türrahmen des Schlafzimmers in tausende Scherben. Wein spritze in sämtliche Richtungen und verteilte sich über Holz und Gestein, rannte wie Blut daran herab. Thorin hatte sich darunter hinweg geduckt, kauerte nun auf dem Fußboden.

„WIE KANNST DU ES WAGEN, DIESEM MONSTER MEHR ZU VERTRAUEN ALS MIR??!!“ Ihre Schreie ging durch alle Zimmer…

Doch da war noch eine andere Stimme. Schreie, die niemand hören konnte. NEIN, VERZEIH MIR!! DAS WAR NICHT ICH!

„Wie kannst du alles, was wir zusammen durchgemacht haben, vergessen haben!“

HÖR AUF IHN ZU REIZEN! SPIEL DIESES SPIEL NICHT MIT!!

„DU GLAUBST SMAUG MEHR ALS MIR?! DEINER VERLOBTEN?! DER MUTTER DEINES UNGEBORENEN KINDES?! DU VERRÄTERISCHER SCHEIßKERL!“

HÖR AUF, MARIE, BITTE! ICH FLEHE DICH AN! Seine Bitten blieben ungehört.

„Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“

Er wollte aufstehen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Er wollte den Mund aufmachen, doch über seine Zunge kamen keine Worte. Und als er die Augen öffnete, war da Nichts. Abgrundtiefe Finsternis, wohin er auch sah. Die Erkenntnis brach über ihn herein und sandte blanke Furcht durch das, was von ihm übrig war.

MARIE, LAUF! LAUF!!!!

Diese hörte Thorins innere Stimme nicht. Stattdessen sah sie ihn immer noch auf dem Boden kauern. Den Moment zum Durchatmen nutzend fuhr sie sich über das Gesicht und besann sich für das Wohl ihres Babys… Plötzlich bemerkte sie die gespenstische Ruhe, die nur von seinen Atemgeräuschen gestört wurde. Thorin hatte den Kopf gesenkt, die schwarzen Haare waren ihm vor das Gesicht gefallen und verdeckten es gänzlich. Die nackten Schultern hoben und senkten sich heftig, sodass man meinen könnte, er hätte gerade um sein Leben gekämpft. Beunruhigt sah die Heilerin, wie seine Hände begannen, sich langsam über den Felsboden vorzutasten. Sie zogen sich daran entlang, jede Unebenheit unter seinen Fingerspitzen fühlend. Geradezu vorsichtig setzte er die Füße auf und stemmte seinen Körper hoch. Wackelig suchte er Balance, bis er schließlich stand. Eigenartigerweise sah er nun auf seine eigenen Hände, hob sie empor, drehte und wendete seine Handfläche und bewegte die Finger, so als würde er seine Gliedmaßen das allererste Mal sehen.

Bis jetzt hatte Marie ihm irritiert und stumm zugesehen. Nun wagte sie es, ihn anzusprechen. „Thorin?“

Beim Klang seines Namens horchte er auf und als er sich zu ihr umdrehte, erschien ein Lächeln voller Grausamkeit auf seinem Gesicht. „So lernen wir uns also endlich kennen, Euer Hoheit…“

Vor der Stimme und dem Anblick, der sich ihr bot, taumelte Marie zurück. Es war nicht länger Thorin, der dort vor ihr stand. „Smaug…“

Sein Lachen grummelte wie Donnergrollen aus seiner Brust. „Die Überraschung auf Eurem zarten Gesicht gefällt mir.“

Ihr Instinkt zum Überleben schrie sie an, sich verdammt nochmal endlich zu bewegen. Marie wagte es, doch Smaug war natürlich darauf vorbereitet und versperrte ihr den Weg.

„Oh, nein, nicht weglaufen. Wir wissen doch beide, dass Ihr nicht weit kommen würdet.“ Schleichend setzte er einen Fuß vor den anderen und schnitt ihr so den Rückweg ab. Marie blieb nichts anderes übrig als ihm auszuweichen. Ihr Verstand wollte es nicht wahrhaben. Wie er sich bewegte, sie mit gesenktem Kopf fixierte und blutrünstig anstarrte. Ein Raubtier, welches seine Beute nicht mehr entkommen lassen wollte. Sie hatte nicht einmal den Hauch einer Chance.

„So lange musste ich mich in Geduld üben, bis der richtige Augenblick gekommen war. Seht mich an!“ Smaug streckte die Arme aus und präsentierte sein Meisterwerk. Von Arbeit und Kampf geformte Brust- und Armmuskeln spannten sich. Er zeigte sich in all seiner Pracht, einverleibt in den Körper seines Wirtes. Es war so grausam. Jeden Quadratzentimeter, jede Narbe, jedes Muttermal kannte Marie. Der Körper dort vor ihr gehörte Thorin… Aber der Mann darin war verschwunden. Ein Monster stand vor ihr, in Gestalt des Mannes, den sie liebte.

„Wie sehr habe ich diesen Tag herbeigesehnt. Ich danke Euch dafür, Mylady. Ihr habt das erst möglich gemacht.“

Marie zuckte zusammen, als ihre Fersen etwas trafen. Sie bemerkte, dass sie neben der Schlafzimmertür stand, mit dem Rücken zur Wand. Ohne es zu merken hatte sie sich von ihm dorthin drängen lassen. Wie dumm. Dumm, dumm, dumm! Ihr blieb nichts anderes übrig, als mitanzusehen, wie Smaug in Gestalt von Thorin ungehindert näher kam und erinnerte sich daran, dass sie noch eine Stimme besaß. „Was hast du mit ihm gemacht?“

„Nur keine Sorge, meine Teure. Er ist so weit unversehrt. Wir haben lediglich die Plätze getauscht.“ Smaug rollte mit den Schultern und legte den Kopf von der einen zur anderen Seite, sodass es knackte. Der Kampf, den er mit Thorins Geist ausgefochten haben musste, war anscheinend nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. „Ein ziemlicher Sturkopf, dieser Zwerg. Aber das kennt Ihr ja schon von ihm.“ Den Sieg voll auskostend trat er mit einem selbstgefälligem Lächeln auf den Lippen an sie heran und Maries spürte ihren Körper in seine Einzelteile zerfallen. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich bereits in ihrem eigenen Blut liegen.

„Wag es nicht, mich anzufassen, Schlange!“

Smaug machte große Augen und schürzte gespielt beeindruckt die Lippen. Auf einmal war er bei ihr und Marie bekam seine Strafe für ihren Mut zu spüren. Während eine Hand von ihm neben ihrem Kopf an die Wand gestützt war, packte die andere ihre Kehle. Vergeblich versuchte sie diese wegzureißen. Zur Antwort fasste er noch enger zu. Sie zerrte an seiner Hand, starrte ihn an, spürte seine Finger über ihren rasenden Puls streichen und seine Hitze ihre Haut versenken. Die Heilerin schloss die Augen und konnte die Tränen nicht zurückhalten.

„Schrei nur, kleines Menschlein. Die Wände sind dick. Niemand wird Euch hören.“

Mit jeder Sekunde stieg der Druck in ihrem Kopf. Die angehaltene Luft wurde knapp. Worauf wartete er? Wieso zögerte er es so lange hinaus? Ergötzte er sich an ihrer Angst? Marie kniff die Augen zu und wappnete sich für den Tod.

Als sie schon dachte, sie verlor jeden Moment die Besinnung, ließ er locker. Sofort schnappte sie gierig nach neuer Luft. Smaugs Fingerspitzen glitten ihren Hals hinauf und griffen in ihr Haar. Mit geöffnetem Mund und silbern funkelnden Augen beobachtete er fasziniert jedes Detail ihres Gesichtes und seine eigenen Finger, als könnte er nicht glauben, dass diese Hände von ihm gesteuert wurden. Vielleicht, so ließ Marie einen ganz anderen Gedanken zu, hatte dieses Monster noch nie jemanden auf diese Art und Weise berührt. Ganz langsam beugte er den Kopf und roch an ihr. Marie erkannte die Chance. Ihr Blick huschte für den Bruchteil einer Sekunde nach rechts, wo neben ihnen an der Wand eine Kommode ihren Platz hatte. Darauf ein vergoldeter Kerzenleuchter.

„Was hast du vor?“, röchelte sie und fasste mit der Linken ganz sanft seinen Oberarm. Zentimeter für Zentimeter tastete sich ihre rechte Hand zur Kommode vor. Ihr Herz schlug ihr bis an die gepeinigte Kehle, als Smaug reagierte. Er drehte den Kopf und die Heilerin zögerte nicht länger.

Sie packte das Metall und schlug zu. Heißes Wachs flog durch den Raum und sie wurde mit einem dumpfen Schmerzenslaut belohnt. Smaug konnte sich nicht auf den ungewohnten zwei Beinen halten. Die Eingangstür als Ziel rannte Marie los. Etwas packte ihre Beine. Der Länge nach fiel sie zu Boden und griff noch reflexartig nach dem Tau neben dem Schreibtisch. Nach Hilfe schreiend trat sie nach Smaug, der ihre Fußknöchel festhielt, doch das machte ihn nur noch wütender. Er schaffte es mühelos, sie wieder in seine Gewalt zu bringen. Wie ein Kaninchen im Genick packte er sie an den Haaren und zog sie hoch.

„LASS MICH LOS! LASS MICH…!!“ Verzweifelt versuchte sie zu entkommen, aber alles, was sie bewirkte, war sich selbst Schmerzen zuzufügen.

„Was hast du getan?!“ Smaugs Blick huschte zu den Tau, das noch hin und her pendelte, und es begann in seinem Kopf zu rattern. Auch Marie realisierte, dass gleich jemand kommen würde… Der Schlag kam völlig aus dem Nichts. Ihr Kopf schnellte zur Seite und ein unangenehmes Piepsen tönte in ihrem Ohr. Smaug zog sie näher, um seine Warnung ihr einzuprügeln.

„Ein Wort, ein verstecktes Zeichen und Ihr könnt der Person beim Sterben zuschauen! Habt Ihr verstanden?“ Er schüttelte sie und Marie konnte nur atemlos nicken. Wenn er so weitermachte, würde er entweder ihre Haare jeden Moment rausreißen oder ihr den Hals brechen.

Inzwischen war es mitten in der Nacht. Niemand würde mehr in der Küche sein. Ihr Klingeln würde überhört werden. Das war Maries Hoffnung. Die Hoffnung, dass niemand durch sie zu Schaden kommen sollte.

Diese Hoffnung wurde von dem Pflichtbewusstsein von Durins Volk zerstört. Nur wenige Augenblicke später klopfte es an der Tür und Marie schrie innerlich auf, als eine junge Frau eintrat. Es war Tara.

Die Zofe knickste und wartete, doch niemand sagte etwas. Zwischen Marie und Thorin sah sie hin und her. Dieser hatte einen Arm um seine Verlobte gelegt und hielt sie an sich gedrückt. „Was kann ich für euch tun?“, fragte sie, als sich immer noch niemand gerührt hatte.

Marie öffnete den Mund und spürte den Blick des Mannes auf sich brennen, der vorgab ein anderer zu sein. Das Leben ihres Zimmermädchens lag in ihren Händen.

„Ich wollte Bescheid geben, dass wir uns jetzt zur Ruhe begeben“, sagte sie das, was sie sagen musste. „Es war ein langer Tag. Wir wünschen keine Störung mehr für den Rest der Nacht.“

„Ist Recht, Marie. Lass mich dir noch schnell beim Umziehen helfen.“ Tara wollte es sogleich in die Tat umsetzen, doch Smaug trat ihr in den Weg.

„Meine Verlobte ist sehr müde“, sagte er mit verstellter Stimme. „Komm Morgen wieder.“

Tara blickte steil nach oben in sein Gesicht und ihre Stirn legte sich voll Unsicherheit in Falten. Ihr Blick huschte zu Marie. Diese konnte nichts anderen als nicken. „Wie Ihr wünscht, Euer Hoheit.“ Sie knickste vor ihrem König und zog sich zurück.

Obwohl Tara schon so gut wie in Sicherheit war, konnte Marie sie noch nicht gehen lassen. Vielleicht war dies ihre einzige Gelegenheit, sich von ihrer Freundin zu verabschieden. „Tara?“ An der Tür drehte diese sich noch einmal zu ihrer Herrin um. Was die Zwergin nicht sah, war der warnende Blick, den Smaug ihr zuwarf. „Danke, für alles. Ich kann mir keine bessere Freundin wünschen als dich.“ Keine Worte dieser Welt konnten die Bedeutung, die Tara für sie hatte, greifbar machen, aber es war wenigstens Etwas und Marie schaffte es, ihr damit ein Lächeln zu bescheren.

„Ich erfülle doch nur meine Pflicht.“

Ihre Herrin versuchte für sie ebenfalls zu lächeln und wisperte ihr ein lautloses „Lebewohl“ nach.

Um sicher zu gehen, dass sie endgültig ging, folgte Smaug ihr bis an die Tür und schloss ab. Das Geräusch des zuschnappenden Schlosses würde Marie nie wieder vergessen. „So…“, er steckte den Schlüssel tief in seine Hosentasche und drehte sich zu ihr um. „Wo waren wir stehen geblieben?“

In diesem Moment zog Marie die Lyrif-Kette von ihrem Hals und stürmte damit zum Kamin. „Einen Schritt näher und ich zerstöre sie!“, warnte sie, die Kette dabei ganz nah an die Flammen haltend.

Unbeeindruckt von ihrem Treiben schaute Smaug ihr zu. Seine Zunge fuhr über die Innenseite seiner Wange, an der ein großes Hämatom wuchs, wo der Kerzenleuchter ihn getroffen hatte. „Wieso glaubt Ihr, dass mich dieses Stück Metall interessieren würde?“

Marie fiel aus allen Wolken. „Aber… aber die Kraft der Kette…?“

„Wozu brauche ich sie, wenn ich nicht nur der reichste Mann, sondern auch der mächtigste bin? Meine Kräfte sind in diesen Körper übergegangen. Keiner kann mich besiegen. Schon bald wird ein Königreich nach dem anderen unter meine Herrschaft fallen und Erebor wird das erste sein.“

Mit Schrecken realisierte Marie, dass ihr letztes Druckmittel damit fort war. Ehe sie noch einen klaren Gedanken fassen konnte, sprintete sie los in Richtung Schlafzimmer. Scheinbar war Smaug die Verfolgung leid und so machte er sich nicht mal die Mühe, ihr nachzueilen. Marie knallte die Türen zu und legte den Riegel vor. Sie trat zurück und musste im nächsten Moment mitansehen, wie eine geballte Faust das solide Holz zerschlug. Knackend bahnte sich Thorins Faust einen Weg durch das Holz als wäre es Papier und tastete nach dem Riegel. Er zog ihn auf und kam ins Zimmer. „Schluss mit den Spielchen, Menschlein. Ihr sitzt in der Falle.“

Als letzte Handlung auf Erden zog Marie den Dolch aus ihrem Stiefel.

„Wen wollt Ihr hier etwas beweisen?“, spottete Smaug. „Legt die Waffe weg. Wir wissen doch beide, dass Ihr es nicht tun könnt.“

Den Griff des Dolches fest in ihren Fingern, richtete Marie die Waffe auf sein geraubtes Gesicht. Natürlich würde Smaug sich von so etwas nicht abschrecken lassen. Dennoch hob Marie die Waffe ihm entgegen, weil sie ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes nicht kampflos diesem Monster überlassen wollte. Tränen rannten über ihr Gesicht, als ihre letzten Gedanken dem Mann ihres Lebens galten, dessen Geist irgendwo dort in dem Körper noch existierte. Es tut mir so leid, Thorin.

Mit einem Schrei sprang Marie vor und stach zu. Obwohl Smaug damit nicht gerechnet hatte, waren die Sinne eines Drachen scharf und hellwach und so schaffte er es der Klinge auszuweichen. Nur Millimeter trennten seine nackten Brust von dem herabsausenden Stahl. Er packte ihr Handgelenk und schlug ihr den Dolch aus der Hand. Ein Tritt und die Waffe schlitterte über den Fels bis ans andere Ende des Zimmers. Er verdrehte ihr den Arm auf dem Rücken. Der Schmerz in ihrem Handgelenk ließ Marie brüllen. Sie wurde auf das Bett geworfen und unter seinem Gewicht begraben.

„Netter Versuch…“, knurrte er an ihrem Ohr. „Ich habe mir die ganze Zeit schon überlegt, wie ich Euch nervige Hexe loswerden kann. Ich kann mich einfach nicht entscheiden…“ Er schob ihr die Haare aus dem Gesicht. Wollte er etwa, dass sie ihn und seinen Triumph sah? Da konnte er lange warten. Marie versuchte erst gar nicht, ihn von sich zu stoßen. Sie konnte Thorins Körper. Er war einfach zu groß und zu schwer.

„Soll ich Euch vom Balkon in den Abgrund stürzen lassen? Wir würden es natürlich so aussehen lassen, als habt Ihr Euch das Leben genommen. Leider würde ich dann nicht sehen können, wie Euer Körper auf den Felsen zerschellt.“ Seine Hand glitt in ihr Genick und drückte ihren Kopf tiefer in das Fell der Tagesdecke. Panik schoss ihr mit neuer Wucht durch alle Venen, als die Atemluft weniger wurde. In ihrem malträtierten Hals wüteten die Schmerzen.

„Soll ich Euch die Luft abdrücken bis Ihr erstickt? Oder Euer zartes Genick brechen? Alles viel zu schnell vorbei.“ Er ließ los und sie schnappte nach der erlösenden Luft. Dieser anhaltende Todeskampf war zermürbend. Wie lange wollte er das Unvermeidbare noch hinauszögern? Für Smaug war sie zu nichts zu gebrauchen. Er war auch nicht an der Lyrif-Kette interessiert. Was hatte er also dann mit ihr vor?

„Das jemand so dreist war, den Arkenstein zu stehlen, habe ich natürlich nicht vorhergesehen. Das hat nicht zu meinem Plan gehört und das stört mich außerordentlich.“

Innerlich rollte Marie mit den Augen. Bilbo hatte Recht gehabt. Er war ein selbstverliebter Wurm.

Smaug drehte sie auf den Rücken und hielt ihre Hände rechts und links von ihrem Kopf fest. „Verratet mir im Angesicht Euren nahen Endes eines, Mylady: wart Ihr es, die den Arkenstein gestohlen hat?“

Dass er das allen Ernstes fragte, machte Marie so richtig wütend. „Wie oft soll ich dir das noch sagen?! Ich habe den Arkenstein nicht gestohlen!“

Smaug grinste sie bloß von oben herab an. „Ihr habt Biss. Das gefällt mir.“

„Soll ich mich etwa geschmeichelt fühlen?!“ Angesichts ihrer nicht vorhandenen Überlebenschancen versuchte Marie ihn zu beißen, doch Smaug machte sich einen Spaß daraus und wich ihr aus. Während er selbstgefällig schmunzelte, kochte Marie innerlich. „Du widerst mich an, Schlange!“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit.“ Wie er so halb auf ihr lag und sie von oben betrachtete, amüsierte ihn plötzlich etwas sehr. So sehr, dass er sogar lachen musste. „Oh, wenn Ihr nur sehen könntet, wie Euer geliebter Zwerg gerade durchdreht vor Wut.“

Thorin… Dass Smaug Thorin ansprach, bewies, dass sein Geist tatsächlich noch irgendwo dort war. Und irgendwie machte es sie stolz, dass er auch jetzt nicht aufgab und versuchte, Smaug aus seinem Gefängnis heraus die Hölle heiß zu machen.

„Vielleicht…“, überlegte ihr Peiniger laut. „Vielleicht sollte ich Euren Tod noch etwas herauszögern, nur um ihm dabei noch etwas länger zuzusehen.“

„Wehe, du tust Thorin irgendetwas an…“ Woher sie diesen Mut nahm, war ihr schleierhaft. Smaug schien das weniger zu beeindrucken. Erneut packte er sie an den Haaren, diesmal um sie vom Bett hochzuziehen. Marie fasste nach seiner Hand, um die Schmerzen erträglicher zu machen und stand mit ihm auf.

„Euer Zwerg hat bereits alles in die Wege geleitet, um den Arkenstein zurückzuholen. Uns bleiben nur noch wenige Stunden bis Sonnenaufgang. Ich fürchte, meine Teure, ich bin in Zugzwang.“ Mit der freien Hand nahm er ihren Unterkiefer und quetschte ihre Lippen zusammen. Seine eigenen waren so nah, dass sein Atem ihre Haut streifte und Ekel sie überkam. „Ich weiß nicht wieso, aber ich habe so eine Ahnung, dass Ihr Euch vielleicht noch als nützlich erweisen könntet.“ Er ließ ihren Kiefer los als wäre sie Dreck. „Zunächst aber muss ich den Arkenstein zurückholen. Leider kann ich das nicht alleine. Was würde dieser dämliche Zwerg tun?“ Er tat so, als würde er überlegen, und antwortete schließlich auf seine eigene Frage: „Natürlich. Er würde mal wieder den Helden spielen. Er würde seine besten Männer zusammentrommeln und ins Waldlandreich stürmen. Der Glatzkopf. Der Hobbit. Und die beiden Zwergenbengel. Das wird ein Spaß.“

Ihr Puls schoss in die Höhe, als sie sein Vorhaben realisierte. Wollte Smaug tatsächlich einfach so tun, als wäre er Thorin? Marie sammelte ihre Stimme und versuchte, sich ihre Sorgen über die Gefährten nicht anmerken zu lassen. „Dein Pan wird nicht funktionieren.“ Ein tödlicher Blick strafte sie, als sie es wagte, ihm dazwischenzureden. „Sie werden merken, dass etwas mit dir nicht stimmt. Sie kennen Thorin. Du kannst sie nicht hinters Licht führen.“

Der Drache zog ihren Kopf noch näher zu sich und grinste ihr voller Selbstgefälligkeit ins Gesicht. „Jammerschade, dass Ihr bei dieser Vorstellung nicht dabei sein könnt, Mylady. Ihr würdet mir nur in die Quere kommen. Euch muss ich hier lassen und da beginnt mein größtes Problem.“ Sein Grinsen verschwand und enthüllte das kaltblütige Monster, das er war. Eiskalt rieselte es Marie das Rückgrat hinab.

„Solltet Ihr jemanden auch nur ein Sterbenswörtchen von unserer kleinen Abmachung erzählen, werde ich seine Neffen vor den Augen Eures geliebten Zwerges umbringen. Er wird dabei zusehen, wie der kümmerliche Rest seiner Familie für immer ausgelöscht wird. Ihr Blut wird an seinen Händen kleben. Und dann ist sein Freund und der Halbling dran. Sie werden alle durch seine eigenen Hände sterben und ich werde mich an seinem Leid ergötzen, wenn es seine Seele zerfrisst…“

„Das kannst du nicht…“

„Ach, nein? Haltet mich doch auf, wenn Ihr könnt.“

Marie starrte ins Leere, spürte den Schrecken und das Leid in ihrem zerstörten Herzen wüten. Um Smaugs Drohung wirklich zu verarbeiten, war jedoch keine Zeit, wie sie Sekunden später bitter feststellen musste.

„Ein Wort zu irgendeinem und sie sind alle tot. Das wollt Ihr doch nicht…“ Sie schüttelte den Kopf. Tränen hingen ihr am Kinn, ohne sie bemerkt zu haben. „So ist´s brav. Und damit Ihr unsere Abmachung nicht vergesst…“

Aus verschwommenem Blick musste Marie mitansehen, wie er die Faust ballte, doch ihr erschöpfter Körper hatte keinerlei Kraft mehr. Glühender Schmerz breitete sich in ihrem Bauch aus, als Smaug seine Faust in ihrem Unterleib rammte. All ihre Mühen, ihr ungeborenes Kind zu beschützen, waren dahin. Ihre Beine versagten ihr endgültig den Dienst. Sie wurde losgelassen und sackte in sich zusammen. Verzweifelt presste sie ihre Hände auf ihren Bauch, während ihr ganzer Körper in Flammen stand. Aus ihrem geöffneten Mund tropfte Speichel, als sie panisch versuchte Luft zu holen, wo es keine gab.

In aller Ruhe hockte sich Smaug neben sie und riss ihren Kopf ein letztes Mal hoch. „Zu niemanden ein Wort, wenn Ihr ihre erbärmlichen Leben retten wollt. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Sie konnte nicht reagieren. Wie ein räudiges Tier ließ er sie los und überließ sie sich selbst. „Tut mir einen Gefallen und krepiert nicht, wenn ich weg bin. Ihr würdet mir den ganzen Spaß nehmen.“

Marie nahm nicht mehr wahr, dass er sich von ihr entfernte. Zusammengekauert lag sie auf dem Fußboden und verlor den Fokus. Das Letzte, was sie hörte, war, wie er nach den Wachen rief.

„Niemand betritt oder verlässt diese Räume. Meine Verlobte steht unter Arrest. Sie wird des Hochverrats beschuldigt. Ich kümmere mich um die Angelegenheit bei meiner Rückkehr.“

Endlich legte die Ohnmacht ihr dunkles Tuch über sie.

 


33

 

 

Als Marie das nächste Mal die Augen öffnete, war es tiefste Nacht. Die Schmerzen ließen sie überflüssigerweise wissen, dass sie noch lebte. Dunkelheit und Stille wurden zu beruhigende Verbündete. Sie gab sich ihnen hin und driftete in den darauffolgenden Stunden immer wieder in die Bewusstlosigkeit ab. Schatten streckten ihre Finger nach ihrem Körper aus, wollten ihn hinab in ihr Reich ziehen. Kein Knochen schien mehr an seinem Platz zu sein, irgendwo in ihrem Gesicht pochte es im Rhythmus ihres Pulsschlages und ihr Hals war eine einziger geschwollener Klumpen, an dem ihr Kopf befestigt war. Zusammengerollt lag sie auf dem Fußboden, doch das half nicht gegen die Schmerzen und die Schuldgefühle.

Wie ein kleines Schiffchen auf hoher See drehte sich alles um sie herum. Wellen brachen über sie herein und trugen sie weit, weit weg. Die Stirn an den kalten Fels gedrückte wünschte sie, dass es endlich vorbei gehen möge. Krämpfe trieben ihr die Tränen aus den Augen, die sie alle stumm erduldete. Immer noch umklammerten ihre Hände ihren Bauch. Nicht loslassen.

Nur nicht loslassen.

Als könnte sie es ungeschehen machen…

Ihr Verstand als Heilerin sagte ihr, dass sie aufstehen musste. Ihr Körper und ihre Seele aber waren gebrochen. Sie wollte hier liegen bleiben, sich nie mehr rühren.

Schritte kamen näher und ließen sie das Schlimmste fürchten. Weil sie dem Tod Angesicht zu Angesicht begegnen wollte, drehte sie sich auf den Rücken und erlebte eine Überraschung. Ein paar Mal schon hatten ihre Erinnerungen ihn ihr vorgegaukelt. Nun spielte ihr sterbender Geist ihr erneut diese Streiche als Abschied. Liebevoll, aber auch voller Sorge schaute Thorin auf sie herab. In der Dunkelheit des Raumes leuchtete er weiß und Marie spürte, dass sie lächelte. Sie war also nun tatsächlich tot.

„Du bist nicht tot“, erwiderte der Thorin ihrer Tagträume. „Aber du wirst es sein, wenn du nicht bald aufstehst.“

Viele Male hatte sie ihn gesehen, als sie dachte, er wäre im Krieg gefallen. Und viele Male war er kurz darauf vom Erdboden verschwunden. Sein Erscheinen war stets tröstlich gewesen, obwohl die Erinnerungen wehgetan haben. Marie lächelte zu ihm auf. Es war schön, ihn zu sehen.

„Du musst aufstehen, mel nin.“ Seine Stimme – seine richtige Stimme, mochte sie noch so hart sein, war wie Balsam. „Steh auf.“

Allein bei dem Gedanken ans Sprechen schmerzte ihr malträtierter Hals. Ich kann nicht, formulierte sie im Geiste und Thorin antwortete, als hätte sie die Worte laut gesprochen.

„Du musst. Denn du bist die Einzige, die Smaug aufhalten kann.“

Selbst das Stirnrunzeln bereitete ihr Schwierigkeiten. Was redete er denn da? Wie soll ich Smaug aufhalten? Er ist viel zu mächtig. Und ich… Ich habe Nichts.

„Du hast so viel mehr.“ Mit einer kleinen Geste legte er eine Strähne zurück hinter ihr Ohr, wie er es schon so oft getan hatte. „Ich brauche dich, Marie.“ Kaum ausgesprochen begann Thorin sich vor ihren Augen aufzulösen. In der Dunkelheit des Zimmers suchte sie nach Spuren von ihm, bis sie schließlich einsehen musste, dass der Spuk vorbei war. Marie kniff die Augen zu und ihre Stirn sank mutlos zurück auf den Fels.

Jedoch war es nicht länger still. Ihre Gedanken begannen, eigenen Wege zu nehmen. Du bist die Einzige, die Smaug aufhalten kann. Zu diesem Zeitpunkt wusste niemand, dass Smaug tatsächlich das geschafft hatte, was alle befürchtet hatten: er war Thorin. Er konnte Thorins Körper wie ihm beliebt benutzen und keiner würde es merken, wenn er sich nicht allzu dumm anstellte. Heimlich würde Smaug zusammen mit Dwalin, den Jungs und Bilbo zum Waldlandreich aufbrechen, um den Arkenstein zurückzuholen.

Fili, Kili… Die Sorge um ihre Jungs ließ sie die Augen aufreißen. Würde Smaug ihre Abmachung einhalten und ihnen tatsächlich nichts antun? Alles, was Marie für ihr Wohlergehen tun wusste, war kein Wort über das zu verlieren, was in diesen vier Wänden geschehen war. Konnte sie Smaug vertrauen? Die Antwort lag klar auf der Hand.

Unter keinen Umständen.

Obwohl er sich für das mächtigste Wesen Mittelerdes hält, brauchte er wohl oder übel die Männer, um in das Waldlandreich zu gelangen. Er hatte schließlich kein Feuer mehr, sonst hätte er sicherlich den ganzen Wald einfach niedergebrannt, bis er das gefunden hatte, wonach er suchte. Wer sagte, dass er sich seinen Begleitern nicht entledigte, sollten sie es nach erfüllter Mission aus dem Waldlandreich geschafft haben? Marie machte einen tiefen Atemzug bei dieser dunklen Vorahnung. Sie war wirklich die Einzige, die wusste, in welcher Gefahr die Männer schwebten. Und damit nicht genug.

Sollte es ihnen wirklich gelingen, Thranduil den Arkenstein abzujagen, dann würde der Drache zurückkehren. Ohne es zu ahnen hätte Erebor einen neuen König. Smaug wäre König unter dem Berge, doch Erebor würde erst der Anfang sein. Thorin hatte ihr erzählt, was Smaugs Plan war.

Erebors Schatz, der Arkenstein… das ist ihm nicht genug. Er will das mächtigste und reichste Wesen von ganz Mittelerde werden.

Wie will er das schaffen?, hatte sie damals gefragt.

Auf der Versammlung der Sieben hat er mir eingeredet, die anderen Reiche anzugreifen, die Könige zu töten und ihre Schätze an mich zu reißen. Ich soll Unruhen unter meinem Volk stiften und die Königshäuser gegeneinander ausspielen, sie gegeneinander aufhetzen. Er will, dass es zu Kriegen unter den Zwergen kommt. Die Sieben Reiche und all ihre Schätze sollen unter seine Herrschaft fallen. All das kann er jedoch nicht alleine tun, da seine Seele seinen Körper verlassen hat. Er braucht mich für seine Pläne und hat mir schon mehrmals ein Bündnis angeboten. Aber ich habe es immer ausgeschlagen und versucht, ihn zu ignorieren. Ignoriere niemals einen Drachen, mell nin. Smaug hat mir das mehr als deutlich gemacht. Seit Wochen versucht er jeden Trick, um mich zu brechen. Er hat es auf meine Schwachstelle abgesehen.

Welche?

Du, Marie.

Er irrte sich. Sie war nicht nur seine Schwachstelle. Sie war auch Smaugs, denn der Drache hatte einen entscheidenden Fehler gemacht. Er hatte sie am Leben gelassen.

Weil er glaubte, dass sie schwach war, dass sie nichts gegen ihn tun könnte. Weil er glaubte, sie eingeschüchtert, sie mundtot gemacht zu haben.

Mit Mühe drehte Marie sich auf den Rücken und versuchte, im dunklen Raum Orientierung zu finden. Von dort, wo sie lag, konnte sie den oberen Teil der Fenster sehen. Sterne funkelten am schwarzen Himmelszelt und erhellten die Nacht mit ihrem Licht. Auch wenn ihr Körper danach bettelte, sie konnte nicht länger hier bleiben. Das Wissen, dass sie die Einzige war, die vielleicht etwas ausrichten konnte, würde sie bis zu ihrer letzten Stunde auf Erden zermürben. Sie wusste von den Plänen des Drachen Bescheid und sie wusste, wo sie ihn finden würde.

Dieses Wissen und die Sorge um ihre Jungs weckten ihre Lebensgeister. Marie biss die Zähne zusammen und schaffte es langsam auf die Knie zu kommen. Der einsetzende Schmerz war überwältigend. Es fühlte sich an, als würde ein glühendes Stück Eisen in ihren Eingeweiden stecken, und strahlte bis in ihr Rückgrat hinein. „Mächte dieser Welt… Helft mir.“ Einen Schmerzenslaut unterdrückend drehte sie sich herum und lehnte an dem Bettpfosten, atmete mehrmals durch. Die Heilerin in ihr übernahm all ihr Handeln. Sie sah an sich herab, doch es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Als allererstes brauchte sie Licht. Mit Hilfe des Bettes kämpfte sie sich auf die Beine, eine Hand immer noch auf ihren Leib gepresst. Ihr kleines Baby haltend.

Sie musste sich am Bettpfosten festhalten und warten, bis der Schwindel aufhörte. Der dunkle Raum bewegte sich um sie herum und ihr wurde speiübel. Jeden Moment rechnete sie damit, einen Schwall warmes Blut an ihren Beinen herablaufen zu spüren, jedoch geschah nichts dergleichen. Ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war, daran wagte sie nicht zu denken.

Wie viel Zeit war vergangen, seit Smaug sie zurückgelassen hatte? Am Horizont war jedenfalls noch kein Morgengrauen zu erkennen. Sie verschwendete keine Gedanken daran, was passieren würde, wenn er noch diese Nacht zurückkommen würde, sondern vertraute darauf, dass er als allererstes seinem geliebten Gold einen Besuch abstatten würde und dort so lange blieb, bis der Morgen anbrach und es Zeit war aufzubrechen.

Als ihr Puls einen fast normalen Takt hatte, setzte Marie einen Fuß vor den anderen und schlich so Schritt für Schritt durch die Dunkelheit. Über Holzteile tastend ging es durch die zerstörte Tür. Glasscherben knirschten unter ihren Schuhen, als sie in den Wohnraum kam. Sämtliche Kerzen waren erloschen, das Kaminfeuer längst heruntergebrannt.

Auf dem Kaminsims suchte sie nach den Zündhölzern. Damit schaffte sie es bis in den Waschraum, wo sie die Lampen entzündete. Von ausreichend Licht umgeben schöpfte sie neue Kraft. Sie hatte es bis hierher geschafft. Nun stand ihr die schwierigste Aufgabe bevor, vor der sie sich am meisten fürchtete und die sie nicht länger hinauszögern konnte. Die Tränen kehrten zurück, als sie an ihr ungeborenes Kind dachte. Das erste Mal wagte sie es, hinzuschauen. Im Licht der Lampen sah sie jedoch kein Blut. Aufgrund der Schmerzen hatte sie damit gerechnet, eine durchtränkte Hose vorzufinden. So langsam wie ihr geschundener Körper es zuließ, begann Marie sich auszuziehen und selbst zu untersuchen. Dass sie nicht blutete, beruhigte sie kein Stück. Die andauernden Schmerzen ließen sie immer noch mit dem Schlimmsten rechnen. Hatte sie ihr Kind verloren?

Die Selbstvorwürfe zerriss sie entzwei und Marie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Sie durfte die Nerven jetzt nicht verlieren! Zittrig atmete sie ein paar Mal tief durch und spornte sich selbst an, weiterzumachen.

Als sie Wasser in die Waschschüssel füllen wollte, stellte sie fest, dass der Krug zerschlagen am Boden lag. So musste sie die Waschschüssel aus ihrer Vertiefung heben. Diese unter die Rinne gestellt öffnete sie den Schacht, der normalerweise für das Füllen des Badezubers benutzt wurde. Das Rauschen des eiskalten Bergwassers erfüllte den Raum und Marie zuckte zusammen, weil das Geräusch nach Stunden der Stille so laut in ihren Ohren klang. Nach wenigen Sekunden schloss sie die Luke wieder und trug die volle Schüssel zurück. Am Waschtisch benässte sie ihr Gesicht und wagte es, in den darüber hängenden Spiegel zu schauen. Vorsichtig tastete sie die rot und lila gefärbten Stellen ab. Ihre rechte Gesichtshälfte schmerzte, wo Smaugs Schlag sie getroffen hatte. An ihrem Hals waren deutlich Würgemale zu sehen.

