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Der König Erebors

 

 

 

Wenn Sterne uns Licht geben

 

 

 

Band 4

 

 

Teil Eins

 

 

 

 

Fanfiction / High Fantasy

 

 

 

 

 

Lisa Ausmeier

 

 

 

 

 

 

 

 

Dies ist eine Fanfiction, basierend auf dem Roman ,,Der Hobbit“ von J.J.R. Tolkien und den Filmen der ,,Der Hobbit“- Trilogie von Peter Jackson.

 

 

Die Handlung ist fiktiv und meine eigene Interpretation.

 

Alle Figuren, die nicht im Original auftauchen, sind fiktiv.

 

Die Khuzdul-Übersetzungen stammen von verschiedenen Internetseiten und wurden teilweise verändert.

 

 

 

 

Juli 2016 – Januar 2018

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Alle guten Geschichten verdienen es, ausgeschmückt zu werden.

 

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Gandalf (Der Hobbit – Eine unerwartete Reise)

 

 

 

 

 

 

Stark zu sein, heißt nicht, nie zu fallen.

Stark zu sein, heißt, immer wieder aufzustehen.

 

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Unbekannt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Es war kalt hier in der Finsternis. Es gab keine Sonne, keinen Mond und keine Sterne, die Licht für ihn schaffen konnten.

Nur Schwärze und flüsternde Stimmen, die seine ständigen Grabwächter waren.

Leise. Murmelnd. Weit entfernt und dennoch nah.

Ihm war kalt. Er hockte sich hin, schlang die Arme um seine Schultern, aber die Kälte reichte nicht bis in sein Innerstes, konnte ihm nichts anhaben. Er war sicher. Beschützt durch etwas, was er nicht sehen, nicht verstehen konnte. Dafür spürte er es.

Eine Macht, die ihn an diesem Ort hielt.

Auf der Suche nach Licht blickten seine Augen nach oben, an ein leeres unendliches Firmament, in einer Welt, die zwischen dem Leben und dem Tod existierte.

  

1

 

 

Es war die schlimmste Folter der Welt.

Zu warten. Zu wissen, dass man nichts tun konnte.

Die Wintersonne drang nur schwach durch den Schlitz der schweren Vorhänge, die zugezogen für dämmriges Licht sorgten. Draußen trieb seit vier Tagen nun schon ein schwerer Schneesturm sein Unwesen und ließ seine Winde über dem Einsamen Berg freien Lauf.

Auf einem Stuhl nahe der Tür saß Bilbo und blickte auf das Bett, das von einem kleinen Meer aus Licht schützend umringt wurde. Entzündete Kerzen standen entlang der Wandverkleidung, auch auf den Nachttischen und Hockern vor den zugezogenen Fenstern brannten sie.

Manchmal hörte er den Wind unter eine Böe brausen, ansonsten war es ruhig im Raum. In der Stille hatte Bilbo genug Zeit, um über das nachzudenken, was in den letzten Tagen passiert war, genug Zeit, um versuchen, es zu verarbeiten und zu verstehen. Traurig sah er auf die regungslose Gestalt, die geborgen unter Decken und dem Kerzenschein vor ihm lag, während seine Gedanken zu dem Tag zurückwanderten, an dem ein gnadenloser und blutiger Krieg auf diesem Land sein Ende gefunden hatte.

 

~

 

,,Leb wohl, Meisterdieb…“

,,Bitte… Bitte nicht“, flehte er ihn an, nicht zu gehen. Er wollte ihn nicht sterben sehen. Und doch wusste er, dass er nichts mehr für ihn tun konnte.

,,Kehr zu deinen Büchern zurück und zu deinem Sessel. Pflanz deine Bäume…sieh zu, wie sie wachsen.“ Seine einst so tiefe Stimme voller Kraft war nichts weiter als ein Flüstern. ,,Gebe es nur mehr, die ein Zuhause höher achten, als Gold“, ein Lächeln erschien auf seinen blutleeren Lippen, ,,diese Welt wäre ein viel glücklicherer Ort.“ Er stöhnte leise unter seinen Schmerzen und seine Augen richteten sich an Bilbo vorbei in den schneeverhangenen Himmel.

,,Nein! Nein, nein… Nein, Thorin. Wag es ja nicht! Bitte… Halt durch. Halt nur noch einen Augenblick durch… Hilfe kommt. Man wird dir helfen… Thorin? Bleib wach! Hör nicht auf zu kämpfen! Thorin!!“

Mit dem leisen verebben seines Atems brach sein Blick. Leise und friedlich starb Thorin vor seinen Augen.

,,Thorin, die Adler, die Adler sind da…“ Er berührte ihn, zeigte auf die großen Vögel am Himmel, bis die Erkenntnis ihn Einhalt gab. Bilbo sackte in sich zusammen, legte die Hände übers Gesicht und begann allein im Schnee sitzend zu weinen.

 

Wie lange er so neben dem toten Körper gesessen hatte, wusste er nicht, als die Gefährten endlich zu ihnen gelangten, welche auf Bilbos Hilferufe hin den Rabenberg hinaufgeeilt waren. Jemand legte ihm die Hand auf die Schulter. ,,Bilbo…“

,,Er ist tot“, war das einzige, was er sagen konnte, ehe neue Weinkrämpfe seinen Körper schüttelten. ,,Ich konnte ihm nicht helfen…ich konnte nicht… Warum? Das hat er einfach nicht verdient...“

,,Bilbo…“ Bofur war es, der sich neben ihn kniete und ihn nun in den Arm nahm. Wie ein verlorener Junge klammerte er sich an seinem Ärmel fest - ihm war egal, was die Anderen über ihn dachten. Es tat einfach weh. Zu sehen, wie ein Leben erlosch, wie es einem hilflos durch die Finger rannte… Er ballte genau jene, an denen noch Thorins Blut haftete, zu Fäusten, und versuchte seine Schluchzer zu ersticken, die aus ihm heraus zu brechen drohten.

Nur am Rande seiner Emotionen nahm Bilbo Gloin, Dwalin, Bombur und Bifur wahr, die ebenfalls anwesend waren. Er war nicht der Einzige, der seine Gefühle nicht verbergen konnte. Die sonst so hartgesottenen Zwerge hatten alle im Angesicht ihres Anführers Tränen in den Augen. Balin weinte leise. Nur mit größter Beherrschung konnte Bilbo mit ansehen, wie sich Dwalin neben seinen toten Freund hockte, die Hand auf dessen Brust legte und die Wunde zwischen den aufgebrochenen Kettenreihen berührte, das mit Blut besprenkelte Gesicht von einem Schmerz verzogen, den nur die beiden zu verstehen vermochten.

,,Halbling.“ In seiner Menschengestalt erschien Beorn. Ohne Kleidung, dafür über und über mit Blut unterschiedlicher Farbe. Er hatte Wunden am ganzen Körper, einige davon tief.

Traurig schüttelte Bilbo den Kopf. ,,Es ist zu spät.“ Es auszusprechen war genauso schwer, wie Thorin zu sehen, wie er reglos und mit leerem Blick in den Himmel sah, in seinem eigenen Blut liegend. Als Balin vortrat, sich neben seinem König und Weggefährten niederließ und ihm als letzte Ehre die Augen schloss, drehte Bilbo das Gesicht weg.

Er wollte es nicht mehr sehen.

Mit zitterndem Schnurrbart strich Bofur ihm über den Rücken.

,,Noch nicht.“ Die Blicke richteten sich zu Beorn hinauf.

,,Was meint Ihr?“

,,Eichenschilds Schicksal.“

,,Schluss!“ Zornig funkelte Dwalin den Hautwechsler an, ,,seht Ihr denn nicht, dass es umsonst ist?!“, das Gesicht voll Trauer und Wut. ,,Ihr kommt zu spät, Bär. Er ist tot. Also hört auf mit Eurem ehrlosen Geschwätz.“

,,Äh, Dwalin…“

Als Beorn warnend knurrte, nahm Dwalin entschlossen seine Axt auf. ,,Ihr wagt es… Ihr…“

,,Dwalin!“ Erst jetzt reagierte man auf Bofur.

,,Bofur hat recht.“ Balin stellte sich zwischen die beiden Großaufgerichteten. ,,Hört auf, jetzt und hier einen sinnlosen Streit anzufangen.“

,,Nein, das meinte ich doch nicht! Beorn hat echt. Seht ihr das? Da! Dwalin, da passiert etwas.“ Bofur zeigte auf Thorins Hand, die etwas umklammert hielt.

Auch Bilbo schaute auf und sah tränenverschleiert, wie dieser die Hand auf seiner Brust ein wenig öffnete. Weißes Licht glomm schwach zwischen seinen Fingern. Der Anhänger seiner Kette begann zu leuchten, rein und hell, als käme es aus einem verborgenen Kern.

,,Nicht anfassen!“, knurrte Beorn. ,,Lasst sie bei ihm!“

Sofort tat Dwalin, wie befohlen. ,,Was, bei allen sieben Göttern, passiert hier?“

,,Es ist noch nicht zu spät. Doch ihr müsst euch beeilen, wenn ihr Eichenschild retten wollt. Ruft den Zauberer. Er wird ihm helfen.“

Bilbo sah von einem zum anderen und verstand gar nichts mehr. Was passierte hier?

,,Na los, worauf warten wir dann noch?“ Dwalin sprang als Erster auf, ihm folgend alle anderen. Beorn trat näher. Niemand hielt ihn auf, als er seine Arme unter Thorin schob und ihn anhob. ,,Vorsichtig, ganz vorsichtig.“ Balin ließ die Bewegungen des riesigen Mannes nicht aus den Augen. Eilig brach man auf.

,,Was ist passiert?“, fragte Bilbo, der das alles nicht verstand. ,,Bofur? Was passiert hier?“

,,Es ist noch nicht zu spät, wie es scheint.“

,,Was?“ Er starrte seinen Freund an. ,,Wie? Ich meine…wie kann das sein?“

,,Die Kette. Ich glaube, es ist die Kette, die ihn nicht gehen lässt.“

 

~

 

Hunderte Männer lagen kreuz und quer in den Eingangshallen, in denen man das Lazarett aufgebaut hatte. Breite Rücken, alle möglichen Teile von Rüstungen, Waffen, wilde Haarschöpfe und blutbeschmutzte Bärte wohin man sah. Das Gewirr an Stimmen betäubte die Sinne, die Schreie das Blut gefrieren.

Durch seine Größe und seinem Anblick konnte sich der Hautwechsler mit Thorin in den Armen einen Weg durch das Lager bahnen. Wie Bilbo den Weg zurück nach Erebor überstanden hatte, wusste er nicht mehr. Wie in Trance war er Beorn gefolgt, der eskortiert das Schlachtfeld überquerte, wo die letzten Kämpfe stattgefunden hatten. Geschockt, jedoch mit einem schwachen Hauch von Hoffnung tief in sich, tapste Bilbo hinter ihnen her. Bofur wich ihm nicht von der Seite, als sie durch die geschaffenen Gänge liefen, umringt von verstörenden Szenarien.

Beorn brachte Thorin in eine ruhigere Ecke, schaffte es, ihn erstaunlich behutsam vor einer der mächtigen Säulen abzulegen.

,,HEILER!! Wir brauchen einen Heiler für den König! Sofort!“, brüllte Dwalin bereits, in der Hoffnung, so schneller Hilfe zu bekommen. Bifur und Bofur wurden losgeschickt, um Gandalf zu suchen.

,,Bilbo, setz dich. Hier hin. Ori, pass auf ihn auf.“ Der junge Zwerg nahm den Hobbit in Empfang und half ihm, sich auf einer Kiste in Thorins Nähe niederzulassen, während Bofur davon eilte.

Bilbo sah seinem Freund nach bis er in der Menge untertauchte und blickte mit Furcht durch das Lazarett. Wenn er es nicht schon gewesen war, so müsste er spätestens jetzt kreidebleich sein.

Markerschütternde Schreie grellten durch die Hallen. Aufgespannte Stoff- oder Planen aus Tierhäuten verbargen Blicke vor dem Schlimmsten. Man trug Tote fort und neue Verletzte rein. Helfer gingen durch die Männer, die Reihe um Reihe dort lagen. Unermüdlich liefen Heiler hin und her, Zwerginnen mit blutbeschmutzten Schürzen dicht hinter ihnen. Leichtverletzte saßen auf den Feldbetten, pressten sich Stoff oder die bloßen Hände auf Verletzungen. Feuerkörbe waren entzündet worden. Eimer mit heißem Wasser wurden umher geschleppt. Pfützen aus geschmolzenem Schnee spiegelten die Flammen von Öllampen auf dem glatten Fußboden wieder. Es stank nach Schweiß, Blut und Alkohol.

Sein Blick fiel auf einen Soldaten, der in der Nähe lag. Sein Arm war in einem grotesken Winkel abgeknickt, seine Stimme vor Schmerz heiser. Eine Frau gab ihm einen Flachmann, aus dem er große Schlucke trinken sollte, während sie die Schnallen der Armschienen aufschnitt, auch die Sachen, die er darunter trug. Der Arm würde wahrscheinlich mit dem Eintreffen des nächsten Heilers amputiert werden.

Schnell wandte Bilbo den Blick ab und sah in diesen Moment einen dicken Zwerg mit ergrautem, bauschigem Bart und weißem Haar zu ihnen kommen. Eilig kniete er sich neben Thorin, winkte seiner Helferin, die ihm auf Schritt und Tritt folgte, näher heran. Eine schrecklich lange Zeit fühlte er ihm am Hals, suchte nach etwas, was unauffindbar war.

Schließlich seufzte er bloß und erhob sich wieder. ,,Es tut mir leid. Ihr kommt zu spät. Möge Durin ihn bei sich aufnehmen.“

Ein Murmeln ging durch die nahen Mengen. Überall hörte man Thorins Namen. ,,Das ist Eichenschild… Das ist der König.“

,,Bei Durin, er ist tot!“

,,Der König ist tot!“ Die Nachricht verbreitete sich schnell, Bestürzung und Trauer folgend.

Machtlos verfolgte Bilbo es, sah dann auf seine Hand, die immer noch Maries Kette umklammerte, das reine, flackernde Leuchten in sich. Am Leben festhaltend. Am Licht.

,,Nein, er ist nicht tot!“ Alle sahen den Hobbit an. ,,Bitte, ich flehe Euch an! Versorgt ihn!“ Wie unglaublich sich das bei einem fehlenden Herzschlag anhören musste, wusste er selbst, doch es war die einzige Chance, sollten Beorns Worte und die Legende über die Lyrif-Kette tatsächlich stimmen.

,,Eure Hoffnung ehrt Euch, Kamerad. Ich weiß, dass es schwer ist, glaubt mir, doch seht es ein. Da kommt jede Hilfe zu spät.“

,,Verdammt nochmal, tut was ich sage!“ Tränen voller Wut brannten ihm in den Augen. ,,Ihr müsst ihn retten!“

,,Er ist tot, so leid es mir tut! Ich versorge keine Toten! Seht Euch um, hier liegen genügend Männer, die meine Hilfe noch brauchen.“ Als der Heiler sich abwenden wollte, packte plötzlich Dwalin ihn an seiner Schürze und zog ein Messer aus seinem Gürtel.

,,Hört zu!“ Er drückte die Klinge dem Mann an die Kehle. Vor Furcht erstarrt hob dieser die Hände. ,,Hiergeblieben!“, funkelte er die Helferin an und beugte sich zu dem Mann in seinem Griff.

,,Dieser Hobbit da gehört zu uns und ich glaube ihm. Ihr werdet Euren König versorgen, so wie alle anderen Soldaten auch“, drohte er ihm leise ins Ohr. ,,War das nun deutlicher für Euch?“

,,D-d-das ist verrückt. I-ihr habt Euren Verstand verloren. Alle beide!“

,,Tut es. Sofort.“ Dwalin verstärkte den Druck an seiner Luftröhre. ,,Ich wiederhole mich nur äußerst ungern.“

,,Schon gut! Schon gut! Ich tue es.“ Mit Todesangst im Gesicht und zitternden Knien ließ der Mann sich an Thorins Seite nieder. ,,Meine Sachen. Alyn! Alyn, meine Sachen.“ Er winkte die blonde Frau herbei, die eingeschüchtert in der Nähe verweilt hatte. Sie rollte ein Bündel aus Stoff aus, in dem allerlei Messer und sonstige Utensilien gesteckt waren und begann mit ihrer routinierten Vorbereitung. Der beleibte Heiler klappte Thorins aufgetrennte Rüste auf, verschaffte sich einen schnellen Überblick und wurde noch blasser. Immer wieder schüttelte er den Kopf. ,,Mir muss jemand zusätzlich assistieren.“

Oin ließ sich bei ihm nieder. ,,Ich bin Mediziner.“

Er nickte dem alten Zwerg bloß zu, legte mehrere Messer über die, von Alyn bereitgestellte Schale voll brennendem Öl. Dann passierte vieles auf einmal.

Auf der Kiste hockend konnte Bilbo nur zusehen, wie man unter klaren Anweisungen begann, Thorin die Rüste auszuziehen beziehungsweise aufzuschneiden. Beorn, der sich ein paar Schritte weiter niedergelassen hatte, beharrte darauf, dass man die Kette bis zum Eintreffen des Zauberers noch in seiner Hand ließe. Nadel und Faden wurden vorbereitet. Der Grauhaarige kippte fast eine ganze Flasche voll Alkohol über die Messer, die zu Bilbos Entsetzen alle nicht sauber waren. Er atmete tief durch, hielt sich an dem Holz unter seinem Hintern fest, welches ihm Distanz zum dortigen Geschehen gab. Inständig hoffte er, dass der Mann wusste, was er da tat.

Alyn begann bereits Thorin den Stiefel auszuziehen, aus dem Blut gelaufen war, rollte die Socken ab und legte eine zweite Wunde frei. Eine Klinge musste ihm durch den kompletten Fuß gestoßen worden sein. Selbst durch die enorme Schwellung könnte man die gebrochenen Fußknochen erkennen. Die blonde Zwergin kümmerte sich darum, während man Thorin noch versuchte auszuziehen. Den Schnitt an seiner Stirn ließ man außen vor, da er zum Glück nur oberflächlich war.

Als er nur noch mit Hemd da lag und der letzte Stoff in zwei Teile gerissen wurde, kam das ganze Übel zum Vorschein. Eine Stichwunde von einer doppelten Handbreite reichte tief in seine linke Seite hinein. Zwischen zerteilten, rohen Muskeln konnte man die weißen Bruchstellen der Rippen sehen. Sein Bauch zeugte davon, wo der Blutstrom sich seinen Weg hinaus gebahnt hatte. Hemmatome lagen ringsherum in seiner bleichen Haut, die Haare vom geronnenen Blut verklebt.

,,Das ist doch Wahnsinn!“

,,Nicht quatschen. Tut es einfach“, wies Dwalin ihn zurecht, immer noch ihm das Messer in den Rücken haltend.

Seufzend gab der Heiler seinen Widerstand unter der Drohung auf und nahm ein Messer aus der Tasche. Er setzte den ersten Schnitt, erweiterte die Wunde und zog Hautschichten bewusst aber kontrolliert auseinander. Dann versenkte er die ganze Hand in der klaffenden Wunde. Es gab ein knackendes Geräusch. Abrupt drehte sich Bilbo weg, ehe er heftig erbrach. Er ließ sich von der Kiste fallen, kniete auf alle Viere. Selbst vom Geschehen abgelenkt, konnte sein Aufpasser gar nicht so schnell reagieren.

,,Schon gut, schon gut...“ Umständlich strich Ori ihm über den Rücken, wusste nicht, was er tun sollte.

,,Weg da, Ori, lass mich mal machen.“ Dankbar Unterstützung zu bekommen, zog sich der junge Schreiber zurück und ließ Bofur wieder zu ihm.

Ihm wurden die Haarsträhnen nach hinten genommen und er spürte, wie jemand den Arm um seine Brust legte und ihn stützte. Noch nie hatte sich Bilbo so elendig gefühlt. Nichts lieber auf der Welt wollte er sich irgendwo verkriechen. Ihm war schwindelig, sein gesamtes Schädelinneres machte sich selbstständig, überfüllt mit Gedanken, die alle immer wieder zu ein und denselben Punkt zurückführten: Thorin durfte nicht tot sein. Doch dass er es war, war unleugbar. Und trotzdem war da diese schwache, hartnäckige Hoffnung seit Beorns Eintreffen, es wenigstens zu versuchen.

Bilbo schloss einfach die Augen und versuchte, an etwas anderes zu denken, nur nicht an diese schreckliche Wunde und was der Heiler dort anstellte. Allein bei dem Gedanken zog sich sein Inneres erneut zusammen. Keuchend musste er trocken würgen, auch als nichts mehr kam. Was hatte er auch in den letzten Tagen schon gegessen?

,,Gandalf ist jetzt da“, sprach Bofur. ,,Man wird ihm helfen. Keine Sorge.“

Bilbo nickte nur und atmete tief durch, starrte irgendwo auf den grauen Steinboden und vermied dabei tunlichst die Stelle vor sich.

,,Geht‘s wieder?“

Erneut nickte er, war sich dabei jedoch nicht sicher. Man half ihm, sich zu setzen und er bekam von Dori einen Wasserbeutel gereicht. Dankbar trank er, wagte es wieder zu Thorin zu schauen und sah zu seiner Überraschung nicht nur Gandalf sondern auch Radagast, wie sie sich gerade bei ihm niederließen.

,,Vielleicht solltest du dich hinlegen.“

,,Nein, mir geht es gut.“ Er konnte nicht gehen. Wollte es nicht.

,,Was? Was wird das denn jetzt? Ich muss hier noch arbeiten“, hörte man den Heiler seinen Unmut freien Lauf lassen, entrüstet über das zerstreute Gewusel von Radagast am Patienten.

Sein Bewacher hinter ihm duldete keine Widerworte. ,,Ich an Eurer Stelle, wäre froh über die Unterstützung. Haltet den Mund und macht weiter. Egal, was passiert.“

,,Aber um Durins Willen, nehmt dieses Messer aus meinem Rücken! Wie soll man sich da konzentrieren? Und bitte, rempelt mich unter keinen Umständen an! Habt wenigstens ein Auge darauf. Besonders auf diesen komischen Kauz hier.“ Misstrauisch musterte er die ulkige Gestalt des Zauberers.

Gandalf öffnete indes Thorins Hand, in der er den Anhänger der Lyrif-Kette fand, dessen Leuchten empfindlich flackerte. Er warf einen kurzen Blick zu dem Hautwechsel hinüber. ,,Gut gemacht, Beorn.“ Dann öffnete er behutsam die bleichen Finger und legte den Anhänger mittig auf die nackte Brust, den Arm neben dem Körper ab.

Radagast sah blinzelnd auf die Kette. ,,Ist es das, was ich denke?“

,,Ja, das ist es, mein Freund. Doch ich werde deine Hilfe brauchen.“ Wissend nickte der kleine Zauberer und machte sich bereit. Gandalf hob die Hände über Thorin, eine über sein Gesicht, die andere über seinen Bauch, nahe der Wunde, an der der Heiler konzentriert hantierte. Radagast tat es ihm gleich, hielt seine dazwischen und über dem Unterleib.

Die Luft um sie herum wurde auf einmal spürbar ruhiger. Voller Furcht lag eine seltsame Spannung in ihr und breitete sich über allen aus, als sie begannen leise zu sprechen.

Alte Worte. Worte, deren Herkunft unerklärbar, deren Kraft unergründlich war. Worte, die niemand anderes verstehen konnte. Bangend sah Bilbo zu, wie der uralte Zauber, der schon einmal unter den Gefährten beschwört worden war, gesprochen wurde. Die Zauberer murmelten gleichzeitig mit geschlossenen Augen. Wie lange es andauern würde, konnte niemand abwägen.

Nach der Brandschlacht, als man schon dachte, Thorin wäre tot, hatte dieser Zauber nur wenige Sekunden gedauert.

Es funktioniert nicht…, dachte Bilbo, als er merkte, dass sie die Formeln immer neu wiederholten. Angst überkam ihn.

Nichts geschah.

Unablässig murmelten sie weiter, während der Heiler seine Arbeit so gut es ging verrichtete. Geronnenes Blut überzog seine Hände, die trotz dem Druck, der auf ihn lastete, nicht zitterten.

Er hatte sich über die Stirn gefahren und einen roten Streifen hinterlassen. Man hörte fremdartige Geräusche, als würde man zwei feuchte Fleischstücke gegeneinander reiben. Ein Klitschen, manchmal ein Schmatzen, was aus dem eröffneten Körper drang. Manchmal musste Dwalin ihm ein glühendes Messer reichen, was er vorsichtig in die Wunde einführte und im Körper auf Arterien drückte. Der Geruch nach verbranntem Fleisch stieg auf und noch immer wurde der Zauber wiederholt. Nochmal und nochmal.

Immer noch blieb der Körper unter ihren Händen reglos.

Wieso klappt es nicht? Panik wuchs in Bilbo, schaukelte sich höher, je mehr Zeit verstrich. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass Thorin die Augen aufschlug.

Doch er wurde bitter enttäuscht.

Irgendwann öffnete Gandalf schwer atmend die Augen und ließ seine Hände sinken, als könne er den Zauber unter seinen Handflächen nicht mehr halten. Auch Radagast verstummte, sah ihn fragend an.

,,Warum hört ihr auf?“ Bilbos Stimme überschlug sich beinahe. ,,Ihr dürft jetzt nicht aufgeben. Versucht es weiter. Bitte!“

In diesem Moment glühte das Leuchten des Anhängers auf, wurde heller, strahlender, ehe es langsam wie ein verebbender Windhauch verglomm und verschwand.

Nein…

,,Was ist passiert? Wieso hat es nicht funktioniert?“, sprach Dwalin seine Gedanken aus, starrte Gandalf an, eine Antwort allein durch seinen Blick versuchend aus ihm heraus zu bekommen. Doch dieser sah bloß nachdenklich vor sich her und fand keine Antwort darauf.

Traurig nahm Radagast seinen Hut ab.

,,Nein…“ Bilbo verbarg das Gesicht in den Händen. Andächtige Trauer senkte sich über alle Gefährten.

Es war vorbei.

Ein Ruck ging durch den beleibten Körper des Heilers. Wie zu Stein geworden verharrte er, das Gesicht aschfahl. ,,Bei allen Göttern dieser Welt… Was geschieht hier?“

Alle sahen auf. Unruhe breitete sich aus.

,,Was ist?“, fragte man hoffnungsvoll.

Der Heiler konnte nicht antworten, starrte auf eine Stelle, als sah er einen Geist.

,,Was seht Ihr? Sprecht!“, herrschte Dwalin ihn an.

,,I-ich…“ Er schluckte, um erfolglos seine zitternde Stimme zu bündeln. ,,Ich… Sein Herz… Es schlägt.“

Sofort beugte sich Gandalf über Thorin, fasste ihm an die Kehle. Abermals hob er die Hand, strich mit murmelnden Worten über sein Gesicht, legte dann beide Hände an seine Wangen. Doch die schwarzen Wimpern rührten sich auch jetzt nicht.

Jeder hielt den Atem an und wartete darauf, dass etwas geschah. Erneut wurde alles still, als stünde jegliche Zeit…

Bis Thorins Brust sich unter einem Atemzug hob.

 

 

 

2

 

 

Nach einer Ewigkeit legte der Heiler das Verbandsmaterial beiseite und erhob sich ächzend. Er strich ein paar Haarsträhnen zurück an ihren Platz, anschließend versuchte er mit einem Tuch das Blut von seinen Händen abzubekommen und zählte auf: ,,Vier Rippen links gebrochen. Drei Knochen im Fuß. Sehnen durch. Zerfetzte Muskeln. Ein Teil der Lunge verletzt. Er hat so viel Blut verloren, dass er eigentlich nicht mehr am Leben sein müsste. Möge Durin ihm – uns allen! – beistehen, ich weiß nicht, wie er das geschafft hat oder was eben geschehen ist. Die Götter müssen wirklich einen Narren an ihm gefressen haben…“ Er machte eine Handbewegung in die Luft, dass sie entlassen waren. ,,Bringt ihn von hier weg. Ich habe getan, was ich konnte. Alles Weitere liegt nun an ihm.“

Gloin hatte bereits eine Trage organisiert, die man nun heranschaffte. Zusammen mit Dori, Oin und Bifur versuchten sie Thorin darauf zu heben.

,,Vorsicht, sonst bohrt ihr ihm die Rippenstücke in die Lunge“, mahnte der Heiler, als er sich die Arme in einem Eimer Wasser wusch, den Alyn ihm hielt. ,,Er muss warm und absolut ruhig liegen.“ Wie zwei Rivalen, die sich mit einem Unentschieden begnügen mussten, wechselte er einen letzten Blick mit Dwalin. ,,Kümmert Euch gut ihm ihn. Er hat es mehr als verdient.“

Der glatzköpfige Zwerg nickte und entließ ihn seinen Pflichten. ,,Bringt ihn hinauf in die königlichen Gemächer“, richtete er dann das Wort an die Männer. ,,Dies ist kein Ort für ihn.“

Dwalin schaute zu, wie man Thorin behutsam umlagerte und ihm für den Transport eine Decke überlegte, und hätte sich am liebsten an Ort und Stelle auf dem Boden niedergelassen. Die stundenlange Anspannung der Schlacht und die der letzten Minuten fiel nun auch allmählich von ihm ab. Was blieb, war ein schweres Gewicht auf seinen Schultern, das sie nieder sacken ließ. Was sie als nächsten tun sollten, wusste er nicht. Er war wie gelähmt von den Ereignissen der letzten Stunden.

Sie kannten sich schon so eine lange Zeit, waren dabei unzertrennlich wie Brüder geworden. Er kannte ihn und, bei Durin, er war stur, ja, dickköpfig…doch der Preis, den er gezahlt hatte, war zu groß. Nichts auf der Welt hätte ihn von seinen Neffen trennen können. Mit Fili in seiner Gewalt traf Azog zielsicher einen wunden Punkt. Als Thorin hinter Kili herrannte, rannte auch er Azog direkt in die Arme.

Dwalin presste sich die Faust gegen die Stirn, atmete tief durch. Er hätte es verhindern müssen. Er hätte ihn aufhalten müssen…

Als Thorin Fili in der Schatzhalle niedergeschlagen hatte, da wollte er ihn eigenhändig erwürgen. Enttäuschung und Zorn hatten ihn beinahe unkontrolliert handeln lassen. Um ihn von seiner Entscheidung, sich nicht am Krieg gegen die Orks zu beteiligen, umzustimmen und ihm ins Gewissen zu reden, hatte Dwalin das Gespräch gesucht. Als er Thorin im Thronsaal gegenüberstand, war es jedoch nur die Hülle seines Freundes gewesen. Viele sterben im Krieg. Ein Leben ist wertlos. Aber ein Schatz wie dieser, lässt sich nicht in verlorenen Leben aufwiegen. Er ist es wert, ist alles Blut wert, das wir vergießen.

Er hatte dem Drachen in die Augen gesehen.

Die Krankheit und ihre Dunkelheit ließen seinen Freund so handeln, ihn so denken, hatte sich Dwalin immer wieder eingeredet. Kurz schien es sogar, als würde Thorin selber zu sich zurückfinden. Als aber dieser wahnsinnige Ausdruck seine Augenfarbe in das unberechenbare Silber umschlagen ließ, konnte Dwalin nichts anderes tun, als sich in der Gewissheit zurückzuziehen, dass, wenn er geblieben wäre, Thorin ihn getötet hätte.

Wie bloß konnte sich Smaug seines Geistes bemächtigen, wenn dieser längst das Zeitliche gesegnet hatte? Was hatte diese Feuerschlange mit ihm angestellt? Irgendwie hatte Thorin es geschafft, die Drachenkrankheit, die wahrscheinlich schon eine geraume Zeit in seinem Blut geschlummert hatte, niederzukämpfen. Wie genau, dass für Dwalin ein weiteres Rätsel. Er erinnerte sich an seine Worte: Alles, was ich tat, tat ich für sie.

Thorin würde auch jetzt kämpfen, da war er sich sicher.

Er müsste es, wenn er leben wollte.

Dwalin sah zu, wie der ohnmächtige Körper, begleitet von den Zauberern und dem Hobbit, fortgetragen wurde, als jemand seinen Namen sagte. Er hatte gar nicht gemerkt, dass Balin zu ihm getreten war.

,,Dwalin, die Jungs.“ Sorgenvoll sah sein Bruder ihn an.

,,Sie werden vermisst.“

Es war, als bekäme er einen Schlag in die Magengegend. Die Augen unruhig in Gedanken versunken, wandte er das Gesicht ab. ,,Am Rabenberg…“

,,Heißt das, dass sie immer noch dort sind? Du warst doch bei ihnen! Was ist dort oben geschehen?“

Statt zu antworten, nahm er seine Axt und packte seinen Bruder am Arm. ,,Bleib hier. Ich werde sie suchen.“

,,Du solltest nicht allein da raus gehen.“

Nori erschien bei ihnen. ,,Ich komme mit dir.“

Der alte Zwerg sah von einem zum anderen und versuchte zu nicken. ,,Bitte, bringt sie heil nach Haus.“

Dwalin legte seinem aufgelösten Bruder die Hand auf die Schulter. ,,Ich habe sie schon einmal gefunden. Ich werde es auch ein zweites Mal.“

 

~

 

Als er erwachte, wartete eisige Kälte auf ihn. Sie war in ihn hineingekrochen, nagte an ihm, wie ein böser Geist. Bei jedem Atemzug der feucht-kalten Luft brannten seine Lungen, sodass er husten musste. Sein Körper fühlte sich wie versteinert an, wurde zurück in den Schlaf gelockt. Dumpfer Schmerz pochte mahnend in seinem Rücken, nein – überall. An seine Beine wollte er erst gar nicht denken. Er war sich sicher, dass ihm der heftigste Muskelkater in seinem Leben bevorstand.

Um einen halbherzigen Versuch zu unternehmen, sich vor dem verlockenden Schlaf zu schützen, rieb Kili sich die Augen. Und plötzlich kamen die Erinnerungen wieder.

Mit weiten Schritten rannten sie auf die Front zu, eine Stimme über ihnen allen. FÜR DEN KÖNIG! Er hörte sich schreien. DUU BEKAARR!! Der Feind. Die tobende Schlacht.

Der Streitwagen, die Warge, Balin, der zurückblieb. Er und sein Bruder auf dem zugefrorenen Fluss, in den dunklen Ruinen. Azog. Der Schrei seines Onkels, der ihn zurückhalten sollte… Tauriel. Fili…

Ungebremst fluteten sie sein Gedächtnis mit Zorn, Furcht und Schrecken. Zitternd riss er die Augen auf und realisierte, wo er sich befand. Frostüberzogene, kahle Wände aus Stein…

Bei Durin, sie waren immer noch in dem Turm! Wie hatte er bloß einschlafen gekonnt?! Er verfluchte sich selbst für seine Leichtsinnigkeit, hier sich dem Schlaf zu überlassen. Sie hätten erfrieren, wenn nicht schon längst erdolcht werden können!

Doch dann wurde er auf die Ruhe aufmerksam, die so gegensätzlich zu den vergangenen Stunden war. Angestrengt horchte Kili, doch kein Kampflärm trübte die verrußte Luft im Tal.

Etwas stimmte nicht.

Ein mächtiger Vogelschrei echote über den Ruinen.

Die Adler? Er versuchte aufzustehen. Das Gewicht an seiner Seite hinderte ihn. ,,Fili, ich glaube, es ist vorbei.“ Waren es die Adler aus dem Nebelgebirge? Wenn ja, hätten sie vielleicht eine reelle Chance, den Krieg für sich gewonnen zu haben!

,,Hey, Fili, wach auf.“ Er rüttelte an seiner Schulter.

Doch sein Bruder regte sich nicht.

,,Fili?“ Besorgt drehte er ihn zu sich, ,,Fili…“, strich ihm übers geschwollene, mit aufgeplatzten Blutergüssen malträtierte Gesicht, in dem sich keine Regung zeigte. ,,Fili, nein. Mach keinen Scheiß!“ Erfasst von einem schrecklichen Zittern rüttelte er nochmals an ihm. Blutverklebt kippte sein Kopf reglos in seine Armbeuge. Kili riss sich die Handschuhe von den Fingern, fasste zu seinem Hals, doch seine Finger zitterten zu sehr, als dass er einen Puls fühlen konnte. Zu sehr fürchtete er sich, wenn er keinen finden würde. Alles, was er fühlte, war kalte Haut.

,,Nein... Nein, das kannst du mir nicht antun!“ Eisiges Grauen wallte durch sein Inneres, zerbrach dort etwas, was seit dem Anbeginn seiner Zeit dort gelegen hatte und nie wieder heilen würde.

Kili presste seinen Bruder an sich. ,,Wach auf. Oh, bitte, wach doch auf.“ Verzweiflung sandte einen allesvernichtenden Schmerz direkt in sein Herz. Er wollte schreien. Er wollte auf irgendetwas einschlagen.

,,Es ist meine Schuld“, wisperte er, während unaufhaltsame Tränen über sein Gesicht rollten. Langsam wiegte er sich und den Körper seines Bruders. ,,Du wolltest mich immer beschützen, das weiß ich. Doch jetzt, wo du mich brauchtest…war ich nicht da.“ Bei der Gewissheit weinte er laut auf, flehte Durin an, er möge ihm seinen Bruder nicht wegnehmen. ,,Es tut mir so leid...“ Von seinem Schluchzen erfasst klammerte er sich an seinen großen Bruder fest und ließ sich von seiner Trauer überwältigen.

Plötzlich stöhnte es leise in seinen Armen.

,,Fili?“ Kili fasste seinen Kopf mit beiden Händen. Sein Bruder verzog das Gesicht bei seiner unvorsichtigen Berührung und versuchte, die Augen zu öffnen. Mühsam formulierten seine blauen Lippen Worte.

,,Ich h-habe zusammen mit Vater geschworen…auf dich achtzugeben…als kleiner Junge. W-wusstest…du das?“

,,Nein“, er musste lächeln, ,,das wusste ich nicht. Oh, Fili…“ Tränen der Erleichterung bahnten sich einen neuen Weg. Es war, als hätte man ihn als Kind im Wald ausgesetzt und nun war da wieder das Licht, dass ihn nach Hause führen sollte. Er schniefte, wischte sich verlegen über die Augen.

,,Aber offenbar kannst du genauso gut auf mich aufpassen, wie ich auf dich.“ Ein müdes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, sodass seine Lippe wieder aufriss. Fili hob die unverletzte Hand, strich über die nasse Wange seines Bruders. ,,Schon gut, kleiner Bruder… Ich erzähl keinem, dass ich dich flennen gesehen habe.“

Kili ließ ihn seine Tränen fortwischen. ,,Ich dachte, du bist tot.“

,,Glaub mir. Die Schmerzen lassen mich wissen, dass ich es nicht bin. Wir sollten…endlich hier verschwinden, Bruder. M-mir ist schrecklich kalt.“

Kili musste lächeln. Es tat so gut zu wissen, dass es ihm gut ging. ,,Machen wir. Wir…“ Mitten im Satz verstummte er.

,,Was ist?“

,,Sch!“ Sofort wusste Fili, dass etwas nicht stimmte.

Sein Bruder horchte und formte lautlos mit den Lippen: Unter uns. Jemand war im Turm.

Kili nahm sein Schwert und erhob sich vorsichtig, während Fili versuchte, sich an der Wand aufzusetzen, doch er war zu schwach, weshalb sein Bruder ihm zu verstehen gab, dass er dort liegen bleiben sollte, wo er war, ehe er einen Fuß vor den anderen setzend zum Treppenschacht hinüber schlich.

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als der junge Zwerg die fremden Schritte hörte. Schon waren sie auf der Treppe, kamen schnell die Stufen hinauf. Das Schwert senkrecht vor sein Gesicht gehoben, atmete Kili ein letztes Mal tief durch und wartete auf den richtigen Moment. Beim ersten Auftauchen stürzte er ihnen mit einem Schrei entgegen. Eine große Gestalt sprang in den Raum. Blitzschnell schnellte eine vor Schärfe glänzende Klinge vor sein Schwertblatt.

,,Kili?“, kam eine erstaunte Stimme hinter dem Angreifer hervor. Vor ihm stand kein Ork.

Er hob den Blick und sah in kristallklare Augen. Hinter dem Elb schob sich Tauriel vorbei.

,,Tauriel?“ Sofort ließ Kili die Waffe sinken. ,,Was tust du hier?“ Seinem Impuls folgend ergriff er ihre Hand, die sich ihm entgegenstreckte, doch so schnell, wie er sie gegriffen hatte, ließ er wieder los, nur um sie an ihr Gesicht zu legen. ,,Du solltest doch von hier verschwinden!“

Sie schüttelte den Kopf. ,,Ich konnte nicht“, wisperte sie leise und abermals legte sich ihre Hand über seine. ,,Nicht ohne dich.“

Ihre Worte vertrieben alle Kälte aus ihm und hinterließen ein kribbelndes Gefühl. Er wollte sie bereits an sich drücken, als ein Räuspern die beiden auseinanderspringen ließ.

Der Blonde mit den Kristallaugen stand hinter ihnen und bemaß sie mit einem äußerst kritischen Blick. ,,Ich glaube, es ist an der Zeit uns vorzustellen, Tauriel“, sagte er kühl, die Augen ununterbrochen auf den jungen Zwerg gerichtet, welcher ihn mit mörderischen Blicken taxierte.

Hat er es gesehen? Natürlich hat er es gesehen!, schallte Kili sich innerlich selbst. Im selben Moment fragte er sich, warum er darüber nachdachte. War da etwas zwischen ihnen?

Dieses Gefühl, immer wenn sie in seiner Nähe war… Moment – was hatte sie da gerade gesagt? Ihm wurde ganz warm, ja, regelrecht heiß, als er die Bedeutung verstand. Konnte es wirklich sein? Vielleicht. Und noch etwas anderes wusste er: ihm war es egal, was dieser Elb glaubte. Mag sein, dass er ihr Freund war, Kili aber hatte gespürt, wie sie seine Nähe nach dem Angriff des großen Orks erwidert hatte und wusste, was ihre Reaktion eben bedeutete.

Er wusste, an was er zu glauben hatte. Der Rest und die Sache mit ihm war nicht sein Problem.

Ihre Stimme holte ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. ,,Kili, das ist Legolas.“

,,Legolas Grünblatt“, stellte der Blonde sich vor und trat näher zu ihm, so nah, dass Kili den Kopf heben musste, um ihn anzusehen. Das macht der doch mit Absicht!

,,Sohn von Thranduil, König des Waldlandreiches, Protektor des Grünwaldes.“

Jetzt fiel ihm auch die frappierende Ähnlichkeit zu seinem Vater auf. Hoffentlich hat er nur das mit ihm gemeinsam, dachte Kili bloß in Erinnerung an ihren unfreiwilligen und nicht gerade freundlichen Aufenthalt in dessen Reich.

Als der Zwerg ihm nicht gleich antwortete, hob sich eine seiner dunklen Augenbrauen steil in die Höhe. ,,Und Ihr seid wer?“

Kili hob seinerseits das Kinn. Dick auftragen wie er, konnte er allemal. ,,Kili, erster seines Namens, Sohn von Hauptmann Karif und Dis, Tochter des Thrain, Sohn des Thror, Prinzessin des Zwergenreiches Erebor, und somit Prinz Erebors.“ Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Tauriel überrascht blinzelte, von einem Prinzen zum anderen sah, die unterschiedlicher nicht sein konnten.

,,Sehr schön vorgetragen“, meinte auf einmal jemand viertes im Raum. ,,Ich heiße Fili, w-wenn’s wen interessiert, und mir ist arschkalt. Also w-wenn sich dann alle brav fertig vorgestellt haben, könnten wir die Güte haben, endlich von hier zu verschwinden? Ich f-friere mir hier noch sonst was ab.“

,,Ihr seid verletzt.“ Sofort kniete sich Tauriel neben ihn und hob seine verletzte Hand vorsichtig an. ,,Lasst mich sehen.“ Fili stöhnte bei der kleinsten Berührung auf. ,,Seine Hand muss sofort versorgt werden, wenn er sie behalten will. Könnt Ihr laufen?“

,,Das werden wir sehen. Helft mir hoch.“ Sie und Kili stellten ihn behutsam auf die Beine. Er begann zu schwanken, musste sich gegen die Wand lehnen.

,,Moment. Schaut mich bitte an.“ Sie nahm seinen Kopf und klappte ihm beide Augenlieder hoch.

,,Was soll denn das?“, beschwerte Fili sich gegen die unfreiwillige Untersuchung.

Währenddessen fühlte Kili den Blick ihres Begleiters auf seiner Haut. Aufrecht stand dieser im Raum, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Durin, warum mussten die Elben immer so kühl sein? ,,Ich hoffe für Euch, dass Ihr den Ork töten konntet.“

,,Natürlich.“

,,Wie schön.“ Kili dachte, er hätte es leise genug gesagt, doch der Elb hatte wohl bessere Ohren, denen nichts entging.

,,Welche Bedeutung schreibt Ihr ihm zu?“

,,Gar keine mehr.“ Damit ließ Kili ihn stehen und ging zu seinem Bruder, der darauf beharrte, laufen zu können.

Legolas trat ebenfalls hinzu. ,,Soll ich Euch tragen?“

,,Wehe! Ich lasse mich doch nicht von einem Spitzohr über die Schulter werfen! Nichts für ungut, Ihr seid ganz in Ordnung“, meinte Fili in Tauriels Richtung, die von ihren langen Beinkleidern, die offen über ihre enganliegende Hose lagen, ein Stück abgeschnitten hatte und es als Armschlaufe für ihn verknotete.

,,Ich stütze dich. Haltet uns den Weg frei.“ Kili legte sich Filis Arm um die Schulter und nahm vorsichtshalber sein Schwert in die andere Hand. ,,Machen wir, dass wir von hier wegkommen.“ Dann ging es die Treppen hinunter.

Die Elben bildeten die Vorhut und sicherten die Gänge, ausschauhaltend nach möglichen Orks. Alles, worauf sie stießen, waren tote. Der Weg aus den Ruinen war gepflastert mit ihnen.

Endlich kamen sie ans Tageslicht. Die Wolkenfelder waren aufgerissen und gaben die Sonne frei, die bereits tief am Himmel stand. Vor ihnen lag der zugefrorene Fluss, der im abendlichen Sonnenlicht glitzerte. Kurz hielten sie an, damit Fili neue Kraft zum Weitergehen sammeln konnte. Die riesigen Adler aus dem Nebelgebirge flogen über ihnen ihre Kreise, als wachten sie über das Geschehen im Tal.

,,Es ist wirklich vorbei“, murmelte Kili mehr zu sich selbst, als er das verwüstete Schlachtfeld von hier oben sehen konnte.

,,Ja, der Feind ist zerschlagen worden“, sagte auf einmal Tauriel, die lautlos neben ihnen getreten war. ,,Der Krieg ist vorbei.“

Kili sah zu ihr empor, blickte in braune, leuchtende Augen, die ein Lächeln schmückten. Auch sein Mundwinkel hob sich...

,,Können wir weiter?“ Legolas stand wartend auf dem Eis und machte dem ein Ende.

 

Während die Zwerge den Elben über das Eis folgten, begann Fili bewusst auf Khuzdul ein Gespräch, um es für fremde Ohren zu schützen. ,,Du und die Elbe also doch.“ Kili tat auf taub. ,,Komm schon, ich hab Schmerzen ohne Ende, ja, aber blind bin ich nicht. Und unsere blonde Prinzessin da vorne auch nicht. Ich hab seinen Blick gesehen, als du deine Hand bei ihr hattest. Also, was ist da zwischen euch vorgefallen?“

,,Müssen wir das jetzt und hier besprechen?“, keuchte Kili, als er langsam das felsige Flussufer erklomm und zudem das Gewicht seines Bruders mittragen musste. Er hatte keine Zeit mehr hinzuzufügen, dass er keine Ahnung hatte, was sich da anbahnte oder was es für Folgen haben könnte, da der Elb plötzlich eine Hand hob. Sie alle blieben stehen.

,,Da ruft jemand Euch.“

Zuerst hörte Kili nichts, dann erreichten zwei bekannte Stimmen sie. Er formte eine Hand um seinen Mund zur Verstärkung. ,,Dwalin!!“ Der Ruf kam zurück und einen Augenblick später erschienen er und Nori zwischen den Bauten am Rabenberg.

Ihr Ziehonkel kam angerannt, war der Erste, der Kili kurz und feste in seine Arme schloss. ,,Euch ist nichts geschehen“, murmelte er, die Erleichterung ihm deutlich anzusehen. ,,Durin, wo habt ihr euch rumgetrieben?“ Misstrauisch registrierte er die Anwesenheit der Elben, die sich vor dem blutbeschmierten Krieger zurückgezogen hatten. ,,Fili, geht es dir gut?“

Dieser wurde von Nori übernommen, der sich bereits seine Hand ansah. ,,Könnte besser sein“, presste der Verletzte zwischen den Zähnen hervor.

,,Azog und seine Handlanger haben ihn übel zugerichtet.“

Besorgt sah Dwalin ihn sich an. ,,Ja, das sieht nicht gut aus. Du bist kalt, wie ‘ne Leiche, Junge. Kommt, wir bringen euch nach Erebor. Ihr müsst ins Warme.“

,,Dwalin“, Kili hielt ihn am Arm zurück, ,,wo ist unser Onkel?“ Der Ausdruck auf dem so vertrauten Gesicht ihm gegenüber sprach Bände. Unwillkürlich machte er einen Schritt zurück und dachte an das Schlimmste.

,,Er ist verletzt. Schwer. Zwar ist er am Leben, doch es steht nicht gut um ihn.“

Fili starrte einen unbedeutenden Punkt im Schnee an.

,,Was ist geschehen?“ Kilis Kehle verengte sich schmerzhaft.

Sein Ziehonkel legte ihm die Hände auf die Schultern und nahm ihn an seine Seite. ,,Das erklären wir euch später. Kommt, bringen wir euch nach Hause.“

 

Den ganzen Weg vom Rabenberg zurück zum Haupttor verfielen sie in bedrücktes Schweigen. Man ließ Fili sich zwischen Dwalin und Nori abstützen, um ihn zu schonen. Kili lief hinter ihnen her, die Elben als gebilligte Wegbegleiter bildeten das Schlusslicht.

Ausdruckslos sah der junge Zwerg über das Schlachtfeld, welches sie passieren mussten. Er hatte den Krieg nur durch Erzählungen gekannt, an diesem Tag jedoch hatte er in einem gekämpft und ihn überlebt. Nun sah er sein Grauen, das er hinterließ. Verendete Widder und Soldaten lagen zwischen verdrehten Körpern von Orks und Bilwissen. Oft liefen sie durch dunkle Pfützen, vom Geruch von Blut und offenen Gedärmen umgeben. Feindliche Standarten, die zwischen Leichenbergen steckten, wehten träge im Wind.

Kili konnte sich nicht über den Sieg oder über das Ende des Blutvergießens freuen. Die Bilder, die er zu Gesicht bekam, und die Gedanken an seinen Onkel schirmten ihn von der Außenwelt ab. Die Sorgen um ihn, um seinen Bruder und den anderen vermischten sich mit der bleiernen Müdigkeit, die immer stärker an seinem Körper zehrte.

Erst als sie das Haupttor erreichten und die wenigen Stufen zu der Brücke sich vor ihnen auftaten, blieb er stehen. Als er sah, dass die Elben in gebührenden Abstand zur Brücke und damit zum Zwergenreich stehen geblieben waren, wusste er, dass hier ihr gemeinsamer Weg endete. An der Grenze zweier Welten.

Kili sah seinem Bruder nach, der die Stufen mit der Unterstützung meisterte. Als hätte er es gespürt, sah Fili über die Schulter zu ihm. Tu das Richtige, sprachen seine Augen für ihn. Lautlos seufzte er. Wäre das so einfach…

,,Wo werdet Ihr jetzt hingehen?“ Er drehte sich zu Tauriel um, die näher bei ihm stand als ihr Begleiter. Bei seiner Frage richteten sich ihre Augen zu Boden.

,,Ich werde in Dale verbleiben. Legolas folgt seinem Vater zurück in den Grünwald. Er wird dort gebraucht.“

,,Er lässt Euch allein?“

Verwundert über seinen verblüfften Ton sah sie ihn an, senkte jedoch schnell ihren Blick wieder.

,,Ich wurde verbannt, Kili.“

,,Verbannt?“, echote er ungläubig.

,,Kili, komm endlich!“, rief Dwalin. Er ignorierte ihn.

,,Wieso? Von wem?“

,,Tauriel.“ Sie drehte sich zu ihrem Begleiter um, der auf sie wartete. ,,Es wird Zeit.“

,,Geh schon vor“, bat sie. ,,Ich komme gleich nach.“

Legolas hielt inne, nickte bloß und machte auf dem Absatz kehrt. Tauriel sah ihm nach, wie er davon ging.

Nun war Kili allein mit ihr.

,,Mein König befahl es.“ Nur zögernd begann sie zu erzählen. ,,Nachdem die Orks euch bei der Schleuse angegriffen hatten, konnten wir einen gefangen nehmen. Er erzählte unter Androhung von Folter von dem Auftrag, Thorin Eichenschild zu töten und dass ihr Herrscher Großes vorhabe. Mein Herr verbot es mir, den Orks zu folgen, um die Pläne des Bösen zu durchkreuzen. Ich tat es trotzdem, zusammen mit Legolas.“ Sie zuckte mit den Schultern. Eine Geste, die Kili bei ihr nicht kannte. Dass sie kühl und selbstbewusst sein konnte, wusste er. Jetzt wirkte sie hingegen gar planlos und unsicher.

,,Legolas hatte in Seestadt den Ork erkannt, der euch nachstellte. Es war derselbe, der mich angriff. Es war Bolg, ein Abkömmling von Azog dem Schänder. Die Meute floh und wir folgten ihrem Anführer bis an die Grenze zum alten Orkkönigreich Anmar. Wir dachten, es sei verlassen, doch da irrten wir uns. Wir sahen die Fledermäuse, die man in Dunkelheit für den Krieg gezüchtet hatte. Und wir sahen, wie eine zweite Armee des Bösen vorrückte. So schnell, wie wir konnten, ritten wir zurück, um die Kämpfenden warnen zu können. König Thranduil befahl den Rückzug, weil er keine Leute seines Volkes mehr sterben lassen wollte. Ich trat ihm in den Weg.“

,,Du hast was getan?“

,,Ich wollte nicht, dass…“ In ihren Augen begann es zu schimmern. ,,Er wollte die Zwerge und Menschen alleine den Orks ausgesetzt lassen…und drohte mir. Legolas ging dazwischen.“ Zittrig atmete sie aus. ,,Jetzt weißt du, warum ich nicht zurück kann. Ich werde vorerst in Dale bleiben. Vielleicht kann ich den Menschen dort helfen.“

,,Natürlich kannst du das.“ Er fasst nach ihrer Hand, doch sie versuchte sie ihm auf einmal zu entziehen.

,,Nicht. Kili, das ist falsch…“

Er ließ sie nicht los, strich immerzu über ihre Fingerknöchel, um die Berührung zu vertiefen, als wäre sie ein scheues Tier. Ihm war es egal, dass sie wohlmöglich vom Tor gesehen werden konnten. Er sorgte sich um sie.

Was war mit ihr? So erkannte er sie nicht wieder. So schüchtern. Fast schon verloren stand sie vor ihm und versuchte, seine Berührung abzuweisen, ihre Hand aus seiner zu lösen. Wieso lehnte sie ihn jetzt ab?

Als ihre Abwehr schwächer wurde, hörte er sie seufzen, was wie ein Schluchzen klang. ,,Wieso ist es falsch?“, hauchte er. Das letzte Mal, dass sie so auf ihn gewirkt hatte, war am Ufer des Langen Sees gewesen. Mit dem Runen-Stein hatte er ihr ein Versprechen gegeben, das sie angenommen hatte. Nun war er bereit, es einzulösen.

,,Komm mit mir, Tauriel“, bat er sanft.

,,Das ist keine gute Idee. Ich bin in Erebor sicherlich nicht willkommen.“

,,Wovor hast du Angst? Niemand wird dir etwas tun. Dafür sorge ich. Wenn es sein muss, beschütze ich dich mit meinem Leben. Ich…“ Er konnte nicht anders. Nun ergriff er auch ihre andere Hand, hielt sie bei sich. Hielt sie fest. ,,Du musst die Bibliothek sehen! Du könntest so viel lernen! Ich könnte von dir lernen…“ Frustriert knurrte er auf, als er merkte, dass er sich um Kopf und Kragen redete. Dass sie zwei völlig unterschiedlichen, verfeindeten Völkern angehörten, war ihm egal.

Amrá lime. Das hatte er zu ihr gesagt und es auch so gemeint.

Ja, er hatte sich in sie verliebt.

,,Bitte. Komm mit mir.“ Die ganze Zeit über hatte Tauriel nur auf ihre Hände gesehen, die in seinen lagen. Ihr Schwiegen wurde zur puren Qual für ihn.

,,Ich brauche Zeit“, brach sie schließlich leise hervor. ,,Um darüber nachzudenken. Zeit für mich.“

Er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Langsam ließ er sie los. ,,Das verstehe ich.“

,,Ich habe das hier noch.“ Sie holte einen glatten, grünen Stein aus ihrer Hosentasche. ,,Ich habe darauf aufgepasst und das Versprechen nicht vergessen.“ Diesmal nahm sie seine Hand und legte den Runen-Stein hinein, ,,aber ich brauche Zeit. Bitte, Kili, gib sie mir“, und schloss seine Finger um den Talisman.

Plötzlich fühlte er ihre Berührung an seiner Wange. Mit großen Augen schaute er auf. Vorsichtig, jedoch voller Neugierde berührte die Elbe seinen dunklen Bartschatten und strich ihm eine seiner zerzausten Strähnen aus dem Gesicht. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Zur Salzsäule erstarrt konnte er nichts anderes, als zu ihr hinauf zu sehen. Er vergaß, wie man atmete, als die Elbe ihre Hände um sein Gesicht schloss und sich langsam zu ihm hinab beugte. Oh, Durin - oh, Durin - oh, Durin - oh…

Ihre Lippen hauchten einen federleichten Kuss auf seine Stirn.

,,Wenn ihr meine Hilfe braucht, lass es mich wissen“, flüsterte sie. ,,Du weißt, wo du mich findest.“ Sie schenkte ihm ein wehmütiges Lächeln zum Abschied, drehte sich um und dann war der Moment vorbei.

Mit einem Wechselbad der Gefühle blieb er zurück. Ein leichter Wind ließ ihr rotes Haar über ihre Schultern wehen, als sie über das Schlachtfeld ging. Kili sah nie etwas Schöneres.

 

~

 

Am liebsten würde er fortlaufen. Ganz weit weg. Am liebsten nach Hause. Fort vom Krieg und dem Töten.

Würde er vermisst werden? Sicherlich.

Man würd sich fragen, was mit ihm passiert war. Wahrscheinlich wird in Beutelfeld und ganz Umgebung über ihn und sein Verschwinden geredet. Damals hatte er niemandem gesagt, wo er hinging. Alles, was er zu einem Fragenden sagte war: ,,Ich ziehe in ein Abenteuer!“

Wie viele Monate waren vergangen, seit Gandalf eines Morgens vor seiner Gartenpforte stand? Wie viele Male hatte er diese Horde von wildfremden Zwergen verflucht, die an seiner Tür geklopft und nichts als Chaos in seinem Haus veranstaltet hatten? Wie viele Male hatte er bereut, diesen Vertrag seiner Einstellung als Meisterdieb überhaupt zu unterzeichnen und wie oft war er sich sicher gewesen, dieselbe Entscheidung bei einer zweiten Wahl wieder zu treffen? Denn trotz des ganzen Gefühlschaos in sich, war Bilbo eines bewusst geworden: er war für all das dankbar. Für das Gute sowie das Böse, das er erleben durfte. Auch wenn das Letztere so schwer wog.

Die Übelkeit lag immer noch in seiner Kehle, überdeckte das nagende Hungergefühl. Er war so erschöpft, dass ihm die Augen drohten einfach zu zufallen.

Bilbo war so in seine Gedanken versunken, dass er nicht bemerkt hatte, dass sich ihm wer näherte. Erst als Gandalf sich mit einem müden Seufzen neben ihn niederließ, bemerkte er ihn. Gandalf schenkte dem Hobbit ein kleines Lächeln, was er nur schwer erwidern konnte. Schweigend saßen die Beiden auf dem Wehrgang, schauten über die von der Glocke zerstörten Reste der Zinnen hinweg in das, vom Krieg gezeichnete Tal.

Rauchwolken stiegen aus Teilen Dales auf. Die weiten Ebenen waren ein blutiges, mit toten Körpern übersätes Schlachtfeld, über dem Raben und angelockte Geier bereits ihre Kreise zogen. Die Abenddämmerung zog langsam herauf, färbte die grauen Wolken schon früh mit blutroten Trauerschleiern. Das beeindruckende Naturschauspiel war unbeschreiblich schön, doch im Bewusstsein der vielen erloschenen Leben traurig zugleich.

Das ungerührte Kramen und Wühlen von Gandalf in seiner Umhängetasche ließ Bilbo wieder auf ihn aufmerksam werden. Der Zauberer holte eine kleine Bürste heraus und begann in aller Ruhe seine Pfeife zu säubern. Kratzend schabte er alte Tabakreste heraus, klopfte sie auf dem Stein aus, auf dem sie hockten, und paffte ein paar Mal zur Probe in den leeren Pfeifenbauch. Bilbo sah zu ihm auf und fragte sich gleichzeitig, wie viel Lärm er gedachte, damit noch zu veranstalten.

,,Gandalf?“ Kurz verharrte die kleine Bürste. ,,Was hast du gemacht?“, fragte er müde. ,,Vorhin mit Thorin meine ich.“

,,Du sorgst dich sehr um ihn.“

Traurig schaute er zu Boden. Er hatte in den Männern eine zweite Familie gefunden und in Thorin, gerade der, der ihn am Anfang ihrer Reise nicht dabei haben und der ihn letztlich sogar umbringen wollte, einen guten Freund. Von dem stolzen Zwerg hatte er gelernt, dass man für das kämpfen musste, das man liebte. Um den Traum seines Großvaters wahr werden zu lassen, um Rache für den Tod seiner Familie zu nehmen, für sein Volk hatte Thorin bis zum Schluss gekämpft. Bis zum Sieg.

,,Ja“, antwortete Bilbo ihm. Die Angst, dass sein Freund vielleicht doch noch sterben könnte, lähmte ihn.

,,Ich mich auch“, gab der Zauberer leise zu, als er sah, wie nahe das alles dem kleinen Hobbit ging. ,,Damals als die Adler uns nach der Brandschlacht zu der Felsspitze flogen, lag die Kette unter seinen Kleidern verborgen. Wahrscheinlich sahen wir nicht, wie sie auch damals ihre Kraft preisgab. So tat ich dasselbe, was ich schon einmal getan habe“, erklärte er ihm und holte ein Säckchen mit Tabakskraut heraus. ,,Wir sandten seiner Seele einen Zauber, damit er nicht allzu schnell hinübergleitet. Dass er eine Chance bekommt zu kämpfen.“ Er seufzte kaum hörbar und begann mit derselben, wissenden Ruhe seine Pfeife zu stopfen. ,,Doch er ist sehr schwach.“ Als er Bilbos Blick bemerkte, öffnete und schloss er seinen Mund unverrichteter Dinge und schüttelte bloß den Kopf. ,,Die Wunde ist sehr tief. Die Lyrif-Kette beschützt ihren Träger vor jedem Feind, wenn sie reinen und aufrichtigen Herzens ihm übergeben wird, so besagt es die Legende um sie. Doch ich weiß nicht, ob sie abermals solch Wunder vollbringen kann.“ Er sah in die Ferne. ,,Denn ein Wunder ist das einzige, worauf wir jetzt noch hoffen können.“

Auch Bilbos Augen richteten sich zurück in die rote Dämmerung. Die Sonne begann ihren ewigen Weg über den Rand des Horizonts, als ein langer, tiefer Ton laut wurde.

Auf Dales Mauern wurde ein Langhorn gespielt. Es war, als würde die Erde für einen Moment den Atem anhalten. Alles wurde still, um der Kunde zu lauschen, dass die Schlacht der Fünf Heere vorüber war. Auf den Stadtmauern und auf höheren Gebäuden hatten sich Menschen versammelt, blickten auf das Schlachtfeld hinab, um ihren Toten zu gedenken. Andächtig hörte man auf die langsame Melodie, deren schönen, tiefen Töne sich im Hochtal ausbreiteten und von den Berghängen wiederhallten.

Bilbo schloss die Augen, um den aufsteigenden Tränen Herr zu bleiben, hörte allein dem Horn und seinem Spiel zu. ,,Sie wird ein Wunder vollbringen“, flüsterte er.

 

~

 

Nur schwach hob und senkte es sich unter den Decken, die man ihm bis knapp unter den Hals gezogen hatte. Dafür war es zu hören: sein rasselnder Atem. Die Lider seiner Augen bewegten sich nicht wie im Schlaf. Er träumte nicht.

Mittlerweile waren seine Wangen durch den Gewichtsverlust eingefallen. Seine Haare hoben sich stark von seiner Haut ab, die blass und durchscheinend Schnee glich. Auf seiner rechten Stirn verlief vom Haaransatz aus etwas schräg ein Schnitt, der erst am Auge endete. Eine Narbe würde auch dort bleiben.

Die Schwächung sah man seinem Körper an, der Tag um Tag dünner wurde. Thorin sah nicht wie der große König aus, den man in Heldenliedern nach einer gewonnenen Schlacht besang, sondern wie ein gebrochener Krieger.

Nachdem das Gerücht herum gegangen war, der König wäre tot, wurde ein zweites losgeschickt, noch schneller und noch bedeutender als das vorherige: Thorin war am Leben.

In den ersten Nächten hatte man die Sterbenden ihre letzten Worte sprechen gehört. Männer waren eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. In den Berghängen, ganz nah am Himmel wurden die tapferen Krieger aus den Eisenbergen dem Feuer und damit Durin übergeben.

Im Lazarett in den Eingangshallen hatten die Gefährten Tag und Nacht geholfen, denn jede helfende Hand war benötigt worden. Trotz der vielen Arbeit und den Verletzten war jeder Gefallene vom Schlachtfeld geborgen worden, um ihn nicht den Raben, Krähen und Geiern zu überlassen, die den Himmel bevölkerten und sich am Fleisch sattfraßen. Im Erebor war das provisorische Lager ausgeweitet worden. Zwischen der vielen Arbeit, die mit der Organisation und der Versorgung der Verletzten einherging, hatte man bislang kaum Zeit für das Trauern gefunden.

Ein fauler Geruch lag über dem Tal, aufsteigend von den verbliebenen Kadavern der Orks. Niemand hatte sich bis jetzt um ein Begräbnis für sie geschert. Während die Elben ihre Toten längst geborgen hatten, sollten heute Abend auch die der liegengelassenen Orks verbrannt werden. Fili würde eine kleine Ansprache halten. Als Zeichen, dass das Leid nun vorbei war.

Zu König Dains Armee hatte auch ein nachrückender Versorgungstross gehört, mit dem die Heiler eingetroffen waren. Mit dem wenigen an mitgebrachten Vorräten und Medizin würden sie jedoch nicht ewig auskommen. Etliche Raben waren in den ersten Stunden mit Briefen in alle verbliebenden Zwergenreiche geschickt worden, um Hilfe zu erbitten oder Nachrichten zu überbringen.

In der Anwesenheit von Dain und hochrangigen Offizieren beharrte Bilbo mit klopfenden Herzen angesichts der mächtigen Zwerge darauf, dass man auch für die Menschen in Dale etwas beiseitelegte. Mit Murren und ungläubigen Blicken wurde seine Bitte erhört. Bis jedoch die Versorgungskarawanen in Erebor eintreffen würden, mussten die Vorräte streng rationiert werden.

Überraschend bekamen die Gefährten wenige Tage später eine Nachricht aus Dale, die man an die Königsfamilie Erebors adressiert hatte. Fili, als nächster in der Thronfolge, öffnete den Brief. In ihm stand, dass die Bewohner Dales in diesen schweren Zeiten nach dem Krieg bereit sind, ein vorzeitiges Friedensabkommen einzugehen. Sie bedankten sich auch für die Bitte von Bilbo für sie, wovon sie gehört hätten. Außerdem schickten sie höchste Achtung und Besserung für den König und schätzten sein Opfer hoch an, um den feindlichen Befehlshaber töten zu können.

Der Verfasser hatte unter dem Text seinen Namen hinterlassen. Es war ein Brief von Bard. Bilbo freute sich sehr, dass er am Leben war, und dachte auch an die Kinder. Er mochte den Menschen, der seine Leute mit vollstem Herzen angeführt hatte, und wusste, dass Bard die Zukunft für die Menschen aus Esgaroth in Dale, ihrer neuen Heimat, sichern konnte.

Bilbo seufzte und ließ seinen Blick durch das Gemach schweifen, von dem er inzwischen wusste, dass es ein Bestandteil von Thorins früheren Leben als Prinz gewesen war. Auf der gegenüberliegenden Seite des großen Bettes stand in einer Raumnische der Kleiderschrank, daneben ein Schreibtisch, ebenfalls aus edlem Holz. Die linke Raumseite beherbergte die großen Fenster. Als er das leise Schnarchen wahrnahm, sah er zu der kleinen Sitzgruppe vor dem Kamin hinüber, auf der die Jungs schliefen. Lang ausgesteckt lag Kili auf einer niedrigen Sofagarnitur, sein Bruder saß in einer Decke gewickelt im Sessel. Die böse aussehenden, purpurnen, fast schon schwarzen Blutergüsse in seinem Gesicht waren inzwischen schwächer geworden, aber noch nicht verschwunden. Der Bruch seiner Nase hatte einen bleibenden Huckel hinterlassen.

Gelangweilt strich Bilbo sich über die Hose, stand auf und streckte sich ausgiebig vom langen Sitzen. Er schlenderte um das große Bett herum, besah den dick bandagierten Fuß, der hochgelegt, aus den Decken hervorschaute.

In den ersten Tagen hatte Thorin keine Nahrung zu sich genommen. Erst als sein Schluckreflex wieder vorhanden war, gelang es ihnen, ihm Brühe einzuflößen. Obwohl Bilbo manchmal dabei war, hatte er sich an diesem Anblick auch jetzt nach zwei Wochen, in denen Thorin bewusstlos war, nicht gewöhnen können. Dieser schwache, fast leblose Körper gehörte einfach nicht zu dem Zwerg, den er kannte. Wäre da nicht ein schwacher Atem und das Spüren eines Herzschlags könnte man meinen, er wäre tot.

Seine Neffen gingen vorsichtig mit ihm um, wenn sie ihn fütterten oder wuschen. Damit sein Blut nicht stillstand, bewegten sie jeden Tag mehrmals seine Beine, beugten und streckten ebenso seine Arme. Im Gegensatz zu ihm hatten sie, Balin oder Oin, der jeden Tag die Verbände erneuerte, keinerlei Berührungsängste.

Weil er wusste, dass Thorin nackt war, hob Bilbo die Decken aus Respekt nur ein winziges Stück an. Mittig auf seiner Brust lag die Kette, die ihm mit ihrer magischen Kraft das Leben gerettet hatte. Nun war das Leuchten verschwunden, der matte Anhänger unscheinbar wie eh und je.

Inzwischen wusste man, dass Azog es gewesen war, der ihn verwundet hatte. Man fand den toten Körper des bleichen Orks auf dem Eis, Orcrist in der Brust. Sein Blut war es, das sich im fließenden Wasser schwarz unter der Eisschicht am Wasserfall ausgebreitet hatte. Nicht nur Bilbo hatte es gesehen. Im ganzen Hochtal wusste man über Thorins Heldentat Bescheid.

Wissbegierig sah er sich den dicken Verband an, der um Brustkorb und Bauch gewickelt war. Darüber erleichtert ließ er die Decken wieder sinken, strich sie sorgfältig glatt, damit alles wie vorher war. Bei der Erinnerung an die schreckliche Wunde wurde ihm heut noch flau im Magen.

Das plötzliche Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenfahren. ,,Äh, ja? Herein.“

Balin erschien in der Tür. ,,Gibt es etwas Neues?“

Bilbo schüttelte den Kopf. ,,Unverändert.“

Der Weißhaarige mit dem langen Bart nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. ,,Wir müssen uns wohl noch etwas länger gedulden müssen.“ Er durchquerte den Raum und riss die Vorhänge auf. Das plötzliche Tageslicht ließ sich die Jungs regen. Kurzerhand öffnete er auch noch die Balkontür. Einige der Kerzen erloschen unter einem Windhauch.

,,Mhhmm, Balin, mach die Tür zu. Es ist kalt“, begann das Murren vom Sofa aus.

,,Frische Luft tut immer gut“, wiedersprach ihr Ziehonkel.

Kili zog sich die Decke über den Kopf.

,,Kommt, Jungs, raus aus den Federn. Bombur hat das Essen fertig“, sagte Balin, während er sich daran machte, ein wenig Holz für den Kamin nachzulegen.

Neben Bilbo erschien Fili, der sich bereits aus seiner Decke geschält hatte. ,,Wie geht es ihm?“ Der Hobbit zog die Schultern hoch und konnte nur dasselbe wie Balin antworten. Eine leichte Enttäuschung breitete sich auf seinem Gesicht aus. Fili trat an die Seite seines Onkels und legte ihm die Hand auf die Stirn.

,,Geht ihr mit Meister Beutling zum Essen. Ich übernehme solange die Wache. Falls sich sein Zustand ändert, sage ich sofort Bescheid.“

,,Danke, Balin.“

,,Ich will bei ihm sein, wenn er aufwacht.“

Betrübt sah der Kronprinz zu seinem Bruder, der immer noch auf dem Sofa saß und zu ihrem Onkel schaute.

,,Das geht nicht so schnell“, beschwichtigte ihn der alte Zwerg. ,,Geht, ihr müsst etwas essen“, setzte er ruhig hinzu und schob ihn von seinem Lager, ehe er zur Balkontür ging, um sie wieder zu schließen, damit Thorin keinen zu langen Zug abbekam. ,,Fragt, ob Bombur euch etwas Brühe für ihn mitgibt.“

Mit verwuschelten Haaren zog Kili sich einen Pullover über und folgte seinem Bruder und Bilbo hinüber in den Speisesaal, während der alte Krieger sich mit einem Buch auf dem Stuhl niederließ.

 

~

 

Die Zeit verging in ihrem stetigen Rhythmus von Tag und Nacht, ohne Rücksicht zu nehmen auf Vergangenheit oder Gegenwart. Für Marie war diese weiterlaufende Realität nicht mehr nachvollziehbar.

Auch Tage nach dem Eintreffen des Landstreichers hielt der Schockzustand sie gefangen. Sie konnte es nicht glauben, denn die Realität schien nicht zu ihr durchdringen zu können. Sie lebte nicht mehr. Sie funktionierte nur noch.

Je öfters es ausgesprochen wurde, desto unmöglicher erschien es ihr: Krieg hatte am Erebor gewütet und Thorin war einer der Gefallenen.

Ein Muster ihres Alltags bildete sich, ihr Haushalt erledigte sie wie eine gefangene Schlafwandlerin. Oft, so wie auch in dieser Nacht, wachte sie in der festen Annahme auf, ihn neben sich zu finden, sobald sie sich umdrehte. Alles, was sie vorfand, als sie im Bett neben sich gegriffen hatte, war die Leere gewesen.

Damals vor einigen Jahren, als er und sein Volk fort gingen, hatte sie schon gehofft, in einem Traum festzustecken, bis sie schmerzlich erkennen musste, dass es die Wirklichkeit gewesen war. Nun durchlebte sie alles nochmal, noch schlimmer, denn diesmal wusste sie, dass er nie wieder zurückkehren würde.

Auch übermannte sie lange Zeit die Wut. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie sie einfach gehen lassen musste und gehen gelassen hatte, wütend auf das Schicksal, wütend auf die ganze, verdammte Welt. Schließlich begann die volle Wucht der Verzweiflung auf ihren Körper einzuwirken. Er geriet aus dem Gleichgewicht. Das Essen fiel ihr schwer. An schlechten Tagen blieb sie die meiste Zeit stumm. Sie konnte nicht schlafen. Nicht aufhören an ihn zu denken.

Alles erschien so unendlich sinnlos. Ihre Gedanken drehten sich ständig im Kreis. Besonders nachts, wenn Stille einkehrte. Die Frage nach dem Wieso und dem Warum quälte sie genauso, wie die Ungewissheit und die Sehnsucht nach ihm. Manchmal, wenn diese am größten war, schlief sie auf der Bank unter dem Fenster, sah durch das Glas über sich in den Nachthimmel.

So, wie auch jetzt. Sie wartete auf ein Zeichen von einem Stern, um Gewissheit zu haben, dass Thorin nun dort oben war und über sie wachen würde.

Marie schluckte an dem Kloß in ihrem Hals und schloss die Augen, zog die braune Decke, die hier wieder ihren Platz gefunden hatte, bis ans Kinn und versuchte endlich Schlaf zu finden. Sein Geruch war längst aus der Wolle gewichen.

Im Haus war es still. Anna, Greg und Mel schliefen sicherlich schon. Zusammen mit Greg, der die beiden Kühe verkaufen konnte, um sie zu entlasten, waren sie bei ihr ins Nebenzimmer eingezogen. Das Krankenzimmer wurde nicht mehr gebraucht, da Hilda abermals vorübergehend ihre Arbeit übernommen hatte.

An dem Tag, als sie einen Großteil ihres Kräuterschrankes mit zu sich genommen hatte, hatte es sich für Marie angefühlt, als würde man ihr noch einen Teil ihrer Seele wegnehmen. Alle waren sich einig, dass sie Ruhe und Zeit für sich brauchte, so lange, wie sie sie benötigte. Alle gaben sich Mühe, auf sie zu achten und ihr Trost zuzusprechen. Doch oft konnte Anna nicht mehr tun, als neben ihr zu sitzen und sie spüren zu lassen, dass jemand da war. Sie wusste, dass man sich um sie sorgte, doch alles prallte an ihr ab, als säße sie unter einer Kuppe aus Glas wie ein stummer Beobachter.

Sie konnte nicht aufhören, von ihm zu träumen. In ihren Träumen, an ganz persönlichen Orten ihrer gemeinsamen Vergangenheit, in intimen Momenten war er ihr nah. Manchmal da sah sie ihn auch in einem Tagtraum, ähnlich wie damals auf dem Markt, als sie dachte, er würde vor ihr stehen. Oder als sie eines Nachts dachte, er schliefe neben ihr und zöge sie in seine Arme. In diesen kurzen Augenblicken schien er allein für sie wiedergekehrt zu sein. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass immer, wenn sie blinzelte, er wieder fort war.

Leise seufzte Marie und richtete ihren Blick erneut in den Nachthimmel. Würde sie je aufhören können an ihn zu denken?

Als eine Tür leise knarzte, wusste sie an ihrem Klang, welche es war. Sie hatte es schon immer getan. Schritte näherten sich in ihrem Rücken, bis sich jemand zu ihren Beinen auf die Bank setzte.

,,War es wieder der Traum?“

Abgewandt von ihr nickte Marie. Mittlerweile schien es so, als hätte Anna ein Gespür für sie entwickelt, als wüsste sie immer, wie es um ihre Freundin stand.

,,Komm, ich bringe dich wieder hoch.“

Marie schüttelte den Kopf. ,,Ich möchte lieber hier bleiben.“

Anna folgte ihrem Blick in den Himmel und verstand. ,,Ist gut.“ Sanft strich sie ihr übers Haar. ,,Versuch zu schlafen. Ich hab dich lieb.“

,,Ich dich auch“, flüsterte sie und hörte, wie Anna sich leise zurückzog. Marie schaute in die Sterne und wusste, dass sie mit ihm ihr Herz verloren hatte. Jeden Tag, am dem Thorin nicht bei ihr war, starb sie ein Stück mit ihm.

 

 

 

 

 

3

 

 

Wie lange er schon an diesem kalten Ort weilte, konnte er nicht sagen. Es gab keine Sonne, keinen Mond in dieser Welt, die Tage und Nächte formten oder ihm Orientierung geben könnten. Es blieb alle Zeit dunkel. Von irgendwoher drangen manchmal flüsternde Stimmen zu ihm, waren jedoch jedes Mal zu weit weg, um sie verstehen zu können.

In der Finsternis, die ihn hielt, konnte er keine Wände sehen. Grau und Schwarz umgaben ihn, dehnten sich ins Unendliche vor ihm aus. Er machte die Augen zu und schlug sie wieder auf. Es machte kaum einen Unterschied.

Endlos nachdenkend wandelte er in diesem Nichts. Thorin wusste nicht, was passiert war, hatte keine Erinnerungen mehr an das Geschehene. War das alles bloß ein Traum? Wenn ja, warum wachte er nicht auf? Wie war er hier hergekommen? Wo war er und was noch viel wichtiger war, wie kam er hier wieder weg?

Schließlich erhob er sich von dort, wo er gehockt hatte, und setzte seinen Weg fort. Wohin er gehen sollte, wusste er nicht. Himmelsrichtungen existierten nicht. Er wusste nur, dass er keine andere Wahl hatte, wenn er einen Weg finden wollte, von hier fort zu kommen. Er hatte die Suche nach einem Ausweg noch nicht aufgegeben. Außerdem half die Bewegung in der Einsamkeit mit sich selbst, nicht verrückt zu werden.

Seine Stiefel fanden Halt auf dem bodenlosen Schwarz, als ginge er auf Glas. Dass sein rechter komplett durchbohrt war und zwei große Löcher aufwies, sah er, die Begründung aber war ihm schleierhaft. Er trug seine Rüste, doch die Kettenglieder an seinem Bauch waren aufgesprengt, Fetzen von ihnen hingen an ihm und rasselten leise. Die Hemden waren zerteilt, darunter seine nackte, eiskalte Haut. Was passiert war, konnte er nicht sagen. Jegliche Erinnerungen fehlten ihm. Sein Kopf war eine einzige, zähe graue Masse, überladen mit Gedanken und Fragen.

Wenn er sich selbst berührte, spürte er die Berührung nicht. Er weilte nicht körperlich in dieser Welt, vielmehr war es so, als wäre seine Seele es, die in ihrer fleischlichen Hülle man hier sich selbst überlassen hatte. Seine Stimme war verstummt. Zu oft hatte er gerufen. Niemand hatte ihn gehört. Niemand geantwortet.

Er wusste, dass er allein war. Finsternis tat sich um ihn herum auf. Kein Licht. Kein Lebenszeichnen. Von niemandem.

Irritiert schaute Thorin auf, als etwas vor ihm erschien. Ein grauer, verwaschener Umriss schien in einiger Entfernung in der Dunkelheit zu schweben. Angestrengt versuchte er genaueres zu erkennen. Thorin zögerte nicht und ging diesem Etwas entgegen, fragte sich gleichzeitig, was ihn dort erwarten würde. Vielleicht ein Weg, um hier raus zu gelangen?

Doch nach einigen Schritten formte sich daraus bloß ein alter, verdorrter Baum in mitten des Nichts. Verwundert ihn hier zu finden und froh, etwas zu sehen zu bekommen, legte er die Hände auf die versteinerte Rinde, fuhr mit den Fingerspitzen die Furchen entlang. Eine alte Eiche. Das Gefühl, etwas zu spüren, war fast schon zu intensiv. Als der König Erebors an ihr empor schaute, sah er die Reste vom verkrüppelten Geäst, das wie dürre Hände in die Höhe griff, als hofften auch sie auf Licht. Wurzeln gruben sich am Fuße des mächtigen Stammes in die Dunkelheit und verschwanden, geformt von verstrichenen Jahrhunderten ihres Wachstums. Wie konnte ein Baum hier wachsen, in dieser hoffnungslosen Welt, und was hatte ihn sterben lassen?

Thorin hatte auf all diese Fragen keine Antworten. Im Schutze der Eiche legte er sich nieder und versuchte Schlaf zu finden. Er war nicht müde, doch er hoffte vielleicht dadurch, seine Erinnerungen wiederzufinden. In der Stille der Finsternis, die nur vom fernen Flüstern getrübt wurde, schloss er die Augen und horchte in sich hinein.

Unverständnis. Argwohn. Verwirrung. Furcht. Lethargie. Aber vor allem: Leere. Dort, wo sein Herz sein sollte, fühlte er ein Loch, als ob etwas fehlte, was dort immer gewesen war und er jetzt bräuchte. Er war unvollständig.

Irgendwann musste er doch eingeschlafen sein. Denn als ihm jemand übers Haar strich, öffnete er blinzelnd die Augen. Sein Kopf lag weich. Verwundert hob er ihn und erstarrte vor Unglauben. Liebevoll, jedoch auch mit Wehmut schaute seine Schwester auf ihn hinab.

,,Dis“, wisperte er, riss im gleichen Moment die Augen auf. ,,Was…? Wie…?“

,,Schh…“ Sie legte seinen Kopf zurück auf ihren Schoß, der wie von selbst wieder sank. Thorin krallte seine Hand in ihren einfachen Rock, fühlte den groben Stoff, die Schürze, die darüber lag. Kleidung einer Lazaretthelferin. Er erinnerte sich.

Moria. Sie war im Lager gewesen, als es überfallen wurde.

,,Dis.“ Nun war sie hier. Sie war bei ihm. ,,Dis...“

,,Schh, alles ist gut. Ruh dich aus.“ Immerzu strich sie über sein Haar, über seine Stirn. ,,Du bist in Sicherheit.“

Jede fremde Berührung war unglaublich intensiv. Er klammerte sich an ihr fest, spürte die Wärme ihrer Beine, die sich für ihn fast heiß anfühlten. ,,Bin ich tot?“, konnte er die Frage aufbringen, die er schon lange mit sich herumtrug.

,,Nein, großer Bruder. Du bist am Leben. Ich bin bei Durin.“

Er hatte den Atem angehalten, den er jetzt wieder entließ. Er lebte, aber wo war er dann? Was war das für ein Ort? Und warum war sie hier? Warum konnte er sie sehen, mit ihr sprechen? War das alles wieder nur eine Täuschung? Nein, er konnte sie fühlen, spürte ihre Wärme.

,,Wo bin ich?“

,,Sorg dich nicht, Thorin.“ Ihre Stimme wieder zu hören, war ein unschätzbares Geschenk für ihn. ,,Du bist nicht allein. Man gibt auf dich acht, dort, wo du bist.“

Nur mit Mühe konnte er realisieren, was sie ihm da erzählte. ,,Was ist passiert?“ Seine Kehle tat weh vom vielen Sprechen. Fragen über Fragen, die nicht weniger wurden.

Sie wurde um einiges ernster, als sie antwortete: ,,Du wähltest den Krieg.“

Er schloss die Augen, versuchte sich zu erinnern.

Dieses Gefühl ungezügelter Macht… Purer Hass. Rachsucht. Drachenkrankheit.

Wie durch tosendes Wasser getrieben, rauschten Bilder durch seinen Kopf, sodass es schmerzte. Er erinnerte sich, wie er Bilbo mit dem Schwert bedroht und sich auf den Thron gesetzt hatte. Der brennende See. Das Gold. Der Fluch einer Bestie. Sehnsucht nach einem verlorenen Schatz.

Er sah, wie er Geschirr vom Tisch fegte, seine geballte Faust Fili traf und wie Dwalin vor ihm stand, Unverständnis und Zorn in den Augen. Plötzlich war jemand aus dem Nichts auf ihn zugeschritten, doch er konnte das Gesicht nicht erkennen.

Thorin versuchte sich auf diese Person in seinen Erinnerungen zu konzentrieren. Eine tiefe, warme Vertrautheit strömte ihm einladend entgegen. Grüne Augen, die es schafften, in seine Seele zu blicken… Doch dann sah er seinen eigenen Tod, sah das Gold, das ihn immer tiefer zog und ihn verschluckte. Ihn vernichtete, bis nicht mehr von ihm übrig war…

Eiskalt durchfuhr es ihn. Thorin erschauderte und klammerte sich an seine Schwester, die ihre Arme um ihn legte.

,,Aber du hast es geschafft, die Dunkelheit in dir Einhalt zu bieten, die dich geleitet hat“, sprach Dis ruhig weiter. ,,Und deshalb bin ich stolz auf dich.“

Hatte er das? Er schloss die Augen und suchte den Schatten, den er in den hintersten Winkel seines Innersten verbannt hatte. Der Drache öffnete die Augen in der Dunkelheit seines Gefängnisses.

Er war also immer noch da.

Es war Smaug gewesen, durch den er für seine Gefährten plötzlich Hass und Misstrauen gehegt hatte. Seine Gedanken waren von der Bestie beeinflusst gewesen und er seine Marionette.

Es kam über seine Lippen, ehe er darüber nachdenken konnte: ,,Er ist ein Teil von mir.“

,,Ja, die Drachenkrankheit ist in deinem Blut. Großvater hatte es nicht geschafft, sich ihrer zu behaupten, doch du hast es getan. Du weißt, wie du dem Drachen entgegenzuwirken hast. Es gibt eine Macht, die noch stärker ist als Smaugs Fluch. Folge ihrem Licht. Dem in deinem Herzen. Sie gab es dir.“ Es hörte sich an, als lachte sie nun leise. ,,Ich hätte sie gerne kennengelernt.“

,,Wen? Von wem sprichst du?“ Einen Wimpernschlag später schreckte Thorin hoch und saß allein am Fuße der Eiche.

 

~

 

Der große Tisch im Ratssaal war über und über mit Plänen, Briefen und Schriftrollen beladen. Hinter dem Berg aus Papier saß Balin und schrieb beim Durchsehen der Nachrichten aus den anderen Königreichen sein Tintenfässchen leer. Hinter ihm stehend: König Dain.

,,Wie viele Eurer Männer sind übrig, Mylord?"

Der imposante Kriegsherr kratzte sich den roten Haarschopf, in dem die Zeit bereits etliche weiße Strähnen eingewebt hatte. ,,Hundertfünfzig. Mehr oder weniger.“

Die Lage war angespannt. Die Soldaten aus den Eisenbergen waren in Erebor vorerst untergekommen, doch die Vorräte waren so gut wie aufgebraucht. Man wusste über das Murren der Männer Bescheid, das von Tag zu Tag lauter wurde. Fragen nach der Gesundheit des Königs wurden zu ihnen getragen. In einer ersten Ansprache hatte Balin versichert, dass König Thorin am Leben wäre, er aber dass Ruhe bräuchte, um zu Bewusstsein zu kommen. Sorgen und Unverständnis waren murmelnd durch die Versammelten gegangen: wie man so lange ohnmächtig sein könne, und was wäre, wenn er doch tot war und man sie damit nur hinhielt?

Bestärkend sprach Balin zu ihnen. Man würde alles tun, um dem König zur Besserung zu verhelfen und dass, so leid es ihm täte, man im Moment nur abwarten könne. Dasselbe galt für den Kronprinz, der sich von seinen Verletzungen erholen müsse, dem es aber den Umständen entsprechend wieder gut ginge.

Jeden Tag könnten jetzt die Versorgungstrecks eintreffen, die man zur Unterstützung gen Erebor geschickt hatte. Der Schneesturm hatte zwar inzwischen aufgehört, bei dem Schnee würden die Wagen im Gebirge allerdings noch langsamer vorankommen, wenn die Zugtiere sich ihren Weg erst hindurch kämpfen müssten. Um die Zeit zu überbrücken hatte man die übrig gebliebenen Widder schlachten lassen und als Notmittel jene steifgefrorenen vom Schlachtfeld geholt, deren Fleisch man noch verwerten gekonnt hatte.

Seit Tagen traf man Vorbereitungen für das Eintreffen der Versorgungsgüter aus den anderen Königreichen und weiteren Ankömmlingen. Aus den Briefen wussten sie, dass Zwerge sich auf den Weg nach Erebor gemacht hatten, seit die Kunde vom Tod des Drachen durchs Land ging. Man vermutete, dass sie die Witterungen abwarteten und daher erst in ein paar Wochen oder Monaten hier eintreffen würden. Alle organisatorischen Arbeiten, die anfielen - und das waren so einige - hatte der Sohn des einst wichtigsten Ratsmitgliedes Erebors übernommen und blühte in seiner Arbeit, die er erlernt hatte, auf, dabei stets an seiner Seite: seinen frisch beförderten Assistenten Ori.

Die Gefährten, die mittlerweile in Erebor und Dale unter diesem Begriff bekannt waren, waren vorerst im Gästeflügel, in der Nähe der königlichen Gemächer eingekehrt. Alle kannten sie und achteten sie als Helden. Zu ihrer eingeschworenen Gruppe waren auch Dain und Radagast hinzugekommen, der noch solange bleiben wollte, bis Thorin über den Berg war.

Der Zauberer aus dem Grünwald saß ebenfalls mit am Tisch und hielt einen Raben auf seinem Arm, den er verhätschelte und sich an seiner Gegenwart erfreute... ,,Du bist ja ein Hübscher. Au!“, ...und der ihn regelmäßig in den Finger zwickte.

Zum Glück hatten alle Gefährten nur verhältnismäßig leichte Verletzungen davon getragen. Durch das Herausreißen von Bifurs kleiner Axt aus seiner Stirn warf Oin hin und wieder einen Blick auf ihn, doch dieser schien keinen Schaden davon getragen zu haben. Seine Fähigkeit, wieder in der Gemeinen Zunge zu sprechen, gelang ihm mal besser, mal schlechter. Daran störte Bifur sich jedoch nicht, er war nur heilfroh die feindliche Axt losgeworden zu sein. Lediglich die tiefe Kerbe im Schädel würde er auch weiterhin behalten.

,,Diesen hier auch noch.“ Balin gab Ori einen weiteren Brief aus den Eredmithrin, wie die Silberberge in ihrem Sprachgebrauch genannt wurden, den dieser zu den anderen Antwortbriefen aus den verschiedenen Königreichen legte. Generell wurde seit dem Eintreffen der Zwergenarmee in Erebor fast ausschließlich Khuzdul gesprochen. Nur wenn sich die Gefährten zu den Mahlzeiten im Speisesaal trafen, wurde in die Gemeine Zunge gewechselt, um Bilbo nicht auszuschließen.

,,Noch einer von Ubba?“, fragte Dain.

,,Ja, Mylord“, antwortete Ori und überflog den Brief, ehe er ihn in seine vorgesehene Stelle einsortierte, um den Überblick nicht zu verlieren. ,,Was er geschrieben hat, lässt darauf schließen, dass seine Versorgungsgüter reichlich ausfallen werden.“

Widererwarten schnaubte Dain entrüstet. ,,Das ist ja mal wieder typisch! Keinen Finger zur Unterstützung gerührt und dann als der ach so großzügige Herr dastehen. Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, kann der Mistkerl was zu hören bekommen.“

,,Ihr solltet keinen Gram gegen die anderen schüren. Nicht in diesen Zeiten“, versuchte Balin den temperamentvollen Fürsten zu besänftigen. ,,Wir sollten über jede Unterstützung dankbar sein.“

,,Ach, Ihr habt ja recht, mein Freund. Die ganze Situation setzt auch mir zu. Unsere aller Neven sind ein wenig angespannt, wie ich fürchte.“

,,Eure Lordschaft, dürfte ich Euch eine Frage stellen?“

Dain Eisenfuß sah zu Gandalf hinüber, der neben Radagast saß und alte Schriften aus der Bibliothek studierte. ,,Nur raus damit, mein alter Freund.“

,,Wann war die letzte Versammlung aller Zwergenreiche?“

,,Oh, nun…“ Grübelnd fuhr er sich den Bart nach, der durch die Spitzenaufsätze an Wildschweinhauer erinnerte. ,,Die letzte ist...ähm. Wenn ich mich recht entsinne, war es das letzte Mal auf meines Vetters Ruf hin, dass es eine Einberufung aller sieben Reiche gab. Damals in ‘ner alten Spelunke, irgendwo im Grenzgebiet zu Bree. Ich erinnere mich noch genau daran. Thorin offenbarte uns sein Vorhaben, gen Erebor zu ziehen. Und wir ließen ihn alleine ziehen“, fügte er betrübt hinzu. ,,Im Nachhinein gräme ich mich, dass ich ihn damals nicht unterstützt habe. Was wir alle nicht getan haben.“

Der Zauberer nickte wissend. ,,Ich denke, so ergeht es allen Zwergenfürsten. Im nächsten Jahr, wenn in Erebor wieder das Leben seinen Gang gehen wird, sollte hier eine Versammlung einberufen werden. Als Zeichen des Neuanfangs und des neuen Friedens Eures Volkes.“

Dain musste lachen, sodass sein Bauch unter dem roten Wams zu beben begann, und zeigte keck mit dem Finger auf ihn. ,,Das ist eine ganz vortreffliche Idee, mein alter Freund.“

,,Gandalf? Denkst du, dass Thorin an der Versammlung teilnehmen wird?“ Alle sahen zu dem kleinen Schreiber, der an seiner Feder herum nestelte. Gandalf versuchte, ihm aufmunternd anzulächeln. Dain war es, der ihm eine Antwort abnahm.

,,Das hoffen wir alle.“ Er haute ihm auf den Rücken, etwas zu fest für den eher schmächtigen Zwerg, der unter dem Schlag zuckte. ,,Mein Vetter hatte verdammtes Glück, in den Besitz dieser Dings-Bums-Kette gelangt zu sein. Bin mir sicher, dass der das schaffen wird. Sind die Jungs schon wieder bei ihm?“

Balin nickte. ,,Ja, Mylord.“ Obwohl Dain quasi schon zu den Gefährten gehörte, bewahrte der alte Mann die Etikette der Anrede. Dain war immerhin Herrscher der Eisenberge und trug mit Stolz seine Krone. Diese bestand aus einem wuchtigen Metall, welches unterschiedliches Gestein seiner Heimat enthielt, was die Vielfalt und den Reichtum der Eredinbar symbolisierte. Von rötlich bis schwarz bestand ihre Facette, was von gravur-geschmücktem Eisen umgeben war.

,,Sie sollten nicht den ganzen Tag bei ihm hocken. Sie können doch eh nichts tun.“

Balin musste lachen. ,,Da kennt Ihr sie aber schlecht. Ihr werdet sie nicht davon abhalten können, werter Lord. Sie kommen aus derselben Esse wie ihr Onkel, glaubt mir.“

,,Als ich sie das letzte Mal gesehen hab, hatten sie kaum Flaum an den Backen und heut‘ stehen sie mir als erwachsenen Burschen gegenüber. Wie die Zeit doch vergeht…“

,,Wahre Worte. Sie kümmern sich anstandslos um ihn, wir müssen sie sogar zügeln, auch an sich zu denken. Lord Dain, habt ihr zufällig meinen Bruder gesehen? Seit dem Essen war er verschwunden.“

,,Ich hörte, er sei unten bei meinen Männern und würfle mit ihnen.“

,,Hätte ich es mir denken können. Er nahm schon immer Reißaus, wenn ich ihn bat, mir bei solchen Sachen zu helfen.“ Balin begann zwischen den Blättern zu kramen. ,,Ori, hast du die Pläne der Wohnhallen gesehen?“

,,Äh… Hier. Hier sind sie.“ Er mühte sich mit dem Stapel großen Blättern ab, die er beidhändig heben musste.

,,Au! Nicht zwacken!“ Tadelnd hielt Radagast dem Raben den Finger vor den Schnabel.

,,Krah! Futter!“

Er holte irgendwo aus den Tiefen seines, mit Vogelkot bekleckerten, waldgrünen Filzmantels Brotkrümel heraus und verstreute sie auf dem Tisch. ,,Da hast du.“

,,Radagast, nimm doch diesen Vogel hier weg!“ Gandalf war bemüht das alte Schriftstück vor den Krallen und möglichen Vogeldreck zu schützen, welches er studierte.

,,Nun hab dich nicht so. Er tut doch keinem was... Au! Freundchen! So ein Witzbold, hier.“

Gandalf, dessen Abschürfungen im Gesicht verheilt waren, und um dessen Entstehung er kein Wort verloren hatte, schüttelte den Kopf. Er hatte es sich zu Aufgabe gemacht, die Bibliothek Erebors zu durchforsten, auf der Suche nach möglichen Schriftstücken, die mehr über die Lyrif-Kette und deren Kraft sagen konnten.

Im Geheimen suchte er gleichzeitig auch nach Schriften über Sauron, dessen Wiederkehr ihn nicht losließ. Doch bislang hatte er weder über das eine, noch über das andere etwas gefunden. Über Letzteres schwieg er.

Bereits wenige Tage nach der Schlacht war Beorn die Heimreise angetreten. Man hatte ihn und seine Wunden nur wenig versorgen können. Der launige und misstrauische Hautwechsler ließ sich die Behandlungen kaum gefallen. Als ihm der Trubel in Erebor zu viel wurde, war der Einsiedler aufgebrochen. Unter seinen Tieren und in der Abgelegenheit seines Heims würde er sich um einiges wohler fühlen.

Verwundert über die großen Pläne beugte sich Dain über den Tisch. ,,Die sind doch schon Jahre alt. Was wollt Ihr denn damit?“

,,Helft mir hier etwas Platz zu schaffen, Mylord, dann erkläre ich es Euch.“ Vorsichtig räumten sie die Papiere zur Seite und breiteten die vergilben Pläne auf der Steinplatte aus, strichen sie glatt und stellten Briefbeschwerer an die Kanten, damit sie sich nicht einrollten.

,,Das hier sind die Auflistungen aller Wohnstuben, Geschäfte und Werkstätten, die es in Erebor gibt.“ Man erkannte etliche, verwirrend erscheinende Grundstrukturen der Architektur einzelner Stadtabschnitte, in und an denen mit dickerer Feder Familiennamen geschrieben waren. Er tippte mit dem Finger oben rechts in die Ecke. Aufmerksam folgte Dain ihm.

,,Datiert zu einem Zeitpunkt, bevor Smaug Erebor angriff und wir fliehen mussten. Alle ließen ihr Heim und ihr Hab und Gut zurück. Oft mit nichts als der Kleidung am Leib verließen wir Erebor. Wenn nun Zwerge unseres Volkes zurückkehren werden – und das werden sie, da sind wir alle von überzeugt, können sie Ansprüche erheben auf das, was einst ihren Familien gehörte, denn wie wir wissen ist sämtliches Inventar noch erhalten. Damit es zu keinem Streit oder gar Anarchie kommt und man in gegebenen Fällen die Häuser an andere Familien verteilen kann, müssen wir auch darauf Acht nehmen. Schließlich haben die Hinterbliebenen das Recht auf das, was ihnen rechtmäßig gehört.“

,,Durin, daran hätte ich nie gedacht.“ Er kratzte sich im Bart. ,,Ich sehe, diese Aufgabe ist bei Euch bestens aufgehoben.“

Bei dem Kompliment verneigte sich Balin. ,,Ja, ein ganzes Reich wieder aufzubauen, erfordert mehr Organisation als man annimmt. Es ist ein Vorgang, der noch Monate dauern könnte. Ori, bitte heb diese Pläne auf und verschriftliche sie, sodass wir sie handlicher vorliegen haben. Ach, und gib dieses Buch dort drüben an meinen Bruder weiter. Das ist das letzte Jahrgangsbuch vom Militär. Karif hat sehr ordentlich die Listen und Protokolle geführt. Er soll sich das mit Fili ansehen und neue erstellen. Der Junge wird sicherlich Interesse daran haben. Und erinnere mich daran auszusortieren, was ins Archiv gebracht werden kann.“

In diesem Moment betraten Bombur, Nori und Dori den Saal. Nori ließ sich neben Gandalf auf den Stuhl fallen und streckte ächzend die Beine aus. ,,Ich sehne den Tag herbei, an dem hübsche, flinke Zimmermädchen durch die Gänge huschen, den Abwasch erledigen, Staubwischen und eine köstliche Mahlzeit nach der anderen in der Küche für uns zaubern…“

,,Bis es soweit ist musst du Faulpelz noch öfters dreckiges Geschirr spülen“, kommentierte Dori von der anderen Seite.

Der mittlere Bruder des Geschwister-Trios rollte mit den Augen und lehnte sich zurück. ,,Man darf ja wohl träumen dürfen.“

Dori schluckte einen weiteren Kommentar runter. ,,Wie geht es Thorin?“, fragte er stattdessen. ,,Gibt es schon Anzeichen einer Besserung?“

,,Nein, leider nicht.“ Gandalf schob die Schriften von sich und massierte sich die Nasenwurzel. ,,Sein Zustand bleibt unverändert. Ich frage mich, ob wir etwas übersehen haben.“

,,Beorn hat doch damals erzählt, dass dieser Hexenmeister aus Dol Guldur Tote wieder zum Leben erwecken könnte. Warum bitten wir den nicht, Thorin…“ Nori konnte seine Überlegung nicht zu Ende bringen. Gandalf nahm seinen Stab zur Hand und zog ihm diesen über den Hinterkopf.

,,Denk nicht mal daran, törichter Zwerg! Dann ist Thorin so gut wie verloren. Nicht auszudenken, was dann passieren könnte!“

,,Ja, doch. Ja, doch…Ohh…“ Nori rieb sich die schmerzende Stelle, während sein Halbbruder vor Schadenfreude gluckste.

,,Das gilt für euch alle!“ Der erboste Zauberer war noch nicht fertig. ,,Ich will davon nichts mehr hören! Dieser Mensch hat seine Seele dem Bösen verkauft. Wer sich an ihm wendet, tut es ihm gleich.“ Nachdenkliches Schweigen breitete sich angesichts dieser Mahnung am Tisch aus, bis es je unterbrochen wurde.

,,Sie kommen!!“ Hals über Kopf stürmte Bofur den Saal, stolperte an der Schwelle über seine eigenen Füße und landete der Länge nach in der Mitte des Mosaiks auf dem Fußboden. ,,Uff!“

,,Bofur, du Tollpatsch, was machst du denn hier für Radau?“

Dieser musste sich seine Mütze aus dem Gesicht ziehen, ehe er antworten konnte. ,,Die Wagen! Sie kommen! Sie sind schon im Tal. Die Wachen am Tor…“ In diesem Moment wurde sein Redeschwall durch eindrucksvolle Glockenschläge aus den Eingangshallen unterbrochen, die bis zu ihnen hinauf getragen wurden.

,,Haha, diese Mistkerle. Das wurde aber auch Zeit!“ Lachend half Dain ihm hoch, während die anderen freudig zu den Treppen liefen, um die ersehnten Ankömmlinge zu begrüßen.

Die Zauberer blieben zurück. Auf Gandalfs Gesicht erschien ein Lächeln, ehe er sich wieder dem Lesen zuwenden wollte und es sich in Zorn wandelte.

,,Radagast!! Schaff mir diesen Vogel vom Hals, zum Donnerwetter nochmal!“ Unbekümmert hockte der Rabe auf dem alten Schriftstück und pickte darauf herum.

 

Die Thjalfar-Glocke hatte man wieder an ihrem Platz gehoben und mit weiteren Tauen verstärkt, bis ein solider Balken eingesetzt werden konnte. Ihr schöner Schall verbreitete sich mit jedem Schlag und rief alle am Haupttor zusammen. Immer mehr Zwerge versammelten sich in der Südhalle, um der lang ersehnten Ankunft der Versorgungsgüter beizuwohnen.

Dwalin eilte zum Durchbruch und lief auf die Brücke hinaus, hielt die Hand gegen die Wintersonne und ihren Reflektionen im Schnee. Vorbei an Dale und durch das Hochtal nahm eine Kolonne von Wagen ihren Weg, die kein Ende fand. Über den Osthang kam langsam ein zweiter Tross, der auf der Ebene vor dem Tor mit dem anderen zusammentraf und verschmolz.

Die Wagenführer lenkten ihre Fuhrwerke über das gezeichnete Schlachtfeld, konnten wegen den Bodenverhältnissen nur hintereinander weg fahren. Die ersten nahmen bereits die leichte Steigung zum Tor hinauf, während andere noch im Süden den felsigen Weg über die Kuppe bewältigten.

Dwalins Blick fiel auf die wenigen Stufen, die zur Brücke gehörten, und eilte zurück in den Berg. Im Inneren wurde er fündig. In einer Nische lag die alte Rampe, die man jeher benutzt hatte. ,,Packt mal mit an!“ Fünf Soldaten kamen zur Verstärkung. Zusammen befreiten sie die Rampe von Schutt und Asche und trugen sie bis vor die Brücke, sodass die Wagen die Stufen meistern konnten. Man schob noch ein paar Gesteinsbrocken beiseite, um es den Tieren und den Rädern einfacher zu machen. Keinen Augenblick zu früh, denn das erste Gespann erreichte Erebor. Zwei riesige Ochsen zogen den Wagen, der mit etlichen Fässern beladen war. ,,Kommt, Männer, fasst mal mit an!“ Soldaten packten die Räder und halfen den Tieren mit vereinten Kräften die schwere Last durchs Tor zu bekommen.

Auf dem Bock saß ein älterer Zwerg, der bei Balin hielt. ,,Ich bin der Fuhrmeister aus den Blauen Bergen! Wo soll mein Tross hin?“

,,Wir haben Euch erwartet! Fahrt die Osthalle hinab!“

,,Zu mir!“ Gloin winkte dem Fuhrmann im Rückwärtsgehen zu sich, der die Zügel knallen ließ und die Ochsen vorwärts brachte.

Dwalin lachte laut und herzlich und winkte dem nächsten Gespann. ,,Immer rein in die gute Stube!“

Ein Wagen nach dem anderen kam in den Berg, gezogen von Ochsen, Bergponys oder Widdern. ,,Brav!“ Die Männer begleitetem die erschöpften Tiere auf den letzten Metern ihrer kräftezehrenden Reise, fassten mit an die Fracht, um ihnen zu helfen. Nach der Registrierung bei Balin ging es durch den Mittelgang des ehemaligen Lazaretts, wo Genesene und Verletzte sich neugierig auf ihren Pritschen aufgesetzt haben oder auf Krücken gestützt näher humpelten.

Für die Wagen ging es ab dem Lager nach rechts in die Osthalle hinab, um in der anschließenden Halle die Güter per Seilwinden Schächte hinab in Richtung der Vorratslager und Kornkammern zu transportieren.

Ein Wagen nach dem anderen rollte durch die zerstörten Reste des Haupttores, beladen voller Fässer, Säcke und Kisten mit den unterschiedlichsten Sachen, auf ihnen Männer in dicken, manchmal noch flockenbedeckten Mänteln, gegen die Kälte vermummt bis an die Augen.

,,Was habt Ihr geladen?“ Balin ließ jeden am Tor anhalten, um die Ladung und deren Menge zu registrieren, Ori wie sein zweiter Schatten an seiner Seite wissend, der eifrig aufschrieb.

,,Bier.“ Der Fuhrmann klopfte unter sich. ,,Und zwar reichlich!“

,,Ihr müsst in die Osthalle, fünfter Abschnitt!“

,,Bier? Das nehme ich schon mal an mich, habt Dank!“, rief ein nahestehender Soldat. Seine Kameraden verfielen in Gelächter. Die Stimmung war mit einem Mal ausgelassen und fröhlich. Nach den Kriegserlebnissen waren die Männer wieder zu Scherzen aufgelegt. Jedermann, der dazu in der Lage war, half mit.

Frauen, die bereits mit Dains Versorgungstross gekommen waren, standen fröhlich schwatzend am Rande, winkten den Ankömmlingen oder führten die Tiere an den Trensen, um ihnen im Angesicht des Lärms und der Aufregung sanfte Worte zuzuflüstern und die ein oder andere Streicheleinheit zu schenken. Denn es herrschte ein reges Durcheinander wie in einem Taubenschlag. Überall wurden Befehle gegeben. Es wurde so laut, dass man sich mitunter anschreien musste.

,,Die leeren Wagen erst mal durch in die Nordhalle!“

,,Schert die Zugtiere aus!“

,,Wir kommen aus Nogrod!“

,,Nogrod? Da habt Ihr aber einen langen Weg hinter Euch!“

,,Nicht gerade die beste Jahreszeit für so ein Unterfangen!“

Und sogar die ersten Wiedersehen gab es. Ein älterer Mann sprang vom Wagen und schloss einen der Soldaten in seine Arme, froh, diesen am Leben zu sehen. ,,Mein Sohn! Mein Sohn…“

,,Mit den besten Grüßen aus den Eredmithrin!“ Die Wagenführer lüfteten Mützen vor den Lazaretthelferinnen zu ihren Seiten. Junge Kerle pfiffen, was die Frauen in Gekicher versetzte.

,,Zieht! Macht schon!“ Vereint zogen die Männer volle Netze in die Höhe, die dann über einzelne Flaschenzüge in die Tiefe des Berges gebracht wurden, wo man sie weiter transportierte.

Man arbeitete Hand in Hand. Ein jeder half mit, Erebor neues Leben einzuhauchen.

,,Es ist mehr, als wir erwartet hatten. Und es nimmt kein Ende.“ Balin hatte wieder einmal Freudentränen in den Augen. Pausenlos kritzelten er und Ori Listen voll.

Dwalin legte den Arm um seinen Bruder. ,,Jetzt wird alles gut.“

,,Ja“, sprach er voller Zuversicht. ,,Das wird es.“

Ein Kutscher sprang mit seinem Nebenmann ab und schickte seine Mitreisenden weiter. Sie traten zu ihnen und machten eine Verbeugung. Der schwarzhaarige Mann zeigte auf sein Gespann. ,,Wohin soll ich mit den Ponys hin? Die sollen hierbleiben. Ein kleines Geschenk von unserem verehrten König aus den Blauen Bergen.“

Balin war so perplex von dieser Geste, dass er zuerst gar nicht wusste, was er antworten sollte. ,,Ach, du meine Güte… Wir sind gar nicht auf sowas vorbereitet. Lasst mich kurz überlegen.“

Der andere Kutscher zog seinen Schal runter und zum Vorschein kam eine Zwergin. ,,Und was ist mit uns?“

,,Mit Euch?“

Sie lächelte. ,,Wir möchten gerne hier in Erebor bleiben, wenn das möglich ist.“ In diesem Moment kam ein kleiner Junge angerannt, welchen sie hoch hob und sich auf die Hüfte setzte.

Ihr Mann an ihrer Seite legte den Arm um ihre Taille und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. ,,Mit unserer Familie natürlich.“

Angesichts der ersten Siedler war Balin vor Freude aus dem Häuschen. ,,Euer Name, Herr?“

,,Vundur, Sohn von Undur. Mein Vater war Stallmeister in Erebor gewesen. Ich kenne mich mit Ponys aus. Könnte sie versorgen.“

,,Ihr seid der kleine Vundur? Ja, das ist doch nicht zu fassen! Ich kannte Euren Vater. Ja, natürlich dürft Ihr bleiben, Verehrteste. Bringt sie und die anderen Tiere zu den Stallungen. Ich übergebe Euch offiziell das Kommando dafür.“

Strahlend umfasste Vundurs Frau seinen Arm und sah bei der neuen Stellung, die ihrem Mann sogleich angeboten wurde, überglücklich zu ihm auf.

,,Zu Euren Diensten.“ Mit einer weiteren Verbeugung bedankte sich Vundur und ging zusammen mit seiner Familie zurück zum Wagen.

Seufzend blickte Balin ihnen nach, dann auf die Listen in seinen Händen und zurück durch die Hallen, wo leere Fuhrwerke nun hin und her rangiert, Ochsen an Stricken daran gebunden wurden, Nahrungsmittel umgeladen und angekommene Zwerge die eindrucksvollen Eingangshallen bestaunten, ungläubig, dass sie sich wieder hier befanden. Dass Erebor, ihre alte und neue Heimat wieder frei war.

,,Ich wünschte, Thorin wäre hier und sehe dies. Das hatte es sich immer gewünscht.“

,,Er wird es sehen“, versprach Dwalin, um der allgegenwärtigen Sorge in dieser Stunde der Hoffnung keine Stärke zu geben.

Dori und Gloin, die aus der Osthalle zu den mittlerweile vollständig versammelten Gefährten stießen, wischten sich den Schweiß von der Stirn und berichteten, dass das Lagern der Vorräte dort unten alles zwar laut und wirr zuging, doch reibungslos verlief. ,,Haben wir überhaupt so viel Platz für das alles?“, fragte Nori und sah mit den anderen zu, wie der nächste Wagen Erebor erreichte.

,,Wir werden Verdorbenes vernichten“, antwortete ihm Dwalin. ,,Ich werde die Aufgabe an die Soldaten weitergeben. Die sind das Rumsitzen satt. Sie können sich nützlich machen.“

,,Durin“, stieß sein Bruder aus und berührte nachdenklich die alten Narben auf seiner Stirn, ,,jetzt fängt die Arbeit erst richtig an.“

Sich einen Weg durch die vielen Leute und Tiere bahnend, schlüpfte ein kleines, braunhaariges Mädchen durch zwei Fuhrwerke hindurch. Als sie schließlich die Gefährten entdeckte, riss sie den Mund auf. Die Augen funkelten. ,,PAPA!!“

Aus Reflex drehten sich gleich alle um und sahen das Kind, was auf sie zu gerannt kam. Bofur war es, der ihr entgegen rannte und seine Tochter in die Arme schloss, die bereits lauthals schluchzte.

,,Vater!!“ Ihrer Schwester folgten zwei ältere, die sich wie Zwillinge ähnelten, und Bofur wurde ein zweites Mal an diesem Tag zu Boden geworfen.

,,Da sind sie! Wir haben sie gefunden!“ Rufe wurden aus den Mengen lauter. Kurz darauf erschienen weitere, zahlreiche Personen, die die Gefährten fassungslos machten und ihre sonst so harten Schalen brachen.

Frauen und Kinder liefen auf ihre Männer, Väter und Großväter zu, die sie nach all den Monaten der Ungewissheit endlich wieder in die Arme schließen konnten. Diese hatten nicht damit gerechnet, sie so schnell, sie überhaupt wiederzusehen.

Balins Frau Wilar schmiegte den Kopf an seinen, hinter ihr begrüßten ihre zwei erwachsenen Söhne mit deren Familien ihren Onkel Dwalin.

,,Du lebst…Du lebst…“ Immer wieder strich Gloins Frau diesem übers Gesicht. Ihr Junge Gimbli lag über der Schulter seines Vaters, die Arme fest um seinen Hals geschlossen.

Auch Bifurs fünf, teils erwachsenen Kinder waren mitgekommen, die Kleinste hielt sich daumennuckelnd an der Hose ihres Vaters fest. Minar presste weinend die Stirn gegen die seine und hielt erstaunt inne. Sie fasste ihm in die schwarzgrauen Haare und besah ungläubig seine Stirn. ,,Tha baruk?“

,,Weg“, antwortete Bifur bloß mit einem Grinsen, sodass sie ihm vor Erleichterung ein zweites Mal um den Hals fiel.

,,Wie schön euch wiederzusehen! Seid ihr wohlauf?“ Gundir wurde auch von ihren Schwägern Nori und Ori herzlich begrüßt. Alle ließen sich von der Erleichterung und den Glücksgefühlen tragen. Es tat unbeschreiblich gut für die Männer, die Liebsten wieder um sich zu haben.

Die Zeit der Sehnsucht und des Bangens hatte nun ein Ende.

Von seinen Mädchen umschlossen hockte Bofur am Boden der Halle und vergoss ebenfalls ein paar Tränen. Er nahm das schöne Gesicht seiner blonden Frau Suurin in die Hände, als müsste er sich vergewissern, dass sie es auch war. ,,Bei den Göttern, was tut ihr denn hier?“

,,Wir haben’s nicht mehr ausgehalten und sind sofort aufgebrochen, als wir hörten, dass der Krieg vorbei sei“, erzählte sie schluchzend. ,,Ninak. Sie hat uns alle durch den Sturm geführt. Ihr verdanken wir es, dass wir alle heil angekommen sind.“ Sie hob den Blick zu Dwalin empor, der unweit einsam stand, und sah dann verwirrt hinter sich. ,,Nanu? Eben war sie doch noch da.“

Sofort folgte Dwalin ihrem Blick und eilte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. War sie hier? War sie wirklich hier? In ihm explodierte irgendetwas von ungeahnten Ausmaßen.

Und dann stand sie auf einmal vor ihm.

Als könnte sie es nicht wahrhaben, ihn lebend vorzufinden, starrte Ninak ihren Mann aus riesigen Augen an. Wie wunderschön sie doch war. Wie von selbst breiteten sich seine Arme aus. Ninak warf ihren Rucksack von den Schultern und rannte auf ihn zu. Kurz vor ihm blieb sie jedoch stehen, holte aus und gab ihrem Mann eine schallende Ohrfeige.

,,Seid ihr jetzt völlig wahnsinnig geworden, einen Krieg anzuzetteln?! Weißt du eigentlich, was für Ängste ich ausgestanden habe?! Das war das letzte Mal, dass du mich alleine gelassen hast! Tu das nie wieder!“ Damit packte sie seinen Hemdkragen und presste ihren Mund auf seinen.

Dwalin erwiderte den Kuss, fuhr mit den Händen ihre Kurven nach, ehe er die Hand in ihre rote Lockenmähne grub und ihren Kopf zurück zog, sodass sie ihn schauen musste.

,,Du verrücktes Weib, im tiefsten Winter bei einem Schneesturm loszumarschieren! Was habt ihr euch dabei gedacht? Du… Ninak…“ Sanft strich er ihr die Tränen fort und verlor sich in dem Blau ihrer Augen und ihrem Lächeln. Langsam sank seine Stirn gegen ihre.

,,Ich liebe dich, Dwalin“, schluchzte Ninak leise. Weitere Tränen kullerten ihr über die Wangen. Er konnte nicht antworten, sondern küsste seine Kriegerin. Leidenschaftlich eroberte er ihre Lippen zurück, sodass sie unweigerlich die Blicke der Soldaten auf sich zogen, die anfingen zu pfeifen und zu applaudieren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4

 

 

Die Gelegenheit nutzend nahm Kili Orcrist auf. Er wog das große Schwert in seinen Händen, die sich perfekt um den Horngriff schmiegten. Dann trat er vom Mobiliar zurück und drehte das Handgelenk gekonnt zur Probe, woraufhin der elbische Stahl einen Kreis in der Luft beschrieb. Die Balance der Waffe war ganz anders, als bei den üblichen Schwertern, die sie benutzten, weshalb er es langsam anging, ehe er sicherer werden konnte. Immer schneller und wendiger ging die Schneide an seinem Körper vorbei, zog enge Kurven vor und neben ihm. Zum Abschluss stieß er schließlich einem imaginären Gegner die Spitze des geschwungenen Blattes in den Leib.

,,Nicht schlecht“, murmelte er zufrieden. Kili hielt die Klinge beidhändig hoch und schaute sich den fast schon künstlerisch gefertigten Stahl genauer an.

,,Tu dir nicht weh“, erklang der spöttische Kommentar von seinem Bruder.

,,Ha-ha“, gab Kili humorlos zurück. Andächtig tat er Orcrist an den Platz zurück, wo man das große Schwert abgelegt hatte, und verzichtete auf einen Konter. Gegen die Kommode gelehnt verschränkte er die Arme vor der Brust. ,,Weißt du noch, unser erstes Training mit Thorin?“ Er sah zur Couch, auf der sein Bruder im Schneidersitz hockte und schon seit Minuten irgendetwas auf Papier kritzelte, nur um es dann wieder durchzustreichen.

,,Hm“, machte dieser nur.

,,Mit Stöckern haben wir angefangen, dann mit Schwertern aus Holz. Erst das Ausweichen, dann Verteidigung, nach einer Ewigkeit den Angriff. Uns konnte es nicht schnell genug gehen, bis wir richtig Stahl in den Händen halten durften.“

,,So lernt man es eben“, antwortete Fili in seine Aufgabe vertieft.

Im Sessel neben ihm saß Bilbo, der in der Bibliothek ein Buch in der Gemeinen Zunge gefunden hatte. Es erzählte die Geschichte Durins und die der Khazâd-felaks, den Halbgöttern. Er hatte schon so viel von den Zwergen aufgeschnappt, dass er nun mehr darüber wissen wollte. Und das Buch kam ihm gerade richtig sich die Zeit zu vertreiben.

Wie stolz sie auf ihre Legende sind…, dachte er fasziniert und blätterte eine Seite weiter. Inzwischen wusste er, dass es noch weitere Legenden rund um die Götter und Durin gab, die Legenden aus alter Zeit, wie sie auch genannt wurden.

Nachdem Bilbo gehört hatte, dass die Versorgungstrecks angekommen waren, war er hinab in die Eingangshallen gelaufen, um sich das Spektakel nicht entgegen zulassen. Von den Emporen aus hatte er das rege Treiben aus sicherer Entfernung verfolgt. Unzählbare Wagen hatte man in die Nordhalle geschoben und provisorische Lager daraus gemacht, wo die angekommenen Zwerge aus Nogrod, den Blauen Bergen und den Eisenbergen die erste Nacht lagern konnten. Feuerkörbe brannten vielerorts, um der Kälte entgegenzuwirken, die durch das offene Tor hereinwehte. In den nächsten Wochen würde man versuchen, es wieder aufzubauen, so hatte Balin ihm erzählt.

Männer hatten Ölfässer nach draußen geschleppt, sodass er vermutet hatte, dass draußen die letzten Vorbereitungen für den Abend getroffen wurden. Mit diesen Neuigkeiten war er zurück gekehrt, nicht ohne sich zwei oder drei Mal zu verlaufen, und hatte den Jungs berichtet. Diese waren in den Königsräumen geblieben, um ihren Onkel nicht allein zu lassen.

Das war nun schon ein paar Stunden her und der Tag neigte sich allmählich seinem Ende. Sein Bauchgrummeln verriet ihm, dass es bald Abendessen geben würde.

,,Ich hoffe, dass es jetzt nicht mehr altes Widderfleisch gibt“, sagte er, um ein Gespräch am Leben zu halten.

,,Ich auch!“, stimmte ihm Kili zu. ,,Aber Tante Wilars legendären Widderbraten würde ich trotzdem nicht verschmähen. Sie kann auch das zäheste Fleisch so saftig braten, dass es zerfällt.“

,,Man, Kili, hör auf! Ich kriege allein vom Zuhören Hunger.“

Kili schmunzelte und wurde nun auf die Krone aufmerksam, die auf einer Art Kissen gebettet auf dem Schreibtisch lag. Das Edelmetall mit dem schwarzen Onyx schlug ihn förmlich in seinen Bann.

Als keine Reaktion kam, fiel Filis Blick auf seinen verstummten Bruder, der die Krone ihres Landes in den Händen hielt. ,,Leg sie wieder zurück!“

,,Ich schaue sie mir doch nur an“, wimmelte er ihn ab und betrachtete die Krone, die Thorin gefertigt hatte, wie einen Schatz. ,,Komm mal her und setz sie auf.“

,,Wenn Thorin wach wäre, würde er uns das Fell über die Ohren ziehen!“

,,Angsthase, Pfeffer…“

Fili rollte mit den Augen. ,,Lass den Schwachsinn! Weißt du denn nicht, dass keiner außer der König die Krone tragen darf? Lass sie dort, wo sie ist. Hilf mir lieber mal. Ich bekomme hier einfach nichts zustande.“ Er raufte sich die Haare und formte das Papier zu einem Ball, welchen er geradewegs ins Kaminfeuer warf.

Brav legte Kili die Krone zurück und ging zu seinem Bruder hinüber. ,,Was machst du überhaupt da die ganze Zeit?“

,,Nachher ist doch die Verbrennung. Ich soll etwas sagen, hat Balin gemeint, an der Stelle unseres Onkels, weil ich doch Thronfolger bin. Aber ich weiß einfach nicht, was das Richtige ist. Was ist, wenn ich das Falsche sage? Oder wenn ich plötzlich alles vergesse und vor mich hin stottere?“ Er wollte sich übers Gesicht fahren, doch streifte ungünstig seine Nase, was ihn zusammenzucken ließ. ,,Ah! Verdammt. Wie sehe ich überhaupt

aus?“

Kili zog die Schultern hoch. ,,Wie ein Preisboxer?“

Entmutigt sank Fili gegen die Lehne. ,,Na toll.“

,,Hey“, Kili setzte sich neben ihm, ,,das war doch nur ein Scherz. Lass nochmal sehen. Naja, die Schwellung ist doch weg und die Verfärbung auch fast. Dafür, dass dein Gesicht Gulasch war, hat dich Oin wieder ganz ansehnlich hinbekommen. Gib mal her.“ Er nahm ihm Feder und Papier aus den Händen und tunkte erstere erneut in die Tinte auf dem Tisch. ,,Fangen wir mit dem Anfang an.“ Nach kurzem Grübeln schrieb Kili auf: ,,Hallo, erstmal. Schön, dass ihr alle da seid…“

Aufstöhnend vergrub Fili das Gesicht in den Händen. ,,Das wird ein Desaster!“ Sein Bruder hob zu seiner Verteidigung die Hände.

,,Ich wollte dir ja nur helfen.“

Fili wollte gerade antworten, dass er keine große Hilfe war, da klopfte es an der Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten öffnete sie sich und eine Zwergin mit roter Lockenpracht trat ein.

Vor Unglauben über ihren Gast entglitten den Brüdern die Gesichtszüge. Kili war der Erste, der aufsprang und die Frau an sich drückte.

,,Euch geht es gut…“ Die Fremde strich ihm über die Haare und erwiderte die Umarmung.

Bilbo beobachtete verwundert ihre innige Begrüßung und erkannte plötzlich die Zwergin von dem Bild wieder, das Dwalin bei sich getragen hatte.

,,Was um alles in der Welt machst du denn hier?“ Kili löste sich von ihr, um sie anzusehen.

,,Die anderen und ich haben uns auf dem Weg gemacht, als die Kunde bei uns ankam.“

,,Die Anderen? Wer ist denn noch alles hier?“

,,Wilar mit Banulf und Fanulf, die sogar ihre Familien mitgenommen haben, Suurin und die Kinder, Minar und ihre… ach, Fili, jetzt komm schon her, umarm deine Tante, ehe ich den Überblick über den Haufen verliere!“ Freudestrahlend kam er zu ihr und wurde in ihre Arme geschlossen. ,,Lasst euch ansehen. Gut schaut ihr aus. Was ist mit deinem Gesicht passiert, Fili? Und mit deiner Hand?“

Er schob den Ärmel über den Verband, um seine Tante nicht weiter zu beunruhigen. ,,Hatte eine Begegnung mit einem gewissen Ork. Ist schon wieder besser.“

Ninak wusste sofort, von welchem Ork die Rede war. ,,Oh, Fili, du kannst heilfroh sein, dass es nur dabei geblieben ist! Junge, was macht ihr denn hier für Sachen? Kaum lässt man euch mal alleine losziehen…“ Noch einmal drückte sie beide an sich und seufzte tief, als würde eine große Last von ihr abfallen.

,,Ich hatte Angst, euch nie wiederzusehen...“ Erst jetzt fiel ihr Blick auf Bilbo, der sich von seinem Platz erhoben hatte, und wies mit dem Kinn auf ihn. ,,Und wer bist du?“

,,Bilbo Beutling, Mistress.“ Er schluckte, als sie ihre Augenbraue hoch zog und ihn aus blauen Augen von Kopf bis Fuß musterte. Was hatte Dwalin über sie gesagt, als er ihm beim Essen ein Bild von ihr gezeigt hatte? Meine Kriegerin.

Bilbo musste ihm recht geben. Ninak war eine hochgewachsene Zwergin, die sich nicht zu fein war, in Hemd und Hosen herumzulaufen. An den Unterarmen trug sie Armschützer aus Leder und um ihre Hüfte einen Waffengurt, an dem mehrere Messer und Dolche hingen. Sie war nicht schlank, jedoch so kräftig, dass sie nicht an Wendigkeit einbüßte. Er erwischte sich selbst dabei, wie er im nächsten Moment auf ihren kurzen Kinnbart starrte, der dieselbe Farbe wie ihre Haare besaß. Beschämt sah er ihr schnell zurück in die Augen.

,,Ich weiß, wer du bist“, sagte die Kriegerin gerade heraus und verschränkte die Arme unter der Brust. ,,Du bist also der Meisterdieb. Hab dich mir ganz anders vorgestellt.“

Bilbo schluckte. War das jetzt gut oder schlecht?

Als hätte sie seine Unsicherheit in seinem Gesicht gelesen, lächelte die Rothaarige, was ihr zu ihrem Selbstbewusstsein auch noch einen frechen Charm verlieh und die Musterung für Bilbo beendete – vorerst.

,,Meine Gruppe und eure Gefährten, wir hatten uns soeben alle im Speisesaal eingefunden“, wandte sie sich wieder an die Jungs. ,,Uns wurde berichtet, was alles passiert ist. Die Kurzform versteht sich.“ Sie sah an ihnen vorbei und entdeckte das Bett.

Und das Blau in ihren Augen begann zu schimmern. ,,Auch davon…“ Geschockt von Thorins Anblick trat sie an das Bett heran. Einen Augenblick lang sah sie einfach auf ihn herab, sichtlich mitgenommen von seiner Verfassung. Vorsichtig setzte sie sich schließlich zu ihm auf die Matratze und legte ihre Hand auf Thorins, als wollte sie ihn wissen lassen, dass sie nun da war.

,,Es sind jetzt schon zwei Wochen“, sagte Fili, der hinter sie getreten war. ,,Er wacht einfach nicht auf.“

,,Das wird er“, antwortete seine Tante, ,,und das muss er.“ Ninak versuchte zu lächeln. ,,Ich muss ihm doch noch sagen, was für ein verdammter Sturkopf er ist.“

Alle blickten auf Thorin, der bleich und reglos in den Laken lag, auf seine geschlossenen Wimpern, die sich nicht bewegten.

Fili sah zu der Frau, die sie großgezogen hatte, unendlich froh, sie nun hier in Erebor zu wissen, und spürte die Liebe einer zweiten Mutter, die er für sie empfand. ,,Jemand hat mir prophezeit, dass Kili und ich dich wiedersehen werden.“

,,Ach ja?“

Er nickte, doch ehe er sich seiner Worte klar wurde oder sie erklären konnte, steckte Dori den Kopf durch die offene Tür. ,,Fili, es ist soweit.“

,,Ich komme gleich.“ Dori nickte ebenfalls und verschwand den Flur hoch. Als seine Schritte sich entfernten, fuhr Fili sich durch die Haare. ,,Mist...“

,,Stimmt etwas nicht?“, fragte Ninak.

,,Ich soll für die Verbrennung, die gleich stattfindet, etwas sagen und habe mir immer noch nichts aufgeschrieben.“

,,Verstehe.“ Sie fasste ihm an den Arm, damit er sich zu ihr setzen sollte, ,,aber es ist egal, was man sagt“, und tippte ihm auf die Brust. ,,Hauptsache es kommt von dort. Sag das, was in deinem Herzen wahr ist und dort seinen Ursprung hat. Das ist allemal besser als eine stumpf abgelesene Rede. Die Person, die sagte, dass wir uns wiedersehen werden… Ich weiß nicht, wer es ist, doch ich bin mir sicher, dass sie einen starken Glauben hat. Ein gutes Herz. Worüber würde sie sprechen?“

,,Von Hoffnung. Erinnerungen. Mut.“ Er musste schmunzeln. ,,Schon komisch. Das, was du mir geraten hast, passt so ziemlich auch auf sie zu.“

Ninak lächelte zufrieden. ,,Na bitte. Und nun geh schon. Ihr beiden auch. Ich werde gleich nachkommen.“

,,Na, komm, großer Bruder.“ Kili schlang ihm den Arm um den Hals und zog ihn mit sich. ,,So, wie ich dich kenne, machst du das doch eh mit Links.“

Als sie und der Hobbit das Gemach verließen, blieb Ninak an Thorins Seite sitzen und dachte an den Tag zurück, an dem sie Abschied voneinander genommen hatten.

Es schien Jahre her zu sein.

,,Du hast es also wirklich geschafft.“ Traurig schaute sie auf ihren Freund, verfolgte seine Atemzüge unter den Decken.

Eigentlich hatte sie allein nach Erebor gehen gewollt. Doch aus ihrem Plan, klammheimlich aufzubrechen, wurde nichts. Jemand musste sich verplappert haben, denn auf einmal standen sie alle bei ihr vor der Tür und baten sie, sie mitzunehmen.

Nach der Kunde, dass der Drache tot und der Krieg vorbei wäre, hielten es die zurückgelassenen Ehefrauen nicht mehr in den Blauen Bergen aus. Ninak war ein großes Wagnis eingegangen und hatte tagelang das Kommando über mehrere Leute gehabt, die sie zu ihrer Führerin auserkoren hatten.

Wegen den Kindern und der Kälte waren sie nur langsam voran gekommen. Ein Glück, dass die ältesten Söhne allesamt kräftig waren, um der Gruppe Schutz zu boten.

Auf dem beschwerlichen Weg hierher hatte sie sich immer wieder gefragt, ob es sinnlos war, ob sie gar zu spät kamen. Die Angst, dass ihr Mann unter den Gefallenen war, hatte jede Frau mit sich getragen, nicht nur sie. Mit jedem Schritt gegen den brausenden Wintersturm hatte Ninak gegen die Angst gekämpft, ihren Mann nie wiederzusehen.

Jetzt endlich hatten sie und die anderen Familien Gewissheit, dass es allen gut ging. Sie hatte Dwalin zurück, ihr Herz und ihre Seele. Nun war ihr letzter Wunsch, dass Thorin aufwachen würde und den Ruhm erlebte, der ihm zu Teil wurde. So sollte kein Held aussehen. Er sollte endlich der König sein können, der er schon immer sein sollte.

Ninak beugte sich über den regungslosen Mann und strich ihm sanft über die Stirn. ,,Du bist ein Idiot, hörst du? Machst mir nichts als Kummer...“ Sie blinzelte gegen die Tränen an, die sich heimlich zurückgeschlichen hatten. ,,Wach auf“, flüsterte sie nah an seinem Ohr, in der Hoffnung, dass er es irgendwie hören würde. ,,Deine Jungs brauchen dich, Thorin. Wir brauchen dich. Komm zurück und sei unser König.“ Sie küsste ihn auf die Wange und wischte ihre Tränen fort, als sie den Raum verließ.

 

~

 

,,Sie starben, um das Land, dem sie durch ein altes Gelübde in Krieg und Zeiten des Friedens Treue geschworen haben, zu verteidigen.“ Das dunkle Wolfsfell peitschte im Flug der Flocken ab seinem Hals. Man hatte ihm symbolisch Thorins Mantel umgelegte, um das Königshaus zu repräsentieren.

Wie sein Schatten stand Kili an seiner Seite und schaute, von Fackeln umgeben mit seinem Bruder von den Resten des Wehrgangs auf die unter ihnen versammelten Zwerge, die dem Kronprinzen in der aufgezogenen, abendlichen Dunkelheit lauschten. Alle hatten sich am Tor eingefunden, egal ob verletzt oder bei Kräften, aus Nogrod, Eredinbar oder Eredthril, egal ob Frauen, Soldaten oder Wagenführer.