Sie machte einen Waschlappen nass und drückte ihn überall dahin, wo Kälte nötig war. Jedes Mal biss Marie sich auf die Lippen, um ihr Stöhnen zu unterdrücken, und wiederholte die Prozedur ein paar Mal. Sie hob den Blick und begegnete erneut ihrem Spiegelbild.

Die letzten Stunden hatten sie gezeichnet, doch ein paar weitere lagen noch vor ihr. Erst am Morgen würde ein Zimmermädchen wie jeden Tag zu ihr kommen - oder es zumindest versuchen. Smaug hatte sicherlich Wachen vor der Tür abgestellt. Marie ersparte es sich, nachzusehen. Bis zum Morgengrauen blieben ihr nur wenig Zeit und so beschloss sie, sich an die Arbeit zu machen. Bis dahin musste ihr Plan stehen, um ihre Familie und ihr Volk zu retten. Auch wenn das bedeutete, noch einmal durch die Hölle gehen zu müssen.

Diesmal jedoch würde sie nicht allein sein, denn Marie wusste schon ganz genau, wer sie auf diesen gefährlichen Weg begleiten sollte.

 

~

 

Sie war gerade dabei, ihre Haare zu einem Knoten wie Erebors Zimmermädchen ihn gern trugen zu stecken, da hörte sie das erste Mal an diesem frühen Morgen Stimmen auf dem Flur. So flink, wie sie nach der albtraumhaften Nacht im Stande war, lief sie zur Tür und hielt das Ohr an das solide Eichenholz, um herauszufinden, wer es war.

„Arrest? Was soll das bedeuten?“

„Das, was man unter Arrest versteht“, antwortete eine männliche Stimme. Offenbar waren die Wachen tatsächlich direkt vor ihrer Tür positioniert. Etwas anderes hatte sie auch nicht erwartet.

„Tara, bist du es?“, krächzte Marie trotz der Enge in ihrem Hals durch das Schlüsselloch, durch dieses sie jedoch nichts erkennen konnte, weil der Schlüssel von außen steckte. Sie war erleichtert, als ihre Freundin antwortete. Es war tatsächlich das Zimmermädchen, das sie brauchte.

„Marie, was geht hier vor? Ich verstehe das alles nicht.“

„Euer Hoheit, wir haben die Anweisung, dass niemand diese Räume betreten oder verlassen darf.“ Die Stimme des Soldaten war nun sehr viel deutlicher, sodass sie vermutete, dass er sich der Tür zugewandt hatte. So deutlich, dass sie sie unter hunderten wiedererkennen würde.

„Raik, Ihr seid es.“

„Ja, Mylady.“

Die Bestätigung, mochte sie so besonnen wie eh und je sein, ließ Marie innerlich jubeln. Mit Raik als Wache hatte sie noch bessere Chancen, dass ihr Plan tatsächlich aufgehen würde. Ohne Umschweife begann sie, Phase 1 einzuleiten.

„Tara, hör mir zu“, sprach sie so laut und deutlich, wie es ihr möglich war. „Hol Ninak und mein Frühstück und komm schnell wieder. Hörst du?“

„Aye! Bin sofort wieder da!“

Die Tritte ihres Zimmermädchens waren selbst durch die dicke Tür zu hören und Marie erlaubte es sich kurz durchzuatmen, ehe sie zurück ins Schlafzimmer kehrte und ihrer Frisur einen letzten prüfenden Blick schenkte. Als nächstes griff sie nach einer der Schminkdosen, um die Spuren des Kampfes mit einer Bestie verschwinden zu lassen. In Rekordgeschwindigkeit verschwanden die Blessuren von ihrem Hals und aus ihrem Gesicht unter mehreren Lagen Schminke und Puder. Zu guter Letzt griff sie nach einem braunen, ganz weichem Stift und begann mit akribischer Genauigkeit winzige Striche auf ihrem Kinn zu verteilen. Das Frühstück war nur ein Vorwand. Ihr Körper war ein einziges Wrack und allein der Gedanke an so etwas wie Frühstück bereitete ihr körperliche Qualen.

Der ausbrechende Tumult auf dem Flur ließ Marie wissen, dass Tara zurückgekehrt war und dem Geschimpfe nach zu urteilen, hatte sie auch Ninak mitgebracht. Phase 2 konnte beginnen.

„Was soll der Unfug? Tretet beiseite, Soldat!“, war ihre aufgebrachte Stimme schon auf dem Weg zur Eingangstür zu vernehmen.

„Die Verlobte des Königs wird des Hochverrats beschuldigt und steht bis zu seiner Rückkehr unter Arrest.“

„Das soll wohl ein Scherz sein.“

„Ich scherze nicht. Ihr habt es gehört. Kein Zutritt - auch für Euch nicht. Befehl unseres Königs.“

„Unser König ist nicht hier und jetzt tritt beiseite, bevor ich dir…

Ehe noch ein Handgemenge ausbrach, schritt Marie ein. „Wie schön dein zartes Stimmchen zu hören, Ninak.“

„Marie? Was zum Henker ist hier los?“

Diese ignorierte ihre aufgebrachte Freundin und trat mit ruhiger Stimme noch näher an die Tür. „Raik?“ All ihre Hoffnungen ruhten auf ihrem treuen Begleiter. „Ich bitte Euch, lasst meine Freundinnen herein. Ich weiß, wie die Anschuldigungen klingen müssen und ich weiß, Ihr befolgt nur den Befehlen… aber, bitte, gebt mir drei Minuten mit meinen Freundinnen. Niemand wird davon erfahren, dass Ihr sie hereingelassen habt.“ Marie wusste, dass ihre Schwangerschaft noch nicht öffentlich gemacht worden war und so konnte sie das Argument, das Frühstück für ihr Baby zu brauchen, nicht bringen. Das Baby… Die Gedanken allein waren pures Gift. „Lasst sie herein“, wiederholte sie und versuchte, den Schuldgefühle keine Stärke zu geben. „Ich bin für niemanden eine Gefahr. Und meine Freundinnen sind es auch nicht. Sie wollen mir nur Frühstück bringen und etwas Trost spenden. Ich verspreche, dass Ihr nichts zu befürchten habt.“ Tut mir leid, Raik, schickte sie in Gedanken hinterher als Entschuldigung für diese Notlüge. Es knackte und sie realisierte, dass es der Schlüssel war, der sich im Schloss bewegte. Plötzlich war die Tür offen und Marie sah zwei bis an die Zähne bewaffneten Wachen vor ihrer Türschwelle stehen.

„Ihr habt drei Minuten“, sagte der Rechte, der Raik war, und Marie erhaschte für den Bruchteil einer Sekunde die Sorge, die ihm in den blauen Augen stand. Drei Minuten? Das war lächerlich wenig, aber sie wagte es nicht, um die gewährte Zeit zu feilschen. Alles waren besser als Nichts.

Eine äußert grimmig dreinschauende Ninak schob sich zwischen den beiden Männern durch, dicht gefolgt von Tara, die ganz pflichtbewusst das Tablett mit dem Frühstück hereintrug. „Was ist hier…?“ Ehe Ninak noch ein Wort sagen konnte, zog Marie die beiden blitzschnell herein und schloss die Tür hinter ihnen. „He! Hmhhhmm! Hmh-hmm!“ Die Schimpftirade hatte ein Ende, als Marie ihr die Hand auf den Mund presste.

„Wir haben nur drei Minuten!“, flüsterte sie eindringlich und versuchte, Ninak von der Gegenwehr abzuhalten, indem sie so schnell weitersprach, dass ihre Stimme sich fast überschlug. „Ihr müsst mir jetzt einfach vertrauen und das tun, was ich sage. Ich kann es euch nicht erklären. Ich habe bereits alles vorbe…“

„Du meine Güte, was ist denn hier passiert?“

So ein Mist! Tara war schon um die Ecke und hatte das Chaos bemerkt. Nun ja, die Scherben und die zerschlagenen Schlafzimmertüren waren leider nicht zu übersehen und für die Beseitigung der Spuren von letzter Nacht hatte sie keine Zeit gehabt. Ninak schaffte es, Maries Hand loszuwerden und funkelte sie grimmig an. Ehe sie von Neuem loslegen konnte, strecke Marie ihr einen kleinen Beutel hin. „Hört mir zu. Steck dir diese Juwelen so ein, dass sie nicht klimpern. Tara, ich brauche dein Kleid.“

„Mein Kleid?“, wiederholte Letztere verständnislos.

„Wir tauschen die Rollen, damit ich hier rauskomme.“ Ganz zwei Sekunden wartete Marie auf die Reaktionen ihrer unfreiwilligen Komplizinnen, doch die beiden schauten sie nur entgeistert an, als stünde ein rosa Elefant vor ihnen.

Tara zeigte auf ihr Gesicht. „Du hast dir einen Bart gemalt?“

„Als Tarnung“, lautete die knappe Erklärung, während sie gleichzeitig ihren Dolch in der Innenseite ihres Stiefels versteckte. „Ich habe versucht, deinen nachzumalen. Unsere Haarfarbe ist gleich.“ Sie überprüfte noch einmal, ob sie möglichst viel von den Schminksachen in die Hosentaschen gesteckt hatte, dann den Sitz ihrer Kleidung; eine eng anliegende Reithose und ein dunkles Hemd, welche sie unter dem Kleid der Bediensteten tragen würde. „Wir sehen uns sehr ähnlich. Wenn du mir die Uniform einer Bediensteten gibst, dann wird es klappen.“ Als Marie bemerkte, dass die beiden sich noch immer nicht rührten, konnte sie es kaum glauben. „Macht schon! Uns rennt die Zeit davon.“

In der Zwischenzeit hatte Ninak den Beutel geöffnet und hielt nun ein prachtvoll schimmerndes Collier mit großen, brillierende Steinen in den Fingern. „Wieso die Steine von Lasgal?“

„Thranduil wird den Arkenstein nicht freiwillig herausgeben. Damit wird er vielleicht auf einen Tausch eingehen. Bitte, ihr müsst mir vertrauen!“ Sie sah von Tara zu Ninak und wieder zurück. Sollte ihr Plan tatsächlich schon jetzt zum Scheitern verurteilt sein?

Ihr Zimmermädchen sprang als erste über ihren Schatten „Ich vertraue dir, Marie.“

Als diese zu Ninak sah, begegnete sie einer Felswand aus eisblauen Augen. „Ich fordere eine Erklärung.“

„Die bekommst du, sobald ich es kann.“ War es die Verzweiflung in ihren Augen oder das entschlossene Funkeln darin, das Ninak dazu bewegte, ihr Vertrauen zu schenken?

„Also schön.“ Ninak ließ die Kette in den Beutel gleiten. „Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen.“ Endlich stellte Tara das verdammte Tablett beiseite und begann mit roten Wangen ihr Mieder aufzuschnüren, während Ninak sich den Beutel in den Ausschnitt steckte.

„Ich versteh das alles nicht“, murmelte die Zofe. „Wieso Hochverrat?“

„Thorin denkt, ich habe den Arkenstein gestohlen.“

Tara schlug sich die Hand über den Mund und Ninak sah genauso freundlich aus wie eine große bedrohliche Gewitterfront. „Aber als ich gestern Nacht noch einmal bei euch war, schien alles in Ordnung zu sein.“

Danke, Tara. Am liebsten hätte Marie ihre Stirn gegen den nächstbesten Türrahmen geschlagen. Das erwartete Donnerwetter kam augenblicklich.

„Heißt das, warst mit Thorin die ganze Nacht alleine?!“, grollte ihre Freundin.

Die auf frischer Tat ertappte warf Ninak, welche wahrscheinlich jeden Augenblick explodieren würde so rot wie ihr Gesicht anlief, einen gequälten Blick zu. „Wir reden später darüber…“ Marie sah zu Tara und Ninak verstand die Warnung. „Ich werde es dir erklären“, beteuerte Marie, „aber nicht jetzt. Wir beide werden durch diese Tür dort spazieren und du, Tara, bleibst an meiner Stelle hier.“

„Aber sie werden doch merken, dass ich nicht du bin.“

„Irgendwann schon. Aber dann werden Ninak und ich hoffentlich schon den Grünwald erreicht haben.“

„Grünwald?“, echoten beide Frauen wie aus einem Mund.

Marie nickte und begegnete den Blick ihrer zukünftigen Weggefährtin. „Wir reiten unseren Männern nach. Aber dafür muss ich erstmal hier wegkommen - mit eurer Hilfe.“ Keine erhob mehr Einwände. Tara half ihr beim Anziehen damit es schneller ging. Als Marie sich umdrehte, hielt Ninak Orcrist in der Hand. „Er ist ohne sein Schwert aufgebrochen?“

Ihr Brustkorb zog sich schmerzlich zusammen. Ohne zu zögern nahm Marie die Waffe an sich und tat das, was ihr als erstes einfiel. Sie schob sich das, in seiner Scheide steckende Schwert von oben bis unten unter das Kleid. Die lange Schneide zwischen ihren Brüsten und den Rest an ihren Bauch gepresst, überdeckt vom Kleid einer Bediensteten und nur gehalten von der straff gezurrten Schürze. Ihre Komplizinnen machten große Augen, sagten jedoch kein Wort.

Das weiße Halstuch wurde von Tara, die nur im Unterkleid fröstelnd im kalten Raum stand, fein säuberlich in das Mieder gesteckt. Gleichzeitig fügte Ninak ein paar mehr Striche zu ihrem aufgemalten Bart hinzu. Zu guter Letzt setzte sich Marie das weiße Häubchen auf, das zwar ihr Gesicht nicht verdeckte, jedoch nötig war, um ihre Verkleidung zu vervollständigen.

Für einen Abschied blieb den Frauen keine Zeit, dennoch drückte Tara sie in einer innigen Umarmung an sich. „Was du auch vorhast, Marie, sei vorsichtig. Möge Durin eure Wege beschützen.“ Marie wollte diese Frau mit einem Herzen aus Gold nicht loslassen und doch musste sie es. Es war Zeit, zu gehen.

Keine Sekunde zu früh verließen die Kriegerin und das unechte Zimmermädchen das Gemach. Als die beiden den Eingangsbereich betraten, wurde schon die Tür aufgerissen. „Die drei Minuten sind schon längst um!“, donnerte Raiks Gefährte den Frauen vorwurfsvoll entgegen.

Marie hielt den Atem an. Mit dem leeren Tablett in den Händen und dem Kinn bis auf die Brust gesenkte spazierte sie an den Wachen vorbei.

„Reg dich ab“, knurrte Ninak. „Wir sind ja schon weg.“

Ihr brach der Schweiß aus. Jeden Moment rechnete sie damit, dass das Schwert rutschen würde. Sie versuchte, so normal wie möglich zu gehen, während sie sich einbildete die Blicke der Soldaten würden nur auf ihr ruhen. Genau wie geplant lenkte Ninak in diesem Moment die Aufmerksamkeit auf sich. Noch einmal fuhr sie zu den beiden Männern herum und baute sich vor ihnen auf.

„Eines sagte ich euch… Wenn ich herausfinde, dass hier etwas faul ist, dann mache ich euch beide dafür verantwortlich, dass man die Verlobte des Königs wie eine Verbrecherin behandelt hat, ist das klar?“ Die Soldaten nahmen ihre Drohung regungslos zur Kenntnis. Das Schließen der Tür war wie Musik für Maries Ohren. „Wir sehen uns später, Marie! Keine Sorge, ich regle das schon!“, rief Ninak und als wäre das nicht schon genug, hörte man wie eine Antwort Tara im Raum rumwerkeln. Marie war sich sicher, dass ihre treue Zofe bereites dabei war, aufzuräumen. Der Trick schien aufzugehen. Die Soldaten hatten genug von den Frauen. „Das reicht. Geht!“

„Nichts lieber als das…“ Ninak schloss zu Marie auf, die schon an Vorsprung gewonnen hatte und auf der Treppe war. „Weiter… Geh weiter... Dreh dich nicht um.“ Stufe um Stufe beschleunigten sie ihr Tempo.

Auf dem Flur der königlichen Gemächer ließ Marie das Tablett auf einer Kommode stehen und lief mit verschränkten Armen vor dem Bauch weiter, um Orcrist an Ort und Stelle zu halten. Die Treppenstufen flogen unter ihnen hinweg und Euphorie beflügelte ihre Schritte. Maries geschundener Körper vergaß sogar für einige Minuten die Schmerzen. Als die großen Hallen sich öffneten, normalisierten sie ihre Schritte wieder und hielten im Schutz eines überdachten Ganges an. Marie konnte kaum glauben, dass ihr Plan bis jetzt tatsächlich funktioniert hatte.

Eine Hand packte plötzlich ihre Schulter und sie sah die Augen ihrer Weggefährtin Zentimeter vor sich blitzen. „Ich verlange eine Erklärung.“

„Noch nicht. Hier ist es nicht sicher.“

Dass sie Ninak die Erklärung schuldig war, wurmte diese deutlich. Zu ihrem Erstaunen begnügte die Kriegerin sich jedoch damit. Marie wusste, welch ein Vertrauensbeweis dies war und schätze es sehr.

„Na schön“, gab Ninak mit knirschenden Zähnen zurück. „Und was nun?“

Marie vergewisserte sich, dass sie immer noch unbeobachtet waren, ehe sie antwortete. „Ich werde mich verstecken, während du unsere Flucht vorbereitest und letzte Dinge besorgst. Ich hab dir eine Liste geschrieben“, sagte sie und zog einen kleinen Zettel hervor.

Ninak warf nur einen flüchtigen Blick darauf und stecke ihn ein. „Lass uns in meine Werkstatt gehen.“

„Nein“, widersprach Marie sofort. „Wenn sie Tara schon in den nächsten Stunden im Gemach statt mir bemerken sollten, würden sie als allererstes bei dir und in deiner Werkstatt nachsehen. Lass uns direkt zu den Stallungen.“

„Dann gib mir wenigstens Orcrist. In meinen Händen fällt die Waffe nicht so auf, wie in deinen.“

Nur allzu gern entledigte Marie sich dem umständliche Ballast. Wenn sie zu den Stallungen wollten, mussten sie einen Teil der Stadt durchqueren. Würden die beiden ohne aufgehalten zu werden es bis dorthin schaffen, wäre die Freiheit zum Greifen nah.

„Lass das. Die Verkleidung ist gut.“ Ninak hielt sie davon ab, sich im Gesicht herumzutasten und gar den unechten Bart zu verwischen. „Du wirst als Bedienstete unsichtbar werden. Wir sollten uns aber trotzdem nicht allzu sehr unter die Leute mischen.“ Marie erhob keine Einwände und folgte ihrer Freundin durch das erwachende Erebor.

Fensterläden wurden geöffnet und Wasser in die Abflüsse geschüttet, die man oft zwischen Häuser und Wege als flache Rinnen fand. Die Bewohner des Berges machten sich auf zu den morgendlichen Märkten oder zur Arbeit in die Schmieden, Werkstätten und Stollen. Je länger sie unterwegs waren, umso sicherer fühlte Marie sich in ihrer Verkleidung. Sie wurde ruhiger, doch damit kehrten die Schmerzen zurück.

Gerade waren sie bei einem großen Portal angekommen, das einzelne Stadtteile voneinander trennte, da kam ihnen jemand entgegen. Marie sah der Frau, die einen Korb dabei hatte, ins Gesicht und erkannte in den bernsteinfarbenen Augen der anderen, dass diese sie in demselben Moment erkannte hatte.

„Euer Hoheit?“

„Hallo, Amris.“

Notgedrungen blieb auch Ninak stehen und musterte die Fremde, die die Verkleidung durchschaut hatte, von oben bis unten mit Argusaugen. Ohne Worte machte Marie ihr klar, dass sie sie abwürgen und weitergehen sollten, doch Amris hielt sie auf.

„Gut, dass ich Euch treffe. Ich muss Euch…“

„Verzeiht mir, Amris, aber ich hab es wirklich eilig.“

Die beiden waren drei Schritte gegangen, da rief Amris ihnen nach: „Der fahrende Händler, den die Soldaten gestern aus Dale geholt haben…ich weiß, wer die Frau ist, die bei ihm war.“


34

 

 

Ninak packte den Oberarm der Malerin. Im nächsten Augenblick befand sich ein Messer vor ihrer Nase. „Spiel keine Spielchen mit uns…“

„Grundgütiger, Ninak, lass sie ausreden. Und pack die verdammte Waffe weg.“

Sie folgte dem Befehl und ließ die Fremde los, welche der Kriegerin einen bitterbösen Blick zuwarf.

„Du musst uns alles erzählen“, forderte Marie und spürte ihr Herz von der einen zur anderen Sekunde rasen, so plötzlich vor der Lösung des Rätsels stehend.

„Ich bin nach Dale aufgebrochen, als ich von den fahrenden Händlern gehört habe“, begann Amris zu erzählen. Dabei rieb sie ihren Oberarm, dort wo Ninak sie festgehalten hatte, und strafte die Kriegerin mit einer kalten Schultern. Oh ja, das war Liebe auf den ersten Blick zwischen den Beiden. „Ich hatte gehofft, bei ihnen Zutaten für meine Farben kaufen zu können. Dann ist mir diese Frau aufgefallen. Sie kam aus einem ihrer Zelte und trug einen Schleier aus feinstem Stoff vor ihrem Gesicht, doch als sie wieder zwischen den Menschen verschwand, nahm sie diesen ab und mir fiel etwas Merkwürdiges auf. Ihr heller Bart passte überhaupt nicht zu ihrem tiefroten Haar.“

Die Perücke, schoss es Marie durch den Sinn.

„Und dann zog sie sich auch noch ihre Haare vom Kopf. Ich konnte einfach nicht wegschauen, so etwas habe ich noch nie gesehen.“

„Wer war es? Kennst du ihren Namen?“ Ninak sah aus, als hätte sie Amris am liebsten geschüttelt, um die Informationen schneller aus ihr herauszukriegen. Marie hätte ihr sogar dabei geholfen.

„Nein, ich kenne sie nicht“, antwortete Amris schnippisch, „aber als ich Zuhause war, habe ich sie sofort gemalt“, und griff in ihren Korb. Während Ninak nur irritiert die Fremde beobachtete, hätte Marie die Malerin fast geknutscht für deren Gabe. Diese holte aus ihrem Korb ein Blatt Papier und hielt es ihnen entgegen. „Das war sie.“

Die Frauen starrten auf die Zeichnung und hielten den Atem an. „Verdammte Orkscheiße“, rutschte es Ninak heraus.

Marie starrte auf die Frau, die dort eilig, aber täuschend echt gemalt war, bis die Linien und Farben verschwammen und ihr Körper vor Zorn bebte. Diese Zwergin hätte sie unter hunderttausenden wiedererkannt. „Sladnik.“

Ihre Weggefährtin spuckte bei dem Namen auf die Straße.

„Sie hat sich mit einer Perücke und einem Gesichtsschleier verkleidet...“ Als ihr klar wurde, dass Sladnik aller Wahrscheinlichkeit auch in ihrem Gemach – in ihrem Schlafzimmer! – gewesen war, um ihr die Perücke unterzujubeln und damit Thorin glauben zu lassen, dass sie den Arkenstein gestohlen hatte, spürte sie tiefe Abscheu gegen diese Frau, die noch versucht hatte, sich mit wohlgemeinten Worten in ihr Leben und in das Leben von Thorin einzuschleichen. Die Frau, die es geschafft hatte, mit dieser List den Geist eines Drachen zu entfesseln und seinen Zorn gegen sie zu richten.

Ninak wurde stutzig. „Perücke? So´n Ding, was man sich auf die Haare setzt?“ Sie bejahte und ihre Freundin stemmte die Hände in die Taille und sah vor Wut schäumend auf ihre Stiefel hinab. Fragend schaute Marie sie an bis Ninak mürrisch antwortete: „Sladniks Ehemann war Perückenmacher.“

Es war so surreal. Binnen weniger als 48 Stunden war ihre gesamte Welt auf den Kopf gestellt und ihre Beziehung zu der Liebe ihres Lebens für immer verändert – vielleicht für immer verloren. Und alles nur wegen dieser Frau... Ein neuer Schmerzensschub beendete das Gedankenchaos. Marie fasste ihren Bauch und versuchte, dagegen zu atmen. Besorgt trat Ninak näher. „Mir geht es gut“, log sie und wandte sich schnell erneut der Malerin aus der Rosengasse zu. Ihnen rannte die Zeit davon.

„Amris, ich muss dich um etwas bitten. Geh zu Balin, Sohn von Fundin. Er ist einer der Gefährten. Erzähle ihm, was du uns erzählt hast, und zeigte ihm das Bild. Du musst ihn davon überzeugen, nach Sladnik zu suchen und vielleicht sogar ihr Haus durchsuchen zu lassen. Dort werden sie hoffentlich Beweise finden.“

„Er wird mich nicht anhören. Wieso sollte er mir überhaupt Gehör schenken?“

Sprachlose Gesichter wurden Zeuge als Marie ihren Verlobungsring von ihrem Finger zog und ihn der Malerin in die Hand drückte. Und ganz heimlich schlich sich ein anderer, düsterer Gedanke hinzu. Wenn sie es nicht schaffen würde, Smaug zu besiegen und Thorins Geist zu befreien, so brauchte sie diesen Ring ohnehin nicht mehr. „Balin kennt diesen Ring und wird dich anhören.“

Amris nahm den kostbaren Ring an sich und umschloss ihn fest in ihrer Faust. „Durin sei mit euch.“

 

~

 

Ohne den Stallknechten bei der morgendlichen Arbeit Beachtung zu schenken, durchquerten Marie und Ninak die Stallungen, als wäre dies das Normalste auf der Welt. Orcrist geschultert ging Ninak voraus, dicht gefolgt von Marie, die zwei Pferdedecken geklaut hatte und diese gewissenhaft, als wäre das ihre Aufgabe, hinter der Kriegerin hertrug.

Als sie in den Gebäudeteil kamen, wo die Ponys der königlichen Familie untergebracht waren, stoppten die Frauen und Ninak zeigte auf eine Öffnung in der hölzernen Decke. Licht drang durch die Ritzen der groben Planken und spendete hier oben auf dem Heuboden nur sehr spärlich Licht. So weit man sah, lagerten hier Stroh und Heu in großen Mengen. Es war der ideale Ort, um sich zu verstecken.

Marie ließ ihren Körper in den nächstbesten Heuhaufen fallen und erlaubte es sich, für ein paar Atemzüge die Augen zu schließen und ihre schmerzenden Muskeln, das zu geben, wonach sie verlangten. Währenddessen horchte Ninak, ob jemand auf die beiden aufmerksam geworden war und vom Heuboden wieder runterholen würde. Zum Glück blieb unter ihnen alles unauffällig. Niemand schien sie bemerkt zu haben und so schaffte es auch Ninak, nach dem langen Weg durch Erebor mal durchzuatmen. Eine richtige Pause stand ihr allerdings nicht im Sinn.

„Hier solltest du sicher sein, bis ich wiederkomme.“ Sie wagte es, nur im Flüsterton zu sprechen. „Jedoch werde ich nicht eher gehen, bis du mir den ganzen Mist hier erklärt hast. Also, ich warte.“

Etwas anderes hatte Marie nicht von ihr erwartet und doch kam der Moment der Wahrheit schneller als gewünscht. Zu wenig Zeit lagen zwischen der Gegenwart und den vergangenen, furchtbaren Stunden. Sie selber hatte keine Zeit gehabt, das Erlebte zu verarbeiten. Wie Gift sickerte die Erkenntnis immer tiefer in ihr Bewusstsein vor. Thorin war fort.

Der Gedanken schmerzte auf abgrundtiefe Art und Weise. Die Verwandlung geschah binnen Sekunden, direkt vor ihren Augen, ohne dass sie es hätte verhindern können. Ohne, dass sie ihm helfen konnte. Jeder Augenblick mit Smaug alleine in ihren vier Wänden, alleine mit diesem Monster in ihrem Heim, hatte sich angefühlt wie eine Ewigkeit. Marie schluckte an dem Kloß in ihrem Hals, der sich dort eingenistet hatte. Es war ein Albtraum, aus dem sie immer noch nicht erwachen durfte.

„Smaug…“ Wenn sie sie schon nicht vorher gehabt hatte, so hatte sie nun Ninaks volle Aufmerksamkeit. „Thorin ist Smaug.“ Unverständnis spiegelte sich in der Mimik ihrer Gegenüber wieder. Sie öffnete den Mund, doch Maries aufgewühlter Geist ließ die Worte nun nur so aus ihr heraus sprudeln. „Er stand mir gegenüber, Ninak. Smaug stand mir gegenüber – in Gestalt von Thorin. Er hat seinen Köper geraubt und benutzt ihn wie eine Hülle, in die er geschlüpft ist. Thorins Seele ist irgendwo dort drinnen gefangen. Es ist alles ist meine Schuld, ich habe nicht auf euch gehört, ich hätte nicht mit ihm allein sein dürfen… Als ich gestern Abend nach Hause kam, hatte er bereits auf mich gewartet. Er konfrontierte mich mit dem, was er gefunden hatte. Sladnik hat mir die Perücke in den Schrank gelegt. Thorin hat sie gefunden.“

Stück für Stück erfasste Ninaks Verstand die Tragweite der Erzählung bis der Schrecken auch auf sie übergriff.

„Er ist vollkommen durchgedreht. Wir haben uns furchtbar gestritten. Er hat mich beschuldigt, den Arkenstein gestohlen zu haben, hat mich eine Diebin genannt…mich verstoßen…“ Vor ihren inneren Auge durchlebte sie den Moment, an dem sich ihre Wege trennten, noch einmal. Thorin hatte wirklich geglaubt, sie hätte ihn hintergangen und ausgenutzt. Sein gebrochenes Herz schlug weiter, doch es war zu spät, um geheilt zu werden. Smaug hatte seine Chance genutzt. Ein Anblick, den sie nie wieder vergessen würde. „Was ich auch tat, ich konnte ihn nicht von der Wahrheit überzeugen. Ninak, ich…“ Sie wurde in eine Umarmung gerissen und augenblicklich brachen alle Dämme. Verzweifelt krallte sie sich an ihrer Freundin fest, konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. „Es geschah vor meinen Augen. Ich konnte nichts tun…“

Ninak löste sie etwas von sich, um sie anzusehen. Etwas war der Kriegerin ins Gesicht geschrieben, was Marie noch nie bei ihr gesehen hatte: Angst. Hohl klangen ihre Worte: „Thorin ist im Morgengrauen mit den anderen aufgebrochen…“

„Nein, nicht Thorin“, lautete die verheerende Wahrheit. „Smaug ist bei ihnen. Er ist bei unseren Jungs, Ninak, und bei deinem Ehemann und Bilbo, er ist ihnen so nah… Sie schweben alle in großer Gefahr, ohne es zu ahnen.“

Ninaks gletscherblaue Augen sprachen Bände. Die Kriegerin kämpfte damit, die Ängste um ihre Familie nicht an sich heranzulassen und einen kühlen Kopf zu bewahren, doch Marie war noch nicht fertig.

„Smaug hat mir gedroht, sollte ich irgendjemanden erzählen, was geschehen ist, dann wird er sie umbringen. Alle. Kili, Fili, Bilbo. Dwalin. Er schreck vor nichts zurück…auch nicht vor einem unschuldigen Leben.“

„Was hat er getan?“ Als Marie nicht weitersprach, fasste Ninak ihr Gesicht, zwang sie, sie anzusehen. „Was hat er getan?!“

„Mein Baby…“, weitere Tränen bahnten sich ihren Weg, „ich weiß nicht, wie es meinem Baby geht.“

Ninak starrte sie an, unfähig ihr Leiden zu lindern.

„Ich hab versucht gegen ihn zu kämpfen…aber er ist einfach zu stark. Ich war so dumm! Ich hätte nie mit ihm allein sein dürfen… Wenn ich mein Baby verloren habe, dann…“

„Hör mir zu… Hey! Hör mir zu!“ Energisch stoppte Ninak ihren Redefluss und hielt sie wie in einen Schreibstock an den Schultern fest. „Du bist nicht schuld, hörst du? Du bist nicht schuld an dem, was geschehen ist!“, knurrte sie wütend. „Schuld daran, ist alleine Smaug und, ja wahrscheinlich auch Sladnik. Sie hat den Arkenstein gestohlen und hat gewollt, dass Thorin dich verdächtigt. Wenn einer die Schuld trägt, dann ganz sicher nicht du.“

Da war so viel Verzweiflung und Wut in dem vertrauten Gesicht ihr gegenüber, aber gleichzeitig auch so viel Hoffnung. „Wir müssen ihn aufhalten“, flüsterte Marie das, was ihr Herz befahl. „Wir müssen Smaug aufhalten, Ninak.“

„Das werden wir“, ihr Knurren war voll wilder Entschlossenheit. „Bei Durin, das werden wir, coin mel. Wir treten dieser Schlange gehörig in den Arsch und bringen unsere Männer heil zurück.“ Ninaks Umarmung gab ihr Halt in diesen schweren Stunden und ihre Entschlossenheit stärkte sie, wie keine Rüstung es je tun könnte.

 

~

 

Das lockere Heu bettete sie weich. Die Pferdedecken schützten sie vor fremden Blicken. Neben ihr im Heu versteckt lagen Taras Kleidungsstücke, die sie sich entledigt hatte. Marie hatte die Augen geschlossen und versuchte zu schlafen und neue Kraft für sich und ihr ungeborenes Baby zu schöpfen. Doch schreckliche Bilder spukten unaufhörlich in ihrem Kopf herum, sodass an Schlaf nicht zu denken war, auch wenn er noch so nötig war. Kaum hatte sie die Augen geschlossen, sah sie Feuer, Schatten und immer wieder Thorins Augen, die sie hilflos anstarrten.

Unter ihr raschelte es in den Boxen, ab und zu schnaubte eines der Tiere. Sie hörte Stallknechte herumwerkeln, doch niemand kam auf den Heuboden. Marie musste auf ihre Freundin vertrauen und harrte bis zu ihrer Rückkehr aus.

Es verging viel Zeit bis sie die Sprossen der Leiter knarzen hörte. Aus einem Atemschlitz zwischen den Decken hindurch sah Marie wie ein Rotschopf über die Kante des Heubodens spähte und nach ihr Ausschau hielt. Marie befreite sich von den Decken und der Schicht Heu. „Ich dachte schon, du kommst gar nicht wieder.“

„Dein kleiner Zettel verlangte so einiges“, gab Ninak anklagend zurück. „Komm runter und sieh es dir an.“ Die Angesprochene folgte ihr bis zu Mäusefells Box. Sie schlüpften zu der grauen Stute und Marie staunte nicht schlecht, als sie all die Sachen sah, die Ninak in der Zwischenzeit für ihre Mission besorgt hatte. Dort lag ein Rucksack gefüllt mit allem, was man für eine längere Reise brauchen würde, zwei Fellrollen, die sie in den Nächten warm halten würden, zwei Satteltaschen, mehrere Meter dünnes Seil und sogar ein Schild. Wie sie es geschafft hatte, all das hier her zu schaffen, würde wohl ihr Geheimnis bleiben. Ninak hatte sogar Zeit gefunden, sich umzuziehen. Sie trug nun eine Kettenrüste, die sich elegant an ihre weiblichen Rundungen schmiegte und genügend Beinfreiheit fürs Reiten bot. Selbst ihre Lockenpracht hatte sie wieder in einer Mohawk-Flechtkunst gezähmt, die seines gleichen suchte. Ihre Freundin war gekleidet als würde sie in den Krieg ziehen und ließ Marie erkennen, dass ihr Vorhaben bitterer Ernst geworden war.

Aus einer der Satteltaschen holte Ninak eine kleine Truhe hervor. „Ich hab alles mitgenommen.“ Lichtflecken erschienen auf ihrem Gesicht, als sie den Deckel öffnete und den Inhalt präsentierte. Bis zur Oberkante war die Truhe gefüllt mit hellen, beinahe durchsichtigen Edelsteinen, die in allen Farben des Regenbogens brillierten.

„Hast du die…?“ Sie brauchte nicht weiterzusprechen. Ihre Komplizin zog das Säckchen hervor, welches sie ihr im Zimmer anvertraut hatte.