,,Sie haben für uns ihr Leben gegeben. Stolz, weil sie an das Gute geglaubt haben.“ Vereinzelt hörte man leise Schluchzer aus den Mengen, während Fili mit klarer Stimme zu ihnen sprach. ,,Unser Onkel rief euch, weil er eurem König vertraute, der euch selbstlos in die Schlacht führte.“ Er holte neuen Atem und erhob intuitiv seine Stimme: ,,Ich sah eine Armee, die Durin selbst schickte!“ Applaus schallte zu ihnen empor, Soldaten erhoben brüllend die Fäuste, in Gedenken an ihre gefallenen Kameraden.

,,Ihr seid Soldaten! Mein Vater war einer von euch! Wir sind Eins, wir sind Brüder, egal aus welchem Reich wir stammen!“ Zustimmend applaudierte man dem jungen Prinzen.

Auf der anderen Hälfte des zerstörten Tores standen die Gefährten mit ihren Frauen und die Zauberer beisammen, um Fili zuzuhören. Seine Frau in seinem Arm eingehakt sah Balin zu den Jungs, die ihre Pflicht als Prinzen dieses Landes das erste Mal offiziell nachkamen. Fili erinnerte ihn sehr an Thorin, als dieser das Wort an die Menschen in Seestadt gerichtet hatte. Balin seufzte, spürte ein Gefühl von tiefem Stolz und bedauerte, dass Dis und Karif dies nicht sehen konnten.

Fili hob die Hand, um sich wieder Gehör zu verschaffen. ,,An dem Tag, an dem so viel Unheil und Grauen über dieses Tal hereinbrach, da waren wir nicht getrennt, sondern vereint. Doch nicht nur wir. Zwerge, Menschen und sogar Elben kämpften für eine gemeinsame Sache: für den Frieden. Ich hörte von Frauen, von Alten, die in Dale nach den Waffen gegriffen haben, als die Not am größten war. Ich hörte von Elben, die ihre Fehde mit uns außeracht ließen, um uns beizustehen, als das Böse versucht hat, in unserer Welt Fuß zu fassen. Ich hörte von Wundern, von Männern, die voller Tapferkeit gestorben sind.“ Er horchte dem aufgeregten Klopfen seines Herzens. ,,Je stärker wir in Zukunft zusammenstehen, desto unwahrscheinlicher ist ein erneuter Krieg. Hiermit verspreche ich, dass wir alles daran setzen werden, dass es niemals wieder zu einem solchen Blutvergießen auf diesem Land kommen wird!“ Kaum ausgesprochen waren die Hallen erfüllt mit freudigem Jubel. Er hatte Mühe, die Mengen wieder zur Ruhe zu bringen.

,,Der Krieg ist nun vorbei. Trauert um unsere Gefallenen. Ehrt sie für ihren Heldenmut. Mögen sie an Durins Seite ihren Frieden gefunden haben. Wir fanden unseren. Doch zum wahren Frieden fehlt nur noch eines… Dale hat den Angriff des Bösen überstanden. Nach der Herrschaft des Drachen und der Belagerung hat Erebor eine neue Chance bekommen, seine Zukunft zu schaffen.“ Er drehte sich halb um und streckte den Finger hinaus in die Nacht. ,,Lasst dies eine Mahnung an das Böse sein! Schicken wir eine Botschaft in die Welt! Wir haben überlebt! Und wir lassen uns unsere Heimat kein zweites Mal nehmen!!“

Tosender Applaus brach aus. Man pfiff, man jubelte über ihren Sieg, man feierte den jungen Prinzen und seine Worte.

Fili atmete tief durch und genoss die Euphorie und Freude seines Volkes. Er spürte die Hand seines Bruders auf seiner Schulter und die beiden sahen sich lächelnd an.

Währenddessen strömten die Zwerge aus dem Berg und versammelten sich vor dem Tore. Auch die Prinzen und die Gefährten drehten sich hinaus in die Winternacht. Flocken wehten durch die Dunkelheit, der Wind spielte mit ihren Haaren, als sie die Schemen der Soldaten sahen, die mit Fackeln an den Scheiterhaufen bereitstanden. Überall im Tal waren sie verteilt, um dieses mit dutzenden Siegesfeuern zu schmücken: Scheiterhaufen aus Fleisch. Die toten Körper hunderter Orks.

In dem Leichenhaufen, der sich in nächster Nähe befand, war ein Spieß gesteckt worden. Der bleiche Kopf ihres grausamen Anführers darauf gepfählt. Geschändet von seinen Opfern.

Balin erschien bei ihnen. ,,Gut gesprochen, mein Junge. Nun ist es soweit. Sie warten auf deinen Befehl.“

,,Oh.“ Er schluckte. ,,Was muss ich tun?“

,,Lass mich nur machen, Bruder.“ Schmunzelnd ließ er Kili den Vortritt. Dieser führte zwei Finger zum Mund, holte Luft und pfiff, sodass es schallte. Der hohe Ton breitete sich im ganzen Tal aus bis er an den Berghängen in dutzenden Echos zersprang.

,,Wahrlich, auch du bist Karifs Sohn“, murmelte Balin und rieb sich das Ohr. Kilis Methode zeigte Wirkung. Vom Schall des Echos wurden überall im Tal und am Rabenberg die mit Öl getränkten Leichenberge angezündet. Die ersten großen Flammen schossen hinauf, glitten wie Rachegeister über die Körper.

Einen Moment später erreichten sie Azogs entstellten Schädel. Alle sahen zu, wie die Flammen ihn und seine Armee verschlangen.

 

~

 

Vor seinen Augen tauchten drei hölzerne Plattformen in der kargen Landschaft Khazad-dûms auf. Arme waren von hinten auf seine noch zarten Schultern gelegt, hielten ihn fest. Bis auf Schluchzer und Klagelaute aus den Reihen hinter ihnen war die Dunkelheit still. Fili schaute zu seinem Bruder, der auf dem Arm von Dwalin lag, den Kopf auf seine breite Schulter gelegt. Sanft drehte dieser sich hin und her, vielleicht um ihn in den Schlaf zu wiegen. Es war spät in der Nacht und der Boden voller Matsch.

Er konnte sich erinnern.

Wie aus dem Nichts erschien sein Onkel Thorin und schritt zur mittleren, größten Plattform. In der Hand eine brennende Fackel. Ihr Schein lag schwer auf seinem bleichen, vor Erschöpfung gezeichneten Gesicht. Einen langen Moment hielt er andächtig inne, ehe er sie unter die Hölzer warf. Rasch fingen sie Feuer. Einen Herzschlag später die Gräser und trockenen Zweige und schon loderten die Flammen gleißend hell um den, in weißen Leinen gewickelten Körper ihres toten Königs.

Mit glasigen Augen verfolgte Fili wie auch unter die beiden Holzgerüste daneben Fackeln geworfen wurden und die Flammen seine Eltern erreichten. Die Tücher fingen Feuer, die dicht hochschlagenden Flammen hüllten sie ein. Ein letztes Mal sah er die von Leinen verhüllten Körper, bevor auch sie von den Flammen verschluckt worden. Auf Vaters Leib hatte man sein Schild gelegt, sein Schwert in beiden Händen darunter.

Fili merkte, dass er die Luft anhielt. Etwas in ihm drängte ihn danach, zu ihnen zu laufen. Er wollte sie wecken, um sie vor dem Feuer zu beschützen. Er wollte ihre Stimmen hören, die Hand seines Vaters spüren, wenn er sein Haar zerzauste. Sie sollten ihm sagen, dass alles gut werden würde!

Fili verstand nicht, warum sie tot waren. Sie durften das einfach nicht sein. Es waren doch schließlich seine Eltern.

Das Holz knackte und knisterte immer lauter. Es fühlte sich falsch an, seine Eltern zu verbrennen. Er wollte das alles nicht.

Glühende Hitze schlug ihm ins Gesicht, zuerst noch weich, doch nur Sekunden später wurde es heiß. Die Flammen wirbelten und wanden sich, scheuchten sich gegenseitig die Plattformen hinauf. Die Scheiterhaufen brüllten in der dunklen Nacht wie Tiere.

Fili fürchtete sich. Ihm entfuhr ein Schluchzen. Die Arme legten sich enger um ihn. Er konnte nicht wegsehen, so sehr er es auch wollte. Fili weinte und musste mitansehen, wie glühende Aschefunken von seinen Eltern und seinem Urgroßvater empor getragen wurden und zwischen den Sternen verschwanden…

,,MUTTER!“ Die Augen weit aufgerissen fuhr Fili aus dem Schlaf hoch und sah, wo er sich befand. Fahrig fuhr er sich durchs verschwitzte Gesicht und Haar. ,,Nur ein Traum.“ Er ließ sich in die Kissen fallen, versuchte sich auf ein ruhiges Atmen zu konzentrieren. ,,Nur ein Traum.“

Nur langsam verschwanden die Schatten seiner Erinnerungen an die Nacht von Moria, wie jene genannt wurde, in der die Gefallenen des Kampfes und die Opfer des Lagerüberfalls den Flammen übergeben worden waren. Der Zeitpunkt, an dem er und sein Bruder zu Waisen wurden.

Sein Blick richtete sich auf die andere Betthälfte. Er war allein. Sein Bruder war nicht da.

Fili schloss die Augen, horchte in die nächtliche Stille, doch eine beruhigende Wirkung blieb aus. Er versuchte erst gar nicht, erneuten Schlaf zu finden, sondern schlug die dicke Decke beiseite und setzte sich auf die Bettkante. Die Kohlen im Ofen, der den Raum heizte, waren erloschen, die bittere Kälte, die draußen im Gebirge herrschte, drang durch die Fensterritzen.

Fili nahm einen Morgenmantel und zog ihn sich über. Barfuß durchquerte er den Wohnraum, der vom restlichen Glühen des Kaminfeuers etwas Licht bekam, sodass er den Weg zum Waschraum fand. Dort füllte er die Waschschüssel mit dem Wasser aus dem danebenstehenden Krug. Unangenehm prickelte seine Kälte auf seinem erhitzten Gesicht. Ein Versuch seinen Kopf wieder frei zu bekommen. Auf dem Waschtisch abgestützt schaute Fili auf und sah in den Spiegel. Sein Spiegelbild, welches gleichzeitig eine Bürde für ihn war, blickte ihm entgegen. War es auch seine Bestimmung?

Die Gedanken daran, die in letzter Zeit immer häufiger an ihm nagten, kamen zurück und drohten, ihm keine Ruhe zu lassen.

Er wandte sich von dem nur allzu bekannten Bild ab. Bei der Garderobe im Wohnraum fand er eine kleine Laterne, entzündete deren Kerze am Kamin und verließ das Gemach. Leise schloss er die Tür hinter sich, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen. Inzwischen bewohnten auch Dwalin, Balin und die Zauberer die übrigen Gemächer auf diesem Flur, um immer nah bei Thorin zu sein, falls er sie bräuchte. Kili und er waren im Gemach ihrer Eltern geblieben. Sie hatten saubergemacht und schmiedeten Pläne für die Zukunft, wer welche Gemächer in den Königsräumen bekam, was sie mit den Sachen ihrer Eltern anstellen sollten…doch diese Pläne kamen nie weit, denn die Sorgen um ihren Onkel waren allgegenwärtig.

Alleine mit dem Schein der Laterne ging Fili nach rechts den langen Flur entlang. Erebor fühlte sich nicht mehr nur wie ein wahrgewordener Traum an. Inzwischen war der Berg ihre Heimat, sein Zuhause geworden.

Vorbei am Speisesaal und dem Zimmer, welches seinem Großvater Thrain einst gehört hatte, kam er schließlich an seinem Ziel an. Ein Gefühl tiefer Bestürzung breitete sich unwohl in seinem Bauch aus, als er die Tür öffnete und leise eintrat. Sein Blick ging zuerst zu seinem Bruder und Fili musste unweigerlich schmunzeln. Schlafend lag Kili quer im, zum Bett gedrehten Sessel, den Mund geöffnet und schnarchte leise vor sich hin. Das Kaminfeuer hatte er ausgehen lassen.

Gute Nachtwache. Fili schloss die Tür und stellte die Laterne auf dem Nachttisch ab. Kerzen standen bereits dort, jedes Licht für ein Stück Hoffnung stehend.

Bedacht seinen Bruder nicht zu wecken, holte er sich den Stuhl heran. Mit einer gewissen Routine befühlte er Thorins Puls, legte ihm den Handrücken auf die Stirn, um seine Temperatur zu fühlen, und horchte auf seinem Atem. Er schlug die Decken weg und befühlte den Verband, ob er sitzt oder Wundflüssigkeit austrat. Damit sein Onkel nicht fror, deckte er ihn gleich wieder zu, wiederholte das Ganze bei seinem Fuß und setzte sich schließlich nicht weniger beruhigt.

Lange Zeit schaute Fili ihm ins blasse Gesicht, betrachtete den Schnitt an seiner Stirn. Seine Wunden verheilten und trotzdem gab es weder Zeichen der Besserung noch des Bewusstseins. Gandalf hatte gesagt, dass Thorin, dort wo er jetzt war, sie wohlmöglich hören könnte. All seine verbliebenen Hoffnungen legte Fili daran und fasste nach der Hand, die neben dem Körper lag.

,,Warum hast du nicht Dwalin zum Hauptmann ernannt? Er wäre viel besser geeignet, als ich“, brach es endlich aus ihm heraus. Unweigerlich traten ihm schon wieder Tränen in die Augen, wofür er sich selbst verfluchte. ,,Ich sehe nur wie mein Vater aus. Ich bin es nicht“, wisperte er. ,,Ich schaffe das nicht alleine.“ Monoton rieb er den Daumen über die Knöchel seines Onkels, flehte, er möge aufwachen und ihm zuhören. Nie hatte er den Mut aufbringen können, dies ihm zu sagen, weil er nicht wusste, wie Thorin reagieren würde.

Wäre er enttäuscht von ihm? Wütend? Viel zu lange trug Fili die Unsicherheit schon mit sich und bereute es, mit ihm nie darüber gesprochen zu haben.

,,Fragen nach dir machen die Runde. Balin hat nicht mit uns darüber gesprochen, aber ich weiß, dass manche einen König fordern. Sie wollen Dain oder mich auf dem Thron sitzen sehen. Aber ich kann das nicht. Nicht ich sollte diese Krone tragen, sondern du. Ich kann kein König sein... Dazu bin ich noch nicht bereit. Alle fordern etwas von mir…und ich weiß nicht, was ich tun soll oder ob ich ihnen gerecht werde. Ich schaffe das nicht ohne dich. Ich brauche deine Hilfe, Onkel, bitte...“

Die schreckliche Vorstellung, er könnte nicht mehr aufwachen, sandte ein Zittern durch seinen Körper, was in seinem Herzen endete. Fili schloss die Augen und sank auf Thorins Leib, presste sich vorsichtig an ihn. ,,Sag mir, was ich tun soll...“

Ein Geräusch erklang hinter ihm. Fili drehte sich um und bemerkte seinen Bruder, der im Sessel saß und zu ihm hinüber schaute. Beschämt wischte er sich über die nassen Augen.

,,Wie lange sitzt du da schon?“

Kili kam zu ihm und setzte sich neben ihm aufs Bett. ,,Lange genug.“

Bedrücktes Schweigen herrschte zwischen den Brüdern, ehe Kili das Wort ergriff. ,,Ich hatte nicht geahnt, dass du so denkst. Wieso hast du nie etwas gesagt?“

,,Weil ich euch nicht enttäuschen wollte. Ständig sagt man mir, dass ich wie Karif aussehe. Man vergleicht mich mit ihm. Aber Karif war… Er war ein Held, verstehst du, ein richtiger Held. Er konnte kämpfen, wie kein Zweiter, wurde von jedem seiner Männer geachtet… Was ist, wenn ich den Erwartungen nicht gerecht werde? Ich will Vater nicht enttäuschen…“

,,Jetzt hör mir mal zu“, er wurde an der Schulter gepackt, nicht feste, aber so, dass er Kili ins Gesicht schauen musste, ,,du hast mein ganzes Leben lang auf mich Acht gegeben und mich vor allerlei Unfug ferngehalten. Du hast ein kleines, fremdes Menschen-Mädchen aus einem brennenden Haus gerettet. Nicht nur einmal hast du auch auf ihre Geschwister Acht gegeben. Was tut ein Hauptmann denn anderes mit seinen Männern? Warum zweifelst du so an dir?“ Kili sah ihm in die großen, grünen Augen, in denen es immer noch flackerte. ,,Du warst der Erste, der offen die Krankheit ausgesprochen hat, hast dich gegen unseren Onkel aufgelehnt, als niemand den Mut hatte, den Mund aufzumachen. Und wie du vorhin zu unserem Volk gesprochen hast: das war königlich gut! Du hast den Leuten Zuversicht gegeben. Du bist mein großer Bruder, verdammt, und der beste Kämpfer, den ich kenne.“

 

Da war es wieder. Dieses Flüstern.

Den Kopf gesengt, die Arme gegen die immerwährende Kälte um die angezogenen Knie gelegt, hockte Thorin am Fuße der toten Eiche, umgeben von Finsternis und Einsamkeit.

Nur langsam hob er den Kopf, als die Stimmen mit einem Mal klarer wurden. Und als er es verstand, riss er überrascht die Augen auf. Da sprach tatsächlich jemand.

,,Alle reden davon, dass er wieder aufwacht, dass wir nur abwarten müssten... Doch was ist, wenn er nicht mehr aufwacht? Was ist, wenn er trotz allem stirbt? Ich hab Angst um ihn, Kili…“

Die Stimme drang gedämpft wie durch dicke Mauern an sein Ohr. Doch er erkannte sie. Bei Durin, das war Fili!

,,Ich doch auch“, antwortete eine zweite Stimme ebenso weit entfernt.

Kili. Meine Jungs… Fassungslos sammelte Thorin seine Kräfte und erhob sich. Schmerzhaft verengte sich seine Kehle, als er ins Nichts hinaus ihre Namen rief. Angestrengt horchte er auf irgendeine Antwort. Nein, sie hörten ihn nicht. Seine Jungs waren da, er musste nur noch zu ihnen.

Er musste sofort hier weg. Nur wie?

Thorin drehte sich im Kreis. Auf einmal sah er einen hellen Punkt in der Ferne. Licht? War da wirklich ein Licht? Er konnte seine Augen nicht davon abwenden, doch konnte ihnen ebenso nicht trauen. Obwohl er nicht wusste, was dies war, rannte er im nächsten Moment instinktiv schon darauf zu.

Es war seine einzige Chance.

Wie zur Bestätigung wandelte sich das Licht. Lange Strahlen strömten ihm entgegen, luden ihn ein, ihnen zu folgen. Es war ein Tor auf die andere Seite, das spürte er. Er musste es schaffen.

Das helle Licht traf ihm direkt ins Gesicht. Thorin wurde schneller, rannte durch das zwielichtige Grau. Die Strahlen schlossen sich um seine Gestalt. Wind kam auf, wehte ihm aus der anderen Welt entgegen. Seine Haare schwebten ihm nach und wurden, wie er, in die Luft gehoben. Er rannte dem Licht entgegen und sah nicht, was mit ihm geschah.

In winzigen Fetzen fiel seine Kleidung von ihm ab. Seine Haut zerbröselte wie Papier. Die winzigen Kettenringe seiner Rüste lösten sich und flogen davon. Als er dies sah, ließ er den Schock nicht zu, sondern zwang sich selbst zum Weiterlaufen.

Nein! Er löste sich auf. Nichts weiter als Staub. Neeeiinnn!!

Die Stimmen waren jetzt ganz nah. Gleich. Nur noch ein Stück… Blind vom weißen Licht streckte er die Hand danach aus. Und ein unaushaltbarer Schmerz traf mit voller Wucht auf seinen Körper ein, drang tief in seinen Bauch und drohte ihn von innen heraus zu zerreißen, als seine Fingerspitzen die Grenze der Welten berührten und er zurück ins Hier und Jetzt gelangte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

5

 

 

Als er mit einem Schrei die Augen aufriss, bekamen Fili und Kili den Schreck ihres Lebens. Sie fuhren zusammen, konnten im ersten Moment nichts weiter tun, als ihren Onkel wie einen Geist anzustarren. Mit aufgerissenen Augen starrte Thorin an die Raumdecke, den Mund immer noch geöffnet, als könne er ihn nicht mehr schließen. Als er fast schon schluchzend zu atmen versuchte, wandelte sich ihr Schrecken in blanke Furcht.

,,Hol Hilfe!“ Fili fasste nach ihrem Onkel. Der ganze Körper war angespannt, die Muskeln unter seinen Händen verkrampft wie Stein. ,,Mach schon!“ Kreidebleich stürmte Kili aus dem Raum, während er behutsam Thorins Kopf fasste und den Körper zu sich zog. ,,Onkel, hörst du mich?“

Es war wie das Auftauchen aus dem Fluss im Düsterwald, als er die kalten Wassermassen durchbrach und seine Lungen sich wieder füllten. Ganz ähnlich fühlte es sich an, als das Licht mit einem Male verschwunden war und er nach Luft japsend die Augen aufgeschlagen hatte. Nach dem Leben greifend.

Mit dem Bewusstsein jedoch kam keine Erlösung, sondern Pein. Sein ganzer Körper bestand aus Schmerz. Es war so schnell über ihn hereingebrochen, dass er dem nichts entgegenzuwirken hatte. Es war Schlimmer als alles, was er bereits erlebt hatte zusammen. Sein Bauch fühlte sich an, als brannte ein glühendes Feuer direkt in seinen Eingeweiden, ließ Flammen an seiner Haut entlang lechzen und ihn zittern. Unter einsetzenden Krämpfen waren seine Muskeln willenlos ausgeliefert. In seinem Brustkorb lastete ein Druck, der ihn nicht atmen ließ. Panik und Schmerz setzten sich in seinem Kopf fest. Er schrie, damit es aufhörte. Weil er nicht anders konnte.

Immer wieder verloren seine Augen den Fokus und nur schemenhaft erkannte er den Raum und die Person, die bei ihm war. Er wollte nach Fili greifen, sich an ihm festhalten und um Hilfe bitten, doch seinem Körper fehlte die Kraft dazu. Es sollte aufhören!

,,Thorin, was ist mit dir?“ Fili packte seine Schultern, doch er benahm sich wie von Sinnen. ,,Onkel, beruhige dich! Alles ist gut, du bist wieder hier!“ Thorin nahm ihn nicht wahr, sondern drückte das Rückgrat durch und versuchte, die Knie anzuziehen, als litt er größte Qualen, jeder mühsame Atemzug begleitet von einem Schmerzenslaut.

,,Thorin, du verletzt dich! Thorin!!“ Fili schrie ihn in, doch selbst das half nicht. Der ausgezehrte Körper besaß auf einmal ungeheure Kräfte. Thorin kniff die Augen zusammen, grub die Hände ins Bettzeug und versuchte zu Atmen. Ihn erst reglos und jetzt so zu sehen und wieder nichts tun zu können ging nicht in seinen Kopf hinein. ,,Thorin, sieh mich an! Sieh mich an!!“ Abermals packte Fili seinen Kopf, drehte sein Gesicht zu sich. Die grauen Augen glichen einem offenen Buch, welche eine eigene Geschichte zu erzählen versuchten. ,,Ich bin es! Komm doch zu dir!“ Fili hielt ihn fest, versuchte alles, um ihn zu beruhigen, strich ihm übers Haar, sagte ihm immer wieder, dass er in Sicherheit, dass die Schlacht vorbei war. Endlich gelangen ihm ganze Atemzüge. ,,Ruhig, atmen. Versuch es weiter.“

Fili war so seinem Onkel zugewandt, dass er nicht mitbekam, dass sein Bruder bereits zurückgekehrt war. Nur in Unterhose stand Dwalin im Raum, hinter ihm Ninak im Unterkleid, die sich erschrocken vor dem sich darbietenden Anblick an ihrem Mann festhielt, im Türrahmen Balin im Nachthemd, wie die anderen direkt aus dem Schlaf gerissen.

Erst als Gandalf sich einen Weg durch die Anwesenden bahnte, bemerkte Fili sie und den Zauberer, der aussah, als war er noch gar nicht zu Bett gegangen. Er musste nichts weiter sagen. Bei allem, was er erlebt hatte, wusste er, dass Gandalf ihm helfen würde und versuchte, den nackten Körper für ihn ruhig zu halten.

Die Augen des Zauberers überflogen seine Gestalt, ehe er die Hand auf Thorins Stirn legte und sanft aber bestimmend seinen Kopf zurück ins Kissen drückte. Wortfetzen drangen aus seinem Mund, als er einen Zauber sprach.

Die Fesseln lösten sich von seinem Brustkorb und der Schmerz ebbte mit jeder weiteren Sekunde ab.

Luft. Er bekam Luft. Endlich.

Doch als seine Lider immer schwerer wurden, senkte sich die Finsternis erneut über ihn. Nein! Nein, er wollte bei ihnen bleiben! Ehe er begriff, fand sich Thorin schon zwischen den Welten wieder. Das Licht entfernte sich – nein, er tat es.

Sein Körper fiel. Immer schneller. Wind rauschte an ihm vorbei. Er sah über seine Schulter dem drohenden Boden entgegen. Doch da war keiner. Da war nichts als Schwärze.

Schreckliche Finsternis tat sich unter ihm auf, bereit ihn erneut zu verschlingen… Und sein Schrei verklang in Dunkelheit.

Die Bewegungen wurden matter. Er stöhnte und als das letzte Wort des Schlafzaubers gesprochen wurde, fielen ihm langsam die Augen zu. Der Körper sackte in Filis Armen zurück in die Decken. Sein Kopf drehte sich zur Seite und Thorin dämmerte dahin.

 

~

 

Stumm vor sich her arbeitend griff Anna den Lappen im Spülwasser und rieb damit über die Schüsseln. Die sauberen stellte sie neben sich auf die Arbeitsplatte, wo Mel schon auf das nächste Holzgeschirr wartete, um es abzutrocknen.

Während des Winters waren im Wohnraum die Wäscheleinen gespannt, um die Sachen Mithilfe des Kaminfeuers trocken zu bekommen. Die Hände über den Kopf gereckt und mit Wäscheklammern und Stoff hantierend, stand Marie hinter den Laken und versuchte ihre Körpergröße zu ignorieren. Manchmal da schaffte sie es auch.

Die letzten Wochen hatte sie im Trancezustand hinter sich gebracht. Wie, dass wusste sie selbst nicht. Sie hatte ihr Leben wieder in den Griff bekommen wollen, hatte es zu glauben gewagt, dies auch irgendwann schaffen zu können. Schließlich hatte sie es schon einmal geschafft.

Die Phase des Trauerns war jedoch noch nicht abgeschlossen. Marie hatte es versucht, doch sie war noch nicht bereit wieder ins Leben zurückzukehren. Und sie wusste auch nicht, ob sie es je wieder könnte. Sie folgte ihrem Körper, der einen Selbsterhaltungstrieb aufrecht hielt. Sie schottete sich von der Realität ab – von allem. Weil sie sie nicht länger ertragen konnte. Der Schmerz des Vermissens war einfach noch zu groß.

Mels freudiger Ausruf ließ Marie sich von immer wiederkehrenden Gedanken lösen. Sie sah an der Wäsche vorbei und zu Greg, der gerade den Schnee, der an seinen Stiefel haftete, am Türrahmen abklopfte und Mel auf den Arm nahm. Oft nannte er sie liebevoll ,,seine Prinzessin“. Bereits jetzt war er schon wie ein Vater für sie, den sie nie hatte.

,,Hilft du auch schön deiner Mutter?“ Er beugte sich an dieser vorbei und drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange. In der Zwischenzeit waren die beiden unzertrennlich geworden, turtelten ständig herum, wie zwei frisch Verliebte.

,,Ich hab dir Eintopf übergelassen.“ Anna wischte sich die Hände an ihrer Schürze trocken und verschwand in der Vorratskammer, während Greg seine Ziehtochter absetzte, sich Besteck aus der Schublade nahm und am Esstisch platznahm. Schon stellte Anna die Schüssel vor ihm ab.

,,Gibt es Neuigkeiten?“

Sie sah ihn für einen Moment an und schüttelte bloß den Kopf, ehe sie sich daran machte, die letzten Teile abzuwaschen. Marie sah den Blick, den Greg ihr zuwarf und trat hinter die Wäsche, wo sie vor seinen mitleidsvollen Blicken versteckt war. Es gab keine Neuigkeiten. Keine Briefe. Kein Lebenszeichen.

Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, vergessen zu sein. Dachte man an sie? Waren alle Gefährten tot? Was war in Erebor, dass sie keine Briefe schrieben? Machte man es aus Absicht? Doch warum? Verheimlichte man ihr etwas?

,,Greg, gehst du mit mir Schlitten fahren?“

,,Das würde ich liebend gern, meine Süße“, meinte dieser, während er das Essen hinunter schlang. Offenbar hatte er es eilig. ,,Aber die Verkaufsbücher und ein Stapel Papierkram warten auf mich in der Schneiderei.“

,,Aber du wolltest doch den restlichen Tag Zuhause sein“, wandte sich Anna an ihn, während sie die letzten Schüsseln in den Geschirrschrank räumte. Das Haus am Waldrand war in den letzten Tagen auch zu ihrem Heim geworden und sie, wie Mel es sich gewünscht hatte, eine Familie.

Etwas verlegen, wohl die Rüge von seiner Partnerin ahnend, kratzte Greg sich den blonden Pony. ,,Es war doch mehr Arbeit, als ich angenommen hab. Hab sie wohl zu lange schweifen lassen. Jetzt seh‘ ich ja, was ich davon habe.“

Anna stemmte die Hände in die Taille und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. ,,Und nun? Ich hab gesagt, dass ich die Schicht am Nachmittag erledige. Wer bleibt hier bei Marie?“

Sie redeten, als wäre sie nicht da. Als wäre sie ein Kind, was nicht fähig war, über sich selbst bestimmen zu können. So ging das schon die ganze Zeit. Marie rollte mit den Augen und pfefferte die übriggebliebene Klammer zurück ins Körbchen.

Greg schaufelte sich den Eintopf in den Mund und versuchte ihrem erbosten Blick auszuweichen. ,,Hilda kann doch...“

,,Hilda hat ihren eigenen Haushalt zu führen.“

,,Was wird denn jetzt aus dem Schlittenfahren?“

,,Das verschieben wir auf Morgen, Mel“, antwortete ihre Mutter. ,,Wir müssen gleich zur Arbeit.“

,,Och, manno.“

,,Bedank dich bei Greg und seiner schluderigen Ladenführung.“

Dieser brummte etwas Unverständliches und leerte stoisch die Schüssel.

Um den Frieden im Haus zu wahren und einer Diskussion keinen Nährboden zu geben, beendete Marie ihr Schweigen. ,,Ist schon in Ordnung, Anna. Geht ruhig. Ich komme hier allein zurecht.“ Sie bemerkte den besorgten Blick ihrer Freundin. In der Vergangenheit hatte sich zwar gezeigt, dass es mitunter besser sein konnte, wenn jemand an ihrer Seite war, doch Marie wollte sich nicht für immer bemuttern lassen. Sie war schließlich eine erwachsene Frau.

,,Na, bitte.“ Greg jedenfalls war zufrieden mit dieser Lösung. ,,Mach dir nicht immer solch einen Kopf, Anna-Schatz.“

Anna-Schatz sah kein bisschen beruhigter aus. Im Gegenteil.

,,Ich bin doch auch noch da!“, meldete sich Mel zu Wort, die sich übergangen gefühlt hatte. Alle sahen sie an. ,,Ich kann mich doch um Marie heute kümmern.“

,,Schatz...“ Anna ging vor ihr in die Hocke und fasste ihr an die Schultern. Ehe sie sich erklären konnte, startete Mel einen erneuten Überredungsversuch.

,,Warum denn nicht? Ich hab mich doch schon mal um ihr Vieh gekümmert! Und letzten Winter um die alte Katze von den Kotters. Die wollten Mauz im Fluss ertränken, Mama!“ Ihre vorgeschobene Unterlippe begann bei dem traumatischen Erlebnis zu beben.

,,Mel, das ehrt dich, wirklich. Aber es ist nicht das gleiche, als wenn man sich um ein Tier kümmert. Marie ist… Sie ist krank. Ihr Herz tut ihr immer noch weh. Traust du dir das auch wirklich zu?“

,,Klar! Sie soll doch wieder gesund werden.“

Gerührt konnte ihre Mutter gar nicht anders, als ihrer Bitte nachzugeben. ,,Das ist sehr erwachsen von dir, Mel. Also schön. Aber“, sie hob den Zeigefinger, ,,versprich mir, dass du, egal was sein sollte, zu uns oder Hilda läufst und Bescheid sagst.“

,,Versprochen.“

 

Wenig später hockte Mel auf der Küchenzeile und sah durch das Fenster ihrer Mutter und Greg nach, bis sie über den Hügel in Richtung Kerrt verschwunden waren. ,,Marie, es schneit nicht mehr. Wollen wir zur Lichtung gehen?“

Doch Marie war nicht der Sinn auf einen Besuch bei den Gräbern. Ob es auch ein Grab für Thorin gab? Der plötzliche Gedanke daran ließ sie erschaudern. Starb er schnell oder unter Qualen? Musste er lange leiden? Kaltes Eisen schloss sich um ihr Herz und lähmten es. Sie musste aufhören, sich solch Fragen zu stellen.

Das Mädchen schien den furchterfüllten Ausdruck ihrer Augen gesehen haben, denn einen Moment später stand es besorgt vor ihr. ,,Oder lieber nur vor die Tür?“

Marie sah in ihre großen, blauen Augen und rang mit sich, zu nicken. ,,Vor die Tür hört sich besser an.“

Mel lächelte und lief zur Garderobe, um sich anzuziehen. Umständlich zerrte sich die Kleine ihren Umhang über die mehreren Lagen von Kleidung, während Marie nach ihrem griff und in ihre riesigen Stiefel hineinschlüpfte.

,,So, jetzt können wir!“ Mel hüpfte in die Luft und angelte nach der Mütze, die auf dem Haken steckte. Ein Geschenk von Greg. Rosarote eingefärbte Wolle. Nicht nur Mel war hin und weg gewesen. Anna war ganz verzückt von dieser Bommelmütze. Als Kind hätte sicherlich auch Marie für so eine alles getan.

Voller Euphorie öffnete die Kleine die Haustür und huschte ins Freie. Marie folgte ihr weniger enthusiastisch, zog die Tür hinter sich zu und blieb für einen Moment vor der Schwelle stehen, um den sorglosen Mädchen zuzuschauen. Sie beobachtete ihre Ziehnichte, wie diese in die dicksten Schneewehen hopste, zur Hälfte darin versank und glucksend wieder heraus kletterte.

Seit dem Tag, an dem der Landstreicher im Dorf ankam, hatte Mel nicht mehr über die Zwerge nachgefragt. Wahrscheinlich ein Verbot von Anna. Hatte man ihr erklärt, was am Erebor passiert war? Verstand ein Kind die Bedeutung eines Krieges?

Seufzend sah Marie den zugeschneiten Feldweg entlang. Normalerweise entfernte sie sich nicht weiter als nötig von ihrem Haus, was viel mehr als ihr Heim für sie war. Es war ein Ort der Zuflucht und der Erinnerungen. Abends stand sie oft hier draußen und beobachtete den Horizont und die Dämmerung, wie der Tag in die Nacht überging. Wartend auf ein Zeichen.

Langsam musste sie sich eingestehen, dass das Warten umsonst war. Das Wunder, welches sie erhoffte, wird nicht geschehen.

Mehrmals hatte sie darüber nachgedacht, ob sie gen Erebor laufen sollte. Letztendlich konnte sie sich nie dazu überwinden, es zu tun. Irgendetwas hielt sie hier, wo sie war. Sie wollte sich schon mehrmals davon schleichen, doch sie fürchtete sich vor der Gewissheit, die sie erwarten würden und ihre Beine jedes Mal zu Stein werden ließen.

Annas Worte von vorhin kamen ihr plötzlich in den Sinn. War es eine Krankheit, die an ihrer Seele nagte? Oder fühlte sich so nur ein gebrochenes Herz an?

Als sie einen Schneeball an die Brust geworfen bekam, zuckte Marie zusammen. ,,Aua!“

,,Du träumst ja mit offenen Augen!“, zog Mel sie auf. ,,Lass uns etwas Spaßiges machen! Auf was hast du Lust?“

,,Weiß nicht.“ Sie rieb sich die Stelle, an der der harte Ball sie getroffen hatte. Eigentlich hatte sie zu nichts Lust, doch sie wollte Mel den Tag nicht vermiesen und dachte sich für sie etwas aus. ,,Wollen wir einen Schneemann bauen?“ Kaum hatte sie ausgesprochen war Mel Feuer und Flamme.

,,Au ja! Du machst den Körper, ich den Kopf!“ Sofort ließ sie sich auf die Knie nieder und formte einen weiteren Schneeball, der im Nu größer wurde. Marie tat es ihr gleich und für eine Weile krabbelten die beiden über den Boden, jede eine immer größer werdende Kugel vor sich her rollend.

 

,,Hmm...“ Äußerst skeptisch stand Mel wenig später vor dem fertigen Gebilde aus Schnee. Auf einer Kugel, die etwas unförmig geworden war, thronte eine zweite, kleinere. ,,Das ist bloß ein Schneezwerg geworden.“ Unbekümmert zuckte sie darüber mit den Schultern. ,,Auch gut. Jetzt braucht er noch eine Nase. Ich suche eine Karotte. Und Kohlen für die Augen! Hier“, sie drückte Marie ihre Mütze in die Hand und flitzte los, um ihren Schneezwerg auszustaffieren.

Marie blieb mit der rosa Mütze in den Händen zurück. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass die Kugeln aus Mels Sicht klein geworden waren. Maries veränderter Körper verschob oft für sie die tatsächlichen Größenverhältnisse.

,,Was soll´s…“ Sie klemmte sie sich unter den Arm und trat an den Schneemann heran, um ihn auszubessern. Damit er nicht gleich wieder runter kullerte, versuchte sie den Kopf mit etwas Schnee am Körper festzudrücken und formte daraus einen Hals. In dem Moment als sie die Hände wieder von ihm löste, packte er sie an den Handgelenken und hielt sie bei sich. Marie riss den Kopf hoch und ihr Schrei erstarb in ihrer Kehle.

Der Schneemann war fort.

Stattdessen war es Thorin, der vor ihr stand.

Wie betäubt starrte sie ihn an, unfähig etwas zu tun oder zu sagen. Schweigend sah auch Thorin zu ihr hinab. In dem tiefgründigen Grau seiner Augen sah sie das Funkeln, mit dem er sie früher immerzu betrachtet hatte. Sie schluckte an ihrer staubtrockenen Zunge, sah ungläubig an seinem nackten Oberkörper hinab und rang den Drang nieder, die Finger durch die weichen Haare auf seiner Brust fahren zu lassen. Nur eine Hose tragend stand er mit nackten Füßen im Schnee. Die Kälte schien ihm nichts anhaben zu können. Seine Berührung an ihrer Haut spürte sie merkwürdigerweise nicht. Es dauerte, bis die Gewissheit, dass es wieder einmal nur eine Einbildung sein musste, zu ihr durch drang. Das war bloß ein Tagtraum. In wenigen Sekunden würde er wieder verschwunden sein. Ihr Kopf spielte ihr Streiche. Das war alles.

Marie schloss die Augen, wartete und schlug sie wieder auf, doch Thorin hielt sie immer noch fest. So sehr wie sie es wollte, ihn solange wie möglich ansehen zu können, so sehr schmerzte seine Erscheinung auch. Dass es nur ein Gespinst ihrer Fantasie war, wusste sie. Und genau das tat am meisten weh.

Abermals schluckte sie und sammelte ihre Stimme. ,,Lass mich los.“ Zu ihrer Verblüffung tat er es, schaute sie danach nur weiterhin mit etwas schiefgelegtem Kopf an und rührte sich nicht mehr. Bereits mehrmals hatte sie geblinzelt, dieses hartnäckige Trugbild aber war geblieben. ,,Na schön.“ Fest entschlossen, dass das vor ihr immer noch der Schneemann war, nahm sie die Mütze und versuchte diese über seinen Kopf zu bekommen, doch natürlich war sie viel zu klein. Widerstandslos ließ Thorin sie versuchen, die Wolle zu Recht zu zerren. Als die Mütze einiger-maßen saß, verdrehte er die Augen nach oben, als wollte er sich selbst betrachten. Ein paar Strähnen, die sie zerwühlt hatte, strich Marie einer Intuition nach zurück und sofort schmiegte Thorin seinen Kopf gegen ihre Hand, als wollte er jede Berührung voll auskosten. Ihr Innerstes krampfte sich qualvoll zusammen. Warum verschwand er nicht? Warum hörte dieser Albtraum nicht auf? Weil sie es nicht länger ertragen konnte, entzog sie sich ihm.

,,Ich wollte dir einmal eine Krone aus Gänseblümchen flechten“, wisperte sie. ,,Kannst du dich erinnern?“

Der Thorin vor ihr sah sie eine lange Zeit an, als würde er ihr Gesicht, jede noch so winzige Reaktion studieren, und nickte schließlich.

,,Du hast dein Versprechen gebrochen.“ Ihre Kehle war heiser von den vielen ungeweinten Tränen, die in ihr festsaßen. ,,Du hast gesagt, du würdest wiederkommen. Wieso hast du nicht auf mich gehört? Warum bist du trotzdem gegangen? Obwohl du wusstest, dass… Wieso…“ Sie konnte nicht weinen. Es ging nicht.

,,Was ist geschehen?“ Sie wartete auf eine Antwort, er aber blieb sie ihr schuldig. ,,Sag doch etwas… Bitte.“

Sie bekam nur Stille zurück.

Ihr Leben war ihr aus den Händen geglitten, seit sie sich auf der Lichtung im Mondschein wiedergesehen hatten. Mit dem erneuten und diesmal endgültigen Verlust hatte sie sich selbst verloren, hatte sich selber krank gemacht, wie Anna es beschrieb. Und alles nur, weil ihr dummes Herz ihn nicht loslassen konnte.

,,Verschwinde“, presste Marie zwischen den Zähnen hervor und ballte die Fäuste. ,,Verschwinde! Hau endlich ab! Tu, was du am besten kannst! Ich will dich nicht mehr sehen!“ Jedes Wort versetzte ihrem Herz einen Tritt. Trotzig wischte sie sich über die Augen, die anfingen zu brennen. ,,Verschwinde endlich aus meinem Leben…“ Thorin runzelte die Stirn, als verstand er nicht. Die Wut über diese Tagträume, die sie anscheinend in den Wahnsinn treiben wollten, brach aus ihr heraus und im nächsten Moment schlug Marie auf seine Brust ein.

,,Verschwinde! Lass mich endlich in Ruhe!“ Sie hämmerte mit den Fäusten gegen seinen Körper, stemmte sich gegen ihn, damit er verschwand. Ihre ganze Wut der letzten Wochen ließ sie an ihm aus. ,,Ich hasse dich!“ Erst als eine verschreckte Stimme ihren Namen sagte, hielt sie inne. Sie blickte auf und sah Mel vor dem Haus stehen. Kleine Stöcker, Kohlestücke und eine Karotte fielen ihr aus den Händen. Dann sah Marie das Chaos. Völlig zerstört lag der Schneemann umgekippt am Boden und erst jetzt realisierte Marie ihr Tun.

,,Warum hast du das gemacht?“, schluchzte Mel den Tränen nahe, traurig über den kaputten Schneemann, den sie zusammen gebaut hatten.

,,Mel… Mel, ich…“ Marie stapfte über den Schneehaufen, um zu ihr zu gelangen. ,,Mel, glaub mir, das wollte ich nicht. Es tut mir leid.“ Traurig schlang sie die Arme um das Mädchen, das sich zunächst aus ihrer Umarmung hinaus winden wollte, und konnte nichts anderes tun, als sie festzuhalten und ihr immer wieder zu sagen, dass es ihr leid tat, bis Mel die Nähe schließlich zuließ und sich an ihrer Tante festklammerte.

Inzwischen hatte es wieder zu schneien begonnen. Lautlos schwebten Flocken aus den grauen Wolken, während Marie Mel immer noch im Arm hielt. Vorsichtig strich sie ihr über die roten Bäckchen und wischte die kleinen Tränchen fort.

,,Wollen wir einen neuen Schneemann bauen?“ Doch Mel schüttelte den Kopf, zog geräuschvoll die Nase hoch. ,,Dann komm, lass uns wieder rein gehen.“

 

,,Es tut mir leid, Marie.“

Sie klappte die Schranktür zu, nachdem sie sich eine trockene Hose angezogen hatte und drehte sich fragend nach Mel um, die auf dem Ende ihres großen Bettes saß und die Füße baumeln ließ. ,,Was tut dir leid?“

,,Ich wollte dich doch aufheitern...“

Beschwichtigend strich sie ihr über die Wange. ,,Das weiß ich, mein Schatz. Dich trifft keine Schuld. Ich war es, die unseren Schneezwerg kaputt gemacht hat. Alles gut.“

,,Aber wieso hast du das gemacht?“

Sie setzte sich zu ihr aufs Bett. ,,Ich habe geträumt.“

,,Einen Albtraum?“

,,Ja, so ähnlich.“

,,Mama sagt, dass oft träumst.“

Weil sie nicht wusste, was sie darauf antworten sollte, wurde es kurz still zwischen den beiden, bis schließlich Mel aufsprang und aus dem Zimmer eilte. Verwundert sah ihr Marie nach, hörte, wie sie die Treppe hinunter lief und im Wohnraum etwas suchte.

,,Mel?“, rief sie besorgt nach unten, als es lauter klapperte.

Schon hörte sie sie zurückkehren. Mit einem Teller voll Weißbrot und einem Krug in der anderen Hand erschien die Kleine wieder im Zimmer. ,,Mama sagt, dass du nicht genug isst. Deshalb bringe ich dir etwas. Ich hab doch versprochen, dass ich mich um dich kümmere.“ Stolz auf ihre Rolle als Aufpasserin stellte sie es auf ihrem Nachttisch ab. ,,Damit es dir besser geht.“

Gerührt setzte sich Marie an das Kopfende, zog die Decke hoch und bekam sogleich ein Brot gereicht, welches sie aß. Auch trank sie etwas von der gebrachten Milch.

,,Geht es dir jetzt besser?“, fragte Mel, kaum dass sie den letzten Bissen gekaut hatte.

Dieser erwartende Gesichtsausdruck voller Niedlichkeit versuchte mit aller Macht ihr Inneres aufzuhellen. Marie reichte ihr den Krug zurück und lächelte. ,,Schon viel besser.“

,,Brauchst du noch etwas?“

Sie schüttelte den Kopf, klopfte stattdessen neben sich. Breit grinsend krabbelte die Kleine zu ihr und legte sich neben sie, sodass sie sich anschauen konnten. Marie deckte sie zu und strich ihr über die seidigen Haare. ,,Ganz toll machst du das. Du passt so schön auf mich auf.“

Ihre Ziehnichte kuschelte sich an sie. ,,Marie?“, fragte sie nach einer Weile.

,,Hm?“

,,Wie fühlt es sich an? Liebe meine ich.“ Den Blick auf ihren Hals gerichtet, sah sie ihr nicht in die Augen. Vielleicht schämte sie sich über diese Frage, über dieses Thema, bei dem die Erwachsenen so komisch wurden und das Meiste verschwiegen.

Sanft umschloss Marie das Kind und sah einen unbedeutenden Punkt an der Wand an. Verlor sich in Erinnerungen. ,,Schön“, flüsterte sie, obwohl sie ganz unter sich waren. ,,Sie ist etwas ganz Zartes, aber zugleich auch Mächtiges. Etwas Kostbares. Du würdest alles für diese Person tun. Dann prickelt es in deinem Bauch, als hättest du Watte verschluckt. Sie spendet dir Wärme, wo kein Feuer jemals hinreicht.“

,,Und wie fühlt es sich jetzt an?“

,,Sie ist immer noch da, aber sie tut weh. Das Herz tut einem weh.“ Unbemerkt hatten sich nun doch Tränen in ihre Augen geschlichen. Ihr Blick verschwamm, als sie an den Mann dachte, der die Liebe ihres Lebens gewesen war. ,,Als wäre man unvollständig“, wisperte sie. ,,Als wäre etwas von dir selbst gegangen.“

,,Bekommt man es denn wieder?“

,,Irgendwann schon. Doch die Narben, die es schlug, werden bleiben. Man kann sie nicht sehen, doch sie sind da, und machen auf sich aufmerksam, wenn man daran denkt. Ich versuche es, Mel. Ich versuche es wirklich. Aber es ist schwer...“

,,Als Mauz gestorben ist, da war ich auch ganz traurig“, sagte Mel leise und Marie spürte, dass sie ihr damit zu verstehen geben wollte, dass sie es verstand und sie mit ihren Gefühlen nicht alleine war. Dankbar legte sie den Kopf an Mels und hielt das Mädchen fest im Arm, während sie sich von alten Erinnerungen treiben ließ und weiße Flocken vor dem Fenster einen Tanz begannen.

 

 

 

 

 

 

 

 

6

 

 

Schmerz. Sonst nichts. Alles fühlte sich so schwer an und schmerzte. Er konnte sich nicht bewegen, wollte dieses Ziehen in seinen Knochen nicht, das an Intensität zunahm und sich langsam durch seinen Körper fraß, als wollte es ihn seine Einzelteile zerreißen. Sein eigenes Stirnrunzeln bereitete ihm Schwierigkeiten. Mühsam versuchte er die Augen zu öffnen und zur Besinnung zu kommen.

Das Erste, was er sah, waren die Strahlen der Sonne, die durch die bleiverstrebten Fenster in den Raum herein schienen. Orientierungslos begannen seine brennenden Augen das Zimmer zu durchkämmen. Er war in Erebor, in seinem alten Gemach.

Der Grund, weshalb er hier war, blieb weiterhin hinter dichtem Nebel verborgen, seine Erinnerungen an das Geschehene wollten noch nicht wiederkommen.

Thorin fühlte die Lagen mehrerer Decken und ein Kratzen im Brustkorb bei jedem Atemzug. Ihm war ekelig warm, sein ganzer Körper fühlte sich taub an, als läge er schon eine lange Zeit hier. Als er seine Beine bewegen wollte, die eingeschlafen zu sein schienen, fuhr es in seinen rechten Fuß hinein, als würde dort ein glühender Nagel in seinen Knochen stecken. Durin! Nur mit Not konnte er ein Aufstöhnen verhindern. Ein Blick nach unten zeigte ihm, woher die Schmerzen rührten: dick bandagiert schaute sein rechter Fuß hoch gelegt unter der Decke heraus.

Er fühlte sich so kraftlos wie noch nie und ließ deshalb gar den Versuch, sich aufzusetzen, bleiben. Erst jetzt bemerkte er, dass er nicht allein war und ein einsetzendes Gefühl von Geborgenheit machte ihm das Ertragen der währenden Schmerzen bedeutend leichter.

Auf einem Stuhl sitzend lag Fili vorgebeugt neben ihm auf der Matratze. Als würden sie über ihn wachen, lag auf der anderen Seite Kili. Und nun kam alles wieder. Er erinnerte sich.

Das letzte Mal, dass er sie gesehen hatte, war, als Azog Fili zur Kante der Turmruinen geschliffen und ihn nur machtlos zuschauen gelassen hatte. Als Kili am anderen Flussufer die Stufen hinaufgerannt war, war er hinterher, hatte ihn davor bewahren wollen, in ihre Falle zu laufen…

Er hatte sie nicht retten gekonnt.

Azog war ihm in den Weg getreten und es kam zum allesentscheidenden Kampf zwischen Nebel und Eis. Abermals sah Thorin die Schwertspitze über sich schweben und schloss die Augen, fühlte, wie sein Körper ein zweites Mal am Ende seiner Kräfte die sichere Waffe wegzog. Er hatte es tun müssen, um an Azogs Brustkorb heranzukommen und ihn töten zu können. Es war die einzige Chance gewesen, auch wenn dies bedeutet hatte, sein eigenes Leben dafür zu geben.

Die aufkommenden Bilder des Kampfes sandten ein Zittern durch seinen schwachen Körper. Es war vorbei. Der Orkanführer war tot, seine führungslosen Scharen zerschlagen worden.

Er hatte seine Rache bekommen. Der Krieg hatte geendet. So wie sein eigenes Leben.

Diesen Schwertstoß… Das konnte er nicht überlebt haben. Unmöglich. Und doch war er immer noch hier.

Was um der Götter Willen war mit ihm bloß geschehen?

Wehmütig betrachtete er seine schlafenden Neffen. Ihnen ging es gut. Sie waren am Leben. Mehr zählte in diesem Moment nicht für ihn.

Langsam streckte er die Hand nach Kilis aus und berührte ihn. Der Junge wurde wach, hob den Kopf und sah ihm ungläubig an. ,,Onkel…“ Thorin konnte nicht antworten, brachte nur ein müdes Lächeln zustande. Im nächsten Augenblick schon fiel Kili ihm um den Hals. ,,Thorin!“ Von dem Ruf und dem Schmerzenslaut wurde auch sein Bruder geweckt und schon wurde er ebenfalls von Fili gedrückt. Thorin stöhnte auf, ignorierte seine gepeinigten Rippen und versuchte die Arme um seine Jungs zu schließen.

,,Du bist wieder zurück“, flüsterte Fili und presste die Stirn gegen die seine, vergrub die Finger in seinen Haaren. ,,Du hast uns solche Sorgen gemacht…“ Nach ihm legte auch sein Bruder die Stirn gegen die ihres Onkels, um seine Nähe zu spüren.

,,Wasser, bitte“, brachte er kaum verständlich zusammen. Er dachte, er müsste vor Durst erneut ohnmächtig werden.

Fili griff zum Nachttisch, auf dem eine Karaffe und ein Glas standen, und füllte ihm ein. Er stützte seinen Kopf und reichte es ihm. ,,Trink langsam.“

Vom Durst geplagt konnte er nicht anders, als das kühle Nass seine aufgesprungenen Lippen berührte. Wasser lief von seinem Mund und tropfte über seinen Bart, als Thorin gierig trank. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich über die Bettkante werfen, ehe er würgend alles wieder ausspuckte.

,,Das hast du davon“, klagte Fili vorwurfsvoll, der seinen Oberkörper stütze.

Als nichts mehr kam, drehte Thorin sich wieder auf den Rücken und verzog das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Maske, als sich eine gebrochene Rippe bewegte.

,,Ich geb‘ den anderen Bescheid.“ Kili verließ den Raum und ließ seinen Bruder allein mit ihrem Onkel.

Fili legte die Decken wieder zu Recht, einen Lappen auf den Fußboden, befühlte seine Stirn, positionierte die Karaffe neu. Alles nur, um ihn nicht anzusehen und von seinen zitternden Händen abzulenken. Thorin jedoch sah dies und das verräterische Glitzern in seinen Augen und erinnerte sich an sein Geständnis, welches er mit angehört hatte.

Ruhig griff er nach seiner Hand und bewegte ihn endlich zum Innehalten. ,,Du…bist nicht allein…in deiner Pflicht, Fili.“ Ganze Sätze – gar Worte zu formulieren gelang ihm kaum, doch er wollte alle Zweifel von dem Jungen nehmen, die ihn so plagten. ,,Auch mich beschäftigten…die gleichen Gedanken…als ich so alt war…wie du. Du sollst wissen, dass… ich an deiner Seite bin. Ich werde dir bei allem helfen…was in meiner Macht steht. Ich weiß, dass…diese Aufgabe für dich bestimmt ist. Eines Tages wirst du meinen Platz einnehmen…und König sein. Dein Vater… Egal, zu was du dich letztendlich entscheiden wirst…er ist schon längst stolz auf dich.“

Fili, der ihn die ganze Zeit schweigend angesehen hatte, senkte nun den Kopf. Eine einzelne Träne rollte über seine Wange und verschwand in seinem blonden Bart. Beschämt durch die Anwesenheit seines Onkels drückte sich die Handballen auf die Augen. Doch Thorin belächelte ihn bloß.

,,Für Tränen muss man sich nicht schämen“, flüsterte er. ,,Auch kein noch so stolzer Zwerg.“

Auch Fili versuchte nun unter kleinen Schluchzern zu lächeln und ergriff die Hand seines Onkels. Thorin sah die Erleichterung und die Dankbarkeit in seinem Blick.

Ohne Vorwarnung wurde die Tür aufgerissen. ,,Du alter Hund, was fällt dir eigentlich ein, uns so zu erschrecken?!“ In einem Redeschwall aus Vorwürfen vertieft stapfte Dwalin zu ihnen und baute sich vor Thorin auf. ,,Kopflos loszurennen! Nur damit wir dich dann halbtot wiederfinden können! Wie wahnsinnig muss man eigentlich noch sein?“

,,Ich bin auch froh, dich zu sehen, Dwalin“, antwortete der Erwachte mit einem gequälten Schmunzeln. Etwas Anderes hätte Thorin von seinem Freund auch kaum erwartet.

Dwalins grimmiger Blick löste sich in ein Kopfschütteln auf. Lachend reichte er ihm den Unterarm, den er fest zu nehmen versuchte. Einen Moment später trudelten auch Kili, Gandalf und all die anderen Gefährten ein. In Sekunden wurde es richtig voll im Gemach. Jeder reichte ihm den Arm, glücklich und erleichtert ihren Anführer lebendig zu sehen.

,,Du hast es tatsächlich geschafft!“

,,Bei Durin, soviel Schwein kann doch keiner haben.“

,,Dich und deinen Sturkopf wollte Gevatter Tod also doch nicht?“, scherzte sein ebenfalls anwesender Vetter Dain. Das Bett, in dem Thorin lag und nur zuschauen konnte, war umlagert von einem glücklich lächelnden Gandalf und fröhlich schwatzenden Zwergen, welche alle mit Thorin die ersten Worte wechseln wollten.

,,Gebt ihm mehr Raum!“ Gandalf sorgte für mehr Disziplin in der bunten Menge. ,,Er muss doch erstmal richtig zu sich kommen. Lasst ihm das Wort.“

,,Danke, mein Freund. Ich bin froh…euch alle sehen zu können und doch begreife ich es nicht. Was ist mit mir geschehen?“

Balin trat vor, um mit ihm zu sprechen. ,,An was kannst du dich erinnern?“, fragte er zuerst zurück, als plagten ihn Bedenken, die Wahrheit zu sprechen. Thorin zögerte, bis er antwortete.

,,Mein Gedächtnis ist wieder klar. Ich…“ Mitten im Satz brach er ab, denn die Gedanken an die Augenblicke, von denen er dachte, es wären seine letzten, erreichten ihn wieder unvermittelt. ,,Bilbo.“ Suchend hob er den Kopf. ,,Wo ist der Hobbit?“

Der Kreis teilte sich und Bilbo wurde in die erste Reihe geschoben. Schüchtern bracht er ein kleines ,,Hallo“ zustande. Trotz Mühen streckte Thorin den Arm zu ihm aus. Unsicher fasste der Hobbit seine Hand, doch der Zwergenkönig schloss die seine fest um seinen Unterarm, sodass Bilbo es ihm gleich tat.

,,Danke, mein Freund…dass du an meiner Seite warst.“

,,Gern geschehen.“

Kili, der auf dem Bett saß, packte ihn und zog Bilbo grinsend neben sich.

,,Du fragst dich sicher, wie du überlebt hast“, knüpfte Gandalf das Gespräch wieder an.

Thorin schluckte. Ja, das tat er tatsächlich. Er nickte, damit der Zauberer es ihm erklären konnte.

,,Es war die Lyrif-Kette, die dein Leben bewahrt hat. Nachdem man dich zurück nach Erebor gebracht hatte, und Bilbo darauf bestanden hatte, dich zu versorgen, versuchten Radagast und ich deine Seele vor dem Entweichen zu halten. Es ist ein Wunder, dass dein Körper trotz des Blutverlustes und der Schwere deiner Verletzung sich von selbst regeneriert hat.“

Verständnislos über das, was ihm da mitgeteilt wurde, sah Thorin Bilbo an. ,,Du bist bei mir geblieben?“

,,Bis zum Schluss. Ich… Zuerst hatte ich noch gehofft, dann habe ich es gewusst. Du konntest nicht tot sein.“

,,Du hast mir das Leben gerettet.“

Bilbo lächelte. ,,Einen Teil trage ich wohl dazu bei, damit muss ich wohl leben. Aber… Nicht ich habe dir diese magische Kette gegeben. Deine wahre Retterin ist jemand ganz anderes.“

Waren Beorns Worte über die Kette tatsächlich wahr? Konnte ein so unscheinbares Schmuckstück Zugriff auf ein Leben haben? Es musste so sein, denn eine andere Erklärung für das, was ihm wiederfahren war, gab es nicht. Er fühlte den breiten Verband, der seinen ganzen Bauch bedeckte und das Pochen der heilenden Wunde in seinem Fleisch darunter.

Jeder andere hätte diesen Schwertstoß nicht überlebt. Er aber trug etwas bei sich von unschätzbarem Wert.

Thorins Blick richtete sich auf seine Brust. Als seine Finger die schwarze Schnur fanden, die er seit Jahren um den Hals trug, hob er sie an. Sich hin und her drehend tänzelte der runde Anhänger in der Luft und ein einzelner Name hallte in seinem Kopf.

Marie. Deutlich spürte er das Schlagen seines Herzens, als er bei den Gedanken an sein Mädchen ein zartes Kribbeln im Magen fühlte. Einst hatte sie diese Kette ihm zum Geschenk gemacht und ihm dadurch das Leben gerettet. Sie hatte nicht ahnen können, welche Kraft sie besaß.

Thorin schloss die Faust um das matte Metall und hielt damit auch ein Teil von Marie ganz nah bei sich. ,,Habt ihr ihr eine Nachricht geschickt?“

Plötzlich änderte sich die Stimmung im Raum. Die Männer sahen unsicher einander an. Es war Bofur, der schließlich antwortete. ,,Nein, wir…

,,Wir wollten sie nicht beunruhigen“, kam Dori ihm zu Hilfe, ,,oder falsche Hoffnungen machen. Keiner wusste, ob du es tatsächlich überleben wirst.“

,,Wir dachten, so wäre es besser.“ Dwalin verschränkte die Arme vor der Brust und blickte schuldbewusst auf seine Stiefelspitzen. Dains Nachfrage, von wem überhaupt die Rede war, wurde prompt überhört.

Als Ori seine Idee äußerte, sie sollten ihr sofort schreiben, versuchte Thorin ihn aufzuhalten. ,,Nein! Ahhrr!“

,,Onkel, was ist denn in dich gefahren?“ Fili drängte ihn dazu, liegen zu blieben. ,,Du musst auf deine Rippen achtgeben. Setz dich lieber noch nicht auf.“

Jeder Anwesende war irritiert über die Reaktion ihres Anführers.

,,Aber wir haben doch gesiegt!“ Bofur gestikulierte wild drauf los. ,,Du lebst. Was stehen wir hier noch rum! Sie muss es erfahren - die ganze Welt muss es erfahren!“

,,Sie wird es erfahren!“, knurrte Thorin, dessen Schmerzensschub noch nicht abgeklungen war. Damit er nachließ, versuchte er dagegen zu atmen. ,,Aber nicht heute…und auch nicht morgen. Ihr musst mir versprechen…noch keinen Brief an sie zu schicken. Ich will es so.“

Balin ließ sich zu Fili aufs Bett sinken. In seinem Blick lag eine große Beunruhigung. ,,Thorin, gibt es etwas, was du uns sagen möchtest?“

,,Ich wollte den Krieg, doch er ist nichts Ruhmreiches.“ Seine heisere Stimme ließ sie alle innehalten. ,,Es ist nur Schlachterwerk. Ein blutiges Werk, das ich herbeigesehnt habe.“ Thorin verspürte keine Freude über den Sieg. Denn er war es gewesen, der einen Krieg um jeden Preis wollte.

,,Ich wollte, dass das Gold uns allein gehört.“ Beklemmt richteten sich alle Blicke auf ihren Anführer. Dieser starrte das Bettdeck hinab ins Leere, seiner intimsten Furcht allein ausgesetzt. ,,Ich wollte den Arkenstein in meinem Besitz wissen, weil… Weil es kaum zu ertragen war. Diese Sehnsucht, die einem innerlich auffrisst.“ Er bekam nicht mit, wie Dwalin allarmiert zu ihm treten wollte, von Gandalf jedoch zurückgehalten wurde.

,,Lasst ihn sprechen, solange er es von sich aus tut…“

Sie wollten ihn damit erpressen, seine Schuld einzulösen, ihn mit dem Juwel in die Knie zwingen. Fast wäre es ihnen gelungen. Sein Anblick in fremden Händen. Dieses reine Leuchten…

Es hatte ihn wahnsinnig werden lassen. Dass Bilbo es nur getan hatte, um einen Krieg zu verhindern, hatte er nicht sehen können.

Der Drache hatte nach dem Leben des Verräters getrachtet und Thorin hätte ihn umgebracht, wenn er gelassen worden wäre.

,,Ich wollte…“

,,Was wolltest du?“, Gandalfs Flüstern lag wie in Watte ihm im Ohr. Sie hatten ja gar keine Ahnung… Thorins Gedankenchaos kam zum Erliegen, als ein Schatten sich plötzlich in seiner Brust regte. Wie schwelende Glut.

Der Drache war weggesperrt, doch selbst ein selbsterschaffenes Gefängnis in tiefster Dunkelheit einer Seele, war kein sicherer Ort für ein Monster wie dieses. In diesem Moment brachte Smaugs Geist neue Kraft auf, Thorins Gedanken von allein einen alten und gefährlichen Pfad einschlagen zu lassen.

Der Arkenstein gehört immer noch nicht dir..., säuselte Smaug in seinem Kopf. Es war Bard, der ihn als Letzter in der Hand hielt. Was hat dieser Mensch in der Zwischenzeit damit gemacht? Ihn bereits verkauft, um seine Leute durchzubringen?

Da realisierte Thorin, was er soeben gedacht hatte. Panik drückte ihm die Luft ab. Smaug... Er existiert immer noch in ihm und konnte ihn manipulieren.

Die Worte verließen seinen Mund und setzten sein Herz in Flammen. ,,Ich wollte Marie töten.“

,,Thorin, was redest du da?“ Balins Finger berührten kaum seine Schulter, da drehte er sich von ihm weg.

,,Lass mich! Er ist immer noch da, versteht ihr denn nicht?“

,,Wer, Thorin? Wer ist noch da? Versuch es doch uns zu erklären.“

,,Der Drache… Ich bin der Drache.“

Kili befühlte seine Stirn, ehe Thorin sich auch von ihm losriss. ,,Er ist ganz heiß. Er fiebert.“

,,Ich fürchte, dass es zu viel auf einmal für ihn war…“

Thorin konnte sich nicht mehr von seiner fatalen Entdeckung lösen. Trotz des aufgewühlten Pulsierens, was in seiner Seite wütete, und dem, im Rhythmus seines Pulsschlages Tuckern in seinem Fuß, versuchte er sich wieder zu konzentrieren. Er musste eine Art Gegenmittel finden, irgendetwas, was ihm von dem Fluch des Drachen befreien konnte. Und um das herauszufinden, musste er abermals in sich gehen und der Bestie in die Augen blicken.

Langsam zog er seinen linken Arm unter die Decke. Dann schloss er die Augen und fühlte in sich hinein.

Als Smaug bemerkte, dass sich Thorins Seele dem Gefängnis näherte, kam er ganz dicht an die Grenze heran. Der riesige Lauf streckte sich durch die Gitter nach ihm aus, die dunklen Krallen erreichten ihn beinahe.

,,Tritt näher, Eicchenschild, und ich verhelfe dir zum Arkenstein. Du möchtest ihn doch sicherlich wieder haben…“

,,Und als Gegenleistung?“ Er trat näher bis nur eine hauchdünne Lücke sie voneinander trennten. ,,Was verlangst du von mir?“

,,Ich will dich. Deinen Körper, dein Herzz… Und deine Seele. Du weißt über mein Wissen und meine Stärke Besscheid. Du hast gesehen, welch Macht ich besitze. Ich würde sie dir erneut geben, um ein würdiger Herrscher zu sein. Teil mit mir den Thron und dein Reichtum und deine Macht werden über alle Grenzen dieser Welt hinweg bekannt sein.“

Thorin legte sich die Hand auf die Rippen und ließ die Finsternis ganz nah an sich heran. Wartend auf den richtigen Moment…

,,Du zögerst. Sei gewarnt, mein Angebot gilt nicht für ewig. Willst du den Arkenstein nicht zurück? Er gehört schließlich dir… Tritt näher und ich gebe dir allesss… Sogar meine Lebensjahre. Du könntest unsterblich werden. Wir könnten gemeinsam Erebor regieren, besäßen Gold und Schätze…und den Arken…“

Thorin presste sich den Daumen auf eine Rippe und augenblicklich löste sich die Finsternis auf. Er schwindelte, verdrehte die Augen und zog instinktiv die Beine an, um den Schmerz auszuhalten.

,,Thorin, was hast du?“ Besorgt fasste man nach ihm.

Das Zwicken in seiner Lunge ignorierend, atmete er mehrmals tief durch, und schob die Person von sich. ,,Lasst mich allein. Ich… Ich brauche jetzt einen Moment für mich.“

Während besorgte Stimmen überall um ihn herum sprachen, verharrte er für ein paar Augenblicke in sich hinein horchend. Smaug hatte sich zurückgezogen.

Erschöpft lag Thorin in den Decken und dachte an nichts mehr.

 

Am Abend stand es um den Erwachten ganz anders. Er hatte hohes Fieber bekommen. Lange Zeit war Oin bei ihm, um ihm Medizin einzuflößen. Man machte ihm Wadenkompressen, schürte das Feuer im Kamin, deckte ihn besonders zu.