Ninak zog das prachtvolle Collier heraus und tat es zu den restlichen Steinen. Sorgenfalten standen ihr auf der Stirn. „Glaubst du wirklich, das könnte klappen? Den Arkenstein gegen den Elbenschatz tauschen?“

„Thorin hat mir erzählt, dass diese Steine Thranduils Frau gehört haben.“ Er hatte ihr erzählt, dass dieser elbische Schatz, den Zwerge vor Jahrhunderten den Elben als Revenge gestohlen hatten, schon seit Genrationen von Königin zu Tochter weitergegeben wurde. Er hätte für sie bestimmt sein sollen. Nun würde sie für Erebor diesen Schatz aus seinen Hallen stehlen, um einen anderen Schatz wiederzubekommen. Diebin!, höhnten die Erinnerungen. Diebin hatte Thorin sie genannt, seine Worte noch im Ohr, seinen Schmerz und seine Enttäuschung vor ihrem geistigen Auge. „Wir haben nichts anderes, was wir Thranduil anbieten könnten. Es ist unsere einzige Chance, den Arkenstein zu bekommen, ohne gleich einen neuen Krieg anzufangen“, sagte sie und verschloss die Truhe wieder.

Ninak verstaute die wertvolle Fracht und bückte sich erneut. Unter Mäusefells Raufe zauberte sie ein Kettenhemd hervor. „Ich weiß, das stand nicht auf deinem Zettel, aber ich halte es für nicht verkehrt, wenn du eines trägst.“

Zögernd griff Marie danach. Kalt und schwer lag das feingliedrige Metall in ihren Händen. Als sie daran dachte, welchen Zweck ein solches Kleidungsstück erfüllen soll, wurde es in ihrem Hals eng. „Danke“, sagte sie leise. Ninak antwortete mit einem aufmunternden Nicken und half ihr, das ungewohnte Kleidungsstück anzuziehen. Damit es nicht auffiel, sollte sie das Kettenhemd unter ihrer normale Kleidung tragen. Wenn Ninak bis an die Zähne bewaffnet im Grünwald auftauchen würde, würde das keinen Verdacht schöpfen, als würde Marie dasselbe tun. Als sie fertig waren, streckte diese die Arme aus und warf ihrer Freundin einen fragenden Blick zu.

„Zu groß“, murmelte Ninak und zupfte es zurecht, „aber es wird seinen Dienst schon erfüllen.“

„Ich fühle mich schwerfällig.“

„Du bist es nur nicht gewöhnt. Etwas fehlt allerdings noch…“, murmelte die Kriegerin und zog als nächstes Maries Waffengurt zu deren Überraschung unter dem Stroh hervor.

Diese traute ihren Augen nicht. „Woher hast du den?“

„Du hattest ihn bei Goldi gelassen, als wir aus den Bergen zurück waren. Ich hatte keine Möglichkeit gefunden, ihn dir vorbeizubringen.“ Das Training in den Bergen schien Jahre her zu sein. Welten lagen zwischen ihrem Leben jetzt und dem von gestern. Das breite, mit Pflanzenranken verzierte Leder schmiegte sich wie eine zweite Haut um ihre Taille. Mit einem kalten Klumpen Schwermut in der Magengegend holte Marie den Dolch aus ihrem Stiefel und schob ihn in die dafür vorgesehene Scheide.

„Schau dich an“, raunte Ninak, legte die Hände auf Maries Schultern und musterte sie von oben bis unten. „Jetzt bist du eine richtige Zwergin. Sogar mit Bart.“ Ein Schmunzeln zierte ihr hübsches Gesicht und Marie kam nicht darum herum, selbst darüber zu lächeln.

Menschenfrau. Heilerin. Verlobte des Königs. Diebin. Und jetzt Kriegerin. Welch unsichere Pfade ihr Schicksal in so kurzer Zeit eingeschlagen hatte…

Weil sie es als ihre Pflicht gegenüber Thorin ansah, nahm Marie zu guter Letzt sein Schwert und schnallte es sich auf den Rücken. Erneut begegnete sie den Blick ihrer Weggefährtin. „Holen wir uns unsere Männer zurück.“

Mit einem höllischen Grinsen schob sich Ninak ihre Waffe, eine schnittige Axt, in den Waffengürtel. „Darauf kannst du Gift nehmen.“

Mit der Zeit im Nacken und der Gefahr stets vor Augen, kurz vor der Freiheit doch noch entdeckt und an der Flucht gehindert zu werden, machten sich die beiden daran, die Ponys fertig zu machen. Nachdem Ninak die Trensen und Sättel aus der Sattelkammer besorgt hatte, sattelten sie eilig Goldi und Mäusefell. Als Marie jedoch den Gurt unter den Bauch ihrer Stute hindurch ziehen wollte, schoss erneut ein Schmerz durch ihren Unterbauch, der sie fast in die Knie zwang. Das Gesicht in Goldis warmes Fell vergraben atmete sie tief durch. Halt durch, Kleines… Bitte, halt durch.

„Alles in Ordnung?“

Sie schreckte hoch und sah Ninak mit Mäusefell bereits auf der Stallgasse stehen. „Ja.“ Sie bekam ihre Satteltasche und Fellrolle zugeworfen. Mit zitternden Händen befestigte sie alles an dem Sattel und versuchte, weder von den Schmerzen noch von ihrer Angst etwas zu zeigen. Ihr Herz schlug viel zu schnell, als sie ihr Pony aus der Box führte.

„Halt, ich muss das Tor öffnen“, sie drückte die Zügel Marie in die Hand. Diese sah die Stallgasse hinab, während Ninak zu der Kurbel am Tor eilte und anfing, diese zu drehen. Es quietschte furchtbar laut, als die massiven Ketten begannen, Stück für Stück das Tor emporzuhieven. Doch das ging nicht schnell genug.

„Beeil dich“, bei dem Krach rechnete Marie jeden Moment damit, dass jemand kam und sie entdeckt werden würden. Ninak legte sich ins Zeug und kurbelte, was die Kurbel hergab. Ihre Nervosität sprang auf die Tiere am anderen Ende der Zügel über. Mäusefell und Goldi wurden unruhig, fingen an, sich auf der Stelle zu drehen, sodass Marie alle Händen voll zu tun hatte. Endlich war das Tor oben und vor ihnen lagen die Hochebene im strahlenden Sonnenschein. Gerade als das Quietschen des Tores verstummte, ertönten Stimmen und wie ein unheilbringender Vorbote näherte sich das Klappern von Rüstungen. „Ninak…“

Ninak ließ die Kurbel einrasten, kam eilig zu ihr und schnallte sich ihr Schild auf den Rücken. „Steig auf, schnell!“

Als Marie jedoch den Fuß in den Steigbügel stemmte, krümmte sie sich vor Schmerz und konnte sich keinen Zentimeter mehr rühren.

„Da sind sie!“

Die Frauen wirbelten herum und Marie gefror das Blut in den Adern. Eine ganze Schar an Soldaten tauchte im Stall auf und ein einziger Gedanke durchzuckte ihren Verstand: Jetzt ist alles aus.

Mit gezückten Waffen als wären sie Schwerverbrecher näherten sich die Soldaten ihnen. „Im Namen des König, ihr seid festgenommen!“

In diesem Moment packte Ninak ihr Bein und warf sie in den Sattel. „Los, hüh! HÜH!!“ Sie schlug Goldi auf das Hinterteil und die Stute preschte los, direkt auf das offene Tor zu. Sich irgendwie auf ihrem Pony festkrallend schaute Marie über die Schulter. „NINAAAK!“ Sie musste mitansehen, wie sich ihre Freundin in den Sattel zog, während die völlig überrumpelten Soldaten losrannten, um sie aufzuhalten. Doch Mäusefell war schneller.

So weit, dass sie nur noch am galoppierenden Pferd hing, lehnte sich Ninak zur Seite und holte mit ihrer Axt aus. Stahl schmetterte auf Stahl. Die Kurbel löste sich aus ihrer Verankerung. Die massiven Ketten, die das zentnerschwere Tor hochhielten, ratterten los. Maries Schrei blieb in ihrer Kehle stecken, als ihre Freundin im Sattel hängend unter dem fallenden Tor hindurchpreschte. Donnernd grub es sich in den Erdboden und die angehaltene Zeit kam wieder in Bewegung.

„REITE, MARIE! REITE!“ Ninak schloss zu ihr auf und zusammen preschten sie los. Mit aller Kraft versuchte sie, sich im Sattel zu halten, währen die Ponys zu Höchstleistungen angetrieben wurden. Hufe donnerten. Rotes und braunes Haar flatterte zusammen mit den Mähnen der Tiere wie Standarten der Freiheit. Die Sonnenstrahlen brachen sich auf Schild und Schwert, verliehen den Reiterinnen einen hellen Schein. Der Wind schenkte ihnen sein Geleit und nur noch die Götter konnten sie aufhalten.

 

~

 

Heidekraut, Geröllfelder und steil abfallende Wiesen rauschten wie endlose Flickenteppiche vorbei. Immer wieder schlugen sie Wege über Felsen ein, damit man ihre Spuren nicht verfolgen konnte. Die Trittsicherheit der Bergponys war ihre Rettung. Goldi und Mäusefell trugen ihre Reiterrinnen meilenweit, während die Sommersonne vom Himmel brannte und ihnen den Schweiß unter den schweren Hemden aus jeder Pore trieb.

Jegliches Zeitgefühl verloren kämpfte Marie mehr und mehr gegen die Selbstzerstörung ihres Körpers an. Ihre Oberschenkel protestieren, ihre Hände krampften um die Zügel, ihre Lunge beförderte keine Luft mehr dorthin, wo sie bitternötig gebraucht wurde. Sie dachte an ihr ungeborenes Kind und was sie vielleicht ihm damit antat… Aber sie hatten keine andere Wahl.

Erneut drehte sich Ninak um und schaute, ob Verfolger am Horizont auftauchten. Als sie niemanden sah, drehte sie sich zu Marie. „Halt durch! Wir müssen den Grünwald erreichen, eher sind wir nicht sicher!“

Mit aller Macht konzentrierte sich Marie bei dem halsbrecherischem Tempo im Sattel zu bleiben. Ihre lammfromme Stute schien dies zu bemerken, denn es hatte den Anschein, als gab sie sich Mühe, besonders vorsichtig zu laufen, um ihre Herrin zu schonen. Stundenlang weilte Maries Blick zwischen Goldis Ohren hindurch. Westen, immer nach Westen.

Während des ganzen, beschwerlichen Rittes galten ihre Gedanken einzig und allein Thorin. Sie dachte an den Mann, der ihr Leben war, den Vater ihres Kindes und daran, dass sie alles in ihrer Macht Stehende versuchen musste, um ihn zu retten.

Endlich erschien der Grünwald als große, undurchdringbare Barriere in der Landschaft. Bis sie am Waldrand ankamen dauerte es noch mehrere Meilen. Die Stuten keuchten mittlerweile, ihr Fell schäumte vor Schweiß und auch die Frauen konnten nur nach Atem ringen und dem Ziel ihrer Flucht entgegenfiebern.

Ohne anzuhalten führte Ninak sie tief ins Unterholz hinein. Umgeben von dichtem Gebüsch und im Schutz von Baumriesen kamen die Flüchtenden zum Stehen. Die Kriegerin rutschte von Mäusefells Rücken und ihre ganze Aufmerksamkeit galt sofort ihrer Weggefährtin, die apathisch auf dem Rücken ihres Ponys hockte. Als sie Marie aus dem Sattel zog, schrie diese vor Schmerz auf. Schnell verschloss sie ihr den Mund, sprach beruhigend auf sie ein. Durch Nebelschleier aus Pein bekam Marie nur am Rande ihres Bewusstseins mit, wie sie geführt wurde. Nach ein paar Schritten knickten ihre Beine ein und sie ging zu Boden.

„Mein Kind…“ Ihre Finger gruben sich haltsuchend in die Erde, während die Tränen ihr übers Gesicht liefen und sie innerlich von Schuldgefühlen aufgefressen wurde. „Ich habe mein Kind verloren…“

„Sag so etwas nicht“, fuhr ihre Freundin sie energisch an und Marie funkelte zurück.

„Du kannst leicht reden! Deinem Kind geht es gut. Du hättest dich gegen Smaug verteidigen können! Ich…ich konnte mein Kind nicht beschützen.“

Die Widerworte starben auf Ninaks Zunge. Sie öffnete den Mund, einmal, zweimal und sprach erst weiter, nachdem sie das, was sie hatte sagen wollen, runtergeschluckt hatte. „Denk darüber, wie du willst. Ich weiß aber, dass du ebenso dein Kind verteidigt hast, wie auch ich es getan hätte.“ Aus tränennassem Blick schaute Marie zu, wie ihre Freundin sich mit zorniger Miene erhob. „Ich bete zu Durin, dass du dich irrst“, verklang ihr Murmeln und sie stapfte hinüber zu den Ponys, die darauf warteten, versorgt zu werden.

Als unweigerlich das unangenehme Schweigen eintrat, rückten die Geräusche des Waldes in den Vordergrund. Mit Wut und Angst in ihrer Brust kauerte sich Marie auf einem Bett aus Moss zusammen. Keinen Schritt würde sie mehr gehen können, keinen Meter mehr reiten. Tränen brannten auf ihrer Haut und die gefallenen Worte in ihrem Herzen. Mit jedem Atemzug jedoch, jeder Minute der Stille und umgeben von den Gerüchen des Waldes wurde es auch in ihr selbst ruhig. Sie befahl ihrem Körper zu entspannen und schloss die Augen. Von selbst fanden ihre Hände die Stelle, wo ihr Schatz ruhte.

 

Die Erschöpfung und die Nächte der Entbehrung forderten schon bald ihren Tribut. Sie musste eingeschlafen sein, denn als sie das nächste Mal die Augen öffnete, hörte sie das leise Knistern eines Feuers. Sonnenstrahlen schimmerten zwischen den Kronendächern hindurch, malten helle Flecken auf den Waldboden. Als Marie sich aufsetzte, rutschte ein Fell herunter mit dem man sie zugedeckt hatte. Am Feuer saß ihre Weggefährtin, legte mit präziser Vorsicht ein winziges Stöckchen nach dem anderen auf die Flammen. Unweit von ihnen standen Goldi und Mäusefell angebunden und knabberten an Ästen, abgesattelt und versorgt. Im Handumdrehen hatte Ninak ein kleines Lager für sie geschaffen, während sie geschlafen hatte.

Marie setzte sich auf und horchte auf die Zeichen ihres Körpers. Etwas Verwundert stellte fest, dass die Schmerzen verschwunden waren.

Ninaks aufmerksamen Blick schien nichts zu entgehen. „Wie geht es dir?“

„Besser, glaube ich.“ Dann seufzte sie. Es musste ausgesprochen werden. „Ninak, ich…“

„Schon gut“, fiel diese ihr in den Satz. „Alles ist gut. Hier, trink.“ Sie warf ihr einen prallgefüllten Trinkschlauch zu. „Dort unten ist ein Bach.“

Froh, dass ihre Freundin nicht nachtragend war und ihr ihren Ausrutscher verziehen hatte, leerte Marie den Schlauch in wenigen Zügen um mehr als die Hälfte. Mit der Erklärung das Wasser wieder auffüllen zu wollen und mal dringend in die Büsche verschwinden zu müssen, kämpfte sie sich auf die Beine.

„Sei wachsam und ruf mich, wenn du mich brauchst“, warnte Ninak, ehe sie sich wieder um das Lagerfeuer kümmerte.

Marie musste nicht lange suchen, bis das leise Gurgeln des Baches ihr die Richtung wies. Einen kleinen Hang musste sie zum Ufer hinabklettern, dann stand sie an einem, von Schilf begrenztem und von Buchen beschatteten Bach voll kristallklarem Wasser. Eilig suchte sie einen Platz im angrenzenden Dickicht für ihre Notdurft. Die Farbe ihres Urins war unauffällig, wie die Heilerin in ihr sogleich feststellte. Auch deuteten keinerlei Anzeichen auf eine Fehlgeburt hin. Ob das zu diesem Zeitpunkt nun doch zur Hoffnung ermutigen konnte, daran wagte Marie noch immer nicht zu denken.

Nach ihrem Geschäft zog sie Stiefel, Socken und Hose aus, legte ihren Waffengurt beiseite, entledigte sich ihr Kettenhemd und das dunkle Wams und watete in das kühle Nass. Schritt für Schritt ging es tiefer hinein, in der Mitte des Baches setzte sie sich in sein Bett und lauschte.

Vögel zwitscherten im Geäst, ein Specht hämmerte in der Ferne im grünen Blätterdach. Ein Eichelhäher machte auf die Eindringlinge in seinem Revier aufmerksam. Das leise Rauschen der Blätter und das Plätschern war wie eine nie enden wollende Melodie. Das Wasser des Grünwaldes besaß anscheinend Heilkräfte, umschloss ihren Körper bis zu den Achseln und schenkte ihr für einen Augenblick Frieden.

Wald. Wie sehr sie einen Ort wie diesen vermisst hatte über die Monate in Erebor, wurde ihr erst jetzt mit jeder Faser ihres Körpers bewusst. Die geschäftige Stadt unter dem Berge mit ihren wundervollen Statuen, in der Luft verlaufenden Wegen und imposanten Gebäuden und Werkstätten aus Stein war atemberaubend und wunderschön, aber sie war ein Kind der Natur – würde es für immer bleiben. Wenn sie Kräuter auf Erebors Berghängen sammeln gegangen war, waren die Ausflüge stets befreiend gewesen, doch in einen Wald eintauchen zu dürfen hatte ihr bislang gefehlt.

Einst gab es ausgedehnte Bergwälder rund um das Hochtal. Marie erinnerte sich, wie die Männer aus Dale dort Holz geschlagen und wie junge Burschen Schweine und Ziegen in den Wald getrieben hatten, damit sie dort nach Futter suchten. Smaugs Feuer hatte damals nicht nur Dale brennen lassen, sondern auch dazu geführt, dass der gesamte Wald niederbrannte.

Smaug… Still und nachdenklich blickte Marie den Flusslauf hinab. Ihr Plan war tatsächlich aufgegangen. An den Wachen vorbei und raus aus Erebor bis zum Grünwald hatten sie es geschafft. Hier endete allerdings ihr Plan. Marie hatte keine Ahnung, wie sie es schaffen sollte, Smaug zu besiegen. Letzte Nacht hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen und keine Lösung finden können. Sollte es ihr nicht gelingen, zu verheimlichen, dass Ninak davon wusste, so würden sie dabei zusehen müssen, wie Smaug seine Drohung wahrmachte und Thorins Familie - ihre Familie – auslöschte. Und sollten tatsächlich Dwalin und die Jungs die Gefahr erkennen und hinter Thorins Maskerade blicken, so würden die Männer nicht zögern, ihren Schwur einzulösen.

Wenn der Tag gekommen ist, an dem Smaug meinen Körper unter Kontrolle hat… Wenn ich nicht mehr derjenige bin, der ich war, dann müsst ihr für Maries Schutz sorgen… und diesem Land einen Dienst erwiesen. Tötet mich, wenn ihr keine andere Wahl habt. Ich befehle es euch.

Sie würden Thorin; ihren Onkel, ihren Freund töten, indem sie ihm eine Klinge durchs Herz stießen und ihm das Leben und damit Smaug seinen Wirt nehmen.

Gedankenverloren nahm Marie die Lyrif-Kette zwischen die Finger, die sie um den Hals trug. Sie betrachtete die geschwungene Fenster des Anhängers, fühlte die winzigen Unebenheiten im schmucklosen Metall, die einst die Hammerschläge des Schmiedes hinterlassen hatten und hoffte auf ein Wunder. Aus ihren Erinnerungen schwebten Bilder heran. Der Moment, als sie auf der Bank unter ihrem Fenster saßen und sie ihn verarzten musste - eine List von Bilbo und den Gefährten, damit die beiden miteinander reden mussten. Es hatte tatsächlich funktioniert. Sie hatten gegenseitig ihre Gefühle zueinander gestanden und sie entdeckte, dass er ihre Kette nach all den Jahren noch besaß. Thorin hatte ihr Geschenk nie abgelegt. Ohne von ihrer Magie zu ahnen, dass er diese Kette behalten, weil er sein Mädchen aus Dale nie vergessen hatte.

Ich trage sie seit dem Augenblick an, an dem du sie mir gegeben hast, hörte sie seine Worte genau wie einst. Du hattest Recht. Sie ist wirklich ein Glücksbringer, denn sie hat mich bis heute vor dem Tode bewahrt. Ich trug sie bei Smaugs Angriff, auf dem Schlachtfeld Morias, vielleicht konnte ich nur si überleben. Weil sie immer bei mir war… weil du immer bei mir warst.

Ihr Herz wummerte, als sie an Thorin dachte. Die Kette zu suchen, war das Erste gewesen, was sie unternommen hatte. Dem Himmel sei Dank hatte sie sie vor dem Kamin gefunden, wo sie erfolglos vorgetäuscht hatte, die Kette ins Feuer werfen zu wollen. Obwohl Smaug von der Macht dieses Anhängers wissen musste, so hatte er sie glauben lassen, sie könnte ihn damit nicht erpressen. Er war viel zu selbstverlieb in seine Kräfte, als dass er durchsickern ließ, die Macht der Lyrif-Kette nutzen zu wollen.

Wie um alles in der Welt sollten sie Smaug besiegen ohne Thorin zu verletzen oder gar zu töten? Wie tötete man einen Geist, der keinen eigenen Körper besaß? Als Marie bemerkte, dass ihre Gedanken sich im Kreis drehten, begann sie, Wasser zu schöpften und sich den Schweiß abzuwaschen. Die Schminke zog beige und braune Schlieren. Marie wusch sich alles ab, schrubbte mit wilder Intensität ihr Kinn und ihre Wangen und entfernte den aufgemalten Bart. Noch immer konnte sie seinen Atem auf ihrer Haut spüren, den Druck seiner Hände... Smaug hatte sie angefasst – in Gestalt von Thorin, er hatte sie beschmutzt und mit ihr gespielt. Allein der widerliche Gedanke bereitete ihr Übelkeit. Sie wollte ihren Körper rein waschen von diesem Monster, es ungeschehen machen.

Wie lange sie schon fort sein musste, wurde ihr erst bewusst, als Ninak am Ufer auftauchte. Als sie sie entdeckte, stemmte die Kriegerin die Hände in die Hüften. „Ich dachte schon, du bist ertrunken.“

Schmunzelnd kam Marie aus dem Wasser. „Tut mir leid, ich habe einfach die Zeit vergessen. Es ist so herrlich.“ Als sie näher kam, entglitten Ninak jedoch plötzlich die Gesichtszüge und Marie ahnte, was ihre Freundin sehen musste, jetzt da die Schminke abgewaschen war.

Entsetzt starrte die Zwergin auf die dunklen Würgemale an ihrem Hals, auf das Hämatom an ihrem Gesicht, der Smaugs Schlag hinterlassen hatte…bis ihr Blick noch ein Stück tiefer rutschte. „Er hat dich nicht richtig getroffen.“

Ihre unerwarteten Worte konnte Marie zunächst gar nicht einordnen. „Wie…?“

„Na, hier!“, Ninak war auf einmal ganz aufgeregt und zeigte auf die Stelle. „Er hat dir in die Magengegend geschlagen, man sieht es ganz genau. Marie, er hat dein Baby verfehlt.“

Irritiert über diese Feststellung sah diese an sich herab und tatsächlich sah sie die Folgen seiner Drohung unter ihrer Haut geprügelt. Viel weiter oben, als befürchtet. „Aber…die Schmerzen…“

„…ändern nichts an der Tatsache, dass es deinem Kind gut geht!“

„Ich bin mir nicht sicher. Das hört sich total dumm an…“, frustriert fuhr Marie durch ihr windzerzaustes Haar. „Ich bin Heilerin und weiß nicht, wie es meinem eigenen Kind geht“, murmelte sie mehr zu sich selbst, zermürbt von der Ungewissheit.

„Es ist albern, dir das vorzuwerfen. Hör endlich auf damit.“

Ihr fehlten die Argumente, Ninak vom Gegenteil zu überzeugen, deshalb schwieg sie lieber.

„Ist dir eigentlich schon dein Bäuchlein aufgefallen?“

Das überrumpelte sie nun völlig. Ein zweites Mal sah Marie an sich herab. Dort, wo sie standen, war das Wasser ruhiger, sodass man sich auf seiner Oberfläche spiegeln konnte. Sie drehte sich hin und her…und spürte ihr Herz in zwei gleich große Teile brechen. Der Anblick der kleinen Wölbung ihres Bauches brachte die Welt für einen winzigen Moment zum Stillstand und ließ Glück und Reue gleichermaßen in ihr hochkochen. Es war das erste Mal, dass sie ihren 3-Monats-Bauch bewusst wahrnahm. Das erste Mal, dass sie die Zeichen einer Schwangerschaft mit eigenen Augen sah. Das erste Mal, dass sie den Grund sah, wofür es sich zu kämpfen lohnte.

„Genug gestaunt“, Ninak reichte ihr ihre Anziehsachen und beendete den magischen Moment, vielleicht auch um das Schimmern in ihren eigenen Augen zu überspielen. „Zieh dir was an, ehe ich noch erblinde.“

 

Zurück in ihrem provisorischen Lager wurde ihr ein Proviantbeutel gereicht, über den sich Marie sofort hermachte. Ninak hatte wirklich an alles gedacht. „Iss“, sagte eben jene. „Wir müssen uns ausruhen.“

„Aber wir müssen Smaug und die anderen einholen“, mahnte Marie mit vollem Mund. „Sie haben mehrere Stunden Vorsprung.“

„In deinem Zustand“, Ninak nahm neben ihr am Feuer Platz, „lasse ich dich sicherlich nicht in den Sattel steigen.“ Genauso ausgehungert wie Marie machte sie sich über das Essen her. „Wir werden unsere Männer spätestens vor den Toren des Waldlandreiches eingeholt haben. Sie müssen erst einmal wissen, wie sie dort reinkommen wollen. Ich glaube nicht, dass sie einfach ans Tor klopfen. Sie müssen sich etwas überlegen und werden in der Nähe von den Elben ihr Lager aufschlagen. Dann werden wir zu ihnen stoßen. Ich sag dir, wir ruhen uns und die Ponys aus, schlafen ein, zwei Stunden und reiten dann weiter.“

Marie sah ein, dass alles andere keinen Sinn machte und entschied, es ihr gleich zu tun und sich über das Essen herzumachen, bevor Ninak ihr nichts mehr übrig ließ.

 

~

 

Eine Berührung ließ sie hochschrecken. Jemand stand über ihr gebeugt.

„Ich bin´s nur“, raunte Ninak. „Alles ruhig dort draußen. Lass uns weiterreiten.“

Bei der Vorstellung wieder in den Sattel steigen zu müssen, stöhnte Marie auf und reckte und streckte ihren steifen Körper. Tatsächlich hatte sie noch einmal einschlafen gekonnt. Es fühlte sich an, als hätte sie tausend Jahre geschlafen, dabei konnten es maximal zwei Stunden gewesen sein. Tausend Jahre wären ihr eindeutig lieber gewesen.

Ihre Freundin war schon dabei, das Feuer auszutreten, als Marie die Male des Kampfes von letzter Nacht übergeschminkt hatte. Die anderen sollten keinen Verdacht schöpfen, dass etwas nicht stimmte. Sie würden Smaugs Spiel mitspielen, auch wenn es noch so schwer fällt. Ihr Lager war schnell zusammengepackt und die Ponys fertig gemacht.

„Wieso werden wir eigentlich nicht verfolgt?“ Marie nutzte die Gelegenheit, während sie auf Ninak wartete, um Goldi den Hals zu kraulen. „Sind sie umgedreht?“

„Keine Zeit, um das herauszufinden.“ Ninak schulterte ihr Schild und schwang sich ebenfalls in den Sattel. „Suchen wir Smaug.“

 

~

 

Der Ritt durch den Grünwald entpuppte sich als reiner Spaziergang. Niemand querte ihren Weg – weder Elben noch andere Reisende. Wenn sie sich ruhig verhielten, sollten die Elben ihnen nicht unnötig Aufmerksamkeit schenken, lauteten ihre Überlegungen. Um sich nicht zu verirren, blieben sie auf den Wegen. Irgendwohin sollten diese ja schließlich auch führen. Stundenlang ritten sie im gemächlichen Schritt. Während Ninak nach frischen Spuren und immer mit einem gesunden Argwohn Ausschau hielt, besah sich Marie die wunderschöne Vegetation. Alle paar Meter entdeckte sie Pflanzen, deren Eigenschaften sie kannte. Die Verlockung, stundenlang ihrer Leidenschaft zu frönen, stellte sie ganz hinten an. Welche Heilpflanzen sie hier finden konnte, merkte sie sich dennoch gut, denn sie hatte im Gespür, dass die ein oder andere noch hilfreich sein könnte.

Sie horchten nach Pferdewiehern und schnüffelten in der Luft, ob sie Rauchgeruch von einem Lagerfeuer wahrnahmen, doch keine einzige Spur nach einer Gruppe Reitern war weit und breit zu sehen. Nur der Wald mit deiner friedvollen Idylle. Wo waren sie?

Wie ein Bluthund, der einer Spur nachging, galt Ninaks Aufmerksamkeit dem Boden. Goldi trottete einfach hinter Mäusefell her und bekam von ihrer Reiterin die Schulter gekrault. Plötzlich kamen sie zum Stillstand. Ninak glitt aus dem Sattel und ging in die Hocke.

Hinter ihr verrenkte sich Marie den Hals. „Hast du etwas gefunden?“

„Wagenspuren“, ihre Hand schwebte dicht über den Waldboden, „und frische Hufabdrücke.“

„Haben sie einen Wagen mitgenommen?“

„Nein…“ Sie erhob sich und verfolgte die Spuren ein paar Meter zu Fuß. „Es ist auch nur ein Pferd. Die Spuren kommen von da“, sie zeigte zuerst nach Links, wo der Weg sich abzweigte, „und führen dort hin“, danach auf die vor ihnen liegende Wegbiegung.

„Wir sollten einfach vorbeireiten“, schlug Marie vor.

„Aye“, stimmte ihre Freundin zu und stieg wieder auf. Die Anspannung wuchs, je näher sie der Biegung kamen. Die Tiere spitzten die Ohren und Ninaks linke Hand glitt zu ihrer Axt. Als sie um die Biegung kamen und Marie den Wagen sah, traute sie ihren Augen nicht.

„He!“, Ninak konnte gar nicht so schnell gucken, wie ihre Gefährtin aus dem Sattel gestiegen war. „Was hast du vor?“

Marie überhörte sie und näherte sich dem kleinen, lila angestrichenen Wagen, der auf einer Freifläche stand. An einem Baum ganz in der Nähe war ein fuchsfarbenes Pony mit einem weißen Stern auf der Stirn angebunden.

„Marie, komm zurück, verdammte Hacke“, zischte Ninak und wollte sie zurück holen. Da wurde die Wagentür geöffnet und eine alte, hochgewachsene Frau mit langem weißen Haar stieg heraus, um den Grund des Lärms nachzugehen.

„Ihr seid es, Krämerin.“ Ein Lächeln breitete sich auf Maries Lippen aus. „Ich freue mich, Euch wiederzusehen.“

Die Alte musterte sie von oben bis unten. Trotz des Schleiers in ihren Augen erkannte auch sie sie sofort. „Und ich bin froh, Euch zu sehen. Ihr kommt gerade zur rechten Zeit.“ Als hätte sie nur auf die beiden gewartet, ging die Krämerin, gebeugt vom Alter und dem unbequemen Leben des fahrendes Volkes, zu ihrer Feuerstelle über der ein Kessel an einem Dreifuß hing. „Setzt Euch.“

Froh über das Wiedersehen drehte sich Marie zu ihrer Weggefährtin um und winkte sie zu sich. Doch die Zwergin schüttelte den Kopf. „Komm her jetzt!“, zischte sie.

Nur sehr widerwillig stieg Ninak ab und führte die Ponys näher. „Wer ist das? Woher kennst du diese Frau?“ Ihr Misstrauen war unüberhörbar.

„Ich habe ihr mal geholfen, als sie mit ihrem Wagen nahe Kerrt stecken blieb. Sie ist eine Krämerin und ist sehr weise.“

„Mir egal, ob sie weise ist oder nicht. Wir haben keine Zeit für einen Plausch, wir müssen weiter.“

„Das Essen ist fertig“, rief die Krämerin. „Ihr seid herzlich eingeladen. Auch Ihr, Kriegerin von Durins Volk.“

Bei dem Wort Essen leuchteten Ninaks Augen auf, dennoch zierte sie sich.

„Sei nicht so stur. Du hast unseren ganzen Proviant auf einmal vernichtet, schon vergessen?“

„Hey, ich esse für Zwei…“

„Wir können ihr vertrauen, sie ist nett. Und etwas Warmes im Bauch wird uns gut tun. Also komm“, ohne auf ihre Abwehr zu reagieren, harkte Marie sie unter, schleppte sie mit und verkündete: „Wir bleiben gern zum Essen.“

Auf dem sonnengegerbtem Gesicht der alten Frau erschien ein liebeswürdiges Lächeln, was ihre Falten noch tiefer erscheinen ließ. „Das ist schön, dass ihr mir etwas Gesellschaft leistet. Es kann sehr einsam sein auf den Straßen.“

Während Goldie und Mäusefell sich an dem Gras auf der Freifläche gütig taten, nahmen ihre Reiterinnen Platz und bekamen sofort zwei Schüsseln heißen Eintopf gereicht. Beim Anblick des deftigen Mahls warf Ninak den letzten Rest ihres Misstrauens über Bord und schob sich Löffel um Löffel in den Mund.

„Der Wind“, ächzend nahm die alte Frau ihnen gegenüber auf einem kleinen Schemel Platz, „hat mir heute Morgen schon Zeichen gegeben, dass dieser Tag eine Überraschung bereithält.“

Mit vollem Mund schielte Ninak zu Marie und tippte gegen ihre Stirn. Diese haute ihr den Ellenbogen in die Seite.

„Ihr seid auf der Suche nach etwas. Doch ihr habt es noch nicht gefunden.“ Ihre ungewöhnlichen zweifarbigen Augen, grün und blau, wechselten zwischen den beiden Frauen hin und her.

„Ihr habt Recht. Wir sind auf der Suche nach einer Gruppe Zwergen“, erklärte Marie. „Ein Hobbit ist auch unter ihnen. Seid Ihr ihnen begegnet?“

„Nein, solch eine Gruppe ist mir nicht begegnet.“ Die Antwort war ernüchternd.

„Gibt es noch Nachschlag?“, meldete sich Ninak.

„Bitte, bedient Euch.“ Das ließ sich Ninak nicht zweimal sagen.

Da sie befürchtet, die Gelegenheit nie wieder zu bekommen, legte Marie die Schnur ab, die sie um den Hals trug, und streckte ihr den magischen Anhänger in der offenen Hand entgegen. „Krämerin, erkennt Ihr diese Kette wieder?“

Fast verschluckte sich ihre Nachbarin. „Marie…“

„Keine Sorge, Ninak. Dank dieser Frau ist die Kette vor vielen Jahren erst zu mir gekommen. Sie weiß über ihre Kraft Bescheid.“ Die Verblüffung war der Zwergin ins Gesicht geschrieben.

Die knochigen Hände der Krämerin streckten sich nach der Lyrif-Kette aus und nahmen sie ganz behutsam, während ein Leuchten ihre Augen verjüngte. „Wie könnte ich das vergessen? Ich erinnere mich noch ganz genau. Jolanda und ich machten Halt in Dale.“

Ninak lehnte sich herüber. „Jolanda?“

„Ihr Pony“, wisperte Marie, vertieft in die Erzählung der Krämerin, die sie mitnahm auf eine Reise in die Vergangenheit.

„Viele Kunden besuchten an diesem Tag meinen Stand. Sie kamen und gingen, ließen mich aus ihren Händen ihre Zukunft lesen oder suchten sich von meinen Schätzen für den kleinen Taler etwas aus. Meist sind es Dinge für den alltäglichen Gebrauch, manchmal aber auch Geschenke, die ihre Aufmerksamkeit erhaschen und die sie ihren Liebsten mitbringen wollen. Töpfe, Pfannen, ein schönes Fell, Glitzersteine, Traumfänger... Auch Euer Vater kam am diesem Tag an meinem Stand. Ich weiß noch ganz genau, wie seine Augen über meine Sachen glitten… All funkelnde Steine, jenes noch so schöne Fell ließ er links liegen, bis er an einem Nagel eine Kette hängen sah. Niemand hatte sich je für dieses Schmuckstück interessiert. Es ist nicht aus Silber, nicht aus Gold, es funkelt und glitzert nicht... Euer Vater entschied sich für diese Kette und suchte sich, ohne es zu ahnen, meinen wertvollsten Schatz aus.“ Mit diesen Worten reichte sie die Lyrif-Kette an ihre Trägerin zurück.

Berührt von den Erinnerungen an ihren Vater, welche die Krämerin mit ihrer Erzählung heraufbeschworen hatte, nahm Marie sie entgegen. „Dieser Anhänger wurde von einem Hautwechsler geschmiedet. Er wurde von König Lyrif von Forlindon in Auftrag gegeben, als sein Land von Krieg heimgesucht wurde. Er ließ den Anhänger für sein einziges Kind schmieden, um es zu beschützen.“

„So ist es.“

Marie begegnete den Blick der Krämerin, als ein ganz neuer Gedanke aufkam. „Wie kamt Ihr in den Besitz dieser Kette?“

„Genauso wie Ihr, Kind. Man schenkte sie mir.“

„Von wem?“

„Was tut das zur Sache? Es ist zu lange her, als das ein Name von Bedeutung wäre.“

„Wieso habt Ihr die Kette nicht für Euch behalten?“

„Weil ich niemanden mehr habe, an den ich sie weitergeben kann“, lautete ihre Antwort. Kummer schwang in ihrer Stimme mit, dessen Wurzeln weit in eine andere Zeit zurückreichten. „Ich entschied, die Kette selbst über Ihren nächsten Träger entscheiden zu lassen.“

„Seid Ihr“, skeptisch beugte sich Ninak vor, „eine Hexe?“

Das entlockte dieser ein Lachen. „Hexe. Seherin. Wahrsagerin. Mich haben die Leute schon oft so genannt.“ Ihr Blick ging zurück zu Marie und ihre Zügen wurden mit einem Mal um einiges ernster. „Die Person, von der Ihr die Kette überreicht bekommen habt, muss sich um Euch sorgen, wenn nun Ihr die Trägerin seid.“

Ein Treffer ins Schwarze. Marie schluckte und beschloss, dass es besser wäre, nicht darauf einzugehen. „Krämerin, Ihr habt mir beim letzten Mal eine Frage beantwortet. Ihr habt Dinge vorausgesagt, die wahr waren und wahr geworden sind. Mag sein, dass ich unverschämt klinge, aber ich bitte Euch um Eure Hilfe. Könnt Ihr uns sagen, wo wir die Männer finden, nach denen wir suchen? Es ist von größter Wichtigkeit.“ Eine Weile sah die alte Frau sie still an und Marie glaubte schon, keine Antwort mehr zu bekommen, als sie sie mit gekrümmten Finger zu sich winkte.

„Marie, mach das nicht…“ Die Warnung wurde überhört. Sie trat zu der Frau, sie vertraute ihr, doch ein unwohles Gefühl blieb, als die zweifarbigen Augen sie fixierten.

„Eure Hand“, befahl sie. Marie tat es. Der Schreck rieselte ihr durch Mark und Bein, als die Krämerin mit der Schnelligkeit einer Schlange nach ihrer Hand griff. Ihre langen, verfärbten Nägel zogen die Linien auf ihrer Handfläche nach und die Intensität ihres Blickes drang bis in ihr Innerstes vor.

„Was würdet Ihr tun, um seine Seele zu retten? Was wärt Ihr bereit zu geben?“

„Alles…“, wisperte sie. „Ich würde alles für ihn tun.“

Als wollte sie die Wahrheit der Worte auf die Waage legen, bemaß die Krämerin sie ganz genau. Wie aus dem Nichts schoss ihre andere Hand vor und legte sich direkt auf ihren Bauch. Unfähig sich zu bewegen konnte Marie nicht zurückweichen. Ninak warf ihre Schüssel beiseite und zog die Waffe.

Das Flüstern der Krämerin brannte sich für alle Zeit in ihr Gedächtnis ein. „Eure Tochter ist genauso stark wie ihr Vater. Aber Ihr müsst Euch beeilen. Seine Seele ist an einem dunklen Ort gefangen. Er kämpft, doch sein Licht schwindet.“

Als die Krämerin ihre Hand fortnahm, brach der Zauberbann und Marie taumelte zurück. Sofort war Ninaks an ihrer Seite. „Meine Tochter?“

„Folgt den Zeichen des Waldes. Dann werdet Ihr das finden, wonach Ihr sucht. Ihr solltet nun gehen, wenn ihr sie aufhalten wollt.“

Maries Beine gehorchten, obwohl ihre Gedanken ganz woanders waren.

„Moment mal.“ Die letzten Sekunden waren etwas zu schnell für Ninak gewesen. Verwirrt schaute sie zwischen der Krämerin und ihrer aufbrechenden Freundin hin und her. „Was ist mit mir? Könnt Ihr mir auch eine Frage beantworten?“

„Das waren genug Fragen und genug Antworten für einen Tag, Zwergin.“ Das war wohl ihre Art zu sagen, dass sie verschwinden sollten. Weil sie nicht den Zorn der unheimlichen Alten spüren wollte, sputete sich Ninak, um ihre Freundin einzuholen. „Machen wir, dass wir hier wegkommen“, sie sprang auf ihr Pony und drückte ihrer Stute die Hacken in den Bauch. Als wäre ein böser Geist hinter ihnen her, galoppierten sie los und Marie warf der Krämerin einen letzten Blick über die Schulter zu.

Diese sah den aufbrechenden Frauen nach, ein Schatten auf dem Gesicht. „Lebt wohl, Euer Hoheit. Und gebt gut auf meinen Schatz Acht. Ihr werden ihn brauchen.“

 


35

 

 

Eine Tochter… Ich habe eine Tochter. Ihr geht es gut. Die Weissagung der Krämerin änderte alles von diesem Moment an. Alles, was noch kam, hatte eine Sinn. Alle Ängste um ihr ungeborenes Kind, all die Selbstvorwürfe waren fort. Die Sonne schien heller zu scheinen, der Wald friedlicher zu sein.

Beflügelt von den Worten und betrunken von dem Glauben, das Unmögliche möglich machen zu können, ritten Marie und Ninak weiter, bis die Dämmerung heraufzog und ihre Weggefährtin eine nicht ganz unwichtige Frage stellte. „Wie lautet eigentlich der Rest deines Plans?“

„Der…äh...Rest?“

„Ja. Was machen wir, wenn wir Smaug und die anderen gefunden haben?“

Sämtliche Flüche in Khuzdul und der Gemeinen Zunge, die sie je in ihrem Leben gehört hatte, spukten gleichzeitig in ihrem Kopf herum und wollten raus. „Ähm, weißt du, Ninak…da hört mein Plan leider auf.“ Das Pferd neben ihr blieb stehen und Marie wagte es, sich vorsichtig umzudrehen. Ihre Freundin sah aus, als würde sie ihr jeden Augenblick den Kopf abreißen. „Ich hatte keine Zeit mehr, mein Plan zu Ende zu überlegen“, versuchte sie einen wirkungslosen Beschwichtigungsversuch. Dass Ninak wütend war, konnte Marie ihr nicht verübeln.

„Das war´s“, mutlos trieb die Kriegerin ihre Stute wieder an. „Wir sind tot. Mausetot.“ Ihren Zynismus konnte Marie nichts entgegensetzen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen bis plötzlich etwas Sonderbares geschah.

„Amboss und Esse, was ist das?“

Marie folgte ihrem Blick nach oben und ihr Mund klappte vor Staunen auf. Dort oben auf den Ästen leuchteten dutzende kleine Punkte in verschiedenen Farben. Immer mehr Lichter erschienen aus dem Nichts und schauten auf sie herab. „Das müssen die Nymphen sein, von denen mir Thorin erzählt hat.“ Auf einen unsichtbaren Befehl hin erhoben sich die Lichtgestalten und flogen wie ein Schwarm bunter Glühwürmchen los. „Die Zeichen des Waldes… Wir sollen ihnen folgen!“ Von neuer Euphorie erfasst drückte Marie die Waden an den Pferdebauch. Goldi lief los. Die Nacht öffnete sich und verschluckte sie.

„Marie, warte, es wird zu dunkel! Wir brauchen Licht!“

Die Nymphen schienen verstanden zu haben. Ein paar lösten sich aus dem Schwarm und flogen seitlich der erstaunten Frauen, um den Waldboden mit ihrem Licht zu erhellen. Andere Feengestalten setzten sich auf Goldis und Mäusefells Mähnen und hielten sich in dem dichtem Haar fest, um nicht auf dem wilden Ritt herunterzupurzeln. Dekoriert von bunten Lichtern liefen die Ponys durch die heraufziehende Dunkelheit. Fasziniert blickte Marie auf eine blaue Nymphe herab, die auf Goldis Widerrist hockte und sichtlich Freude an diesem Ritt hatte. Bunte Kometenschwärme begleiteten sie und zauberten ihnen ein Lächeln ins Gesicht.

Die Zeichen standen alle für sie. Alles lief gut - zu gut für Maries Geschmack. Sie hatten die Wachen vor ihrer Tür überlistet, sie waren aus Erebor geflohen, hatten die wahre Diebin des Arkensteins entlarvt, ihrem Baby ging es gut und jetzt auch noch die Hilfe der Nymphen? Bei allen Himmeln dieser Welt, was taten sie hier eigentlich? Bis zum Hals waren sie in etwas hineingeraten, aus dem es kein Entrinnen mehr gab.

Die Gedanken zerflossen, Licht und Dunkelheit flogen an ihr vorbei. Was hatte Smaug bereits Thorins Seele angetan? Kamen sie wohlmöglich zu spät? Gab es überhaupt noch Rettung? Es war ein Wettlauf mit der Zeit.

Es gab kein Zurück mehr. Der einzige Ausweg war die Konfrontation. Rebellion.

Marie beugte sich über den Hals ihrer treuen Stute und ließ sich durch die Nacht tragen, während ihre Gebete ihrem Verlobten galten. Ich komme, Thorin. Ich werde das beenden, was du begonnen hast. Halt durch.

Wie lange sie ritten, konnte Marie nicht abschätzen. Als würden die Nymphen von einem kalten Windhauch erfasst, machten sie sich auf einmal auf den Weg zurück in die Baumwipfel. Die Frauen zügelten die Ponys und auch die letzten Nymphen verließen ihre Plätze, flogen davon und ließen Marie und Ninak verunsichert am Boden zurück.

„Wohin fliegen sie?“

„Die Frage ist eher, was sie vertrieben hat.“ Mit der Wachsamkeit einer Jägerin schaute Ninak in das Dickicht.

Marie tat es ihr gleich und spürte ihr Herz sich plötzlich von den einen auf den anderen Moment in einen Vorschlaghammer verwandeln, als sie den fernen Feuerschein sah. „Wir haben sie gefunden…“

„Und wir euch“, sprach jemand. Vor Schreck schrie Marie auf. Die Ponys scheuten und Ninak griff zur Waffe.

„Lass stecken, Tantchen. Ich bin´s doch nur.“ Aus der Nacht schälte sich Kili heraus und stand breit grinsend vor ihnen.

„Kili? Was fällt dir ein uns so einen Schreck einzujagen?!“ Ninak stieg aus dem Sattel und war drauf und dran ihm eines überzubraten. Er zog früh genug den Kopf weg, immer noch grinsend wie ein Bube, der einen Streich gespielt hat.

„Die wohl viel wichtigere Frage ist doch“, wie sein immerwährender Schatten tauchte neben ihm sein Bruder auf, „was ihr beide hier zu suchen habt.“

„Fili, Kili…“ Den Schreck verdaut verließ auch Marie den sicheren Pferderücken und fiel ihren Jungs um die Hälse, froh, diese wohlauf zu sehen. Um auch ganz sicher zu gehen, musterte die Heilerin sie von oben bis unten, fasste sie an den Schultern, an den Kopf. „Geht es euch gut?“

„Klar geht uns gut. Wieso sollte es uns nicht gut gehen?“

Weil Smaug… Die Gedanken erstarben, ehe ein unbedachtes Wort ihre Lippen verließ und alles auffliegen ließ.

„Kommt mit uns. Ihr müsst erschöpft sein.“ Fili griff die Zügel der Ponys und die Jungs nahmen ihre Tanten in die Mitte. „Und dann müsst ihr uns alles erzählen. Dwalin und Thorin werden Augen machen.“

„Oh, ja“, murmelte Ninak, „das werden sie.“

Marie warf ihrer Komplizin einen panischen Blick zu. Sie hatten keine Zeit mehr, sich abzusprechen geschweige denn einen gescheiten Plan auszubrüten. Von Kili und Fili eskortiert kehrte sie zurück in ihre ganz persönliche Hölle.

Meter um Meter kam der Schein eines kleinen Feuers näher. Sie erkannte das Lager und die zwei großen Schatten davor.

„Fili, Kili, seid ihr es?“, kam der Ruf von Dwalin.

Marie schluckte an dem Felsbrocken, der ihre Kehle versperrte, und hörte ihren Puls vor Angst rasen.

„Aye! Schaut mal, wen wir gefunden haben!“

Ihre Knie wurden weich, als sie Thorin sah. Es tat so unglaublich weh, zu wissen, dass es nicht er selbst war. Den Männern war die Überraschung ins Gesicht geschrieben. In Thorins Augen jedoch erkannte sie noch etwas anderes: unverblümter Hass, der allein ihr galt. Ehe sie jedoch wusste, was geschah, marschierte ihre Weggefährtin an ihr vorbei – direkt auf Thorins geraubten Körper zu. „Ninak…nein…“ Panisch versuchte Marie nach ihr zu greifen, doch die Kriegerin schüttelte ihre Hand ab.

Wie eine Furie ging sie auf Smaug los und verpasste ihm einen so harten Schlag gegen den Brustkorb, das er einen Schritt zurück machen musste. „Was ist in dich gefahren?! Du sperrst Marie ein? Bist du völlig verrückt geworden?“

„Was ist denn hier los?“ Bilbo tauchte auf und bekam von niemanden eine Antwort. Alle beobachtete das Schauspiel irritiert.

Die Hände vors Gesicht geschlagen linste Marie zwischen ihren Fingern hindurch, ob Smaug Ninak in der Luft zerreißen würde. Tatsächlich sah er so aus, als würde er genau das tun. Sein Blick war genauso giftig wie Ninaks.

„Halt! So beruhige dich doch!“ Dwalin wollte seine Frau davon abhalten, seinem besten Freund an den Kragen zu gehen, was nur mäßig erfolgreich war. „Von was ist hier überhaupt die Rede?“

„Dein Kumpel hier“, sie bohrte Smaug den Finger in die Brust, woraufhin diese die Zähne fletschte, „hat Marie verdächtigt, den Arkenstein gestohlen zu haben und hat sie unter Hausarrest gestellt. Wäre ich nicht gekommen, dann würde sie immer noch im Zimmer hocken!“

Da fiel es Marie wie Schuppen von den Augen. Ninak meinte nicht Smaug, sondern Thorin. Sie spielte lediglich sein Spiel mit.

„Ist das wahr, Onkel?“, fragte Fili schockiert.

In die Enge getrieben schaute Smaug zwischen den Umstehenden hin und her. Sein Blick ging zurück zu der Zwergin. Er legte den Kopf schief…und starrte sie an. Seine silbern glimmenden Augen verengten sich zu Schlitzen…

Eiskalt rieselte es Marie den Rücken runter. Er wusste es.

Die Nervenstärke ihrer Freundin war bewundernswert. Ninak hielt Smaugs Blick stand, auch als er einen Schritt nach vorn machte, sich zu ihr neigte. Nur noch ein Hauch trennte seine Nase von ihrer, aber sie blieb wie ein Fels im tosenden Sturm stehen.

„Ich habe Beweise“, erklang sein Knurren, Zentimeter vor ihrem Gesicht.

„Ach, ja? Du meinst die Perücke, die man Marie untergejubelt hat? Ein billiger Trick, nichts weiter. Wir kennen inzwischen die Frau, die dafür verantwortlich ist.“ Die Männer wurden hellhörig. Bilbo, Dwalin und die Jungs klebten an Ninaks Lippen, doch diese überließ es Marie, es auszusprechen.

„Es war Sladnik“, erklang ihre dünne Stimme. „Sie hat den Arkenstein gestohlen.“

Gemurmel brach aus. „Sladnik? Wieso sollte sie das tun?“

Ninak verdrehte die Augen. „Aus Rache natürlich. Sie wollte Thorin“, sagte sie, machte dann ein paar Schritte zur Seite und schuf unbemerkt wieder mehr Distanz zwischen sich und dem Drachen, „und als sie merkte, dass sie ihn nicht mehr bekommen kann, wollte sie Rache. Ihr Ehemann war Perückenmacher, schon vergessen? Sie konnte sich also leicht verkleiden. Sofort hielt man Ausschau nach einer rothaarigen Frau, weil die Wachen eine solche gesehen hatten. Als ehemalige Angehörige des Königshauses kennt Sladnik alle möglichen Schleichwege in Erebor. Sie wusste, wie sie in die Thronhalle und wieder hinaus gelangte. Vielleicht kennt sie sogar die Zeiten für die Wachablösungen und hat sie abgepasst. Wie dem auch sei, wir haben eine Suche nach Sladnik in Auftrag gegeben, bevor wir aufgebrochen sind.“

„Wie konntest du bloß Marie verdächtigten?“ Nun war es Kili, der seinen Onkel anklagte.

„Smaug muss ihm das Hirn vernebelt haben“, setzte Ninak einen hinter, verschränkte die Arme unter der Brust und warf ihm einen herausfordernden Blick zu. „Anders kann ich mir es nicht erklären.“

Das reicht, hör auf, hätte Marie am liebsten gerufen. Sie wurde zunehmend nervöser. Mag sie Smaug noch so hassen, Ninak durfte den Bogen nicht überspannen.

„Dann war es also Marie, die dich so zugerichtet hat?“ Dwalin zeigte auf das Gesicht seines Freundes, wo der Kronleuchter deutliche Spuren hinterlassen hatten, und lachte ihn schamlos aus. Smaug zog eine genervte Grimasse.

„Ich glaube, eine Entschuldigung wäre angebracht, Onkel.“

Marie starrte Fili an und glaubte, sich verhört zu haben. Smaug schien dasselbe zu denken. „Ich soll was?“ Abscheu troff aus jedem einzelnen Wort.

„Dich entschuldigen. Das ist das mindeste.“

Die Vorstellung, Smaug hatte in seinem jahrhundertealten Leben noch nie jemanden um Entschuldigung gebeten, war lächerlich. Marie musste ihm zuvorkommen oder aber alles würde auffliegen. Und so nahm sie all ihren Mut zusammen. Es ist sein Spiel. Spiel sein Spiel mit. Spiel mit…

Sie überwand den sicheren Raum zwischen sich und dem Monster, das nach ihrem Leben trachtete, und zog den Schwertgurt von ihrer Schulter. „Du hast dein Schwert vergessen.“ Perplex nahm Smaug die Waffe, die man ihm reichte. Seine glühenden Augen aber waren unbeweglich in Maries versunken. Sein intensiver Blick fraß sie mit Haut und Haar, brannte sich in ihre Seele, um sie zu vernichten. Wie sie es schaffte, so zu tun, als wäre dieser Mann vor ihr ihr Verlobter, war ihr unbegreiflich. Sie war ihm so nah, dass sie seinen Geruch wahrnehmen konnte – Thorins Geruch. Alles an ihm war vertraut und gleichzeitig so fremd. Wie gerne würde sie sich an seine starke Brust lehnen und von seinen Armen umarmt werden, einfach nur bei ihm sein. „Ich bin immer noch wütend auf dich, vergiss das nicht.“

„Wie könnte ich…“, antwortete Smaug bittersüß.

Es war Kili, der, ohne es zu wissen, seiner Tante zur Hilfe kam. „Wenn wir uns jetzt wieder alle lieb haben, sollten wir uns um das Wesentliche kümmern. Wir sind schließlich nicht aus Spaß hier.“

„Du hast Recht, Junge“, sagte Ninak und half dabei, für Ablenkung zu sorgen. „Wie kriegen wir den Arkenstein zurück?“

Dankbar wendete sich Marie von Smaug ab und trat in den Kreis ein, der sich bildete. Fili hockte sich hin und begann ein paar Steine und Stöckchen zu legen. „Das sind wir“, er zeigte auf einen der Steine. „Hier ist das Tor zum Waldlandreich, hier der Fluss“ Ein grober Halbkreis aus Stöckchen sollte wohl die Grenzen des Waldlandreiches darstellen. „Wir warten bis zum Morgengrauen, dann werden wir…“

Marie konnte sich nicht länger auf Filis Erklärungen konzentrieren, als ihr das knisternde Laub das Nähertreten von jemanden verriet. Sämtliche Härchen ihres Körpers stellten sich auf, als sie ihn hinter sich spürte. Er war ihr so nah, dass sie seine Körperwärme fühlen, seinen Blick ihm Nacken spüren konnte. Er sprach nicht. Er berührte sie nicht.

Er folterte sie mit seiner Nähe und brachte mit seiner schiere Anwesenheit ihren Körper zum Rebellieren.

„Weiß jeder, was er zu tun hat?“ Fili sah in die Gesichter der Anwesenden. Alle nickten. Marie würgte die Übelkeit herunter und nickte ebenfalls, ohne zu wissen, was er die letzten zwei Minuten erklärt hatte.

„Kili, du übernimmst die Patrouille, ich die erste Wache. Wir wecken Dwalin und Thorin bei Mitternacht zur Ablösung.“ Keiner erhob Einwände und der Kreis begann, sich aufzulösen.

Der Atemhauch des Monster streifte ihre Wange und ließ Marie zittrig einatmen. „Schöne Träume, Liebling…“ Laub knisterte erneut und sie schloss die Augen, als Smaug sich von ihr entfernte.

„Marie?“

Sie zuckte zusammen. Sie war so damit beschäftigt gewesen, ihr rasendes Herz und ihr Zittern zu verstecken, dass sie gar nicht Bilbos Näherkommen bemerkt hatte.

„Oh, verzeih. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen.“

Den Umständen entsprechend riss sie sich zusammen und überspielte Bilbo zuliebe ihre Gedanken mit einem Lächeln. „Was kann ich für dich tun? Fehlt dir etwas?“

„Nein, nein, mir geht es gut“, wimmelte er ab. „Aber Nachtschatten ist verletzt. Kannst du dir das mal ansehen?“

„Natürlich. Zeig ihn mir.“

„Ich komme mit“, Ninak tauchte auf, „zur Sicherheit.“

Froh über die vereinte Hilfe ging Bilbo mit einer Laterne voraus, Heilerin und Kriegerin folgten ihm.

„Alles gut?“, fragte Ninak im Flüsterton.

„Ich komme schon klar“, wich Marie aus. Schon waren sie bei der Herde angekommen, die etwas abseits vom Lager angebunden war und Marie war froh, nicht weiter mit Ninak darüber sprechen zu müssen. Goldi und Mäusefell standen ebenfalls bereits hier.

„Ich hab es eben erst bemerkt.“ Damit sie mehr Licht hatten, hob Bilbo die Laterne so hoch er konnte und ließ Marie zu dem schwarzen Hengst treten, der mit hängendem Kopf unbeeindruckt von ihrem Näherkommen da stand. Mit allen Sinnen schaute sie sich das Tier an, bis ihre Augen an den feuchten Stellen an seinem Bauch hängen blieben. Sie hockte sich neben das Pony und tastete ihn ab. Nachtschatten zuckte unter ihrer Berührung weg. „Haltet ihn fest.“

Ninak griff ihn am Halfter und Bilbo kam näher, als sie mehr Licht brauchte.

„Das ist Blut“, stellte sie beunruhigt fest und machte sich daran, das Fell vorsichtig beiseite zu streichen, um die Ausmaße der Verletzungen festzustellen. „Was ist passiert?“

„Ich weiß es nicht. Er blutet auch aus dem Maul.“

Ninak am anderen Ende des Tieres schaute es sich an. Nachtschatten reagierte auch dort sehr sensibel und versuchte den Kopf wegzuziehen. „Ruhig, Großer…“ Selbst Ninak konnte ihn nicht halten. Er riss sich los, zerrte unruhig am Strick, mit dem er angebunden war.

„Das machen sie schon die ganze Zeit“, berichtete Bilbo mit einem Blick auf die anderen Ponys. „Sie sind schon seit heute Morgen unruhig. Als würden sie sich vor etwas fürchten.“

„Vielleicht ist ein Raubtier in der Nähe“, warf Ninak ein und schaute dabei ihre Komplizin an. Die beiden dachten dasselbe.

„Ich kenne mich nicht mit Pferden aus“, die Heilerin strich dem Hengst über den Rücken, „aber ich habe eine Pflanze gesehen, die ihm fürs Erste helfen wird. Die Verletzungen sind nur oberflächig. Sie werden von allein heilen, aber wir müssen aufpassen, dass die Fliegen nicht dran gehen.“ Sie bat Bilbo, ein Gefäß und Wasser zu organisieren. Sie selbst würde in der Zwischenzeit nach der Pflanze suchen.

Als der Hobbit losging, um die Sachen zu besorgen, wandte sich Ninak an sie. Doch Marie kam ihr zuvor. „Smaug hat ihm das angetan.“ Sie nahm Nachtschattens hängenden Kopf in ihre Hände und kraulte ihn.

„Er muss ihm die Sporen ins Fleisch getrieben haben und wie ein Irrer am Gebiss gezerrt haben“, überlegte Ninak laut. „Wie kann man ein Tier innerhalb eines Tages so zu Grunde richten?“

Marie kraulte dem einst stolzen Hengst die Ohren. Ihn nun so müde und gebrochen zu sehen, stimmte sie mehr als traurig. „Wir bekommen dich wieder hin, Hübscher. Das verspreche ich dir.“

„Während du die Pflanze suchst, behalte ich ihn im Auge und räume unsere Sachen schon mal ins Lager. Die Truhe mit den Edelsteinen lasse ich bei Mäusefell in einer Satteltasche“, schob Ninak flüsternd hinterher. „Niemand darf sie finden.“

In diesem Moment kehrte Bilbo mit einem kleine Kochtopf zurück. „Ist der in Ordnung?“

„Der ist perfekt. Wir werden den Pflanzensud aufkochen müssen. Machst du hier ein Feuer, Bilbo?“

„Ist in Handumdrehen erledigt.“

„Danke.“ Marie übernahm Laterne und Topf und machte sich damit auf den Weg tiefer in den Wald hinein. Jeder Schritt vom Lager weg, verschaffte ihr wieder Luft zum Atmen. Allein der Gedanke, dorthin zurückkehren zu müssen, versetzte sie erneut in Panik. Um dieser keinen Raum zum Wachsen zu gaben, konzentrierte sie sich voll und ganz auf das, was sie am besten konnte.

Tatsächlich musste sie nicht lange suchen. Ihr Herz machte bei dem Anblick einen Freudensprung. Vorsichtig stellte sie die Laterne ab und ging in die Hocke. Der ganze Boden war bedeckt mit einer Pflanze, die ihre Wurzeln teppichartig ausbreitete, flauschig weiche Blätter und winzige, weiße Blüten besaß. Guldenkraut.

Mit Hilfe ihres Dolches begann sie, die nützliche Pflanze zu ernten. Für ein Pony würde eine Menge nötig sein. Sie hatte bereits einen ansehnlichen Berg im Topf zusammen, da entdeckte sie am Rande des Lichtkegels eine großgewachsene Pflanze mit langen Stielen an denen pinkfarbene Blüten thronten. „Schlafmohn…“ Sie eilte zu der Pflanze und vergewisserte sich, dass es auch wirklich Schlafmohn war. Die Pflanze stand in voller Blüte, die Kapseln waren also noch nicht reif. Sie würden noch nicht ihre volle Wirkung besitzen. Angestrengt dachte Marie nach und sah sich nach allen Seiten um, bis sich ein Schmunzeln auf ihr Gesicht stahl, als die Lösung ebenfalls direkt vor ihrer Nase wuchs. Süßmandelfarn.

In Kombination mit dem Schlafmohn wirkte das wie ein Brandbeschleuniger, als würde man Öl in ein Feuer kippen. Der Saft des Farns wird in der Heilkunst angewendet, damit der Körper besser Medizin aufnehmen konnte. Er würde helfen, den Wirkstoff des Mohns schneller vom Magen ins Blut zu tragen. Eine ordentliche Portion der gestampften Samen des Schlafmohns ergab eine ölige Masse. Schon oft hatten ihre Eltern so den ein oder anderen Patienten außer Gefecht gesetzt, wenn es notwendig gewesen war.

Marie beschäftige jedoch eine ganz andere Frage: würde der Schlafmohn bei einem Drachen dieselbe Wirkung haben? Ihr Herz stolperte, als ihre Gedanken ihren freien Lauf nahmen. Das hier war vielleicht ihre einzige Chance, Smaug irgendwie außer Gefecht zu setzen. Körperlich war sie ihm meilenweit unterlegen. Wenn er aber bewegungsunfähig und schläfrig wäre, würde das die Karten neu mischen… Doch wie sollte sie ihm den Schlaftrunk einflößen, ohne dass er Wind davon bekam?

Nach Antworten suchend schaute sie in den Nachthimmel. Sterne funkelten zwischen den Baumwipfeln zu hunderten. Sie waren klein, doch sie strahlten hell am Nachthimmel und gaben Licht, wo Dunkelheit war.

Sie und Ninak waren die Einzigen, die von dem Unglück wussten. Die Einzigen, die wussten, dass Smaugs Geist sich aus seinem Gefängnis befreien konnte und nun Thorins Körper kontrollierte. Das Schicksal von Erebor und das aller Zwergenreiche lag auf Maries Schultern und machte die Entscheidung nicht schwerer, sondern leichter.

Ja, Smaug hatte versucht, sie mundtot zu machen. Und ja, er hatte sie mit dem erpresst, was sie liebte. Aber verdammt, sie hatte nicht das ganze Risiko auf sich genommen, um dieses Monster gewinnen zu lassen.

Zwei Mal hatte sie die Liebe ihres Lebens verloren. Smaug wird sie ihr ein drittes Mal nicht nehmen.

Marie schaute über ihre Schulter, ob jemand sie beobachtete, dann begann sie so viel Schlafmohn und so viel Süßmandelfarn wie nur möglich sich unter das Kettenhemd zu stecken. Fast hätte sie die Medizin für Nachtschatten vergessen, so heftig schlug ihr Herz, angetrieben von ihrem lebensmüden Vorhaben.

Mit einem randvollen Topf kehrte sie zu den Pferden zurück. Bilbo und Ninak warteten bereits und hatten ein kleines Feuer in Gang gebracht. Zuerst zerhackten sie das Guldenkraut winzig klein, dann vermengten sie es mit ein einer kleinen Menge Wasser, sodass es zu einem Brei werden konnte, und hängten den Topf an einem kurzerhand gebauten Dreibein über das Feuer. Den warmen, unappetitlich aussehenden grünen Brei schmierte Marie auf Nachtschattens Bauch. Dank der klebrigen Eigenschaft, die das Kraut entwickelt hatte, blieb es an Ort und Stelle. Für das Pferdemaul musste eine andere Lösung her, da das Pony sich die Masse von den Lippen schlecken würde. Der Rest des Breis wurde mit mehr Wasser versetzt und nochmal übers Feuer gehangen. So wurde daraus eine grüne Suppe. Um sie abzukühlen, nahm Marie den Topf vom Feuer und stellte ihn auf dem Waldboden ab. Doch nun standen sie vor einer ganz neuen Aufgabe. Wir bekamen sie die Medizin ins Pferd?

„Wir müssen es nur einmal in ihn reinkriegen. Auskotzen kann er es nicht.“ Ninak krempelte sich schon die Ärmel hoch, da trottete Nachtschatten angelockt vom Pflanzenduft von selbst näher.

Bilbo grinste von einem Ohr zum anderen, als der Hengst begann, die Suppe zu schlürfen. „Problem gelöst.“

 

~

 

Mit dem Vorwand, sich noch ein wenig um Nachtschatten kümmern zu wollen, blieb Marie. Ninak nahm ihr das Versprechen ab, mit ihr noch über ihren eigentlichen Plan sprechen zu müssen. Erst dann wurde sie allein gelassen.

Im Schutz der Büsche und von den Ponys flankiert, lüftete die Heilerin ihr Hemd und holte alle Pflanzenstränge hervor, die sie wie ihre Augäpfel gehütet hatte. Sie musste sich beeilen, ehe die Nacht weiter voranschreitet. Sie hatte nur bis Mitternacht Zeit. Spätestens dann würde Smaug geweckt werden für die Nachtwache und dann hätte sie keine Chance mehr.

Kapsel für Kapsel schnitt sie auf einem flachen Stein auf und rollte mit einem zweiten darüber, um die Samen zu quetschen. Mit präziser Perfektion kratzte sie die Portion in ihren Wasserbeutel hinein und wiederholte das Ganze mit dem Süßmandelfarn. Das machte sie nur mit einem Viertel der Pflanzen. Die Kapseln waren noch klein. Wer weiß, ob sie überhaupt ihre ganze Kraft entfalten. Sie würde den Schlafmohn erst testen müssen.

Zufällig wusste Marie schon ganz genau, wer als ihr Versuchskaninchen herhalten musste.

 

~

 

„Bilbo.“

Der Hobbit fuhr zusammen und hätte um ein Haar den Topf geworfen. „Thorin… Bei Großvaters Tuks tauben Ohren, schleich dich doch nicht so an.“

„Der Gewohnheit geschuldet. Was…“, argwöhnisch blickte er auf den Kochtopf, den Bilbo gerade am Abwaschen war, „habt ihr so lange dort drüben gemacht?“

„Wir haben dein Pony verarztet.“ Bilbo blickte den Zwerg finster an, welcher ihn wiederum genauso anschaute. „Du solltest es besser behandeln. Du hast gar nicht gemerkt, dass es verletzt ist.“ Anstatt auf seine Vorwurf zu reagieren, blieb er unbewegt und Bilbo bemerkte, dass seine silbernen Augen neuerdings wie die einer Katze bei Dunkelheit leuchteten. Alles an diesem Kerl war einfach nur noch gruselig…

Als Thorin merkte, dass er ihm eine Antwort schuldig war, räusperte er sich als läge ihm ein Frosch im Hals. „Das werde ich.“

Über sein sonderbares Verhalten konnte Bilbo nur den Kopf schütteln. Er widmetet seine Aufmerksamkeit wieder dem Kochtopf, in der Hoffnung, dass alles, was man noch darin zubereiten würde, nicht nach Pflanzenpampe schmecken würde. Eine Frage brannte ihm allerding noch auf der Seele. „Wie bist du bloß darauf gekommen, dass Marie den Arkenstein gestohlen habe?“

„Die Beweise ließen keinen anderen Schluss zu.“

Er konnte es nicht glauben. „Thorin, du bist mein Freund. Und als dein Freund sage ich dir, dass du Marie mit dieser Aktion hättest verlieren können. Sie hat dir schon genug verziehen und ist dir trotzdem nach all dem nachgeritten. Welche Frau würde das schon tun, nachdem sie von ihrem Mann zu Unrecht eingesperrt wurde?“ Die einzige Reaktion, die er ihm damit entlockte, waren mahlende Kiefer.

Sich die Hose abklopfend stand Bilbo von dem Baumstamm auf, auf dem er gesessen hatte. „Jetzt mal ehrlich…“ Als er die Hand auf seine Schulter legte, schaute Thorin diese an, als wäre sie ein Fremdkörper, der es gewagt hatte, sich ihm zu nähern. Von seiner Ablehnung überrumpelt, zog Bilbo die Hand zurück. „Ähm… Was ich sagen wollte… Marie liebt dich wirklich. Reiß dich zusammen und zwing den Drachen nieder. Ich weiß, es ist schwer, aber du musst es für sie und für euer Kind tun. Zeig ihr, dass du dich freust, dass sie hier ist. Und sag ihr, dass es dir leid tut.“

Aus funkelnden Augen schaute Thorin ihn bewegungslos an. Der Drache war ganz nah unter seiner Haut, das konnte Bilbo am eigenen Leib spüren. Den ganzen Tag schon wirkte er, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders. Als wäre er gar nicht er selbst.

Ihre Mission durfte nicht scheitern. Thorin musste den Arkenstein wieder haben. Eher wird der Drache in ihm keine Ruhe geben und eher würde er nicht wieder zu sich selbst finden, so hoffte es Bilbo jedenfalls inständig.

„Ich weiß, dass nicht du sie verdächtigt hast. Smaug hat dir diesen Flo ins Ohr gesetzt, ist es nicht so? Die Drachenkrankheit sieht man dir deutlich an, Thorin. Du solltest dich besser hinlegen und ausruhen.“

„Ich weiß deine Sorge sehr zu schätzen.“

Seine Worte klangen hohl und irgendwie wurde Bilbo in seiner Gegenwart immer unbehaglicher. „Ich meine es ernst. Du siehst schrecklich aus.“

Ob der Rabe Bruchtal bereits erreicht hat und Gandalf über die jüngsten Vorkommnisse informiert hat? Sie hätten dem Zauberer sofort folgen sollen. Dass man mit Elronds Hilfe wenigstens irgendetwas hätte ausrichten können, da war Bilbo sich sicher. Vielleicht hätte Gandalf sogar Thranduil überzeugen können, den Arkenstein freiwillig herauszugeben. Als aber bekannt wurde, dass ausgerechnet Thranduil in den Besitz des Arkensteins gelangt war, da hätte diesen Zwerg nichts – aber auch gar nichts - auf der Welt abgehalten, den Schatz seines Landes eigenmächtig zurückzuholen. Wenn die Sonne morgen aufgehen würde, dann würden die Zwerge über Leichen gehen. Bilbo wusste noch nicht, wie er es anstellen sollte, doch er würde alles daran setzten, den Schaden so gering wie möglich zu halten.