Thorins verstreute Worte lagen allen im Gedächtnis. Sie hatten gehofft, dass die Drachenkrankheit mit seinem physischen Tod überwunden war… Alle hatten sich getäuscht. Wie nun damit umzugehen war, wusste man nicht. Gandalf war seit Stunden in der Bibliothek verschollen, um Nachforschungen anzustellen.

Obwohl es Thorin schlecht ging und er kaum sprechen konnte, mussten seine Männer ihm eine weitere Sache schwören: die Drachenkrankheit sollte unter Ausschluss der Öffentlichkeit bleiben. Die Gefährten durften es lediglich ihren Frauen erzählen und sie schwören lassen, es nicht an dritte weiterzutragen.

Smaugs Fluch sollte das bestgehütete Geheimnis Erebors bleiben.

Nur mit größtem Zureden brachte man die Jungs dazu, etwas zu Abend zu essen. Wilar, Balins Gattin, brachte Thorin vom Fleisch, damit er zu Kräften kam. Er aß mit Hunger, doch erbrach sich wieder. Es ging ihm hundeelend und die Erkenntnis, dass er auf Hilfe angewiesen war, um den Nachttopf zu benutzen, senkte sein Gemüt auf den Tiefpunkt. Mürrisch ließ er alle wegschicken, um Schlaf zu finden. Er wollte keine Nachtwache haben, die ihm mitleidsvoll betüddelte. Er wollte einfach nur allein sein.

 

Spät in der Nacht wachte er auf und verfluchte die Wärme des Kaminfeuers, welches anscheinend den ganzen Raum versengen wollte. Er konnte spüren, wie die Wunden unter den Verbänden in ihrer Heilung zuckten; ein dumpfer Schmerz in seinem zertrümmerten Fuß, ein Pochen in seiner Seite. Er fühlte, wie das Fieber in seinem Leib wütete und wie das Gefühl, von innen heraus zu verbrennen, fast übermächtig wurde.

War das die Strafe des Drachen, dass er sein Angebot ausgeschlagen hatte?

Mühsam versuchte sich Thorin ein Stück aufzusetzen und langte nach dem vollen Glas auf dem Nachttisch. Er zwang sich, es sich in vielen kleinen Pausen einzuteilen. Weil er wirklich Durst verspürte, trank er alles, was eine ganze Ewigkeit dauerte. Es gelang ihm tatsächlich, die Flüssigkeit bei sich zu halten.

Das Wasser war kalt, brachte jedoch eine Abkühlung, die nicht lange wehrte. Natürlich wusste er, dass sein Körper schwitzen musste, aber es war nicht zum Aushalten. Wie gerne würde er sich davon befreien und sich nackt in die nächste Schneewehe fallen lassen. Allein bei dem Gedanken wurde ihm noch wärmer. Doch er blieb in den Decken eingewickelt und versuchte trotz allem zu schlafen.

In dieser Nacht wachte er mehrmals auf. Seine Haare klebten an der nassen Stirn. Schweißperlen rollten ihm an den Schläfen und der Kehle entlang. Er dachte, er schwamm. Das Laken klebte überall an seinem Körper, die Decken noch dazu waren die reinste Folter. Er konnte nicht anders und ließ sein gesundes Bein aus den Decken raus schauen. Es tat so gut!

Obwohl er wusste, dass es falsch war, raffte er sich zusammen und schmiss die übrigen Decken auf den Boden. Es war wie ein Befreiungsschlag. Kühlere Luft umschloss seinen Köper.

Nur ein paar Minuten, schwor er in Gedanken. Ruhe kehrte in ihn und Thorin schloss die Augen.

Wie lange er ohne Decke mit nacktem Körper dagelegen hatte, wusste er nicht. Irgendwann drangen Geräusche an seine Ohren. Eine Tür, die aufgerissen wurde. Schritte. Eine bekannte Stimme. Er blinzelte und kämpfte gegen das Gefühl der Ohnmacht an.

Die Unterlage beugte sich unter dem Gewicht des Fremden. Kalte Hände berührten ihn. ,,Orin?“

Er drehte den Kopf, doch alles war irgendwie verzerrt, Schatten unnormal. Flackernd. Jemand stand neben dem Bett. Stimmen. ,,Orin!“

Er fragte sich, wen sie da riefen, warum sie ihn nicht schlafen ließen und warum das so laut sein musste. Kein einziges Wort brachte er zusammen.

,,…as u gemacht?“ Etwas herrlich Kaltes legte sich an seine Wange, dann auf seine Stirn. ,,Ummkopf.“ Auf einmal wurde es noch wärmer. Er trat mit den Füßen, wollte sich davon befreien. Schmerz durchjagte seinen verletzten Fuß, ließ ihn wimmern. Jemand sprach mit sanfter Stimme, doch er verstand nichts. Eine Flüssigkeit floss in seinem Mund, die er widerwillig schluckte. Sein Kopf wurde hingelegt und sofort fielen ihm die Augen zu.

Im Fieberschlaf kamen die Erinnerungen, so lebendig, wie ein Traum. Er roch die Pollen und hörte das Wasser des Flusses, wie es seinen Weg über die Steine und an Felsen vorbei nahm, als wäre er wieder genau an diesem Ort. Frühling hing in der Luft, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Ihre Augen hatten ihn sofort in ihren Bann geschlagen, ohne dass er es wirklich realisiert hatte: dieses ungewöhnlich intensive Grün, was ihn jeher an Smaragde erinnerte. Ihr Haar war voller Sonnenlicht, als sie plötzlich dort vor ihm saß. Um ihn herum nichts als Wiese und Blumen. Ein Meer aus Gräsern wiegte sich im Wind.

Thorin beeilte sich, zu ihr zu gelangen. Als er sich einen Weg durch das hohe Gras gebahnt hatte, empfing sie ihm mit einem strahlenden Lächeln. Marie streckte die Hände aus und er ergriff sie, ließ sich vor ihr nieder und hielt sie ganz nah bei sich. Erst jetzt entdeckte er den filigranen Blumenkranz, den Marie auf dem Haar trug. ,,Wunderschön“, flüsterte er und berührte ihre Wange. ,,Eine Krone für die Königin.“

Marie schenkte ihm ein zauberhaftes Lächeln. ,,Bin ich das?“

,,Du bist alles für mich.“ Dann entdeckte er ein Leuchten in ihrem Schoß. ,,Was hast du da?“

Behutsam, als wäre es ein scheues Wesen nahm sie das Juwel in ihre Hände und gewährte ihm freien Blick auf seine Farben.

,,Er ist so wunderschön“, raunte sie so fasziniert, dass er lächeln musste. ,,Sein Inneres bewegt sich, wie winzige Eissplitter. Aber gleichzeitig ähnelt er Glut. Woraus besteht er?“

,,Das weiß niemand.“ Seine Augen sogen genussvoll Maries Anblick auf, die mit dem Arkenstein in den Händen das Schönste war, was er jemals sehen durfte… und blieben an ihrer Stirn hängen. Unter ihrem Haar liefen Blutstropfen hinab, rollten tiefrot über ihre Haut. Er streckte die Hand aus, doch in diesem Moment wurden die Blumen welk.

,,Thorin?“ Angst lag plötzlich in ihren aufgerissenen Augen. ,,Wer bist du?“ Blüten zerfielen, blieben tot in ihrem Haar hängen, während immer mehr Tropfen ihr übers Gesicht liefen. Von Furcht erfüllt wollte er sie zu sich ziehen. ,,Nein!“ Blutüberströmt wich sie vor ihm zurück, presste den Stein an sich, als müsste sie ihn vor ihm verstecken. ,,Fass mich nicht an!“

Fassungslos hob er seine Hände, die selbst voller Blut waren. Ihrem Blut. Warm lief es ihm über die Finger und er erwachte zitternd in der Dunkelheit. Schmerzen ließen ihn das Gesicht verziehen und er zwang sich ruhiger zu atmen, um seine Rippen zu schonen. Jemand war bei ihm gewesen und hatte ihn wieder zugedeckt. Erneut verglühte er innerlich. Das Fieber jedoch war leicht zurückgegangen. Er konnte nur hoffen, die schlimmsten Schübe hinter sich zu haben, und wischte sich mit der obersten Decke den Schweiß von Gesicht und Bart, ehe er alle von sich schob, um besser Luft zu bekommen.

Mit hämmerndem Herzen lag er einfach nur da und starrte an die dunkle Raumdecke. Von allen Albträumen, die ihn heim-gesucht hatten, hatte dieser sein Herz am Meisten erschüttert.

Wie sie vor ih zurückgewichen war… Als hätte sie Angst vor ihm. Ihr Blut hatte an seinen Fingern gehaftet. Er war also schuld an ihrem Leid. In ihren aufgerissenen Augen stand eine klare Botschaft: Monster.

Thorin verbarg das Gesicht in den Händen, als die Gedanken an sein Mädchen ihn zu zerreißen drohten. Sie befand sich in Kerrt. Dort war sie in Sicherheit. Vor dem Krieg. Und vor ihm.

Smaug hatte sie töten gewollt, damals als Dwalin im Thronsaal vor ihm stand und sie wie aus dem Nichts erschienen war. Er erinnerte sich wieder. Sie hatte seine Seele zurück holen gewollt, bis sein Schwert das Trugbild zerteilt hatte. Der Drache wollte sie zerstören, denn sie war wie ein Heilbringer. Durch die Erinnerungen an sie hatte das Gefühl der Liebe versucht, sich gegen die größer werdende Finsternis zu wehren.

Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen: Liebe konnte das Böse in Schach halten. Der Schlüssel war Marie. Sie konnte ihn retten.

Doch was würde passieren, wenn er Marie nach Erebor holen ließe? Wenn er sich auf einmal nicht mehr unter Kontrolle hatte? Könnte er ihr ein Leid antun? Thorin hob die Hand und sah erneut ihr Blut an ihr haften. Ja, genau das könnte er.

Schnell schloss er sie, drückte sie mit der anderen sich gegen die Brust. Alles, was er jemals wollte, war, sie in Sicherheit zu haben. Und nun schien nicht mal mehr seine Nähe sicher zu sein.

Er schloss die Augen und schlug mit der Faust ins schweißnasse Laken. Sie sollte ihn nicht mit dem Drachen in den Augen erleben müssen. Keiner sollte das.

Wenn er an Marie dachte, hätte er gerne geweint, doch die Tränen wollten nicht kommen. Zu sehr nagten in ihm die Angst und die Sehnsucht gleichermaßen.

In dieser Nacht lag Thorin noch lange wach und überlegte bis in die frühen Morgenstunden. Im Sonnenaufgang an jenem nebeligen Morgen hatte er ihr ein Versprechen gegeben:

Es tut so unbeschreiblich weh, dich verlassen zu müssen. Ich habe es schon einmal getan und mein ganzes Leben lang bereut, dich aus den Augen verloren zu haben. Doch dieses Mal ist es anders, mell nin. Ich komme wieder und hole dich und dann nehme ich dich mit, mit nach Erebor. Ich gebe dir mein Wort. Halte den Blick nach Osten gerichtet. Ich werde am Horizont erscheinen. Ich verspreche es dir, ich komme wieder…

 

Als das allererste Morgenlicht den Himmel über dem Erebor ergraute, fasste Thorin seinen Entschluss, auch wenn dieser sein Herz zu brechen drohte. So schnell wie möglich musste er gesund werden, um dieses Versprechen wahr werden zu lassen. Und er musste den Drachen beherrschen können, ehe Marie ihn unter die Augen treten durfte. Sollte er ihr auch nur ein Haar krümmen, würde er es sich niemals verzeihen können.

Damals nach Smaugs Angriff hatten ihn Selbstvorwürfe geplagt und brechen lassen. Nun taten sie es wieder und er musste sich einreden, dass es so am besten war.

Mit schwerem Herzen versuchte Thorin sich in eine bessere Position zu legen, um bis zum Tagesanbruch wenigstens noch eine Stunde Schlaf zu bekommen. Doch er wusste nicht, was schmerzlicher war. Zu wachen oder zu schlafen. Denn wenn er schlief, warteten die Träume auf ihn. Düstere, verstörende Träume von Blut, geflügelten Monstern und gebrochenen Versprechen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

7

 

 

Was wollten wir hier nochmal?“

,,Das sagte ich doch bereits“, antwortete Kili entnervt und verrenkte sich den Hals, um die Straße abzusuchen. Bis jetzt hatte er weder eine Krankenstube noch sie selbst erblickt. Missmutig schnalzte er mit der Zunge, um sein Bergpony weiterzuführen, dessen Rasse vorwiegend von ihrem Volk gezüchtet wurde.

,,Außerdem weiß ich gar nicht, warum du unbedingt mitwolltest.“

,,Um dich vor möglichem Unsinn fernzuhalten. Darum“, entgegnete Fili, der neben ihm das Kopfsteinpflaster entlang ging. Wenn er jedoch ehrlich war, dann war es dafür eh zu spät. Er ahnte bereits, was sein Bruder vorhatte.

,,Ich und Schwierigkeiten?“

Fili warf er ihm einen vorwurfvollen Blick zu. Die Hufe ihrer braunen, wuscheligen Reittiere klapperten hinter ihnen her. Die Zwerge wurden von manchen Menschen neugierig angesehen, doch nicht allzu groß beachtet. An diesem Morgen schien ganz Dale auf den Beinen zu sein, um an dem Aufbau ihrer Stadt, deren Erhalt sie sich hart erkämpft hatten, weiterzuarbeiten. Überall hörte man reges Treiben, Hämmern und Meißeln.

,,Es hat sich schon einiges getan.“

Fili musste ihm recht geben, als sie die Straßen entlang sahen, in denen die Menschen trotz des Winters unermüdlich die Spuren eines Krieges verblassen ließen. Einfache Handwagen rollten an ihnen vorbei, auf denen Schutt und Steinbrocken geladen wurden. Männer hatten eine Schlange gebildet und reichten Steine weiter, um Häuserwände und Mauern wieder aufzuschichten.

,,Wir latschen schon seit einer gefühlten Stunde durch jede Gasse.“ Kili verdrehte die Augen, als sein Bruder immer noch nicht locker ließ. Er hätte nie zulassen dürfen, dass er ihn begleitete.

,,Gib doch endlich zu, dass du sie suchst. Mir kannst du nichts vormachen. Du hast die ganze Zeit schon diesen dümmlichen Gesichtsausdruck drauf.“

,,Was faselst du da?“

,,Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass du von der Sohle bis zum Scheitel in die Elbe ver…“

Mit blinzenden Augen wirbelte Kili herum. ,,Bin ich nicht! Und jetzt halt deinen Mund, ehe ich ihn dir stopfe.“

Abwehrend hob er die Hände und sein Bruder setzte mürrisch den Weg fort. Für Fili jedenfalls war seine Reaktion eindeutig… ,,Warum fragst du nicht einfach nach dem Weg?“

,,Pff…“

,,Dann hätten wir sie schon längst gefunden“, unbeeindruckt redete Fili weiter, ,,und müssten nicht bei der Kälte durch die ganze Stadt latschen.“ Er raffte seinen Mantelkragen enger. Wie zur Bestätigung schüttelte sich auch sein fuchsfarbendes Pony, um die Kälte aus dem Pelz zu bekommen.

Weil Kili sein Genörgel so langsam nicht mehr hören konnte, gab er nach. ,,Na schön, vielleicht hast du recht. Ich kenne da jemanden, der Thorin helfen kann.“ Im nächsten Moment bereute er es schon, denn er wurde unsanft am Mantel gepackt und gegen die nächste Hauswand gedrückt.

,,Also doch! Kili, denk nicht mal dran! Weißt du, was du damit anrichten kannst? Was das bedeutet, gerade jetzt in diesen Zeiten? Was würde man sagen, wenn wir mit ihr so mir nichts, dir nichts in Erebor auflaufen würden?“

Wütend über seinen Starrsinn schlug Kili seine Hand beiseite und befreite sich von ihm. Natürlich wusste er, dass ihr Volk immer noch als Feind galt, aber diese alte Fehde hatte für ihn keine Bedeutung mehr. ,,Es ist mir egal, was andere sagen. Es geht hier um unseren Onkel. Er fiebert immer noch, kann kaum etwas vor Schmerzen zu sich nehmen.“ Ihre Atemwolken prallten ineinander, während er seinem Bruder fest in die Augen sah. ,,Fili, ich bitte dich. Du warst dabei, als sie mir geholfen hat. Du weißt genauso wie ich, dass sie ihm helfen kann. Vielleicht ist sie seine einzige Hoffnung.“

Man sah ihm an, dass er mit dem Vorhaben keinesfalls einverstanden war. Doch Fili musste sich eingestehen, dass Kili Recht hatte. Viel mehr blieb ihnen auch nicht übrig.

Thorins Zustand hatte sich über Nacht nicht sonderlich verbessert. Weder die Tränke von Oin, noch Schlafzauber von Gandalf wären auf Dauer eine Lösung. Und dann gab es ja noch diesen Fluch…

,,Meinetwegen“, knurrte er. ,,Aber wehe, ich hätte dich nicht gewarnt!“

,,Danke“, sagte Kili erleichtert.

Dies wäre schon einmal geschafft. Jetzt bräuchte er nur noch einen von der elbischen Heilkraft zu überzeugen. Und sollte ihm das gelingen, grenzte es an eine echte Meisterleistung…

Statt einer Antwort gab sein großer Bruder bloß einen brummenden Laut von sich, drückte ihm die Zügel seines Ponys in die Hand, dessen er überdrüssig geworden schien, und stapfte los. Mit einem triumphierenden Grinsen folgte ihm Kili, was jedoch plötzlich wich, als sein Bruder auf dem Hosenboden landete und die fremde Person, mit der er zusammengestoßen war, über ihn fiel. Von der Plötzlichkeit wieherten die Tiere unruhig auf. ,,Ist doch gut, alles gut“, beschwichtigte Kili sie und schaute nach seinem Begleiter. ,,Alles in Ordnung?“

Etwas benommen stemmte sich Fili hoch und sah auf das Mädchen, was bäuchlings über seinem Schoß lag. ,,Sigrid?“

Verwundert hob sie den Kopf und sah ihm ins Gesicht. ,,Du??“

Das peinliche Schweigen wurde beendet, indem sie sich eilig aufrappelte und dankend die Hand von Kili nahm, der ihr hoch half. ,,Verzeih mir“, stammelte sie, ,,ich war in Gedanken und achtete nicht auf meinen Weg.“ Sie unternahm einen Versuch ihre dunkelblonden Strähnen zu ordnen, die sich aus ihrer Steckfrisur gelöst hatten. ,,Tut mir wirklich leid“, beteuerte sie und machte sich daran, die Äste aufzusammeln, die sie fallen gelassen hatte.

,,Warte, lass mich das machen“, kam ihr Fili zuvor.

Noch ehe sie ihm danken konnte, wurde ein Ruf lauter: ,,Sigrid, wo bleibst du denn?“

,,Ich bin hier!“

Einen Moment später erschien Tilda neben ihr. ,,Oh, ihr seid das!“ Die Kleine grinste breit, als sie die Zwerge erkannte. ,,Ich bin froh, euch wiederzusehen.“

,,Es freut uns auch, euch zu sehen“, gab Kili zurück, während Fili mit dem Holz in der Armbeuge aufstand.

,,Was macht ihr hier in Dale?“

,,Wir suchen eine Krankenstube oder so etwas in der Art. Ich nehme an, dort finde ich jemanden.“

,,Wieso habt ihr nicht nach dem Weg gefragt?“

Fili musste sich ein Glucksen verkneifen, während sein Bruder mit sauertöpfischer Miene dreinschaute.

,,Wen sucht ihr?“, fragte Sigrid.

,,Tauriel, die Elbe aus dem Grünwald, die sich um meinen Bruder gekümmert hat. Wisst ihr, wo sie ist?“

,,Natürlich!“, antwortete Tilda an ihrer Stelle. ,,Sie hat sich hier um die Verletzten gekümmert. Drüben in der großen Halle am alten Markt. Wir können sie doch zu ihr bringen, oder Sigrid?“

,,Von mir aus gern.“

,,Hier entlang!“ Tilda lief schon mal vor. Angeführt von dem Mädchen sie durch die Stadt, Kili hinter ihnen her, der die Ponys im Schlepptau hatte.

Aus dem Augenwinkel sah Fili, wie die junge Frau schweigsam neben ihm her ging. Aus Anstand hielt er das Beste, ein Gespräch mit ihr zu beginnen. ,,Wie ist es euch hier ergangen?“

,,Der Krieg hat viele Opfer gefordert. Wie soll es uns schon ergangen sein?“

,,Ich verstehe“, murmelte er leise.

,,Armut, Drachenfeuer, Krieg… Und trotzdem sind wir noch hier und haben nun die Chance, Dale zu unserem Heim machen. Ist das nicht irgendwie…verrückt? Du musst wissen, nach dem Angriff des Drachen vor einigen Jahren ging es Esgaroth von Winter zu Winter immer schlechter, weil kein Händler unsere Stadt mehr ansteuerte. Der Bürgermeister hat mit den Soldaten und Alfred unter einer Decke gesteckt und das beste Essen und die Steuereinnahmen für sich gehortet. Wir haben nur überlebt, weil wir einfachen Leute zusammengehalten haben. So haben wir es im Krieg getan und so werden wir es auch durch diesen Winter schaffen. Du siehst, wir sind so einiges gewöhnt.“

Er wusste nicht wieso, aber plötzlich breitete sich ein Gefühl der Bewunderung für dieses Mädchen in ihm aus. Fili hatte sie bloß als zickige Göre in Erinnerung gehabt. Mit ihrer Erzählung warf sie alles über den Haufen, was er von ihr gehalten hatte.

,,Ehe ich´s vergesse: bitte richte unseren Dank für die Lebensmittel und die Decken, die wir bekommen haben, aus. Man sagt, dass euer Freund, der Hobbit, sie für uns erbeten hat. Wir schätzen diese Geste sehr. Es war mehr als wir uns vorgestellt hatten.“

,,Das werde ich tun“, versprach Fili. ,,Bilbo wird sich freuen, dies zu hören.“

,,Wie geht es eurem König?“, fragte sie dann, wohl die Lust am Reden gefunden. ,,Wir hörten, dass er schwer verletzt sei und ihr um sein Leben bangt. Schaut, da sind wir auch schon.“ Ihre kleine Gruppe stoppte vor einem großen Gebäude, was an einem belebten Platz lag.

,,Das stimmt leider. Aber unser Onkel ist auf dem Weg der Besserung.“

,,Das ist schön zu… Moment. Sagtest du Onkel?“

,,Ja, wieso?“

Ihr Gesicht ähnelte auf einmal einer kalkweißen Wand. ,,Dann seid ihr beiden…adelig?“

,,Als Erbprinzen wollen wir das wohl meinen“, meinte Kili amüsiert von hinten.

,,Du bist was? Prinz?!“

Fili hatte fast Mitleid mit dem Mädchen, das kurz vor einem Schock zu stehen schien und konnte sich sein Grinsen nicht verkneifen. Ihr Blick sah einfach zu göttlich aus. Und als wäre dies noch nicht genüg, hüstelte Kili aus der zweiten Reihe ,,Kronprinz“ in die Faust, was sie sich die Hände vor dem Mund schlagen ließ.

,,Und ich hab einfach so… Ich - ich wusste wirklich nicht, dass Ihr der Kronprinz seid! Verzeiht mir. Ich hab dich - Euch…“

,,Keine Sorge, ich muss mich auch erst an mein blaues Blut wieder gewöhnen.“

,,Ich werde dann mal reingehen, ehe wir hier festfrieren.“ Kili reichte Tilda die Zügel und sprang förmlich die Stufen zu dem großen Portal hinauf, durch das er verschwand.

Mit roten Wangen nestelte Sigrid an ihrem Schultertuch herum, als Tilda ein Stück näher kam und an ihrem Ärmel zupfte. Als ihre Schwester ihr etwas mitteilen wollte, beugte sich Sigrid zu ihr herunter. ,,Wenn er ein Prinz ist,“, wisperte Tilda ihr ins Ohr, ,,darfst du dann überhaupt noch mit ihm spazieren gehen?“

,,Sei nicht albern, Tilda. Ich werde nicht mit ihm spazieren gehen“, raunte sie so leise zurück, damit der Zwerg nichts davon mitbekam.

,,Aber…“

,,Ich sagte, ich wird´s mir überlegen. Das ist ja wohl ein Unterschied.“

,,Er ist doch ganz nett.“

,,Tilda, hör auf jetzt.“ Ehe Sigrid sich entschuldigen konnte, kam Kili zusammen mit Tauriel bereits die Stufen hinab und signalisierte den Aufbruch.

,,Tauriel.“ Sein Bruder grüßte die Elbe mit einem distanzierteren Nicken, welches sie respektvoll erwiderte.

,,Ich grüße Euch. Wir können sofort aufbrechen.“

,,Gut. Nun, ich glaube, das gehört Euch.“ Er reichte Sigrid das Holz zurück. ,,Danke für die Begleitung.“

,,Haben wir gern gemacht, nicht wahr, Tilda?“

,,Ich dürft uns gern nochmal besuchen kommen, Eure Hoheit. Nur wenn ihr wollt, natürlich.“

,,Wir werden uns in Zukunft bestimmt noch öfters sehen. Auf Wiedersehen, Tilda. Hat mich gefreut.“ Er nickte ihrer Schwester zu. ,,Sigrid.“

,,Eure Hoheit.“

Fili nahm seinen Fuchs entgehen und schlug mit seinem Bruder und der Elbe den Weg nach Erebor ein.

,,Also. Wie wollen wir das Ganze jetzt anstellen, Bruderherz? Ihr die Ohren abschneiden und sie als Mensch verkaufen?“

,,Halt die Klappe, Fili. Überlass alles ruhig mir, ich hab doch schon längst eine Idee.“

 

~

 

,,Herein“, keuchte Thorin, als es an der Tür geklopft hatte. ,,Fili, Kili, wo wart ihr den Morgen?“, richtete er die Frage an seine Jungs, die ins Zimmer traten. ,,Balin sagte, dass ihr auf einmal wie vom Erdboden verschluckt wart.“

,,Tut uns leid, falls du dir Sorgen gemacht hast. Wir waren ausgeritten, mal raus aus dem Berg.“ Fili kam näher, um wie jeden Tag seine Stirn zu befühlen. ,,Wie fühlst du dich?“

,,Beschissen trifft es nicht mal annähernd.“ Sein ganzer Körper ähnelte immer noch einem Schmelzofen. Das Fieber strengte seinen Körper zusätzlich an. Wenn es still im Raum war, konnte er seinen rasselnden Atem hören. Es gab für ihn nichts als dazuliegen und genau das zermürbte ihn.

Als Thorin den Blick sah, den Fili seinem Bruder zuwarf, verengte er die Augen. Er kannte sie lange genug, um zu wissen, dass sie etwas angestellt hatten. Es reichte, dass er das Kinn auf die Brust senkte und einen ernsten Blick auf sie richtete, um sie zum Reden zu bringen. Während Fili langsam einen strategischen Rückzug machte, trat Kili näher und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, zertrat mit seinem Stiefel einen imaginären Fleck auf dem Steinboden.

,,Bevor ich es dir erklären kann, bitte ich dich, Onkel, mir zu versprechen, dass du nicht allzu wütend auf mich bist.“

,,Ach, Kili, egal, was es ist, ich werde dir schon nicht den Kopf abreißen.“

,,Da wäre ich mir nicht so sicher…“

Fragend sah Thorin ihn an und spürte, dass weit mehr dahinter stecken musste als ein Ungeschick von ihm. Ein ungutes Gefühl nistete sich in seiner Brust ein und ließ ihn aufmerksamer werden. Die Hände in die Matratze gestemmt setzte er sich auf. ,,Was hast du angestellt?“

,,Bitte, bleib ruhig. Das tut dir nicht gut, wenn du dich aufregst. Hier ist jemand, der dir helfen kann. Aber bitte“, sein Neffe hob die Hände, als könnte er prompt aus dem Bett steigen, ,,rege dich nicht auf und sei nicht allzu wüten auf mich.“

,,Was soll diese Geheimniskrämerei? Sag mir endlich, wovon du redest, Junge.“

Kili presste die Lippen zu einem dünnen Strich aufeinander, trat zur Seite und ließ mit einem Seitenblick jemanden den Raum betreten. Als Thorin die Elbe sah, wich auch die letzte Farbe aus seinem Gesicht. Fassungslos weiteten sich seine Pupillen.

Seine mahlenden Kiefer gaben als einzige den Sturm in ihm Preis, der sich langsam in seinem Inneren aufbaute und mit aller Gewalt versuchte, aus ihm heraus zu brechen. Seine Neffen standen hinter der Elbe, die in diesem Moment als lebendiger Schutzschild fungierte, und warteten mit knirschenden Zähnen auf das unvermeidliche Donnerwetter.

,,Kili. Ich frage es nur ein einziges Mal.“ Noch war seine Stimme gefährlich ruhig, das unterdrückte Beben jedoch deutlich zu hören. ,,Was hat das…zu bedeuten?“

,,Also, das…das kann ich erklären.“

,,Ich bestehe darauf. Jetzt. Sofort!“

,,Das ist Tauriel.“

,,Eure Hoheit.“ Unter seinen funkelnden Augen machte die Elbe eine tiefe Verbeugung vor ihm.

,,Es ist mir scheißegal, wer sie ist! Sie soll verschwinden!“

Bei Durin, hatte dieser Junge plötzlich den Verstand verloren? Wie kam er dazu bei aller Welt eine Elbe nach Erebor zu bringen? Wie nur? Wie nur??!

,,Eines steht fest“, knurrte er, ,,wenn ich wieder meiner alten Kräfte fähig bin, ist das Erste, was ich tue, die Wachen am Tor eigenhändig zu erwürgen, die dieser Frau Einlass gewährt haben.“

,,Bitte, Onkel.“ Zornerfüllt sah er seinen Neffen an, der ihn wiederum flehend ansah. Wenn er glaubte, damit durchzukommen, dann hatte er sich aber gewaltig geschnitten!

,,Leg deinen Stolz ab. Tauriel kann dir Linderung verschaffen. Sie kann dir helfen. Das schwöre ich dir.“

,,Bitte was? Das soll wohl ein Scherz sein! Ahrr!“ Er rieb sich das Bein, ein Versuch, dem Schmerz irgendwie entgegenzuwirken. Ausgerechnet jetzt bereitete ihm sein Fuß arge Schmerzen. Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen und nicht doch noch aus dem Bett zu steigen, um ihn am Kragen hochzuheben und solange zu schütteln, bis er wieder klar im Kopf war. ,,Schafft mir endlich diese Elbe aus den Augen!“

Trotz seiner donnernden Stimme verschränkte Kili stur die Arme und bewegte sich kein Stück. ,,Nein, das werde ich nicht.“

Thorins graue Augen taxierten ihn lange und eindringlich. ,,Willst du mich wirklich so demütigen, Kili?“, knurrte sein Onkel dunkel und wandte das Gesicht ab. Alles war besser, als diese Frau dort stehen zu sehen. ,,Hast du vergessen, wie sie unser Volk in unserer größten Not im Stich gelassen haben? Kaltblütig. Ohne Mitgefühl. Hast du das alles vergessen?“

,,Onkel“, seufzte der junge Prinz und setzte sich neben ihm, ,,jetzt hörst du mir mal zu. Thranduils Entscheidung vor vielen Jahren war nicht die edelste, das weiß auch ich. Aber Tauriel möchte dir aus freien Stücken helfen. Die Zeiten haben sich geändert. Sie und Legolas, Thranduils Sohn, haben uns im Krieg geholfen. Hast du das vergessen?“

Das Bild eines blonden Elben, der wie vom Himmel gefallen auf dem Turm am Rabenberg stand und herannahende Orks neiderschoss, wurde neu in seinem Kopf erschaffen.

Der Blonde mit den Kristallaugen. Er war Thranduils Sohn und Thorin hätte sich ohrfeigen gekonnt, dass er diese frappierende Ähnlichkeit nicht gesehen hatte. Er hätte ihn schon längst töten können…

Auch wenn diese Elbe ihm, wie Kili sagte, nicht schaden wollte, so konnte er nicht vergessen, was damals vor Erebors Toren geschah. Würde es nie können.

,,Der Pfeil, mit dem ich an der Flussschleuse angeschossen wurde, war mit Morgul vergiftet gewesen.“

Widerwillig blickte Thorin seinen Neffen an, bedeckte ihn jedoch mit seinem finstersten Blick, um ihm klar und deutlich seine Meinung über sein irrsinniges Vorhaben dazulegen.

,,Tauriel und Legolas waren Bolg und seiner Meute nach Seestadt gefolgt und waren uns im Kampf zur Hilfe geeilt. Sie war es, die mir geholfen hat. Sie hat mir das Leben gerettet! Das musst du einsehen…“

,,Morgul?“ Sein Neffe nickte nur. Thorin kannte dieses Gift, was das Blut binnen Stunden vergiftet konnte. Es war schleppend und absolut tödlich. Wie hatte diese Elbe es geschafft, wenn es doch kein Heilmittel gab? Der schwarzhaarige Zwerg schluckte hart und musste sein Ehrgefühl und seinen Zorn mit aller Macht beiseiteschieben. ,,Ist das wahr?“, richtete er das Wort nun an die Fremde, die ihm bekannt vorkam. Er überlegte, wo er sie schon mal gesehen hatte, und kam zu der Entscheidung, dass sie eine derer gewesen sein musste, die sie damals im Düsterwald gefangen genommen hatten.

,,Ja, Mylord. Euer Neffe sprach die Wahrheit.“

Für einen Moment schloss der Zwergenkönig die Augen und rieb sich die Nasenwurzel.

Sekunden vergingen, wurden zu gefühlten Minuten. Thorin blieb still und brachte die Jungs an den Rand ihrer Geduld.

,,Hab ich eine Wahl?“

,,Nein“, kam die schlichte Antwort.

Thorin stieß den Atem aus und konnte selbst kaum glauben, dass die Worte über seine eigene Zunge kamen. ,,Na schön.“

Die Brüder tauschten einen euphorischen sowie überraschten Blick, doch ihr Onkel hob die Hand um jegliche Gefühlsausbrüche Einhalt zu gebieten. ,,Ich hoffe für dich, Kili, dass sie mir keine Gelegenheit gibt, meine Entscheidung zu bereuen.“

,,Nein, Onkel. Das versprechen wir dir.“

,,Das hoffe ich für euch.“ Er schoss die Augen und legte sich die Hand auf die Seite, die wieder zu pochen begann.

,,Mylord, dürft ich mir Eure Verletzung ansehen?“, fragte Tauriel mit ruhiger Stimme, als würde der impulsive Zwerg sie völlig kalt lassen.

Thorins rechtes Auge öffnete sich und musterte sie von Kopf bis Fuß. ,,Wenn‘s sein muss.“

Sie neigte den Kopf, drehte sich dann zu den Jungs um. ,,Würdet ihr uns bitte allein lassen?“

Er fühlte regelrecht, wie sie unsicher in seine Richtung spähten. Sie dachten wohl, die Elbe wäre lebensmüde. Wenn er Herr seiner alten Kräfte wäre, hätte er es sich überlegt, doch in seinem jetzigen Zustand war er nicht einmal in der Lage aufzustehen, geschweige denn jemanden aus dem Weg zu schaffen.

,,Jetzt verschwindet schon“, murmelte Thorin und gab sich der unvorhergesehenen Fügung hin. ,,Wenn ich nachher tot hier liege, wisst ihr ja wenigstens, wer es war und könnt mich rächen.“

,,Bitte keinen Galgenhumor, Onkel. Nicht in deinem Zustand. Wir machen das, um dir zu helfen. Nicht, um dir schaden zu wollen.“

Thorin sah Kili an, die Sorge in seinem Gesicht und tätschelte lediglich seine Hand. Sein Neffe schenkte ihm ein kleines Lächeln, ehe er aufstand und mit seinem Bruder, der Tauriel noch einen Beutel übergab, auf den Flur hinaus trat, um dort zu warten.

Die Elbe schloss hinter ihnen die Tür, legte ihr Bündel auf dem Nachtisch ab und knöpfte es auf. Verschiedene Tiegeldosen und Fläschchen kamen zum Vorschein. Unweigerlich erinnerte dieses Bild ihn an Marie und er fragte sich, ob sie ähnlich viel wie sein Mädchen über Heilkunde wusste.

,,Wie habt Ihr es geschafft, ein Gift wie Morgul zu heilen?“

Als sie ums Bett herum hing, verfolgte er jeden ihrer Schritte. ,,Atvelas. Im volkstümlichen Mund auch Königskraut genannt. Zusammen mit den Heilsprüchen meines Volkes löst es das Gift auf und verschließt die Wunde schnell.“

Heilsprüche. Thorin verdrehte die Augen. Irgendein elbischer Hokuspokus wohl eher. Geradezu vorsichtig fasste sie nach den Decken und schlug sie Stück für Stück tiefer, um sich die Wunde anzusehen, von der man sie anscheinend unterrichtet hatte. Der Krieger zog eine Augenbraue in die Höhe und fragte sich, wie weit sie dies noch bedachte zu tun, ehe sie…

,,Oh.“ Jetzt hatte sie es gemerkt und Thorin konnte nicht anders, als anzüglich zu schmunzeln. Eilig schlug sie die Decke wieder über seine Lenden und räusperte sich. ,,Verzeiht mir.“

In die Kissen zurückgelehnt ließ er die Frau den Verband abwickeln und schloss die Augen. Als sie seinen Bauch abtastete, hielt er sie weiterhin geschlossen. Thorin wollte keinen Blick auf seinen Körper werfen. Er war noch nicht bereit dazu.

Wenn sie seine Seite berührte, fühlten sich ihre Finger kalt im Gegensatz zu seiner Haut an. Das Fieber wütete immer noch in ihm und es tat gut, nur halb zugedeckt zu sein und frische Luft an seinen Körper bekommen zu dürfen. Wenn er ganz still hielt, schmerzte seine Seite und sein Fuß nicht so sehr, also tat er sein Bestes, sich nicht zu bewegen.

Während sie seine Rippen abtastete, er schildern musste, wie es sich anfühlte, wenn sie hier und dort drückte, zermarterte Thorin sich das Gehirn, was Kili mit dieser Elbe zu schaffen hatte.

,,Wieso habt Ihr meinem Neffen das Leben gerettet?“ Für einen Moment hielt sie inne und Thorin ahnte, dass sie den Blick zu ihm gehoben haben musste. ,,Ihr hättet ihn auch einfach sterben lassen können. Was kümmerte Euch ein fremder Zwerg?“

,,Weil ich ihn nicht sterben sehen wollte“, antwortete sie und er hörte, wie sie hinüber zu ihren Sachen ging. ,,Genügt Euch das als Antwort, Eure Hoheit?“

Kurz schielte er in die Richtung, um sich dem auch zu vergewissern. Dann schloss er wieder die Augen. ,,Vorerst.“

,,Ich habe hier eine Salbe, die ins Fleisch einziehen wird. Sie ist schmerzlindernd.“ Die Elbe setzte sich auf die Bettkante, wahrscheinlich um sich nicht so tief vorzubeugen müssen, und fing an, die Paste auf seinen Rippenbögen zu verteilen.

,,Seid Ihr eine Heilerin?“

,,Mein Wissen über die Heilkunst beschränkt sich sehr. Das, was ich weiß, habe ich mir selber beigebracht. Nein, ich befehligte nur die Wachen im Waldlandreich.“

,,Befehligte?“

,,Ich bin in Ungnade unseres Königs gefallen.“ Sie deckte ihn wieder zu und Thorin öffnete die Augen. Nun brachte sie ihre Aufmerksamkeit seinem Fuß entgegen, den sie behutsam anhob und begann, den Verband abzuwickeln.

Soso. In Ungnade. Zu gerne würde er wissen, was sie getan hatte, um Thranduil zu erzürnen. Vielleicht wüsste ja Kili mehr darüber…

,,Könnt ihr die Zehen bewegen?“, fragte sie und lenkte damit seine Gedanken wieder dem nervenaufreibenden Prozedere hier zu.

 

Sie öffnete die Tür und zwei Haarschöpfe in blond und braun spähten über den Rahmen, so als hätten sie ein Blutbad erwartet. Schön wär’s, grummelte Thorin, als er das sah, in sich hinein und bedauerte dies zutiefst.

,,Und?“, fragte Fili vorsichtig, als sie sich trauten, einzutreten.

,,Er muss sich weiterhin schonen.“ Die Elbe mit dem Namen Tauriel packte ihre Sachen zurück in das Bündel und knotete es zu. ,,Das Mittel zu Fiebersenkung, was ich ihm gegeben habe, wird sicherlich angeschlagen. In zwei Tagen wird es ganz verschwunden sein. Er sollte viel Essen und noch mehr trinken. Die große Wunde sieht schon gut aus. Die Wundränder sind zu und wässern nicht. Der Fuß allerdings muss noch weiterhin ruhig gestellt werden. Die Knochen brauchen Zeit zum Heilen.“

,,Sonst noch etwas?“

,,Ja. Ein Bad wäre nicht unangebracht.“

Thorin schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. Und so etwas musste er sich auch noch gefallen lassen!

,,Darf sie bleiben?“

Blinzelnd drehte er den Kopf zu Kili empor, der plötzlich neben ihm stand. Dieser sah ihn mit seinen braunen Augen an, als wäre diese Frau ein verlaustes, niedliches Haustier, was er irgendwo auf der Straße aufgegriffen, nach Hause geschleppt hatte und nun behalten wollte. ,,Ich glaub, ich hör‘ nicht richtig.“

,,Sie bleibt an meiner Seite!“, beteuerte er sofort. Offenbar hatte er seine Argumente sich im Vorfeld bereits zurechtgelegt. ,,Es wird keinen Ärger geben. Sie wird unter meiner alleinigen Obhut und Verantwortung stehen.“

Er meinte es tatsächlich ernst. Thorin grummelte in seinen Bart hinein und zeigte schließlich mit dem Finger auf sein bettelndes Gesicht. ,,Ich will sie nicht in Erebor herumschnüffeln sehen. Sie wird in deinen vier Wänden bleiben und du lässt sie nicht aus den Augen.“

,,Danke, Onkel!“

Tauriel neben ihm fiel in einen Knicks. ,,Mylord, ich stehe in Euren Diensten.“

Nein, sie stand eindeutig zu nah bei seinem Jungen… Mit einer unwirschen Handbewegung Richtung Tür schickte er sie fort. ,,Und jetzt geht mir aus den Augen.“

Die Jungs wirkten zufrieden und erleichtert, als sie ihm den Rücken kehrten und die Elbe mit sich nahmen.

Als alle verschwunden waren, blickte Thorin an die Decke des Raumes und schloss mit hämmerndem Kopf die Augen, um sich selbst zur Ruhe zu bewegen. Doch an sowas war nicht mehr zu denken. Knurrend nahm er ein Kissen und drückte es sich ins Gesicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

8

 

 

Auf dem Gemälde war ein Schreibtisch zusehen, dahinter auf einem Stuhl ein Zwerg mit schwarzem Haar, der gerade von einer Schreibarbeit aufsah. So wirkte es. Der Moment eingefangen in einem Bild.

Seine Stirn war tätowiert, was sie faszinierte und näher heran treten ließ. Er besaß einen eher autoritären Gesichtsausdruck. Dafür saßen vor ihm zwei kleine Jungen, die den eher verschlossene Gesichtsausdruck des erwachsenen Mannes mit dem schelmische Grinsen des Jüngsten hundertmal wett machten. Es mussten Vater und Söhne sein. Alle hielten Federkiele und Papier in den Händen, so als hätten sie aufmerksam ihrem Vater zugehört und lernbegierig alles in sich aufgesogen.

Tauriel war fasziniert. Schon jetzt und von allem. Alles war so neu. Fremdartig. Eigentlich, so dachte sie, müsste sie sich unwohl fühlen es. Doch ihre Neugierde war viel stärker.

Jedes Gemälde, was hier auf dem Flur hing, zeigte Mitglieder der königlichen Familie. Neben ihr stand Kili und erzählte etwas über die abgebildeten Personen, die alle von Hofmalern portraitiert worden wären. Tauriel lächelte und atmete tief ein. Sogar die Gerüche waren hier anders.

Sie war erleichtert. Zum einen, weil der König ihren Aufenthalt für eine unbestimmte Zeit erlaubt hatte. Zum anderen, weil sie so legitim in der Nähe des jungen Prinzen sein konnte. Er hatte die Verantwortung für sie übernommen und sie gab sich nur allzu gern dessen hin. In Kilis Nähe fühlte sie sich geborgen. Er sah sie nicht als Eindringling, wie jeder es wohl hier tun würde, wenn man von ihr wüsste, doch sie verurteilte die Zwerge Erebors nicht dafür. Nur allzu gut verstand sie sie und ihre Reaktionen.

Als Kili und sein Bruder sie durch die Eingangshallen, tiefer in die Stadt hinein geführt hatten, hatte die Elbe mit offenem Mund die Bauten und deren Größe unter dem Berge bewundert. Erebor war atemberaubend. Tauriel hatte sehr bedauert, dass sie zukünftig in einem Zimmer bleiben sollte, gern hätte sie sich von Kili die Stadt zeigen lassen. Vielleicht gäbe es irgendwann doch noch Gelegenheit dazu, wenn der König ihr mehr vertraute.

Die Faszination für das fremde Volk und deren Kultur kribbelte bis in ihre Fingerspitzen hinein, während sie Kilis Erklärungen lauschte und ihm zum nächsten Gemälde folgte, neugierig auf die Welt, die sie hier umfing. So vieles gab es noch zu sehen und zu verstehen.

,,Jungs! Steht da nicht rum und starrt Löcher in die Wände, wenn das Essen auf dem Tisch steht.“ Sie hatten die Personen nicht gehört, die sich ihnen näherten, und erst der spitze Schrei ließ die Brüder und Tauriel herumwirbeln.

Mit über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen stand Wilar auf dem Flur, neben ihr Bruna, die in diesem Moment dabei war, ganz Erebor zusammen zu schreien. Hysterisch zeigte die rundliche Frau mit dem Finger auf Tauriel. ,,EINE ELBE?!!“ Zwischen den aufgelösten Frauen drängte sich Nori hindurch, zückte einen Dolch von seinem Gürtel und wollte bereits auf genau diese losgehen.

,,Nein, Nori - Nori, warte! Es ist nicht so, wie ihr denkt!“ Kili stellte sich ihm in den Weg, doch da wehten rote Haare an ihm vorbei.

Tauriel packte den vorgestreckten Arm und drehte sich. Einen Wimperschlag später hatte sie Noris Arm auf dessen Rücken festgenagelt. Die Waffe fiel aus seinen Händen und landete auf dem Teppichboden. Ehe er sich versah, war der Krieger mit verdrehtem Arm an die nächste Wand gedrückt. ,,Ahh! Was zum…?“

Blitzschnell klaubte Kili die Waffe auf, damit niemand mehr auf eine ähnliche Idee kam. Mit erhobenen Händen stellte er sich zwischen die Parteien und besonders vor Ninak, die aussah, als würde sie jeden Moment in tausend Teile explodieren. ,,Wir können das alles erklären!“

,,Ach ja?“, spie Ninak ihm zurück. Ihre geballten Fäuste bebten und erinnerten ihn sehr an Thorin. Noch einmal so etwas ausstehen, brauchte er nun wirklich nicht.

,,Tante Wilar“, Fili näherte sich der alten Dame und Kili tat es in der Seele weh, ihre Tante so aufgeregt zu haben. Dass das so kommen sollte, hatte er nun wirklich nicht beabsichtigt.

,,Bitte, beruhige dich. Es ist alles in Ordnung. Wirklich.“

,,Fili...“ Erbost stemmte Ninak die Hände in die Hüften, die als einzige Frau, die er kannte, fast immer nur Hosen trug.

Bewusst, dass er für alles grade stehen musste, antwortete Kili für ihn. .,,Thorin hat es erlaubt!“

,,Verarschen kann ich mich selber, Junge. Und jetzt tritt beiseite, damit ich diesem Spitzohr für ihre Dreistigkeit einen Arschtritt verpassen kann, der sie dahin zurückbefördert, wo sie hingehört!“

,,Nein, ehrlich! Rede mit ihm, wenn du mir nicht glaubst. Und hör auf, sie zu beleidigen.“

,,Darauf kannst du dich verlassen“, grummelte sie nur und erdolchte die Elbe mit funkelnden Eissplittern, die sie in ihre Richtung schickte.

Kili warf seinem Bruder einen hilfesuchenden Blick zu. Sanft harkte Fili Wilar und Bruna, Bomburs Gattin, bei sich ein und führte die Frauen in Richtung Speisesaal. ,,Am besten wir erklären euch alles bei Tisch.“

Die ältere Dame tupfte sich mit ihrer Schürze übers Gesicht. ,,Ich bitte darum...“

,,Verzeiht mir“, sagte Tauriel zu dem Zwerg in ihrem Griff, den sie langsam wieder losließ, ,,Ihr ließet mir keine andere Wahl.“

Kili reichte Nori den Dolch zurück, den er ihm förmlich aus den Händen riss. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, drehte er sich um und stapfte seine Kleidung richtend den Flur hinab.

,,Alle Achtung, Junge. Bin gespannt, wie du das wieder gradebiegen willst.“

,,Das werde ich.“

Eine Augenbraue in die Höhe gezogen warf Ninak einen letzten Blick auf ihn und die Elbe, ehe sie den anderen kopfschüttelnd folgte. Er sah ihr nach, bis sie um die nächste Ecke gebogen war, dann packte er Tauriels Hand und zog sie mit sich. Nur weg von hier.

An seinem Gemach angekommen, stieß er die Tür auf und schob sie hinein. ,,Bitte, blieb hier“, bat er, als sie zwischen Tür und Angel standen, ,,es ist, glaube ich, besser, wenn du gar nicht erst den Flur betrittst. Tut mir leid, ich wollte dir bloß die Gemälde zeigen...“

,,Das muss dir nicht leidtun.“ Tauriel schien sich aus diesem unvermeidlichen Zusammenstoß nichts weiter zu machen. ,,Ich verstehe die Reaktion deiner Familie.“

Seufzend legte Kili die Stirn in Falten. Er hätte damit rechnen müssen, dass sie erwischt werden können. Dass sie am Tor nicht aufgehalten worden waren, hatte er nur seines Standes zu verdanken und Tauriels dreckigem Mantel, dessen Kapuze groß genug war, um ihren Kopf ausreichend zu verdecken.

Kili nickte abwesend, sah auf ihre Hand, die er immer noch hielt und könnte so noch eine ganze Zeit hier stehen bleiben und sie betrachten. Es war, als hielt er einen geheimen, ganz persönlichen Schatz in den Händen, der nun leider aufgeflogen war.

,,Ich werde dann hier warten.“

Er sah zu ihr auf und realisierte, dass sie immer noch hier standen. ,,Oh“, er ließ sie los und trat einen Schritt zurück, ,,ja. Ich sollte jetzt auch gehen. Bis später dann.“ Kili wollte sich gerade umdrehen, als Tauriel ihn am Ärmel zurück hielt. Überrascht sah er in ihre braunen Augen, die unergründlich leuchteten.

,,Kili, ich…“ Sie befeuchtete die Lippen, noch stumme Worte an ihnen klebend. Seltsam begann es in seinem Bauch zu kribbeln, während er zwischen ihren Augen und ihren Lippen auf und nieder sah, wartend, dass sie weitersprach. ,,Ich wollte nur…“

,,Ja?“ Die Sekunden hingen wie zäher Honig zusammen.

,,Mich bedanken, dass ich hier sein darf.“

Er fiel abrupt aus den Wolken, wie ein Vogel, der es gewagt hatte, zu hoch zu fliegen. ,,Gern“, antwortete er stumpfsinniger Weise. Was Besseres fiel ihm nicht ein.

,,Ich bringe dir etwas zu Essen mit“, sagte er noch wie von selbst, hoffte, dass sie nichts von dem mitbekam, was sie in seinem Körper durcheinander gebracht hatte. Auf ihrem Mund legte sich der gleiche niedergeschlagene Ausdruck und er fragte sich, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Doch das, so befürchtete er, würde er vielleicht niemals mehr erfahren. Was hatte er auch erwartet?

,,Danke“, erwiderte sie noch, ehe sie die Klinke fasste und die Tür und gleichzeitig ein Stück von sich selbst vor ihm verschloss.

 

Den Kopf nah ans Holz gehalten hörte sie, wie seine Stiefeltritte sich entfernten und erst, als nichts mehr zu hören war, lösten sich ihre angespannten Schultern und der Knoten in ihrem Bauch. Sie erlaubte es sich, auszuatmen, und lehnte sich an den Türrahmen. Was um alles in der Welt tat sie denn da?

Gerade noch in letzter Sekunde hatte sie sich zusammenreißen können, ehe sie etwas sehr, sehr dummes getan hätte. Das hier durfte sie nicht vermasseln, indem sie sich dem Prinzen Erebors an den Hals hängt! Sie wusste noch nicht einmal, ob sie das überhaupt wollte.

Um sich abzulenken, ließ Tauriel ihren Blick durch den großen Raum schweifen, der für die nächste Zeit also ihre Unterkunft sein sollte. Rustikal, jedoch sehr gemütlich.

An einem Sessel, der neben einem Tischchen frei im Raum stand, blieb er hängen. Tauriel ließ sich in diesem nieder, nicht ohne vorher sich noch einmal umzuschauen, falls noch jemand hier war. Nein, ihre feinen Ohren sagten ihr, dass sie allein war

Der Sessel war zwar zu niedrig für sie, doch das störte sie nicht. Würde ihr Kopf nicht vor so vielen Fragen und neuen Eindrücken brummen, dann hätte sie sich sofort auf Erkundungstour durch die Räumlichkeiten gemacht. Tauriel streckte die Füße aus und legte den Kopf in den Nacken. Selbst die hohe Raumdecke war wie absolut alles hier aus rohem Felsen geschlagen worden. So vieles schwirrte ihr durch den Kopf und trotzdem dachte sie darüber nach, wie lange es wohl gedauert haben musste, bis man eine Stadt wie diese erbaut hatte.

Die Gedanken an die Bibliothek, deren Besuch ihr Kili versprochen hatte, die Aufzeichnungen ihrer frühesten Geschichte und die Sternenkarten beherbergen sollte, von denen er gesprochen hatte, erfüllten sie mit unstillbarer Neugierde und inständig hoffte sie, dass er die Sache mit seiner Familie ebnen konnte und dass sein Onkel ihr doch noch erlauben würde, diese Räume zu verlassen. Akzeptiert werden wollte sie gar nicht, nur geduldet. Das würde ihr schon reichen.

Sie wollte doch bloß die neue Welt mit offenen Augen sehen, durch deren Tore sie heute getreten war. Mithilfe ihres Umhangs, den sie sich über den Kopf gezogen hatte, bei dem man die elbischen Webarbeiten vor lauter Dreck nicht mehr erkennen konnte, hatte Kili sie als Mensch verkauft und geflunkert, dass sie im Auftrag des Königs eingeladen wurde, um zwischen Dale und Erebor zu vermitteln. Er hatte seine Autorität als Prinz voll ausgenutzt und den Wachen keinen Hauch an Zweifel gelassen, indem er selbstbewusst, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, diesen ,,Mensch“ unter den königlichen Schutz gestellt hatte. Tauriel hatte mitgespielt und war ohne eine genauere Kontrolle in den Berg gekommen.

So lange war sie schon im Waldlandreich, hatte nichts anderes gesehen, als den Grünwald. Bis zur Grenze. Dort endete das, was sie kannte. An ihre alte Heimat konnte sie sich heute kaum noch erinnern. Sie war ein Kind gewesen, als sie nach dem Tod ihrer Eltern unter Thranduils Obhut kam. Seitdem war ihr früheres Leben nur noch verblassende Erinnerungen, die sie sorgenlos und mit Glück erlebt hatte.

Viele Abende hatte sie in den höchsten Bäumen gesessen, auf das Erscheinen der Sterne gewartet und von den anderen Ländern geträumt, die hinter den Grenzen lagen. Sie hatte die Grenzlinien in den Büchern mit den Fingerspitzen nachgezogen, bis sie in ihrem Kopf eingedrungen waren und sich ihnen in ihrer Fantasie bedienen konnte. Nun hier zu sitzen war für sie wie das Erfüllen eines lang gehegten Traumes. Sie wollte so gerne noch eine Zeit hierbleiben. Zurück nach Hause konnte sie nie mehr.

Als sie daran dachte, wie ihr König vor ihr gestanden hatte, sein Schwert gezogen und… Tauriel ballte bei den Gedanken die Fäuste. Es auf sie gerichtet hatte…

Sie war enttäuscht von Thranduil und seiner Ignoranz, ein Herrscher, zu dem sie früher aufgeschaut hatte...

Umso wichtiger war es nun, sich unauffällig zu verhalten, um hier geduldet zu werden. Ihr blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, wie man darüber entschied.

Ihre Gedanken wanderten zurück zu Kili und sie fragte sich, ob die Gefühle, die sie in seiner Nähe durchströmten, auch wirklich die richtigen waren.

 

~

 

Zwei kräftige Männer waren nötig, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Mit aufeinander gepressten Kiefern versuchte er seinen Körper hochzustemmen und den Schmerz zu ignorieren, der sadistisch gegen ihn arbeitete.

,,Thorin, wenn es noch nicht geht, dann - “

,,Es wird gehen!“, widersprach er Oin, der den Mund wieder zuklappen musste. ,,Ich schaffe das.“

Der Mediziner ließ seinen Bruder Gloin und Bombur nicht aus den Augen, als diese Thorins Arme um die Schultern liegen hatten und warteten, bis er Stand gefunden hatte.

Wummernd rauschte ihm das strömende Blut in den Ohren. Thorin musste die Augen schließen und auf das Ende des Schwindelanfalls hoffte. ,,Beim besten Willen, Oin, hol mir bitte eine Hose oder irgendetwas. Ich will nicht nackt vor euch allen dastehen.“

,,Zu spät“, antwortete eine weibliche Stimme. ,,Als du bewusstlos warst, haben dich schon einige von uns unbekleidet gesehen. Also mach kein jungfräuliches Theater.“ Stoff wurde geworfen und aufgefangen. Daraufhin spürte er, wie Oins Hände seine Taille umfassten und ihm ein Handtuch umlegten, was Ninak ihm wohl gnädiger Weise erübrigt hatte. Thorin machte die Augen wieder auf und sah sie mit weiteren Handtüchern in den angrenzenden Waschraum verschwinden, während Wilar begann, das Bett abzuziehen. Die Grauhaarige warf ihm ein aufmunterndes Lächeln zu und zuckte mit den Achseln, als wollte sie sagen: ,,Sie kriegt sich schon wieder ein.“

Schon seit sie durch diese Tür getreten war und ihm das Essenstablett auf den Schoß geknallt hatte schmollte sie. Wie er von Bombur erfahren hatte, hatten seine Frau, Wilar, Nori und Ninak wohl ein Aufeinandertreffen mit einer gewissen Elbe gehabt. Doch er hatte jetzt anderes im Kopf, als sich mit diesem verflixten Problem auseinanderzusetzen. Später war dafür auch noch Zeit.

Er atmete durch und nickte. Die Männer an seinen Seiten gingen sehr langsam Richtung Waschraum, sodass Thorin mit dem gesunden Fuß auftreten konnte, während er den bandagierten Klumpfuß in der Luft hielt. Bereits nach wenigen Schritten trat ihm der Schweiß auf die Stirn. Vom langen Liegen taten ihm die Knochen weh, drohten einfach zu zerfallen. Deutlich spürte er, wie er Muskeln eingebüßt hatten. Rauschen von Wasser und das Knistern eines Feuers, was sich einen Weg durch frische Scheite bahnte, kamen ihnen entgegen, als sie fast den Raum durchquert hatten und sein Blick auf den Kleiderschrank fiel.

,,Wartet.“ Sie stoppten sofort. ,,Ich will es sehen“, flüsterte Thorin rau und starrte den Spiegel in der Schranktür an. Gloin und Bombur warfen sich einen unsicheren Blick zu, ehe sie sich drehten. Langsam traten sie mit ihrem Anführer davor und Thorin konnte sich selbst das erste Mal seit Wochen betrachten.

Der Anblick, der vor ihm lag, raubte ihm ein Teil seiner Seele.

Aus schwarzen, fettigen Strähnen blickten ihn Augen entgegen, deren Grau stumpf wirkte. Er sah einem Mann ins Gesicht, der nicht mehr er selbst war. Die Narbe auf seiner Stirn war ein feiner Strich, doch die an seinem Bauch… Thorin schluckte hart.

Wulstig und hässlich erstreckte sie sich groß und lang auf seinem Bauch, fast senkrecht, in ihrer Mitte einen Haken ziehend, der sich zu seiner Körpermitte neigte, und ihn für immer entstellte.

,,Wir haben unser Möglichstes getan“, hörte er Oin sprechen, ,,haben alles versucht.

Ich weiß. Thorin konnte es ihm nicht antworten, während er dem Fremden gegenüberstand. Die Vernunft, das Wissen, dass er es selbst war, wirkte auf ihn abstoßend. Die Wangen eingefallen, die Muskeln geschwunden. Schwach. Krank.

Er war Gezeichneter eines Krieges. Vom Schicksal. Für immer.

Er konnte es nicht verhindern, dass Tränen ihm die Sicht trübten.

,,Thorin.“ Sein Gesichtsausdruck musste so erschütternd für andere sein, dass Ninak ihren Zorn über ihn freiwillig beiseiteschob. Behutsam legte sie ihre Hand auf seine Brust, als wollte sie ihn nicht erschrecken, als wollte sie ihn ablenken von diesem Bild. Doch er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Zu sehr nahm ihn sein eigener Anblick mit.

,,Es ist in Ordnung“, flüsterte sie, ,,es ist in Ordnung.“ Vorsichtig umarmte Ninak ihn, die Hand schützend um den Hinterkopf gelegt, als wollte sie ihm Halt schenken. ,,Alles wird wieder gut…“

 

Im Waschraum zog sie ihm das Handtuch von den Hüften, als er, die Hände auf den Wannenrand gepresst, sich langsam ins Wasser sinken ließ. ,,Ich lasse nach euch rufen, wenn er zurück kann.“ Bombur und Gloin machten eine Verbeugung und wurden ihrer Dienste entlassen. Oin gab noch Anweisungen, den Verband abzumachen und den Fuß nachher mit der Salbe zu behandeln, die die Elbe dagelassen hatte, ehe er ihnen hinaus folgte.

,,Natürlich…“ Ninak fluchte leise und schüttete ihm, kaum dass Thorin saß, einen Krug Wasser über den Kopf. Prustend spuckte er desselbige wieder aus, schaute mit einem schwarzen, nassen Vorhang vorm Gesicht sie strafend an. Ungeachtet goss sie ihm etwas Öliges über Kopf und Rücken und warf ihm einen Schwamm in den Schoß. Eine Aufforderung, sich selbst zu waschen. Ein leichter Geruch von Minze und anderen Kräutern verbreitete sich im kleinen Raum. Thorin wischte sich die Haare aus dem Gesicht und begann, das Öl in seine Kopfhaut einzumassieren, während Ninak sich auf den Rand des hölzernen Bottichs setzte.

,,Warum vertraust du dich ihr an?“

,,Ahh!“ Sie packte seinen Fuß am Knöchel und zog damit gleich seinen ganzen Körper näher zu sich. Wasser schwappte in einer hohen Welle gegen den Wannenrand. ,,Verflucht! Geht das auch sanfter?“

,,Du hast meine Frage nicht beantwortet.“

Thorin brachte sich in eine bequemere Position und sah zu, wie sie den Verband - zum Glück für sie - mit mehr Behutsamkeit abwickelte. ,,Ninak, bitte. Gib mir zwei Minuten mich wenigstens in Ruhe waschen zu können.“ Sie ließ ihn zu Schwamm und Seife greifen und blieb still, als er sich, so gut es schmerzlos möglich war, wusch. Als er fertig war, ließ er sich von ihr ein weiteres Mal breitwillig Wasser übergießen.

,,Kili hat uns am Tisch alles über sie erzählt“, begann Ninak schließlich von Neuem, kaum dass sie den Krug abgestellt hatte. ,,Am Tisch“ hieß, wie er vermutete, im Speisesaal.

,,Sie wolle lernen, hat der Junge immer wieder beteuert, hat sie richtig in Schutz genommen und ihre kämpferischen Fähigkeiten und ihr Talent in der Heilkunde angepriesen. Es war, als hätte Kili sie gern. Außerdem, eine Elbe, die von uns lernen will? Tse!, hat man denn sowas schon gehört?“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf, doch ein leichtes Schmunzeln stahl sich auf ihren Mundwinkel. ,,Du hättest den Jungen sehen sollen. Um Kopf und Kragen hat er argumentiert, hat ‘nen ganz roten Kopf bekommen.“ Dann seufzte sie. ,,Ich weiß nicht, was ich von deiner Entscheidung halten soll, Thorin, aber mir brauch dieses Mädchen nicht den lieben langen Tag über den Weg laufen. Ich kann gut und gern auf sie verzichten.“ Den alten Verband warf sie zu Boden, nahm den Schwamm und wusch Salbenreste von der vernarbten Haut, während Thorin in der Wanne lag und ihr zusah.

Sein Fuß sah mindestens genau scheußlich aus wie sein Körper. Er richtete den Blick auf sein Bein, sah zu, wie Wassertropfen an den Haaren, entlang rinnen, um die Wunden nicht länger sehen zu müssen und um sich zu entspannen. Das Wasser half.

Es war herrlich von seiner Wärme umschlossen zu sein. Der große Holzbottich stand auf einer Art Ofen, in dessen Inneren ein Feuer prasselte und so das Wasser erwärmte, welches man aus einem Reservoir, verborgen in der Wand leiten konnte und so jederzeit Zugriff darauf hatte.

Die Einwohner Erebors hatten sich schon immer Wasser zu Nutzen gemacht und schon früh damit begonnen, Schächte zu schlagen, um das kalte Nass von Ebene zu Ebene leiten zu können. Die königlichen Gemächer verfügten alle über solche Wasserschächte, auch jene, die das Wasser wieder abfließen ließen. Andere leiteten es zu Brunnen in den Wohnhallen oder sogar in manche Wohnstuben und wieder andere es zu Wasserrädern in den Schmieden und Stollen.

Genussvoll legte Thorin das Genick auf den Wannenrand, als Ninak begann, ihm den Fuß zu massieren. Ein leises Stöhnen kam über seine Lippen. ,,Mach weiter. Du glaubst nicht, wie gut das tut. Der Verband hat erbärmlich gejuckt.“

,,Bei deinem Gesichtsausdruck kann ich mir das ganz gut vorstellen. Du schnurrst ja richtig.“

,,Wollen wir tauschen? Ich frage mich, was du für Geräusche wachen würdest.“ Sie bewarf ihn mit dem Schwamm.

,,Denk nicht mal daran.“

,,Machst du das auch mit Dwalin?“

Verführerisch sah Ninak auf. Eine rote Locke lag reizvoll über ihre Augen. ,,Mit dem mache ich noch ganz andere Sachen.“

,,Und welche?“

,,Das wüsstest du jetzt wohl gerne.“

,,Und ich wüsste gerne, ob du schon wieder dabei bist, den Verstand zu verlieren!“

Thorin tat einen vergeblichen Versuch, die Augen nicht zu verdrehen. ,,Dwalin. Wir haben gerade von dir gesprochen.“

Keine zehn Zentimeter neben ihm stand wie aus dem Boden geschossen sein bester Freund, die Arme abwartend verschränkt. Sein Brustkorb hob und senkte sich so stark, dass man annehmen könnte, er wäre die letzten fünf Treppen hier hinauf gerannt oder als müsste er sich beherrschen, nicht vor Wut loszubrüllen. Thorin tippte eher auf Letzteres.

,,Du bist hier wegen der Elbe.“ Er beobachtete, wie Seifenreste als fahler Schaum auf der Wasseroberfläche trieben.

Ein kleines, leises ,,Ja“ war die Folge, das nach mehr verlangte.

,,Nicht jetzt. Später.“

,,Oh, doch. Jetzt. Ich dachte, wir hätten diesen ganzen Wahnsinnigen-Scheiß hinter uns. Offensichtlich nicht, denn ich musste hören, dass du einer Elbe freien Eintritt verschaffen hast. Was hat dich zu dieser wahnwitzigen Entscheidung gebracht? Hm? Verrat es mir.“

,,Mit meinem seelischen Wohlergehen ist im Moment alles in Ordnung“, log er. ,,Und außerdem habe nicht ich ihr Zutritt verschafft. Das haben die Jungs ganz alleine hinbekommen.“ Thorin seufzte und fing wohlüberlegt erneut an. ,,Dwalin, hör zu, ich weiß, dass alles dagegen spricht, die Elbe hierzulassen. Kilis Idee passt mir immer noch nicht. Ich versichere aber, dass sie nur solange bleiben wird, bis es mir einigermaßen besser geht.“

,,Ach so, das hat der feine Herr also beschlossen.“

,,Thorin“, mischte sich Ninak nun ein, ,,was ist, wenn sie eine Spionin Thranduils ist? Hast du darüber schon mal nachgedacht? Sie konnte dich auch problemlos vergiften oder anderen Elben Zutritt verschaffen.“

Vorhin hatte sie ihm ein Mittel zur Fiebersenkung trinken lassen und er spürte, dass es bereits zu wirken begann. Er hatte wieder Appetit beim Essen gehabt und sogar um Nachschlag gebeten. Wenn sie den Auftrag hätte, ihn umzubringen, warum würde eine Meuchelmörderin ihm erst helfen und dann umbringen wollen?