Der Hobbit seufzte. „Glaubst du, unser Plan geht auf? Er ist doch ein wenig…riskant meiner Meinung nach.“

„Wenn du dich nach Erebor schleichen und einem Drachen seinen Schatz stehlen konntest“, ein wissendes Lächeln erschien auf Thorins Gesicht, „dann wirst du dich doch auch in ein Elbennest schleichen können und dasselbe noch einmal tun.“

„Ihr haltet etwas zu große Stücke auf mich, fürchte ich.“

„Ich denke, du irrst dich, Fassreiter.“ Nun war es Thorin selbst, der eine Hand auf Bilbos Schulter legte, etwas zu fest für dessen Geschmack. Der Hobbit wagte es nicht, sich unter den Druck, der ihm die ganze Schulter nach unten drückte, zu beschweren. „Benutz einfach deinen Zauberring, dann wird es schon klappen.“

Augenblicklich rutschte Bilbo das Herz in die Hose. In Sekunden nahm sein Gesicht die Farbe einer überreifen Tomate an und ein Gewicht wurde plötzlich in seiner rechten Hosentasche spürbar, als läge da ein Felsbrocken drinnen. Ein einziger Gedanke kreiste in seinem Kopf: Seit wann wusste er von dem Ring??

Thorin merkte, dass er etwas Falsches gesagt hatte, und legte den Kopf schief.

Sag etwas! „Ja…ja, das ist eine gute Idee. Das werde ich tun.“ Noch einmal tätschelte er ihm die Schulter und schnappte sich rasch den Topf. „Nun, dann sehen wir uns morgen Früh. Gute Nacht.“ Sein Mäuseherz schlug immer noch viel zu schnell, als er sich umdrehte und unter Thorins Blicken wegspazierte.

Woher wusste er bloß von dem Ring? Er hatte niemanden, nicht einmal Gandalf von dem Ring erzählt. Das letzte Mal hatte er ihn benutzt, als er die Schlüssel für das Verlies aus Filis Arbeitszimmer geholt hatte. Nur für ganz kurz! Wer wusste davon und hatte es ausgeplaudert? Moment mal… Wie angewurzelt blieb Bilbo stehen…und es begann erneut in seinem Kopf zu rattern. Wie hatte Thorin ihn gerade genannt?

„Fassreiter…“ Alles fiel ihm aus dem Gesicht. Nein, hier stimmte etwas ganz und gar nicht.

 

~

 

Vor einem umgestürzten Baumstamm hatte Dwalin seinen Schlafplatz bezogen. Dort hatte auch Ninak ihre eigenen und Maries Felle hingeworfen. Ihre Freundin saß an dem Stamm gelehnt und zog sich gerade die Stiefel aus, als Marie sich zu ihr setzte. Schwer wog der Wasserbeutel in ihrer Hand und die Aufgabe, die vor ihr lag.

„Meine Füße bringen mich um“, murrte Ninak und massierte ihre angeschwollenen Knöchel.

Maries Blick schweifte derweilen umher. Von hier konnte man die kleine Lichtung, auf der die Männer ihr Lager errichtet hatten, vollständig überschauen. Andersherum konnte aber auch jeder sie beobachten. Nur etwa fünfzehn Schritte entfernt war das Lagerfeuer, an dem einsam und verlassen Smaug hockte und ins Feuer starrte. Kili war auf Wachrundgang, die anderen waren nirgends zu sehen. „Wo ist Dwalin?“, fragte Marie.

„Kurz in die Büsche verschwunden.“

Ehe sie der Mut verließ, nutzte sie die erstbeste Gelegenheit, die sich ihr bot. „Hier, das hab ich für dich gemacht.“ Sie hielt ihrer Freundin den Wasserbeutel vor die Nase.

„Für mich? Was ist das?“

„Hilft gegen Schwangerschaftsbeschwerden. Ich hab auch schon davon getrunken.“ Beschämend leicht kam ihr die Lüge über die Lippen.

Ninak entkorkte den Beutel und probierte. „Schmeckt…süß. Was ist da drinnen?“, fragte sie, trank aber gleichzeitig davon. Ihr Vertrauen schmerzte.

„Das kommt vom Süßmandelfarn. Das reicht!“ Nach sorgfältig abgezählten Schlucken nahm die Heilerin ihr den Beutel rasch wieder weg. „Du solltest nicht so viel davon trinken.“ Das war zur Abwechslung mal keine Lüge. Wie ihr Heiligtum verstaute Marie ihre Geheimwaffe sicher bei sich, atmete tief durch und lehnte sich zurück. Nun hieß es warten. Aus Sorge, Ninak könnte ihre Gedanken lesen, versuchte sie nicht an ihr Vorhaben zu denken. Ein Ding der Unmöglichkeit.

„Da du jetzt hier bist“, begann Ninak im Flüsterton, „sollten wir uns so langsam den Rest deines Plans überlegen…“

„Er ist zu nah“, warnte sie mit Blick auf Smaug. „Er wird uns hören.“

„Dann gehen wir halt woanders hin.“

Marie sah Fili, wie er zwischen der Felsen, die die Lichtung zu ihrer Rechten begrenzten, seine Decke ausbreitete. Er würde dort seinen Beobachtungsposten einrichten und alles überschauen können...

Komm schon… Komm schon… Wie besessen beschwor sie die Eigenschaften der Pflanzen. Dwalin würde sicherlich jeden Moment wiederkommen. Aber anstatt Dwalin kam Bilbo auf einmal auf die beiden zu. Seine Augen waren weit aufgerissen und Marie fluchte innerlich.

„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, begrüßte Ninak ihn und gähnte zu Maries Freude herzhaft.

„Ich muss mit euch reden.“ Der Hobbit setzte sich und beugte sich verschwörerisch zu den beiden. „Mit Thorin stimmt etwas nicht…“

Marie wusste keinen anderes Ausweg als Bilbo ihren Wasserbeutel ins Gesicht zu drücken. „Hier! Trink das.“

Während Ninak verständnislos dreinschaute, nahm er den dargebotenen Beutel und stellte dieselbe Frage wie ihre Freundin zuvor: „Was ist das?“

„Koste einfach!“

Tatsächlich gönnte sich Bilbo einen großen Schluck, während Ninak immer noch dreinschaute als wären alle verrückt geworden. „Mhmm. Schmeckt… interessant. Aber ich wollte eigentlich mit euch über…“ Plötzlich klappten Bilbo die Augen zu, ehe er wie ein gefällter Baum nach vorne kippte und mit dem Gesicht nach unten einfach liegen blieb.

„Oh.“ Erstaunt schaute Marie auf ihr Wundermittel. „Das ging schnell.“

Beunruhigt beugte Ninak sich über den mittlerweile schnarchenden Hobbit und rüttelte an ihm. „Bilbo? Wasch marscht… wasch…“ Erschrocken über ihre verwaschenen Worte, fasste sie sich an den Mund. Als sie merkte, dass etwas mit ihr nicht stimmte, wurde sie panisch. „Marie? Wasch hascht du…?“

Diese fasste den immer lethargischer werdenden Körper ihrer Freundin und half ihr, sich bequem hinzulegen. Im vollen Bewusstsein, dass Fili sie wohlmöglich jetzt gerade beobachtete, drehte sie sich extra so, dass sie seinem Beobachtungsposten den Rücken zukehrte. „Ich habe Schlafmohn ins Wasser gegeben“, sprach sie ruhig auf sie ein. „Er ist harmlos, keine Sorge. Dir und deinem Baby wird nichts passieren.“ Die Zwergin kämpfte gegen die Wirkung an, doch ihr fielen immer mehr die Augen zu.

„Verzieh mir.“ Es war ein Abschied und gleichzeitig ein Versprechen, als sie sich über ihre Freundin beugte und einen Kuss auf ihrer Wange hinterließ. „Danke, dass du an meiner Seite warst. Das hier muss ich allein machen.“

Ninak schlummerte dahin und bekam von ihr noch eine Decke übergelegt. Auch Bilbo drehte und deckte sie zu, bevor sie das dünne Seil nahm, welches sie aus Erebor mitgebracht hatten, und es sich wie zuvor die Pflanzenstränge unter die Kleidung schob. Das Schlafmittel hat exzellent gewirkt. Um aber für einen Drachen auf Nummer sicher zu gehen, wollte Marie auch den Rest der Mohnsamen ins Wasser mischen. Dafür holte sie aus ihrer Hosentasche ein kleines Packet aus zusammengefalteten Blättern hervor. Verborgen vor fremden Blicken präparierte sie so ihren Wasserbeutel neu und füllte ihn zu guter Letzt mit Ninaks Wasservorrat wieder voll auf.

Sie war gerade dabei, alles gut durchzuschütteln, da kehrte Dwalin zurück. Marie sprang auf und ging ihm entgegen.

„Ninak ist ziemlich erschöpft. Sie wollte es nicht zeigen, aber ich habe gesehen, wie sehr sie der Ritt angestrengt hat.“ Zielsicher traf sie Dwalins Vaterinstinkte. „Könntest du ein Auge auf sie haben? Ich mache mir etwas Sorgen um sie und das Baby.“ Es funktionierte. Dwalin versprach sofort, ein Auge auf sie zu haben und machte es sich neben seiner schlafenden Frau bequem, sehr zufrieden mit seiner Aufgabe, so ein paar ruhige Stunden zu haben.

Zwei ausgeschaltet. Dwalin beschäftigt. Kili auf Patrouille. Blieb noch einer.

Doch ehe Marie zu Fili hinübergehen konnte, kam dieser von selbst auf sie zu. Auf halben Wege trafen sie sich und der Prinz führte sie ein wenig abseits des Feuerscheins in den Schatten, um mit ihr unter vier Augen zu sprechen.

„Die anderen haben sich schon hingelegt?“

„Ja. Ich wünschte, ich würde einfach so schlafen können. Bin noch ziemlich aufgekratzt vom Tag.“ Auch das war keine Lüge.

Fili schenkte ihr ein aufbauendes Lächeln. „Wie geht es euch beiden?“ Er warf dem noch unscheinbaren Bauch seiner Tante einen Blick zu. Dieser brach der Schweiß aus. Er durfte sie nicht anfassen, sonst würde er das Seil spüren, was sie mit sich schmuggelte.

„Die Ereignisse haben sich die letzten zwei Tage überschlagen, was noch milde ausgedrückt ist. Ich fühle mich ziemlich überfordert mit allem.“ Es tat gut, sich ihm zu offenbaren, doch dumme Tränen brannten bei den Worten in ihren Augen, die Marie energisch wegzublinzeln versuchte. „Ich habe Angst, Fili, ganz schreckliche Angst...“ Augenblicklich fassten seine Hände ihre und gaben ihr Halt.

„Wenn es jemand schafft, ihn wieder zurückzuholen, dann bist du es. Er ist wie ausgewechselt. Ich erkenne ihn nicht mehr wieder.“

Da Marie wusste, dieses Gespräch nicht einfach abwürgen zu können, ging sie zur Offensive über. „Erzähl mir von eurem Tag. Was hat Thorin angestellt?“ Sorgenfalten erschienen auf seiner Stirn und Marie ahnte, dass Smaug sich vielleicht etwas zu viel zugemutet hatte, in die Rolle eine Zwergenkriegers zu schlüpfen.

„Es fing ja schon beim Treffen an. Erst kam er viel zu spät, dann vergisst er auch noch die Hälfte. Du hättest ihn sehen sollen, wie er auf sein Pferd geklettert ist. Wegen ihm sind wir kaum vorangekommen. Er benimmt sich so komisch, als würde er alles zum ersten Mal tun… als kennt er nicht einmal seine Arme und Beine, die ihm angewachsen sind. Ich verstehe das nicht.“ Fili raufte sich die blonden Haare und seine Verwirrung war komplett. „Ständig verwechselt er mich mit Kili, er kann uns nicht auseinanderhalten. Es ist wie verhext.

„Ich werde mal mit ihm reden.“ Ihr Verstand zwang ihren Mund zu diesen Worten, während alle Überlebensinstinkte Alarm schlugen. Über ihren lebensmüden Vorschlag wirkte Fili erleichtert.

„Tu das. Ich hoffe, er kriegt sich wieder ein, jetzt wo du da bist. Wenn etwas ist, schrei einfach. Ich bin gleich da drüben.“ Er sagte es leichtfertig und wusste nicht, wie sehr er damit ins Schwarze traf.

„Das werde ich“, versprach sie und ließ ihn gehen, um seinen Posten für die Nacht zu beziehen. Für Marie war nun der Augenblick gekommen, jegliche Register zu ziehen und alle Warnungen in den Wind zu schießen.

Nach wie vor saß Smaug am Feuer, es war der perfekte Moment und doch war es die größte Herausforderung in ihrem ganzen Leben. Fili hatte sie im Blick, er würde zuschauen, was bedeutetet, dass sie sich so benehmen mussten, dass er keinen Verdacht schöpfte. Als würde das in irgendeiner Weise helfen…

Smaug blickte auf, als er ihr Näherkommen bemerkt, und ein selbstgefälliges Grinsen erschien auf den Lippen, dessen Geschmack und Form sie hunderte Male gekostet hatte. Marie setzte sich neben ihn und schwieg. Er wendete den Blick ab und richtete sein Augenmerk zurück in das Feuer, sein Element. Was er dort sah, wusste nur er.

Die Unbehaglichkeit legte sich wie ein Mantel um ihren Körper und schien sie erdrücken zu wollen. Ehe er ihr zuvor kam, ergriff sie als Erste das Wort. „Wir werden beobachtet, also spar dir deinen Kommentar, Schlage. Spiel einfach dein Spiel.“

Ein bösartiges Schmunzeln hob Thorins Mundwinkel. Wenn sie dazu im Stande gewesen wäre, hätte sie es am liebsten aus ihm rausgeprügelt. „Ich dachte, ich hätte mich deutlich ausgedrückt?“

Seine Stimme, so nah neben sich zu hören, beschwur Erinnerungen an die letzte Nacht herauf, die sie eigentlich in den dunkelsten Winkel ihrer Seele verbannt hatte. Sie beobachtete, wie er mit einem Stock träge in der Glut herumstocherte, und rechnete bereits damit, die glühende Spitze auf der Haut zu spüren.

„Ich hoffe, du hast dich ein letzten Mal von deinen Liebsten verabschiedet, denn sie werden den Sonnenaufgang nicht mehr erleben. Du hast ihr Urteil gesprochen, in dem Moment, als du unsere Abmachung gebrochen hast.“

Marie musste sich beherrschen, ruhig zu bleiben. Ihre Hände krampften um die Kordel des Wasserbeutels. „Ich habe mich an unsere Abmachung gehalten.“

„Ist das so? Wieso weiß dann deine nervige Freundin von mir?“

Ihr Herzschlag verdoppelte sich, was anatomisch unmöglich war. „Du irrst dich. Ninak weiß von Nichts.“

Smaug schien ihr das allerdings nicht abzukaufen und wandte sich ihr direkt zu. Die Nähe zu Thorins geraubtem Körper war kaum zu Ertragen. „Ich konnte ihre Angst riechen“, knurrte er ihr ins Gesicht und Marie gab genauso zurück: „Ninak hat vor nichts und niemandem Angst. Nicht einmal vor dir.“

„Jeder hat Angst vor mir. Ich bin der Tod.“

„Deine Selbstverliebtheit ist heute besonders unerträglich.“ Der Aufschrie blieb ihr im Hals stecken, als er blitzschnell seine Hand ausstreckte und sie an eben diesen legte. Das Zittern ihres Körpers konnte sie nicht verstecken, als sein Finger über die empfindlichste Stelle ihrer Kehle glitt und dort verweilte.

„Dein Puls rast wie der eines Kaninchens. Dein Atem geht flach. Deine Pupillen sind geweitet. Dein Herz schlägt schnell, ich höre es… Du fürchtest dich, aber dennoch sitzt du hier.“ Seine Finger glitten zu ihrem Genick und griffen in ihr Haar. Marie zeigte keine Regung und war gezwungen, sich zu ihm zu lehnen. Sein Atem streifte ihre Haut. „Sag mir wieso?“

Für Außenstehende mochte es wie innige Zweisamkeit ausschauen, ihre leisen Worte vom Prasseln des Feuers gedämpft – in Wahrheit war es ein Martyrium. Marie starrte in das Gesicht, in das sie sich einst verliebte, und sah ein Monster.

„Wir sind verlobt, hast du das vergessen? Die anderen erwarten von uns, dass wir uns annähernd auch so verhalten. Sie erwarten von mir, dass ich versuche, dir zu helfen. Ich spiele nur dein dämliches Spiel.“

„Wie rührend. Und was hast du in Wahrheit vor?“

„Dich aufhalten.“ Er ließ sie los und Marie musste sich fangen. Ihr Herz drohte, jeden Moment aus ihren Rippen zu brechen. Bewegungslos kauerte sie neben ihm und atmete für ihr ungeborenes Kind konzentriert ein und aus. Hatte Fili etwas bemerkt? Würde er Verdacht schöpfen? Sie hatten leise gesprochen, Marie hoffte inständig, dass der Feuerschein und die Nacht ihre Konturen verwaschen wurden und merkte nicht, wie ihr jemand Unerwartetes zur Hilfe kam.

Erst als Smaug ebenso angestrengt atmete wie sie, wurde sie auf die Veränderung aufmerksam. Mit einem Mal wirkte auch er erschöpft, presste die Hand auf seinen Brustkorb und kämpfte gegen etwas an, was tief aus seinem Inneren zu kommen schien.

Thorin… Marie spürte es von den Zehen bis in ihre Haarspitzen, dass er es war. Thorins Seele bäumte sich gegen die Übermacht in seinem Körper auf. Er war immer noch irgendwo dort und kämpfte. Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie entkorkte ihren Wasserbeutel und legte ihn an ihre Lippen, welche jedoch fest zugepresst waren. Mit all ihrem schauspielerischen Talent täuschte sie vor, Erfrischung von einem kühlen Wasser zu bekommen, während Smaug neben ihr vor Anstrengung keuchte. Er sah ihr dabei zu und Marie konnte förmlich sehen, wie ihm die Spucke im Mund zusammenlief.

„Thorin macht dir die Sache nicht so einfach, habe ich recht?“ Er antwortete nicht und gab ihr dadurch die Bestätigung. Smaug wischte über seine Augen, als sähe er doppelt. Dann kniff er sie zusammen, als wollte er etwas zerquetschten. „Dachtest du wirklich, du schlüpfst in seinen Körper, ohne dass die anderen merken, dass etwas nicht mit dir stimmt? Du hast völlig die Realität verloren.“

Der Stock, mit dem er eben noch in der Glut gespielt hatte, zerbrach in seiner Faust. Er warf die zwei Hälften ins Feuer und fuhr zu ihr herum. „Gib mir das Wasser!“

„Das ist meins…“ Er riss ihr den Beutel aus den Händen und Marie ließ ihn gewährend. Mit einem Funkeln in den Augen sah sie ihm dabei zu, wie er den Korken aufriss. Etwas vom Wasser schwappte heraus, doch es war egal, denn er schüttete sich den Schlaftrunk hinein, als ob er halb verdurstet wäre. Die Flüssigkeit rann ihm durch den Bart, so gierig war er. Maries Körper sackte in sich zusammen. Sie schloss die Augen und triumphierte innerlich.

„Du hast einen entscheidenden Fehler gemacht.“ Als der letzte Tropfen getrunken war, stand sie auf und blickte auf Smaug herab.

Voller Hass war dieser genötigt, zu ihr aufzublicken. „Und der wäre?“

„Du hättest mich töten sollen, als du die Chance dazu hattest“, flüsterte sie und ging.

 


36

 

 

Bereits auf eine längere Wartezeit eingestellt, hatte sie es sich gerade auf ihrem Fell bequem gemacht, da kam Smaug wie ein Tier, dass gegen die Schlachtbank ankämpfte, auf die Beine. Unsicheren Schrittes verließ er die Lichtung und wurde von der Nacht verschluckt.

Marie überlegte keine Sekunde und griff nach der Laterne. Gerade war sie am Lagerfeuer vorbei, da durchbrach ein Räuspern die Stille und eine Bewegung erhaschte sie auf den Felsen. Ihr Vorhaben blieb von der Nachtwache nicht unbemerkt. Fieberhaft suchte sie nach einer Notlüge. Doch die war zu ihrer Überraschung gar nicht nötig.

„Geh nur“, raunte Fili. „Aber seid um Mitternacht wieder hier.“

Die Schamesröte schoss ihr ins Gesicht, als sie realisierte, dass Fili an etwas ganz anderes dachten musste, was sein Onkel und seine Tante mitten in der Nacht vorhatten. Nur allzu gern ließ sie ihn in der Annahme und beeilte sich, so schnell wie möglich der unangenehmen Situation zu fliehen. Die Laterne fest umklammert folgte sie Smaug mit der Gewissheit, ab jetzt ganz auf sich allein gestellt zu sein.

 

Die Dunkelheit war undurchdringlich. Der Docht hinter den kleinen Glasscheiben vermochte nur wenig Sicht geben. Marie lief und lief, schaute links und rechts, versuchte abzuschätzen, in welche Richtung er gegangen war. Es war absolut windstill. Sie hörte nur ihr Auftreten, ihren Pulsschlag, ihren Atem. Ruhig und gleichmäßig versuchte sie ihn zu halten. Sie musste aufpassen, wohin sie trat. Mit einem Mal fuhr sie herum, doch niemand war hinter ihr. Schatten spielten ihr böse Streiche.

Thorin, wo bist du? Hilf mir, dich zu finden. Etwas anderes als weiterzugehen, blieb ihr nicht übrig. Sie musste Smaug finden, ohne dass er sie zuerst fand. Wie weit war Mitternacht entfernt? Wie lange würde es dauern, bis er schlief? Wie tief würde er schlafen und für wie lange konnte sie sich in Sicherheit wiegen? Eine Wurzel brachte sie beinahe zu Fall. Die Heilerin verharrte an Ort und Stelle, leuchtete die Umgebung ab und versuchte etwas zu erkennen, die Nacht aber war eine tiefschwarze Suppe.

Wie weit hatte er es geschafft, sich vom Lager zu entfernen? War sie gar an ihm vorbeigelaufen?

Gerade als sie überlegte, eine andere Richtung einzuschlagen, fing ihr linkes Ohr ein Geräusch ein. Konzentriert lauschte sie und bildete sich ein, Holz in der Ferne brechen gehört zu haben. Mit klopfendem Herzen bewegte sie sich vorsichtig in genau diese Richtung, während all ihre Instinkte zum Überleben Alarm schlugen.

Ob sie wahnsinnig geworden war? Für das hier musste man es sein.

An schlummernden Baumriesen irrte sie vorbei, kletterte über Wurzeln, die wie Arme eines Kraken die Erde würgten, als plötzlich der Waldboden steil abfiel. Eine Böschung lag direkt vor ihr und im Schein der Lampe sah sie ihn.

Der frisch abgebrochene Böschungsrand offenbarte ihr, dass er hier hinabgeschlittert sein musste. Dort unten lag Smaug und schlief.

Entlang der Abbruchkante suchte Marie einen sicheren Weg für sich und ihr Baby hinunter. So leise wie sie dazu imstand war kletterte sie hinab, die freie Hand immer auf ihren Bauch gelegt, und bewegte sich langsam auf Smaug zu. Je näher sie kam, desto lauter wurde sein Schnarchen. Die Augen geschlossen lag er auf dem Rücken und Marie hoffte, dass Thorins Körper den kleinen Rutsch unbeschadet überstanden hatte. Überzeugen konnte sie sich davon nicht, sondern machte sich sogleich ans Werk. Zuallererst musste sie sich aber davon überzeugen, dass Smaug auch wirklich schlief. Beim Pieken mit einem Ast zeigte er keinerlei Reaktion. Dasselbe galt für einen mutigeren Stoß gegen seinen Fuß. Die Tatsache, dass ihr Schlafmittel tatsächlich einen Drachengeist besiegt hatte, machte sie insgeheim ein klein wenig stolz. An Triumph war nicht zu denken.

Marie hängte die Lampe an einen nahen Ast und zog das Seil hervor. Überall standen junge Sprösslinge. Marie wollte die dünnen Stämme nutzen und Smaug daran festbinden. Mit ihrem Dolch schnitt sie deshalb vom Seil ein ausreichend langes Stück ab. Die schwere Rüste unter ihrem Hemd, die sommerlich milde Nacht und die Angst vor seinem Erwachen trieben ihr den Schweiß auf die Stirn, als sie seine Füße dahin schob, wo sie sie haben wollte. Jedes noch so kleine Geräusch ließ sie paranoid damit rechnen, ihn aufzuwecken. Sorgfältig wickelte sie das Stück Seil straff um Thorins Stiefel, so dass er die Beine weder auseinander machen noch laufen konnte. Plötzlich verstummte sein Schnarchen und Marie hielt den Atem an. Smaug jedoch rollte sich nur auf die Seite und schlief einfach weiter. Einatmen, ausatmen - zwei Sekunden des Innehaltens.

Rasch wickelte sie das Seil mehrmals abwechselnd um seine Beine und um den nahen Baum, bis sie sicher war, dass er bewegungsunfähig war. Nun kam die andere, sehr viel schwierigere Körperhälfte und ohne, dass sie es verhindern konnte, schlugen Thorins Gesichtszüge sie genauso wie damals auf der Kräuterlichtung in ihren Bann. Der Anblick lullte sie ein, entführte ihre Gedanken in eine andere Zeit, an einen anderen Ort und ließen sie die Gefahr für einen Augenblick lang vergessen.

Sie kannte seine Stimme; mal war sie laut und tief, dass es in ihrem Brustkorb vibrierte, und mal waren es leise, geflüsterte Worte für die Seele. Sie kannte die verschiedenen Ausdrücke seiner Augen, hatte mit ihm Freude genau wie Leid erlebt. Ein Grau wie eine stürmische See war ihre Farbe. Sie hatte ihn wiedergefunden, verloren und vom Schicksal zurückbekommen.

Zartblass zeichnete sich die Narbe auf seiner rechten Gesichtshälfte ab, derer Entstehung sie nicht kannte. Auf der anderen Wange lag das Hämatom, was der vergoldete Kronleuchter hinterlassen hatte. Marie war ihrem totgeglaubtem Krieger so nah, dass sie jedes Barthaar erkennen konnte. So nah… und doch so fern.

Thorins dunkle Wimpern zuckten im Schlaf. Ob er spürte, dass sie da war? Es musste so sein.

Der Wunsch, ihn zu berühren, wurde unbesiegbar. Ganz leicht strich sie dem König Erebors über die Wange. Eine winzige Berührung – mehr erlaubte sie sich nicht.

Glücklicherweise lagen seine Hände recht nah beieinander. Der Baum, an den sie ihn binden wollte, stand jedoch so, dass sie ihm die Arme über den Kopf ziehen musste, um dranzukommen. Das Seilende zu einer Schlaufe gebunden, die sich von alleine zuziehen konnte, schob Marie diese über seine Hände. Mittlerweile war sie am ganzen Körper durchgeschwitzt. Das Schwerste kam allerdings erst noch. Die Gedanken daran, ließ sie vor Nervosität zittern, während ihre Finger jedoch wie bei einer schwierigen Operation völlig ruhig waren. Zur Sicherheit und um beide Hände frei zu haben steckte sie ihren Dolch neben ihm, in greifbarer Nähe in die Erde. Dann warf sie das Seil um den Baumstamm, schnappte sich das Ende und zog. Die Schlaufe wurde eng und streckte seine Arme. Smaug regte sich und am Zug des Seils erkannte Marie mit Schrecken, dass er dagegen drückte. Unablässig zog sie weiter und entlockte ihm ein Brummen. Sein Unterbewusstsein kämpfte gegen die Wirkung des Schlafmohns an und Marie hatte Mühe, seine schweren Arme über seinen Kopf zu bekommen. Verdammter Scheißdreck!

Ein Knoten um den Stamm, der ihr mit einem Mal recht dünn vorkam, wollte ihr nicht gelingen, weil Smaug nun immer stärker zog. Ein anderer Stamm war nicht in Reichweite. „Komm schon…. Komm schon…“ Als sich seine Augen schläfrig öffneten, entschloss Marie, alles auf eine Karte zu setzen. Ruckartig wurden seine Arme gestreckt, als sie sich mit ihrem ganzen Gewicht ins Seil hängte und ihn so auf dem Waldboden festnagelte…bis ein Ruf durch den nächtlichen Wald schallt und Smaug die Augen aufreißen ließ.

„MARIE!!“

Vor Schreck rutschte Marie das Seilende durch die Finger, es wickelte sich vom Stamm ab, als Smaug sich aufzurappeln versuchte. Sie erwischte es gerade noch rechtzeitig und tat das Einzige, was ihr einfiel: mit dem Seil in ihren Händen warf sie sich auf Smaugs Körper. Der Aufprall drückte ihr die Luft ab, doch es gab keine Sekunde, um zu überlegen. Smaug schaffte es, seinen Kopf zu heben. Er schnappte zu wie eine Schlange, Marie zuckte zurück und verlor beinahe das Gleichgewicht auf dem sich windenden Körper. Tollkühn hing sie an dem Seil, das ab sofort ihr Leben bestimmte und versuchte, wie durch ein Wunder so schwer wie es nur ging zu werden.

DU HEXE!! Was hast du mit mir gemacht?!“ Zügellose Wut und Unglaube standen ihm ins Gesicht geschrieben.

„Marie, wo bist du?!“, schallten die Rufe.

Der Schrei nach Hilfe steckte in ihrem Hals fest. Mit Müh und Not schaffte sie es, sich rittlings auf ihn zu setzen. Wie ein bockendes Pferd drückte er seine Hüfte empor, um sie irgendwie abzuschütteln… Dann entdeckte er den Dolch, Zentimeter neben seinem Kopf.

Er zog an seiner Fessel und Marie, die das Seilende inzwischen um ihre Fast gewickelt hatte, schrie war Schmerz auf. Er kugelte ihr beinahe die Schulter aus. Mit der freien Hand griff sie nach der Waffe und ehe sie wusste, was sie tat, lag die Klinge an Thorins Hals. Blankes Grauen wallte durch die Heilerin, als sie realisierte, was sie da gerate im Stande war, zu tun.

Das kalte Metall spürend verharrte Smaug bewegungslos. Ein irres Lächeln sich auf dem geraubten Gesicht ausbreitete und es zu einer hässlichen, von Hass entstellten Fratze verwandelte. Schluss mit der geheuchelten Höflichkeit.

Wenn ich mit dir fertig bin, wird dein Zwerg dich nicht mehr erkennen. Ich reiße dir die Haut vom lebendigen Leibe…“ Smaug bleckte die Zähne und drückte seinen Hals gegen die Klinge. Blut trat aus dem Schnitt hervor, den er sich selbst zufügte.

Ihre Hand bebte, als sie die Wunde sah. Der Wille zum Überleben übernahm die Kontrolle über all ihr Handeln, obwohl sie sich mit aller Macht dagegen sträubte, fester zuzudrücken. Smaug tat alles, um sie loszuwerden. Er biss, versuchte die Hände aus der Schlinge zu winden und zappelte. Seine Beine rieben unablässig aneinander, um die Fesseln zu lösen. Er hatte ein Loch durch ihre Schlafzimmertür geschlagen. Wie lange ihr Knoten noch halten würde, war leicht zu erraten. Mittlerweile war Marie am Ende ihrer Kräfte angekommen. Es war nur noch ein Ringen gegen den Tod.

„Wenn du mir helfen kannst, Thorin, dann ist jetzt der richtige Augenblick gekommen!“

Dein Zwerg wird dir nicht helfen können… Du bist so gut wie tot.“

Nicht loslassen! Nur nicht loslassen!

Marie schrie ihre Verzweiflung heraus. Das zum Zerreißen gespannte Seil schnitt ihr unerbittlich ins Fleisch, doch ihre Faust blieb zu. Die Schlinge würde er mühelos öffnen können, wenn sie losließ, und dann war alles aus.

Du bist Nichtsss ohne deinen tollen Beschützer.“ Sein Spott war ein Tritt gegen ihr geflicktes Herz, das bereits am Boden lag. Wenn er schon nicht an sie herankam, so versuchte er sie mit Worten zu zerstören. Marie konnte die Tränen der Erschöpfung und der Angst nicht mehr zurückhalten.

Smaug drückte gegen die Klinge und ein Rinnsal von Blut sammelte sich bereits in der Grube seiner Kehle. „Dieses Mal kann er dir nicht helfen…“, flüsterte er, sich an ihrer Verzweiflung ergötzend. „Er wird zusehen müssen, wie ich dich zerquetsche und die Missgeburt dir aus dem Leib reiße.“

Ihre Finger griffen die Waffe fester, doch die Klinge blieb, wo sie war. „Thorin, zwinge mich nicht dazu… Ich flehe dich an…“

Wem spielst du hier etwas vor? Ich habe es selbst gesehen. Du kannst esss nicht tun… Du kannsssst ihn nicht loslassen.“

Durch Tränen hindurch sah Bewegungen zwischen den Bäumen. Da waren Lichter. Fackeln.

Jemand rief ihren Namen und sie schluchzte auf, als sie die Stimmen erkannte. Ihre Schreie hatten sie zu sie geführt.

Marie sah Dwalin auf sie zu stürmen, Ninak dicht hinter ihm. Mit langen Schritten überholte Fili seinen Ziehonkel. Blanke Furcht in seinem Gesicht… und ein gezücktes Messer in der Hand. Etwas Seltsames geschah in diesen Moment.

Die Ereignisse spielte sich vor ihren Augen ab, als hätte eine höhere Macht alles in unendlicher Langsamkeit getaucht. Gleich würden die anderen bei ihr sein und ihr zu Hilfe kommen, doch die letzten Meter schienen Meilen zu sein.

Dwalin schwenkte seine Axt über seinem Kopf und schrie: „ERSCHIESS IHN!! KILI, ERSCHIESS IHN!!“

Eine eiskalte Hand griff nach dem Rest ihres Herzens und ließ die Schläge verstummen. Marie drehte sich in die andere Richtung. Oben auf der Böschung stand Bilbo, die Hände über den Kopf zusammengeschlagen. Und neben ihm… Neben ihm stand Kili.

Mit einen zum Schuss gespannten Bogen.

Da realisierte sie es… Thorins letzte Bitte an seine Familie. Sie waren gekommen, um ihre Schwüre einzulösen.

Kilis Rufe drangen durch das Chaos ihrer Gedanken: „GEH WEG! MARIE, WEG VON IHM!!“, und eine eigenartige Stille senkte sich über sie.

Marie blickte auf Smaug herab. Ihr Dolch schnitt in seinen Hals. Überall war Blut.

„MARIE, VERDAMMT!! GEH WEG VON IHM!!“

Wenn sie es tat, würde Kilis Pfeil sein Ziel treffen. Wenn sie ihn losließ, würde Smaug sich freikämpfen, nur um dann von den Männern getötet zu werden. Wie sie die Dinge auch drehte und wendete… Es war besiegelt.

Thorins letzter Wunsch würde heute, hier und jetzt in Erfüllung gehen.

Um ihn besiegen zu können, musste sie Smaug seinen Wirt nehmen. Sie musste es tun, um Erebor und alle Zwergenreiche von diesem Monster zu retten.

„Du wolltest, dass ich es dir schwöre.“ Tränen rannten über ihr Gesicht, als sie durch silbern glühende Augen bis in Thorins Seele schauen konnte. Er war da. Er sah sie. Und er war stolz auf sie.

„Damals konnte ich dich nicht verstehen…“ Die Klinge verschwand von seinem Hals, als Marie die Hand hob. „Heute verstehe ich es.“

Plötzlich ahnte Smaug, was sie vorhatte. Ungläubig starrte er zu ihr hinauf. „Nein… NEIN!“

„Ich liebe dich…“, es waren ihre letzten Worte. Marie ließ das Seil von ihrer Faust schnellen. Gleichzeitig packte sie den Dolch mit beiden Händen und rammte die Klinge senkrecht nach unten. Ihr Schrei war das Letzte, was sie hörte, bevor das Inferno losbrach.

 


37

 

 

Von der Intensität der freigelassenen Kraft wurde sie zurückgeschleudert. Eine Feuerbrunst schlug über ihr zusammen.

„RUNTER!“ Dwalin warf Ninak zu Boden und legte seinen Körper schützend über den ihren, während Fili sich mit einem Sprung in Sicherheit brachte.

Am Waldboden zusammengekauert rechnete Marie jeden Moment damit, zu verbrennen. Unerträgliche Hitze drückte auf ihren Körper, doch nichts dergleichen geschah. Als das Feuer abflaute, hob sie den Kopf und konnte nicht glauben, was sie sah. Flammen rasten unsichtbare Linien entlang. Ein Eigenleben entwickelnd erschufen sie schließlich einen Drachen. Sein riesiger Körper entwurzelte jahrhundertealte Bäume und setzte mit dem Schlagen seines Schwanzes den Wald in Vollbrand. Smaugs Geist hatte seinen Wirt verlassen.

Eingehüllt vom Funkenregen kämpfte sich Marie auf die Beine und ein dornenbewerter Schädel aus Flammen sank zu ihr herab. In den leeren Höhlen loderte Hass und Rachsucht, als der Drache sich auf sie stützte. Die aus seinem Maul schlagenden Flammen wurden jedoch plötzlich überblendet von einem anderen, sehr viel hellerem Licht. Es entstand direkt zwischen ihnen und ließ den Drachen zurückweichen. Etwas zog an ihrem Hals. Marie musste die Augen zusammenkneifen, doch sie erkannte die Lyrif-Kette, die vor ihr wie von Geisterhand in der Luft schwebte. Bei allen Göttern dieser Welt… Was passierte hier?

Smaugs Flammen versuchten, durch das Licht zu stoßen, was wie ein Schutzschild Marie umschloss. Auch als das Feuer sie einhüllte, konnte es ihr nichts anhaben. Die Macht der Lyrif-Kette beschützte sie. Blätter, Rauch und glühende Holzstücke wirbelten als tödliche Geschosse um sie herum, das Licht aber blieb. Immer heftiger schickte Smaug seine Flammen, um sie zu vernichten. Der erstickte Schrei des Drachen durchbrach das Tosen, als er sah, dass sein Feuer wirkungslos war. Ohne seinen Wirt war Smaug Nichts.

Das Licht der Lyrif-Kette war nicht zu brechen.

Als seine Flammen mehr und mehr erkalteten, schrie Smaugs Geist in seinem Todeskampf, dass die Erde erzitterte. Vor ihren Augen verschwanden seine Umrisse bis winzige Funken das Einzige waren, was von diesem Monster übrig blieben. Sie wurden in den Nachthimmel empor getragen, wo sie verglühten.

Als das Licht der Kette sich zurückzog, gab es einen Krater frei, der von der Explosion übrig geblieben war. Marie schrie innerlich auf, als sie Thorins reglosen Körper sah. Durch dichten Rauch und über Feuer stolpernd bahnte sie sich einen Weg zu ihm. Sie rutschte in den Krater, fiel neben den leblosen Körper und strich über sein aschebedecktes Gesicht. „Thorin…“ Das Geschehen brach über sie herein und die Gefühle drohten sie zu zerreißen. „Liebling…schau mich an...“ Als sie das Blut bemerkte, presste sie die bloße Hand auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen. „Mach die Augen auf! Tu mir das nicht an!“ Der Grünwald stand in Flammen. Brennende Äste fielen zu Boden, Bäume brachen krachend zusammen und Marie hockte in diesem Erdloch, presste das Ohr auf seine Brust und hielt den Atem an… Bis das Pochen seines Herzschlags ihr alles zurück gab, was sie geglaubt hatte, für immer verloren zu haben.

Tröstend strich jemand über ihr Haar und ließ Tränen des Glücks über ihr Gesicht rollen. Marie hob den Kopf und blickte in sturmgraue Augen, die Wärme und Liebe in sich trugen.

„Hey…“, flüsterte Thorin und ein müdes Lächeln hob seinen Mundwinkel.

Weinend und lächelnd zugleich antwortete sie ihm. „Hey…“

Thorins Mimik wurde zu Stein. Voller Sorge legte er die Hand auf ihren Bauch. „Das Baby…“

Dass seine ersten Gedanken ihrer Tochter galten, ließ Marie nur noch mehr weinen. „Uns geht es gut… Alles ist gut…“

Erleichterung strömte sichtlich durch ihn hindurch. „Ich dachte…“, die Stimme drohte ihm zu versagen. „Marie, ich… es tut mir so leid…“

„Nein, nicht sprechen.“ Sie presste die Hand fest auf seinen Hals. „Beweg dich nicht. Es ist vorbei. Wir haben es geschafft.“ Erschöpft, aber unendlich dankbar sank ihre Stirn gegen die seine. Thorin legte die Arme um sie und Marie schmiegte sich an ihren Mann, während Flammen und Funkenstürme über sie hinweg flogen.

Lichterloh brannte der Grünwald, doch das war ihnen egal. Alles, was wichtig war und Bedeutung hatte, was hier an diesem Fleckchen Erde. Da war ein Licht in ihren Herzen, das heller strahlte als die Dunkelheit.

„ONKEL!“

Marie drehte sich um und erneut kamen ihr die Tränen, als sie die Jungs zu ihnen klettern sah. Außer Atem ließ sich Fili zu ihnen fallen. „Wie konntest du nur ganz allein…?“ Er riss seine Tante in eine verzweifelte Umarmung, ungläubig sie noch in einem Stück vorzufinden.

Seinen Bogen, mit dem er soeben noch seinen Onkel hätte töten wollen, warf Kili in den Dreck. „Es mir leid… Es tut mir so leid…“, flüsterte er immer wieder und presste sich an seinen Onkel.

„Kili…“ Es war das Einzige, was Thorin sagen konnte. Er nahm seine Jungs und Marie in den Arm und hatte keine Worte für das, was geschehen war.

Auf dem Erdkrater standen Bilbo, Dwalin und Ninak und blickten auf die wiedervereinte Familie, während Flammen vor dem Nachthimmel emporstiegen. Niemand sprach ein Wort. Niemand konnte begreifen, was geschehen war.

Niemand hatte Zeit dazu, denn Dwalin drehte sich auf einmal um und auf seinem Gesicht erschien tiefgründige Abneigung. „Na super.“

„Keine Bewegung!“ Große, schlanke Gestalten sprangen aus dem Rauch. Die Gefährten waren augenblicklich umzingelt von einer Schaar Elben, die mit schussbereiten Bögen auf sie zielten. Fili fluchte derbe, als man ihn als Erster auf die Beine zog.

„Fass mich nicht an, Spitzohr!“ Ninak wehrte sich, doch es waren einfach zu viele.

„Was habt ihr mit unserem Wald gemacht?!“ Der Rädelsführer packte Kili am Kragen und bekam von diesem einen Faustschlag als Antwort. Sofort lag er gefesselt am Boden.

„Holt Wasser! WASSER!!“

Marie beugte sich schützend über Thorin, bis ein Elb sie grob am Arm packte und von ihm wegzog. „Lass mich los! Er ist verletzt, lasst mich bei ihm bleiben! NEIN!!“ Sie schrie sich die Seele aus dem Leib, ohne Wirkung.

„Lasst die Frauen los! Fasst sie nicht an!“ Dwalin musste von vier Elben zu Boden gerungen werden.

Wie eine Wildkatze schlug Marie um sich. Sie musste zu Thorin. Die elbischen Krieger zogen ihn hoch, doch er konnte sich nicht auf den Beinen halten. Das Blut lief ihm über die Kleidung. Sie werden ihn umbringen..., war ihr letzter Gedanke, bevor sie das Bewusstsein verlor.

 

~

 

„Lass die Auge zu, coin mel. Ich weiß, dass du wach bist. Sie haben uns mitgenommen. Beweg dich nicht. Verhalte dich ruhig.“ Wie ein leiser Sprechgesang wiederholte Ninak die Worte wieder und wieder. Jedes einzelne wisperte Thorin mit, als könnte er sie dadurch Marie einverleiben. Außerdem half es, auf den Beinen zu bleiben und nicht durchzudrehen.

Unbewegt lag sein Blick auf ihrer kleinen Gestalt. Zwar war ihr Kopf auf Ninaks Schoß gebettet, doch er würde sie viel lieber auf Händen tragen. Nur war ihm das leider aus aktuellen Gründen nicht möglich.

Die Fesseln, mit der ihm die Hände auf den Rücken und schließlich an Ringen in der Wand gebunden waren, scheuerten erbärmlich. Neben ihm standen genauso angebunden wie er die anderen. Dwalin zog ein Gesicht wie vier Wochen Dauerregen. Sie alle sahen aus wie mitgenommene Kaminkehrer, so schmutzig waren sie von Ruß und Asche.

Die Frauen schienen den Elben keine Sorgen zu machen, denn man hatte ihnen lediglich die Hände gebunden. Es waren keine Wachen bei ihnen, aber ganz unbeobachtet wurden sie mit Sicherheit nicht gelassen, obwohl alle Elben sicherlich draußen im Wald mit den Löscharbeiten beschäftigt waren. Bei Durins Arsch, sie hatten ganz schönes Chaos angerichtet.

Thorin versuchte seinen Kopf nicht zu bewegen. Um seinen Hals war notdürftig ein Tuch gebunden worden. Vielleicht auch nur, um ihnen die Sachen nicht zu ruinieren. Sein Groll über die Tatsache, dass sie sich schon wieder im Waldlandreich befanden, stellte er weit hinten an. Sein ganzen Augenmerk galt Marie und ihr Wohlbefinden. Was sein Mädchen alles in den letzten Tagen durchgestanden hatte, war unvorstellbar.

Ninak wollte, dass sie liegen blieb, doch Thorin kannte seine Verlobte nun lange genug, um nicht sonderlich überrascht zu sein, als sie genau das Gegenteil von dem machte, was man ihr sagte. Marie rappelte sich vom harten Boden hoch und lief, als sie die Männer entdeckte, schnurstracks zu ihm. Als sie ihre gefesselten Hände um seinen Nacken schlang und sich an ihn presste, verzog er das Gesicht.

„Uff… Es geht mir gut“, nahm er ihr sofort die Sorge. Marie konnte sich nicht zurückhalten. Schon lagen ihre Lippen auf seinen und erfüllten ihn einen sehnlichen Wunsch. So gern hätte er ihre Kurven mit den Händen entlang gefahren, um sich zu vergewissern, dass ihr nichts fehlte, doch das war ihm nicht möglich und so kostete er ihre Nähe mit jeder Faser seines Körper aus. All ihre Verzweiflung und Ängste legte sie in diesen endlosen Kuss, um sie zu begraben und ganz nebenbei schaffte sie es, sein krankes Herz zu heilen.

Atemlos löste sich diese einzigartige Frau von ihm bis ihr Blick an dem notdürftigem Verband hängen blieb. „Du musst versorgt werden.“

Damit ihre Worte ungehört für fremden Ohren waren, wechselte er ins Khuzdul. „Hör mir zu“, raunte er ganz nah an ihren Lippen, die er liebend gern den ganzen Tag kosten würde. „Kili hat seine Fesseln fast durch.“ Marie starrte ihn an, als wäre er übergeschnappt. „Er hat ein Messer. Du musst zu ihm gehen und es heimlich an mich weitergeben.“ Sie wollte gerade etwas erwidern, da kam er ihr zuvor. „Wir werden uns den Arkenstein schnappen und dann abhauen, solange die Elben noch im Wald zu tun haben. Kannst du laufen?“

„Ich glaube schon…aber, Thorin, das ist viel zu riskant. Wir wissen nicht, wo der Arkenstein ist. Bis wir das herausfinden, werden sie uns haben. Ich habe eine andere Idee, wie wir den Arkenstein wiederbekommen.“

Er konnte sich nicht satt sehen an ihren smaragdgrünen Augen, die nun groß und aufrichtig zu ihm empor blickten.

„Ich will kein Risiko mehr eingehen, es war genug für mein ganzes Leben. Denk an unser Kind. Wir müssen nun für jemand anderes Verantwortung tragen. Es kann so viel schief gehen. Bitte, lass es uns nach meinem Plan machen.“

„Was ist dein Plan?“

„Das erzähle ich dir, wenn du eingewilligt hast.“

Über die Tatsache, dass er Vater wird, hatte er in den letzten Stunden genug Zeit gehabt nachzudenken. Verarbeitet hat er es aber noch lange nicht. „Wenn unser Kind nur halb so stur wird, wie wir beiden“, ein Schmunzeln stahl sich in seinen Mundwinkel, „dann haben wir ziemliches Glück gehabt.“ Ihr Lächeln war wie ein Heilzauber für seine Seele. „Du hast wie immer Recht, mein Liebling“, sagte er. „Ich sollte öfters auf dich hören.“

„Oh, ja.“

„Na, schön, machen wir es auf deine Weise.“

„Nicht nur, dass ihr wieder unbefugt in mein Land eindringt…“ Niemand geringeres als Thranduil höchstpersönlich erschien in der Halle und war wie zu erwarten keineswegs erfreut, sie zu sehen. Wie eh und je waren seine Gewänder prunkvoll, jede silberne Strähne saß an ihrem Platz und an seinen hohen Stiefeln klebte kein einziger Erdklumpen. Im Gegensatz zu ihm musste ihre Truppe wie erbärmliche Landstreicher aussehen.

„Diesmal habt ihr nichts besser zu tun, als meinen Wald in Schutt und Asche zu legen?! Was habt ihr zu eurer Verteidigung vorzutragen?!“ Thranduil sah aus, als würde er gleich vor Wut spucken. Thorin lächelte innerlich.

„Es war ein Versehen!“, beteuerte Bilbo.

„Ein Versehen?“ Thranduil wirbelte zu dem Hobbit umher, dessen Locken auf der einen Seite etwas Feuer abbekommen haben. „Wie kann DAS ein Versehen sein?“

„Feuerwerk.“ Alle drehten sich zu Fili. Dieser zuckte mit den Schultern. „Wir hatten eine Kiste davon mitgenommen, weil wir eigentlich für ein Ablenkungsmanöver sorgen wollten. Kili hat die Kiste hochgehen lassen. Es war seine Schuld.“

Der Angesprochene warf seinem Bruder einen bitterbösen Blick zu.

Ihnen überdrüssig wandte sich Thranduil nun Thorin zu und lieferte sich mit ihm ein Blickduell. „Glaubt Ihr, ich weiß nicht, wieso Ihr hier seid?“

„Haben wir nie behauptet“, kam der bissige Kommentar von Ninak.

„Ruhe!“, fauchte der Elbenkönig der Zwergin auf dem Fußboden zu. Kili musste sich sein Glucksen verkneifen, als seine Ziehtante hinter dem Rücken des Königs einige höchst obszöne Gesten machte.

„Ihr seid gekommen, um den Arkenstein zurückzuholen“, richtete Thranduil das Wort an Thorin. „Mit fünf Männern und zwei Frauen? Welch beeindruckende Armee…“

„Habt Ihr den Arkenstein?“, stellte Thorin herausfordernd die Gegenfrage.

Auf dem Gesicht des Elben schlich sich ein triumphierendes Lächeln, als er in die Innenseite seiner Robe griff und einen leuchtenden Stein herausholte.

Es war das erste Mal seit langer, langer Zeit, dass beim Anblick des Arkensteins Thorin keine fremde Regung in seinem Körper spürte. Ein gutes Gefühl.

„Ich habe ihn ehrlich und zu einem fairen Preis gekauft“, stellte Thranduil klar.

Fairer Preis? Thorin spuckte auf den Boden.

Zu aller Verwunderung trat in diesem Moment Marie vor. „Euer Hoheit, dass wir Euren Wald so sehr beschädigten, war gewiss nicht unsere Absicht.“ Die Fremde weckte die Interesse des Elbenkönigs, was Thorin mehr als missfiel. Die Sehnen und Adern traten an seinem Hals hervor, als er die Zähne aufeinanderpresste und mitansehen musste, wie Thranduil sich ihr näherte und zu ihr herabbeugte. Keine gute Idee. Die Wunde an seinem Hals machte sich bemerkbar und zügelte ihn.

„Und wer seid Ihr?“

„Marie aus Kerrt, Euer Hoheit.“

Thranduil ließ nicht erkennen, was er über sie dachte. Nur eins war klar: er hatte einige Fragen, die er jedoch für sich behielt. „Sprecht weiter“, sagte er bloß und gab Marie dadurch die Chance, das Blatt doch noch für sie zu wenden.

„Euer Hoheit, ich möchte Euch ein Tauschangebot unterbreiten.“

„Einen Tausch?“ Nicht nur der Elbenkönig wurde hellhörig, auch die Männer verwundert dies. „Was habt Ihr, was ich gegen den Arkenstein tauschen würde?“ Es schien ihn sehr zu belustigen und Thorin hätte dem ebenmäßigem Gesicht gerne ein paar Blessuren verpasst für seinen Hochmut.

„Unter Erebors Schatz ist etwas, was für Euch von Bedeutung ist.“ Waren die Gesichtszüge zuvor schon kalt, gefroren sie nun zu Eis. Marie besaß nun seine volle Aufmerksamkeit und verkündete: „Ich biete Euch die Steine von Lasgal an.“

Jemand schluckte geräuschvoll.

„Das ist ein Scherz“, spottete Thranduil.

„Ich scherze nicht. Die Steine und das Collier befinden sich in einer Truhe bei unseren Pferden. Ich hab sie selbst dort versteckt, das schwöre ich. Meine Gefährtin und ich“, sie blickte zu Ninak herüber, welche nickend zustimmte, „haben sie Erebors Schatz gestohlen, um sie Euch zu geben. Ich habe gehört, dass diese Juwelen Eurer Frau gehört haben. Es war falsch von den Zwergen Erebors, Euch dieses Andenken vor Jahren zu stehlen. Ich kann Euch Eure Frau nicht wiedergeben dadurch, aber ich hoffe, dass Ihr mein Angebot annehmt. Diese Steine sind wunderschön und etwas ganz Besonderes, ich bin mir sicher, genauso wie Eure Frau es gewesen…“

„GENUG!“ Alle Anwesenden zuckten unter der Stimme des Elbenfürsten zusammen. Dieser wirbelte herum und rief Befehle in der Sprache seines Volkes. Daraufhin hörten sie Rüstungen klappern. Soldaten.

Als Thranduil sich wieder zu Marie umdrehte, durchbohrte er sie mit seinem Blick, der nicht zu deuten war.

„Nehmt Ihr mein Angebot an?“ Kaum ausgesprochen tauchten Wachen auf und schnappten sich die Gefangenen einer nach dem anderen. „Wohin bringt ihr uns?“ Doch der Elbenkönig stand wie versteinert da und sah zu, wie sie abgeführt wurden. „Nehmt Ihr mein Angebot an?!“ Die Antwort blieb er ihr schuldig und Marie knurrte vor Frust auf. „Gebt mir eine Antwort!“

„Marie!“

Sie wirbelte zu Thorin herum, doch er war zu weit weg. Er musste zusehen, wie sie grob von dem Soldaten fortgeführt wurde. Immer tiefer wurden sie in das Waldlandreich geführt bis in das Verlies, welches die Männer schon von Innen kannten.

Mit einem grässlichen Quietschen öffnete man die vergitterte Tür des Kerkers, der nicht mehr als ein Loch in der Felswand war. Flugs wurden ihnen die Fesseln durchtrennt und sie hineingestoßen. Ninak fing sich und wirbelte wutschnaubend zu den Elben herum. Direkt hinter ihr kam Marie hereingeschubst. Die Tür wurde geschlossen und kaum waren die Soldaten weitergegangen, versuchte Marie sie durch die Gitterstäbe zu verfolgen. Die Zwerge und Bilbo wurden weiter in den Kerker hinab geführt. Ein letzten Mal konnte sie Thorins Blick einfangen, dann waren sie hinter einer Biegung verschwunden. Weitere Kerkertüren wurden in der Ferne geöffnet und geschlossen. Dann machten die Soldaten kehrt. Marie wich vor ihnen zurück, als sie die Treppen hochkamen. Ohne sie eines Blickes zu würdigen verschwanden sie.

Stille kehrte ein und ein tiefer Atemzug half ihr, ihre Beherrschung wiederzuerlangen. Als sie sich zu ihrer Zellengenossin umdrehte, hatte diese die Hände vorwurfsvoll in die Hüften gestemmt.

„Eigentlich müsste ich dich windelweich schlagen“, düster marschierte Ninak auf sie zu und Marie dachte schon, es ginge ihr nun endgültig an den Kragen für das, was sie getan hatte, zu ihrer Überraschung aber schloss ihre Freundin sie in eine so heftige Umarmung, dass ihr die Luft wegblieb. „Wie konntest du das nur tun?“ Ninak löste ihren Griff nur, um sie zu schütteln. „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wie konntest du nur?“ Ihre Stimme klang hart, doch nur zum Schein. Ihre blauen Augen ließen Marie hinter ihre Fassade blicken und die Sorge sehen, die ihr gegolten hatte. Das brachte sie zum Lächeln.

„Ich bin auch froh, dich wiederzusehen.“ Ninak verstummte und Marie versuchte an einem möglichst unschuldigen Gesichtsausdruck. „Verzeihst du mir?“

Ihre Gefährtin seufzte bloß. „Hab ich doch schon längst, du Dummkopf.“ Die Last fiel ihnen beiden von den Schultern. Sie umarmte einander erneut, unendlich froh am Leben zu sein. Langsam, aber immer deutlicher sickerte die Erkenntnis durch ihr Bewusstsein: Smaug war fort. Vernichtet. Für immer und ewig.

„Wir haben es geschafft, Ninak…wir haben es wirklich geschafft.“

„Trotzdem war das äußerst dumm, klar?!“ Zornig funkelte Ninak sie an und konnte es sich nicht nehmen, dies noch einmal klarzustellen – vielleicht auch, um das Glänzen in ihren Augen zu überspielen.

„Hab´s verstanden.“ Marie machte ihre Finger nass und begann, ihr den Ruß von der Stirn zu wischen, was Ninak angewidert das Gesicht verziehen ließ. „Wie geht es dir und deinem Baby?“

Ninak machte dicke Backen und strich über ihren Bauch. „Wir haben es überstanden“, lautete ihre ausweichende Antwort. Das gab Marie den Anlass, sie zu bitten, sich für einen Moment zu setzen. Dass ihre Freundin das widerstandslos tat, zeigte ihr, wie erschöpft sie war. Ninak setzte sich auf die kleine Pritsche, die in einer Wandnische angebracht war und Marie ging vor ihrer Freundin in die Hocke. Sie nahm ihre Hand, einerseits um ein wenigen Beistand zu leisten, andererseits um nebenbei ihren Puls zu kontrollieren.

„Als ich aufwachte und dich und Smaug nirgends finden konnte…“, sie brach ab und streichelte in Gedanken versunken ihren 4-Monatsbauch, der gut beschützt von ihrer Rüste war. „Das war der Moment, in dem ich es den anderen sagen musste. Du kannst dir ihre Reaktionen ja vorstellen. Wir brachen sofort auf, um nach dir zu suchen.“ Sie lehnte sich an die Wand. „Ich kann es immer noch nicht glauben, dass es vorbei ist…“

„Ich auch nicht.“

„Als wir dich schreien gehört haben, da dachte ich, wir kommen zu spät. Ich dachte, wir müssten ihn wirklich töten, aber du…“ Sie blickte Marie an, als sah sie sie plötzlich mit ganz anderen Augen. „Wolltest du es tun?“

Sie nickte und spürte erneut den Griff des Dolches, als würde ihre Hand immer noch um diesen liegen, bereit zuzustechen. „Ja“, flüsterte sie. Ja, sie war dabei gewesen, den Mann zu töten, mit dem sie ihr restlichen Leben verbringen wollte.

„Was ist passiert?“, stellte Ninak die Frage aller Fragen.

„Ich kann es nur vermuten“, Marie zuckte mit den Schultern und blickte ratlos drein. „Ich glaube, Smaug hat geahnt, was ich vorhatte, und wollte mich daran hindern, ihm seinen Körper – Thorins Körper – zu nehmen. Ohne einen Körper war sein Geist ohne Handlungsfähigkeit. Aber er musste Thorins Körper verlassen, weil er nur so an mich rankommen konnte.“

„Die Kette hat dich beschützt! Ich hab es mit meinen eigenen Augen gesehen. Sie hat zu leuchten begonnen, als Smaug sich auf dich stürzen wollte – wie ein Komet, das war gewaltig!“

Marie erinnerte sich genau an diesen Moment. Das rein weiße Leuchten hatte ihr mit einem Schlag die Sicht genommen, so hell war es gewesen, die Kraft der entfesselten Macht so groß, dass sie den Druck immer noch auf ihrer Haut spürte. Blitzartig kam ihr ein ganz andere Gedanke: hatte die Kette den Angriff des Drachen überstanden? Hastig griff sie in ihren Hemdkragen und zog die Schnur hervor. Unscheinbar wie eh und je lag der runde Anhänger in ihrer Handfläche. Von allen Seiten sah Marie ihn sich an. Nichts schien auffällig zu sein, weder das glatte Metall noch die schwarze Schnur gaben Hinweise auf die unvorstellbare Kraft, die sich wie ein Schutzschild um sie gelegt hatte.

„Smaug wusste doch von der Kraft der Kette. Wieso hat er sie nicht für sich selbst genutzt?“, fragte Ninak.

„Weil er so sehr in seine eigenen Kräfte vertraut hatte. Sein Stolz und seine Egoismus hat es ihn verboten, die Kette zu seinem Nutzen zu gebrauchen. Aber sie hätte ihm ohnehin nichts genützt. Denn nur wenn sie reinen und aufrichtigen Herzes weitergegeben wird, beschützt sie ihren Träger.“

„Thorin wusste, dass sie dich eines Tages beschützen wird“, flüsterte ihre Freundin. „Er hat dir das Leben gerettet.“

Thorin. Die Gedanken an ihren Verlobten taten weh. Die körperliche Trennung war unaushaltbar. „Ich muss zu ihm.“

„Wie du das anstellst, will ich sehen.“ Ninak hatte ihren Satz kaum beendet, da erschien eine Gestalt vor der Gitterstäben, die die Frauen aufspringen ließ. Sie eilten zu Tauriel, die sich nach allen Seiten umschaute, ob sie beobachtet wurde.

„Hol uns hier raus!“, zischte Ninak, Marie aber fragte: „Sagt, was geht da oben vor sich? Lässt sich Euer König auf mein Angebot ein?“

„Er hat Männer zu eurem Lager entsandt“, antwortete Tauriel schnell. „Sie sollen die Truhe holen. Solltet Ihr jedoch nicht die Wahrheit gesprochen haben, so wird er keine Skrupel haben Euch zu töten.“

„Glaubst du, wir haben es nötig, zu lügen?“

„Sprecht leise, Zwergenfrau“, herrschte Tauriel Ninak an.

„Hoffentlich finden sie die Truhe“, murmelte Marie.

„Hoffentlich sind unsere Ponys noch da“, warf Ninak einen ganz anderen Gedanken ein.

Marie wollte nicht daran denken, den ganzen Weg bis Erebor zurück zu Fuß bewältigen zu müssen. „Tauriel, kannst du mich zu Thorin bringen? Bitte, er ist verletzt. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um ihn.“

Natürlich, wie sollte es auch anders sein, blockte Tauriel ab. „Ich kann nichts für Euch tun.“

„Ihr könnt“, behauptete Marie. „Ihr wisst, wo die Schlüssel sind. Bringt mich zu Thorin und gebt mir eine halbe Stunde. Mehr brauch ich nicht.“ Dass das nur eine vage Vermutung war, brauchte die Elbe nicht zu wissen. „Ich will nur seine Wunde versorgen. Ihr habt nichts zu befürchten.“

Immer noch zögerte Tauriel, aber sie sagte auch nicht sofort nein. Endlich gab sie sich einen Ruck. „Was braucht Ihr?“ Marie zählte alles auf. Die Elbe nahm es regungslos zur Kenntnis. „Ich kann Euch nichts versprechen, aber ich werde sehen, was ich machen kann. Wartet auf mich.“ Flinken Schrittes war sie verschwunden.

„Was sollen wir auch anderes tun?“, grummelte Ninak und hielt es für das Beste, es sich bequem zu machen.

 

~

 

Ein unterirdischer Fluss ließ seine Wassermassen von einer Klippe ganz in ihrer Nähe in die Tiefe fallen. Feiner Sprühnebel glitzerte an den Felsen und im Schein der Lampen. Die Schlucht war so tief in den Fels geschnitten, dass Marie weder den Grund noch den Himmel sehen konnte. Wie spät war es? Wie lange war sie ohnmächtig gewesen? War die Dämmerung bereits heraufgezogen? Sie hatte keinerlei Zeitgefühl mehr.

Fröstelt rieb sie über ihre Arme. Es war kühl hier in dem Verlies. Eine ganze Zeit schon stand sie an dem armdicken Stahl der Tür gelehnt und lauschte. Ihre Gedanken galten Thorin und ihr Herz wummerte. Wo haben sie die Männer hingebracht? Ob Tauriel Wort hielt? Würde Thranduil auf den Tausch eingehen oder war er so skrupellos und behielt die Steine und den Arkenstein einfach und ließ sie im Kerker verrotten?

Es dauerte eine ganze Zeit, bis ihr Warten belohnt wurde. Tauriel kehrte mit einer Lampe und einer zusammengerollten, kleinen Stofftasche zurück. Rasch zog sie aus ihrem Ärmel einen Schlüssel hervor und schloss die Kerkertür auf. „Der Trupp ist noch nicht zurück, aber ich kann Euch nur wenig Zeit geben.“

„Tausend Dank, Tauriel. Das werde ich Euch nie vergessen.“ Marie glitt durch den Türspalt, der sich hinter ihr direkt wieder schloss.

„Ihr bleibt hier“, befahl die Elbe Ninak.

„Keine Sorge, ich bin gleich wieder da.“ Mit diesen Worten verabschiedete Marie sich von ihrer Weggefährtin und folgte Tauriel die Stufen hinunter. Um mit den langen Beinen der schönen Elbe Schritt halten zu können, musste sie sich beeilen. Die Angst, sie könnten entdeckt werden, war ihr ständiger Begleiter. Wie tief mussten sie noch die engen Treppen hinab steigen?

Schließlich hielt Tauriel vor einer Kerkertür und war schon dabei, am Schloss herumzuwerkeln als Marie sie eingeholt hatte. „Denkt daran: eine halbe Stunde. Mehr nicht.“

Marie hörte kaum hin, denn aus Dunkelheit starrte Thorin ihnen ungläubig entgegen. Rasch öffnete Tauriel auch diese Tür und übergab der Heilerin Lampe und Utensilien, bevor diese von Thorins offenen Armen empfangen wurde.

„Wenn Soldaten die Kerker patrouillieren, kann ich nichts für Euch tun.“ Das Schloss schnappte zu. „Beeilt Euch. Ich hole Euch in einer halben Stunden wieder ab.“ Die Elbe verschwand so schnell wie sie gekommen war.

„Bei Durin, wie bist du…?“

Mit einem Kuss brachte sie ihn zum Schweigen. Nur allzu gerne würde sie ihre neu gewonnen Zweisamkeit für etwas ganz anderes nutzen, doch sie besann sich auf den Grund ihres heimlichen Besuches. „Wir haben keine Zeit, Liebling“, wisperte sie.

Total verdattert, dass sie hier war, starrte Thorin sie immer noch an. „Geht es dir gut?“

„Mir geht es gut.“ Bereits auf ihr Vorhaben konzentriert sah Marie sich in der beengten Zelle um, um den besten Platz für die Wundversorgung auszukundschaften. „Um dich mache ich mir allerdings Sorgen.“

„Wieso hat sie das getan?“

„Wer? Tauriel? Weil sie uns helfen will.“

„Wieso? Was hat sie davon?“

„Sie steht auf keiner Seite und ich glaube, das ist es, was uns zugutekommt.“ Sie breitete die Stofftasche auf der Pritsche aus, die es auch in Thorins Kerkerzelle gab, und ihr Heilerinnen-Herz machte vor Entzückung einen Sprung. Zum Vorschein kam ein Operationsbesteck aus feinstem elbischen Stahl. Zudem besaß die Tasche Fächer, wo Nähgarn und frische Verbände verstaut waren. Starke Arme umfassten ihre Taille und ein rauer Bart drückte sich auf ihren Hals.

„Ich muss mich beherrschen, dich nicht hier und jetzt zu f…“

„Thorin…“ Gegen seine Avancen musste sie sich zur Wehr setzen, die ehrlich gesagt sehr verlockend waren. Allein die Vernunft zügelte sie. „Wenn du deinen Kopf auf deinem Hals behalten willst, dann lass mich dich anschauen. Ich will nicht, dass meinem Verlobten noch vor unserer Hochzeit der Hals weg fault, verstanden?“

Mit großen Augen schaute er sie bettelnd an, doch merkte, dass er damit leider auf Granit stieß. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihren Anweisungen Folge zu leisten und stillzuhalten. Als sie den Verband abmachte, ging Marie sehr vorsichtig vor und war auf alles vorbereitet. Anhand ihres Gesichtsausdruckes wurde ihm allerdings schnell klar, wie ernst es war.

„Sieht schlimm aus?“ Dass sie ihm nicht gleich antwortete, war kein gutes Zeichen. Maries Stirn war von Sorgenfalten geprägt.

„Ich werde die Stelle fest vernähen müssen, damit es hält. Dafür muss ich tief reingehen. Wenn ich jedoch zu tief gehe…“

„Wenn jemand es schaffen kann, dann du, mel nin“, sagte er und begab sich in die Hände, denen er am meisten vertraute.

 

~

 

„Hallo, Kili.“

Er schreckte hoch, als er die Stimme aus seinen Träumen hörte.

Als sie in das Waldlandreich geführt worden waren, hatte er gehofft, sie zu sehen. Doch als sie nun vor seiner Kerkertür stand, da wünschte er, sie hätte ihn nie aufgesucht. Eine Welle an unterschiedlichster Gefühle erfasste ihn. All die Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit in Erebor kamen bei ihrem Anblick wieder hoch und unweigerlich blieben seine Gedanken an dem Tag hängen, an dem er sie hatte gehen lassen müssen.

„Bist du nun glücklich?“ Kili trat zu ihr an die Tür, die Wahrheit in ihrem Gesicht suchend. „Hier bei deinen gleichen?“ Wie zu erwarten, wich sie seinem Blick aus. Sie auf der einen, er auf der anderen Seite.

Kam ihm seltsam bekannt vor dieses Bild… Heute wusste er, dass nicht nur Stahl sie voneinander trennte, sondern ganze Welten.

Endlich brach Tauriel ihr Schwiegen. „Ich bin gegangen, weil ich es musste. Das weißt du.“

Kili konnte seine Wut nur schwer im Zaum halten, so weh tat es, daran erinnert zu werden, zurückgelassen worden zu sein. „Du bist gegangen, weil du vor deinen Gefühlen davongelaufen bist.“

„Du hast Recht…“

Er hatte wirklich mit allem gerechnet, aber nicht damit. Weil er die Worte nochmals aus ihrem Mund hören wollte, legte er wie ein alter Greis die Hand ans Ohr. „Wie bitte? Ich glaube, ich habe mich verhört.“

Sie verdrehte die Augen. „Du hast Recht“, wiederholte Tauriel gezwungenermaßen. „Ich bin weggelaufen. Ich hatte geglaubt, in meinem Zuhause dich vergessen zu können. Aber das ist unmöglich… Ich hatte einfach…Angst, dass das, was wir begonnen hatten, zu groß für uns werden würde… Ich…“

Kili streckte die Hände durch das Gitter und Tauriel ergriff sie. Er hielt seine Elbe so fest wie er konnte, bewunderte ihre Schönheit und liebte ihre Aufrichtigkeit. „Endlich öffnest du dich mir.“ Tauriels trauriges Lächeln brannte ein Loch in sein Herz.

„Glaubst du… glaubst du, dass wir eine Chance haben?“, flüsterte sie. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Ihre feingliedrigen Finger lagen in seinen Händen, die groß und plump im Gegensatz zu ihren wirkten.

„Das können wir nur herausfinden, wenn wir uns eine Chance geben“, antwortete er genauso leise. „Erinnerst du dich noch an mein Angebot?“

„Das Schiff?“

Er nickte. „Stell dir vor, wir segeln bis an das Ende der Welt, nur du und ich.“

Spöttisch zog sie ihre Augenbraue in die Höhe. „Weißt du denn, wie man ein Schiff lenkt?“

„Nicht die Bohne. Aber ich hätte große Lust es mit dir auszuprobieren.“ Kili stand schon auf den Zehenspitzen, als Tauriel sich zu ihm beugte, bis die Gitterstäbe ihr Gesicht einrahmten.

„Und wo segeln wir hin?“ Ihre Lippen waren nun ganz nah an seinen.