,,Denkt ihr, ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht?“, erwiderte er scharf. ,,Das ist mir wohl bewusst. Aber ich vertraue Kili.“

,,Das…“

,,Das ist meine Entscheidung und dabei bleibt es!“, setzte er deutlich nach, um seinem Freund keine Chance zu geben diese unsinnige Diskussion weiter fortzuführen. Schnaufend drehte Dwalin sich von ihm ab. ,,Glaubst du, mir fiel das leicht?“, versuchte Thorin es wieder ruhiger. Einen Streit anzetteln war das Letzte, was er jetzt wollte. ,,Ich vertraue meinen Jungs in dem, was sie über sie sagen. Du etwa nicht?“

Dwalin warf die Hände in die Luft. ,,Natürlich vertraue ich ihnen, aber nicht dieser Frau, Thorin!“

,,Uns bleibt wohl im Moment nichts anderes übrig.“ Sie sahen Ninak an, die vorsichtig über Thorins Fuß fuhr. ,,Wir werden sehen, was ihre wahren Absichten sind. Dann können wir sie uns immer noch vorknöpfen. Bis dahin werden wir ihre Anwesenheit in Erebor auf die gleiche Weise geheim halten, wie dein Geheimnis, Thorin.“ Die Diskussion war offenbar für sie beendet. Die beiden Männer warfen sich gegenseitig einen langen Blick zu und regelten wie so oft ohne Worte einen vorzeitigen Abschluss dieses verzwickten Problems.

,,Hey, was machst du da eigentlich an ihm?“, richtete Dwalin nun sichtbar eifersüchtig das Wort an seine Frau. ,,Könntest du mir zur Abwechslung nicht auch mal die Füße einseifen?“ Er bekam einen klatschnassen Schwamm ins Gesicht geworfen.

 

~

 

,,Ich hab das Bier.“ Dwalin stellte ein kleines Fass auf den Nachttisch ab, den Fili eilig abgeräumt hatte, um Platz dafür zu schaffen. Den Abend wollten die Jungs mit ihrem Onkel verbringen, ihr Ziehonkel war natürlich mit von der Partie, als er hörte, dass es was zu Trinken geben sollte.

Obwohl das Fieber bereits jetzt vollends abgeklungen war, hatte Gandalf bis auf weiteres jeglichen Alkohol für Thorin verboten. Eigentlich hätte er selbst darauf kommen müssen, dass so ein Verbot die Zwergenkrieger nicht beeindrucken würde.

Während Fili schon mal die mitgebrachten Krüge füllte und Kili die Sitzgarnitur näher schob, trat Dwalin sich die Stiefel von den Hacken und machte es sich neben seinem Freund bequem.

Frischgebadet, in weiche Sachen gekleidet und mit einem Kissen im Rücken im neu bezogenen Bett sitzend, machte es das Ganze für diesen um einiges erträglicher. Thorin war froh, den alten Schweiß losgeworden zu sein. Den Fuß auf einem Stapel Kissen hochgelegt nahm er das Bier von Fili entgegen und stieß mit Dwalin an, um den ersten Schluck ihres Versöhnungsbieres zu genießen.

Kili sprang über die Sofalehne und landete auf dem Polster, wo er sogleich von seinem Bruder einen Krug in die Hand gestellt bekam. ,,Hättet ihr nicht auf uns warten können?“

Dwalin schleckte sich den Schaum von der Oberlippe. ,,Du gönnst uns aber auch gar nichts.“

,,Wir werden uns etwas ganz anderes heut Abend gönnen.“ Fili kam mit seinem Krug und einer Schachtel hinzu.

,,Was hast du denn da?“

,,Das haben Kili und ich beim Aufräumen gefunden.“ Er ließ sich ebenfalls auf dem Sofa nieder und öffnete die Holzschachtel vorsichtig, damit nichts heraus fiel. ,,Onkel Frerin muss das Zeug versteckt haben.“

,,Und wenn mich meine Nase nicht täuscht“, Kili nahm sie ihn ab und reichte sie weiter, ,,ist das guter, alter Gredos Mardok.“

,,Bei meinem Barte“, Dwalin stieß Thorin mit dem Ellenbogen an, ,,weißt du noch, wie wir uns damit mal als junge Burschen die Kante gegeben haben?“ Er nahm etwas von dem grünen Tabakskraut und roch daran. ,,Ob das überhaupt noch gut ist?“

,,Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.“ Fili zauberte eine Pfeife aus seinem Ärmel.

,,Haha, ihr seid mir so zwei… Gib mal her! Ich mach uns eine schöne Portion fertig.“ Man gab Dwalin die Sachen und er machte sich voller Vorfreude ans Pfeifestopfen.

,,Ich glaube, das haben wir alle heute Abend bitter nötig“, konnte Thorin mit den unschönen Gedanken an diesen verworrenen Tag noch hinzufügen, bevor es an der Tür klopfte.

Ein kupferbrauner Lockenschopf beugte sich hinein. ,,Nanu, volles Haus hier?“ Überrascht sah Bilbo durch die Runde. ,,Ich wollte nur fragen, ob du noch etwas für die Nacht brauchst, Thorin. Aber wie ich sehe bist du in bester Gesellschaft.“

,,Meister Beutling“, Thorin klopfte neben sich, ,,setzt Euch zu uns.“

Dwalin drückte dem Hobbit ein frisch gezapftes Bier in die Hand, ehe er zum Kamin hinüber ging und am Feuer herumhantierte.

,,Ich will nicht stören…“

,,Was soll das denn, Bilbo? Du gehörst doch zu uns.“ Bei der Einladung von Fili färbten sich seine Wangen, worüber Thorin schmunzeln musste. Wie sehr er in unsere Gemeinschaft hinein gewachsen ist, dachte er und erinnerte sich zurück an die Anfänge ihrer Unternehmung, die gefühlte Jahre her sein mussten.

,,Überredet.“ Bilbo setzte sich zu Thorin, der mit ihm anstieß.

,,Auf unsere Freundschaft.“

,,Auf die. Und das Leben“, fügte er lächelnd hinzu.

,,Den Neuanfang.“

,,Ladys, wer will den ersten Zug?“

,,Was habt ihr denn da überhaupt?“, fragte ihr neuer Gast, als Dwalin mit glimmender Pfeife zurückkehrte.

,,Richtig guten Tabak“, antwortete Kili, der natürlich wie sein Bruder gewusst hatte, was Gredos Mardok für eine Stärke und welch berauschende Eigenschaften es besaß. Er nahm als Erster einen Zug, ließ den Rauch einen Moment in seinen Lungen, ehe er ihn mit dem Atem wieder ausstieß. ,,Durin“, er hustete in die Faust, ,,wir werden heute Abend auf jeden Fall viel Spaß damit haben. Ohhr, fick die Henne…“ Die anderen Männer lachten über ihn und trieben ihn an, endlich weiterzureichen. Der Reihe nach wanderte die Pfeife.

Als Bilbo nach gutem Zureden auch einen vorsichtigen Zug nahm, fühlte er, wie seine Ohren augenblicklich zu flattern anfingen. ,,Was ist das denn für ein Kraut? Wenn Gandalf davon wüsste, dann…“ Weiter kam er jedoch nicht, denn er begann plötzlich zu kichern und konnte gar nicht mehr damit aufhören. ,,Gandalf… Was er für ein Gesicht machen würde… Wie eine saure Gurke…“

,,Muss er ja nicht wissen“, meinte Fili und legte die Füße hoch. ,,Und wenn, dann sagen wir, es hilft zum Entspannen bei vielerlei körperlichen Gebrechen.“ Und die Männer grinsten wie Kinder, die frisch gebackene Kekse gestohlen hatten. Je mehr sie rauchten, desto öfters lachten und glucksten sie, zeigten mit dem Finger aufeinander, wer die dümmsten Geräusche von sich gab.

,,Aufhören! Das halten meine Rippen nicht aus.“ Thorin hielt sich bereits die Seite, doch die anderen lachten daraufhin nur noch lauter.

Nach der dritten Runde Bier und der zweiten Runde Kraut fragte Dwalin ganz unvermittelt: ,,Wo hast du deine Freundin gelassen, Kili?“

Der junge Prinz verschluckte sich beinahe. Er starrte ihn an, fühlte dabei auch den Blick seines anderen Onkels schwer auf sich ruhen. In seinem Kopf schrillte eine kleine Alarmglocke im Stakkato. ,,Sie ist in meinem Gemach und wird auch dort bleiben, falls du darauf hinaus wolltest.“

,,Hält sie dir schon mal das Bett warm oder wie muss man das zwischen euch verstehen?“

Gleichzeitig mit Fili spuckte Thorin das Bier aus. Letzterer jedoch schaffte es nicht mehr, den Krug zurück in Reichweite zu bringen. Ein feiner Sprühregen mit Hopfennote schoss quer durch den halben Raum. Funkelnd bohrten sich grauen Augen zuerst in Dwalin, dann in Kili hinein.

Bleich um die Nase starrte dieser von einem zum anderen, ein imaginäres Fallbeil über seinem Genick schweben spüren. ,,Was? Pff! Also ehrlich, das… Pff, ich bitte dich. Tauriel ist hier, um zu lernen und unsere Kultur kennenzulernen. Außerdem kann sie Thorin helfen. Als ob ich mit ihr…also ehrlich jetzt, was denkst du über mich, Onkel?“

,,Schön zu wissen, dass es nicht so ist.“ Aus verengten Augen starrte Thorin seinen Neffen an, ehe er das Bier von der Decke wischte. Dwalin war der Erste, der wieder lachen konnte.

,,Junge, jetzt mach dir nicht gleich ins Hemd. Das war doch nur ein Scherz! Aber dein Blick war göttlich!“

Eher gezwungenermaßen lachte nun auch Kili. ,,Jetzt hast du mich aber, du alter...“ Immer noch lachend nahm er schnell einige Schlucke seines Bieres, als wollte er in den Krug hinein kriechen.

Thorin aber verspürte bei der Sache ein mehr als ungutes Gefühl in der Magengegend. Zudem hatte für ihn Filis Schweigen eine ganz andere Bedeutung…

Nach diesem unfreiwilligen Verhör löste sich die angespannte Stimmung in Luft auf. Den ganzen Abend noch saßen sie zusammen und redeten über Durin und die Welt. Eskapaden aus der Jugendzeit wurden zum Ganzen gebracht und die eigenen kämpferischen Leistungen während der Schlacht angepriesen, die jedes Mal den Anschein machten, als wollten sie die vorherige übertrumpfen.

Als die Lachtränen getrocknet und alle wie ein Schluck Wasser in der Kurve auf ihren Plätzen lagen, war der Schlaf bei allen ziemlich nahe. Bis auf den letzten Krümel hatten sie das Kraut aufgeraucht, das Fass schon lange geleert. Mit etwas Hilfe hatte sich Thorin auf die Seite gelegt und starrte eine Weile schon in den Raum hinein. Und mit der Stille kamen die Erinnerungen an vergangene Tage zurück. Eine bleierne Traurigkeit überschattete sein Herz. Trotz des benebelten Zustandes seines Geistes besann er sich zurück auf seinen Plan und die damit einhergehende Entscheidung seines Versprechens.

,,Bilbo?“

Bilbo, der zwischen seinen und Dwalins Füßen wie ein Seestern gelegen hatte, schreckte auf. ,,Hm?“

,,Würdest du mir einen Gefallen tun?“

Er blinzelte ein wenig und musste sich erst mal sammeln. Offenbar war der letzte Zug an der Pfeife für ihn einer zu viel gewesen. ,,Ja, Moment.“

,,Drüben am Schreibtisch. Unterste Schublade.“

Er runzelte die Stirn und erhob sich. Träge Blicke folgten einem schwanken Bilbo. ,,Was´n los?“, brummte Fili. Kili trat ihm in den Hintern, um sich mehr Platz zu verschaffen, stopfte sich ein Kissen unter den Kopf und schlief weiter.

Am Schreibtisch angekommen zog Bilbo die genannte Schublade auf. Doch sie war leer. Um die Halluzination loszuwerden, klopfte er sich gegen die Wange.

,,Du musst den Boden hochheben.“

Er tastete das Holz ab, das auf dem zweiten Blick einen anderen Farbton besaß als das übrige und fand einen Spalt. Er harkte die Finger hinein und hob den Schubladenboden an. Zum Vorschein kamen etliche, zusammengefaltete Briefe.

,,Würdest du mir einen davon vorlesen?“

Bilbo zog einen unbestimmten heraus und kehrte damit zurück. ,,Warum hast du die versteckt? Von wem sind die?“ Er sah Thorin an und erkannte es an seinem Blick. ,,Die sind von Marie, oder?“ Thorin erwiderte nichts, sah nur weiterhin an die Wand, mit seinen Gedanken ganz woanders.

,,Wie lange ist das her?“ Man hörte, wie er atmete.

,,Viele Jahre.“

Bilbo setzte sich, faltete das vergilbte Papier auseinander und konzentrierte sich fürs Vorlesen.

Thorin lauschte den Worten, einer anderen Stimme im Ohr und durchwanderte eine Zeit der Unbeschwertheit. Sorglos waren sie damals noch gewesen. Jung. Etwas hatte sich gerade erst zwischen ihnen angebahnt. Die niedergeschriebenen Worte zerbrechlich wie ein sprießendes Pflänzchen.

Heimliche Briefe an einen Prinzen.

Nach der Enttäuschung mit Sladnik bescherten ihre Briefe ihm jedes Mal beim Eintreffen und beim Antwortschreiben ein Lächeln. Angefangen hatte es mit einem einfachen Dankesschreiben ihrerseits. Daraus wurde so viel mehr…

Er hörte ihren spielerischen Hohn und hatte oft ihre Unsicherheit zwischen den Zeilen gelesen, häufig wenn sie ihn fragte, ob er das überhaupt hören wollte. Sie schriebe schon wieder viel zu viel, belangloses Zeug, was ihn nicht interessieren würde…

Ein Prinz würden der Alltag und die Gedanken eines einfachen Bauernmädchens sicherlich nicht interessieren. Und er hatte ihr darauf geantwortet. ,,Nein, nichts ist belanglos, was du schreibst. Ich lese gern von dir, Marie. Ich möchte alles über dich wissen. Was du denkst. Was du fühlst…“

Thorin bekam nicht mit, wie ihm die Augen zufielen. Die Wirkungen vom berauschenden Kraut taten ihr übriges. Ihm wuchsen Flügel. Rabenschwingen. Er konnte fliegen und flog zu dem Haus am Waldrand.

 

~

 

,,Schmerz bedeutet, dass die Knochen zusammen wachsen, das Fleisch heilt. Ihr solltet dankbar sein.“

,,Ich werde dankbar sein, wenn mein Fuß nicht mehr so verdammt wehtut“, gab Thorin schroff zurück.

Tauriel stellte ihm ein Fläschchen auf den Nachttisch. ,,Mohnblumensaft, falls der Schmerz zu stark wird. Ihr solltet nun ruhen, Eure Hoheit. Schlaf ist der beste Heiler.“

,,Ich habe lange genug geschlafen.“

Tauriel machte einen Knicks und zog sich zurück. An der Tür begegnete sie den Jungs, die gerade hinzustießen.

,,Wie geht es unserem Patienten heute?“

,,Er ist wenig grummelig“, antwortete sie Kili. Thorin verdrehte nur die Augen. ,,Aber überaus motiviert, wie mir scheint. Und das nach einer durchzechten Nacht. Bemerkenswert.“ Sie zwinkerte ihnen zu.

Thorins Stimme setzte dem Grinsen der Jungs ein Ende. ,,Kili, geleite die Elbe zurück. Und komm danach wieder.“

,,Ja, Onkel“, sagte Kili und verschwand mit der Frau.

Was hat seinen Jungen bloß zu dieser Idee geritten und warum musste er auch seine Zustimmung geben? Thorin schlug die Decke zurück und schob sich an die Bettkante.

,,Man hat mir den hier für dich mit… Thorin, was wird das?“

,,Ich kann das“, hielt er sich Fili vom Leib. ,,Ich hab das geübt.“

,,Geübt? Was geübt?“

,,Das Hinsetzen.“

,,Oh.“ Fili wirkte ein wenig überrascht über den Fortschritt. ,,Und wie geht’s deinen Rippen dabei?“

Thorin versuchte seinen beschleunigten Atem zu verbergen. Das banale Sich-Aufsetzen strengte ihn schon an. Und er schämte sich dafür.

Am Morgen hatte der Schlaf schon eher als sonst nachgelassen und Thorin hatte die Zeit genutzt, hatte sich immer wieder mit der Kraft seiner Arme an die Bettkante und wieder in die Bettmitte zurück gesetzt. Es war an der Zeit, dass er wieder gesund wurde.

Da erinnerte er sich, dass Fili ihn etwas gefragt hatte. ,,Geht“, antwortete er ausweichend. Er musste seine Bauchmuskeln dafür anspannen, die ebenfalls Verletzungen davon getragen hatten. Es fühlte sich an, als wären sie ihm rausgeschnitten worden. Dumpfer Schmerz pulsierte. Er brauchte, bis er auf der Bettkante saß, mit Übung aber, so war er sich sicher, würde er in ein paar Tagen sich schon besser anstellen.

Misstrauisch zog Fili eine Augenbraue in die Höhe. ,,Überanstreng dich nicht.“ Thorin nickte bloß und Fili lehnte einen kräftigen Stab gegen die Bettkante, fast so lang, wie er selbst groß war. ,,Der wird dir beim Gehen helfen.“

Mit verschlossener Miene betrachtete er den Stock und als sein Neffe ihm den Rücken kehrte, um Feuerholz nachzulegen, stellte Thorin ihn vor sich, fasste beidhändig das obere Ende und stemmte sich hoch. Heftig begann sein Körper unter der Anstrengung zu zittern. Sein Fuß schmerzte, kaum dass er ihn aufsetzte. Er fühlte sich hilflos. So hilflos.

,,Ich bin doch kein Krüppel!“ Voller Selbsthass schleuderte Thorin den Stab von sich und drohte zu fallen. Mit einer Schnelligkeit, die ständige Wachsamkeit forderte, war sofort jemand an seiner Seite und bewahrte ihn davor, zu stürzen.

,,Onkel…“ Behutsam wurde sein Körper zu Boden gelassen. Fili hockte sich neben ihn. ,,Hast du dich verletzt?“

,,Nein, verdammt nochmal!“ Wütend drehte er das Gesicht ab. Thorin hatte das ständige Mitleid satt. Er musste aufstehen. Musste endlich wieder leben!

,,Onkel, was ist?“ Sein Junge sah ihn an, beobachtete seine verzweifelten Züge. ,,Was bedrückt dich?“

Thorin schüttelte den Kopf. Zu viel. Keine Worte könnten beschreiben, was in diesen Tagen in ihm vorgeht. ,,Ich fühle mich wie ein hilfloser, alter Mann.“

,,So alt bist du doch noch gar nicht“, schaffte Fili es, ihn trotz allem ein wenig aufzuziehen.

,,Wegen euch bekomme ich graue Haare. Vor allem wegen deinem Bruder.“

,,Kili?“ Pause. ,,Was ist denn mit ihm?“

,,Es gefällt mir nicht, dass er und diese Tauriel so viel Zeit miteinander verbringen.“ Aus dem Augenwinkel sah er, wie Fili zunehmend unruhig wurde.

,,Denkst du, es war ein Fehler, sie hier zu dulden?“

,,Das ist es, worüber ich mir Gedanken mache: Es nicht zu wissen.“ Thorin schaute ihn eindringlich an. ,,Was haben die beiden miteinander zu schaffen, Fili?“ Er sah, wie er die Augen aufriss, schluckte und gleichzeitig die Schultern hoch zog.

,,Sie hat ihm das Leben gerettet. Vielleicht fühlt er sich dadurch ihr gegenüber zu irgendwas verpflichtet. Kili hat gewusst, dass sie dir helfen konnte, deshalb hat er sie in den Berg gebracht. Er ist das Risiko eingegangen, um dir zu helfen. Und während sie hier ist, möchte er die Gelegenheit nutzen und ihr Erebor zeigen. Sie sind Freunde.“

,,Ich bin immer noch nicht überzeugt…“

,,Ach, Onkel“, Fili bedachte ihn eines Schmunzelns. ,,Wenn du so viel Ehrgeiz in deine Genesung stecken würdest, wie in diese Geschichte,“ sagte er und stand auf, ,,dann würdest du schon bald wieder durch die Gegend hopsen können. Und jetzt komm wieder hoch. Mir sind die Knie eingeschlafen.“

,,Ich verlange die Wahrheit, Fili“, beharrte er eisern.

,,Du hast sie soeben gehört.“ Der Prinz schaute ihm in die Augen und Thorin sah, dass er nicht gelogen hatte.

,,In Ordnung.“

Fili reichte ihm den Stab und legte sich einen Arm von ihm um den Hals, um ihn hochzuziehen. ,,Komm, wir schaffen das gemeinsam.“ Die schlichten Worte schafften es tatsächlich, dass sein Zorn auf Kili schwand, denn sie ließen ihn wissen, dass er, egal was ihn beschäftigte, nicht allein damit war.

Thorin drückte sich mit der Kraft seines gesunden Fußes hoch und setzte, als er stand, den anderen vorsichtig auf. Seine zertrümmerten Knochen im Fuß schrien vor Schmerzen. Er gab sich alle Mühe es zu überhören und verlagerte sein Gewicht, um ihn zu entlasten.

,,Du wolltest zu schnell zu viel“, mahnte Fili. ,,Bitte, geh es langsam an. Kleine Schritte. Du warst noch nicht bereit alleine zu gehen.“

Plötzlich musste Thorin an etwas denken, was ihm einmal jemand ganz ähnlich gepredigt hatte: Kleine Schritte, Thorin.

Amris.

Die Erinnerung an sie war für ihn der Inbegriff, für seine Träume zu kämpfen. Und er wusste, egal wie hart es sein wird oder wie lange es dauern würde bis er zu ihr zurückkehren konnte: für Marie und ihre Liebe würde er immer wieder kämpfen.

Thorin blickte auf und sah zum Spiegel hinüber. Immer noch stand Fili neben ihm, doch er stand mithilfe des Stabs aus eigener Kraft auf beiden Beinen und war damit seinem Vorhaben einen Schritt näher gekommen. Bevor er aber ihr Versprechen wahrwerden lassen konnte, musste er erst ein anderes einlösen.

,,Lass nach dem Drachentöter schicken, Fili. Bringt ihn und den Zauberer zu mir. Sofort.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

9

 

 

Man erwartete sie bereits, als die Tür geöffnet wurde. Begleitet von Alfred und Peridur, dessen Namen Thorin zwar kannte, jedoch kein Gesicht zum einstigen Torwächter Esgaroths vor Augen gehabt hatte, betrat Bard das Zimmer.

Er sah noch genauso aus, wie bei ihrem letzten Treffen: ein zerfledderter Mantel aus Rehhäuten, darunter ein dunkles Kettenhemd, abgenutzte Stiefel. Seine bereits an den Schläfen ergrauenden Haare waren in einem Zopf gefasst, der Oberlippenbart und der am Kinn noch schwarz. Er wirkte nicht nervös, sondern selbstsicher in seiner Körperhaltung. Wachsam und effektiv überflogen seine braunen Augen die Anwesenden und den Raum, während Gloin die Tür hinter ihnen schloss und sich zusammen mit Bifur an ihr positionierte. Die Menschen blieben in respektvollem Abstand stehen und Bard verneigte sich, ihm folgte Peridur, der Alfred noch einen schnellen Stoß gab, als dieser nicht reagierte.

,,Mylord, Ihr ließet nach mir rufen.“

Der König Erebors saß aufrecht im Bett, über seinen Beinen eine rote Decke mit goldenen Applikationen gelegt, die seinen bandagierten Fuß und damit seine Verletzlichkeit verbarg. Strategisch hatten sich seine Männer im Raum verteilt, manche standen so ernst wie Leibwächter da. Thorin hatte es ihnen überlassen, ob sie bei der Audienz dabei sein wollten. Natürlich war jeder der eingefleischten Gruppe sowie sein Vetter Dain anwesend, neugierig auf den Grund des Treffens, über den ihr Anführer schweigsam geblieben war. Als Unparteiische saßen Gandalf und Radagast auf der Sitzgruppe und sahen von dort aus dem Ereignis zu.

,,Setzt Euch, Drachentöter“, antwortete Thorin freundlich und wies auf den angebotenen Stuhl. Bard setzte sich.

,,Ich bin froh, Euch wohlauf zu sehen, Mylord. Euch und Eure Männer.“

,,Wir hatten alle großes Glück“, sprach Thorin für die anderen. ,,Ihr seid auch unversehrt, wie ich sehe.“

,,So ist es.“

Mit gespannten Schultern und verschränkten Händen stand Peridur, ein hagerer, alter Mann hinter seinem Anführer, neben ihm Alfred, der sich desinteressiert umsah. Dass er nicht freiwillig hier war, sah man ihm unschwer an.

,,Ich hörte von dem beeindruckendem Kampfgeist Eurer Leute, die Stadt in der Schlacht zu halten,“, eröffnete Thorin das Gespräch, um seinen Gast zuerst zum Reden zu bewegen, ,,und von Eurer Zukunftsvision, Dale zu einem neuen Heim zu machen. Wie geht es mit dem Wiederaufbau voran?“

,,Trotz unserer hohen Verluste sind wir zuversichtlich“, bekannte Bard. ,,Die Witterung schränkt gewisse Maßnahmen ein. Immerhin hat jeder ein Dach über den Kopf, sodass wir den Winter über ausharren können. Die gröbsten Arbeiten sind fast abgeschlossen. Alles Weitere werden wir nach der Schneeschmelze in Angriff nehmen. Dank der Versorgungsgüter dürfen wir hoffen, bis zum Frühling durchzukommen. Das war sehr gnädig von Euch. Ich danke Euch. Ihr wisst nicht, wie große Sorgen Ihr uns damit genommen habt.“

,,Dankt nicht mir. Dankt unserem Hobbit.“ Thorin wies zu Bilbo hinüber. ,,Er hat sich für Eure Leute eingesetzt.“

So kam auch Bard in die Gelegenheit, sich bei Bilbo zu bedanken. Vor so viel Anerkennung errötete der Hobbit.

Ihr ehemaliger Schmuggler fuhr mit seinen Schilderungen über die Lage in Dale fort. Vorräte wären sicherheitshalber rationiert worden. Feuerholz würden sie aus zerstörten Gebäuden holen, dennoch wäre es momentan ihr wertvollstes Gut.

,,Durch den Krieg sind wir nur noch stärker zusammengerückt. Wir sind zäh. Wir werden durchkommen.“

Thorin hörte dem Menschen aufmerksam zu und lächelte, als er endete. ,,Daran habe ich keinen Zweifel.“ Bards Augen hellten sich bei den Worten auf. ,,Nun erklärt mir eins.“ Mit ernster Miene jedoch blickte Thorin den Menschen an. ,,Wie habt Ihr es geschafft, Smaug zu töten?“

Bard sah den Zwergenfürsten genauso ernst an. Dann beugte er sich vor und legte die Ellenbogen auf die Knie. ,,Es gab ein Relikt aus meinem Haus“, erzählte er. ,,Ein Schwarzer Pfeil. Einer von jenen, die man damals beim Drachenangriff abschoss. Die Legende von der gelösten Drachenschuppe war wahr. Smaugs einzige verwundbare Stelle.“

,,Wenn ich etwas dazu sagen dürfte“, erhob Bilbo das Wort. ,,Es stimmt, was Bard sagt. Ich habe die Stelle selbst gesehen, als ich dem Drachen begegnete.“

,,Wir sahen ihn, wie er von einem Turm aus den Pfeil abschoss und traf“, sagte Fili. ,,Er hat das Herz des Drachen getroffen.“

Thorin sah wieder zu seinem Gast und steckte in einem Zwiespalt seiner Gefühle. Zum einen war da das Gefühl der Gerechtigkeit in seiner Brust, das ihn froh machte. Zum anderen aber war das Wissen, dass Smaugs Geist überlebt und es geschafft hatte, in seinen Körper einzudringen, niederschmetternd.

Er wusste, dass Bard keinerlei Schuld daran trug, dass Smaugs Fluch ihn heimgesucht und gefunden hatte. Bard hatte das einzig Richtige getan.

,,Bard aus Seestadt, ich danke Euch im Namen meiner Väter und im Namen deren, die durch das Feuer ihren Tod gefunden haben, dass Ihr Smaugs Herrschaft über unseren Berg beendet und meinem Volk ihre Heimat zurück gegeben habt. Ich bin Euch auf ewig zu tiefstem Dank verpflichtet.“ Als die Gefährten sahen, dass ihr König sein Haupt vor dem Menschen neigte, verbeugten sie sich ebenfalls.

,,Bitte, ich weiß das sehr zu schätzen, doch Ihr habt genauso Ruhm bei Eurem Volk erlangt. Vergesst das nicht. Und bitte behandelt mich nicht, wie einen König. Das möchte ich gar nicht sein.“ Nachsichtig lächelte Thorin. ,,Von der ersten Minute an wusste ich, ihr konntet keine Kaufleute sein.“

,,Zugegeben, eine Notlüge.“

,,Als ich schließlich Eure Identität herausfand,“, man sah, wie er an der Erinnerung schluckte, ,,war mir klar, dass die Prophezeiung wahr werden würde. Die Leben vieler Menschen standen auf dem Spiel. Ich wollte Euch aufhalten, doch da wart Ihr bereits fort.“

Und wofür das alles?! Für einen Bergkönigs blinden Ehrgeiz, so zerfressen von Gier, dass er nur seinen eigenen Vorteil im Sinn hat! Unvermittelt drangen Bards Worte zu ihm, wie die Mahnung der Vergangenheit an die Zukunft. Thorin hatte nicht auf ihn gehört. Er kannte die Prophezeiung und war das Risiko eingegangen, um sie wahrwerden zu lassen.

Der Herr der Silberquellen,

der König edlen Gesteins,

der König unter dem Berge

nimmt an sich, was ist seins.

Froh hallt der Glockenkunde,

ob des Königs Wiederkehr,

doch alles geht zu Grunde

und der See wird ein Flammenmeer…

,,Ich erinnere mich.“ Thorin schaute ihn an. ,,Und heute verstehe ich Euren Zorn. Wie recht Ihr hattet mit allem, was Ihr sagtet, musste ich erst erkennen, als es zu spät dafür war.“

Er spürte, wie seine Männer einander ansahen und Getuschel kaum vermeiden konnten. Ihm war klar, dass so ein Eingeständnis absolut untypisch für ihn sein musste. Für Bard ebenfalls, denn er zog misstrauisch eine Augenbraue hoch. Sein Blick wurde abschätzender.

,,Wie ich sehe, seid Ihr in einer weitaus besseren Verfassung, als ich Euch das letzte Mal sah. Um es freundlich auszudrücken.“

,,Thorin, antworte nicht darauf…“

Dieser gab mit einer Handbewegung Dwalin zu verstehen, sich nicht einzumischen. ,,Ich weiß, worauf Ihr hinaus wollt. Die Drachenkrankheit hat mich so denken und handeln lassen. Ich war ein Sklave ihrer.“

Angesichts dieses weiteren Geständnisses schwieg der Mensch einen Moment und dachte darüber nach. ,,Ich hörte von dieser Krankheit.“

,,Es geht mir wieder gut. Den Umständen entsprechend.“

Trotz Halbwahrheit war Thorin froh, die Stimme des Drachen die letzten Tage losgeworden zu sein. Dass es jedoch noch nicht vorbei war, wusste er. Smaug hat sich von dem Bisschen nicht geschlagen gegeben, nein, er würde niemals einfach so aufgeben. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm. Er wartete ab und beobachtete Thorin, um in einem Moment der Schwäche sich seines Geistes und Körpers erneut zu bemächtigen, da war Thorin sich sicher.

,,Ihr wolltet uns einen Anteil am Schatz nie zukommen lassen.“ Bards Wispern war tonlos. Der Ausdruck seiner Züge gab preis, dass er es bereits wusste. ,,Ist es nicht so?“

,,Ja, so war es.“ Der Betrogene wandte das Gesicht ab, die Enttäuschung verbergend. ,,Und deswegen seid Ihr hier.“

Es wurde noch stiller im Raum. Bard legte den Kopf schief.

,,Wie viele Menschen stehen unter Eurem Befehl, Bogenschütze?“ Die Frage verblüffte ihn.

,,Wir sind noch einhundertzweiundfünfzig, soweit mein letzter Stand war. Ich verstehe nicht…“

,,Balin, notiere dies. Ihr alle seid meine Zeugen“, sprach Thorin, ohne seine Augen von dem Menschen zu nehmen. ,,Auf dem Befehl des Königs hin, der mit sofortiger Wirkung in Kraft tritt, soll man einhundertzweiundfünfzig Fässer bis zum Rand mit Goldmünzen aus der Schatzhalle füllen. Jeder Überlebender Dales soll einen Anteil erhalten von dem, was ich einst versprach.“

Die Luft wich aus jedem. Alfreds Augen drohten aus ihren Höhlen zu springen. Gandalf lächelte glücklich.

Kein Wort brachte Bard zustande. Wie versteinert saß er da. Dann plötzlich ließ er sich vom Stuhl gleiten und fiel vor dem König auf die Knie. ,,Ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll…“

,,Mit Frieden“, antwortete Thorin und maß ihm seine Reaktion hoch an. ,,Der Weg zu einer friedlichen Zukunft in Freundschaft zwischen Zwergen und Menschen. Ich stehe zu meinen Verspechen. Mit dem Gold solltet ihr heil durch den Winter und das erste Jahr kommen. Macht die alte Stadt zu eurem Heim. Ihr habt es mehr als verdient.“ Bard blickte dem König aufrichtig in die Augen und nickte. ,,Bitte erhebt Euch, Drachentöter. Eigentlich müsste ich vor Euch knien, doch habt Nachsicht mit mir, wenn ich mich im Moment nicht dazu in der Lage fühle.“

Mit einem Schmunzeln tat Bard wie geheißen und trat näher, um ihm die Hand hin zu strecken. ,,Ein Handschlag genügt mir.“

Thorin nahm sie und besiegelte das Abkommen. ,,Ich wünsche Euch und Eurer Familie alles Gute. Tragt Euren Titel mit Stolz.“

,,Dasselbe wünsche ich Euch.“ Bard wollte bereits gehen, hielt jedoch noch einmal inne. ,,Ich wusste nicht, wann oder wie ich es ansprechen sollte.“ Er drehte sich um und plötzlich war sein Lächeln verflogen, die Stirn in tiefe Falten gelegt.

,,Es steht noch etwas aus und ich denke, es ist an der Zeit, dass es wieder dort hinkommt, wo es hin gehört.“ Daraufhin fasste Peridur sich in den Mantel und holte ein braunes Tuch hervor, was er an Bard weiterreichte. Darin etwas liegend.

Thorins Herz setzte ein paar Takte aus, nur um dann noch schneller zu klopfen als zuvor. Im nächsten Moment schlug Bard das weiche Leder beiseite und enthüllt den Arkenstein.

Wie gebannt starrte Thorin auf das Juwel und spürte, wie der Drache zu neuem Leben erwachte. Der Arkenstein glomm auf, die winzigen Splitter in seinem Inneren begannen umeinander zu wirbeln, so als würde der Stein spüren, dass er Zuhause war.

Thorin fühlte, wie er am ganzen Körper zu zittern begann. Er konnte seine Augen nicht von dem Leuchten abwenden, das durch das reine Weiß, das feine Orange und das glitzernde Blau drang und ihm entgegen strahlte. Er spürte die Anwesenheit des Steins ganz deutlich…und das, was dieser mit ihm machte.

Langsam reichte Bard ihm den Arkenstein. ,,Er gehört Euch.“

Thorin zwang seinen Blick zu den braunen Augen empor, die ihn die ganze Zeit aufmerksam beobachten hatten, der dazugehörende Körper gespannt wie eine Bogensehne, um auf die kleinste Aggression zu reagieren. Dann spürte er die anderen Blicke, die sich auf seine bloße Haut brannten. Jeder im Raum sah ihn an. Und dann dämmerte es ihm, warum…

Nimm ihn, Eicchenschild…

Unfähig in diesem Moment etwas zu sagen, leckte er sich über die trockenen Lippen und hob die Hand dem Leuchten entgegen, vorsichtig, um die Selbstbeherrschung nicht zu verlieren. Die Grenzen seines eigenen Ichs und der Geist der Bestie berührten sich. Nur allzu deutlich war er sich der Gefahr bewusst, in der er und alle anderen im Raum schwebten. Dann lag der Stein in seiner Hand. Thorin bettete das Königsjuwel in seinen Händen, schaute auf den Schatz, den er endlich wieder bei sich wusste.

Es war das erste Mal nach über sechzehn Jahren, dass Thorin den Schatz seiner Väter in den Händen halten konnte. Der Gedanke machte sein Herz leichter.

Mit aller Macht konzentrierte er sich auf dieses Gefühl - nicht die Sucht nach Schätzen und Gold, sondern das Wissen, dass nun auch der letzte Traum seines Großvaters in Erfüllung gegangen war. Thror wäre stolz auf ihn. Dieser Gedanke half.

Der Drache war scheinbar zufrieden gestellt und zog sich vorerst wieder in die Dunkelheit zurück.

Glücklich blickte Thorin auf das Juwel und sah dann mit zugeschnürter Kehle zu dem Mann auf, der es wochenlang verwahrte, obwohl er es schon längt für ein Vermögen hätte verkaufen können, und es nach allem nun zurückgebracht hatte.

,,Ihr seht Fürst Girion von Dale sehr ähnlich. Er war ein großer Mann. Sein Erbe aber scheint mir ein noch viel größerer zu sein.“

 

~

 

,,Der Arkenstein ist wieder dort, wo er hingehört.“ Gandalf nahm seinen Hut ab und ließ sich auf den Stuhl neben dem Bett sinken. ,,Danke.“ Er griff nach der Tasse Tee, die Wilar ihm eingeschenkt hatte. ,,Fili hat ihn sehr ehrenvoll zurück zum Königthron gebracht. Viele Zwerge waren versammelt gewesen. Dein Volk hat die Neuigkeiten von deiner voranschreitenden Genesung mit freudiger Erwartung aufgenommen. Sie wollen dich bald mit eigenen Augen sehen. Du wirst dich ihnen zeigen müssen als ihr König.“

Thorin blickte zum Fenster ohne wirklich hinauszusehen. Er hörte dem Zauberer kaum mit halbem Ohr zu. Ganz andere Dinge beschäftigten ihn. Bis er dessen Blick spürte.

Beunruhigt sah Gandalf zu ihm hinüber.

,,Der Junge ist sehr verlässlich“, wich er aus.

,,Was du heute getan hast, Thorin, war sehr ehrenvoll und das Richtige.“

,,Das hoffe ich.“

,,Das ist es“, verdeutlichte ihm der Zauberer. ,,Aber das ist es nicht, was dich beschäftigt. Hab ich recht?“

Im Hintergrund verschwand Wilar diskret.

Thorin fühlte die Leere nahe an seinem Herzen. ,,Nein, das ist es nicht.“ Und war froh, als Dwalin herein marschierte.

,,Läuft alles wie am Schnürchen da unten. Die werden Augen machen, wenn sie die Fassdeckel raus hebeln.“ Er ging hinüber an die Fenster und sah hinaus in das Schneetreiben. ,,Was für ein Sauwetter da draußen.“

,,Dwalin, würdest du uns für einen Moment alleine lassen. Ich möchte mit Thorin unter vier Augen sprechen.“ Der glatzköpfige Krieger drehte sich zu ihm um und Thorin widersprach.

,,Nein, er kann bleiben. Es gibt nichts, was ich vor ihm geheim halten sollte.“

,,Hey, danke, Bruder.“

,,Nun gut.“ Gandalf nippte an seinem Tee, ehe er ihn beiseite stellte. Dann faltete er die Hände und lehnte sich zurück. ,,Ich war nicht dabei. Weder als ihr die geheime Tür erreicht habt, noch als ihr auf den Drachen traft. Oder du auf das Gold.“

Thorin wusste sofort, dass diese Unterhaltung hinab in seine eigene, ganz persönliche Dunkelheit führen sollte, die er selbst über alles verabscheute. Genau zu jener Macht, die in ihm wohnte.

,,Es gibt für die Drachenkrankheit keine Heilung. Aus irgendeinem Grund konntest du dich von ihr befreien, hast zu dir selbst zurückgefunden. Bitte. Erzähl mir, was passiert ist.“

Thorin wand das Gesicht ab. Lange Zeit starrte er den Hügel an, der sein bandagierter Fuß unter der Decke bildete. Er blieb still. Dwalin und Gandalf warteten in Ruhe ab, bis er von selbst begann zu erzählen. Niemand ahnte, was Thorin in diesen wenigen Sekunden noch einmal durchlebte.

,,Ich habe meinen Tod gesehen.“

Gandalf legte sich die Fingerspitzen an die Lippen und sah ihn an. Seine ganze Aufmerksamkeit gehörte ihm.

,,Ich habe gesehen, wie mich das Gold vernichten würde, wenn ich nichts ändere. Es hat mich einfach verschluckt und dann war ich nicht mehr da. Als hätte ich nie existiert. Es öffnete mir die Augen.“ Thorin atmete zittrig ein. ,,Es fällt mir so schwer darüber zu sprechen, Gandalf… Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“

,,Nur Mut, mein Freund. Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Erzähl uns alles und lass nichts aus.“

Thorin brauchte lange, bis er weitersprechen konnte. Es fiel ihm unendlich schwer, über etwas zu reden, was er lange nicht wahrhaben wollte, und was ihn so verändert hatte.

,,Es ist nicht bloß eine Krankheit, Gandalf. Es ist etwas viel Größeres und Gefährlicheres. Es ist Smaugs Fluch an mich.“

,,Als du erwacht bist, sagtest du etwas ganz Ähnliches. Kannst du deine Worte für uns erklären?“

,,Smaug ist nicht tot. Er lebt…hier drin.“ Thorin berührte seine Brust, wo er damals diese dunkle Macht immerzu gespürt hatte. ,,Da ist seine Stimme…dieses Gefühl, wenn sich etwas Fremdes in deiner Seele regt… Dunkel. Und mächtig.“

,,Wie kam Smaug an deine Seele heran?“

Verzweifelt schüttelte er den Kopf. ,,Ich weiß es nicht…“

,,Thorin, denk nach! Es ist wichtig. Irgendwie muss Smaug dich erreicht haben. Gab es eine Art Auslöser?“

Seine Augen bewegten sich ruhelos in dem Chaos seiner Gedanken durch das Zimmer. Dann plötzlich fiel es ihm ein. ,,Die Glocke.“ Thorin starrte Gandalf an, als er begann sich zu erinnern. ,,Esgaroth brannte. Bard tötete Smaug und ich ging zurück nach Erebor. In den Eingangshallen lag die Thjalfar Glocke und ich berührte sie. Ihr Gold…es zog mich magisch an. Ich legte die Hand darauf…und sah Smaugs Abbild darin auftauchen. Er hat etwas zu mir gesagt... Ich habe Euch erwartet, das sagte er.“

,,In welcher Gefühlslage hast du dich befunden? Er muss eine Schwäche von dir ausgenutzt haben, um leichter an deine Seele heranzukommen.“

Thorin senkte den Blick und schluckte. ,,Ich habe an mein getötetes Volk gedacht. Und an meinen Bruder.“

Gandalf rieb sich die gerunzelte Stirn und sagte lange nichts.

,,Der Drache hat Erebors Gold verflucht, um an dich heranzukommen.“ Der Zauberer nahm erneut das Teeservice und rührte mit dem Löffel darin herum. ,,Früher oder später hättest du es berührt, eine Münze, einen vergoldeten Kelch, die Glocke… Irgendein Stück Gold. Smaugs Geist hat auf den Thronerben gewartet. Um Rache zu üben. Oder um ihn für seine eigenen Pläne zu benutzen.“

Nun regte sich auch Dwalin wieder, der wie versteinert am Fenster gestanden hatte. ,,Dann stimmte es also, als du sagtest, du wärst der Drache.“

Unglücklich nickte Thorin. ,,Dunkelheit hatte von mir Besitz ergriffen. Smaug ließ mich Dinge tun, sagen und denken, für die es keine Entschuldigung gibt. Es tut mir so leid, was ich zu dir gesagt habe. Das war nicht ich.“

,,Schon in Ordnung, Kumpel. Du…“

,,Nein, nichts ist in Ordnung! Ich hätte dich fast getötet. Ich habe meinen eigenen Neffen geprügelt, hunderte Leben waren mir gleichgültig... Ich konnte mich nicht mal dagegen wehren. Alles ließ ich über mich ergehen...“ Thorin schloss die Augen und vermeid es, in sich hinein zu horchen. Ab sofort war er sein eigener Gefängniswächter. Er allein hatte die Kontrolle über den Ort in sich, der den Drachen einschloss. Der Gedanke, dass etwas, was man mit dem Eintausch seines eigenen Lebens geschworen hatte zu töten, man vielleicht nie wieder loswerden würde, war grausam und zugleich seltsam ernüchternd.

,,Wisst ihr, was das Schlimmste ist?“, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten. ,,Das Wissen, dass er immer noch da ist. Ich habe ihn weggesperrt, an einem Ort, tief in meiner Seele. Doch es zermürbt mich, nicht zu wissen, ob ich den Drachen je wieder aus mir treiben kann.“ Abermals musste er an all die Taten denken, zu denen er angestiftet wurde, an einen Schwerthieb, der ihm das Licht in seinem Leben rauben wollte.

,,Ich hasse mich für alles, was ich durch Smaug getan habe.“

,,Dafür gibt es keinen Grund. Thorin, du kannst nichts da…“

,,Ich wollte sie umbringen, verstehst du nicht?“, fiel er Gandalf laut ins Wort. ,,Ich wollte Marie töten! Ich verachtete sie, weil sie ein Mensch ist! Weil sie nicht zu uns gehörte! Weil ich durch sie weich geworden war!“

,,Was sagst du da?“ Fassungslos starrte Dwalin ihn an.

,,Die Gedanken an sie…“ Thorin ballte die Fäuste, um ihr Zittern zu unterdrücken. ,,Ich wurde wahnsinnig, aber sobald ich an Marie dachte… Dann konnte ich atmen. Dann hatte ich etwas, was ich gegen die Dunkelheit richten konnte, damit sie verschwand. Sie wollte mich vor dem Drachen retten. Smaug wollte sie töten - ich wollte sie…“ Beidhändig fuhr er sich durch die Haare. ,,Ich sagte mir immer wieder, dass ich nicht mein Großvater sei und erinnerte mich an Maries Abschiedsworte. Den Rest kennt ihr bereits.“ Er sah zu seinem Weggefährten.

,,Smaug ist immer noch in mir. Und das bin ich mir nur allzu bewusst. Wenn es nicht so wäre, wäre Marie schon längst wieder an meiner Seite.“ Seine Zuhörer nickten, als verstünden sie es.

,,Ich kann sie nicht sehen. Noch nicht. Nur deswegen ist sie noch in Kerrt. An einem Ort, an dem ich sie in Sicherheit weiß.“ Hart musste Thorin an der Wahrheit schlucken. ,,Weit weg von mir.“

Es blieb still im Raum. Die Anwesenden mussten das Gehörte erst verarbeiten.

Dwalin räusperte sich. ,,Das erklärt einiges“, sagte er als Erster nach dem Schweigen. ,,Ich dachte schon, du wolltest dein altes Junggesellenleben wieder zurück.“

,,Ich liebe sie. Ich werde sie nie wieder loslassen können.“

,,So langsam wird mir alles klar“, sagte Gandalf nun, der für einen Moment, mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt die Teetasse angestarrt hatte. Nun trank er aus und stellte sie aus den Händen. ,,Was du erzählst, Thorin, ist höchst interessant.“

Der Betreffende zog eine Augenbraue hoch. ,,Ich würde es nicht so beschreiben.“

,,Aber ja doch. Nun wird mir klar, warum ich nichts in Thrors Aufschriften gefunden habe. Die Drachenkrankheit hat bei dir ganz neue Formen angenommen. Sie ist nicht länger eine Krankheit, sondern Smaugs ganz persönlicher Fluch an dich. Nur äußerst wenige Fälle von der Krankheit sind überhaupt bekannt – ein Glück, doch nie hat ein Betroffener derartige Schilderungen gemacht. Was du erlebst, hat vor dir noch keiner erlebt. Parallelen ergeben sich mir. Meine Vermutungen gingen in die richtige Richtung.“

,,Moment mal!“ Vorwurfsvoll funkelte Dwalin den Zauberer an. ,,Soll das etwa heißen, du wusstest, dass es so kommen wird?“

,,Ich ahnte lediglich, dass die Krone von Thror ihre Schatten auch auf Thorin werfen würde“, korrigierte er ihn. ,,Du und ich, wir wissen beide so gut wie jeder andere über die Gerüchte der Krankheit Bescheid, machen wir uns also nichts vor. Dass Smaug soweit gehen würde, hätte jedoch niemand vorher sehen können. Seine Macht musste noch stärker gewesen sein, als angenommen.

Dass Thorin aber Marie wiedergefunden hat, die er einen so großen Wert in seinem Leben eingeräumt hatte und dass sie ihm mehr helfen konnte, als wir alle geahnt hatten, hat ganz gewiss das Schlimmste verhindert.“ Wie gebannt hörte Thorin dem Zauberer zu, als dieser seine eigenen Gedanken bestätigte.

,,Die Liebe ist die stärkste Macht, die es gibt auf dieser Welt. Sie lässt uns Dinge tun, vor denen wir uns vorher fürchteten, und lässt uns über uns selbst hinauswachsen. Sie gibt uns Kraft, erlaubt uns zu wünschen und zu hoffen und schenkt Licht, wo Dunkelheit herrscht. Und genau diese Liebe hat dir geholfen.“

Gandalf machte eine Pause, um seinen Zuhörern Bedenkzeit zu geben und Thorin wurde ein weiteres Mal klar, dass Marie ihn tatsächlich gerettet hatte. Auf so viele, erdenkliche Weise.

,,Was ist, wenn ich Smaug nicht länger Herr werden kann, Gandalf?“ Er versuchte in dem weltgewandten Gesicht seines Gefährten eine Antwort zu finden. ,,Was ist, wenn ich Marie etwas antue? Sollte dies passieren, werde ich es mir niemals im Leben verzeihen können. Ich werde daran zugrunde gehen.“

Gandalf verzog keine Miene. ,,Ich gebe dir Recht, sie noch nicht nach Erebor zu holen. Solange wir Smaugs Macht über dich nicht einschätzen können, bleibst du eine Gefahr. So leid es mir tut.“

Ich allein bin die Gefahr für sie… Ein Stück seines Herzens zersprang. Es würde nie wieder wie vorher sein.

,,Was hast du nun vor?“, fragte Dwalin ihn leise.

,,Ich werde gesund und werde lernen müssen, mich mit Smaug zu arrangieren. Erst dann werde ich zu ihr zurück kehren, so wie ich es ihr versprach.“ Wiedererwarten blieb sein bester Freund ohne Einwände. Dwalin musste spüren, dass er ihn nicht davon abbringen könnte, auch wenn er es versuchen würde.

Lediglich sagte er: ,,Du solltest ihr schreiben.“

Nun war es Thorin, der nickte. ,,Würdest du mir Feder und Papier bringen?“

Und das tat er.

 

In dieser Nacht schrieb Thorin einen Brief an Marie. Im Schein einer einzelnen Kerze saß er an dem Schreibtisch in seinem Zimmer. Gesellschaft leistete ihm Rakhnarar, der Clanführer der Bergraben Erebors. Oben auf dem Schrank hockte der alte Vogel und schlief, dessen von den Jahren zerzaustes Gefieder einzelne graue Federn aufwies. Schon seit Gedenken stand das Clanoberhaupt der Raben dem König nahe.

Seine Männer hatten ihm gebeichtet, dass sie hinter seinem Rücken einen Brief bereits gen Kerrt geschickt hatten bevor der Krieg ausbrach. Seitdem hatte es keine Nachrichten mehr gegeben. Was dachte Marie über ihn und über den Verbleib der Gefährten? Wenn die Berichte über die Schlacht sich über die Länder verbreitet hatten, dann würde sie davon wissen. Entweder wusste sie, dass Thorin lebte, oder, wie er befürchtete, würde sie seinen Tod annehmen.

Es zerriss ihn schmerzhaft in zwei. Am liebsten würde er Dwalin, Kili oder Fili sofort gen Westen reiten lassen, doch es war allein die Vernunft, die ihn zügelte, sein Mädchen nach Erebor bringen zu lassen. Die Gefahr, die von ihm ausging, war allgegenwärtig.

Tiefschwarz strömte die Tinte aus dem Federkiel, hinterließ Buchstaben, Wörter, Sätze auf dem Pergament. Dass es sein Herzblut war, sah niemand. Die Narben, die es erneut aufriss wurden mit jedem Strich tiefer. Die inneren wie die äußeren.

Die Sehnsucht nach ihr schmerzte immer noch so wie am ersten Tag. Worte kamen aus der Feder, entsprangen seiner Seele. Thorin schrieb viel, versenkte sich selbst darin, doch verschwieg ihr die Wahrheit. Ihre Zeit würde noch kommen.

Immer wieder stoppte er, um seinen Blick in der geöffneten Schublade ruhen zu lassen und die Briefe aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit zu betrachten. Er schrieb langsam, nachdenklich, fand die richtigen Worte, um das auszudrücken, was ihn bewegte. Wonach er suchte.

Als er endete, wusste er, dass er sich für den richtigen Weg entschieden hatte. Thorin ließ die Tinte kaum trocknen, da steckte er es in dünnes Leder, um das Papier auf den Flug gegen Nässe zu schützen. Er tat ein weiteres Pergament dazu, faltete und verschnürte alles mit einer Kordel. Flüssiges Wachs verschloss die Nachricht. Dann nahm Thorin einen Stempel mit dem königlichen Siegel und drückte ihn in die noch warme Masse. Das Wappen Erebors würde sein Geleit geben.

Er schob den Stuhl zurück, nahm den Stock, der an seiner Seite gelehnt hatte, und versuchte aufzustehen. Rakhnarar wurde wach und flog zu ihm. Mit ihm auf der Schulter humpelte Thorin langsam, sich an der Wand entlang tastend zu einem der Fenster hinüber. Als er es öffnete, schlug ihm die Nachtluft eiskalt entgegen und belebte seine Sinne neu. Durch das Licht des vollen Mondes konnte man den Schnee im Hochgebirge noch in der Nacht sehen. Klar funkelten die Sterne am Firmament.

,,Bring mir deinen besten Flieger.“ Auf den Befehl hin verschwand Rakhnarar. Thorin blieb zurück und schaute in die klare Winternacht, während er Resümee über den Verlauf der Geschehnisse zog.

In seiner geistigen Abwesenheit hatten seine Männer seine Pflichten für ihn übernommen, hatten alles organisiert und eingeleitet, über das er froh und dankbar war. Er würde ihnen blind vertrauen. Erebor war in guten Händen gewesen.

Jeden Tag kamen immer noch Zwerge an, obwohl man damit erst im Frühling gerechnet hatte. Familien nahmen den beschwerlichen Weg in Kauf und strömten aus allen Himmelsrichtungen in ihre alte Heimat. Man organisierte sich ganz neu. Überall wurden Wohnhallen auf Vordermann gebracht, um neue Heime zu schaffen. Die Stimmung unter seinem Volk wäre voller Elan und hoffnungsvoll, so erzählte es ihm Balin. Dessen Frau Wilar hatte das Amt für die Verwaltung des Personals genommen. Die alte Dame war trotz ihres Alters keine, die Zuhause die Füße hochlegte. Anders kannte Thorin sie nicht. Es erwies sich als ratsam, denn ihre Aufgabe wurde schon jetzt benötigt.

Frauen hatten sich bereits um eine Stelle als Zimmermädchen oder Köchin beworben. Bruna und ihre älteste Tochter hatten die Küche unter ihre Fittiche genommen. Wilar konnte es nicht lassen und schaute auch dort regelmäßig nach dem Rechten.

Gloin war inzwischen neuer Waffenmeister, Oin wollte die Krankenstube übernehmen, Bifur und Bofur hatte sich eine verwaiste Schreinerei mit Drechslerei als ihr Eigen gemacht und Nori hatte schon die ein oder andere Bettgefährtin gefunden. Etliche Soldaten ließen sich ins Militär einschreiben. Fili schien Gefallen an der Verwaltung ihrer Verteidigung gefunden zu haben, was Thorin mit väterlichem Stolz erfüllte. Er und Dwalin verbrachten viel Zeit zusammen in den alten Schreibstuben der Offiziere, um sich auch dort neu zu strukturieren. Er war von unermesslichem Stolz erfüllt, zu wissen, dass Erebors Fahnen wieder wehten und Thorin wagte es zu hoffen, dass irgendwann alles gut werden würde.

Zwei dunkle Schemen schossen aus der Dunkelheit auf ihn zu und ließen sich von einer Windböe empor auf die Fensterbank heben. ,,Krah! Bergkönig!“ Rakhnarar war in Begleitung zurückgekehrt.

,,Dies hat oberste Priorität.“ Thorin legte den Umschlag vor dem zweiten Tier ab und ließ seine Fingerspitzen darauf ruhen. ,,Bringe diesen Brief nach Kerrt, zu dem einzelnen Haus am Waldrand. Dort wohnt eine Frau Namens Marie. Für sie ist dieser Brief bestimmt. Lass das beigelegte Dokument als Beweis unterzeichnen, damit ich sicher bin, dass es angekommen ist. Flieg noch heute. Du darfst keine Zeit verlieren.“

,,Werde fliegen, Krah! Dunkelkralle kennen Weg“, krächzte der Rabe mit Namen Dunkelkralle und nahm die wertvolle Nachricht in seine Fänge.

,,Viel Glück und komme heil an.“

Rakhnarar flatterte zurück auf Thorins Schulter und schmiegte sich in den Fellkragen seines Mantels, während dieser dem Raben nachsah, der ein kostbares Päckchen hinaus in die Nacht trug.

 

~

 

Der Umhang, in dem man ihn gehüllt hatte, war pechschwarz, warf in der Bewegung silberne Wellen im Licht der Lampen und Fackeln. Schon oft hatte er sich einen Moment wie diesen gedanklich ausgemalt, doch seine Träumereien waren nicht vergleichbar mit der Realität, die ihn jetzt umgab.

Thorin stand vor den geschlossenen Türen der Thronhalle und war in einen Tunnel versunken. Er wusste, dass jeder, der konnte, sich versammelt hatte, um diesen Moment mitzuerleben. Um ihn zu sehen.

Er wartete zusammen mit Balin und Dwalin. Letzterer hatte zuvor seinen stützenden Arm fortgenommen. Es war seine Entscheidung und sein Wunsch gewesen, ihn allein gehen zu lassen. Keiner hatte Bedenken erhoben. Alle Gefährten wussten, wie wichtig dieser Augenblick für ihren Anführer und für ihr Volk war.

Seine Anspannung machte die Schmerzen in seinem Körper kaum erträglicher, doch Thorin dachte nicht daran, einen Rückzieher machen. Er fühlte sich seinem Volk und seinen Vätern verpflichtet.

Man tupfte ihm noch schnell den Schweiß von der Stirn. Dann wurden die Türen geöffnet und der König Erebors betrat den Saal. Das monotone Brummen von unzähligen Gesprächen auf den Emporen war wie auf ein unsichtbares Zeichen verstummt, als spürten die Zwerge die Anwesenheit ihres Königs, der aus dem Reich der Toten wiedergekehrt war.

Statuen alter Krieger glommen in ihrem sanften Petrolgrün wie schon zu den Zeiten seiner Ahnen und säumten Thorins Weg zum Königsthron. Der Gehstock gab beim Aufsetzen ein leises Klacken von sich. Ansonsten war es vollkommen still in der Halle, die Luft erfüllt von Ehrfurcht. Von Ergriffenheit und Stolz.

Alle Blicke ruhten auf ihm.

So gut es ging schritt Thorin auf den Thron zu, spürte wie betäubt keinerlei Schmerz, der in seinen Knochen pulsieren musste. Er war versunken in seiner Pflicht als ihr König.

,,Dechtanogh“, hörte er Stimmen wispern.

,,Er sieht aus wie Thror…“

,,Ein Wunder…“

,,Dechtanogh.“ Der Todgeglaubte.

Erstmals hob Thorin den Blick. Wie einst war der Thron geschmückt mit einem schimmernden Licht. Bläulich brach es sich im Gold der Krone, als er schließlich unter dem Arkenstein zum Stehen kam. Mit einer anmutigen Geste schwang er den schweren Umhang, drehte sich um und verharrte einen Moment, um sein Volk anzublicken.

Gandalf betrat das Plateau und erhob die Stimme. ,,Keine Dunkelheit ist so mächtig, dass ein Licht voller Hoffnung, Mut und Glaube sie nicht brechen könnte. Hoffnung hat diese Männer angetrieben das Abenteuer zu wagen.“ Der Zauberer sah zu den Gefährten hinüber, die sich auf der anderen Seite des Throns versammelt hatten. ,,Mut hat sie beflügelt jeder Gefahr zu trotzen und ihr Glaube an das Gute hat sie vor dem Aufgeben abgehalten. Erebors Hallen sind wieder erleuchtet. Der König unter dem Berge ist zurückgekehrt. Möge er mit Güte und Weisheit regieren und seinem Land zu altem Stolz verhelfen.“ Gandalf richtete seinen Blick nun auf Balin, der vorgetreten war.

Thorin blickte seinen Weggefährten an und der alte Zwerg verbeugte sich tief. ,,Lang lebe der König.“

Ein jeder seines Volkes tat es ihm gleich und wiederholte die Worte voller Ehrdarbietung. ,,Lang lebe der König.“

,,Lang lebe der König…“

Thorin ließ sich auf dem Thron nieder und hob den Kopf.

Über allen strahlte der Arkenstein.

 

~

 

Die Erde mit jenen, die an sie gekettet waren, für immer verdammt, nie die Welt mit den Augen eines Vogels sehen zu dürfen, wurde unwichtig und klein, je höher Dunkelkralle sich vom auffrischenden Wind tragen ließ.

Mit einem Schrei stürzte er sich wagemutig in die Tiefe. Der Wind fing ihn auf, fuhr unter jede einzelne seiner Federn. Sein ganzer Körper erzitterte unter der Geschwindigkeit und dem Druck, mit der Wind und Wolken unter ihm entlang rauschten. Ein gezielter Aufwärtshieb brachte ihn wieder in die Waagerechte. Die Flügel weit gespreizt, um die Balance zu halten, ließ er sich tragen. Wie herrlich es doch war, zu fliegen!

Die Sonne brach durch die Wolken und ließ die Landschaft unter ihm im weißen Kleid dahingleiten. Er war die Nacht durchgeflogen, um mit dem Aufgang der Sonne in seinem Rücken seinen Weg fortzusetzen. Sie Raben konnten bei weitem nicht so gut in der Nacht schauen wie diese neunmalklugen Eulenvögel, doch das Mondlicht war ausreichend gewesen, damit auch er sich zurechtfinden gekonnt hatte. Zu stolz auf seinen königlichen Auftrag, als dass er hätte rasten können, war er dem Befehl des Bergkönigs gefolgt. Es war Dunkelkralles erster Auftrag als Bote, was ihn nur noch wichtiger machte. Er würde die Reihe seiner Vorfahren fortsetzen, die schon den Königen der Könige des Einsamen Berges gedient hatten.

Weil er gewiss kein dummer Vogel war, rastete er, als die Sonne allmählich höher kroch auf einem Baum. Er wusste, dass er bei den Wetterbedingungen seine Kräfte sparen musste.

Zufrieden mit sich selbst und mit der bereits zurückgelegten Strecke, steckte er den Kopf unter den Flügel und nahm sich vor, ein oder zwei Stunden zu schlafen, den Brief fest in seinen Krallen haltend.

 

Weit in der Ferne, von dichten Nebelkleidern umwoben, tauchte das lange Gebirge am Horizont auf und ließ ihn wissen, dass er seinem Ziel schon ganz nahe war. Dunkelkralle drehte den Kopf und suchte den Erdboden nach dem einzelnen Haus ab. In der Ferne sah er Schornsteine qualmen. Steinhäuser, aber kein Wald, wie der Bergkönig beschrieben hatte und so drehte er bei und flog auf die nächste da kommende Ansammlung an Steinhäusern zu, in denen die Zweibeiner lebten. Der Wind hatte inzwischen die Richtung geändert und zudem zugenommen. Er musste mehr Kraft in seine Flügelschläge legen, die Schwingen schräg stellen, um sich nicht abtreiben zu lassen.

Dann ein schriller Ruf über ihm. Dunkelkralle wandte den Kopf. Vorgestreckte Klauen rasten auf ihn zu. Ein schneller Aufwärtsschlag im Instinkt und der Bussard griff in die Luft, schoss wie ein Komet an ihm vorbei. Der Rabe umklammerte den Brief fester und flog los. Der Greifvogel nahm die Verfolgung auf.

Nur quälend langsam krochen die Steinhäuser näher. Der Bussard näherte sich ihm auf wenige Spannen. Er hörte die Fluggeräusche dicht in seinem Nacken und als sie am nächsten waren, legte er die Flügel an und fiel abwärts. Der Erdboden raste auf sie zu. Kurz vor dem Aufprall schoss der Rabe wieder hinauf, flog durch aufwirbelnden Schnee hindurch. Laut zeternd schlug er Haken, warf ihm wüste Beleidigungen an den Kopf, um seinen Verfolger abzuschütteln. Doch dieser war wohl flinke Kaninchen gewöhnt und verlor kaum an Distanz. Dunkelkralle keuchte inzwischen. Die kalte Luft schnitt ihm scharf in den Hals. Nicht mehr lange würde er dieses Tempo halten können. Dennoch legte er all seine Kraft in die Flügel, wurde noch schneller, den Blick starr auf die Steinhäuser gerichtet, die sich ihnen näherten.

Er krallte sich in das Leder und an seinen Auftrag. Er war doch viel zu zäh für diesen hungrigen Vogel!

Dann endlich waren Dachschindeln unter ihm. Er konnte es schaffen! Er steuerte auf ein großes Haus zu, als sich ein oberes Fenster und damit sich seine rettende Chance eröffnete.

Niemals würde ihm der Bussard folgen, zu sehr fürchtete er die ungewohnte Umgebung und die Zweibeiner. Dunkelkralle zog die Flügel ein und schoss durch die Öffnung im Mauerwerk.

Dem Bussard bleib nichts anderes übrig, als eine scharfe Kurve zu schlagen.

Mit wackeligem Flattern kam der Rabe auf einem Tisch zum Landen. Schwer atmend hörte er den wütenden Schrei seines abziehenden Verfolgers, als sich etwas in seinem Blickwinkel bewegte. Er drehte den Kopf und fand sich einer Menschenfrau gegenüber, die in diesem Moment mit einem langen Stock ausholte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

10

 

 

Mach, dass du raus kommst! Verschwinde! RAUS!“

Der Reisig traf ihn und schleuderte den Vogel auf den Fußboden. Die Frau presste das Ende des Besens auf ihn. Dunkelkralle fing an zu zappeln. Federn stoben auf. Selbst auf dem Rücken liegend war sein Krächzen ohrenbetäubend.

,,Halt endlich den Schnabel, du dummes Vieh!“ Sie warf sich ihre verwüsteten Haare zurück in den Nacken, da fiel ihr Blick auf das, was der Vogel fallen gelassen hatte. Einen Fuß auf den Stiel gestellt, hob sie das dünne Päckchen auf. Neugierig öffnete sie die Kordel und starrte augenblicklich auf die Oberseite eines Briefes, der darin eingeschlagen war. Ihre Augen brannten sich durch die zwei Wörter, die man darauf geschrieben hatte. Für Marie. Ihre Atemzüge gingen abgehackt. Dann brach sie das Siegel auf.

,,Krah!! Nein! Nicht Brief für dich!“ Der Rabe wollte sie daran hindern und versuchte sich zu befreien. Dieses Vieh konnte auch noch sprechen?

,,Ruhe!“, zischte sie scharf. Das Tier verstummte und gab nur noch weinerlich gurrende Laute von sich. Rasch überflog sie die Menge an Zeilen und konnte kaum glauben, was sie da las.

,,… In ewiger Liebe, Thorin.“

Diese kleine Schlampe…

Fast hätte sie das Papier vor Wut zerknüllt. Marie hatte sie zum Gespött des ganzen Dorfes gemacht. Niemand beachtete sie noch, und wenn, dann nur mit abschätzenden Blicken. Jeder wusste über den Vorfall auf dem Marktplatz Bescheid.

Und seitdem hasste ihr Bruder sie.

Diese Anna hatte einfach kein Recht dazu, ihr ihren großen Bruder wegzunehmen! Um diese schandhafte Frau aus ihrem Haus fernzuhalten, hatte sie getan, was nötig war, doch alles, was sie erreicht hatte war, dass Gregor sich noch weiter von ihr entfernte. Nun fürchtete sie, dass sie ihn wegen Marie für immer verloren hatte. Als wäre alles nicht schon schlimm genug, hatte ihr Vater ihr auch noch angedroht, sie mit dem Erstbesten zu verheiraten, der um ihre Hand fragt - egal, wer es sein würde, damit sie wieder zurück in die Realität käme.

Ihre Zukunft war zerstört! Ihr guter Ruf dahin. Und alles nur wegen diesem naiven Bauernmädchen.

Mit diesem Brief aber erschien auf ihren Lippen ein Lächeln von triumphierender Kälte. Nun sollte sie schneller ihre Chance auf Rache bekommen, als sie gedacht hatte.

,,Oh, was hab ich nur getan? Das tut mir ja so schrecklich leid!“ Eilig trat sie vom Besen, um den Raben zu befreien. ,,Hab ich dich verletzt?“ Sie mimte die Stimme, mit der sie früher ihren Vater um den Finger gewickelt hatte. Aber damit war ja Schluss, dank einer gewissen Person…

Der Rabe rappelte sich auf und flog zurück aufs Fensterbrett, brachte genügend Abstand zwischen sich und ihr, was ihr nur recht war. Wer weiß, was dieses Vieh für Parasiten mit sich trägt. Jetzt hing jedoch alles daran, das Vertrauen dieser wilden Kreatur zu bekommen. Er plusterte sich auf, funkelte sie aus schwarzen Augen heraus an.

,,Bitte, verzieh mir“, sie presste sich die Hand auf die Brust und atmete theatralisch ein, ,,aber du hattest mich schrecklich erschreckt. Du musst sicherlich erschöpft sein. Warte, hier ist etwas Wasser für dich.“ Sie nahm eine Schale und füllte diese mit etwas Wasser aus dem Krug. ,,Bitte. Hab keine Furcht vor mir.“

Doch der Vogel ignorierte das hingestellte Wasser und tapste aufgebracht hin und her. ,,Brief!“

,,Oh, mach dir darum keine Sorgen. Du hast Glück gehabt, zu mir zu kommen.“ Sie kam sich absolut albern vor mit einem Tier zu sprechen. Aber offenbar verstand der Vogel sie, denn er legte misstrauisch den Kopf schief.

,,Ich bin eine Freundin von Marie.“ Sie tippte auf die Zeilen. ,,Ich kenne den Absender. Thorin wird sich freuen, wenn er von mir erfährt. Ich werde den Brief ihr sofort bringen.“

Doch damit ließ der Vogel sich noch nicht abwimmeln. ,,Nein, Krah! Brief zu Marie!“

Meine Güte… Ja, doch! Ihr fiel es schwer, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. ,,Ich bringe ihn ihr sofort. Wir sind Freundinnen! Es ist so… ihr geht es im Moment nicht so gut.“

,,Dunkelkralle geben ihr! Dunkelkralle Weg kennen!“

,,Sie ist umgezogen! Sie wohnt da jetzt nicht mehr. Ich aber weiß, wo sie ist.“ Allmählich funktionierte es. Der Rabe machte den Anschein, als glaubte er ihr.

,,Marie nicht da?“

,,Ja.“ Das sagte ich doch!

,,Du kennen Bergkönig?“

König?? Das wird ja immer interessanter.

,,Ich kenne Thorin, ja“, antwortete sie, doch der Rabe schien immer noch mit sich zu hadern. Sie überlegte zweimal, ob es nicht einfacher wäre, den Vogel mit dem Besen und einem kräftigen Schlag den Gar auszumachen. Doch da flog dieser bereits auf den Fußboden und pickte auf einen leeren, kleineren Zettel, der mit in der Lederhülle gelegen haben musste und herausgefallen war. ,,Hier. Schreiben.“ Offenbar war dieses Tier doch nicht so blöde, wie sie gedacht hatte.

,,Aber natürlich. Ich werde ihm schreiben, wer ich bin, und dass der Brief in gute Hände gekommen ist. Du wirst sehen. Und dein König wird sehr zufrieden mit dir sein.“ Eilig suchte sie Schreibzeug zusammen, ehe er es sich anders überlegte. Der in Tinte getunkte Federkiel schwebte über dem Papier, als sie inne hielt und fiebrig nachdachte. Dann kam ihr die perfekte Lösung. Marie hatte sie bestimmt irgendwann einmal erwähnt, so oft, wie sie zusammen hockten, und sie betete, dass er sich an den Namen erinnern würde. In ein, zwei Sätzen schrieb sie eine Antwort und setzte dann die Unterschrift darunter. Sprechen konnte dieses Tier, bestimmt aber nicht lesen.

Nachdem sie es zurück in das Leder gesteckt und dieses verknoten hatte, hielt sie es dem Vogel hin. Der Rabe riss ihr die Nachricht aus der Hand, hüpfte zum Fenster und flog eilig davon.

,,Das ist er also. Thorin…“, murmelte sie und ließ erneut ihre Augen über die Zeilen streifen, die selbst ihr weiche Knie machten. Hatte sich diese Hure also die Gunst eines Königs erschlafen… Was für ein Mann mochte er wohl sein?

,,Jammerschade, dass deine Liebste dies nie zu Gesicht bekommen wird.“ Zufrieden mit sich und ihrem Plan, schlenderte sie zum Kamin hinüber und warf den Brief ins Feuer. Zerstörerisch fraßen sich die Flammen durch die Zeilen und ließen Donja lächeln. Rache war süß.

 

~

 

Nahtlos war das alte Jahr in ein neues übergegangen. Der Frühling rückte in Mittelerde näher, doch hier im Hochland des Einsamen Berges wollte der Winter noch nichts davon hören. Graupelschauer wüteten über den Ebenen, als wäre er zornig über seinen erwachenden Bruder, den Frühling.

In der Stadt unter dem Berge war man vor Kälte und Eis sicher. Heimelig und ruhig war es in Erebor geworden.

Thorin saß an dem Schreibtisch seines Großvaters und studierte Listen und Protokolle, die ihm kurz zuvor vorbeigebracht wurden. Stumpfe Schreibarbeit. Auch das, so wusste er, gehörte zu den Aufgaben eines Königs, der über ein Land regierte, welches sich gerade erst erholt hatte. Ab und an nippte er an dem Wein, den ihm sein Zimmermädchen stets auf einem Silbertablett bereit stellte. Inzwischen waren die königlichen Gemächer sein privates Reich geworden. Hier oben hatte er sich heimisch gemacht.

Der Stock, der Wochen zuvor noch stets in Reichweite lag, war verschwunden. Manchmal schmerzte es in seinen Körper noch, doch das wurde immer seltener.

Aus Stunden waren Tage geworden, aus Tagen Wochen, Monate, in denen er seinen Körper zur alten Stärke trainiert hatte. Jede freie Minute hatte er das Laufen geübt. Auf den Stock gestützt schaffte er täglich eine längere Strecke, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Zuerst im Zimmer, eigensinnig von einer Seite zur anderen. Er übte im Flur, lief ihn unermüdlich auf und ab. Dann war es soweit, dass er sich an Treppen heran wagte und meisterte. Nur langsam war seine Kraft zurückgekehrt. Dafür spürte er noch tagelang heftigsten Muskelkater.

Doch die Mühen zahlten sich aus. Mit jedem Meter, den er ohne fremde Hilfe schaffte, jeder Schwerthieb, den er ohne Schmerzen führen konnte, kam er seinem alten Leben ein Stück näher.

Unter den Augen seiner Familie hatte Thorin sich zurück ins Leben gekämpft. Von seinen Wunden waren heute allein die Narben übrig. Durch Tauriels Fürsorge, die anfangs noch jeden Tag nach ihm schaute, waren die Knochen in seinem Fuß geheilt.

Wie erwartet hatte es einen großen Skandal gegeben, als ihre Anwesenheit an die Öffentlichkeit gelangt war. Inzwischen war dieser so gut wie abgeebbt. Man hatte sich mit geknirschten zähnen mit dem Gedanken arrangiert, dass eine Elbe hier war, um zu lernen. Wie ein Dieb musste Kili auch weiterhin Essen aus der Küche für sie holen, weil Bruna sich weigerte, für Tauriel zu kochen. Die meiste Zeit aber blieb die Elbe untergetaucht. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten, die sie als Familie nun zusammen im Speisesaal einnahmen, brachte Kili nie zum Gespräch wann sie gedachte, wieder zu verschwinden.

Bis heute konnte sein Onkel nicht glauben, dass er es jemals billigen konnte. Die Elbe machte keinen Ärger und war wie unsichtbar. Ihm konnte es also nur recht sein.

Während Radagast inzwischen zurück in seinen Wald gekehrt war, blieben Gandalf und Bilbo als Gäste in Erebor. Unterdessen lernte der Hobbit mitunter etwas Khuzdul, um sich die Zeit zu vertreiben. Er erzählte, dass Tauriel ihm oft Gesellschaft in der Bibliothek leistete. Offenbar verstanden die beiden sich prächtig.

Jede Woche saßen die Gefährten an einem Abend bis spät in die Nacht vor dem großen Kamin im Speisesaal zusammen, spielten Karten oder rauchten. Jeder hatte mit seinen Familien hier in Erebor einen Neuanfang gemacht, sich eine neue Bleibe gesucht und eine Aufgabe gefunden. Sie und ihre Partnerinnen waren die einzigen, die über Thorins Geheimnis Bescheid wussten.

Es war das Geheimnis, was sie alle noch enger verband. Auch nach ihrem großen Abenteuer war der Zusammenhalt unter ihnen stärker denn je.

Thorin legte das Papier beiseite und fuhr sich übers Gesicht. Seit Tagen war er ruhelos. Albträume suchten ihn wieder heim, sodass er häufig sich von einer Bettseite zur anderen wälzte.

Die ganze Zeit über hatte Smaug ihn größtenteils in Ruhe gelassen. Nun quälte er ihn in seinen Träumen, wo er angreifbar war. Gandalf sagte, dass der Drache ihn damit mürbe machen wollte, um ihn erneut manipulierbar für seine Zwecke zu machen. Gespräche mit dem Zauberer standen täglich an. Viele Stunden hatten sie schon zusammen gesessen und unter vier Augen gesprochen. Jedes Mal kam sich Thorin vor, wie ein Versuchsobjekt in Behandlung. Für ihn waren diese Gespräche lästig und aufreibend, was er zum Leidwesen Gandalfs nicht zu verbergen versuchte.

Nachdenklich lehnte Thorin sich zurück und schaute zum Kamin an der gegenüberliegenden Wand, über dem das prächtige Hirschgeweih seinen Platz hatte. Sein Körper war geheilt. Seine Seele nicht.

Bei allem, was er tat, vermied er die Schatzkammer und ihre Nähe. Er wusste nicht, was geschehen würde, wenn er sich inmitten des ganzen Goldes wiederfand. Er wollte diesen zerbrechlichen Zustand seines Geistes nicht zerstören, nur weil er ausprobieren wollte, was geschah, wenn er sich an diesen Ort begab, der so viele schlechte Erinnerungen wach rief.

Es gab Tage da traute Thorin sich selbst nicht.

Sein Blick wanderte zu den kleinen Bilderrahmen, die auf dem Schreibtisch standen. Behutsam strich seine Fingerspitze über das schöne Gesicht seiner Schwester. Daneben stand ein Bild von Frerin, auf dem Kaminsims viele weitere von seiner Familie.

Für einen kleinen Moment erlaubte sich Thorin in vergangenen Zeiten zu schwelgen. Manche sagten, Frerin wäre der Phönix, der der Asche entstiegen war. Sein Bruder hatte sich aus dem Feuer in die Herzen vieler hinein gebrannt. Seit diesem Tag stand sein Name für Heldenmut.

Wir sind eine Familie. Wehmütig betrachtete er die Bilder seiner Geschwister, Relikte aus einer vergangenen Zeit. Deinen Kindern geht es gut, Dis. Ich wünschte, ihr wärt hier und könntet sie sehen, könntet daran teilhaben… Dann fiel sein Blick auf die Nachricht, die der Rabe vor Wochen zurückgebracht hatte. Vorsichtig nahm er sie aus der Ecke eines Rahmens, wo sie gesteckt hatte, und faltete das Papierstück auseinander, das ihn wütend und traurig zugleich machte.

,,Eure Hoheit, Euer Brief hat uns erreicht. Egal, was Ihr schreibt, Marie will Euch nicht sehen. Es ist sinnlos, zu kommen. Sie hat Euch nichts mehr zu sagen. Anna.“

Er erinnerte sich, dass Marie Anna als ihre beste Freundin erwähnt hatte. Trotzdem konnte er ihre Worte nicht glauben. Irgendetwas stimmte an Annas Aussage nicht. Die Zeilen waren unordentlich geschrieben, als wären sie in Eile verfasst worden. Falls Marie wütend auf ihn war, dann würde er es ihr nicht übel nehmen, sie hatte allen Grund dazu. Doch dass sie ihn nach all dem nicht mehr sehen wolle?

Sein Herzen sagte ihm, dass es nicht stimmen konnte.

Seufzend warf er das falsche Schriftstück zurück auf den Schreibtisch. Thorin saß auf heißen Kohlen. Sein Rucksack war gepackt. Alles, worauf er jetzt noch wartete, waren die ersten Strahlen der Frühlingssonne, die die Schneemassen zum Schmelzen bringen sollten, um zu seinem Mädchen zurückzukehren und die Wahrheit herauszufinden.

An Arbeit war nicht länger zu denken. Er packte alles zusammen und stand auf. Er brauchte ein wenig Ablenkung, um seinen Kopf freizubekommen.

,,Wünscht Ihr noch etwas, Mylord?“

Kurz sah er zu der erschienenen Frau hinüber, nahm seinen Mantel von der Lehne und schlüpfte hinein. ,,Ihr könntet etwas für mich erledigen.“ Er holte einen mittelgroßen Lederbeutel aus einer Schublade, den er bereits für die anstehende Reise besorgt hatte, und reichte ihn ihr. ,,Füllt diesen mit Münzen und legt ihn mir auf den Schreibtisch. Ich gehe etwas frische Luft schnappen.“

,,Oh, natürlich. Wenn ich das sagen dürfte, Eure Hoheit“, etwas verlegen zupfte sie an ihrer Schürze herum, ,,es ist ein schönes Bild, Euch auf diesem Platz zu sehen.“

Thorin sah die Freude, mit der sein Zimmermädchen dies sagte, und lächelte ihr zu. ,,Das finde ich auch.“

 

~

 

,,Ich wusste, dass ich dich hier finde.“

Thorin wartete mit seiner Antwort bis Fili an seine Seite getreten war. ,,Stellst du mir nach?“

,,Du stehst oft hier oben.“ Sein Neffe hielt ihm die Krone hin. ,,Die hast du vergessen. Ich war bei dir, doch du warst nicht da. Dein Zimmermädchen sagte mir, dass du gerade gegangen wärst.“

Thorin nahm sie entgegen, hielt sie jedoch weiterhin in den Händen. Das Edelmetall wog nicht nur durch sein Material schwer. ,,Wirfst du mir vor, ich würde sie nicht so oft tragen, wie ich sollte?“

Spöttisch verzog Fili den Mund, antwortete jedoch nicht.

,,Ich habe sie geschaffen, als ich krank war.“ Als ich Marie verleugnete. Sein Daumen fuhr über die Rillen im Ring. ,,Und das ist für mich nur schwer zu vergessen.“

,,Dwalin sagt, du hättest sie gemacht, als Zeichen des Neubeginns“, widersprach ihm Fili. ,,In guten Absichten für unser Volk und Land. Und schau, wo wir jetzt stehen. Was du getan oder auch nur gedacht hast, lässt sich nicht rückgängig machen. Dafür lässt sich die Zukunft ändern. Und dafür brauchen wir unseren König, der du nun mal bist. Also los, setz sie schon auf. Sonst bin ich umsonst damit durch die Stadt gelaufen. Die Leute haben schon geguckt.“ Sie lächelten sich an und Thorin kam seiner Bitte nach.

,,Eines Tages wird sie dir gehören.“

,,Ja“, Filis Stimme wurde ernster, ,,ich weiß.“

Die Männer legten die Hände auf die Balustrade des Balkons ab und sahen über die Bauten ihrer Heimat. Zwerge flanierten entlang der Läden der Stadt, die mit einem noch dürften Angebot warben. Säulen und Wände glänzten wie früher im grünlichen Schimmer des Gesteins. Kronleuchter und Hängelampen waren entzündet und leuchteten als orange Flecke unter ihnen.

,,Ich habe dich letzte Woche bei der Übung am Nordhang beobachtet, Fili. Du hast den Respekt der Männer und ihren Gehorsam erlangt. Gut gemacht.“

,,Danke.“ An diesem Morgen sah Fili sehr vornehm aus. Er trug eine bläuliche Kettenrüste, mit edel gearbeiteten Handschuhen und Waffengürtel, an dem sein Schwert hing. Ihn mit den Soldaten zu sehen, war ein beeindruckendes Bild gewesen. Sein Onkel wusste, dass er Karifs Erbe angenommen hatte.

,,Weißt du, wie sie dich nennen?“ Fili legte die Hand auf den Knauf seiner Waffe und verfolgte mit seinem Onkel, die Frauen in den schönen Kleidern, die mit lockerem Hüftschwung unter ihnen entlang spazierten. Kinder tollten um sie herum. ,,Dechtanohg. Der Todgeglaubte.“

Ein leichtes Schmunzeln bildete sich in Thorins Mundwinkel. ,,Gefällt mir.“ Schweigend standen sie nebeneinander und Thorin wusste, dass der passende Zeitpunkt gekommen war, um es ihm zu sagen.

,,Ich werde euch für eine Weile verlassen, Fili.“ Der junge Prinz drehte sich zu ihm um. ,,Ich werde Marie holen.“

Scheinbar hatte er es bereits geahnt, denn Fili nickte nur. ,,Wann?“

,,Morgen.“

,,Oh.“ Nach einer Pause sagte er aber: ,,Keine Sorge. Wir kommen schon klar hier.“

,,Da habe ich keinerlei Zweifel.“

,,Hast du schon mit den anderen darüber geredet?“

,,Noch nicht.“

,,Hattest du vor, es uns noch zu sagen?“

,,Ich wollte es euch noch mitteilen, nur fürchte ich, wird man mich noch nicht gehen lassen. Mein Entschluss steht erst seit eben fest. Eigentlich wollte ich das Tauwetter abwarten. Glaub mir“, er stieß den Atem aus, grub die Nägel in den Fels, ,,ich kann nicht länger warten.“

Fili nickte besonnen. ,,Ich würde dich gern begleiten, doch ich weiß, dass du das allein machen musst.“ Er folgte dem Blick seines Onkels zurück in die Hallen. ,,Mein Platz ist hier.“

Karif… Ihre Ähnlichkeit hätte in diesem Moment nicht größer sein können.

,,Ich glaube, es wird dir gut tun, eine Auszeit von all dem hier zu nehmen, mal hier raus zu kommen. Ein bisschen Zeit für euch zwei.“

,,Das denke ich auch.“ Dann nahm er neuen Atem, ehe er fort fuhr. ,,Ich werde sie heiraten, Fili.“

Stille.

,,Natürlich wirst du das!“ Freudestrahlend schlug sein Neffe ihm auf die Schulter. ,,Das wissen wir doch alle schon längst. Dafür musst du sie aber erstmal heil nach Hause bringen. Und dann lass uns die Verlobung feiern. Nächtelanges Saufen auf euer Wohl! Ha, genial! Überlass die Organisation uns.“

Thorin verdrehte die Augen. ,,Ich glaube, ich übernehme das lieber selbst.“

,,Komm, so schlimm sind wir auch nun wieder nicht! Das wird die beste Feier, die Erebor je gesehen hat. Einladungen sind schon so gut wie draußen.“ Seine Euphorie war ansteckend und Thorin grinste von einem Ohr zum anderen.

 

Nur eine Nacht später war es soweit. Getrieben von einer stetig wachsenden Ruhelosigkeit konnte er nicht länger abwarten. Als der Morgen graute, brach Thorin auf.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

11

 

 

Es war noch ruhig so früh am Morgen, als er die Tür seiner Gemächer hinter sich zuzog und die Treppe hinabstieg. Erst in einer Stunde würde es Frühstück geben, sodass er ungestört aufbrechen konnte. Knapp nickte er den Wachen im Vorsaal zu, die bei seinem Erscheinen salutierten. Nur wenige Frühaufsteher traf er auf seinen Weg in die Eingangshallen. Jeder einzelne verbeugte sich vor ihm, als er erkannt wurde, und Thorin antwortete mit einem Nicken, froh, niemanden Fragen zu beantworten.

In der Südhalle jedoch war man schon eifrig am Arbeiten. Tische waren aufgestellt, darauf Skizzen und Pläne von Steinmetzen. Darüber gebeugt standen Balin und Fili, daneben Kili, der sich verschlafen die Bartstoppeln kratzte und offenbar durch die ganzen Zeichnungen nicht durchstieg. Nahe dem Tor gab Dwalin Anweisungen, wie man die Flaschenzüge am sinnvollsten einsetzen sollte. Die Reparaturarbeiten des Haupttores sollten heute fertiggestellt werden.

Als man ihn bemerkte, drehten sie sich verwundert zu ihm um. ,,Ich mache es kurz.“ Thorin verlagerte Rucksack und Satteltaschen auf seiner Schulter und sah die Verwirrung auf den Gesichtern. ,,Ich breche nach Kerrt auf. Dwalin, Balin; ihr kümmert euch solange um alles hier. Fili, du hast das weitere Kommando.“

,,Einen Augenblick mal!“, warf Dwalin wie erwartet seinen Einwand dazwischen. ,,Jetzt einfach die Biege machen? Wann hattest du vor, uns das zu sagen?“

Thorin klemmte sich Orcrists Scheide zwischen die Knie und holte einen Brief aus seinem Mantel heraus. ,,Ich habe eine Erklärung verfasst, die ihr bitte an mein Volk richtet. Alles Weitere steht ebenfalls darin.“ Ohne seinem Freund darauf eine Antwort geben zu wollen, drückte er Balin das Schriftstück in die Hände. ,,Ich habe nicht die Absicht, jetzt und hier das auszudiskutieren. Mein Entschluss steht fest.“

,,Ach, wirklich? Und wie willst du da überhaupt hinkommen? Ich hoffe doch nicht zu Fuß.“ Dwalin warf seinem geheilten Fuß einen überaus skeptischen Blick zu.

,,Ich nehme mir in Dale ein Pferd. Für ein Pony wäre die Strecke zu tückisch. Ich weiß nicht, wie hoch der Schnee talabwärts noch ist. Ich will kein Risiko eingehen, ein lahmendes Tier kann ich nicht gebrauchen.“

,,Thorin“, Balin trat näher und ließ ihn innerlich seufzen. War sein alter Freund jemals nicht besorgt um ihn?

,,Bist du sicher, dass du dafür schon bereit bist? Solltest du dich nicht noch lieber schonen? Wenn dein Gesundheitszustand auf dem Weg schlechter wird, dann… Bitte, lass es jemand anderes für dich tun.“

,,Zwei Tage länger und es zerfrisst mich.“ Bei Balins sorgenvollem Gesichtsausdruck, legte er seinem Freund die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. ,,Ihr könnt mich nicht aufhalten.“ Balin senkte den Blick und seufzte schließlich.

,,Nun gut. Wenn du gehen musst, dann geh. Aber pass auf dich auf. Wir werden es den anderen schon irgendwie erklären.“

In seinen Bart hinein brummend verschränkte Dwalin die Arme vor der breiten Brust. Einwände blieben überraschenderweise aus. ,,Mach aber, dass du zügig wiederkommst.“

,,So schnell es geht.“ Dann wandte Thorin sich an seine Neffen und konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. ,,Wenn ich wiederkomme, möchte ich, dass der Berg noch steht. Verstanden?“ Sie lächelten verschmitzt und umarmten ihren Onkel mit Schulterklopfern zum Abschied. ,,Atenio, gon’ba.“ Balin und Dwalin taten es ihnen gleich.

,,Und jetzt verschwinde endlich, ehe wir hier noch Aufmerksamkeit erregen.“

Die Morgensonne erhob sich bereits am rosa Himmel. Langsam krochen ihre Strahlen über den Bergrücken, als Thorin auf der Brücke stehen blieb und noch einmal zurück sah. Seine Gefährten standen vor dem Tor und blickten ihm nach.

,,Worauf wartest du?! Hol sie dir endlich!“

,,Bring uns eine Königin mit!“ Es waren Kili und Fili, die wie freche Kinder mit ,,Wuhuuu!!“ winkten und somit sämtliche Arbeiter sich nach ihnen umdrehten. Ihr Onkel Dwalin stand daneben und rieb sich die Nasenwurzel.

Lächelnd schüttelte Thorin den Kopf und machte sich auf den Weg nach Dale.

 

Als der Krieger das Stadttor passierte, folgten ihm die Blicke der Wachposten, die ihn unbehelligt eintreten ließen. Dale befand sich noch im Winterschlaf. Nur wenige Menschen waren auf den Straßen und Gassen unterwegs. Irgendwo meckerte eine Ziege. Aufmerksam überflogen seine Augen die Umgebung, denn nichts glich mehr der toten Stadt, die Dale vor Monaten noch gewesen war. Sein Ziel war das große Herrenhaus, die einstige Residenz von Girions Familie. Er hatte dieses fast erreicht, da entdeckte er ein bekanntes Gesicht nahe einem angrenzenden Gebäude, was einer Scheune gleich kam.

,,Vater.“ Bards älteste Tochter machte ihn auf den näherkommenden Zwerg aufmerksam. Verwunderung zeichnete sich auf dem Gesicht ihres Vaters ab, welche Offenheit wich.

,,Guten Morgen, Mylord. Es freut mich zu sehen, wie gut Ihr Euch erholt habt. Was führt Euch zu uns?“

Ohne Umschweife kam Thorin zur Sache. ,,Ich muss für ein paar Tage fort und brauche ein Pferd.“ Ein harter Glanz in seinen Augen zeigte deutlich, dass er nicht vorhatte, ihm Rechenschaft über sein Vorhaben abzulegen.

Bard musterte ihn kurz, gab dann dem Mann, mit dem er zuvor gesprochen hatte, ein Zeichen. Dieser nahm die Satteltaschen des Zwerges entgegen und verschwand durch die Scheunentüren. Nach beeindruckend wenig Zeit wurde ein stämmiger Schimmel herausgeführt.

,,Ferrox ist ein gutes Pferd.“ Der Drachentöter klopfte dem Hengst den Hals, eher er die Steigbügel für Thorin einstellte. ,,Er hat bereits mir gute Dienste geleistet. Alfred! Komm her und hilf ihm auf.“

In gewohnter Manier kam der Lakai angetrottet. Thorin fasste nach Zügel und Mähne, stemmte den Fuß in Alfreds dargebotenen Handflächen und trat mit erheblich mehr Kraft zu, als eigentlich nötigt. Alfred ächzte, was ihn wölfisch lächeln ließ. Er konnte diesen Typen von Anfang an nicht leiden.

Als er sich den Waffengurt der Schwertscheide über die Schulter zog, trat Bard näher und überprüfte den Sattel. Doch nur zum Schein. Seine Aufmerksamkeit galt dem Zwergenfürsten. ,,Was habt Ihr vor?“, raunte er so leise, dass sie unter sich blieben. Wachsamkeit und Distanz zwischen den Silben.

Thorin nahm die Zügel auf und beugte sich wie zufällig zu dem Menschen. ,,Ich löse ein Versprechen ein.“

Er sah, wie Bards Argwohn von der Wahrheit vertrieben wurde, die der Mensch in seinen Augen gesehen haben musste.

Bard trat einen Schritt zurück und gab damit den Weg frei.

Thorin neigte den Kopf als Dank und Abschied und trieb entschlossen das Pferd an. Die Sekunden flossen zäh, als er das beginnende Spiel der Muskeln unter sich fühlte und der Hengst sich bei dem festen Schenkeldruck in Bewegung setzte und kurz darauf schon in den Galopp fiel.

Hart schepperten die Hufschläge über das Pflaster. Menschen pressten sich an die Wände, sprangen auf schmalen Gassen beiseite, als der große Schimmel an ihnen vorbei preschte. Wütende Rufe flogen ihm nach, doch Thorin hörte nicht darauf. Furchtlos ritt er durch die Stadt, lenkte das Tier gekonnt auch durch enge Passagen. Auf der Brücke zerrte der Wind in seinem Haar und löste die Enge in seiner Brust, die er wochenlang verspürt hatte.

Der Anstieg im Süden war steil und steinig, doch Thorin trieb das Tier sicher den schmalen, schneebedeckten Pfad hinauf, der von den hart gefrorenen Tritten und Fahrrinnen der Wagenkolonne übrig war. Oben angekommen zügelte er das schnaubende Pferd und drehte es um.

Vor ein paar Monaten noch standen sie genau an diesem Punkt und hatten in ein verlassenes, von Wolken umgebenes Tal hineingeschaut. Damals war es noch Smaugs Einöde gewesen. Heute war es sein Zuhause, dem er nun wie vor sechzehn Jahren den Rücken kehrte. Obwohl es heute unter anderen Umständen geschah, erfüllte ihn der Schmerz des Verlassens plötzlich ein zweites Mal. Die Dunkelheit in ihm machte sich an seinen Gefühlen zu schaffen, um ihn zum Bleiben zu zwingen.

Der Anblick seines verschneiten Berges, die Sonne, deren Licht sich auf dem Gipfel glitzernd brach…das Wissen von einem unbewachten Schatz… Sie lösten unterschiedlichste Gefühle in ihm aus, die an seinem Entschluss nagten.

Thorin presste die gebleckten Zähne aufeinander, zügelte den, vor zurückhaltender Kraft tänzelnden Hengst. Es war eine Flucht vor dem, was im Inneren des Berges auf ihn wartete.

Die Flucht vor sich selbst und der Bestie, die ihn in diesem Moment mit aller Macht umstimmen wollte.

Eines Tages würde der Drache das Warten satt sein, doch er würde darauf vorbereitet sein. Er musste zu dem Licht zurückkehren, welches ihn gerettet hatte. Zu der Person, die ein Teil von ihm war.

Die unstillbare Sehnsucht nach Marie ließ ihn schließlich die Zügel herumreißen. Seine Fersen schlugen sich in Ferrox Flanken und ließen ihn forttragen.

Der Weg, der sie vom Berg runter führen sollte, war kaum unter dem Schnee zu erkennen. Sein brauner Mantel flatterte im Wind, als sie leere Ebenen vor strahlendem Blau überquerten. Himmel und Erde verschmolzen vor seinen Augen. Freude und Gefahr waren ein Lied in seinem Herzen. Schneller und immer schneller rasten sie mit kaltem Wind im Haar voran, ließen den Einsamen Berg hinter sich. Er fühlte sich endlich wieder frei.

In die Steigbügel gestellt beugte Thorin sich über den Hals des Tieres, die weiße Mähne schlug ihm ins Gesicht. ,,Lauf“, raunte er, drückte die Waden an den Pferdebauch und der Hengst machte einen gewaltigen Satz nach vorn. Ferrox griff noch weiter aus, zog das Tempo nochmals an und zusammen jagten sie über die Landschaft.

 

~

 

,,So kann das doch nicht weitergehen!“

,,Liebling, bitte beruhige dich. Wir haben alles getan, was in unserer Macht steht. Wir können ihr nicht mehr helfen. Sie muss das allein schaffen.“

,,Willst du sie aufgeben?“

,,Du weißt, dass sie mir alles andere als gleichgültig ist! Ich gebe sie nicht auf, doch du musst erkennen, dass wir nichts mehr für sie tun können.“

,,Sie schafft das aber nicht allein! Sieh sie dir doch nur mal an…“

Ihre Hand legte sich auf das Glas, an dessen Rahmen winzige Eiskristalle mit jedem Tag verblassten.

,,Sie schläft nicht, sie isst nichts. Sie ist nur noch für sich.“

Ein Eiszapfen hing vom Dach, an dessen Spitze Tropen um Tropfen hinab rann und fiel, bis er am Boden zerschmetterte.

Tropf. Tropf.

Auf dem Nachttisch stand ein Teller mit Essen, doch der bloße Gedanke daran drehte ihr den Magen um. Sie zog sich die Decke enger um die Schultern. Nichts konnte gegen die immerwährende Kälte helfen. Sie hatte aufgehört, etwas zu fühlen. Keinen Schmerz und keine Hoffnung. Keine Angst. Es war nichts mehr übrig.

,,Anna, wir drehen uns im Kreis. Was willst du noch tun?“

,,Ich…ich weiß es doch auch nicht, verdammt nochmal! Wir müssen abwarten, wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben! Es hatte doch schon den Anschein, dass es besser wird“, hörte sie ihre Stimme durch die offene Tür von unten hinauf dringen. ,,Sie war doch…“

,,Es war nur ein Schein“, ließ Greg sie die Wahrheit erkennen. ,,Ihr ging es nie besser.“ Pause. ,,Vielleicht ist es das Beste, wenn wir von hier fortgehen.“

,,Wie meinst du das?“

,,Ein neues Leben aufbauen. Ganz von vorne anfangen. Vielleicht wird ihr das helfen, zu vergessen. Anna, denk auch an dich. Es belastet dich…“

Obwohl sie aufgehört hatte, den Horizont nach ihm abzusuchen, blickte sie am Eiszapfen vorbei gen Osten. Noch einmal von Neuem anfangen? Nein. Sie konnte nicht vergessen.

Sie konnte ihn nicht vergessen.

,,Was ist, wenn sie nie wieder gesund wird?“, erklang Annas Stimme, so leise, dass sie fast nicht zu verstehen war. Doch als keine Antwort folgte, wurde sie plötzlich laut, getrieben von einer unüberhörbaren Verzweiflung: ,,Ich werde nicht zusehen, wie sie sich selbst umbringt!“

Marie blieb am Fenster stehen, ohne etwas draußen zu sehen.

Tropf. Tropf. Ihre Schuld…

Ihr dummes Herz war an allem schuld.

Als sie das Schluchzen hörte, wandte sie sich ab und ging ein paar Schritte. An ihrem Spiegel blieb sie stehen. Die Decke glitt zu Boden und enthüllte den ausgemergelten Körper, der an einem toten König zugrunde gegangen war. Alle hatten recht gehabt. Jedes einzelne Wort war wahr.

Sie war in ihre eigene Welt versunken, aus der es kein Entkommen mehr gab. Ihr dummes Herz…

Die ständige Wut über sich selbst ließ sie ihre Faust ballen. Matte, grüne Augen wandelten sich in ihrem eigenen Spiegelbild in jene graue, die ihr den Schlaf raubten. Jene, die…

Augenblicklich zerriss das Knallen ihrer Faust die Stille. Scherben ihres Lebens zerschellten vor ihren Füßen.

 

,,Ach, Marie…“ Jemand strich ihr übers Gesicht und holte sie in die Realität zurück. Dass sie auf den Dielenboden gesunken war, hatte sie nicht gemerkt und fand sich nun umringt von scharfen Scherbenstücken auf diesem wieder. Behutsame Hände griffen unter ihre Arme und zogen sie hoch als wiege sie nichts.

Sie fühlte Gregs Körper, der sie festhielt. ,,Schneide dich nicht“, sagte er in die Richtung, wo Anna stehen musste. ,,Nimm du sie. Ich räume das weg.“ Er schob sie einfach zu Anna.

Einen Moment später sank sie auf die Bettkante und starrte auf die Überreste ihres Spiegels. Der Wunsch, einzuschlafen wurde fast übermächtig. So lang schon sehnte sie sich nach Schlaf.

Anna setzte sich zu ihr. Ihr Blick, mit dem ihre Freundin sie heute ansah, war nicht mehr derselbe von früher.

,,Es ist meine Schuld. Alles, was ich euch antue… Es tut mir leid.“ Schweigend nahm Anna ihre Hand, strich ihr immer wieder übers Haar. Es sollte tröstlich sein, doch Marie konnte nicht die Kraft aufbringen, sie anzusehen. Sie hatte einen Punkt im Leben erreicht, an dem es nicht mehr weiterging.

,,Er wartet auf mich“, flüsterte sie. So leise, dass niemand anderes es hörte.

Niemand sie aufhalten konnte.

 

~

 

Wie bei einem Untier strömten weiße Wolken aus Ferrox großen Nüstern, während er aufmerksam nach vorn schaute und auf seinen Herrn wartete, der schräg vorgebeugt auf ihm saß und noch immer würgte. Thorin wischte sich über den Mund und setzte sich wieder im Sattel zurecht, nicht ohne, dass sich die Welt ein wenig drehte. Das Gesicht verzogen hielt er sich die Seite, die vom schnellen Ritt zu pochen begonnen hatte. Meilenweit waren sie galoppiert und während Ferrox sich an bester Gesundheit erfreute, hatte er die Rechnung dafür bekommen. Nur gut, dass er alleine unterwegs war und weder jemand das sehen musste, noch er dumme Kommentare abbekam.

Wie ein unüberwindbares Hindernis lag vor ihnen der Wald. Intuitiv fasste Thorin die Zügel kürzer bei den schlechten Erinnerungen, die damit verbunden waren. Doch vom Düsterwald, wie er früher einmal genannt wurde, war von außen nichts mehr zu sehen. Die mysteriöse Krankheit, die ihn befallen und ihre Köpfe mit schwerem Gift verpestet hatte, war verschwunden.

Harmlos lag er da, wie ein ganz normaler Frühlingswald. Thorin aber traute dem Frieden nicht. Mit jeder Faser sträubte der Zwerg sich, noch einmal da einen Fuß hineinzusetzen. Er hatte jedoch keine andere Wahl. Ihn zu umrunden würde Tage dauern. Zeit, die er nicht verschwenden wollte.

Mit verschlossener Miene zog der Krieger sich die Mantelkapuze über den Kopf und trieb Ferrox an, der unvoreingenommen zum Weg, der in das Waldlandreich führen sollte, trottete.

Die großen, alten Bäume und das dichte Unterholz hatten den stärksten Frost verhindert. Der Schnee wurde weniger, bis er ganz verschwand und der Weg stets passierbar war, zwar so uneben und kurvig, dass er nur im Schritt oder Trab reiten konnte, doch er kam voran und das war die Hauptsache. Das gammelige Laub war über den Winter weggefault, sodass der Weg, den sie damals verloren hatten, gut zu erkennen blieb.

Penibel achtete Thorin auf die Steinplatten, horchte auf jedes Geräusch, auf jedes Rascheln der Tiere, die auf Futtersuche waren, auch wenn es nur das hohle Hufgeklapper und der Wind im Geäst war. Auf eine Begegnung mit Elben konnte er ruhig verzichten, weshalb er auch die Bäume über sich im Auge behielt.

Sonnenstrahlen drangen warm und einladend durch die kahlen Baumkronen. Es wurde so warm, dass Thorin seinen Mantel aufknöpfte, die Kapuze jedoch überbehielt, um unerkannt zu bleiben. Überall um ihn herum tröpfelte es. Im Grünwald verliefen die Jahreszeiten nach ihren eigenen Gesetzen. Die Sommer verweilten hier länger, andersherum hielt der Frühling früher Einzug. Die ersten Knospen bildeten sich wie rosa und weiße Perlen an den teilweise schon belaubten Ästen, bereit sich zu öffnen.

Sie waren schon eine ganze Weile unterwegs und steuerten gerade auf eine Wegbiegung zu, da bemerkte er das Ohrenspiel des Hengstes. Ferrox hob den Kopf, horchte auf das, was vor ihnen lag und zeigt ihm, dass sie nicht mehr allein waren.

Schon bogen drei Reiter um die Wegbiegung und Thorin klopfte seinem Begleiter den Hals. Die Männer waren in Umhänge gehüllt, die wie ihre Pferde schon bessere Tage gesehen hatten. Das Gesicht durch die Kapuze verdeckt, entging Thorin nichts. Er spürte förmlich ihre gierigen Blicke, die auf ihm und sein Hab und Gut ruhten. Sie selbst hatten allerlei Dinge auf ihren Pferden geladen, doch Händler waren sie keine. Es war eher die Sorte Mensch, die für eine gute Mahlzeit ihre eigene Mutter verpfänden würden. In ihren kleinen, glubschigen Augen las er unübersehbar wie ein Aushängeschild ihre wahren Absichten.

Im Vorbeireiten tippte er sich als Gruß an die Kapuze, um den Schein eines einfachen Reisenden aufrecht zu halten. Die Männer, deren unangenehmer Körpergeruch an ihm vorbei webte, nahmen keine Notiz von ihm, doch als er sich nach ein paar Metern umdrehte, taten sie es ihm gleich. Sein Blick folgte ihren Schweinsaugen und blieb an dem Lederbeutel an seinem Sattel hängen. Da wusste Thorin, dass sie die Münzen ahnen mussten. Eisern hielt er ihren Blicken stand, um ihnen zu zeigen, dass sie bei ihm vergeblich auf Beute hoffen würden. Dann bemerkten die Männer die große Schwertscheide auf seinem Rücken. Der Anblick Orcrists verfehlte seine Wirkung nicht. Die zwielichtigen Gestalten wandten sich ab und setzten mit mehr Eile nun ihren Weg fort. Thorin aber hörte noch ihr Geflüster. Ab sofort würde er noch wachsamer sein müssen. Spätestens wenn es dämmerte sollte er auf der anderen Seite des Waldes angekommen sein, um noch ein Lager aufschlagen zu können. Er schnalzte mit der Zunge und Ferrox verfiel in einen lockeren Trab.

 

~

 

,,Marie?“, flüsterte die Stimme. ,,Geht es dir gut?“

Als sie die Augen aufschlug, sah sie Mel neben sich stehen. Irritiert setzte sie sich auf und schob sich die Haare aus dem Gesicht. Jemand hatte eine Decke über sie gelegt. Im Raum war nur noch wenig Licht. Die Abenddämmerung war bereits herauf gezogen und zeigte ihr, dass sie eingeschlafen sein musste.

Da erinnerte sie sich, dass Mel etwas gefragt hatte. Statt einer Antwort hob sie die Decke an. Mit einem traurigen Lächeln krabbelte ihre Ziehnichte darunter und legte sich zu ihr.

Marie legte die Arme um sie und schloss die Augen, um den gnädigen Schlaf zurückzubekommen, der in letzter Zeit viel zu selten geworden war. Der Körper des Mädchens schmiegte sich an sie und Marie bemerkte, wie Mel über den Winter gewachsen war.

Die Zeit war weiter vorangeschritten. Ihr Leben aber hatte still gestanden.

,,Ich habe mitbekommen, über was Mama und Greg geredet haben. Ich möchte nicht wegziehen.“

Ich möchte auch nicht weg.

,,Brauchst du noch etwas?“ Marie schüttelte den Kopf. ,,In Ordnung… Kann ich heute bei dir schlafen?“

Bitte. Liebevoll strich sie ihr über den Rücken bis Mel mit dem Gesicht in Maries Halsbeuge eingeschlafen war.

Anfangs hatte sie noch versucht stark zu bleiben, hatte sich gewehrt. Doch seit dem Eintreffen des Landstreichers war jeder Funken Hoffnung erloschen. Die Ungewissheit hatte sie zermürbt. Ihr eigener Körper, ihre Liebe zu einem Geist hatte sie getötet, bis nichts mehr von ihr übrig war.

Sie wusste nicht, wie sie die letzten Monate überlebt hatte. Und sie wusste auch nicht, wie sie die nächsten überleben sollte. Die Wege dieser Welt führten sie nirgends mehr hin.

Es war Zeit, loszulassen.

Ich hab dich so schrecklich lieb, meine Kleine… Weinen konnte Marie schon lange nicht mehr. Stattdessen schlang sie die Arme um das Mädchen, um sich so von ihr zu verabschieden.

 

~

 

Diese Begegnung blieb der einzige Zwischenfall. Ohne weiteres erreichte Thorin das Ende des Waldes. Je näher er dem Waldrand gekommen war, desto stärker war die Kälte zurückgekehrt.

Die Sonnenstrahlen waren beinahe verschwunden, als er die verwitterten Steinfiguren des Elbentores passierte. Er ritt auf eine Senke zu, um eine geschützte Stelle für die Nacht zu suchen. Umgeben von Büschen und Hecken, die einigermaßen Schutz vor Frost boten, schlug er sein Lager auf. Die Dunkelheit kam schnell und ließ ihn gerade noch Zeit, um ein Feuer zu machen. Nur mühsam gelang es ihm, die ersten Funken im Zunder zu halten und mit vorsichtigem Pusten wachsen zu lassen. Als das Feuer schließlich prasselte, kümmerte er sich um Ferrox, sattelte ihn ab und band ihn in der Nähe an. Dann überließ er dem Tier eine große Portion aus dem Futterbeutel und kümmerte sich um seine Hufe. Nachdem das Pferd versorgt war, sammelte er genug Feuerholz für die Nacht und nahm sich selbst von seinem Proviant.

Die Stunden im Sattel spürte er in jedem Knochen, als er am Feuer hockte. Die Augen wurden ihm schweren und er drohte bereits einzunicken, da knackte ein Ast ganz in seiner Nähe.

Langsam öffnete Thorin die Augen und starrte in die Nacht hinaus. Im Hintergrund schnaubte Ferrox unruhig. Etwas näherte sich.

Seine Hand glitt neben sich. Es gab ein hauchfeines Schaben von Metall, als er sein Schwert aus der Scheide zog. Kaum merklich drehte er den Kopf, um die Geräusche einzufangen, die nun von der Seite kamen. Außerhalb des Feuerscheins tauchte ein dunkler Schatten auf, der wieder verschwand. Thorin blieb regungslos am Feuer sitzen und wartete. Vor Anspannung schienen seine Sinne zu vibrierten. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Minuten verstrichen.

Das Pferd riss unruhig am Strick. Erneut schlich die Gestalt näher.

Dann stand sie hinter ihm.

Thorin packte Orcrist, sprang auf die Beine und wirbelte mit einem Schrei herum. Ein schwarzes Tier wich vor ihm zurück und stolperte über seine eigenen Pfoten.

Dort vor ihm im frostweißen Gras hockte ein Hund. Mit rasenden Herzen ließ der Zwerg die Waffe sinken und sah sich um. Weit und breit war kein anderes Lagerfeuer zu sehen.

,,Wo ist dein Herr?“ Der Hund legte bloß treudoof den Kopf schief. Er schien fast noch ein Welpe zu sein, war mittelgroß mit schwarzem, rauem Fell. Auf seiner Brust und seinen großen Vorderpfoten hatte er weiße Abzeichen. Ein Ohr von ihm stand, das andere war umgeknickt. Seine bärtigen Haare um der Schnauze und zwischen den Augen verliehen ihm ein äußerst struppiges Aussehen. Wahrscheinlich war er schon länger allein hier in der Wildnis.

,,Na los, verschwinde! Ksscht!“ Aber der Hund hatte nicht vor, einfach wieder zu verschwinden. Stattdessen trottete er näher, machte vor ihm Sitz und schaute mit großen Hundeaugen zu ihm auf. ,,Hast wohl Hunger, hm?“ Wie aufs Stichwort hin begann seine Rute wie verrückt zu wedeln.

Mit verdautem Schreck setzte Thorin sich auf sein Lager, nahm von seinem Proviant und warf ihm ein Stück hin. Gierig verschlang der Neuankömmling es, schnüffelte am Boden, ob noch weiteres Brot dort zu finden war, ehe er zu ihm kam und mit seinem treudoofen Blick um mehr bettelte. Um ihn daran zu hindern, an ihm hochzuklettern, gab Thorin ihm auch den Rest, und kraulte schmunzelnd seinen Kopf.

,,Ab morgen bist du wieder verschwunden. Gewöhn dich nur nicht daran.“ Er ließ ihn auffressen und legte sich dann zum Schlafen nieder. Als er aber die Decke über sich ziehen wollte, ging das nicht. Verwundert drehte er sich um und sah, wer es sich darauf bequem gemacht hatte. ,,Runter!“ Der Hund flog vom Deckenzipfel und kugelte vom Stoß durchs Gras.

,,Du bleibst am Feuer. Dort. Drüben.“ Thorin zeigte mit dem Finger hinüber, doch der Streuner wedelte nur mit dem Schwanz, als würde er sich ununterbrochen freuen, ihn zu sehen.

Notgedrungen stand er auf, stapfte auf die andere Seite des Feuers und zeigte mit dem Finger auf den Boden. ,,Hier hin.“

Als wäre dies ein Spiel tapste der junge Hund ihm nach und machte dort Platz. Abermals legte sich Thorin hin und gab dem Tier zu verstehen, dass er dort bleiben sollte. Der struppige Kerl sah ihn solange an, bis er sich mit hängenden Ohren tatsächlich dort einrollte.

,,Na bitte. Und dort bleibst du“, grummelte er. ,,Du stinkst wie ein Iltis.“ Der Streuner gab ein Schnauben von sich.

 

Thorin wurde von etwas Warmen, Nassem geweckt, das sich quer über sein Gesicht zog und seinen Mund streifte. Angewidert wischte er sich den stinkenden Hundesabber ab und versuchte den Streuner von sich zu schieben, doch das war gar nicht so einfach. Es gab definitiv weitaus schönere Methoden in der Nacht geweckt zu werden!

,,Bei Durin, was ist denn in dich gefahren?“ Nun versuchte er ihm auch noch die Decke wegzuziehen. ,,Lass das! Verschwinde!“ Warum war er denn plötzlich so aufgeregt? Es war schließlich mitten in der Nacht und er hatte anderes im Sinn als jetzt zu spielen!

Als Thorin den Hund zu fassen bekam, war dessen Körper hart vor Anspannung. Er sah zu Ferrox hinüber, der ebenfalls unruhig mit dem Huf scharrte. Nein, das war kein Spiel.

Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Er ließ den Hund los, der sich nun umdrehte, mit angelegten Ohren in die Nacht hinaus starrte und zu Knurren begann. ,,Was ist da?“, flüsterte er neben den starren Hund gehockt. Dann hörten sie das entfernte Wiehern eines Pferdes. Als Ferrox antwortete, erklang das Wiehern ein zweites Mal, dazwischen eine Stimme, die andere zur Acht anherrschte. Also waren es mehrere und Thorin schätze sie unschwer auf drei.

Verdammt, sie mussten tatsächlich kehrt gemacht haben und ihm im großen Abstand gefolgt sein, sonst hätte er sie schon längst wahrgenommen. Jetzt wollen sie also ihren Lohn kassieren...

Auf dem Boden hockend legte Thorin, um mehr Licht zu schaffen, so wenig Holz nach, dass der wechselnde Feuerschein ihn nicht verriet. Er ließ Orcrist neben seinem Lager liegen und band den Lederbeutel mit dem Gold von der Satteltasche. Als die Münzen unweigerlich leise klirrten versteifte er sich. Ehe er in sich horchen konnte, zog der Streuner die Lefzen hoch und knurrte in die Büsche. Ohne über das Gold nachzudenken, stopfte er es sich in die Hosentasche. Eilig schob Thorin noch seinen Rucksack unter die Decke und packte den Hund im Nackenfell, um ihn mit in die Büsche zu ziehen.

 

Lange Zeit bewegte sich nichts. Weder war etwas zu hören, noch zu erkennen. Das Feuer brannte einsam vor sich her, bis nur noch Glut übrig war. Doch die kalte Stille war trügerisch, denn kurz darauf glitten drei Gestalten aus der Dunkelheit und näherten sich dem Körper, der unter der Decke verborgen am Feuer lag. Geübt, Leute im Schlaf zu töten, bewegten sie sich schnell und lautlos. Einer von ihnen klaubte schon siegessicher das große, kunstvolle Schwert des Reisenden, während die anderen zwei sich über den Schlafenden beugten und ihre Messer nahmen, bereit zuzustechen. Dann zog man ruckartig die Decke weg… Und die Verblüffung war groß.

,,Wo ist der Zwerg?“

,,Genau hier.“ Der, der Orcrist an sich genommen hatte, erstarrte. Angstschweiß trat ihm hervor, als er die Klinge eines Dolches zwischen seinen Beinen spürte.

,,Ich an deiner Stelle würde mich keinen Millimeter rühren. Die Klinge wurde er vor kurzem geschärft“, raunte die Stimme in seinem Rücken und drückte ein wenig fester zu, was den Mann wie ein feiges Schwein quieken ließ. ,,Fallenlassen“, kam der Befehl, dem er sofort nachkam. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig, wenn er seine Potenz behalten wollte.

,,Keiner bewegt sich oder ich lasse den Hund los!“, warnte Thorin, als sie Anstalten dazu machten. Der Streuner an seiner Seite fletschte die Zähne.

,,Steht da nicht so dumm rum! Tut doch was!“, schrie der Erste, dem bereits die Knie vom wachsenden Druck schlotterten. Im nächsten Moment stürzten die Männer auf Thorin zu – eine äußerst unkameradschaftliche Entscheidung, denn ihr Wortführer jaulte augenblicklich auf und sank, sich den Schritt haltend zu Boden.

Während Thorin versuchte, dem Messer des Angreifers auszuweichen, sprang ein schwarzer Schemen den zweiten an. Der Hund verbiss sich in die Hand des Räubers, der die Waffe fallen ließ und ihm dadurch die Möglichkeit gab, noch fester zu zubeißen. Der Mann holte aus und trat den Hund mehrere Male. Als Thorin sein Jaulen hörte, lief er seinem Gegner fort und rammte dem Zweiten den Dolchknauf gegen die Schläfe, sodass er schwankte. Keinen Moment zu früh drehte er sich wieder herum, um gerade noch vor dem von oben herab sausendem Messer zurück zu springen. Blitzschnell zog er mit der Waffe einen weiten Bogen vor sich. Die Spitze prallte an den Knochen der herabsinkenden Faust ab und zerfetzte Haut und Sehnen.

Vor Schmerz brüllte der Mann los, presste die andere Hand auf das Blut und wich zurück. ,,Machen wir, dass wir von hier wegkommen!“

Sein Kumpan schüttelte den Hund, der sich nun in seinem Bein verbissen hatte, ab und rannte los. Die Diebe gaben Fersengeld, rafften ihren verletzten Gefährten auf, der sich noch immer wimmernd den blutgetränkten Hosenstoff hielt.

,,Aah!! Lauft doch schneller, der Köter kommt!“ Mit ihm im Schlepptau stolperten sie eher, als dass sie rannten und wurden mit kläffendem Gebell davon gejagt. Der Hund bekam die Hose seines Gegners zu fassen und zerriss ihm den Stoff, sodass die halbe Hinterbacke hinter einer roten Unterhose hervor blitzte.

Amüsiert schaute Thorin diesem äußert komischen Schauspiel zu und pfiff ihn schließlich zurück. Mit stolzer Beute im Maul – einem großen roten Fetzen, kam der Hund erhobenen Hauptes zu ihm gelaufen.

Thorin ließ den Dolch zurück in seinen Stiefel gleiten und kniete sich vor seinem treuen Begleiter. ,,Braver Streuner.“ Er streichelte ihn ausgiebig und bekam voller Freude das Gesicht geleckt.

 

~

 

Sie deckte das Kind zu, damit es nicht fror, strich ihm ein letztes Mal über die blonden Haare. Es war noch dunkel, der Morgen aber nicht mehr weit. Sie schlich die Treppe hinunter, jeder Schritt gewohnt. Licht brauchte sie nicht, um sich zurechtzufinden. Es knarzte leise, als sie die letzte Stufe hinunter stieg. Doch das hatte das Haus schon immer getan.

Auf Socken ging sie zu der Tür, die nur angelehnt war und blieb am Rahmen stehen. Mondlicht schien durch das Fenster, fiel auf die zusammengeschobenen Betten und auf Greg, der dicht hinter Anna lag und sie im Arm hielt. Danke für alles.

In der Küche öffnete sie ihren Kräuterschrank. Nur noch wenig weilte hier, seit Hilda die Tinkturen und Kräuter zu sich genommen hatte. Doch nicht alles hatte sie mitgenommen.

Steckend stellte Marie sich auf die Zehenspitzen, um an ein Gefäß ganz hinten zu gelangen. Immer wieder rutschten ihre Finger nutzlos über das Holz, ehe sie es endlich zu fassen bekam. Über das verstaubte Etikett wischend offenbarte sich sein Inhalt.

Maries Inneres lag in kalter Stille, als sie alles davon in einen Becher mit Milch schüttete. Sofort färbte diese sich schwarz in der Dunkelheit.

Der Schnee unter ihren nackten Füßen stach in ihre Haut, als sie in die Nacht hinaus trat. Marie hob das Gesicht den von Wolken umgebenen Sternen entgegen und der Wind trocknete Tränen, die sich nicht bemerkt hatte. Es fühlte sich gut an, wieder weinen zu können.

Man hatte ihr gesagt, dass sie stark sein sollte. Ein Wort, hinter dem so viel mehr steckte. Stark.

Sie war es niemals gewesen. Immer wieder sagte man ihr, dass sie ihn loslassen musste. Sie hatte es nie getan.

Über all die Jahre hatte sie den Wunsch, die Hoffnung nach einem Wiedersehen nie begraben und sie war dankbar für jede einzelne Stunde, die sie noch einmal mit ihm verbringen durfte. Nun wandte sie den Blick vom Firmament ab und sah auf den Becher in ihren Händen. So war die Liebe. Sie verband.

Sie verband ihn und sie und sie konnte nicht anders, als dem Abgrund entgegenzulaufen, an dessen Rand sie sich ständig bewegt hatte. Endlich war sie angekommen. Es gab kein Zurück. Nur der Schritt nach vorn.

Langsam hob sich das Gefäß an ihre Lippen.

Bitte… Ich will, dass du lebst…, hallte seine Stimme in ihrem Kopf wieder und quälte ihr Inneres. Sie wollte es nicht mehr hören, wollte abschließen mit all dem… Doch alles, was sie sah, war sein Gesicht. Marie presste die Augen zusammen, zwang ihre Hand, stillzuhalten. Alles, was Thorin jemals wollte, war, sie in Sicherheit zu wissen. Konnte sie es wirklich tun?

Konnte sie ihrem eigenen Leben ein Ende setzen? Der letzte Schritt dazu fehlte, doch plötzlich wurde er immer schwerer.

Das Eis in ihrem Inneren schmolz.

Sie drehte sich um und schaute zurück, zurück zu der Familie, die sie neu bekommen hatte. Die auf sie hoffte und sich um sie sorgte. Die sie liebte.

,,Thorin.“

Er wollte, dass sie lebte. Mehr als alles andere auf der Welt.

Marie sah zu dem Weg, wo ihre Wege sich getrennt hatten, und erinnerte sich, was sie ihm einst versprechen musste. Konnte sie es ihm antun? Konnte sie für immer einen Geist lieben?

Die Kälte betäubte zwar ihren Körper, doch ihrer Seele konnte sie nichts anhaben. Dem Schmerz, der bei dem Gedanken aufkam, wen sie zurückließ, konnte sie nichts entgegensetzen.

Verzweifelt versuchte Marie, in sich hinein zu horchen. Auf einmal frischte der Wind auf und fuhr unter ihren Rock, durch ihr Haar und über ihr Gesicht... Es roch nach Frühling.

Warm und stark schlang sich etwas um ihr Herz und zog sie in seine Arme. Thorin war bei ihr.

Tränen strömten mittlerweile über ihre Wangen und rannten ihr Kinn hinab. Die Erinnerungen an ihn würden bis in die Ewigkeit bestehen, Marie würde sie an einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen bewahren, doch es war Zeit, ihn loszulassen.

,,Ich verspreche es… Ich verspreche es dir“, wisperte sie in den Wind, der die Worte von ihren Lippen nahm und in den Himmel hinauf trug.

,,Marie?“

Als sie herumfuhr, sah sie Mel vor der Haustür stehen. Und da wusste sie, dass sie sich für das Richtige entschieden hatte.

,,Du warst plötzlich nicht mehr da.“ Die Kleine zitterte in ihrem Nachthemd und Marie ging zu ihr, um sie zu wärmen und zu trösten.

,,Keine Angst. Ich gehe nicht weg.“ Verschlafen aber glücklich blinzelte Mel ihre Tante an. Marie führte sie zurück ins Haus. Den Becher ließ sie einfach fallen. Dunkel wie eine Blutlache breitete sich der Saft der Tollkirschen im Schnee aus und versiegte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

12

 

 

Auf Zehnspitzen schlich Anna gefolgt von Greg in den Wohnraum, aus dem merkwürdige Geräusche sie am Morgen geweckt hatten. In diesem Moment drehte sich die Person am Herd um, Eier in der Pfanne wendend. ,,Guten Morgen.“

Beide noch im Nachthemd und halbnackt starrten Marie an, als würden sie sie zum ersten Mal sehen. Verblüfft ließ Greg den Wasserkrug sinken, den er bereits zum Ausholen erhoben hatte. ,,Äh… Morgen. Haben wir etwa deinen Geburtstag vergessen?“

,,Nein. Ich bin nur früh auf.“

Anna schnürte ihren Morgenmantel enger um und eilte zu ihrer Freundin hinüber. Sehr viel besorgter musterte sie sie von oben bis unten. ,,Was machst du hier?“

Marie wackelte mit dem Kochlöffel. ,,Na, Frühstück. Setzt euch, ist genug für alle da.“ Sie nahm die Pfanne vom Feuer und stellte diese auf den Esstisch, an dem Mel bereits saß und sich über eine erste Portion Ei auf Weißbrot und Speck hermachte.

,,Wir beide waren schon ganz früh auf. Ich hab Marie vor dem Haus gefunden. Dann haben wir den Tisch gedeckt und die Ziegen gefüttert und dann hat Marie mir Frühstück gemacht. Mama, schau doch, sie ist wieder gesund!“

Marie strich ihr über den Scheitel und beließ es dabei. Erklären, was ihr in dieser Nacht wiederfahren, was sie umgestimmt hatte, konnte sie nicht. Als sie den Krug in Gregs Hand entdeckte, hob sich ihre Augenbraue steil in die Höhe. ,,Was hattest du damit vor, Greg?“

,,Das hier?“, er wog das Tongefäß wie eine Waffe. ,,Reine Vorsichtsmaßnahme. Dem hätte ich dem Eindringling auf seinem Schädel zerdeppert. Doch das warst leider nur du, mein kleiner laufender Meter.“

,,Und dann nimmst du ausgerechnet meinen guten Krug? Untersteh dich!“ Sie holte nach ihm aus, doch er wich grinsend vor ihr zurück. ,,Jetzt steht da nicht so rum. Setzt euch, ehe es kalt wird.“ Während Greg sich wie in alter Manier über das Essen hermachte, entging ihr nicht, wie ihre Freundin sie beobachtete und offenbar ihre Wandlung zu verstehen versuchte. Als alle sich gesetzt hatten, griff Marie über den Tisch nach Annas Hand. ,,Lass uns später reden“, bat Marie und versuchte zu lächeln, um Anna die Sorge zu nehmen.

,,Nein, ich muss es jetzt wissen.“

,,Na schön. Ich…“ Marie hielt inne, um die richtigen Worte zu finden. ,,Ich habe ihn gehen lassen.“ Dass sie ihre Freundin damit nur noch mehr verunsicherte, hatte sie nicht bezwecken gewollt. Annas Augen wurden noch größer. Sie umrundete den Tisch und setzte sich zu ihr auf die Bank.

,,Ist das wahr?“

Ihre Kehle war auf einmal wie zugeschnürt. Marie brachte nur ein Nicken zustande. Anna fiel mit einer Umarmung über sie her. ,,Oh, Marie…ich bin so froh. Ich hatte solche Angst, dass ich dich verlieren könnte…“

,,Ich hatte auch Angst.“

,,Das musst du nie mehr.“ Anna richtete sich wieder auf, um ihr ins Gesicht schauen zu können. ,,Jetzt wird endlich alles gut, das verspreche ich dir.“

Marie sah eine neue Zuversicht in dem warmen Ton ihrer braunen Augen, die so groß war, dass sie auch für sie reichen würde.

,,Was machen wir heute, Greg?“, fragte Mel und schwenkte mit kindlicher Ahnungslosigkeit gekonnt das Thema.

,,Such du dir was aus, Schatz. Morgen werden wir wenig Zeit haben. Zuerst wollen wir mal schauen, ob wir euer Haus auf Vordermann bringen können. Und dann sind wir für den Abend bei meinen Eltern eingeladen. Da musst du dich ganz schick machen, Prinzessin.“

Anna schlug sich die Hand an die Stirn. ,,Das hab ich ja ganz vergessen dir zu sagen! Wir werden wohl morgen den ganzen Tag im Dorf sein. Es wird sicherlich sehr spät werden.“

,,Schon in Ordnung“, antwortete Marie. ,,Geht ruhig. Ihr braucht aber nicht wegen mir mitten in der Nacht aufzubrechen. Ihr könnt in deinem Haus übernachten, das liegt doch viel näher.“

,,Bist du sicher? Zum Mittag sind wir aber auf alle Fälle wieder hier.“

Marie lächelte und war versucht mit den Augen zu rollen. ,,Ich wäre ja lieber an deiner Stelle besorgt. Mit Donja an einem Tisch?“

,,Die überlass mir.“ Nun war Greg es, der nach Annas anderer Hand griff, an der ein silbernen Ring auftauchte. ,,Ich werde doch wohl meine zukünftige Frau Zuhause vorstellen dürfen.“

Marie starrte auf den Ring an ihrem Finger, während es aus Mel als erstes heraus platzte: ,,Ihr werdet heiraten?!“

,,Ja, mein Schatz.“ Plötzlich hatte ihre Mutter ein Glitzern in den Augen. ,,Du bekommst einen richtigen Papa...“ Augenblicklich brachen bei ihr alle Dämme der letzten Tage. Schluchzend umarmte sie ihre aufgesprungene Tochter. Nun dachte keiner mehr ans Essen. Marie umarmte und beglückwünschte das Paar. Eine Welle aus Glücksgefühlen wärmte sie bis tief in ihr Innerstes. Es fühlte sich unsagbar gut an. Sie war glücklich für ihre Familie und dankbar, diesen Moment mit ihnen genießen zu können. Sie hatte sich für das Richtige entschieden. Auch wenn es schwer werden würde.

,,Du musst mir alles erzählen!“, bettelte Mel. ,,Hast du dich richtig vor Mama hingekniet, Greg? Oh, bitte, erzählt doch endlich!“

,,Das will ich doch meinen. Hab mir fast ‘nen Splitter geholt.“

,,Gestern Abend hat er mich gefragt. Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet und dann das. Ist der Ring nicht traumhaft?“ Schwärmerisch hob Anna ihre Hand, sodass der kleine Dimant im Licht glitzerte und bestaunt werden konnte. Auf einmal verschwand ihr Lächeln und hinterließ besorgte Skepsis auf ihrer gerunzelten Stirn. ,,Wie glaubst du, werden deine Eltern reagieren?“

Ihr Verlobter zuckte mit den Schultern und zog sie näher zu sich. ,,Das lassen wir auf uns zukommen. Etwas ändern kann daran niemand mehr.“

,,Donja wird einen Herzkasper bekommen.“

,,Ein Problem weniger…“

,,Greg, sie ist immer noch deine Schwester!“

,,Leider. Und jetzt auch deine Schwägerin, Liebling.“

,,Ich hatte es schon fast wieder verdrängt…“

Er hob ihr Kinn und stahl sich einen Kuss. ,,Das wird schon.“

Mit gespieltem Ernst verschränkte Marie die Arme. ,,Das kann ja heiter werden, wenn er dich wieder mit einem Tongefäß verteidigen will.“

Anna prustete los. ,,Wer bist du und was hast du mit der alten Marie gemacht?“

,,Gar nichts. Ich bin dieselbe, die ich früher war.“ Marie lächelte. ,,Ich habe lediglich zu ihr zurückgefunden.“

 

~

 

Die Hufe von Ferrox machten schmatzende Geräusche im Matsch, als Thorin auf den Schäfer zuritt, der am Wegesrand seine Herde bewachte. ,,Sagt, guter Mann, was ist das für ein Dorf dort drüben?“

Der Mann gab ein undefinierbares Brummen von sich. ,,Dethmolt“, antwortete er schließlich, nachdem er sich den Fremden angeschaut hatte.

Der Name sagte Thorin nichts. ,,Wie weit ist es bis Kerrt?“

,,Mhhm.“ Wieder dieses Brummen. ,,Da seid Ihr, wie ich fürchte, ein wenig von Eurem Weg abgekommen, Meister Zwerg. Kerrt liegt einen Tagesritt von hier in südlicher Richtung.“

,,Verdammt“, murmelte Thorin. Der Umweg über die vom Schmerzwasser schäumende Schlucht war keine gute Idee gewesen. Er überlegte, was er jetzt tun sollte. Es dunkelte schon und eine weitere Nacht draußen in der Kälte wollte er nicht verbringen. ,,Gibt es dort eine Unterkunft?“, fragte er mit einem Nicken auf die fahlen Umrisse des Dorfes.

,,Hm, und eine gute sogar. Nebenan könnt Ihr auch Euer Pferd gegen geringes Geld unterstellen.“

,,Habt Dank.“ Der Mann tippte sich an den Hut und Thorin trieb Ferrox an. Er wollte so schnell wie möglich ins Warme.

 

Das Wirtshaus war nicht zu verfehlen. Wie der Mann gesagt hatte lag nebenan ein Stall. Über dem Eingang hing ein Holzschild mit einem schwarzen Keilerkopf darauf.

Thorin drehte sich im Sattel um, um nach seinem Begleiter zu schauen. Doch der Hund war nirgends zu sehen. Er pfiff und wartete. ,,Streuner!“, rief er, aber auch jetzt blieb der Hund verschwunden. Vielleicht hatte er beschlossen, dass es Zeit war, weiterzuwandern. Gern hätte sich Thorin von ihm verabschiedet. Irgendwie hatte er den struppigen Kerl doch liebgewonnen und er konnte nur hoffen, dass er sich nicht in allzu große Schwierigkeiten verstrinken würde.

Ferrox dampfte in der Kälte, als Thorin absaß und von einem Jungen entgegengenommen wurde, der aus den geöffneten Stalltüren zu ihm geeilt war. Hinter ihm her gehumpelt kam ein alter Mann mit krummen Beinen. ,,Wie können wir Euch dienen, Meister Zwerg?“

,,Habt Ihr noch etwas frei für eine Nacht?“

,,Gewiss. Bring das Pferd rein, Junge.“ Der Stallbursche tat wie geheißen und die Männer folgten ihm. Auf der Stallgasse roch es sauber und nach Stroh, was Thorin zufrieden bemerkte. Es war warm und trocken und das Rascheln und Kauen von anderen Pferden war zu hören. Der Junge brachte Ferrox in eine leere Box und der Alte begann ihn abzusatteln. Trotz seiner gebrechlichen Statur wuchtete er scheinbar mühelos die Sachen vom Pferderücken und trug sie zur gegenüberliegenden Wand, um dort alles zu verstauen.

Thorin öffnete die Schnallen der Satteltaschen. ,,Ihr seid schnell und gründlich.“

,,Jahrelange Erfahrung“, erklärte der hinkende Mann, der auch das Zaumzeug aufhing. ,,Reib ihn gut ab, Junge, und wehe, du vergisst die Hufe. Er hat einen langen Weg hinter sich, das sieht man. Schönes Tier habt Ihr da“, sagte er dann zu Thorin. ,,Schönes Fundament. Gut bemuskelt.“

,,Danke. Gebt ihm zu fressen und zu saufen so viel er will. Ich zahle gut.“ Der Mann nickte und Thorin trat mit Gepäck und Satteltaschen auf den Arm ein letztes Mal in die Box, wo der Junge dabei war, den Schimmel trocken zu reiben. Dieser zuckte zusammen, als der Krieger ihn an der Schulter fasste und herumdrehte. ,,Pass gut auf ihn auf.“

Dem Knaben schlotterten die Knie. ,,J-ja, Herr.“

Schmunzelnd gab Thorin ihm ein paar leichte Klapse auf die Wange. ,,Mein Pferd scheint in guten Händen zu sein.“

,,Hast du den gesehen, Junge? Das war ein feiner Herr“, hörte Thorin den Alten, als er guten Gewissens den Stall verließ.

 

Das Wirtshaus Fetter Eber war nur mäßig besucht, was ihm recht war. Nur ein paar der alten Tische aus dunklem Holz waren besetzt, was er auf dem ersten Blick sehen konnte, die Lautstärke erträglich. Thorin wollte nur einen Krug Bier, etwas Warmes zu Essen, einen Tisch für sich allein und keinen, der ihn störte.

Er wandte sich der Theke zu und fragt nach einem Zimmer. Die Wirtin nannte ihn den Preis ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. ,,Bezahlt wird im Voraus!“, fügte sie noch scharf hinzu und wartete, bis er die Münzen auf den Tresen gelegt hatte, ehe sie sie einsackte und sich wieder dem Braten widmete, der hinter ihr über einem Feuer schmorte.

Der Schankraum war klein, mit einem Kamin an dem einen Ende und der Theke, wo die Frau ihre Stellung und die Tür im Auge hielt und Bier zapfte, an dem vorderen. Thorin suchte sich einen Platz am Rande. Manche Blicke folgten ihm, jedoch nur träge. Reisende waren vermutlich keine Seltenheit. Ein Junge lief mit Tellern und Krügen an den Tischen entlang. Er sah dem anderen im Stall ähnlich - der jüngere Bruder, wie Thorin vermutete. Er rief den Jungen nach Brot, Fleisch und Bier. Dieser eilte kurz darauf heran, stellte ein halbes Laib Brot auf einem Brett und einen Teller, auf dem das vor Soße triefende Fleischstück vom Spieß, gewürzt mit Kräutern und Zwiebeln lag, vor ihm ab. Schnell lief er wieder davon, um das Bier zu holen. Wie das Fleisch war auch dieses gut und Thorin war über keine weitere kalte Nacht in der Nässe froh.

Als er sein Gepäck nahm und auf das Zimmer gehen wollte, kam der Junge an, der ihn den Weg zeigen sollte. ,,Halt!“, ertönte die Stimme der Wirtin kaum, dass er den ersten Schritt auf die Stufen setzen konnte. ,,Lasst Eure Stiefel hier unten!“ Thorin drehte sich zu der drallen Frau um, die unbeirrt weiter abtrocknete. ,,Eure Dreckbuken möchte ich nicht auch noch oben haben. Ihr tragt ja den ganzen Schlamm von der Straße herein. Ausziehen, aber zackig. Sonst besudelt Ihr mir noch den Flur.“

Am liebsten würde er ihr seine Stiefel samt Schlamm auf die Theke stellen, doch er ließ es bleiben und kam ihrer Aufforderung nach.

 

Als Thorin an diesem Abend in seinem Zimmer im Bett lag, dachte er ununterbrochen an den morgigen Tag. Unruhig spielten seine Finger mit dem Anhänger der Kette, während er an die Zimmerdecke starrte und seine Gedanken bei Marie waren.

Die Sehnsucht nach ihr hatte ihn wieder mit jeder Faser seines Körpers eingenommen. Er war seinem Ziel so nah. Die kaum mehr bedeutungsvolle Entfernung eines Tages zwischen ihnen machte ihn unruhig und vertrieb jede Müdigkeit. Zu wissen, dass sein Mädchen ihm so nah war, erfüllte ihn mit einem ungeduldigen, warmen Kribbeln, aber auch mit Furcht.

Was würde passieren, wenn sie ihm gegenüber stand? Wie wird sie auf ihn reagieren? Was sollte er ihr sagen, wie es klären, dass er immer noch am Leben war? Wird sie ihn verstehen?

Seine Erinnerungen malten auf dem Putz zwischen den Deckenbalken ihr Gesicht. Ihre grünen Augen leuchteten, ihr Lächeln ließ sein Herz stolpern. Einladende Strahlen eines Sterns umrahmten ihr schimmerndes Haar. Sein Licht. Sein Kompass in der Dunkelheit.

Er musste zu ihr zurück, um eine Chance gegen die Drachenkrankheit zu haben. Marie war ebenso mit Smaug verbunden, wie er. Seine Seele hatte durch ihre Erscheinung ihn wachgerüttelt, ihn von dem Drachen beschützen wollen.

Marie hatte ihn vor Smaug gerettet.

Die letzten Tage aber war der Drache still, als hätte er sich in einen tiefen Schlaf geflüchtet. Was plante er? Was hatte er vor? Konnte er Smaug abhalten, Marie etwas anzutun?

Thorin hob die Hand und strich ihr eine seidige, braune Haarsträhne zurück hinters Ohr. Lächelnd senkte sie ihr Kinn, sah ihn mit einem Blick an, für den er zu Töten bereit war. Er würde nicht zulassen, dass er die Kontrolle über die Bestie verlor.

Seufzend ließ er die Hand wieder sinken und ihr Bild löste sich in Luft auf. Morgen würde es soweit sein. Er würde sich ihr und dem Versprechen stellen, welches er ihr einst gegeben hatte. Thorin blies die Kerze auf dem Nachttisch aus und stellte sich auf eine weitere unruhige Nacht ein.

 

Zum Glück für die Wirtin standen seine Stiefel auch am nächsten Morgen noch an derselben Stelle, sodass er seinen Weg problemlos fortsetzen konnte. In aller Früh holte er Ferrox ab, der im Nu fertig gemacht wurde und bezahlte großzügig, ohne das Gold länger als nötig zu berühren oder darüber nachzudenken.

Nachdem er über einen bereitgestellten Hocker aufgestiegen war, kramte er eine weitere Münze hervor. ,,Für dich, Junge.“ Er schnipste sie in seine Richtung, der diese mit offenem Mund auffing. Thorin nickte dem Jungen und dem Alten zu und ritt dann auf die Straße hinaus, Kerrt entgegen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

13

 

 

Die letzten Sonnenstrahlen des Tages hüllten ihn in ein warmes, goldenes Licht. Am Himmel begleiteten federleichte rosa Wolkenschleier die untergehende Sonne, die wie ein Feuerball über dem schwarzen Wald hing, vor dessen Rand er das Haus wiedererkannte. Erschöpft aber dankbar beugte Thorin sich nach vorn, um seinem treuen Pferd den Hals klopfen zu können. Aus dem Schatten des Hauses erschien unerwartet der Umriss einer Frau und brachte Thorins Welt zum Stillstand.

 

Scheit um Scheit nahm Marie vom aufgestapelten Holz an der Hausseite und legte sie sich auf die Arme. Sie beeilte sich. Die Temperaturen waren am Abend spürbar gesunken, da die Sonne noch nicht stark genug war. Die letzten Atemhauche des Winters krochen ihr unter den Rock und über die Arme, die nur von den langen Ärmeln ihres sandfarbenen Mieders bedeckt wurden, als Versuch, sich ein letztes Mal aufzubäumen.

Als sie das Gewicht gerade noch tragen konnte, machte sie sich damit auf den Rückweg. Das Klappern von Hufen wurde auf dem Feldweg lauter und Marie drehte sich danach um. Eingehüllt im Licht der untergehenden Sonne ritt jemand auf das Haus zu. Langsam erkannte sie den Mann, der auf der Hügelkuppe aus dem Bügeln stieg und sich am Pferdebauch zu Boden gleiten ließ.

Im ersten Moment war sie zu geschockt, um sich zu rühren. Dann aber kam die alte Wut über diesen Tagtraum zurück, der sie einfach nicht in Frieden zu lassen schien. Was sollte das? Sie dachte, sie hatte ihre Entscheidung deutlich getroffen. Ihr Körper hatte wohl anderes im Sinn, besonders ihr Kopf, wenn er ihr jetzt wieder so etwas vorsetzte, an dem sie zu nagen hatte.

,,Das ist nur eine Einbildung“, sprach sie laut aus und drehte dieser Erscheinung dort drüben den Rücken zu. Dass sie sie so verscheuchen würde, da war Marie sich sicher. Gleich würde diese Illusion verschwinden. So war es immer gewesen.

,,Nur eine Einbildung. Nichts weiter.“ Sie wuchtete das Holz höher. Ein Windhauch streifte die nackte Haut ihrer Wange wie der Atem eines Geliebten und ein Schauer glitt über ihren Rücken. Ihre Beine bleiben wie von selbst stehen und sie konnte nicht verhindern, noch einmal zu dem Trugbild zu schauen.

Der Geist, der Thorins Abbild gestohlen hatte, stand neben dem Pferd und sah zu ihr, als wartete er, dass sie zu ihm käme. Etwas war anders, als die Male davor. Etwas, was ihr Inneres aufbegehren ließ.

Es war…echt.

So echt, dass Thorins Anblick Gefühle in ihr weckte, die sie längst aufgegeben hatte. Es brachte ihr Herz zum Rasen – sie konnte keine so heftige Reaktion bloß nur träumen…

Mit einem Mal griffen die Schatten der letzten Monate ihr Herz und lähmten es. Es war, als würde sie alles noch einmal in einem Atemzug durchmachen. Das, was sie sah, konnte kein Traum sein. Es musste aber einer sein…und doch war er viel zu real. Dieses Trugbild dort auf dem Hügel konnte kein Traum sein, weil es tatsächlich echt war. Und diese Erkenntnisse traf Marie mit all ihrer Bedeutung.

Bevor sie begriff, was sie tat, rannte sie den Feldweg hinauf. Die Farben des Himmels und der Geruch nach Frühling begleiteten sie. Ihr Blick verschwamm, ehe sie noch ein Lächeln zwischen einem dunklen Bart sah. Sie überwand die letzten paar Meter, die sie voneinander trennten, und wurde mit ausgebreiteten Armen empfangen.

Thorin musste ein paar Schritte zurück treten, um nicht umgerissen zu werden. Finger krallten sich in einen Rücken, als Marie sich in seine Umarmung warf und ihm all das zurück gab, was er verloren hatte. Mit der Absicht, sie nie wieder loszulassen, drückte er sie an sich. Es schien, als hätten Worte in diesem Moment keinen Platz. Nur ihre Gedanken, ihre Erinnerungen und Gefühle. Thorin hielt sie so fest, dass seine Hände zitterten. Er hatte Angst, sie könnte wie Sand zwischen seinen Fingern einfach zerrinnen.

,,Lass mich nie wieder los.“ Er spürte, wie sie sich enger an seine Brust flüchtete, als fürchtete sie ebenfalls, er konnte verschwinden. Ein zitternder, schmaler Körper an seinem.

Thorin nahm ihr Gesicht, hob es zu seinem empor, versuchte jedes Detail in sich aufzunehmen. Und seit einer langen Zeit war er glücklich. Er hätte den Krieg, seinen Thron, den Drachen und die vergangenen Monate, diese ganze Welt, alles hinter sich gelassen. Er hätte alles aufgegeben, wenn er nur weiter hier mit ihr hätte stehen können. Mit tränenverschleiertem Blick sah Marie ihn an. Seine Augen, müde und gerötet, flackerten in ihrem Grau. Auch ihm rannten Tränen über die Wangen. Thorin vergrub das Gesicht in ihrem Haar, um bei ihr Schutz zu suchen.

Es fühlte sich unbeschreiblich gut an, sie in den Armen zu halten. Zu wissen, dass sie wohlauf war, dass sie ihn nicht vergessen hatte. Dass sie ihn liebte.

Er genoss das Gefühl ihrer Nähe, sog es in sich auf, wie ein Süchtiger seine Begierde. Es war, als stünden sie wieder wie einst auf der Lichtung im Mondschein. Alles, was wichtig war, war hier an diesem Fleckchen Erde.

Maries Lippen entkam sein Name und er blickte sie an. Der Krieger bettete ihre Wange in seiner Hand und sie schmolz unter seiner vertrauten Berührung dahin. ,,Marie.“

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, sodass er ihren Körper noch stärker an seinen drücken konnte und ihr die Luft wegblieb. Doch es machte ihr nichts. Unter ihren Fingern spürte sie seinen Bart, während ihre Augen jeden Zentimeter seines markanten Gesichtes überflogen. Eine Narbe zeichnete sich hell und dünn auf seiner rechten Stirn ab und endete gefährlich nahe am Auge. Obwohl sie es mit jeder Faser ihres Körpers spürte, musste sie sich vergewissern, dass dieser Mann auch wirklich der war, von dem sie dachte, er läge in einem kalten Grab.

,,Wie ist das möglich?“ In ihrem Kopf herrschte das blanke Chaos, das mit jeder Sekunde mehr wurde.

Als Beschwichtigungsversuch strich Thorin mit dem Daumen über ihre Lippe. ,,Das ist nicht wichtig.“

,,Aber“, Marie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, ,,du bist… Ich dachte…“ Die Verzweiflung kroch wie ein alter Dämon in ihr hoch. Erbarmungslos und betäubend. Doch Thorin war da und hielt sie fest.

,,Sch... Still“ Er lehnte seine Stirn gegen ihre und sie spürte seinen Atem, schloss die Augen und lauschte dem Murmeln seiner Stimme, das dazu fähig war, Geister und Dämonen zu vertreiben. ,,Ich lebe. Das ist das einzige, was du für den Moment wissen sollst.“ Er kam ihr ganz nah. Maries Lider senkten sie unter seiner Macht, ihre Lippen öffneten sich, bereit für ihn.

,,Ich liebe dich…“, konnte sie noch raunen, ehe Thorin ihren Wunsch erfüllte, den sie damals einer Sternschnuppe verraten hatte. Der Kuss war leicht und liebevoll. Behutsam ließ der Krieger seine Lippen auf ihren ruhen, um diesen Augenblick zu wahren, bis Marie seufzend den angehaltenen Atem ausstieß und die Arme fest um sein Genick schlang. Sie zog ihn enger, öffnete ihren Mund dicht an seinen gepresst, damit er den Kuss vertiefte.

Mit erlösender Leidenschaft küsste Thorin sie und ließ eine Hitze bis in den tiefsten Winkel ihres Körpers steigen, die sie wärmte wie ein Feuer in kältester Nacht.

Als die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont verschwunden waren und die Nacht heraufzog, nahm Thorin seinen Kopf zurück und betrachtete sein Mädchen. Ihre Lippen waren feucht und geschwollen vom Küssen, als sie die leuchtend grünen Augen aufschlug und ihn ansah. Als könnte sie es nicht ertragen, wieder getrennt von ihm zu sein, stellte sie sich die Zehenspitzen und presste die Stirn an seine, während ihre Hände über seine Brust fuhren, sodass sein hämmernder Herzschlag gefährlich zu stolpern begann.

,,Der Krieg... Die anderen…?“

,,Sie sind alle wohlauf.“

,,Was ist mit Smaug?“

Thorin fasste nach ihren Händen und nahm sie langsam von seiner Brust. ,,Der Drache ist tot.“

Bei der Nachricht sackten ihre angespannten Schultern sichtbar nach unten. Ihr sorgenvoller Blick aber blieb. Er gab ihr ein Kuss auf die Stirn, doch so leicht ließ sie sich nicht abwimmeln.

,,Du warst tot… Wie konntest du…?“

Er schüttelte den Kopf und küsste sie erneut, um sie zu besänftigen und zum Schweigen zu bringen. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

,,Nicht jetzt“, sagte Thorin matt. Marie sah ihn einen Augenblick lang an. Alles, was sie sah, war eine Mauer, die er plötzlich um sich herum aufgebaut hatte. Sie verstand, dass er noch nicht über das Geschehen reden konnte und doch war sie enttäuscht, dass er sie davon ausschloss.

Als sie sich zwang zu nicken, ließ er sie los und griff nach den Zügeln des inzwischen grasenden Pferdes. Marie trat von dem großen Tier zurück und musste die Arme bei der Kälte verschränken, die sie so plötzlich verspürte. ,,Im Stall ist noch Platz für ihn“, murmelte sie.

 

Sie machten eine leere Box für das Pferd zurecht, wo einst die Kühe gestanden hatten. Während Thorin auf den Heuboden kletterte, um etwas Stroh und Heu hinunterzuwerfen, bleib Marie mit einem seltsamen Gefühl im Stall zurück.

Das Knarzen der Holzleiter verriet seine Wiederkehr, ehe sie entschieden hatte, ob Glück oder Verwirrung größer waren. Nur kurz sah Thorin zu ihr rüber und Marie versuchte sich an einem Lächeln, um das Eis zu brechen, welches sich zwischen ihnen in aller Heimlichkeit, jedoch mit unabsehbarer Geschwindigkeit gebildet hatte. Doch er übersah ihr scheues Lächeln einfach und schob mit der Heugabel Heu und Stroh in die Box. Dann führte er das Tier hinein und begann es abzusatteln.

Zum zweiten Mal in kürzester Zeit spürt Marie, dass etwas nicht stimmte. Entschlossen, sich davon nicht beirren zu lassen, überwand sie die Distanz zu ihm und trat in die Box, um ihm zu helfen. Schnell merkte sie aber, dass sie ihm nur im Weg stand. Sie wollte ihm zur Hand gehen und schon mal Schnallen vom Sattelzeug öffnen, doch er sagte nur, dass diese nicht geöffnet wurden. ,,Oh.“ Marie nahm ihre Hände wieder weg und fühlte sich nutzlos. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung von Pferden. Und dort waren so viele Gurte und Lederzeug, dass sie keinen Überblick hatte, was zu was gehörte. Das riesige Tier flößte ihr außerdem einen Heidenrespekt ein und ihr war sehr Recht, dass Thorin sie stattdessen bat, Wasser zu holen.

War es ein gutes Zeichen, dass er mit ihr sprach? Marie nahm es als solches auf.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

14

 

 

Seitdem sie einen Eimer Wasser vom Fluss geholt hatte, stand sie in der Stalltür und wusste nichts mit sich anzufangen. Ihre Augen hingen an dem Mann, der scheinbar mühelos den Sattel auf die Boxenwand nebenan gewuchtet hatte. Die stumpfe Tätigkeit, mit der er Stroh über das nasse Fell des Schimmels rieb, um es zu trocknen, schlug sie wie in einen Bann.

So oft hatte sie diese Erwägung, er könnte einfach eines Tages am Horizont auftauchen, in ihrer Fantasie ausgemalt, dass sie die Realität nur schwer Begreifen konnte. Es war unwirklich.

Sie würde es nicht für wahr halten, wenn sie nicht wüsste, nicht fühlte, dass das dort tatsächlich Thorin war. Doch wie sollte es auch sein, wenn ein Toter wiedergekehrte?

,,Marie?“ Erst als Thorin sie ansprach, merkte sie, dass er zu ihr getreten war. ,,Alles in Ordnung?“

,,Mir geht es gut.“

,,Du solltest hier nicht ausharren.“ Ehe sie etwas entgegnen konnte, zog Thorin sich den Mantel aus und legte ihn ihr um. Dass sie eine ganze Weile ohne Umhang draußen gewesen war und immer noch hier stand, zeigte ihr mittlerweile zitternder Körper. Sie hatte die Kälte gar nicht gemerkt.

,,Geh ins Haus. Ich komm gleich nach.“ Er musste ihr Zögern gemerkt haben, denn er hielt einen Moment inne und griff nach ihrer Hand. ,,Ich weiß, dass du viele Frage hast und die Dinge, so wie sie sind, nicht verstehen kannst. Ich werde es dir zu erklären versuchen. Soweit ich das kann.“

Langsam zog Marie ihre Hand aus seiner. ,,Das solltest du“, murmelte sie und ging zurück zum Haus.

 

~

 

Als er hereinkam, stand Marie bereits am Herd und rührte den Eintopf vom Vortag mit hypnotischer Präzision, als könnte er dadurch schneller warm werden. Sie hörte, wie er etwas an den Holzstapel neben der Kaminwand stellte, sein Gepäck, wie sie vermutete.

,,Du wohnst nicht mehr allein hier.“

Sie sah über der Schulter hinweg, wie er vor den Garderobenhaken stand und sich die anderen Kleidungsstücke besah, die seine Aufmerksamkeit erregt hatten. Es war eine sachliche Feststellung, die zwischen den Zeilen eine Antwort forderte.

Als er ihren Blick bemerkte, wandte sie sich wieder dem Essen im Topf zu. ,,Anna und Greg sind zu mir gezogen. Um mich zu unterstützen.“

,,Ich bin froh, dass jemand bei dir war.“

,,Ja, ich auch“, flüsterte sie, damit er es nicht hörte. Dann seufzte sie und sagte lauter: ,,Sie sind auf einem Familientreffen im Dorf. Sie kommen erst morgen zurück.“ Das aufgewärmte Essen gab sie in eine Schüssel und brachte diese an den Tisch, wo schon ein Löffel lag. ,,Ich hab mir gedacht, dass du Hunger hast.“

Ihm war nicht entgangen, dass sie nur für ihn aufgetischt hatte. ,,Was ist mit dir?“

,,Hab schon gegessen.“ Als er sich seiner Stiefel entledigte, viel Marie etwas Seltsames auf. Den rechten Fuß zog er sehr viel vorsichtiger heraus und rieb sich danach die Fußknochen.

,,Tut dir etwas weh?“

,,Hm?“ Als hatte sie ihn aus Gedanken gerissen, richtete Thorin sich wieder auf. Dann schüttelte er den Kopf. ,,Bloß eine alte Verletzung.“

,,So wie die Narbe in deinem Gesicht?“

Der Krieger blickte sie an und Marie versuchte aus seinen Augen irgendetwas zu lesen, woraus sie schlauer wurde. Sturmgrau wie eine See schimmerten sie im Licht des Feuers, als seine Antwort, ein schlichtes ,,Ja“, sie enttäuschte. Sie wartete, ob etwas folgte, Thorin aber setzte sich und begann zu essen.

Marie presste die Lippen aufeinander und zog sich an die Küchenzeile zurück, überfordert mit all den Sinneseindrücken und wiederaufkochenden Gefühlen.

Immer noch nicht zu wissen, was passiert war, pochte in ihrem Kopf wie ein Geschwür, was unter der Haut wuchs. Um irgendetwas zu tun, packte sie den leeren Topf in die Spüle, nahm einen Lappen und ließ diesen überflüssigerweise übers Holz streichen. Es war reine Zeitschinderei.

Dieses ewige Warten hatte sie satt! Sie brauchte endlich Gewissheit.

Es knallte, als sie den Lappen auf die Arbeitsplatte pfefferte. ,,Warum bist du hier, Thorin?“ Mit durchgedrückten Schultern hatte sie die Hände auf die Kante der Arbeitsplatte gestemmt und starrte die Wand vor sich an, eine unglaubliche Wut im Bauch.

,,Ein Mann kam ins Dorf und berichtete von einem Krieg. Er habe mitangehört, wie dein Volk über deinen Tod sprach. Du warst tot!“ Sie wollte sich nicht umdrehen. Sie wollte nur an ihrer Wut festhalten, die ihr die Kraft gab, in der von ihm aufgerissenen Wunde zu wühlen, die sie gerade erst mit eigenen Händen vernäht hatte. ,,Ich habe um dich getrauert, wie um einen Gefallenen. Ich habe mir ausgemalt, dass dein Körper in einem Grab liegt. Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren.“ Nur schwer konnte sie sich zusammenreißen. Sie wollte nicht schon wieder weinen, sie verbot es sich.

Als kein Laut aus ihrem Rücken kam, wirbelte Marie herum. ,,Ich verlange eine Antwort von dir, Thorin! Was ist am Erebor passiert? Warum Krieg? Was habt ihr verdammt nochmal getan?“

Er hockte dort vor ihr und starrte auf die Maserung im Holz. Beinahe hätte sie den erstbesten Gegenstand nach ihm geworfen, als er endlich etwas sagte.

,,Du weißt ja gar nicht, was ich…“

,,Was du durchgemacht hast? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie es mir ergangen ist?! Du tauchst nach Monaten einfach so wieder auf! Was soll ich denken?“ Sie stemmte die Hände in die Seite und atmete gegen die Hitze in ihrer Brust an, die ihr jeden Atemzug schwer machte. ,,Weißt du, wie ich mich gefühlt habe, als keine einzige Nachricht kam? Weißt du, wie weh es getan hat als ich dachte, du und all die anderen wärt tot.“ Voller Enttäuschung trat sie auf ihn zu, bis sie vor ihm stand und ihn anfunkeln konnte. ,,Ich habe dich gehen lassen und jetzt bist du einfach wieder hier. Du tauchst immer aus dem Nichts auf und bringst meine Welt durcheinander!“

Thorin hob den Kopf und blickte sie mit leerem Gesichtsausdruck an, wie ein Junge seine Mutter, die ihn ungerechterweise einer Schandtat beschuldigte.

Marie erlaubte sich eine einzige Träne und ließ sie an ihrer Wange vorbei fallen. ,,Kannst du mich denn nicht verstehen?“

,,Ich verstehe dich.“

,,Dann erklär es mir, verdammt nochmal!“ Dass sie ihm die Klinge auf die Brust setzte, war ihr bewusst. Doch nur so konnte sie ihm anscheinend zum Reden bewegen. Immer noch saß er bewegungslos an seinem Platz und schwieg.

Als ihre lauten Worte im Raum verklungen waren, rieb Thorin sich die Stirn, dann schob er die Schüssel beiseite. ,,Setz dich“, lautete die Aufforderung an sie.

Marie setzte sich auf die Bank ihm gegenüber, faltete die Hände und legte sie sich an den Mund. Wartend, dass er begann, betrachtete sie seine Narbe im Gesicht und fragte sich, was er ihr erzählen würde. Was er erlebt hatte.

Wie Fremde saßen sie einander gegenüber, flüchtige Bekannte in der Summe ihrer Lebenszeit, die ein unangenehmes Thema zwischen sich liegen hatten.

,,Du hast jedes Recht zu erfahren, was passiert ist.“ Seine Stimme war fest und gradlinig, ganz anders als ihre es gewesen war. ,,Eines muss ich dir aber vorneweg sagen.“ Er legte die Ellenbogen auf den Tisch ab und blickte ihr direkt in die Augen. ,,Ich werde in Zukunft vorsichtiger mit meinen Versprechen sein, Marie. Ich werde dir nicht alles erzählen können, vielleicht werde ich das nie, aber ich verspreche dir, dass ich dir erzählen werde, was ich kann.“

,,Kannst oder willst du mir nicht alles erzählen?“, wisperte sie.

,,Ich will es nicht. Denn es kann sein, dass du mich danach nicht mehr lieben kannst. Ich habe mich verändert.“

,,Krieg verändert jeden Mann, Thorin.“ Er schüttelte den Kopf und plötzlich hatte Marie das Gefühl, die Schatten im Raum würden dunkler werden.

,,Es ist nicht der Krieg. Es ist noch so viel mehr.“

Unheilvoll schwebten seine Worte zwischen ihnen und für einen Moment entfloh Marie seinem Blick, der kälter geworden war. Egal, was es war, worüber er nicht sprechen wollte: Thorin fürchtete sich davor.

Es dauerte bis sie darüber nachgedacht hatte und zu einem Entschluss gekommen war, mit dem sie Leben konnte. Wenigstens eine Zeit lang.

,,Du verschweigst mir etwas und das akzeptiere ich.“ Weil sie nicht länger streiten wollte, streckte sie die Hand nach ihm aus. Als er ihre beschwichtigende Geste sah, ergriff er diese sofort und ließ seinen Daumen sacht über ihre Fingerknöchel streichen. Wie sehr hatte sie seine Berührungen vermisst.

,,Ich verschweige es dir, um dich zu schützen, mell nin. Nicht um dich auszuschließen. Kannst du das verstehen?“

Marie blickte auf ihre Hände und genoss das Gefühl, das sein Daumen auf ihrer Haut verursachte. Dieses Prickeln.

Was diesen Männern tatsächlich wiederfahren war, konnte sie zu diesem Zeitpunkt nur erahnen. Eines wusste sie aber schon jetzt: sie beide waren nicht mehr dieselben wie seit dem Abschied. Und genau das ließ sie den Mut finden, für eine bessere und gemeinsame Zukunft zu hoffen.

,,Du kannst es mir erzählen, wann immer du bereit dafür bist.“ Ihre Worte gingen ihm sichtlich nah, als würde sie ihm Sorgen abnehmen, die er lange mit sich herumgeschleppt hatte. ,,Ich werde für dich da sein, wenn du mich brauchst. Aber jetzt“, neu gestärkt blickte sie ihm fest in die Augen, ,,verlange ich die Wahrheit von dir. Ich will wissen, was am Erebor passiert ist.“

Thorin fuhr sich über den Bart und nickte, nickte immer wieder, bis er schließlich ihre Hand losließ und aufstand. Am Kamin beendete er seine ruhelose Wanderung und starrte eine Weile in die Flammen. Was er darin sah, wusste nur er.

Marie gab ihm die Zeit, die er brauchte, und hörte aufmerksam zu, als er die ersten Worte seine Lippen verließen. ,,Wir kamen in Esgaroth an, ehe der Durins-Tag anbrechen konnte, der Tag, der uns das Ultimatum setzte, wenn wir keine hundert Jahre verstreichen lassen wollten. Mithilfe eines Kahnführers namens Bard gelangten wir ungesehen in die Stadt und kamen vorerst in seinem Haus unter. Wir wollten uns mit Waffen und Proviant versorgen und dann zum Berg aufbrechen, doch wir wurden erwischt, als wir uns in einer Waffenkammer zu schaffen gemacht hatten. Die Stadtwachen führten uns sofort zum Bürgermeister. Es sah nicht gut für uns aus, bis ich ihm einen Handel vorschlug. Unsere Freiheit für einen Anteil am Schatz meines Volkes, wenn wir erfolgreich sein würden. Dieser Schmierlappen witterte sofort den Gewinn. Nur aus diesem Grund ließ er uns unbehelligt ziehen.“ Thorin legte ein Holzscheit auf die heruntergebrannte Glut. Funken stoben auf und tanzten für einen Moment auf dem Körper des Kriegers.

,,Am nächsten Morgen begannen wir den Aufstieg und suchten die Verborgene Tür. Als niemand mehr daran dachte, es zu schaffen, entschlüsselte Bilbo ihr Geheimnis. So gelangten wir in den Berg.“ Er sah zum Esstisch, wo Marie saß. Diese nickte, damit er weitersprach.

,,Du musst wissen, dass es von Anfang an Bilbos Aufgabe war, den Arkenstein aus der Schatzhalle zu bergen.“

,,Deswegen also Meisterdieb.“

,,Genau deswegen.“

,,Hat er es geschafft?“ Für einen Augenblick war nur das Prasseln des Feuers zu hören.

,,Bilbo ist noch so viel mehr als ein Meisterdieb.“ Sein Flüstern brachte ihr Herz aus dem Rhythmus. Wegen seiner Worte, aber noch viel mehr wegen der Aufrichtigkeit, mit der er sie sprach. Plötzlich erfasste sie eine Traurigkeit, die sie bis in ihre Seele erschütterte. Was haben diese Männer bloß erlebt?

,,Bilbo führte seinen Auftrag aus...“ Sein schwerer Atemzug ließ sie aufhorchen. Er sah sie nicht an, als er sagte: „doch er weckte den Drachen.“ Marie hielt es nicht mehr auf der Bank. Sie ging zu ihm, blieb an der anderen Seite des Kamins stehen, um ihm näher zu sein und dennoch genügend Freiraum zu geben.

Thorin betrachtete die Flammen, als könnten sie jeden Moment ihm entgegenkommen. Er wirkte gehetzt und unruhig. ,,Bilbo barg das Juwel und rannte dem Drachen davon. Wir spürten, dass etwas nicht stimmte und eilten ihm zu Hilfe. Am Eingang der Schatzhalle trafen wir auf ihn…und auf Smaug.“

Marie wusste nicht warum, aber ihre Intuition sagte ihr, jede Regung in seinem Gesicht zu verfolgen. Er stand mit verschränkten Armen vor der Brust einfach nur da und sah ins Feuer. Sie selbst blickte dort hinein, doch sah nichts anderes, als die glutzerfressenen Scheite, auf denen die Flammen tanzten.

Es war fast so, als lauschte der Zwerg auf etwas. Um herauszufinden, was es war, wartete sie ab.

Irgendwann atmete Thorin aus und schüttelte den Kopf, als wäre er überrascht, dass nichts passiert war. Dann schnaubte er auch noch. Das Ganze wirkte, als hätte er etwas erwartet.

Doch was?

,,Wir lieferten uns eine Verfolgungsjagd, die in den Schmieden endete.“ Er unterbrach ihre Gedanken, indem er seinen Erzählfaden wieder aufnahm, als wäre nichts gewesen. Höchst werkwürdig das Ganze…

,,Ich hatte einen Plan, er war sehr gewagt…doch letztendlich bloß zum Scheitern verurteilt.“ Die Erinnerungen daran wühlten ihn sichtlich auf. Er hatte den Mund fest verschlossen, die Fäuste so geballt, dass die Knöchel weiß waren. Etwas Schlimmes musste passiert sein.

,,Mein Plan war es, Smaug mit Gold anzulocken und überwältigen zu können. Es gelang uns nicht, ihn mit geschmolzenem Gold zu verletzen oder gar zu töten.“ Gereizt fuhr er sich durch die langen Haare. ,,Ich war töricht zu glauben, man könnte mit Feuer einen Drachen besiegen.“

,,Was ist stattdessen passiert?“, wisperte Marie kaum hörbar.

,,Stattdessen lief Smaug wie angestachelt aus dem Berg und ließ seinen ganzen Zorn an den Menschen aus Seestadt aus, von denen er dachte, sie hätten uns geschickt.“ Als ihr bewusst wurde, was das bedeutete, lief es ihr eiskalt das Rückgrat hinab. ,,Er brannte die Stadt auf ihre Grundsteine nieder“, sprach Thorin ihre dunkelsten Vermutungen aus. ,,Esgaroth gibt es nicht mehr.“

Ein schreckliches Grauen erfasste Marie. Sie musste sich von ihm abwenden, als die Erinnerungen an die Katastrophe sie heimsuchten. Ihr unter die Haut krochen.

Die Schreie, die Geräusche, wenn Feuersalven aus eines Ungeheuers Maul schossen. Der Qualm und die Hitze. Die Panik in den Augen der Menschen. Die Angst.

Damals hatte sie das Drachenfeuer selbst nur knapp überlebt und gehofft, dass nie wieder eine solch Katastrophe passieren würde. All ihre Hoffnungen waren mit Thorins Worten erloschen und Marie vergoss stille Tränen für die Menschen aus Esgaroth.

,,Bard hat es geschafft, Smaugs verwundbare Stelle mit einem Pfeil zu treffen.“

Ein weiteres Mal wirbelte sie zu ihm herum. ,,Was?“

Thorin hatte sich ihr zugewandt und blickte ihr emotionslos entgegen. ,,Er hat ihn getötet.“

,,Aber… Das ist nur eine Legende!“

,,Das dachten wir auch, bis wir eines Besseren belehrt wurden. Es gab die fehlende Schuppe, die damals Girions Armbrust herausriss, und Bards Bogen fand jene Stelle.“

Marie dachte über diesen Kahnführer namens Bard nach. Was war das für ein Mann, der es geschafft hatte, einen Drachen zu töten? Sie versuchte, das Gehörte sacken zu lassen, den Gedanken zu erlauben, dass die Bestie tatsächlich tot war und Freude zuzulassen. Doch sie wurde getrübt, denn im gleichen Zug war sie erstaunt, dass Thorin sich scheinbar gar nicht darüber freuen konnte. War er etwa neidisch, den Drachen nicht selbst getötet zu haben?

,,Smaug war also tot. Wie ging es weiter?“

,,Angeführt von Bard suchten die Überlebenden in Dales Ruinen Zuflucht, während wir Erebor zurückhatten. Der Berg gehörte wieder uns… Aber…“ Er verstummte und sprach nicht weiter. Thorin merkte Maries fragenden Blick und wandte sich ruckartig ab. ,,Ich war egoistisch“, knurrte er. ,,Die Menschen baten um das Gold, was ich ihnen verspochen hatte, und ich verwehrte es ihnen. Ich wollte mit niemanden das teilen, was meinem Volk rechtmäßig gehörte.“

,,Wegen dieser Kleinigkeit kam es zu einem Krieg?“

,,Du missverstehst das, Marie! Du kannst meine damaligen Beweggründe nicht verstehen.“

Sie machte ein böses Gesicht. ,,Offenbar gehört der Teil der Geschichte zu den Dingen, die du mir verschweigst.“ Thorin rollte mit den Augen und verschränkte die Arme nur noch fester. ,,Du wolltest das Gold also nicht teilen. Na schön. Doch warum kam es dann zu einem Krieg?“

,,Zum einen wollte jeder, nun da Erebor wieder frei war, einen Anteil am Schatz. Der Elbenfürst Thranduil kam aus dem Grünwald nach Erebor, um ebenfalls etwas für die seinen herauszuschlagen. Wir liegen schon seit Generationen mit diesem Waldlandvolk in einer Fehde, musste du wissen. Er wollte sich auf unsere Kosten bereichern.“

,,Und zum anderen?“

Finsterer hätte Thorins Miene nicht mehr sein können. ,,Legionen von Orks marschierten gen Erebor. Wegen dem Reichtum des Berges, aber noch wegen einem ganz anderen Grund. Gandalf erzählte uns, dass sie unter dem Befehl des einen Bösen standen.“

,,Du meist…?“

,,Ja. Sauron war ihr…“

,,Sag diesen Namen nicht in meinem Haus!“, fuhr Marie ihn an, ehe er noch ein Wort weitersprechen konnte. ,,Es bringt Tod und Unglück, wenn sein Name in ein Heim einkehrt.“

,,Nun, der dunkle Herrscher lebt und diese Truppen waren seine Armee.“

Immer noch verständnislos starrte sie ihn an. ,,Aber das kann doch nicht sein. Das ist schon Jahrhunderte her.“

Er zuckte bloß mit den Schultern. ,,Sein Körper ist in einem Felsengrab verrottet. Sein Geist hat überlebt und war dabei, zu seiner alten Stärke zu wachsen. Hätte Sau- hatte er Erebor erobern können, hätte er nicht nur Schätze von unerrechenbarem Wert sein Eigen nennen können, er hätte ein Gebiet erschlossen, das nah am verfallenen, nördlich gelegenen Orkkönigreich Anmar grenzt und so die Chance gehabt, dort erneut zu wirken.“

,,Was ist mit ihm passiert? Wo ist er jetzt?“

,,Gandalf sagte, er hätte sich zurückgezogen. Weit in den Osten. Wir sind vorerst sicher vor ihm.“

,,Pff!“ Marie war kein bisschen beruhigt dadurch. ,,Der dunkle Herrscher, der vor drei Jahrhunderten ganz Mittelerde tyrannisiert hatte, ist - Hokus-Pokus - wieder da und versteckt sich irgendwo. Wir brauchen uns aber keine Sorgen zu machen. Da bin ich ja froh!“

,,Marie“, Thorin kam auf sie zu und fasste ihre Oberarme, ,,ich kann dir nur wiedergeben, was Gandalf sagte, und aus ihm kriegt man nie mehr als fünf Wörter am Stück heraus, das weißt du doch.“ Sein Griff war fest, aber nicht einklemmend, sodass er sie zurück auf den Boden holte. Er gab ihr mit seiner Nähe Sicherheit, hielt jedoch auf der anderen Seite so die klaffende Lücke zwischen ihnen aufrecht.

,,Ja, das weiß ich.“ Enttäuscht darüber befreite sich Marie von seinen Händen. ,,Tut mir leid, es ist nur… Das ist alles viel zu viel im Moment.“

,,Es kommt noch einiges, was dir mehr zu denken geben wird. Brauchst du vielleicht eine Pause?“

Angesichts dessen musste Marie schlucken. ,,Nein, ich komme schon klar – irgendwie. Erzähl bitte weiter. Ich will es hinter uns bringen.“

,,Azog war der Heeresführer der feindlichen Truppen.“

Wenn sie gedacht hatte, es konnte nicht schlimmer kommen, setzte Thorin noch einen drauf. ,,Du bist ihm begegnet.“ Marie erkannte an dem Hass in seinen Augen, dass sie richtig lag. Teile der Hintergründe gaben auf einmal ansetzweise einen Sinn. ,,Deswegen hat er Jagd auf euch gemacht. Er wollte verhindern, dass ihr den Erebor überhaupt erst zurückerobern könnt.“

,,Und gleichzeitig seine persönliche Rache ausüben“, beendete Thorin ihren Gedankengang. ,,Es kam zum Zweikampf und ich dachte, ich hätte ihn besiegt.“ Ein Schatten legte sich über sein Gesicht und grub sich bis tief in seine Augen. ,,Azog stieß mich aufs Eis…seine Waffe direkt über mir. Ich hatte keine Chance gegen ihn und fasste einen Entschluss. Ich gab mein Leben auf, um auch ihn mit in den Tod zu reißen. Ich zog Orcrist unter seinem Schwert fort…und hielt still, als Azog es mir in den Körper stieß.“

Maries Herz hörte endgültig auf zu schlagen, als Thorin ihr seine intimsten Erinnerungen offenbarte.

,,Ich nutzte den Überraschungsmoment und riss meinen Schwertarm hoch“, konnte er den Mut finden, weiterzuerzählen. ,,Azog war tot…und ich… Bilbo fand mich auf dem Eis. Er blieb bei mir, bis ich…“

,,Du bist gestorben.“

Endlich wandte Thorin sich ihr wieder zu. ,,Ja.“

,,Und doch stehst du hier… Wie ist das möglich?“

,,Deine Kette ist der Grund.“

,,Was?“

,,Die Kette, die du mir beim Sommerfest gabst, trägt eine magische Kraft in sich. Der Anhänger hat mir das Leben gerettet, indem er mich wieder erwachen ließ. Du hast mir das Leben gerettet, Marie.“

,,Nein…“ Sie machte einen Schritt nach hinten. ,,Das ist nicht wahr.“ Und Thorin einen auf sie zu.

,,Gandalf hat meiner Seele mit einem Zauber Kraft gegeben, zu kämpfen. Der Anhänger deiner Kette hat das erst möglich gemacht, ob du es glauben willst oder nicht. Man brachte mich ins Lazarett, wo ein Heiler meine Wunden versorgte. Danach war ich lange nicht bei Bewusstsein. Ich kann mich nicht erinnern, was mit mir geschah. Ich glaube, es waren zwei Wochen, in denen mein Körper leblos war. Mein Geist war in einer Welt zwischen dem Leben und dem Tod gefangen und kehrte erst nach einer Weile zurück in meinen Körper. Ich erwachte zu neuem Leben, jedoch geschunden und fürs Leben gezeichnet. Monate vergingen bis meine Wunden heilten. Ich wurde gesund und brach auf, um dich wiederzusehen.“

Plötzlich endete er einfach so und ließ sie allein mit seinen Worten. Allein, indem er sie mit dem Unmöglichen konfrontierte, das alles nun zu verstehen.

Die Stille, die jetzt auf sie einrückte, war niederschmetternd.

,,Du erzählst mir das alles und ich soll es glauben?“

,,Es war das Nötigste, was du wissen musst, aber es ist die Wahrheit. Das wolltest du doch, oder nicht?“

Marie hielt es nicht mehr aus. Sie floh ans andere Ende des Raumes, um genug Abstand zwischen sich und ihm zu bringen. Unter dem Fenster stehend sah sie in die Sterne, suchte in ihnen nach einer Antwort.

,,Ich habe dir erzählt, was ich konnte. Was verlangst du noch von mir?“ Thorin hörte sich aufgebracht an und Marie konnte es ihm nicht einmal verübeln.

Sie schloss die Augen und folgte allein ihrem Herzen. ,,Zeit.“ Damit drehte sie sich zu ihm um. ,,Zeit und deine Geduld, um all das zu verstehen. Mehr verlange ich nicht von dir.“

,,Mell nin…“, waren die einzigen Worte, die er herausbrachte. Dunkel vor Liebe und Sinnlichkeit.

Als er den Kopf hob, sah Marie ein loderndes Feuer in seinem Blick. Bereit, sie zu verschlingen. Jegliche Kälte war aus ihr gewichen. Noch nie hatte ihr Körper jemanden so sehr gewollt, wie in diesem Moment, und sie glaubte, von innen heraus aufgefressen zu werden, wenn sie nicht sofort nachgab.

,,Ich hab dich vermisst“, wisperte sie und sah, wie er mit raubtierhaft langsamen Bewegungen auf sie zukam.

,,Ich habe dich auch vermisst. Du ahnst gar nicht, wie sehr…“

Das Knistern zwischen ihnen, das mit jedem verringerten Meter intensiver wurde, ließ Marie fast die Kontrolle über sich und ihr Vorhaben verlieren.

Als der Krieger vor ihr stand, legte sie ihm die Hände auf die Brust. ,,Würdest du mir einen Wunsch erfüllen?“ Sie spürte das Hämmern seines Herzens unter ihren Fingern.

,,Jeden.“

,,Zeig es mir.“ Sein Körper erstarrte und Marie hob den Kopf, um ihn aufrichtig anzuschauen. ,,Ich muss es sehen.“

Thorin begegnete ihrem Blick und musste sich mit dem Unvermeidbaren arrangieren. Er hielt einen Moment inne, ehe er damit begann, sich zu entkleiden. Dem ersten Hemd folgte ein zweites und als er auch dies über seinen Kopf gezogen hatte, sah Marie es.

Sie hatte nicht mit einem solchen Ausmaß gerechnet, schlug sich die Hand vor den Mund und konnte den Schluchzer, der ihr entwich, nicht aufhalten. Nicht mehr wegsehen. Es war grauenhaft.

Tränen schossen ihr mit aller Härte erneut in die Augen. Ihr Herz schien für einen ewig langen Moment stillzustehen, als ob es nicht wüsste, was es tun sollte. Was es glauben sollte.

Sein Ausdruck, mit dem er das Gesicht von ihr abgewandt hatte, war genauso wenig zu ertragen, wie das Bild, das sich ihr auf seinem Körper darbot. Marie streckte die Fingerspitzen aus und berührte die wulstige Narbe. Die Haut zitterte, als würde sie ihn damit quälen. Plötzlich packte er ihre Hand und hielt sie von sich fern.

,,So sieht man aus, wenn man im Krieg war.“ Kalt und resigniert war der Ton seiner Stimme. Erst jetzt schien er die Grobheit seines Griffs gemerkt zu haben, denn nun hob er sie an seinen Mund und presste einen Kuss darauf. ,,Ich bin dem Tod begegnet.“ Er sah sie immer noch nicht an. Stattdessen hielt er ihre Hand, als hielte er sich daran fest. Als würde etwas Schlimmes geschehen, wenn nicht.

Marie wollte ihn trösten, küsste die Stelle seines Schlüsselbeins, doch er versteifte sich nur noch mehr. ,,Thorin, mein Schatz, bitte schau mich an.“ Sie nahm sein Gesicht in beide Hände. ,,Du bist nicht allein mit all dem.“ Sachte berührte sie seine Wange, seine Schläfe. Die Narbe in seinem Gesicht.

,,Narben zeichnen uns beide. Deine sieht jeder. Meine liegen unter der Haut.“

Er konnte seine eigenen Gefühle kaum mehr zurückhalten. Marie sah es in seinen Augen glitzern und wurde an eine warme Brust gedrückt.

,,Du warst mein Licht in der Dunkelheit. Bist es immer noch.“ Sein Geständnis war verzweifelt und wunderschön zugleich. ,,Lass mich wieder in dein Leben.“

Marie hob das Kinn und küsste ihn. Es gab keine andere Antwort.

,,Ich will dich, Thorin. Hier und jetzt…“ Er küsste sie so hart, dass ihre Zähne gegeneinanderstießen. Sie stöhnte vor Schreck, was jedoch schnell in Verlangen umschlug. Thorin küsste sie, als ob er halb verhungert wäre. Raue Hände wanderten besitzergreifend unter ihren Rock und sie spürte, wie ihre Seele dahin schmolz, spürte die tiefe Erleichterung, weil sie festgehalten wurde. Von dem Mann, dem ihr Herz gehörte.

Thorin knurrte wie ein Wilder, als er ihr Mieder an der Schnürung zu fassen bekam und mit einem Ruck aufriss. Seine Hand griff ihre Brust und Marie bot sich ihm vollkommen dar.

Von starken Armen gehalten sank sie auf die Dielen, das Geräusch einer sich öffnenden Gürtelschnalle zwischen ihrem Keuchen. Er drängte sich zwischen ihre Beine und dann war er in ihr. Süßer Schmerz ließ sie wimmern, welcher wich, als Thorin sich zurückzog, um erneut zuzustoßen. Haltsuchend packte sie seinen Rücken, als er so hart in sie fuhr, dass sie den Mund aufriss. Es dauerte genau fünf Stöße bis ein tiefer Laut seiner Kehle entstieg und er zitternd über ihr zusammensackte.

Heftig atmend sah Marie ihm zu, fasziniert, wie verletzlich der große Krieger in diesem kurzen Augenblick zu sein schien. Unter ihren Händen wich die Spannung aus seinem Körper, der das fand, wonach er so sehr verlangt hatte.

Trotz seines vollen Gewichtes auf ihr, hielt Marie ihre Arme um ihn geschlungen und genoss ihre Intimität. Es war so lange her…

Nach einer Weile, die viel zu schnell vorüber ging, stützte er sich ab und sah mit vor Lust verschleiertem Blick auf sie herab. Dann hob er die Hand, strich ihr eine Haarsträhne zurück an ihren Platz und ließ seine Finger durch ihr Haar gleiten.

Ihrem wummernden Herzen lauschend schloss Marie die Augen und genoss. Trotz entblößtem Busen, hartem Boden und hochgeschobenem Rock, konnte sie sich keinen schöneren Moment vorstellen, als hier mit ihm zu liegen.

Sein Mund war zärtlich, als seine Lippen über ihre wanderten. ,,Marie?“

,,Hm?“

,,Sag, dass du mich liebst.“

Sie öffnete die Augen und begegnete seiner Liebe, wenn gleich auch Unsicherheit. Für letzteres gab es jedoch keinen einzigen Grund. Marie küsste ihn auf den Mundwinkel, tröstlich und liebevoll. ,,Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.“ Voller Inbrunst eroberte Thorin ihren Mund zurück. Marie presste tiefer und spielte mit seiner Zunge, während ihr Innerstes sich um ihn zusammenzog, immer noch nach ihm lechzend. Obwohl er eben gekommen war, hatte seine Männlichkeit keinen Zentimeter verloren, wie sie zu ihrer Freude feststellen musste.

,,Mhhmm.“ Sofort spürte er ihre wiederaufflammende Lust. ,,Da hat wohl jemand noch nicht genug.“

,,Nicht mal annähernd.“

,,Das trifft sich gut.“ Erneut ließ Leidenschaft seine Stimme rau wie Reibeisen werden. ,,Denn ich bin noch lange nicht fertig mit dir.“ Ein Versprechen oder eine Warnung; Marie wusste es nicht.

Herausfordern reckte sie das Kinn, ,,worauf wartest du noch?“, und entlockte ihm ein Grinsen. Thorin erhob sich, nicht ohne sich noch einen Kuss zu stehlen. Dann half er auch ihr hoch. Kaum, dass sie stand, ergriff Marie seine Hand und zerrte ihn in Richtung Treppe, Thorin aber zog sie zurück in seine Umarmung, fasste unter ihre Schenkel und hob sie hoch. Marie konnte ihr Kichern nicht unterdrücken und schlang glückselig Arme und Beine um ihn, als der Krieger die Stufen mit ihr hinaufstieg.

Sie hatten es kaum bis durch die Tür geschafft, da küssten sie sich schon wieder leidenschaftlich. Thorin trug sie zum Bett und ließ sich mit ihr zusammen auf der Matratze nieder. Sanft bettete er sie unter sich und langte zum Nachttisch, wo Zündhölzer neben einem Kerzenteller bereit lagen. Marie machte es ihm schwer, einen Funken zu bekommen, indem sie sich wie eine Katze an ihn schmiegte und seine Brust mit unzähligen kleinen Küssen übersäte. ,,Marie…“

Als der Raum endlich Licht bekam, begann er augenblicklich, sie zu entkleiden. Mit wenigen Handgriffen war Marie ihr Kleid samt Unterkleid und die langen Strümpfe los. Die Beine um seine Hüften geschlungen, begannen ihre Finger durch das weiche Haar auf seiner Brust zu fahren...bis sie so plötzlich wie hart beiseite gewischt wurden. Mit Schrecken begriff Marie, was er sehen musste.

Thorin starrte auf ihren nackten Körper und konnte seinen Kummer kaum verbergen. Vorsichtig, als könnte sie zerbrechen, berührten seine Hände ihre Rippen, die sich unter der Haut abzeichneten. Früher schon war ihr Bauch flach gewesen, nun aber war sie dürr und Marie hatte bis zuletzt gehofft, dass es ihm nicht so nahegehen würde…

,,Wieso war ich nicht da?“ Es war eine Frage, auf die er keine Antwort wollte.

Unter seinem schockierten Blick schämte Marie sich plötzlich. ,,Es tut mir leid.“

,,Nein! Hör auf!“ Bei seiner lauten Stimme zuckte sie zusammen. ,,Du musst dich für nichts entschuldigen. Für gar nichts! Hätte ich das gewusst, hätte ich dir das Essen überlassen. Du wirst jetzt sofort etwas essen. Keine Wiederrede! Ich habe keine Lust, dich zwangsernähren zu müssen.“

Marie hinderte ihn daran, aufzuspringen. ,,Thorin, mir geht es gut, ehrlich! Ich brauche keine Zwangsernährung.“

,,Sie dich an! Du bist nicht nur stur, sondern auch unvernünftig!“

Sie krallte sich an ihm fest, damit er nicht das Bett verlassen konnte. ,,Und du überfürsorglich!“

,,Berechtigterweise!“

,,Halt verdammt nochmal endlich die Klappe und nimm mich!“ Er hielt mit seiner Schimpftirade inne, was Marie ausnutze. Sie griff in seine Haare und zog ihn zu sich, bis seine Stirn an ihrer ruhte.

,,Das einzige, was ich im Moment brauche, bist du“, flüsterte sie und nahm ihn bei der Hand, führte sie empor zu ihrer Brust, ,,nimm mich und lass mich vergessen…“, und legte sie darauf. Fast schon ehrfürchtig vor ihrer Weiblichkeit verharrte seine Hand dort, wo sie war. Thorin murmelte ihren Namen und sie sah in seinen grauen Augen ihre ganze Welt. Die Weichheit einer fraulichen Brust und die steil aufragende Brustwarze zwischen seinen Fingern taten ihr übriges. Der Krieger senkte den Kopf und umschloss sie mit seinem Mund, saugte daran bis Marie vor Lust zu zerspringen drohte. Ohne von ihr abzulassen entledigte er sich seiner Hose und legte sich zu ihr.

Ihr Mund presste sich gierig auf seinen. Sie spürte seine Kraft, schmeckte seine Lippen, seinen Bart, und trank seinen Geschmack. Dann fasste sie zwischen sich, um ihn zu spüren, doch das war gar nicht mehr nötig. Thorin drang bereits unter ihren Händen in sie ein. Er war über ihr, in ihr, umgab sie vollkommen.

Eng umschlungen gaben sie sich einander hin, bis Thorin den Arm unter ihren Rücken schob und sie aufrichtete. Der Druck erhöhte sich in ihrem Schoß, was sie aufstöhnen ließ. Weiches Haar klebte an ihrer Haut, heiß und nass ihre Körper.

Er küsste ihr den Hals und Marie lächelte, weil sie daran erinnert wurde, wie gerne sie dies mochte.

Da ließ Thorin sie jedoch zurück auf die Decke sinken, zog sich aus ihr zurück und fasste ihre Hüfte. Breitwillig ließ sie es mit sich machen, dass er sie auf den Bauch drehte und dann auf die Knie zog. Er hätte alles mit ihr machen dürfen, wenn sie ihn nur weiterhin spüren konnte.

Er streichelte über ihre Hüften und ihr Gesäß, machte sie mit dieser sinnlichen Folter fast verrückt. Völlig überreizt keuchte Marie von dem intensiven Gefühl, bog den Rücken durch und drückte ihren Hintern flehend gegen seine Lenden, um ihn endlich wieder zu spüren. Als hätte er nur darauf gewartet, beugte er sich über sie, drückte sie damit fast nieder.

,,Du gehörst mir.“ Seine Wange schmiegte sich an ihre Schläfe und sie konnte hören, wie schwer auch er atmete, seine Nase in ihr Haar drückte und ihren Geruch aufsog. ,,Für immer...“ Wimmernd schloss sie die Augen, als er sie erneut Zentimeter für Zentimeter ausfüllte. Marie genoss jeden einzelnen davon.

Als er begann, sie zu nehmen, erst langsam und tief, dann immer härter und schneller, konnte sie die Laute, die ihr entwichen, nicht länger zurückhalten. Schon bald krallte Marie die Finger in das Laken und schrie sich frei, schrie seinen Namen und sich all die Last und Ängste von der Seele. Mit jedem seiner Stöße verschwand die Leere ein kleines bisschen mehr, bis da nichts mehr war außer alles umfassende Wärme.

Bis da nichts mehr war, außer er.

 

~

 

Wie lange sie schon Seite an Seite im Bett lagen, konnte Thorin nicht mehr sagen. Die Tage in Erebor schienen verschwindend wenige dagegen zu sein. Er war glücklich, zumindest für diesen Moment.

Auf seiner Brust hatte es sich Marie bequem gemacht und war versunken in einem Dämmerschlaf. Träge streichelte ihre Hand über seinen Bauch und kam dem verunstalteten Narbengewebe manchmal sehr nah, ohne ihm besondere Beachtung zu schenken. Vielleicht bemerkte sie es nicht einmal. Malerisch fuhr ihre zartgliedrige Hand über seine Bauchmuskeln. Salbei für seine Seele.

Thorin genoss jede einzelne Berührung und wünschte, dass die Zeit niemals vergehen würde. Während er einen Arm um sie gelegt hatte, bewegten sich auch seine Finger über ihre Schultern und Rücken. Berührten die Wirbel, die sich unter der Haut nach oben drückten und ließen ihn traurig die Augen öffnen.

Die Spuren der Trennung waren auf ihren Körper sichtbar wie die des Krieges auf seinem. Thorin drehte etwas den Kopf, um auf sie hinabblicken zu können. Als er ihre Rippenbögen sah, wandte er den Blick sofort wieder ab. Er hoffte, diese Spuren von Tag zu Tag bei ihr verblassen zu sehen und dass sie sich davon erholen würde.

Seine eigenen würde er ewig tragen.

Als er sich ihr vorhin zeigen musste und sie seine Narbe berührt hatte… Diese zarte Berührung genau dort war zu viel für ihn gewesen - dazu der Schrecken und das Mitleid in ihren Augen, welches er nicht wollte. Trotz allem hatte Marie ihm zu verstehen gegeben, dass sie sich von der Hässlichkeit dieser Narbe nicht abschrecken ließ. Ganz im Gegenteil.

Wenn er sein Schweigen über den Rest seiner Geschichte brechen wollen würde, wäre sie für ihn da. Doch das war einfacher gesagt, als getan.

Er hasste es, sie anlügen zu müssen. Thorin wollte ihr weder erzählen, dass es seine Schuld war, dass dieser Krieg überhaupt erst seinen Anfang gefunden hatte, noch dass Smaugs Geist irgendwie überlebt und ihn missbraucht hatte, indem er ihn Dinge tun und sagen gelassen hatte, für die keine Entschuldigung reichten. Es gab so vieles, was sie nicht wusste…

Irgendwann aber, so wusste er, würde die Zeit reif sein, um ihr die Wahrheit zu sagen. Das war er ihr schuldig.

Sie hatte ihm zugehört, als er seine dunkelsten Erinnerungen neu belebte. Sie hatte sich entschieden, ihn wieder in ihr Leben zu lassen. Mehr lieben als in diesem Augenblick hatte er diese außergewöhnliche Menschenfrau nicht gekonnt.

So sehr er sie liebte, so sehr fürchtete Thorin sich auch vor dem Unglück, was über sie hereinbrechen könnte. Die ganze Reise vom Einsamen Berg bis hier her, war der Drache still. Keine Rührung, keinen Mucks hatte Smaug von sich gegeben. Vorhin im Wohnraum hatte Thorin nach dem Monster gesucht und gedacht, im Feuer Hinweise auf ihn zu finden.

Letztendlich hatte er jedoch nicht ein einziges verräterisches Flackern erkennen können. Thorin hielt dies keineswegs für ein gutes Zeichen. Smaugs Geist würde niemals das Weite suchen - wohin auch, ohne sich einen neuen Wirt zu nehmen. Wenn der Geist ihn verlassen würde, würde er sich im Nichts auflösen, wie ein verglimmender Windhauch. Nein, Smaug versuchte genau das zu erreichen, was ihn nun beschäftigte: ihn mürbe machen mit Abwesenheit, mit einer ständigen Unsicherheit der Angst verschuldet, er könnte plötzlich mit alter Macht erwachen und ihn abermals wie eine Marionette behandeln.

Traurig sah er auf sein Mädchen, das nichts von seinen Gedanken mitbekam. Was würde sie tun, wenn sie von dem Fluch des Drachen erfuhr? Was würde Smaug mit ihr tun, wenn er die Chance dazu bekam, sie anzufassen?

Thorin fürchtete sich vor dem Tag, an dem er die Kontrolle über sich selbst verlor, denn Marie war sein Schlüssel für ein Heilmittel gegen die Drachenkrankheit. Und genau das könnte ihr Verhängnis werden...

,,Bist du noch wütend auf mich?“

Er blinzelte und verschloss seine Gedanken hinter einer Maske, ehe er ihr das Gesicht zuwandte. ,,Wie könnte ich.“ Marie atmete aus und entspannte wieder. Die Frage war ihr wohl wichtig gewesen. Thorin entschloss sich, es ihr gleichzutun. ,,Bist du wütend auf mich?“

Marie drehte sich herum, sodass sie ihn anschauen konnte und er nutze die Chance und bettet sie wie ein Kind an seine Brust. ,,Ich war wütend“, flüsterte sie in seinen Armen. ,,Lange Zeit. Auf dich und auf die anderen. Dass ihr mich hiergelassen habt, obwohl ich darum bat, mich mitzunehmen. Und wütend auf mich selbst. So schrecklich wütend.“ Sie befeuchtete ihre Lippen, die mit jedem Wort mehr zu zittern begannen. Thorin streichelte über ihr Haar und ließ sie sprechen, was sie zu sagen hatte.

,,Ich weiß…du wolltest mich nur vor Unheil beschützen, aber ich konnte es nicht verstehen. Ich wollte nicht, dass du wieder gehst…doch du verlangtest genau das von mir. Ich musste dich ziehen lassen, genau wie damals, ohne zu wissen, ob ich dich je wiedersehen würde. Genau wie damals hat es sich angefühlt, als würde etwas aus mir herausgerissen werden.“ Erneut begann es in ihre Augen zu schimmern. Thorin wollte sie nicht mehr weinen sehen und strich ihr die Wangen trocken. Es half kaum gegen ihre Erinnerungen an die Einsamkeit.

,,Ich stand so oft vor dem Haus…blickte auf den Weg und fragte mich, wann du wiederkommen würdest und…ob du es je wieder tun würdest. Ich spürte Kälte, jeden Tag. Ich habe mit meinem eigenen Körper einen Kampf ausgefochten, der nicht länger die Kraft hatte, weiterzumachen. Einfach weitermachen, wie bisher, das war unmöglich, seit ich wusste, dass du nicht mehr dort draußen bist.“ Sie biss sich auf die Lippen und schluckte, um ihre Stimme zu bündeln. ,,Irgendwann habe ich aufgegeben.“ Ehe er etwas sagen konnte, rollte Marie sich herum und setzte sich in die Mitte des Bettes. Dort versuchte sie ihre Wangen zu trocknen, als wäre es ihr höchst unangenehm, so schwach zu wirken. ,,Könntest du mir etwas zu trinken bringen?“

,,Natürlich.“ Thorin küsste sie auf die Wange, ehe er aufstand und nachdenklich den Raum verließ.

Als er wenig später mit einer Kanne leichtem Wein, den er in ihrer Kammer gefunden hatte, zurück ins Zimmer kehrte, graute der Morgen bereits vor dem Fenster. Sie waren die ganze Nacht wach geblieben, weshalb er Wein als bestes Einschlafmittel für sie ausgesucht hatte.

Er entdeckte Marie auf der Bettkante sitzen. Es sah es so aus, als hätte sie in der Zwischenzeit noch mehr geweint. ,,Mell nin, was hast du?“ Kanne und Becher stellte er auf den Nachttisch ab, doch ehe er sich zu ihr beugen konnte, wich Marie seiner Berührung aus.

,,Ich muss dir etwas sagen“, presste sie hervor. Mit verquollenen Augen sah sie zu ihm empor und rang mit den Worten. Was war es bloß, dass sie so mitnahm?

,,Du warst ehrlich zu mir. Nun will ich auch ehrlich zu dir sein.“

Thorin blieb stehen, wo er war, konnte sich nicht mehr rühren. An dem Schmerz in ihren Augen erkannte er, dass es etwas Schlimmes sein musste.

,,Ich…“ Ihr viel es so schwer, es auszusprechen.

Dann plötzlich waren die Worte im Raum und drohten, ihm den Erdboden unter den Füßen wegzureißen.

,,Ich habe versucht, mir das Leben zu nehmen.“

Verloren und sich selbstüberlassen stand Thorin vor ihr und starrte sie an. Mit Augen voller Eis sah Marie an ihm vorbei und schwieg. Ihr Körper war verkrampf, die Hände zu Fäusten auf ihre Beine gepresst. Es war nicht zu ertragen.

Der Gedanke an die Bedeutung dieser Worte zerfraß das, was von seinem Herz übrig war, und lähmten es. Der große Krieger machte einen Schritt auf sie zu, dann fiel er vor ihr auf die Knie.

,,Es tut mir leid. Es tut mir so leid…“ Verzweiflung übte mit aller Gewalt auf seinen Körper ein. Thorin bette seinen Kopf auf ihre Beine und schlang die Arme um ihren Bauch, weil er nicht anders konnte, als sie festzuhalten. Endlich ließ Marie seine Nähe wieder zu. Sie legte ihm die Hände auf den Kopf und beugte sich über ihn, als Tränen über seine Wangen liefen und ihre Haut reinwuschen.

,,Wie können wir je wieder dieselben sein?“, wisperte sie.

Thorin zog sie hinab auf seinen Schoß, als die Angst, sie immer noch verlieren zu können, ihn heimsuchte. ,,Wir werden nie wieder dieselben sein.“ Ein Zittern ging durch ihren Körper, der augenblicklich in seiner Umarmung Schutz suchte.

,,Nimm mich mit“, flüsterte Marie ganz nah bei ihm. ,,Nimm mich mit nach Erebor.“

Trotz Tränen versuchte Thorin zu lächeln und diesem neuen Gefühl Platz zu verschaffen. Mehr als ein Nicken brachte er dennoch nicht zustande. So Vieles lag noch unbeantwortet zwischen ihnen, doch er war zu mitgenommen für ein weiteres Gespräch. Ihr schien es noch schlimmer zu ergehen. Stattdessen hockten sie zusammen neben dem Bett und verweilten in nackter Intimität. Thorin hielt sie fest und sie war einfach nur bei ihm. Und das war mehr, als er je gehofft hatte. Mehr, als er jemals gewollt hatte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

15

 

 

Als Marie aufwachte, fand sie den Platz neben sich im Bett verwaist vor. Schon längst war die Sonne aufgegangen, sie musste den ganzen Morgen verschlafen haben. Gegen das Tageslicht blinzelnd drehte sie sich um und bemerkte, dass sie allein im Zimmer war. ,,Thorin?“ Seine Kleidung lag nicht mehr am Fußboden. Auch war die Flasche Wein und ihre benutzten Becher verschwunden.

,,Thorin?“ Dieses Mal rief sie seinen Namen lauter und spürte plötzlich ihr Herz rasen. Nichts in diesem Zimmer gab Hinweise darauf, dass die vergangene Nacht tatsächlich so geschehen war, wie sie sie in Erinnerung hatte.

Marie raffte die Decke um ihre Blöße und wollte das Bett verlassen, da bemerkte sie die Schritte auf der Treppe. Einen Moment später betrat Thorin das Zimmer. Bei seinem Anblick stieß sie die angehaltene Atemluft aus. Er war tatsächlich hier.

Ihr Lächeln war erleichtert, als Marie ihm entgegenblickte und wartete, dass er zu ihr kam. ,,Guten Morgen.“

,,Den wünsche ich dir auch, mein Liebling.“ Er setzte sich auf die Bettkante. Sein Mantel verströmte Kälte, als wäre er gerade von draußen gekommen. ,,Wie hast du geschlafen?“

Der Wein, den er für sie geholt hatte, hatte ihr tatsächlich geholfen in den Schlaf zu finden. ,,Gut“, antwortete sie daher. Unter seinen grauen Augen lagen Schatten, was Marie sofort aufgefallen war. Er sah erschöpft aus. Die Frage, wie seine Nacht war, brauchte sie gar nicht erst zu stellen. ,,Hast du überhaupt geschlafen?“

Thorin sah sie geknickt an und wischte sich übers Gesicht. ,,Kein Auge habe ich zugetan.“

,,Dann leg dich jetzt für ein paar Stunden nochmal hin. Ich muss raus aus den Federn. Die Arbeit wartet.“ Während Marie sich aus der Decke schälte und ihren Kleiderschrank öffnete, begann Thorin sich bis aufs Unterhemd auszuziehen. Dass er keine Widerworte einlegte, zeigte ihr, wie müde er wirklich war.

,,Du brauchst dich um deine Ziegen nicht mehr zu kümmern. Ich war im Stall und hab nach Ferrox geschaut. Auch sie haben ihr Frühstück bekommen.“

Marie schlüpfte in ihr Unterkleid und schickte ein Luftkuss in seine Richtung. ,,Du bist ein Schatz.“ Nachdem sie sich angezogen und einen Zopf geflochten hatte, beugte sie sich nochmal zu ihm, um ihm einen Kuss zu geben. ,,Versuch zu schlafen.“

Er nickte, zog die noch warme Decke höher und rollte sich auf die Seite.

 

Marie war unterwegs zum Fluss, als ein kleiner lila Farbtupfer im Gras ihre Aufmerksamkeit erregte. Wenige Meter weiter ein gelber. Die ersten Frühlingsblumen streckten entlang des Trampelpfades ihre Knospen durch das auftauende Erdreich der Sonne entgegen und zauberten Marie ein Lächeln auf die Lippen.

Das Lied von damals in der Kupfer Stube; es hatte sich erfüllt.

Sie achtete auf jeden ihrer Schritte, damit sie diese kleinen Wunder nicht zerstörte und erreichte ihre morgendliche Lieblingsstelle am Ufer. Das Schmelzwasser aus dem Nebelgebirge hatte den Wasserspiegel die letzten Tage deutlich ansteigen lassen, sodass die Felsen in Ufernähe überspült worden waren. Mit gefährlichem Tempo schossen die Wassermassen nun den Flusslauf entlang.

Marie hockte sich mit Vorsicht ans Ufer und tauchte die Hände ins eiskalte Wasser, um es sich ins Gesicht zu schleudern. Geräusche über ihr ließen ihren Blick in den Himmel heben. Ein Schwarm Wildgänse flog über ihr Haus hinweg in Richtung Norden. In den nächsten Tagen würden weitere Zugvögel ihnen folgen und ihre Heimreise antreten.

Mit dem Gedanken an ihre eigene Reise, die bald bevorstand, schloss Marie die Augen und ließ die Sonne ihr Gesicht trocknen. Der Schnee in der Umgebung war weggetaut, nur an schattigen Flächen nahe dem Walde, wo die Strahlen der Sonne selten hinreichten, oder in Senken hielt er sich hartnäckig. Doch es war unbestreitbar.

Der Frühling war eingetroffen. Ein neues Jahr hatte begonnen. Und damit eine Chance für einen Neuanfang.

 

~

 

Ich verschweige es dir, um dich zu schützen, mell nin. Nicht um dich auszuschließen... Beim Erledigen der Hausarbeit hatte sie genug Zeit über einiges nachzudenken. Über Thorins Worte und über jene, die er nicht preisgegeben hatte. Schicht für Schicht. Bis sich daraus ein großes Ganzes bildete, versuchte Marie das alles sacken zu lassen, während sie die runtergebrannte Glut im Kamin mit neuem Holz und Zunder wieder zum Brennen verhalf. Schnell merkte sie, wie riesig das Packet war, das sie sich zu tragen vorgenommen hatte.

Obwohl er ihr einen Teil nicht erzählen wollte, so hatte Marie Verständnis, wenngleich die Neugier und die Sorge um dieses Geheimnis schwer wiegten. Es musste etwas mit dem Gold zu tun haben, welches er den Menschen aus Esgaroth verwehrt hatte. Hatte er im Krieg etwas getan, was sie verstören könnte? Bereute er etwas zutiefst? Hatte er jemanden verraten, um seine eigenen Ziele zu erreichen? Jemanden hintergangen?

Was war ihm durch den Kopf gegangen, als er auf Azog traf? War es ein langer Kampf gewesen? Was hatte er gefühlt, als ihm klar wurde, dass er es nicht schaffen würde?

Vehement schüttelte Marie den Kopf, um dieses Szenario darin zu vertreiben. Warum malte sie es sich aus? Sie hätte es nicht sehen gewollt. Weder den Kampf, noch den tödlichen Schwerthieb.

Es hätte sie zerstört, ihn sterben zu sehen. Sein Anblick, was die Erinnerungen daran mit ihm gemacht hatten; das allein reichte für sie aus, um zu erkennen, dass der Krieger sein Leben lang davon nicht loskommen würde.

Thorin war am Leben, wie auch immer es geschehen war. Was hinter ihm lag war ein Abenteuer, welches Sehnsüchte weckte. Sie hätte so gern dabei sein gewollt, auch wenn der Krieg die schönen Momente ihrer Reise getrübt hätte. Marie war ehrlich: selbst den Drachen hätte sie gerne noch einmal gesehen, bevor er getötet worden war. Auch das hätte sie gerne gesehen, hätte die Genugtuung erleben dürfen für das viele Leid, das Smaug einst über ihre Stadt gebracht hatte. Niemals hätte sie gedacht, dass die Legende um die fehlende Brustschuppe war sein könnte. Genauso wenig, welch unfassbares Geheimnis ihre Kette in sich barg…

,,Ganz gut?? Ihr Männer müsst Tomaten auf den Augen haben.“ Marie erschrak, als die Haustür sich öffnete und Anna und Greg heimkehrten. Die hatte sie ja total vergessen! Sie wischte sich die Hände an ihrem Rock ab und sprang auf.

Niemand reagierte auf das Strahlen, das über ihrem ganzen Gesucht lag. Man übersah sie sogar fast. ,,Diese giftigen Blicke! Oh – Hallo, Marie. Ich habe es dir doch gesagt, Greg“, damit wandte Anna sich ihrem Verlobten wieder zu, ,,wenn das so weitergeht, dann werde ich nie akzeptiert.“

,,Donja muss sich mit meiner Entscheidung abfinden. Meine Mutter hat dich doch schon ins Herz geschlossen…“

,,Gut, dass ihr da seid. Ich muss euch etwas…“

,,Es geht hier um deine Schwester, welche eine verlogene Schlange ist. Wenn die sich ändert, fress ich einen Besen.“

,,…ganz Wichtiges sagen.“ Das Familientreffen musste ein Desaster aus Annas Sicht gewesen sein, denn sie und Greg waren so in ihre Diskussion vertieft, dass Marie gar nicht erst darum bat, etwas leiser zusprechen, weil Thorin schlief. Himmel, wie sollte sie ihnen das bloß erklären?

Wenigstens war Mel noch da, die mit eher gelangweiltem Gesichtsausdruck jetzt zu ihrer Tante kam.

,,Euer Familientreffen war wohl eher bescheiden, hm?“

,,Ganz in Ordnung würde ich sagen.“

Seit dem Winter hatte Mels Körper einen ordentlichen Schub gemacht. Allmählich hatte sie Marie eingeholt – was wirklich keine große Meisterleistung war, sodass die beiden nun Auge in Auge miteinander reden konnten.

,,Waren sie auch nett zu dir?“

,,Ich glaubte, Gregs Mutter findet mich süß. Sie hat mir in die Wange gekniffen und mich Herzchen genannt.“ Das Mädchen zog eine angewiderte Grimasse.

Marie schmunzelte. ,,Das hätte ich ihr nie zugetraut. Dann ist das ein sehr gutes Zeichen.“

Endlich schien Annas Gemüt ein wenig an Temperament verloren zu haben. ,,Entschuldige diesen Überfall, Marie. Aber Greg möchte nicht einsehen, dass sein Schwesterherz für immer eine blöde Kuh sein wird.“

Ihr Verlobter rollte mit den Augen. ,,Warten wir´s ab. Die Bögen werden sich schon noch mit der Zeit glätten…“

Anna wollte gerade neu ansetzen, da bemerkten sie den Mann, der soeben den Wohnraum betrat. Alle Anwesenden drehten die Köpfe zu Maries Gast und bewegten sich nicht mehr.

Zu Maries Erleichterung war Thorin wieder angekleidet, als er auf sie zukam. Bei ihnen angekommen legte er den Arm um ihre Taille, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. ,,Guten Morgen.“

Marie wagte ein versöhnliches Lächeln in Richtung der Schockierten. ,,Ihr wolltet mir ja nicht zuhören.“

Ihre Freundin sah aus, als würde sie jeden Moment blau anlaufen und ersticken. Mit offenem Mund starrte Greg den fremden Mann wie einen Geist an. Und genau das war er. Ein Geist.

Irgendwie fand Anna ihre Stimme als Erste wieder. ,,Ich denke, wir sollten uns alle erstmal setzen.“

 

Es war wie ein Verhör vor Gericht. Auf der einen Bank saßen Marie und Thorin, gegenüber Anna und Greg, die die Beschuldigten mit Argusaugen beobachteten. Mel war die einzige, die zappelig auf dem Hintern hin und her rutschte. Das Mädchen hatte schon längst begriffen, wer der Fremde war, der aus Maries Zimmer gekommen war, und klebte nun mit allen Sinnen an dem ernsten Gespräch der Erwachsenen, um zu erfahren, was passiert war.

Nachdem diese den ersten Moment mit angespanntem Schweigen verbracht hatten, war es an der Zeit, sich zu erklären. ,,Tja, so war das“, endete Marie. ,,Ich war mindestens genauso geschockt wie ihr es seid. Wir…“ Sie schaute zu Thorin auf und begegnete seinem Blick. ,,Wir haben gestern Abend lange geredet. Er hat mir alles erklärt.“

Der Totgeglaubte war die gesamte Zeit mit aufmerksamer Ruhe dabei. Wie ihr ganz persönlicher Fels in der Brandung war er an ihrer Seite und konnte jede Frage, die Greg stellte, beantworten, während Anna anfangs ein böses Gesicht gemacht hatte und Thorin wie einen Lügner musterte. Als Marie sah, dass ihre Miene sich nach und nach entspannte, wurde auch sie es. Denn Thorin log nicht.

Er hatte seine Geschichte abgewandelt ohne von der Wahrheit abzuweichen. Anna wusste bereits, dass er König eines Landes war. Nun erfuhr auch Greg dies.

Thorin sprach gebildet und mit ruhiger Stimme. Er war höflich, jedoch distanziert zu seinen Gegenübern. Er erzählte das Nötigste, bedeutend weniger als er es bei Marie getan hatte. Die Schwere seiner Verletzungen sowie die Frage nach dem Wunder seiner Genesung ließ er unerkannt unter den Tisch fallen. Denn wie sollten sie die Magie verstehen, die die Kraft dazu hatte, über das Schicksal eines Lebewesens aus Fleisch und Blut zu bestimmen? Er vertraute Anna und Greg nicht, um ihnen Details zu offenbaren. Marie hoffte, dass er seinen Argwohn Menschen gegenüber ablegen würde, wenigstens für die Zeit, die sie noch hier waren. Immerhin war es ihre Familie.

Nur allzu gut konnte sie nachvollziehen, dass er die Kette nicht ansprach, wollte im gleichen Zug jedoch ihre Familie nicht anlügen. Aber wie sollte sie es ihnen erzählen? Die Sache mit ihrer Kette und der geheime Teil seiner Geschichte beschäftigten sie immer noch so sehr, dass sie Marie zwangen, sich erstmal ihren eigenen Gedanken klar zu werden.

,,Ich war so schwer verletz, dass niemand mit einer Genesung gerechnet hatte“, sagte der schwarzhaarige Krieger. ,,Es dauerte Wochen bis ich so kräftig war, auf meinen eigenen Beinen zu stehen, und mehrere Monate bis ich mich auf ein Pferd setzen konnte, um zurückzukehren.“ Unter dem Tisch griff Marie nach seiner Hand und drückte sie.

Aus Angst, die Erwachsenen würden auf sie aufmerksam werden und sie vom Gespräch ausschließen, wagte Mel kaum zu atmen.

,,Wir dachten alle, du wärst tot.“ Man blickte zu Anna, die seit langem wieder etwas gesagt hatte.

,,Das dachte ich selbst.“

,,Schön, dass es nicht so ist.“ Sie schenkte ihm ein erstes, kleines Lächeln.

,,Aber, wenn das alles so ist, wie Ihr schildert“, beharrte Greg, der es nicht ablegen konnte, Thorin vornehm anzusprechen, ,,warum habt Ihr ihr keine Nachrichten zukommen lassen? Ihr hättet es doch sicherlich erklären können.“

Maries soeben noch verspürte Zuversicht erlosch augenblicklich. ,,Er hat recht.“ Sie drehte sich Thorin zu, als ihr bewusst wurde, was sie hätte alles auf diesem Wege viel früher erfahren können, wenn es Briefe gegeben hätte. ,,Warum hast du dich nicht gemeldet? Eine kleine Nachricht hätte doch schon ausgereicht. Es gab kein Lebenszeichen – von keinem von euch.“ Marie bohrte ihren Blick in seinem. Sie wollte es wissen. Musste es.

Sichtlich zögerte er mit seiner Antwort, brach ab und begann von neuem. ,,Ich musste erst mit mir selbst zurechtkommen, ehe ich dich sehen konnte. Meine Psyche… Ich wollte dich nicht mit mir belasten. Hier in Kerrt wusste ich dich in Sicherheit, das war das Wichtigste. Ich blieb in dem Glauben, die erste Nachricht hätte dich erreicht. Die anderen erzählten mir, nachdem ich erwacht war, dass sie einen Brief vor Wochen bereits an dich verfasst hätten. Ein Rabe sollte ihn dir bringen.“

,,Ich habe nie einen Brief erhalten.“

,,Das tut mir leid.“ Marie tat es weh, die Erkenntnis in seinem Gesicht zu sehen. ,,Aber was ist mit dem anderen Brief?“

,,Wovon sprichst du?“

Thorin erhob sich und holte aus seinem Rucksack etwas. ,,Ich schickte einen Raben zu dir und er brachte mir das hier zurück.“

Marie nahm das Stück Papier entgegen und faltete es auseinander. Die wenigen Zeilen lasen sich wie Gift.

,,Ich bin zu dir zurück, obwohl ich nicht wusste, ob du mich überhaupt noch wolltest.“

Eiskalte Wut ballte sich in ihrem Bauch. ,,Anna kann überhaupt nicht schreiben.“ Sie reichte das Blatt weiter. ,,Das, war hier steht, ist eine Lüge.“

,,Was ist mit mir? Was steht denn da?“ Anna verrenkte sich den Hals, um einen Blick auf das Schriftstück zu erhaschen, welches Greg an sich genommen hatte. Er las für sie vor. ,,Du hast diesen Worten geglaubt?“, fragte Anna ihn schockiert.

,,Keinem einzigen.“

Marie hatte sich nun ebenfalls erhoben und verschränkte die Arme wie ein Schutzschild vor sich. ,,Hier ist nie ein Rabe angekommen. Jemand muss den Brief abgefangen haben.“

Thorin umrundete den Tisch und senkte die Stimme. ,,Wer sollte so etwas tun? Wer wusste von unserer Beziehung?“

Ihr entfuhr ein ironisches Geräusch. ,,Das ganze Dorf. Nein, so etwas könnte ich nur einer Person zuschreiben. Tut mir leid, Greg, aber außer deiner Schwester traue ich das niemandem zu.“

,,Was hat Donja gemacht?“

Anna fuhr zu ihrer Tochter herum. ,,Ach, Mel, du solltest das gar nicht hören!“

,,Aber ich hab doch schon alles andere gehört!“

Greg pfefferte das Blatt auf den Tisch. ,,Und ich wollte ihr noch eine Chance geben“, knurrte er. ,,Das hat ein Nachspiel.“

Seine Verlobte legte ihm die Hand auf den Arm. ,,Was willst du tun?“

,,Sie in die Wüste schicken.“

Marie nahm das Stück Papier wieder an sich und zerriss es. ,,Sie ist es nicht wert.“ Dann ging sie damit zum Kamin und vernichtete alles, was von dieser Lüge übrig war.

,,Marie hat recht“, meinte Anna. ,,Sich darüber aufzuregen, bringt nichts. Obwohl ich ihr am liebsten selbst den Hals umdrehen würde... Wir können daran nichts mehr ändern.“

Marie biss sich auf die Lippen. Es änderte aber leider nichts an den Hass, den sie für diese Frau verspürte. Im nächsten Moment fuhren zwei große Hände über ihre Schultern, hinab zu ihren Oberarmen und verweilten dort. Sie lehnte sich an den Körper, der hinter sie getreten war und versuchte nicht mehr daran zu denken, welche Gewissheit sie schon längst gehabt haben konnte und welch Wahrheit Donja ihr verwehrt hatte.

,,Hass verlockt uns zu schlimmen Taten“, raunte seine Stimme an ihrem Ohr, die seit jeher Dämonen vertrieb. ,,Lass ihn nicht deine Gedanken bestimmen.“ Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf Thorins Nähe. Die Kälte wich und machte Wärme Platz.

,,Wie geht es jetzt weiter?“ Anna sah ihre Freundin an, die in den Armen des Kriegers vor dem Kamin stand.

Ja, wie ging es jetzt weiter? Marie drehte den Kopf, sodass Thorin und sie sich anschauen konnten. Es war Zeit, es ihnen zu sagen.

,,Ich werde Thorin nach Erebor folgen.“

,,Du gehst weg?“ Mel starrte sie aus riesigen Augen an.

Sie wurde aus seiner Umarmung freigelassen, als Marie behutsam auf das Mädchen zutrat. ,,Mel, Schatz, hör mir zu.“

Doch das Mädchen sprang von der Bank hoch. ,,Nein, du hast gesagt, du wirst nicht weggehen!“

,,Mel, das war etwas ganz anderes.“

,,Aber wir sind doch eine Familie. Du kannst nicht einfach gehen!“

,,Thorin ist auch meine Familie. Er kann nicht hierbelieben, das verstehst du doch, oder? Er wird gebraucht in Erebor. Deshalb muss ich mit ihm.“

,,Dann gehe ich eben mit.“ Die Kleine war fest entschlossen. Tränen hatten sich schon in ihren Augen gesammelt, die sie zornig mit ihrem Ärmel wegwischte.

,,Deine Mutter würde dich schrecklich vermissen.“

,,Dann kommen wir eben alle mit!“

Hilfesuchend warf Marie Thorin einen Blick zu. Dieser schüttelte den Kopf. ,,Mel, das geht nicht.“

,,Ihr seid so gemein!“ Sie rannte zur Tür hinaus. Marie rief ihr noch nach, doch Anna bremste sie.

,,Lass sie. Sie wird sich wieder beruhigen. Geben wir ihr einen Moment.“

,,Ich wollte nicht, dass sie so reagiert.“

,,Keine Sorge“, beschwichtigend nahm sie ihre Freundin in den Arm, ,,sie wird es verstehen. Du tust das Richtige. Trotzdem wirst du mir so fehlen.“

Dem baldigen Abschied bewusst schlang Marie ihre Arme noch enger um den vertrauten Körper. ,,Du wirst mir auch schrecklich fehlen.“

,,Wann hattet ihr vor aufzubrechen?“, fragte Greg.

,,So schnell es geht“, antwortete Thorin.

,,Bitte“, Marie sah ihn an, ,,gib mir etwas Zeit. Ich muss mich in Ruhe verabschieden können.“

,,Na gut. Auf die paar Tage kommt es auch nicht mehr an.“

,,Wir packen dann mal unsere Sachen“, mischte sich Anna ein.

,,Aber ihr müsst nicht gehen!“

,,Marie hat recht, ich möchte euch nicht aus diesem Haus vertreiben.“

Besonnen lächelte Anna den Zwergenfürsten an. ,,Ist schon in Ordnung. Wir werden in mein Haus ziehen. Es würde ja eh nur einen Aufstand geben, wenn wir bei Greg anklopfen würden. Außerdem braucht ihr jetzt etwas Zeit für euch allein.“ Sie zwinkerte. ,,Ihr habt bestimmt einiges nachzuholen.“

Über Maries Wangen zog eine Röte. ,,Wenn das so ist, dann lass mich dir wenigstens helfen.“

Thorin griff seinen Mantel von der Garderobe. ,,Während ihr das tut, werde ich nach dem Pferd schauen.“ Er ließ sie nur allein, damit sie mit ihrer Freundin Zeit verbringen und reden konnte. Marie begegnete seinem Blick und nickte, damit er verstand, dass sie seine Geste wahrgenommen hatte.

,,Ich begleite Euch.“ Überraschenderweise schloss sich Greg ihm an.

,,Geht ihr Männer ruhig!“ Schwungvoll harkte sich Anna bei Marie ein. ,,Wir Mädels haben noch einiges zu bequatschen.“ Verschwörerisch grinsten sie einander an.

 

~

 

Es dauerte nicht lange, bis sie die Sachen der kleinen Familie in Lacken gelegt und verschnürt hatten.

,,Freust du dich schon auf Erebor?“

,,Und wie“, antwortete Marie und legte das zweite Päckchen zu dem anderen. ,,Aber am meisten freue ich mich, die Gefährten wiederzusehen. Ich kann es ehrlich gesagt kaum erwarten. Ich hatte sie alle in mein Herz geschlossen.“

,,Ich freue mich wirklich für dich, Marie. Aber…“

,,Was aber?“

,,Naja“, Anna setzte sich auf die zusammengeschobenen Betten und strich ihren Rock glatt, ,,ist das nicht total befremdlich bei einem anderen Volk zu leben?“

,,Ich fühle mich wohl bei den Zwergen.“ Marie lachte. ,,Sieh mich doch an? Davor hab ich keine Angst. Thorin ist immerhin der König Erebors.“

,,Genau das ist es.“ Ihre Freundin wirkte plötzlich sehr besorgt. ,,Wenn er König ist, wirst du dann Königin?“

Marie zeigte ihr den Vogel. ,,Ich werde garantiert nicht Königin sein. Trotz Zauber bin ich immer noch ein Mensch, das geht also vom Prinzip schon nicht. Und überhaupt will ich das auch gar nicht sein. Ich bin eine einfache Frau, mit dreckiger Schürze, Stroh im Haar und grünen Fingern vom Kräuterpflücken.“

,,Ich bin da noch nicht so überzeugt…“

,,Auf welcher Seite stehst du eigentlich?“

,,Auf deiner natürlich. Du solltest aber mit Thorin darüber reden. Er hat bestimmt ganz andere Pläne.“

,,Er weiß, dass ich keine Königin sein kann. Aber du hast recht, reden werde ich mit ihm noch über einiges müssen.“

Anna schien zufrieden mit der Antwort zu sein. Beim nächsten Atemzug seufzte sie verträumt. ,,Das muss so aufregend sein! Du wirst von silbernen Löffeln essen und schöne Kleider anziehen, Unmengen von Schmuck besitzen, Gold und Diamanten…“

Marie legte die Stirn in Falten. ,,Das befürchte ich.“

,,Freust du dich etwa nicht darüber? Ich würde alles daran setzen, in einem herrschaftlichen Anwesen zu wohnen und von morgens bis abends bedient zu werden.“ Vornehm schlug sie ein Bein über das andere und winkte mit gespitzten Fingern einer unsichtbaren Person. ,,Diener, bring mir von dem besten und teuersten Wein - aber zack-zack! Und du da, meine perlenbesetzten Diamantohrringe!“

Sich das Lachen verkneifend spielte Marie mit Vergnügen das Spiel mit. Sie machte einen tiefen Knicks vor ,,Königin Anna“ und sprach mit gestelzter Stimme: ,,Eure Hoheit, euere Wünsche sind wie Musik für meine Ohren.“

,,Ooohh!“, begeistert riss sie den Mund auf. ,,Ich hab eine viel bessere Idee! Donja wird meine Putzfrau und Zofe sein und ich kann den ganzen Tag mit Prinz Greg im Bett verbringen!“ Diese Vorstellung ließ sie wie zwei Mädchen losgackern.

,,Sie würde sich eher umbringen, als deine dreckige Wäsche zu waschen.“

Anna tat es mit einem Schulterzucken ab. ,,Soll sie doch, mir egal. Wenn das rauskommt, dass tatsächlich sie den Raben abgefangen und sich als mich ausgegeben hat, dann ist sie für Greg sowieso gestorben.“

Angesichts der Umstände schmeckte Maries Euphorie bitter. ,,Kann ich dich wirklich allein lassen mit dem Ganzen? Was ist, wenn du auch nicht mit Gregs Eltern zurechtkommst?“

,,Ich bin sicher, dass seine Eltern mir inzwischen positiver zugewandt sind. Beim Essen hatte ja nur Donja einen Zickenkrieg veranstaltet und mit der werde ich schon allein fertig. Wir werden uns in meinem Haus so gut es geht ein schönes Heim machen. Das Dach konnte Greg ja bereits ausbessern. Es ist klein, aber es wird für uns drei reichen. Allemal besser als in Gregs Elternhaus in seiner Kammer unterzukommen.“

,,Was ist, wenn ihr bald nicht mehr zu dritt sein werdet? Dein Haus ist doch viel zu klein und zu renovierungsbedürftig. Ich hab da eine viel bessere Idee.“

,,Und die wäre?“

,,Ich möchte, dass Greg und du mein Haus bekommt.“ Ehe Anna etwas dagegen sagen konnte, redete Marie weiter. ,,Und wehe, du sagst, dass das nicht geht! Es ist mein Wunsch. Sieh es als vorgezogenes Hochzeitsgeschenk an. Ich möchte mein Heim in guten Händen wissen, wenn ich nicht mehr da bin. Bei dir ist es in den allerbesten.“

,,Marie… Das ist ein wundervolles Geschenk!“ Glücklich fiel Anna ihr um den Hals.

Für den Moment war alles perfekt.

 

~

 

Mels hellblondes Haar sahen sie schon von weitem. Marie war sehr erleichtert, sie gefunden zu haben. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten, das Mädchen allein draußen zu lassen.

Besorgt hatte sie gebeten, sie suchen zu gehen. Mel käme sicherlich jeden Moment zurück, hatte ihre Mutter zwar beteuert, sich jedoch bei der Suche angeschlossen.

Als sie näher kamen, sahen die Frauen, dass das Mädchen auf die Felsen im Flussbett geklettert war und dort hockte. ,,Mel, komm da weg!“ Mel sah zu ihrer Mutter und stellte sich taub. Sie kletterte noch einen Stein weiter, von dem nur noch ein winziger Teil aus dem schäuemden Wasser herausragte, und verschränkte bockig die Arme.

,,Melissa Grünzweig, du kommst auf der Stelle hier her!“

,,Lasst mich in Ruhe!“

Anna marschierte los, um sie da eigenhändig wegzuholen.

,,Das ist gefährlich, Mel!“, rief Marie und sah mit Sorge das viele Wasser. ,,Komm her und wir reden nochmal. Nur wir beide. Ich erklär dir alles.“

Mel verharrte, wo sie war, dann trat sie den Rückweg an. Den Frauen fiel ein Stein vom Herzen.

Im nächsten Moment war es geschehen.

Das Mädchen rutschte auf dem nassen Felsen aus und strauchelte. Die Wassermassen verschluckten sie.

 

~

 

,,Marie hat ein besseres Leben verdient.“

Der Striegel verharrte auf dem weißen Fell des Pferdes, als der Mann hinter ihm ihren Namen sagte. Der Krieger drehte sich um und sah zu dem Verlobten von Anna hinüber, der seine Arbeit mit der Mistgabel eingestellt hatte. Schweigsam hatten die Männer nebeneinander her ihre Arbeiten verrichtet, sodass Thorin sich schon gefragt hatte, wann er mit der Sprache rausrücken würde.

Bei seinem stahlharten Blick schaute Greg zu Boden, als könnte er die zu forschen Worte wieder zurück holen. ,,Ich hoffe bloß, Ihr könnt ihr das geben, was ich ihr nicht geben konnte.“

,,Ich habe getötet für sie.“

,,Dann wart Ihr es tatsächlich.“

,,Ja. Und wisst Ihr, warum ich es tat? Um ihr Leben zu retten. Glaubt mir, wenn Ihr Eure Frau gedemütigt und missbraucht in den dreckigen Händen eines anderen sehen würdet, würdet Ihr dasselbe tun. Ich war dem Tod in meinem Leben schon oft nah genug, doch ohne Marie wäre mein Leben nichts mehr wert.“ Er hatte den Menschen zum Schweigen gebracht.

,,Marie kann sich glücklich schätzen, einen Mann wie Euch an ihrer Seite zu wissen“, antwortete Greg schließlich, ehe der Schrei einer Frau sie zusammen fahren ließ. ,,Anna!“

 

~

 

Sofort wurde der Körper des Kindes von der Strömung erfasst. Marie rannte das Ufer entlang. Anna überholte sie mit ihren längeren Beinen, um ihr Kind nicht aus den Augen zu verlieren.

,,Hilfe!“ Das Mädchen versuchte sich über Wasser zu halten, doch die Strömung war zu stark. Immer wieder ging sie unter.

Schon war sie am Stall vorbei getrieben und Marie entdeckte die Männer, die aus der Tür gestürzt kamen. ,,MEL! Im Fluss!“ Thorin wirbelte auf ihren Fingerzeig herum und rannte los. Ihr Herz setzte erneut aus, als sie sah, wie er sich den Mantel von den Schultern riss und mit einem Köpper voran ins eiskalte Wasser sprang.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

16

 

 

Thorin durchbrach das Wasser und schnappte nach Luft. Kalter Schmerz drückte ihm den Brustkorb zusammen, als wollte die zornige Naturgewalt den Eindringling zermalmen. Dann sah er das Mädchen. Mit langen Zügen legte er sich in die Strömung, um schneller voran zu kommen. Immer öfter ging der Körper des Kindes unter. Es hatte keine Chance.

Er packte zu und erwischte ihre Kleidung, warf sich das Mädchen über die Schulter und drehte sich dem Ufer zu. Die Stromschnellen erfassten sie und rissen sie mit sich. Das Wasser warf sie von einem Strudel in den nächsten. Mel krallte sich so in seinen Haaren fest, dass es schmerzte.

Vor ihnen kam bereits die kleine Brücke in Sicht, doch er konnte die anderen nirgends sehen. Das Wasser war zu schnell. Thorin versuchte sich mit den Beinen irgendwo abzustützen und nach oben zu springen. Seine Hand rutschte nutzlos über das Holz der Planken. Er fiel zurück ins Wasser und ging unter. Kies und Steine zerkratzten ihm die Beine. Die Naturgewalt drohte ihm das Kind zu entreißen. Er hielt es so fest, wie er konnte, und schwamm zur Oberfläche, um ihren Kopf wieder über Wasser zu bekommen.

,,Thorin!“ Er blickte nach oben und sah Anna und Marie am Flusslauf entlang rennen. ,,Halt dich irgendwo fest!“

Seine Hände fanden keinen Halt. Felsen schossen an ihnen vorbei, ehe er zugreifen konnte. Zu spät sah er den verkeilten Baumstamm im Wasser treiben. Sein Körper wurde gegen den Stamm geschleudert. Heißer Schmerz pulsierte an seinen Rippen, doch Thorin griff geistesgegenwärtig zu.

,,Thorin!“ Anna und Marie hatten ihn eingeholt. Bei den Frauen erschien auch Greg. ,,Thorin, greif zu!“ Ihm wurde ein Seil zugeworfen. Er bekam es zu fassen und wickelte es sich um den Arm. Greg zog und zusammen mit den Frauen bekamen sie ihn das Ufer hinaufgezogen. Ihm wurde sofort Mel abgenommen.

Anna griff ihr Kind, ,,Mel…“, und sah dem leblosen Mädchen ins Gesicht. ,,MEL!“ Entsetzen spiegelte sich auf in ihrem Gesicht. Sie begann an ihr zu rütteln. ,,MEL!“

Marie drängte die hysterische Frau von dem Kind weg. ,,Anna, lass mich zu ihr! Tritt beiseite!“

,,Hilf ihr! So hilf ihr doch!“ Greg packte seine Verlobte und musste sie mit Gewalt wegzerren, damit Marie Platz hatte. ,,NEIN, ich muss zu meinem Kind! MEL!!“

Nass bis auf die Knochen lag Thorin über dem Ufer und konnte nicht wegsehen, als Marie das Mädchen ins Gras legte und mit einem Ohr über ihren Mund verharrte. Er ahnte, dass sie keinen Atem mehr spüren konnte. Widererwarten begann sie beide Hände auf das Brustbein zu legen und zu zudrücken.

Marie kümmerte sich um das Kind, als würde ihr Leben davon abhängen, als wäre es ihr eigenes. In klaren Rhythmus pumpte sie mit den Händen auf den Brustkorb, legte dann den Mund an Mels Lippen und blies hinein. Thorin sah diesem Schauspiel zu und konnte nichts tun. Er verstand nicht, was sie da tat, vertraute aber, dass sie das Richtige zu tun wusste.

,,Mel, hörst du mich? Komm zurück.“ Sie blies ihren eigenen Atem in Mels Lungen und nahm erneut die Hände zum Drücken. ,,Mach die Augen auf.“

Greg musste Anna halten, sonst wäre sie in sich zusammen gesunken. Sie hörte nicht auf Mels Namen zu schreien. Abgeschottet von ihrer Umwelt war Marie in die Aufgabe versunken, diesem Kind ein Lebenszeichen zu entlocken. Und in Thorins Augen war sie zu keinem Zeitpunkt schöner gewesen.

,,Komm zurück, Mel…“ Plötzlich würgte das Mädchen und krümmte sich zusammen. ,,Spuck aus! Alles raus!“ Marie drehte sie herum, damit sie das Wasser loswurde. Das Kind begann zu weinen und wurde ihr von der Mutter entrissen. ,,Geht ins Haus. Sie muss ins Warme.“ Anna machte sofort kehrt. Begleitet von Greg lief die Familie zurück zum Haus.

Mit sich selbst allein blieb Marie auf der Erde knien und fuhr sich mit zittrigen Händen übers Gesicht. Sei die Wunde noch so schlimm oder die Naht zu schwierig gewesen; nie hatten ihre Hände gezittert, wenn sie ihre Pflicht als Heilerin nachgegangen war. An diesem Tage taten sie dies wie beim ersten Mal.

Als Thorin versuchte, über den Uferrand zu robben, wurde sie aus ihrer Starre gerissen. ,,Thorin, geht es dir…?“ Mit einer Hand packte er sie im Genick und drückte seinen Mund auf ihren.

Sein Kuss war entwaffnend und verzweifelt zugleich. Stück für Stück brachte er ihre Welt mit seinen Lippen zurück ins Gleichgewicht, Chaos und Angst hatten keinen Platz mehr.

Marie öffnete die Augen und spürte das Flattern eines Schmetterlings in ihrem Körper. Ihr war egal, dass sie auch nass wurde, als sie sich an ihn presste. ,,Halt mich fest.“ Thorin schlang die Arme um sie und begann langsam die Scherben ihres gesprungenen Herzes zusammenzufügen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

17

 

 

Sie spürte die Kälte des Wassers, die seinen Körper zum Zittern brachte, an ihrer Haut, als mehr und mehr ihre Sachen durchweichten. Wassertropfen liefen aus dem Schwarz seiner Haare und verteilten sich auf ihren Schulterblättern. ,,Du musst ins Warme.“ Widerspruchslos wurde er von ihr auf die Beine gezogen. Kaum, dass er stand, krümmte Thorin sich vor Schmerz zusammen.

 

Der Rückweg gestaltete sich als kräftezehrendes Unterfangen. Wie weit hatte der Fluss sie fortgetrieben? Einige hundert Meter wurden für ihn zu Meilen. Seine pulsierenden Rippen ließen ihn mit dem Schlimmsten rechnen. Zu allem Überfluss konnte er den verdammten Fuß nicht voll aufsetzen, sodass Marie, die sich seinen Arm um die Schultern gelegt hatte, viel Gewicht mittragen musste. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Damit es nicht noch schlimmer wurde, versuchte er sich zu schonen. Einen erneuten Schwächeanfall konnte er so kurz vor der Heimreise nicht gebrauchen.

Auch Marie machte sich große Sorgen um seinen Gesundheitszustand. Mittlerweile schlotterte Thorin am ganzen Körper, weshalb die Flüche, die er wie ein Kutscher ausspie, abgehackt waren und kaum Sinn ergaben.

,,Wir müssen dich ins Bett schaffen.“ Als sie ihn durch die Tür beförderte, fiel ihr Blick sofort zum Kamin. Anna saß mit Mel auf dem Schoß vor dem Feuer, welches dem Himmel seid Dank noch brannte. Sie hatte das Kind entkleidet und wiegte es in einer Decke gewickelt im Arm, sodass nur ihr weizenblondes Haar heraus schaute. Aschfahl im Gesicht hantierte Greg am Ofen herum, um ein Feuer für heißes Wasser zu entfachen. Seine Hände bekamen ungeschickt keinen Funken zustande.

,,Greg, hilf mir, Thorin die Treppe hochzubekommen. Ich muss ihn mir ansehen.“ Ihr klares Kommando und die Strenge ließen ihn sofort machen, was sie sagte. Mit seiner Unterstützung bekamen sie den Krieger in ihr Zimmer hinauf geschleppt.

,,Hol Handtücher, falls noch welche da sind.“ Wie von Fäden gezogen verschwand Greg nach unten. Marie brauchte gar nichts mehr zu sagen. Sogleich zerrte Thorin sich die klammen Klamotten vom Leib. Ohne Hilfe schaffte er es nicht, die Schmerzen machten jede Drehung seines Oberkörpers zur Tortur, weshalb sie ihm dabei helfen musste. Mit einem Stöhnen ließ er sich aufs Bett sinken.

Greg kam zurück und brachte zwei Handtücher. Marie ergriff seine Hand und brachte ihn so zum Innehalten. ,,Setz dich unten hin. Ans Feuer. Anna braucht dich jetzt.“ Er öffnete den Mund, ohne dass Worte ihn verließen. ,,Alles wird gut, Greg“, sagte sie leis und rieb ihm über den Arm. ,,Sie ist über den Berg.“

Thorin beobachtete sie vom Bett aus. Greg drückte ihre Hand und brachte ein Nicken zustande. Diese Bestätigung hatte er sichtlich gebraucht. Er ging und machte die Tür hinter sich zu.

,,Er hat einen Schock“, sagte Marie, als sie wieder allein waren. Sie knöpfte seine Hose auf und zerrte den Stoff von seinen eiskalten Beinen. ,,Bei einem Schock ist es hilfreich, der Person eine Aufgabe zu geben, damit sie abgelenkt ist.“ Thorin bekam ein Handtuch über den Kopf gelegte, damit sie seine Haare trocken reiben konnte. Kommentarlos ließ er es sich gefallen, dass sie seine Haare verwuschelte.

,,Was du da eben getan hast, habe ich noch nie gesehen.“

,,Meine Mutter lehrte es mir.“ Sie nahm einzelne Strähnen und rieb sie zwischen dem Stoff. ,,Wenn der Körper aufgehört hat zu atmen, kann man das Herz so wieder zum Schlagen bringen.“

,,Dann war sie also tot.“

Das Wort zog sich wie eine Klinge über ihre Haut. Marie hielt mit ihrer Bemühung inne und nahm das Handtuch beiseite. Thorin merkte ihre Reaktion und blickte zu ihr auf.

,,Sie war schon fast auf der anderen Seite angekommen.“ Sie drückte sich die Hände auf die Augen. ,,Ich darf gar nicht daran denken.“

,,Komm her.“ Sanft nahm Thorin sie an der Hüfte und dirigierte sie auf seinen Schoß. Vorsichtig lehnte Marie sich an ihn, bedacht darauf ihm nicht wehzutun. ,,Ich hatte solche Angst um euch“, wisperte sie und bohrte ihm im nächsten Moment den Finger in die Brust. ,,Mach so etwas nicht nochmal.“

,,Sag das dem Mädchen.“

Sie seufzte. ,,Du hast ja recht. Das wird Mel kein zweites Mal tun. Sie ist ein braves Kind, sie war nur enttäuscht von mir.“

,,Bekommt ihr zwei das wieder hin?“

,,Keine Bange, das werden wir. Sie ist mit dem Schrecken davon gekommen – wie wir alle. Nun zu dir“, sie krabbelte von seinen Beinen und strich ihr Kleid zurecht, das etliche Wasserflecken aufwies. ,,Leg dich hin. Ich muss dich untersuchen.“

Thorin rollte mit den Augen. ,,Mir geht`s gut.“

,,Das sah eben ganz anders aus.“

,,Wenn es dich beruhigt…“ Langsam ließ er sich auf die Matratze sinken.

,,Das tut es.“ Marie kletterte neben ihm und legte die Hände auf seine verunstaltete Körpermitte. Je näher sie der Narbe kam, desto heißer wurde die kalte Haut unter ihrer Oberfläche. ,,Die Stelle ist heiß. Ich muss jede einzelne Rippe abtasten, ob sie instabil sind. Es könnte wehtun.“

Thorin brachte sich in eine andere Position und ließ, sich ergebend, den Hinterkopf in die Decke sinken. ,,Fang an“, sagte er bloß und wappnete sich für den Schmerz. Sie begann auf beiden Seiten Druck auszuüben. Er verzog jedoch nur das Gesicht. Erleichtert stieß Marie den Atem aus.

,,Sie sind nicht gebrochen. Sehr gut. Du bleibst trotzdem für den Rest des Tages im Bett. Du musst dich schonen. Eine Lungenentzündung ist momentan dein größtes Problem.“ Ihre Hände verweilten links und rechts von seiner Narbe. Der intime Anblick der Details und der Größe der einstigen klaffenden Wunde wurden ihr plötzlich in vollem Maße bewusst. ,,Wer hat dich genäht? Ein Fleischer?“

,,Ein sehr fähiger Heiler im Lazarett.“

Ihre Wut über die verpfuschte Wundversorgung verflog, als Marie sich auf die Umstände besann, die damals kurz nach der Schlacht in Erebor geherrscht haben mussten. ,,Tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen.“ Thorin legte schweigend eine Hand auf ihre. Sie bildete sich ein, die Tiefe der alten Verletzung unter ihren Fingern zu spüren. So ein Schwertstoß hätte er nie überleben dürfen. Er war gestorben und war dennoch hier bei ihr. Dieses Wunder wollte einfach nicht in ihren Kopf reingehen.

,,Ich wünschte, ich hätte dir irgendwie helfen gekonnt.“

,,Selbst du, mell nin, hättest nicht mehr tun können. Ich wäre dir unter den Händen verblutet.“ Seine Antwort machte den Kloß in ihrem Hals nur größer.

,,Ich wäre bei dir geblieben. Bis zum Schluss. Ich hätte dich niemals allein gelassen…“

,,Schschsch…“ Er setzte sich und nahm ihren Kopf sacht in seine Hände. Maries aufgewühlte Seele schmolz unter seinen Berührungen dahin. ,,Das weiß ich. Ich war nicht allein gewesen. Bilbo ist bei mir geblieben, als ich in die andere Welt überglitt. Außerdem warst du immer bei mir. Hier drin“, er berührte die Stelle über seinem Herzen, ,,und hier.“ Er griff nach der schwarzen Schnur, die er um den Hals trug. ,,Es war deine Kette, die mir ihre Magie schenkte. Sie bewahrte mein Leben. Wenn du sie mir damals beim Sommerfest nicht gegeben hättest, wäre ich heute nicht mehr hier.“

,,Du hast es erzählt und dennoch kann ich es nicht glauben.“ Vorsichtig, als fürchtete sie sich vor der verborgenen Kraft, nahm Marie den kleinen Anhänger in die Hand und plötzlich kam ihr die Begegnung im Wald wieder in den Sinn. Die Verheißung der alten Frau ging ihr genau wie damals ein zweites Mal durch Mark und Bein. ,,Er ist der Träger der Lyrif-Kette…doch die Kette kann ihren Träger nicht vor sich selbst beschützen.“

,,Was sagst du da?“

Marie war nicht bewusst gewesen, dass sie es laut ausgesprochen hatte, bis sie Thorins erbleichtes Gesicht bemerkte. ,,Ich traf eine Frau im Wald. Ich half ihr mit ihrem Wagen und zum Dank las sie aus meiner Handfläche. Sie fiel in eine Art Trance und sah, dass du in Gefahr bist. Sie sprach von Gold und einer Finsternis…und von einer Kette. Von dieser Kette. Zunächst hielt ich es nur für Schwarzmalerei, aber dann wurde die Frau so ernst und unheimlich. Da habe ich gewusst, dass sie die Wahrheit sah, doch als ich sie darauf ansprechen wollte, war sie wie vom Erdboden verschwunden. Anna glaubt, sie sei eine Hexe gewesen.“

Seine Hand fasste an seine Kehle, als würde ihm etwas den Hals hinauf kriechen. Sein Atem wurde schwer. Er musste die Augen schließen.

,,Thorin, was hast du? Was ist mit dir?“

,,Du solltest wieder zu Anna runtergehen.“

,,Aber…“

,,Deine Erzählung…hat mich nur etwas aufgewühlt. Bitte... Würdest du mich kurz allein lassen?“

Nur wiederwillig tat sie es. Bevor sie ging, holte sie aus ihrem Schrank ein Leinenhemd und eine Hose; Sachen, die Anna bereits für sie gekürzt hatte, und legte sie ihm für später hin.

Marie konnte nicht verhindern, an der Zimmertür stehen zu bleiben und Thorin von Kopf bis Fuß zu mustern. Bewegungslos hockte er auf dem Bett. Es hatte fast den Anschein, als würde er einen Kampf mit sich selbst ausfechten. Er wirkte gehetzt, wie schon am Abend zuvor.

Da bemerkte Thorin, dass sie ihn immer noch beobachtete und drehte sich von ihr weg. ,,Bitte, lass mich allein. Ich brauche einen Moment für mich.“

Die Worte verließen ihren Mund, obwohl sie die Antwort bereits wusste: ,,Verschweigst du mir noch etwas anderes?“ Sie sah das ungewöhnliche Schimmern seiner Iris, bevor er ihr entgegen schmetterte: ,,Geh, Marie!“ Die Dunkelheit in seiner Stimme ließ sie die Flucht ergreifen.

 

~

 

,,Wir sollten aufbrechen.“ Besorgt beobachtete Greg die aufziehende Wolkenfront durch das Küchenfenster. ,,Es sieht nach Regen aus.“ Marie bot an, sie ein Stück zu begleiten. Dankend lehnte er ab. ,,Nach dem Schrecken bleib ruhig hier bei Thorin.“

Lieber nicht, dachte sie, antwortete stattdessen: ,,In Ordnung.“ Den Vorfall von vorhin hatte sie ihnen verschwiegen. Sie wollte ihre Familie nicht damit beunruhigen. Er war nur launisch, redete sie sich erneut ins Gewissen. ,,Falls noch etwas sein sollte“, sagte sie an Anna gewandt, ,,gebt mir sofort Bescheid.“

,,Das werde ich.“ Anna nahm Mel an die Hand, die man mit trockenen Sachen dick eingepackt hatte. Sie verabschiedeten sich vorerst voneinander. Als jedoch die Tür zu Maries Zimmer geöffnet wurde, wartete man, bis Thorin die Treppe herunter gekommen war.

,,Ich wollt gehen?“

Zufrieden bemerkte Marie, dass er seinen Fuß schon mehr belasten konnte. Zur Vorsicht nahm sie ihn genauer in Augenschein und stellte fest, dass nichts mehr an sein Unwohlsein von vorhin erinnerte. Ihm schien es deutlich besser zu gehen.

,,Ja, bevor der Regen einsetzt“, antwortete Greg ihm.

,,Kann ich noch mit deiner Tochter sprechen, Anna?“

Damit hatte niemand gerechnet. Anna sah den Zwergenfürsten einen langen Moment an und gab stumm ihr Einverständnis.

,,Mel.“ Beschämt schlich das Kind zu dem Krieger, der auf die Bank unter dem Fenster wies. ,,Setz dich.“ Mit eingezogenem Kopf tat sie wie befohlen und wartete ab.

,,Du hast deiner Mutter schlimme Angst eingejagt.“ Unter seiner Strenge nickte Mel bloß. Ihr war es sichtlich peinlich, was geschehen war. ,,Wir dachten alle, wir hätten dich verloren. Du hast nicht nur dich in große Gefahr gebracht. Du könntest jetzt tot sein.“ Erneut ein winziges Nicken.

,,Es tut mir leid.“

,,Deine Entschuldigung haben wir angenommen. Du darfst das nicht mehr machen, weglaufen. Hör in Zukunft auf deine Mutter.“

,,Verstanden.“ Als sie immer noch zu Boden blickte, ging Thorin vor dem Menschenkind in die Hocke. Überrascht über die Geste schaute Mel ihn an.

,,Ich weiß, du bist traurig, weil Marie mit mir gehen wird. Ich möchte aber, dass du weißt, dass ich sie dir nicht wegnehmen will.“

,,Aber Marie soll nicht wieder traurig sein.“ Das Mädchen sah auf ihre ineinander verschlungenen Hände hinab. ,,Sie war oft traurig.“

Für einen Augenblick wusste Thorin nicht, was er sagen sollte. ,,Das tut mir leid, Mel.“

,,Wenn ihr in Erebor wohnt… Dann musst du aufpassen, dass sie nicht wieder krank wird.“

,,Ich verspreche dir eins, Mel. Ich setze alles daran, dass deine Tante für immer glücklich sein wird.“

,,Das wäre toll.“ Sie lächelte schüchtern. Thorin lächelte zurück. ,,Können wir euch besuchen kommen?“

,,So oft du willst. Dann zeigt Marie dir alles, was es zu entdecken gibt. Und das wird eine Menge sein.“

,,Was denn alles?“ Jetzt war ihre Neugierde geweckt.

Er beugte sich etwas zu ihr, als würde er ihr etwas ganz Geheimes offenbaren. ,,Alles, was du dir vorstellen kannst.“

,,Mama, wann besuchen wir Marie?“

,,Schätzchen, dazu muss Marie doch erstmal da sein!“

Thorin wollte sich bereits erheben, da fiel ihm Mel um den Hals. ,,Danke, dass du mich gerettet hast“, wisperte sie an seinem Ohr. Gerührt schauten die Anwesenden zu, wie der Krieger seine Überraschung überwand und die Arme um das Kind schloss.

Als er Mel schließlich sanft von sich schob, strich er ihr über die Haare, dann erhob er sich. Kaum, dass er sich umgedreht hatte, umarmte auch Anna den Zwerg.

,,Du meine Tochter gerettet. Das werde ich nie vergessen.“

Thorin, streif wie ein Brett, tätschelte der Frau umständlich die Schulter. ,,Schon gut. Hab ich gern gemacht.“ Marie sah, wie rot er wurde und musste lächeln.

 

Keine halbe Stunde nachdem Anna und Greg gegangen waren goss es wie aus Kübeln. Die Regenwolken setzten sich am Himmel fest und blieben auch den Abend über. Ohne Unterlass donnerte der Regen auf die Dachschindeln, peitschte vom starken Wind mittlerweile gegen jedes Fenster.

,,Marie, hörst du mir zu?“

,,Hm? Entschuldige, was hast du gesagt?“

,,Ich hab dich gefragt, was du noch erledigen möchtest, solange wir hier sind.“

Sie hatte mit ihm reden, hatte ihn fragen gewollt, was das vorhin war, was ihn so beschäftigt hatte. Sie wollte ihm sagen, dass ihr alles erzählen konnte…und wusste im selben Moment, dass es umsonst sein würde. Er hatte sie zum Gehen gebeten, sich zurückgezogen. Dass er sie nicht belasten wollte, ahnte Marie, doch er schloss sie aus, versteckte sich hinter der erneut aufgezogenen Mauer und genau das tat ihr weh.

Doch der Tag war schon schlimm genug gewesen. Sie wollte sich nicht noch damit beschäftigen müssen und schob die Gedanken ohne viel Hoffnung auf mehr Ruhe weit von sich.

,,Ich hatte mir noch keinen Plan gemacht“, antwortete sie und schnitt ein paar Scheiben mehr von dem Brot ab, welches sie gebacken hatte, während Thorin auf Anweisung den restlichen Tag das Bett gehütet hatte. Denn einen intensiv Patienten wollte sie auf keinen Fall haben.

,,Hilda wird bestimmt morgen vorbeikommen.“

Thorin beschmierte eine Scheibe mit Butter, bevor er zur Mettwurst griff ,,Wer ist das?“

,,Eine Freundin von mir. Sie hatte vorübergehend meine Arbeit als Heilerin übernommen, weil ich mich die letzten Monate nicht in der Lage dazu gefühlt hatte, sagen wir es so. Sie ist die Frau, die mir damals zur Hilfe kam, als ihr mit den verletzten Jungs in mein Haus gestolpert kamt, falls dir das hilft.“

,,Ich erinnere mich nicht mehr so ganz genau.“

,,Ich dafür umso mehr.“ Die Erinnerungen an die Begegnung im Wald und den Überfall der Orks ließen sie wehmütig lächeln. Dieser Morgen, an dem sich alles änderte, schien nicht mehr zu ihrem jetzigen Leben zu gehören.

,,Du hast noch gar nichts über sie erzählt“, bemerkte Marie. ,,Über Fili und Kili.“ Die Erwähnung seiner Jungs zauberte ihm ein Lächeln aufs Gesicht. Sie liebte es, genau das bei ihm zu bewirken.

,,Ihnen geht es so gut, dass sie schon neuen Unsinn im Kopf haben. Es ist schön zu sehen, dass sie eine Heimat bekommen haben. Eine richtige.“

,,Ich freue mich für deine Familie. Ich weiß, wie viel es dir bedeutet hat.“

,,Sie werden bald auch deine Familie sein.“

,,Ein schöner Gedanke“, sagte sie leis.

,,Im Kampf…“ Als würde er abwägen, überhaupt weiterzusprechen, beobachtete er sie. ,,Die beiden haben gekämpft, wie Götter. Sie haben sich wacker geschlagen – trotz allem. Oder gerade deshalb.“

,,Du spricht schon wieder in Rätseln vor mir.“ Es ließ ihn seinen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln verziehen.

,,Verzeih. Ich hänge mit meinen Gedanken oft woanders.“

Weil sie dasselbe Problem kannte, legte Marie die Hand auf seine. Sofort verknoteten sich ihre Finger, als wären sie Eins. Prickelnd fuhr sein Daumen über ihre Haut, kleine Bahnen aus purem Gefühl hinterlassend. Der zurückgekehrte Schmetterling klimperte mit den Flügeln.

,,Es ist viel passiert zwischen mir und meinen Jungs.“ Sie wartete, ob er weitersprechen würde, doch der Mann ihr gegenüber schwieg schon wieder. Er merkte, wie sie ihn studierte, schob sein leeres Brett von sich und griff nach seinem Krug. ,,Würde ich dir mehr erzählen, mel nin, würdest du bloß die Hände über den Kopf zusammenschlagen.“

Anmaßend runzelte sie die Stirn. ,,Das Gefühl hab ich auch.“ Thorin zwinkerte nur und sie begann abzuräumen. ,,Ich freue mich schon sehr sie wiederzusehen.“

,,Sie freuen sich auch auf dich. Alle tun das.“

Seine Worte ließen ihre Vorfreude auf das neue Leben, was vor ihr lag, ein ganzes Stück wachsen. Das benutzte Geschirr stellte Marie in das Spülbecken und drehte sich um, als sie durch das Fensterglas die Gestalt bemerkte. Sie blieb stehen und starrte in den Regen hinaus. ,,Thorin. Da draußen ist etwas.“

Allarmiert verließ der Krieger den Tisch. ,,Geh vom Fenster weg.“ Beunruhigt sah Marie seinen gezückten Dolch aufblitzen, als er sich vor sie schob und hinaus in die Dunkelheit spähte.

,,Das gibt’s doch nicht“, murmelte er plötzlich. Während Marie keine Ahnung hatte, was das da draußen war, handelte Thorin. ,,Bleib hier“, wies er sie an und öffnete die Tür. Ehe sie protestieren konnte, war er im Regen verschwunden. Ohne zu zögern schnappte Marie sich ihren Umhang und folgte ihm. Kaum, dass sie die Schwelle überschritten hatte, trommelte der Regen hart auf ihre Schultern.

,,Ich hab dir doch gesagt, du sollst drinnen bleiben!“

Fast überhörte sie die Rüge durch das Tosen des Unwetters. Ihre Verblüffung war groß, als sie das Tier erkannte. Elendig anzuschauen hockte ein nachtschwarzer Hund auf der durchweichten Erde nahe dem Weg. ,,Wer bist du denn?“

Sein Schwanz begann auf und ab zu schlagen, als würde er sich freuen, sie zu sehen. Er versuchte sogar aufzustehen, doch seine langen Beine wollten nicht mehr weiter.

,,Braver Streuner“, sprach Thorin mit sanfter Stimme, als er das zitternde Tier auf seine Arme hob. ,,Du hast es geschafft, mein Freund.“

Sie beeilten sich, zurück ins Haus zu kommen. Der Hund wurde von dem Feuer abgesetzt, wo unter ihm eine Pfütze wuchs.

,,Ich hab keine trockenen Tücher mehr.“

,,Nimm die von der Leine, die müssen´s auch tun.“

Marie angelte ein Handtuch von dieser herunter, die quer durch den Raum gespannt war. ,,Wo kommt er her?“ Sie kniete sich zu ihm, um ihn trocken zu bekommen. Der Hund, sichtlich froh aus dem Regen gekommen zu sein, genoss die Aufmerksamkeit in vollen Zügen.

,,Er ist mir auf der Ebene vor dem Grünwald zugelaufen. Als ich ihn nicht mehr fand, dachte ich, er wäre weitergezogen. Er muss meinem Geruch gefolgt sein.“

,,Was machen wir jetzt mit ihm?“

,,Erst einmal trocken bekommen. Sonst ist dein Dielenboden ruiniert“, Thorin, genauso nass geworden wie sie, hockte sich zu ihr. ,,Wenigsten hat er jetzt ein Bad hinter sich. Er stinkt nicht mehr ganz so schlimm.“ Als hätte er es gehört, sträubte der Hund das Fell und schüttelte sich.

,,Wääh!!“ Ihnen blieb nichts anderen übrig, als die Hände vor ihre Gesichter zu heben und es über sich ergehen zu lassen.

 

~

 

,,Ich rieche immer noch nach nassem Hund.“

,,Du klingst wie ein Mädchen.“

Er ging nicht auf ihren Spott ein. Wahrscheinlich grinste er bloß hinter ihrem Rücken darüber.

,,Hast du seine Pfoten gesehen? Er wird ein großer Kerl werden.“

,,Dabei scheint er fast noch ein Welpe zu sein. Ob ihn jemand vermisst?“ Sie zog das weiße Hemd über ihren Körper, das bis zu ihren Knöcheln herab fiel, und knotete ihre Haare für die Nacht zusammen.

Der Hund, den Thorin nur Streuner nannte, hatten sie vor dem Kamin auf einer Decke liegen gelassen, nachdem Marie etwas aus ihrer Vorratskammer für ihn erbarmt hatte. Sie hatte ihn in Augenschein genommen, ob er verletzt war, jedoch nichts finden können. Für die Anatomie eines Hundes waren ihre Fähigkeiten als Heilerin nicht geschult. Er wirkte auf den zweites Blick zwar erschöpft, aber kerngesund, sodass sie mit ruhigem Gewissen ihn allein im Wohnraum lassen konnte.

,,So lieb wie er ist, hatte er bestimmt einmal jemanden, der sich um ihn gekümmert hat.“

,,Ich denke nicht.“

,,Wie kannst du dir da so sicher sein?“

,,Er ist ein schlaues Tier.“ Thorin war schneller mit dem Umziehen als sie gewesen und hatte es sich bereits im Bett gemütlich gemacht. ,,Er hätte den Weg zurück nach Hause gefunden – falls er je ein Zuhause hatte. Hab ich dir schon erzählt, wie ich dank diesem Wildfang Räubern entkommen war?“ Einladen hob er die Decke an.

Marie kletterte darunter. ,,Ich bin ganz Ohr.“ Sie legte das Kinn auf seiner Brust ab und ließ sich alles von ihm berichten.

,,Du hast ihm sein bestes Stück abgeschnitten?“

,,Seine Hose war im Weg.“

,,Trotzdem! Es muss bestimmt ziemlich komisch ausgesehen haben, als der Hund dem anderen seine in Fetzen riss.“

,,Jammerschade, dass es nur die Hose war. Wenn er abgerichtet werden würde, würde er der perfekte Wachhund sein.“

,,Eine Aufgabe für dich?“

Seine dunkle Augenbraue verzog sich steil in die Höhe. ,,Du willst ihn behalten?“

,,Was schlägst du stattdessen vor? Ihn wieder sich selbst überlassen? Ohne mich! Ich will nicht, dass er alleine da draußen herum irrt. Er hat ein richtiges Zuhause verdient, wo er geliebt wird, und...“ Für einen Moment hielt Marie inne und ließ die Idee wachsen, die ihr so plötzlich in den Sinn kam. Warum war sie nicht schon viel früher darauf gekommen?

,,Dieses hinterhältige Grinsen verrät mir, dass du etwas ausheckst.“

,,Was heißt hier, hinterhältig? Bloß, was wir mit unserem Findelkind machen werden.“

,,Verräts du mir das auch?“, fragte Thorin und legte den Arm um sie.

Vor Behaglichkeit schnurrend schmiegte sie sich an seine warme Brust. ,,Morgen.“ Sie konnte sein Schmunzeln förmlich spüren und schloss zufrieden die Augen.

Mit jeder Minute genoss sie ihre Zweisamkeit. Sich mit Thorin bettfertig zu machen und einzuschlafen war ein völlig neues Erlebnis für sie. Marie fiel auf, dass sie so etwas wie einen normalen Tag nie gehabt hatten. Obwohl man diesen Tag alles andere als normal bezeichnen könnte...

Nie würde sie den Moment vergessen, als er ohne zu zögern für Mel in den Fluss gesprungen war.

,,Denkst du, der Flusspegel wird noch weiter ansteigen?“ Offenbar hatte er ähnliche Gedanken wie sie gehabt.

,,In all den Jahren, in denen ich hier wohne“, sagte sie, ,,ist es noch nie passiert, dass das Wasser unser Haus erreicht hat. Ich hoffe aber, dass es morgen früh aufhört. Sonst mache ich mir tatsächlich so langsam Sorgen. Aber ich weiß ja, wie gut du schwimmen kannst.“ Grinsend drehte sie den Kopf zu ihm. ,,Um dich brauche ich mir also keine Gedanken machen.“

,,Na, dann bin ich ja beruhigt.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

,,Als du über Kili und Fili sprachst…“, sagte Marie und wusste im selben Moment, dass sie sich keinen Rückzieher verzeihen würde, ,,du warst wieder so verschlossen. Würdest du mir mehr darüber erzählen? Etwas, was du mir noch nicht erzählt hast.“

Thorin setze sich höher ans Kopfende des Bettes, sodass Marie von ihm rücken musste. Sie betrachtete den Krieger von der Seite, sah die Mauer, die er abermals um sich zu errichten versuchte und berührte ihn, um dies zu stoppen. Als sie bereits dachte, sie hätte die Chance mit ihrem Drängen vermasselt, sagte er: ,,Er wartete auf dem Eis auf mich. Weil er wusste, dass ich kommen würde.“ Hohl, als wäre ein Teil von ihm an einem anderen Ort.

,,Wer, Liebling?“ Marie traute sich nur zu flüstern, weil sie Angst hatte, sie könnte den empfindlichen Augenblick kaputt machen.

,,Azog.“

Ihre Finger streichelten seine Brust, die Stelle über seinem Herzen. Sie wollte die Dämonen von ihm fernhalten. Sie wollte für ihn die Welt anhalten, nur damit er sich besser fühlte.

,,Die Schlacht dauerte schon den ganzen Tag.“ Er blickte sie nicht an, als er sprach. Als wäre er viel zu beschäftigt mit sich selbst. Marie gab ihm alle Zeit, die er brauchte, und wartete ab.

,,Mein Vetter Dain Eisenfuß war uns zur Unterstützung gekommen. Auch mit seinen Streitkräften waren wir zahlenmäßig unterlegen und drohten zerschlagen zu werden. Wir brauchten einen Schachzug, der die Karten neu mischte. Unser Plan war es, Azog als Heerführer und Befehlshaber auszuschalten…“

,,Damit die Orks führerlos wären“, führte Marie seine Gedanken aus.

,,Richtig.“ In sich selbst verloren betrachtete er das Nachthemd, welches ihren Körper verhüllte. ,,Dwalin, die Jungs und ich ritten zum Rabenberg hinauf. Wir wussten, dass er sich dort mit einigen Leibwächtern verschanzte.“ Der Ort sagte ihr etwas. Sie erinnerte sich an die Türme, die sich vor dem Himmel stets abgezeichnet hatten. ,,Als wir dort ankamen, waren sie verschwunden. Ich beauftragte Fili und Kili sich umzuschauen. Sie sind exzellente Späher, ich traute ihnen das zu, schärfte ihnen ein, nicht allein zu handeln und nicht anzugreifen. Wir gaben ihnen Rückendeckung, damit sie davon schleichen konnten.“ Er senkte den Blick auf seine eigenen Hände. Reumütig. Voller Schuldgefühle. ,,Ich schickte sie direkt in die Falle.“

Ein Schauer kalt wie Frost rieselte ihr über den Rücken. Seine Kälte nistete sich direkt in ihrem Herzen ein.

,,Azogs Handlanger lauerten ihnen auf und bekamen Fili in die Hände. Sie benutzten meinen Jungen als Lockmittel, nur um an mich heranzukommen. Sie folterten ihn. Meinetwegen.“

,,Schhh.“ Marie glitt auf seinen Schoß, schlang die Hände um seine Schultern, nur um ihn da raus zu holen. ,,Thorin…“ Sein Körper versteifte sich. Er ließ ihre Nähe nicht zu.

,,Es war eine Einladung an mich“, knurrte er, die Stimme von Hass tiefend schwarz. ,,Er wollte nur mich…und bekam mich.“

,,Du hast Azog getötet.“

,,Ja.“

Sie bedeckte seinen Hals mit Küssen. ,,Was ist mit Fili?“

,,Es sind bloß Narben übrig.“

,,Du gibst dir die Schuld daran.“ Er erwiderte ihren Blick mit einer Härte, die sie selten gesehen hatte.

,,Ich trage für Vieles die Schuld.“

,,Wieso?“

,,Wieso? Ich wollte diesen Krieg und andere haben dafür bezahlt!“

,,Liebst du deine Jungs?“

,,Wie mein eigen Fleisch und Blut. Hör auf, das zu fragen.“

,,Dann darf du dir nicht die Schuld daran geben. Das darfst du dir nicht einreden. Sonst gehst du daran zu Grunde. Sie lieben auch dich und würden nicht wollen, dass du so denkst. Sie haben dir schon längst verziehen, Thorin.“ Marie beugte sich zu seinem Mund, ,,so wie ich“, und legte ihre Lippen auf seine.

All der Zorn schmolz dahin. Zum ersten Mal fasste er nach ihrem Körper, hielt ihn fest an sich gedrückt, ließ sich von ihren Küssen davon treiben. Thorin ließ los und wurde aufgefangen.

,,Jeden Tag, bis wir Erebor erreichen.“ Ihre Lippen fuhren seine nach, neckten sie, bis er nach mehr verlangte. Der dünne Stoff ihres Nachthemdes war kein Hindernis. Seine Hände rafften es und eroberten ihren Körper, der sich im Takt mit seinem wiegte. Seine immer stärker wachsende Männlichkeit drückte gegen ihren nackten Oberschenkel. Marie verlagerte ihr Gewicht auf ihre Knie, um an deinen Hosenbund zu kommen.

,,Jeden Tag erzählst du mir eine Kleinigkeit, von dem, was du mir verschweigst.“ Ihre Lippen streiften seine bis ihr Atem nicht mehr zu unterscheiden war. Sie zog ihm die Hose herunter, packte das harte Fleisch, das sich ihr entgegen reckte, und ließ sich darauf sinken. ,,Solange, bis wir Zuhause sind.“ Er drang in sie ein und wurde von Wärme willkommen geheißen.

Seine Lieder flackerten. Er stöhnte. ,,Warum?“

,,Weil ich dir abnehmen will, was du dir aufgeladen hast.“

,,Das kannst du nicht.“

Marie begann sich auf ihm zu bewegen. ,,Ich kann. Und ich werde.“

 

~

 

Er wachte mit dem Gefühl auf, dass etwas nicht stimmte. Es war noch mitten in den Nacht, als er von einer Berührung geweckt wurde, die aus seinem eigenen Körper kam.

Langsam setzte Thorin sich auf, fühlte, wie etwas seine Seele streifte. Dunkler noch als die Nacht. Er bildete sich ein, das Fauchen eines Tieres zu hören. Hass in sich