„An einen Ort, der auf keinen Karten zu finden ist…“ Der Prinz bezwang die letzten Zentimeter, die sie trennten, und legte seine Lippen auf die ihre.

 

~

 

Es war bei Weitem nicht das erste Mal, dass er bei vollem Bewusstsein genäht wurde, doch es war bei Weitem das Schlimmste. Er musste ganz still liegen, was nicht leicht war, wenn jemand nah an seiner Halsschlagader herumwerkelte, und den Kopf überstrecken, um Marie die bestmögliche Arbeitsfläche zu geben. Er bildete sich ein, sie würde mit seinen Sehen und Adern im Hals Violine spielen, und weit und breit war kein Korn in Sicht, der ihm die Sache erträglicher machen könnte. Mehrere Male mussten sie Pause machen, weil es sonst nicht auszuhalten war.

Die Zeit war nicht auf ihrer Seite, aber seine Verlobte machte weiter und zeigte eindrucksvoll ihre Fähigkeiten. Seine Bewunderung für diese Frau wuchs ins Unermessliche. In höchster Konzentration verfallen nähte sie bei Lampenschein unter widrigsten Umständen Stich für Stich eine beinahe tödliche Wunde, die sie ihm selbst zugefügt hatte und obwohl sie wie keine Zweite mit Nadeln und Garn umgehen konnte, so achtete sie stets auch auf ihren Patienten und erinnerte ihn ans Atmen, wenn er wieder die Luft anhielt.

„Du hast solches Glück gehabt“, erklang ihr Murmeln in der Stille. Nicht eine Sekunde ließ sie die Nadel aus den Augen, die sie ihm durch den Hals stieß. Thorin stöhnte. Sie machte unbeeindruckt weiter.

„Einen halben Zentimeter mehr und du wärst nicht mehr hier.“ Sie hatte tief angefangen und war nun bereits bei der äußersten Hautschicht angekommen. Wie es aussah, erwähnte sie nicht, doch Thorin hatte natürlich die vielen blutdurchtränkten Stofftupfer gesehen. Er hatte sein Unterhemd geopfert, damit sie genug Stoff hatte, um dem Blut Herr zu werden.

„Eine Narbe kann ich nicht verhindern.“

„Eine mehr oder weniger…“ Obwohl er nicht sprechen sollte, tat er es trotzdem. „Wusstest du, dass bei uns Narben Geschichten sind?“

Sie machte Pause und blickte ihn an. „Wovon handelt diese Gesichte?“

Thorin drehte den Kopf, damit er sie ansehen konnte. Es gab kein schöneres Bild als ihre grünen Augen, derer er, ohne es zu ahnen, schon bei ihrer allerersten Begegnung verfallen gewesen war und die ihn sechzehn lange Jahre Nacht verfolgt hatten. Sanft legte er die Hand an ihr Gesicht uns sofort schmiegte sich Marie daran, als wäre er hundert Jahre fort gewesen. „Von Tapferkeit“, antwortete er, „und Selbstlosigkeit.“

„Von Liebe.“

„Ja“, jedes Detail ihrer Schönheit machte ihm deutlich, dass es Smaug beinahe geschafft hätte, ihm das Wertvollste in seinem Leben zu nehmen, „von Liebe.“

 

Endlich war es geschafft. Marie half ihm, aufzustehen, und begutachtet die frische Naht. Auf ihr Urteil wartend schaute er sie an. „Sieht gut aus“, verkündete sie schließlich. Mit dem Gefühl, alles in ihrer Macht Stehende getan zu haben, wickelte Marie ihm den guten Verbandsstoff um, den Tauriel besorgt hatte. Damit niemandem auffiel, dass der Gefangene verarztet wurde, wurde zu guter Letzt das schmutzige Tuch darüber gebunden. Als auch das erledigt war, belohnte sie ihren tapferen Krieger mit einem Kuss für sein Durchhaltevermögen. Plötzlich tat Thorin etwas, womit sie nicht gerechnet hatte. Er ging vor ihr auf die Knie, schob seine Hände unter ihre Kleidung und legte sie auf ihren nackten Bauch.

„Es ist noch zu früh, um etwas zu spüren“, erklärte Marie, als er das Ohr an ihren Körper drückte, doch er entgegnete: „Ich weiß, dass es da ist. Das reicht mir, um es zu spüren.“ Marie biss sich auf die Lippen, weil der Moment einfach zu schön war. Vor purem Glück strahlend streichelte sie ihrem Mann über den Kopf, während er das erste Mal ihre Schwangerschaft mit ihr zusammen erlebte.

„Hier ist dein Vater“, flüsterte er dem kleinen Wunder in ihrem Bauch zu. „Ich freue mich, dich kennenzulernen… und hoffe, dass du mir verzeihen kannst.“ Er streichelte ihren Bauch, presste das Gesicht daran. „Es tut mir so unendlich leid, Kleines.“

Weil seine Selbstvorwürfe ihr die Kehle zuschnürten, wollte sie ihn davon ablenken. „Es wird ein Mädchen“, wisperte sie.

„Ein Mädchen?“ Voller Skepsis blickte er zu ihr empor. „Woher weißt du das?“

Marie schmunzelte. „Nur so ein Gefühl.“

„Hast du deine Mutter gehört?“ Von einem Ohr zum anderen strahlend strich Thorin ein letzten Mal über ihr kleines Wunder. „Mein Kind, werde groß und stark, damit ich dich in meinen Händen halten kann.“ Er lüftete ihre Sachen und küsste ihren Bauch, ehe er sich erhob und von Marie beinahe umgeworfen wurde, die sich an ihn drückte. Dank ihm hatte ihr Herz damit begonnen, sich Stück für Stück zusammenzufügen.

Die Ängste, die sie beide durchgestanden hatten, das Risiko, dass sie eingegangen waren, wurden ihnen mit einem Mal schrecklich bewusste, doch die Umarmung des anderen gab ihnen die Kraft, den Dämonen der Vergangenheit keine Macht mehr zu geben. Maries Kopf ruhte unter seinem Kinn, seine starke Arme um sich spürend. Es bedurfte keine Worte, um zu zeigen, was der andere fühlte. Ihre Seelen knüpften das Band, welches sie die Jahre und aller Entfernungen zum Trotz über verbunden hatte, neu.

Dieser ganz besondere Moment wurde unterbrochen, als Thorin ein Detail bemerkte. „Du hast deinen Verlobungsring abgelegt.“

Marie schaute auf ihre Hand und musste sich kurz erinnern, wieso ihr Ring nicht mehr an seinem Platz war. „Ich habe ihn Amris gegeben.“ Das ließ Thorin so irritiert schauen, dass sie ihr Lachen kaum unterdrücken konnte.

Er zog sie auf die Pritsche und befahl, ihm alles zu erzählen. Sie hielten einander an den Händen und ein nicht enden wollender Fluss aus Wörtern und Sätzen sprudelte aus ihr heraus. Sie erzählte ihm von ihrer Flucht aus Erebor, von dem Weg durch den Grünwald und von ihrer Angst in Smaugs Gegenwart, die sie gespürt hatte. Thorin wurde ganz still und auch als Marie alles erzählt hatte, was ihr einfiel, blieb er still.

„Du musst nicht darüber sprechen“, beschwichtigte sie ihn rasch. „Ich nehme es dir nicht übel…“

„Er hat mich zuschauen lassen.“ Sein Blick war auf den Boden der Gefängniszelle gerichtet, seine Gedanken aber ganz woanders. „Er ließ mich zuschauen, als er dich…“ Er konnte es nicht aussprechen. „Es ging so schnell, Marie, ich konnte nicht… Ich habe nicht…“

„Liebling“, sie fasste seine Hände fester, „du kannst nichts dafür. Smaug war einfach zu mächtig. Du hattest keine Chance.“

Er nickte bloß, kam aber doch nicht darum herum noch etwas loszuwerden. „Ich hab dich gesehen. Die ganze Zeit war ich da und habe zugesehen. An diesem Ort…“

„Ort? Welcher Ort?“

„Ich weiß es nicht.“ Thorin musste tief in sich gehen, um die richtigen Worte für etwas zu finden, was man eigentlich nicht beschreiben konnte. „Überall war Finsternis. Eine endlose Nacht. Ich war schon einmal dort gewesen. Damals, als ich mein Leben gab, um Azog zu besiegen, und lange zwischen dem Tod und dem Leben umhergewandelt bin. Damals habe ich meine tote Schwester getroffen.“ Er sah, wie Marie schlucken musste. „Diesmal war ich ganz allein…nur Leere und Dunkelheit…und Smaug. Ich konnte durch seine Augen sehen, habe gespürt, was er spürte, habe geschmeckt, was er…. Marie, ich… Keine Worte könnten beschreiben, welche Angst ich um euch hatte.“ Er berührte ihren Bauch, ihre Tochter miteinbeziehend. „Wenn ich es irgendwie rückgängig machen könnte, glaub mir, ich würde alles dafür tun.“

„Thorin“, Marie rückte noch ein Stück näher, „ich will dich zurück.“

„Aber du hast mich zurück.“

„Nur dich allein“, raunte sie unmissverständlich. „Smaug darf unsere Zukunft nicht beeinflussen. Er ist für immer fort! Aber wir sind hier. Wir müssen mit dem, was geschehen ist, und mit uns selbst Frieden schließen. Ich will endlich das Leben mit dir, was ich mir immer erhofft habe. Ohne Lügen, ohne Geheimnisse.“

„Du hast mich! Hier“, er nahm ihre Hände und legte sie auf seine Brust, an genau jene Stelle, wo er all die Monate zuvor eine fremde Macht gespürt hatte. „Das bin alles ich. Dank dir sind meine Gedanken endlich wieder meine eigenen. Ich bin keine Marionette mehr. Ich bin nur noch ich selbst.“ Thorin strich über die Stelle, wo ihr Verlobungsring eigentlich saß. „Wir werden nie wieder dieselben sein nach all dem, das ist mir bewusst, und so sehr ich es mir wünsche, wir können die Vergangenheit nicht ändern. Aber wir können unsere Zukunft selbst bestimmen.“ Er schwieg einen Atemzug lang, dann hob er den Blick. „Willst du mich denn überhaupt noch nach all dem heiraten?“

„Machst du Witze?! Glaubst du allen Ernstes, ich lasse dich je wieder gehen?“ Sie fiel ihm um den Hals und sein Lachen wärmte sie. Mehr Zeit war ihnen nicht vergönnt.

Die Kerkertür wurde von Tauriel mit solch Hektik aufgeschlossen, dass keiner Fragen zu stellen wagte. „Schnell! Der Trupp ist zurück. Rasch, rasch!“ Marie sprang auf und zögerte. Es gab noch eine Sache zu erledigen. Sie zog die Schnur über ihren Kopf und drückte ihrem Verlobten die Lyrif-Kette in die Hand. Er wollte sie dran hindern, doch Marie schloss seine Finger um die magische Kette. „Sie gehört dir.“ Es war nur noch Zeit für einen letzten Kuss, dann wurde Marie von Tauriel zurück zu ihrer eigenen Zelle gebracht. Dort schloss die Elbe so eilig die Tür auf, dass sie einen Höllenlärm machten. Marie quetschte sich in ihre Zelle, die Tür rumste zu und Tauriel verschwand.

„Hat alles geklappt?“, wollte Ninak wissen, doch für weitere Ausführungen war keine Zeit. Von oben hörten sie das charakteristische Klappern von Rüstungen. Kurz darauf erschienen diejenigen Soldaten, die sie in die Zellen verfrachtet hatten. „Mitkommen“, lautete der knappe Befehl.

Ninak und Marie taten gut daran, keine Widerworte zu geben. Sie wurden aus dem Verlies geführt und Marie versuchte sich umzudrehen, um zu sehen, ob die Soldaten auch die Männer herausholen würden, doch ein Schubser von dem Elben hinter ihr hinderte sie daran. Marie hatte keine Ahnung, wo sie hingeführt wurden. Es war jedenfalls nicht der Weg, den sie vorhin gegangen waren. Ein zweites Mal drehte sie sich um und fragte ihren Bewacher, wohin sie sie brachten. Sie erhielt keine Antwort und spürte plötzlich einen Felsbrocken in ihrem Hals. Ihr blieb nichts anderes mehr übrig, als zu beten, dass sie nicht gradewegs zum Henker geführt wurden.

Nach einiger Zeit erschien vor ihnen ein großes Tor aus Fels. Es war riesig und schmal und über und über mit filigranen, senkrechten Linien verziert. Bei ihrem Näherteten öffnete man das Gestein. Blendend helles Sonnenlicht schien durch die Baumkronen und ließ sie die Augen zusammenkneifen. Ein neuer Tag war bereits angebrochen.

Die Luft roch beißend nach Ruß. Das Feuer musste sich über eine große Fläche ausgebreitet haben. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht die einzigen waren, die ans Tageslicht geführt worden waren und schnappte vor Schreck laut nach Luft.

Auf der Brücke vor den Toren des Waldrandreiches hockten die Zwerge und Bilbo auf den Knien. Jeder hatte einen Bewacher mit gezückter Waffe hinter sich stehen. Ihnen gegenüber stand Thranduil und blickte bei ihrem Erscheinen ihnen entgegen. Neben dem Elbenkönig stand ein Soldat und hielt die Truhe seinem Fürst offen, die weißen Edelsteine funkelten im Morgenlicht. Sie hatten sie also tatsächlich gefunden.

„Euer Angebot wurde akzeptiert.“ Mit diesen knappen Worten klappte der Elbenkönig die Truhe zu und ließ alle in fassungslosem Schweigen dastehen. Erst als die Gefangenen freigelassen wurden, realisierten sie es. Es kam Bewegung in ihre müden Beine. Marie und Ninak liefen augenblicklich zu ihren Männern und Thorin bekam den Arkenstein übergeben.

„Nehmt Euren verfluchten Stein und verlasst sofort meinen Wald.“

Thorin schloss seine Finger um das Vermächtnis seinen Väter und blickte den Erbenfürsten misstrauisch an. Hatten sie etwa gerade den Arkenstein ohne Blutvergießen zurückbekommen? Das alles lief viel zu glatt für seinen Geschmack ab. Wo war die Falle? Seine Männer waren der gleichen Meinung, alle standen in Abwehrhaltung da und warteten.

„Solltet ihr die Grenze des Waldes bis zum Zenit der Sonne nicht passiert haben, werde unsere Pfeile euch treffen. Geht! Und kehrt nie wieder.“ Thranduils Warnung verfehlte seine Wirkung nicht. So schnell sie konnten eilten die Zwerge und Bilbo ans andere Ende der Brücke, wo man ihre Ponys angebunden hatte.

Thorin half Marie auf Goldi, ehe er selbst die Zügel seines Ponys griff, doch Nachtschatten tänzelte und wollte steigen. „Hoo, Junge, ich bin es!“ Mit Müh und Not musste Thorin auf den Rücken seines Hengstes klettern, der sofort lospreschte, kaum dass er saß, dicht gefolgt von den anderen.

Die frühe Sonne stieg unaufhaltsam höher, zur selben Zeit passierten die Gefährten das Schlachtfeld der letzten Nacht. Sie galoppierten an den letzten Löscharbeiten vorbei und Marie konnte das Ausmaß der Zerstörung nicht begreifen. Ein Teil des herrlichen Waldes war vernichtet und auch vor den jahrhundertealten Bäumen hatte das Drachenfeuer nicht Halt gemacht. In den meterdicken Stämmen flammten immer noch Nester aus Glut.

Aschewolken wurde von den Hufen aufgewirbelt und flogen ihnen nach. Noch hatten sie es nicht geschafft und doch war die Euphorie bei allen spürbar je größer die Distanz zum Waldlandreich wurde. Bald erreichten sie einen Weg und trieben die Tiere an, noch schneller zu laufen. Tief über Nachtschattens Hals gebeugt drehte sich Thorin um, damit niemanden verloren ging. Im halsbrecherischem Tempo jagten sie durch den Wald bis endlich das Tageslicht ihnen das Ende voraussagte. Sie zügelte die Ponys erst, als sie den Waldrand passiert hatten und vor ihnen weite Grasebenen sich erstreckten.

„Wir haben es geschaaafft!“ Kili streckte so grölend die Fäuste in die Höhe, dass sein Schecke einen Satz machte. Unter einem Jubel, der seines gleichen suchte, reckte der König Erebors den Arkenstein in die Höhe. Die ohnehin nervösen Ponys drehten nun völlig durch.

„Komm her, du Weibsstück, du!“ Dwalin hob Marie aus dem Sattel und küsste sie auf die Wangen. „Das haben wir nur dir zu verdanken!“

Wie der Hauptgewinn wurde sie in die Luft gehoben. Lachend blickte Marie hinab zu Thorin und hatte ihn schon lange nicht mehr so glücklich gesehen.

 

38

 

 

Die Kunde von ihrer Rückkehr verbreitete sich rasend schnell. Die Bewohner des Berges strömten zur Thronhalle, als es sich herumsprach, der Arkenstein wäre zurück in Erebor.

Unendlich müde, aber mit Lächeln auf den schmutzigen Gesichtern schritten die sieben Heimkehrer den langen Weg zum Königsthron. Thorin half Marie auf den Thron zu steigen und überließ ihr die Ehre, den Arkenstein wieder an seinen Platz zu bringen. Behutsam und unter den Blicken des Volkes legte die Heilerin den Stein in seine Fassung. Ein feines Klicken war zu hören, als der Mechanismus zuschnappte, und es schien, als spürte der Stein, dass er wieder an seinem Platz war, denn unter dem Raunen des Publikums strahlte sein Licht für einen Moment leuchtend hell auf. Jubelrufe und Applaus badeten die Sieben in Ruhm und Ehre. Auch die restlichen Gefährten, die währenddessen in Erebor verweilt hatten, stieß zu ihnen und überhäuften sie mit Beifall und Schulterklopfern.

Thorin half seiner Verlobten sicher vom Thron herunter und hob die Hand. Es wurde still und der König verkündete: „Das Herz des Berges ist nach Erebor zurückgekehrt. Ohne die Hilfe dieser tapferen und selbstlosen Frauen und Männer hätte das Vermächtnis unseres Volkes nie zurückgefunden.“

Verlegen traten Marie und Bilbo bei dem ihnen zu Teil werdendem Applaus von einem Bein auf das andere, während Fili und Kili neben ihnen wie echte Helden die Aufmerksamkeit genossen. Erneut verschaffte sich Thorin Gehör.

„Einer Person aber gebührt besonderem Dank“, sagte er und jeder von den Gefährten wusste, wer gemeint war. Alle sahen zu Marie. Diese lief rot an.

„Ohne diese beeindruckende Frau wäre ich nicht mehr hier“, sprach der König unüberhörbar für jeden. „Und doch habe ich ihr großes Unrecht getan. Ich habe an ihr gezweifelt, wo es keinen Zweifel gab. Ich habe ihre Liebe für mich in Frage gestellt, weil ich blind und taub für die Wahrheit war. Ohne sie, bin ich ein Nichts. Sie hat mich gerettet auf so viele verschiedenen Arten. Ohne sie wäre ich ein armer Mann.“ Schmachtende Seufzer waren vom weiblichen Publikum zu hören.

Ein Diener war indes zum Königsthron getreten. In den Händen hielt er ein Samtkissen, auf dem die Krone ruhte. Thorins Blick verfing sich daran und er brach den Satz ab, der ihm soeben noch auf den Lippen gelegen hatte. Er drehte sich zu Marie. Diese bemerkte, dass etwas in ihm vorging.

„Ich habe meinem Volk Unrecht getan“, raunte er ihr zu. „Sie müssen die Wahrheit wissen.“

„Thorin…“ Sanft fasste sie seine Hände, hielt sie ganz nah bei sich. „Wir müssen unser Volk beschützen und sei es vor uns selbst. Lass dein Geheimnis ein Geheimnis bleiben.“

„Aber du sagtest selbst…“

„Ja, so sagte ich“, entgegnete sie, „aber das gilt nur für uns. Wir müssen auch an unser Volk denken. Gib ihnen und dir selbst Frieden, indem wir die Wahrheit unausgesprochen lassen. Du wolltest für sie immer nur das Beste, warst ihnen ein weiser und gerechter König, seit du dein Erbe angenommen hast. Denk daran, es waren Smaugs Gedanken - nicht deine. Verunsichern wir sie nicht mit der Wahrheit, sondern lassen wir unserem Volk endlich den Frieden finden, wonach es sich mehr als sechzehn Jahre gesehnt hat.“

Es war totenstill in den riesigen Hallen, als man darauf wartete, dass der König weitersprach.

Aufrichtig blickte er Marie an und als sie endete, so hatte er auf all seine Fragen Antworten gefunden. Eines belastete ihn jedoch noch immer. Dabei wollte er nichts lieber, als all Lasten, all Sünden abzuwerfen und hinter sich lassen. Er schenkte ihr ein Lächeln, küsste ihre Hände. Dann wandte er sich wieder seinem wartenden Volk zu.

„Ich stehe heute vor euch und bitte euch um Verzeihung für all meine Laster, für meine Lügen und für die Ohnmacht, die mich erfasst hatte.“ Laut und kräftig schallte seine Stimme, sodass sie von jedem vernommen werden konnte. „Ich stehe vor euch“, er breitete die leeren Hände aus, „ein letztes Mal als euer König.“

In dem ausbrechendem Gemurmel drehte Marie ihren Verlobten zu sich herum. „Wovon sprichst du?“ Ungläubig starrte sie ihn an. Nicht nur sie – die umstehenden Gefährten sahen einander genauso irritiert an.

Anstatt zu antworten lächelte er bloß, griff nach der Krone und wandte sich seinem Neffen zu. „Sie gehört dir, wenn du sie willst.“ Sprachlos starrte Fili seinen Onkel an, der ihm die Krone seines Landes entgegen hielt. „Nimm sie“, raunte er. „Ich habe sie nicht mehr verdient.“

„Liebling“, Marie lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf sich, „du hast dir diese Krone mehr als verdient. Willst du das wirklich?“

„Marie hat Recht.“ Nun war es Fili, der einen Schritt auf ihn zumachte. Ein Raunen ging durch die Mengen, als der junge Prinz nach der Krone griff. „Meine Zeit ist noch nicht gekommen.“

In diesem Moment drängte sich eine Frau an die Balustrade und rief aus vollem Halse: „Dechtanogh! Du bist unser König!“

Die Gefährten und alle, die es konnte, blickten zu der Rufenden und auf Thorins Gesicht breitete sich Unglauben aus. „Amris?“

Neben Amris erschien Raik, streckte die Faust in die Höhe und rief: „Lang lebe der König!“

Die Bewohner des Berges fielen einer nach dem anderen in die Rufe mit ein. Es wurde lauter und lauter.

Dechtanogh!!“

„Thorin Eichenschild! Thorin Eichenschild!“

„Lang lebe der König! LANG LEBEN DER KÖNIG!!“

Mit Tränen in den Augen blickte Marie zu ihrem erstaunten Verlobten auf. „Hörst du das? Sie wollen niemand anderen.“

Thorin war völlig geplättet über die Entscheidung seines Volkes. Er konnte es nicht glauben, welch Vertrauen es ihm entgegenbrachte. Wärme flutete seinen Körper und je lauter die Sprechchöre anschwollen, umso mehr verjagten sie die letzten Spuren von Smaugs dunkler Herrschaft.

Fili reckte die Krone empor und ließ für jedermann sichtbar das Zeichen der Königswürde auf das Haupt seines Onkels sinken. „Du bist unser König – gestern und heute.“

Das Volk jubelte und ihr alter und neuer König umarmte seinen Jungen.

Dechtanogh! Lang lebe der König! LANG LEBE DER KÖNIG!!“

„Lang lebe der König“, Marie stellte sich auf Zehenspitzen und stahl ein Kuss von dem mächtigsten Mann dieses Landes, der schon bald ihr Ehemann werden sollte. Thorins Lächeln aber strahlte über allem. Er zog sie an seine Seite und reckte gebadet im Jubel die Faust. Sein Blick ging zu der Frau an der Balustrade und wisperte ihr ein Danke zu.

Es dauerte eine Ewigkeit bis halbwegs Ruhe eingekehrt war, sodass er sprechen konnte. „Ich danke euch für eurer Vertrauen, das ihr mir entgegenbringt. Mögen Erebors Hallen ab diesem Tage stets mit goldenem Licht gefüllt sein. Mögen unsere Väter auf uns blicken und stolz sein und möge dieses Land zu seiner alten Stärke wachsen und noch tausend Jahre bestehen. Schon bald werden wir Hochzeit feiern - noch bevor unser Kind geboren wird!“, verkündete der König und legte die Hand auf den Bauch seiner Verlobten. Eingetaucht in einem Jubelsturm, der seines gleichen suchte, küsste Thorin sein Mädchen aus Kerrt und spürte solch Glück, dass er glaubte, Berge in die Lüfte heben zu können.

 

~

 

Das Leben ging seinen gewohnten Gang, doch die Verkündigung von Maries Schwangerschaft und die anstehende Hochzeit waren noch Wochen später das Gesprächsthema auf den Gassen und Straßen der Stadt. Eine gewöhnliche Hochzeit bedarf schon einiges an Planung, wenn aber der König heiratete, nahmen die Vorbereitungen gigantische Ausmaße an. Von morgens bis abends war Marie mit den Vorbereitungen beschäftigt. Raben brachten Einladungskarten und Antwortschreiben aus allen Ländern. Sie war stundenlang damit beschäftigt, Antworten zu verfassen, eine Aufstellung der Vorräte und Einkaufslisten zu schreiben. Thorin stand ihr zur Seite, jedoch warteten auf ihn zudem noch die Pflichten eines Königs. Trotz aller Arbeit nahmen die beiden sich regelmäßig und gern Zeit für Zweisamkeit.

Oft besuchte Marie ihn bei Sonnenuntergang draußen auf den Berghängen, wenn er mit Nachtschatten trainierte. Der stolze Hengst hatte sich gut erholt und vertraute seinem Herrn Tag für Tag mehr. Er schien das Trauma gut weggesteckt zu haben, das Smaug ihm angetan hatte. Gemeinsam saßen sie an jene Abende auf den Felsen und schauten sich atemberaubende Sonnenuntergänge an. Sie sprachen in den ersten Tagen nach der Rückkehr viel über das Geschehene, aber genauso sprachen sie auch über ihre gemeinsame Zukunft als Familie.

So viel wie sie in den ersten Tagen miteinander sprachen, so viel Schlaf holten sie nach. Es war das Erste, was sie nach ihrer Rückkehr taten: die Tür hinter sich zu schließen und einen ganzen Tag lang den bitter benötigten Schlaf nachzuholen.

Thorins Albträume waren weniger geworden, bis sie schließlich ganz aufhörten. Endlich fand er wieder Erholung. Stückchen für Stückchen heilte seine Seele, doch Narben würden unweigerlich auch dort bleiben. Ganz ungeschoren kam er allerdings nicht davon…

Ein Rabe hatte Gandalf in Bruchtal erreicht, der vergeblich dort auf sie gewartet hatte. Mit der Befürchtung, zu spät zu kommen, kehrte der Zauberer so schnell er konnte nach Erebor zurück, doch angesichts Thorins Wandlung verflog sein Zorn auf den waghalsigen Alleingang. Viele Stunden verbrachte er im privaten Gesprächen mit ihm und Marie und studierte alles, was die beiden ihm erzählten.

Smaugs endgültiger Vernichtung tat nicht nur Thorin gut. Auch bei Marie zeigte es Wirkung. Seit der Rückkehr wuchs ihr Bauch mit jeder Woche. Ihr Kind entwickelte sich prächtig, wie Meister Jora ihr versicherte. Die Verlobte des Königs war gern gesehen im Haus der Heiler, deren Besuche sie sich trotz Hochzeitsvorbereitungen nicht nehmen ließ. Sie hatte sogar ihren Unterricht in Pflanzenkunde mit Hingabe wieder aufgenommen.

Als sie eines Tages vom Unterricht zurückkehrte, stand ein Kinderbettchen mit einem wunderschönem Mobilie aus fliegenden Adlern im Schlafzimmer - ein Geschenk von Bofur und Bifur.

Die Hochzeit rückte näher und Thorin fragte sie, was er ihr als Hochzeitsgeschenk schenken könnte.

„Du hast mir doch schon ein Gemälde von Amris geschenkt“, widersprach Marie. Sie wollte nicht, dass er ihretwegen Unsummen ausgab. Er ließ nicht locker und so überlegte Marie lange und gründlich. Schließlich offenbarte sie ihm einen Wunsch. Wie erwartet war Thorin zunächst sehr irritiert, willigte aber schließlich ein.

Inzwischen waren (natürlich) Wetten abgeschlossen, welche Geschlechter die Babys hatten. Thorin hielt sich an Maries Vorhersage und wette ein halbes Vermögen auf ein Mädchen, während die anderen Männer der Ehre wegen viele auf einen Jungen tippten. Dasselbe galt für Ninak, deren Bauch noch schneller wuchs als Maries.

„Bist du dir sicher, dass da nur eins drinnen ist?!“, fragte sie ihre Freundin nicht nur einmal der Panik nahe.

Die frohe Kunde über einen kleinen Prinzen oder eine kleine Prinzessin war in aller Munde – egal ob Frau oder Mann, ob jung oder alt, Bergmann oder Gelehrter. Madame Asrik und Meister Farlo waren wahrscheinlich die Einzigen, die wenig begeistert über ihren wachsenden Schwangerschaftsbauch waren, denn das Hochzeitskleid musste bereits zweimal umgeändert werden.

Als Marie sich das erste Mal in einem solchen Kleid sah, konnte sie dem Spiegelbild nicht trauen. Diese Frau dort konnte nie im Leben dieselbe Frau aus dem kleinen Haus am Waldrand sein, die den Stall ausgemistet und bei Mondschein Kräuterpflücken gegangen war. Ninak, Minar, Su und Bruna waren bei den Anproben stehts dabei und standen ihr mit Rat und Tat zur Seite. Die Anproben dauerten mitunter Stunden. Es wurden keine Kosten und Mühen gescheut, auch die seltensten Stoffe und teuersten Geschmeide heranzuholen. Madame Asriks Laden sah teilweise aus wie eine weiße, glitzernde Wolkenlandschaft in der bis zu acht Helferinnen gleichzeitig herumwuselten.

Noch immer konnte Marie den feinen Stoff und die aufgenähten Diamantsplitter unter ihren Fingerspitzen fühlen, als sie wenig ein Buch aus dem Regal zog. In nicht einmal mehr drei Tagen würden die erste Gäste eintreffen und noch immer war keine Antwort von Anna angekommen. Allmählich machte Marie sich ernsthafte Sorgen, ob ihre beste Freundin es noch rechtzeitig schaffen konnte. Ob sie schon unterwegs waren?

Sie drehte den schmalen Einband in ihren Händen, besah sich die Vorderseite und klemmte zufrieden ihren neuen Lesestoff unter den Arm. Die Bibliothek war neben dem Haus der Heiler ihr Ruhepol geworden. Ein paar Stunden in der Woche verbrachte sie hier mit Lesen. Am liebsten las sie die Heldensagen von den Khazâd-felaks, den sagenumwobenen Halbgöttern, und erfreute sich an dem, was sie von ihnen über das Volk Durins lernen konnte. Vorsichtig stieg sie von der Leiter, drehte sich um und stand einer Frau gegenüber, die mit einer Armbrust auf sie zielte.

Maries Herz machte einen Satz. „Sladnik.“ Ihre staubtrockene Kehle würgte Wörter hervor, um der Panik Herr zu werden. „Was machst du hier?“

„Wonach sieht es aus?“ Der Hass war ihr ins Gesicht geschrieben. Die Waffe in ihren Händen war keine Täuschung. Es war eine geladene Armbrust, deren Bolzen direkt auf Marie gerichtet war.

So behutsam wie sie dazu im Stande war und sie nicht aus den Augen lassend legte Marie das Buch auf die Sprosse der Leiter. Es ratterte so schnell in ihrem Kopf, dass ihr schwindelte. Schon sehr bald würden die Glocken zur vollen Stunde schlagen und Raik sie abholen. Sie musste Sladnik in ein Gespräch verwickeln, um Zeit zu schinden. Doch Maries Stimme versagte ihr fast den Dienst. Ungeheure Angst war nicht das Einzige, was sie aufwühlte. Es war der flammende Zorn auf diese Frau, der sie mit voller Wucht erfasste. „Wie bist du zurück nach Erebor gekommen?“

„So wie ich es immer schaffe“, lautete die Antwort.

Marie fiel auf, dass sie die einfachen Kleider einer Bediensteten trug, allerdings waren sie von Staub regelrecht bedeckt. Wer weiß, durch welche geheimen Gänge sie geschlichen war, um unentdeckt zu ihr zu gelangen. „Die rothaarige Diebin. Das warst du gewesen, ist es nicht so?“

Ein gefährlich leises „Ja“ erklang. Immer noch zielte Sladnik direkt auf sie.

Während Marie in ihrem Kopf den schnellsten Weg aus der Bibliothek ablief, sprach sie weiter. „Du hast mir die Perücke in den Kleiderschrank getan, damit Thorin dachte, ich hätte den Arkenstein gestohlen. Wie bist du in mein Zimmer gekommen?“

„Dienerinnern werden nicht aufgehalten. Das hast du doch selbst erlebt, wie man in den Gasthäusern munkelt.“

„Die Perücken… Die Verkleidungen…“ Hinter ihrem Rücken suchten Maries Finger nach irgendetwas, was sie zur Abwehr nutzen könnte.

„Alles ich“, ein irres Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Die Diebin. Ein Zimmermädchen. Die Stimme aus dem Schatten. Ein Stallknecht.“

„Du warst das?“ Blankes Entsetzen rauschte durch ihr aufgepeitschtes Blut. „Du hast den Sattel manipuliert?“ Die Tatsache, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger gewesen war, realisierte Marie erst jetzt und ehe sie darüber nachdachte, donnerte sie der Verräterin entgegen: „Ich hätte bei dem Sturz mein Kind verlieren können!“

„Ein Jammer“, knurrte Sladnik und entriegelte die Armbrust.

 

39

 

 

Marie hob die Hände. „Sladnik, tu das nicht.“

„Sag du mir nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe!“

„Wieso hast du den Arkenstein gestohlen?“, würgte Marie hervor, um mehr Zeit zu schinden. „Was hattest du mit dem Erlös vor? Bist du nicht reich genug?“

Reich?“ Bösartige Funken sprühten aus ihren Augen. Der Bolzen zitterte im Lauf. „Du nennst mich REICH?!“ Sladnik kam näher und Marie sah sich nach links und rechts nach einem Fluchtweg um. „Mein Mann hat mir nichts als Schulden hinterlassen!“, sie spuckte das Wort Mann wie eine Beleidigung aus. „Mein Vater wollte, dass ich ihn heiratete. Er war fett und hässlich, aber ich musste es nach Thorins Abfuhr tun, damit meine Familie ihr Ansehen zurückbekam. Ich tat es nur aus Pflicht meiner Familie gegenüber. Und was tat er? Hat sich totgegessen und totgesoffen! Er hat sein Geschäft in den Ruin getrieben und mir nichts als dämliche Perücken hinterlassen. Ich habe mir nur das genommen, was ich an Thorins Seite hätte haben können!“ Tränen rollten über ihr vor Wut verzerrtes Gesicht. „Ich hätte diesen Ring tragen sollen! Ich hatte die Mutter dieses Kind sein sollen! ICH hätte KÖNIGIN sein sollen, nicht DU!!“ Sie drückte ab, doch war so in Rage, dass sie die Armbrust verriss.

Krachend schlug der Bolzen neben Marie ins Bücherregal ein und ließ diese losrennen. Sladnik musste die Waffe neu spannen. Diese paar Sekunden waren ihr einziger Vorteil.

Mit hochgerafftem Kleid rannte Marie das Labyrinth aus Büchern hinab. Mehrmals bog sie ab, um so viele Regale zwischen sich und dieser Verrückten wie nur möglich zu bringen und rief so laut sie konnte nach Hilfe. Sie hörte, wie Sladnik die Verfolgung aufnahm, doch wagte es nicht, sich umzudrehen.

„Komm her, Thronräuberin!“ RUMMS! Herausgerissenen Bücherseiten flatterten zu Boden. Wieder daneben.

Ihren Bauch und ihren Rock haltend rannte Marie weiter. Plötzlich erschien Sladniks mondlichthelles Haar hinter den Bücherreihen. Sofort schlug sie eine andere Richtung ein. Sie hatte Nichts, womit sie ihr entgegentreten konnte. Hier waren nur Bücher! Sie konnte diese Verrückte unmöglich mit einer Leiter oder mit Stühlen verprügeln.

Da tauchte endlich die Treppe auf, die zum Ausgang hinauf führte. Dort würde sie allerdings völlig ohne Deckung sein. Ehe sie den Gedanken zu Ende denken konnte, streifte etwas ihren Ärmel. Glühender Schmerz breitete sich in ihrem ganzen Arm aus. Geistesgegenwärtig presste Marie die Hand darauf und fasste in warmes Blut. Sladniks Knurren ertönte ganz nah hinter ihr, als diese sah, dass es nur ein Streifschuss war. Nun musste sie nachladen.

Das war Maries Chance.

Während das Blut in Strömen ihren Arm hinunterlief, stürmte sie die Treppe hinauf, das Portal fest im Blick. Die dicke Eichentür würde ihr die rettende Deckung geben, dachte sie gerade, als ihre Fußspitze an der nächsten Stufe hängen blieb. Marie stolperte und fing sich mit den Händen ab. Sie wirbelte zu ihrer Verfolgerin herum und sah, wie diese die Waffe hob.

In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen und Marie hätte beinahe gejubelt, als sie neben Raik und einem weiteren Soldaten auch Thorin erkannte. Die Männer starrten auf die Szene. Es war Raik, der keine Sekunde zögerte. Er hob seinen Speer und schleuderte ihn über Marie hinweg. Diese fuhr herum, doch da war es schon geschehen.

Die Speerspitze steckte in Sladniks Oberkörper und ragte aus ihrem Rücken wieder hinaus. Ihre leere Augen starrten Marie an, bevor sie an Ort und Stelle zusammenbrach.

Sie hörte Thorin nach ihr rufen, als sie kehrt machte und die Stufen, die sie soeben noch empor gerannt war, hinuntereilte. Marie kniete sich neben Sladnik und presste die Hand um den Speerschaft, um das Blut zu stoppen. Der zertrümmerte Brustkorb hob sich bebend, als Sladnik versuchte, Luft zu holen. Das aus ihrem Mund tretenden Blut war dunkel und schlug Blasen.

Unfähig ihr Leben zu retten, starrte Marie zu ihr hinab, bis jemand sie an der Schulter berührte. Behutsam, aber bestimmt griff Thorin ihre Hände und nahm sie fort. Du kannst ihr nicht helfen, stand in seinen Augen geschrieben.

Marie schaute auf die Sterbende und wusste, dass er Recht hatte. Noch ein Geräusch kam aus ihrer Kehle, dann lag Sladnik still.

Thorin half ihr aufzustehen und Marie drückte ihr Gesicht an seine Brust, um den Tod nicht mehr sehen zu müssen. „Es ist vorbei“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Es ist vorbei…“

 

~

 

Bis in diese kleine Kammer konnte man das monotone Brummen aus den Hallen vernehmen, was von tausenden Stimmen verursacht wurde. Es sorgte nicht wirklich für ein besseres Gefühl in ihrer Magengegend. Sie würde alles dafür geben, jetzt einen Schnaps für ihre Nerven zu bekommen.

„Wie war das noch gleich, Marie?“ Aus ihren Gedanken gerissen, wandte sich die Angesprochene nach Su um. „Etwas Altes? Etwas Neues?"

„Etwas Blaues!“, half Bruna ihr auf die Sprünge. „Aber was war das Vierte?“

„Etwas Geschenktes?“, versuchte es Minar. „Vielleicht etwas Rotes?

Mit Nachsicht erklärte Marie ihnen noch einmal, dass sie auch etwas Geliehenes tragen müsse, schmunzelnd bei dem Gedanken, dass dieser Hochzeitsbrauch den Zwerginnen völlig fremd gewesen war.

„Haben wir alles? Ist alles fertig?“ Su wirbelte durch die Kammer, in der es aussah, als hätte ein Troll vor kurzem darin gehaust. Es waren jedoch nur fünf Frauen von Durins Volk daran schuld. „Wo sind meine Schuhe?“

Minar leere ihr Glas Wein in einem Zug und zeigte in eine Ecke, während eine Zofe ihr das Kleid schnürte. „Da, wo du sie hingestellt hast.“

„Wir haben alles.“ Marie fasste an die Stelle, wo im Innensaum des Kleides auf ihren Wunsch hin eine kleine Tasche eingenäht worden war, um die Kette ihrer Mutter an diesem Tag bei sich tragen zu können – das einzige Schmuckstück, das sie von Myrrte besaß. „Etwas Altes.“ Als nächstes fuhren ihre Finger durch die winzigen aufgenähten Blätter aus Spitze und über funkelnde Steinchen dazwischen, die ihr Kleid über und über bedeckten. „Etwas Neues.“ Sie berührte die feine Silberkette, die sie von Suurin für diesen Anlass geborgt hatte. „Etwas Geliehenes. Und…“ Sie zeigte an ihren Hinterkopf, wo eine mit Saphiren besetzte Silberspange ihre Haare und den Schleier am Platz hielt.

„Etwas Blaues!“, riefen ihre bereits etwas angetrunkenen Freundinnen im Chor und zauberten der Braut ein Lächeln auf die Lippen.

„Du siehst so wunderschön aus“, schwärmte Tara und richtete gewissenhaft den Schleier, damit er weder vertüddelt noch jemand darüber stolpern konnte. „Wie Thorin wohl reagieren wird?“

Marie drehte sich erneut dem Standspiegel zu und betrachtete ihre Erscheinung zum zwanzigsten Mal in der letzten halben Stunde. Und zum zwanzigsten Mal bildete sie sich ein, zu träumen. „Er würde mich auch in Schürze und mit Dreck auf den Klamotten heiraten.“

„Natürlich würde er das. Es ist gleich so weit. Wie fühlst du dich?“

„Ich glaube, ich muss mich jeden Moment übergeben.“

„Wenn du deinen Mann siehst“, versuchte Tara ihr Bestes, um sie abzulenken, „wirst du alles andere um dich herum ausblenden. Lass mich dir verraten: ich hab ihn schon zu Gesicht bekommen und wenn ich die Wahl hätte, würde ich glatt noch einmal mit dir die Rollen tauschen.“ Ihre verschmitzte Art entlocke Marie ein Grinsen. „Sollen wir dich kurz mal allein lassen?“

Sie hätte ihr Zimmermädchen am liebsten geknutscht für dessen Gabe, stets von ihren Augen ablesen zu können, was ihre Herrin am meisten brauchte. „Danke“, wisperte Marie und schloss Tara herzlich in ihre Arme, die nicht nur ihr Zimmermädchen, sondern auch eine echte Freundin geworden war.

„Es wird alles gut werden“, sprach sie ihr Mut zu. Das Geplapper in der Kammer endete, als Tara die Anwesenden hinaus bat. Minar machte den Anfang und verkündete, dass sie schon vorgehen würden. Ihr folgten die Zofen und Bruna.

„Aber lass uns nicht allzu lange warten!“, rief Su noch schnell zwischen Tür und Angel.

„Du hast sie gehört, lassen wir ihr einen Moment.“ Ninak packte den blonden Wirbelwind und schleifte ihn hinaus.

Als die Tür endlich zu war, atmete Marie erst einmal tief durch. Allein mit ihren umherfliegenden Gedanken und mit ihrem Spiegelbild, was ihr ratlos beiseitestand, ging sie in der kleinen Kammer auf und ab, um ihre wackeligen Knie zum Gehorchen zu kriegen. Die Augen geschlossen hörte sie den Stoff ihres Kleides leise rascheln, das ferne Stimmengewirr und ihr pochendes Herz, laut wie ein Schmiedehammer. So aufgeregt wie jetzt war sie noch nie in ihrem ganzen Leben. Gleich würde sie hinausgehen, durch diese Tür dort. In der Thronhalle warteten alle bereits auf sie. Alle Fürstenhäuser waren anwesend und jeder Bewohner Erebors, der keinen Platz mehr auf den Emporen ergattern konnte, würde an den Straßen stehen, um einen Blick auf den König und die Königen erhaschen zu können. Bei dem Gedanken, dass alle nur sie ansehen würden, wurde ihr mulmig.

„Nur noch wir zwei“, sie streichelte ihren Bauch, der sich bereits unter dem Kleid abzeichnete. „Deine Mama kann jetzt jede Unterstützung gebrauchen, Kleines.“

Alle waren erschienen, um diesen besonderen Tag mitzuerleben. Trotz der Vorfreude, die jede Faser ihres Körper erfasst hatte, wurde ihr plötzlich schwer ums Herz, als sie unweigerlich an ihre Eltern dachte und daran, dass sie allein zu ihrem Mann würde schreiten müssen. Wie gern hätte sie ihren Vater gefragt, ob er seine Tochter ihrem Zukünftigen übergeben würde. Wie gern hätte sie ihre Mutter beim Aussuchen des Kleines dabei gehabt…

„Nicht heulen“, befahl Marie energisch sich selbst, als sie die Tränen hochkommen spürte. Die stundenlange Arbeit von Mim sollte nicht umsonst gewesen sein. Marie prüfte im Spiegel, ob ihre Wimperntusche verschmiert war, als es an der Tür klopfte. Ehe sie „Herein“ rufen konnte, wurde die Tür aufgedrückte und ein großer, schwarzer Hund kam in die Kammer gestürmt. Am anderen Ende der Leine hing ein Mann und wurde hineingezerrt. Der zottelige Hund lief direkt auf Marie zu. Diese konnte ihn gerade noch davon abhalten, an ihr hochzuspringen und fasste seine großen schwarzen Pfoten. Völlig überrumpelt starrte sie in eine haarige Schnauze auf Augenhöhe.

„T´schuldigung, geht es hier zu einer Hochzeit?“

Marie starrte an dem Hund vorbei in das Grinsen seines Herrchens. „Greg?“ Neben ihm tauchte ein Mädchen mit weizenblondem Haar auf. Beim Anblick ihrer Tante strahlten ihre Augen und ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Freudenschrei. „Mel?“ Das Mädchen eilte zu ihr. „Mel!“ Marie schlang die Arme um sie und konnte ihr Schluchzen kaum zurückhalten. „Mein Mädchen… Lass dich anschauen! Bist das wirklich du? Himmel, wie groß du geworden bist…“ Ihre Welt wurde ein Stück perfekter, als sie schließlich auch Anna erblickte. Die Monate, die sie in Erebor weit weg von ihrer Familie verbracht hatte, waren unwirklich. Anna sah noch genauso aus, bevor sie ein letzten Mal über ihre Schulter zurückgeschaut hatte. Die beiden Freundinnen liefen einander entgegen und Anna ging vor ihr in die Knie. Innig wie einen Schatz umschlag Marie sie, während die Tränen nicht mehr zurückzuhalten waren.

„Ich dachte schon, ihr schafft es nicht…“

„Ich hätte mir Flügel wachsen lassen, nur um das mitzuerleben!“ In Annas Augen standen ebenfalls Tränen. Sie betrachtete ihre Freundin von oben bis unten, „Wie schön du bist… Du…“, bis ihr Blick an ihrem Bauch hängen blieb, der genau wie ihr eigener eine Wölbung aufwies.

Die Schuld von sich weisend zog Marie die Schultern hoch. „Ähm…Überraschung?“

 

Die Zeit verflog und aus fünf Minuten wurden dreimal so viele. Marie konnte sich nicht von ihrer Familie trennen, die nun endlich die frohe Botschaft erfahren durften. Die ganze Zeit plapperte Mel, was sie alles schon in Erebor gesehen hatte und fragte, was alles noch auf sie warten würde. Ihre Neugier kannte keine Grenzen und ließ ihre Mutter die Augen verdrehen.

Es bedeutete Marie die Welt, dass sie es rechtzeitig geschafft haben, um an diesem Tag bei ihr zu sein. Und nicht nur das: Anna, Greg und Mel würden sogar mehrere Tage in Erebor bleiben und mit den Zwergen leben. Endlich würde Marie ihrer Familie ihre neue Heimat, ihr neues Leben zeigen dürfen – ein lang gehegter Wunsch, der in Erfüllung geht.

Die Zeit schritt voran und dann war der große Moment nicht mehr hinauszuzögern. Zusammen mit zwei weiteren Dienerinnen erschienen Tara und Ninak.

„Wir sehen uns gleich wieder.“ Ein letztes Mal umarmte Anna ihre Freundin als unverheiratete Frau und verließ mit ihrer Familie die kleine Kammer, um ihre Plätze einzunehmen.

Tara schimpfte wie ein Rohrspatz, als sie die Arbeit von Mim retten musste, aber Maries Lächeln konnte nichts mehr anhaben. Von ihren Gefühlen eingelullt merkte sie kaum, dass Ninak ihren Arm in ihren einharkte und ihr den Brautstraß in die Hand drückte, während Tara und die Dienerinnen Schleier und Schleppe nahmen. Bis zur Thronhalle war es nicht weit, ein kleiner Fußweg, für Marie aber waren es bloß Sekunden.

Die mit grünen Ranken und Flaggen geschmückten Straßen waren gesäumt mit Zuschauern, die Wimpel des Landes bei ihrem Anblick schwangen. „Da kommt sie!“

„Die Braut, Mama, die Braut!“

„Hebt mich hoch, ich will sie auch sehen!“

„Schaut!“ Rufe und Applaus folgten ihr auf dem Fuß. Lächelnd winkte Marie den Schaulustigen zu, die ihr Blumen auf die Straße warfen.

An der Thronhalle wartete eine weitere Überraschung auf sie. Vor den geschlossenen Türen stand Dwalin, herausgeputzt wie Marie ihn noch nie gesehen hatte. Als dieser sie wiederum sah, stand ihm der Mund offen. „Mädchen“, er räusperte sich, um seine Stimme wiederzubekommen. „Du siehst…toll aus.“

Über den Einfallsreichtum ihres Mannes konnte Ninak bloß die Augen an die Hallendecke verdrehen. Sie stieß ihn mit den Ellenbogen an.

„Ja, ja…wir haben uns gedacht… Also…“ Ein weiteres Räuspern war nötig, damit der Krieger seine eigene Nervosität überspielen konnte. „Es wäre mir eine Ehre, wenn ich dich anstatt deines Vaters übergeben dürfte.“

Seine Worte mussten erst den Weg durch die rosa Wolken in ihrem Hirn finden, ehe sie sie verstand und ihr Strahlen noch breiter werden ließen. „Du ahnst nicht, wie viel mir das bedeutet.“ Sie küsste den Krieger auf die Wange, die daraufhin feuerrot wurde. „Danke.“

Dwalin wischte über die heiße Stelle, als könnte er es verstecken. „Ich stehe mir hier schon die Beine in den Bauch. Lassen wir sie nie länger warten, Mädchen.“ Marie nahm seinen dargebotenen Arm. Tara, Ninak und die zwei Dienerinnen breiteten hinter ihnen die Schleppe und den Schleier aus und zupften so lange daran rum, bis sie in der richtigen Position lagen.

Dann wurden die Türen geöffnet und ganz Erebor hielt den Atem an.

In einem Traum aus Weiß erschien die Braut und zog hinter sich einen ausladenden Schleier nach, den nur Göttinnen erschaffen haben konnten. Thorin glaubte, einen aufgehenden Stern am Firmament zu sehen. Das Schicksal musste einen Narren an ihm gefressen haben.

Einst weckte ein Mädchen aus Dale die Aufmerksamkeit eines vergebenen Prinzen und ließ ihn in seinen Gedanken nicht mehr los. Dieser Mensch verzauberte ihn mit ihrer Güte und mit ihrem aufrichtigem Herzen, so dass er ein paar Jahre später in einer Sommernacht ihr den ersten Kuss stahl. Der Angriff auf Dale und Erebor erschütterte ihrer beiden Leben bis in ihre Grundfesten und stellte den jungen Prinzen vor die Wahl. Er hatte sich entscheiden müssen. Er entschied sich für sein Volk und begann den größten Fehler seines Lebens. Das Schicksal verzieh ihm diesen Fehler, denn eines Nachts bei Mondschein, traf er sein Mädchen aus Dale mitten im Nirgendwo wieder, sechzehn Jahre später. Dasselbe Mädchen von einst, dass er heute zur Frau nehmen würde.

Ein Knuff von Kili in die Seite weckte ihn aus seinen tiefen Gedanken. Thorin sah seinem Jungen in das grinsende Gesicht und spürte, wie eine Träne heimlich in seinem Bart verschwand.

Maries Herz raste so schnell, dass ihr schwindelte. Ihre Hand in Dwalins Ärmel gekrallt hörte sie nicht das Dröhnen der Hörner, sie sah nicht die Massen an Zwergenfrauen und -männern auf den Emporen. Einzig und allein sah sie Thorin dort vorne stehen und ihr entgegenblicken, ganz in Schwarz und Silber gekleidet und die Krone seines Landes auf dem dunklen Haar.

Als sie schließlich doch nach rechts blickte, stockte ihr für einen kurzen Augenblick der Atem, denn sie hätte schwören können, dass dort oben ihre Eltern gestanden hatten. Es war schon lange her, dass sie sie gesehen hatte und trotzdem zauberten ihre Erinnerungen Soren und Myrrte für sie an diesem besonderen Tag zwischen all die anderen, die ein Teil ihrer Familie waren.

Anna, Greg und Mel standen, aufgenommen in ihre Mitte zwischen den Frauen der Gefährten, die in den letzten Monaten zu wahren Freundinnen geworden waren.

Vor dem Thron standen die Gefährten Spalier und warteten auf die Braut.

„Ich habe mir vorgenommen nicht zu flennen.“ Eisern versuchte Nori nicht seinen Gefühlen kleinbeizugeben.

„Ich mir nicht“, entgegnete Bofur und heulte drauf los.

Bilbo überließ ihm gerne sein Taschentuch.

Mit einem barmherzigen Lächeln im grauen Bart stand Gandalf vor dem Königsthron und schaute mit allen anderen den Einzug der Braut.

Dwalin erreichte mit Marie das Felsplateau und schritt durch die Gefährten hindurch, die sich einer nach dem anderen vor ihr verbeugten. Es wurde mucksmäuschenstill, als Thorin vortrat und Dwalin in der Sprache ihres Volkes sprach: „Seid Ihr der Mann, der diese Frau begehrt? Seid Ihr es, der uns heute an diesem Ort versammelt ließ?“

„So wahr ich hier stehe“, antwortete Thorin, „dieser Mann bin ich.“ Sein Blick verschlang sie und Marie spürte Hitze in ihrem Körper ausbrechen.

„Könnt Ihr für diese Frau sorgen?“

Diese Frage verursachte ein paar Lacher bei den Zuhörern. Um die alte Tradition der Brautübergabe kam augenscheinlich selbst ein König nicht drum herum.

Thorin breitete die Arme in einer allumfassenden Geste aus. „Ich lege ihr mein Land zu Füßen. All meine Besitztümer sollen die ihre sein. Meine Kammern sind voll. Mein Fleisch, mein Getreide, mein Bier – all meine Vorräte sollen die ihre sein. Ich gebe Euch mein Wort, es wird ihr bei mir an nichts fehlen.“

„Könnt Ihr sie beschützen vor jedem Feind und jeder Intrige? Könnt Ihr die Ehre dieser Frau verteidigen, gegen jeden, der sie in Frage stellt?“

Als Antwort zog der König Erebors sein Schwert und präsentierte es. „Ich würde diese Frau mit meinem Leben beschützen.“

Dwalin nahm Orcrist an sich und wog das große Schwert in seiner Hand, als müsste es die Qualität prüfen. „Werdet Ihr ihr treu und ein guter Ehemann sein?“

„Das werde ich“, schwor Thorin. Marie hatte keinerlei Zweifel.

Nun verlangte die Tradition es, dass der Brautvater über den Mann, den seine Tochter auserwählt hatte, und seine Vorzüge nachdachte. Mit Freude kostete Dwalin seine Rolle voll aus und zögerte die Antwort extra lang hinaus. Marie konnte nur still danebenstehen und wie auf heißen Kohlen warten. Einem Flehen gleich breitete Thorin die Hände aus und amüsierte so das Volk auf den Emporen.

„Nun, ich habe nachgedacht“, verkündete Dwalin protzig. „Ich übergebe Euch diese Frau unter einer Bedingung!“ Nicht nur das Volk war gespannt. Marie wäre Dwalin fast an die Gurgel gegangen. Es grenzte an Folter, was er hier mit ihnen zum Spaß trieb.

„Egal, was es sein wird, Ihr sollt es bekommen“, sagte Thorin. „Was ist Eure Bedingung?“

„Sieben Tage und sieben Nächte soll Euer Volk essen und trinken, so viel es will. In jedem Wirtshaus in ganz Erebor soll es Bier auf Eure Kosten geben, auf das wir auf Euer Wohl und auf das Wohl Eures Kindes feiern können.“ Seine Forderung löste einen wahren Sturm aus Jubel und Beifall aus, der die Hallen zum Beben brachten. Thorin lachte und reichte seinem besten Freund den Arm. Über seine List feixend schlug Dwalin ein, nahm nun endlich Maries Hand und reichte sie Thorin. Marie blickte ihrem Verlobten in die Augen und biss sich auf die Lippen.

„Hast sie dir redlich verdient, alter Hund.“ Die beiden tauschten eine ruppige Männerumarmung aus. Dabei raunte Dwalin ihm zu: „Vermassel es nicht…“

Thorin hörte kaum mehr hin. Endlich konnte er seine Braut zu sich ziehen. Er belohnte ihr Warten mit einem Kuss auf die Stirn. „Ich muss träumen“, murmelte er. „Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe.“

Schon erhob Gandalf das Wort, aber Marie fiel es schwer, zu zuhören. Sie hatte nur noch Augen für den Mann ihr gegenüber. Alles lief so schnell ab, sie war wie in einer Traumwelt, aus der sie nie erwachen wollte. Und schon fragte der Zauberer die Frage aller Fragen. Thorin sagte ja und Gandalf stellte Marie dieselbe Frage. Auch sie sagte ja und mit zitternden Finger steckten sie sich gegenseitig die Ringe an.

„Euer Hoheit, Ihr dürft die Braut jetzt…“ Gandalf hatte den Satz kaum ausgesprochen, als Thorin seine Frau eingetaucht im ausbrechendem Jubel küsste. Marie schlang die Hand um seinen Hals und drückte ihren Mann noch näher zu sich. Die Gefühle explodierten. Sie ließen einander nicht los, besiegelten ihre Ja-Worte mit einem nicht enden wollenden Kuss, während eindrucksvolle Glockenschläge durch die Hallen unter dem Berge gingen und für alle Kund taten, was sie einander versprochen hatte.

Amra limé“, wisperte Marie und eine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel.

„Ich dich auch. Hier und jetzt. Mein Leben lang“, gab Thorin genauso leise zurück und küsste sein Mädchen aus Dale erneut. Die Glockenschläge verstummten, als ein weiteres Mal Erebor den Atem anhielt.

Eine Krone aus ineinander verflochtenen Silberranken und verziert mit weißem Kristall wurde zu ihnen getragen. Marie konnte ihren Blick nicht von dem anmutigen Heiligtum abwenden, das sie zum ersten Mal zu Gesicht bekam, und als sie erkannte, dass diese Krone nur für sie angefertigt sein musste, drehte sie sich zu Thorin, um ihre Gedanken mit ihm zu teilen. Anhand seines Schmunzelns wusste sie, dass er der Schmied gewesen war. Mit einem Mal wurde ihr klar, was nun folgte.

Mit einem Mal war alles anders.

Sie glaubte, alles Blut in ihrem Körper in ihre Füße fallen zu spüren. Sie war doch nur eine Tochter von Heilern, eine einfache, bürgerliche Frau. Es muss eine höhere Macht ans Werk gegangen sein, um solche Wunder zu vollbringen.

Gandalf war es, der die filigrane Schmiedekunst nahm und es über ihrem Kopf hob. Die Farben des Arkensteins spiegelten sich für einen Moment darin und zauberten ihre Lichter in die weißen Kristalle. Seine Stimme war laut und ehrfürchtig, als er sprach: „Möge ihr Herz aufrichtig und gütig diesem Land und all seinen Bewohnern dienen, noch hundert Jahre von diesem Tage an.“ Die Krone sank auf ihr Haar und obwohl es niemand von ihm verlangt hätte, so kniete Thorin nieder.

Der ganze Berg tat es ihm gleich.

Marie entließ den angehaltenem Atem und blickte auf ihr Volk.

Sie war die Königin Erebors.

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Epilog I

 

 

Thorin hielt Wort.

Sieben Tage und sieben Nächte feierte Erebor eine Hochzeit, an die man sich noch Jahre später erinnern sollte. Es wurde die Nächte hindurch getrunken und getanzt, im Festsaal, in allen Wirthäusern, selbst auf den Straßen. Lieder wurden gesungen und Geschichten erzählt.

Am achten Tag versammelten sich die Gefährten im Morgengrauen vor dem Haupttor, um Abschied zu nehmen.

Bilbo kehrte zurück ins Auenland, von dem er schon so lange fern war.

Marie stand an Thorins Seite und konnte ihren Meisterdieb wie alle anderen nur schwer gehen lassen. Mit allerlei bepackt, was er mit nach Hause nehmen wollte, stand er mit großen Augen vor ihnen. Gandalf wartete etwas abseits. Er würde Bilbo bis an die Grenzen des Auenlandes begleiten.

„Wenn ihr mal wieder nach Beutelsfeld kommt…“ Bilbo brach den Satz ab und hielt einen Moment inne. „Tee gibt‘s um Vier. Es ist genug da. Ihr seid jederzeit willkommen“, sprach er. „Ihr braucht nicht anzuklopfen.“

Leise lachten die Zwerge. Auf ihren Gesichtern lagen traurige Lächeln. Trotz des Abschiedes teilten sie Bilbos Vorfreude auf die Heimat, denn jeder von ihnen wusste, was es heiß, seinem Zuhause fort zu sein.

Als Letzter trat Thorin vor und umarmte ihn. „Danke, mein Freund.“ Seine Worte waren schlicht, doch von unendlichem Wert.

„Ich habe zu danken“, wisperte Bilbo, „für all die Abenteuer, die ich erleben durfte.“

Die Gefährten blieben zurück, als Bilbo auf sein Pony kletterte. Ein letztes Mal schaute er zurück, bevor er den Blick gen Horizont richtete und Gandalf folgte.

Während die Zwerge in den Berg zurückkehrten, standen Marie und Thorin noch eine Weile vor dem Tor und blickten ihnen nach. Marie lehnte ihren Kopf an die Schultern ihres Mannes und dieser legte den Arm um sie. „Ist das ein Lebewohl?“, fragte sie leise.

„Nein“, antwortete Thorin und ein Lächeln hob seinen Mundwinkel, „ein Auf Wiedersehen.“

 

 

Epilog II

 

 

Die Männer überwachten die Arbeiten, bis sie auf die Neuankömmlinge aufmerksam gemacht wurden. In der prallen Sonne der Mittagshitze ritten zwei Frauen über die Ebene, jede hatte einen Soldaten bei sich, der das Pony führte. Mit einem ungläubigen und zugleich machtlosen Kopfschütteln gingen Dwalin und Thorin gefolgt von den Jungs ihnen entgegen und nahmen ihre eigenwilligen Frauen in Empfang.

Beim Anblick seiner hochschwangeren Tanten konnte Kili das Feixen nicht sein lassen. „Wie seid ihr denn da draufgekommen?“

„Kann ihm mal jemand eine scheuern?“, rief Ninak und wurde von Dwalin aus dem Sattel gehoben, der sein eigenes Grinsen verbergen musste.

Fili übernahm das gerne und zog seinem Bruder eine Schelle über den Hinterkopf.

„Ihr beiden solltet nicht hier draußen sein“, tadelte Thorin sie, als Marie sanft von Goldie hob. „Wie oft soll ich dir eigentlich noch sagen, dass du…“

„Zuhause bleiben und dich schonen sollst?“, beendete Marie den Satz für ihn und drückte mit einem Stöhnen ihren Rücken durch. „Erst so um die dreitausend Mal. Mir geht es gut“, versicherte sie ihm, als er eine böse Miene machte, „ich hab nur einen dicken Bauch, das ist alles.“

„Gerade deshalb…“

„Ich kann meinen Körper gut einschätzen“, entgegnete sie. „Ich bin viel zu neugierig auf den Fortschritt, als dass ich den lieben langen Tag zuhause bleiben und die Füße hochlegen könnte.“ Sie harkte sich bei ihm ein und ging das letzte Stück zu Fuß. Groß und rund zeichnete sich ihr Bauch unter dem Kleid ab. Die Schwangerschaft wurde nun mit jeder Woche anstrengender, dabei hatte sie noch mehr als einen Monat vor sich. Nicht mehr lange und ihr Baby würde auf die Welt kommen. Als Heilerin und Wehmutter hatte Marie schon zahllose Kinder auf die Welt geholt und war angesichts des nahenden Tages nicht sonderlich besorgt. Ihre Ehemann allerdings wurde mehr und mehr zu einem Nervenbündel, was sie ihm nicht verübeln konnte.

Thorin führte sie zu der Erhebung, von der er und die Männer die Arbeiten überwacht hatten. „Wir haben schon eine große Fläche. Der Boden ist zwar hart, aber unsere Piken ebenfalls. Die Bewässerung funktioniert gut.“

Marie schirmte die Hand gegen die Sommersonne ab, um sehen zu können. Hand in Hand arbeiteten auf der Hochebene Menschen und Zwerge in ruhigem Gleichklang an der Aufforstung des Waldes, der hier entstehen sollte. Von überall hörte man Schläge von Spitzhacken und Schaufelhiebe.

„Lass uns näher gehen“, bat Marie und wurde von Thorin begleitet. Auf jeden ihrer Schritte achtend gingen sie durch die Bepflanzungen, die kreuz und quer die Ebene bedeckten. Große Säcke voll Saatgut standen in ihrer Nähe. Mit Wasserfässern beladene Ochsenkarren standen bereit, um die frisch gepflanzten Samen zu bewässern, die man in kleinen Steinkreisen markiert hatte, damit niemand darauf trat.

Marie griff in die Säcke und befühlte die Samen. Haselnüsse, Bucheckern, Tannenzapfen, Ahornsamen, Kiefernzapfen… Es war ihr Hochzeitsgeschenkt. Sie hatte sich einen neuen Bergwald für die nächsten Generationen gewünscht.

„Schau, Liebling.“

Sie blickte Thorins Fingerzeig nach. Dort vor ihnen schaute ein kleiner Sprössling aus der Erde hervor und zauberte Marie ein strahlendes Lächeln ins Gesicht. Im nächsten Moment musste die Hände stützend unter ihren Bauch legen. „Sie tritt schon wieder“, knurrte sie. „Vielleicht“, so sprach sie nach einem Atemzug weiter, als die Kindsbewegungen weniger wurden, „durchschreiten wir mit unseren Enkeln eines Tages diesen Wald, wenn wir alt und grau sind.“

Thorin legte die Hand auf den Bauch seiner Frau und blickte in Augen, die die Farben des Waldes voraussagten. „Ich kann den Tag kaum erwarten.“

 


Epilog III

 

 

Das Knacken des Kaminfeuers und der Duft von Tabakskraut erfüllten den Wohnraum mit familiärer Geborgenheit.

Man schob ihr noch ein Kissen in den Rücken, damit sie es bequemer hatte, ehe man ihr einen dampfenden Tee reichte. Marie bedankte sich bei dem Zimmermädchen. Mit dem warmen Krug in ihren Händen kuschelte sie sich in den Sessel und legte die Füße hoch.

Neben ihr trank Ninak mit Genuss ein frisch gezapftes Bier. Ihr gegenüber saß Dwalin und wiegte seinen schlummernden Sohn mit einer Hand, von dem nur ein kleiner, roter Haarschopf hervorschaute, während er in der anderen sein eigenes Bier hielt. Einen langen, liebevollen Blick tauschte er mit seiner Frau aus, bevor er von väterlichem Stolz erfüllt zurück auf seinen Sohn schaute, von dessen Anblick er sich nicht losreißen konnte.

„Ein Brief von Kili!“ Fili kam zur Tür herein und wedelte mit dem Schriftstück in der Luft, das sofort die Aufmerksamkeit auf sich zog. „Ist gerade reingekommen.“

„Was schreibt er?“ Neugierig beugten sich Marie und Ninak vor, um einen Blick darauf zu erhaschen. Fili begann vorzulesen:

Hallo Daheim, mir geht es gut… Blablabla… Hier, jetzt wird es interessant. Das Schiff hält, was sein Name verspricht. Die „Sturmrose“ durchpflügt auch schwierigen Wellengang ohne zu Ächzen. Die Mannschaft versteht ihr Handwerk. Wir haben bereits das Kap Andrast hinter uns gelassen und segeln nun nach Norden. Diese Seite Papier würde nicht ausreichen, um von allem berichten zu können…“

Zeile um Zeile las Fili die Nachricht seines Bruders vor und tauchte zwischendurch mit Marie vielsagende Blicke aus. Sie beide waren die Einzigen, die wussten, dass Kili nicht allein zu diesem Abenteuer aufgebrochen war.

In Maries Vorstellung stand ihr Junge gerade zusammen mit Tauriel an der Reling des beeindruckendes Schiffes, das den Anduin hinunter gefahren war, und nun über das Meer dem Nordstern folgte…

In diesem Moment ertönten quiekende Schreie und forderten so Aufmerksamkeit. Marie wollte bereits aufstehen, da legte Thorin seine Pfeife aus der Hand und gab ihr zu verstehen, dass sie sitzen bleiben konnte.

Er ging zu dem kleinen Bettchen im Schlafzimmer, wo seine Tochter weinend mit ihren Ärmchen und Beinchen trampelte.

„Bist du aufgewacht? Schschsch… Papa ist ja da.“ Behutsam hob er das winzige Neugeborene hoch, legte es an seine Brust und begann, ganz sachte hin und her zu schaukeln. Sofort hörte sein Mädchen auf zu schreien, als wusste sie ganz genau, wer sie da in den Armen hielt. „Hast du schlecht geträumt, mein Schatz?“, wisperte Thorin und streichelte seiner Tochter über das schwarze Haar, das ihr Köpfchen schon jetzt bedeckte.

Mit einem glücklichem Lächeln sah Marie ihm zu, wie er mit seinem Töchterchen im Zimmer auf und ab lief.

Seit seine Tochter in einer stürmischen Gewitternacht geboren worden war, hatte er schon viele Nächte so verbracht: schaukelnd und leise murmelnd von einer Zimmerecke zur anderen schleichend. Das war schon drei Wochen her, dabei hätte er schwören können, dass es erst gestern gewesen war. Die Zeit verflog nur so.

Er trat an die bodentiefen Fenster heran und sah den Mond groß und voll am Nachthimmel stehen. „Wenn du größer bist, erzähle ich dir die Geschichte, wie ich deine Mutter bei Vollmond auf einer Lichtung wiedergefunden habe. Es ist eine ziemlich lange Geschichte - muss ich zugeben, aber sie wird dir gefallen. Sie handelt von Abenteuern, großem Mut und von Selbstlosigkeit. Ein Drache kommt auch darin vor… Aber noch bist du zu klein für diese Geschichte. Eines Tages, Runa, erzähle ich sie dir“, flüsterte er den Namen seiner Tochter, die für ihn ein noch größerer Schatz war als alles Gold im Erebor.

 

 

Nachwort

 

Bislang gab es in jedem Band ein kleines Nachwort. Es zu schrieben, viel mir nie schwer. Nun habe ich nur wenige Worte übrig.

Ich schreibe seit dem Jahr 2015 an dieser FanFiction, nicht dauerhaft, aber Stückchen für Stückchen. Es ist nur ein Hobby, dem ich nachgehe, wenn noch Zeit am Tag übrig ist. Ich will damit kein Geld verdienen, sondern einfach nur meiner Kreativität nachgehen.

Heute haben wir März 2023.

Ich habe sehr viel Herzblut in diese verflixt ausgeartete Geschichte gesteckt, die mich schon eine so lange Zeit begleitet. Ich konnte in dieser Zeit einiges über das Schreiben an sich lernen, und habe gemerkt, wie mein Stil sich über die Jahre verändert hat.

Nun endlich hat diese Geschichte ihr verdientes Ende gefunden und ich schaue mit einem stolzen und zugleich mit einem weinenden Auge zurück.

Die Fertigstellung hat lange gedauert, aber ich musste Marie und Thorin ein würdiges Ende geben und all meine Gedanken schwarz auf weiß niederschrieben, um sie loszulassen.

Ich hoffe, ihr habt beim Lesen genauso viel Freude gehabt, wie ich an Maries und Thorins Geschichte beim Schreiben.

Zum Schluss bleibt mir nur eines zu sagen: Danke für eure Treue ♥

In Zukunft werde ich andere Projekte starten – diesmal keine FanFictions, ich schwöre es!

 

Alles Liebe,

Lisa

 

 

PS: Vielleicht trifft man sich eines Tages mal wieder in Erebor…

Es gibt da noch ein oder zwei Geschichten, die erzählt werden könnten.

 

 

Impressum

Bildmaterialien: https://www.pinterest.de/pin/1106126358456114077/
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2023

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /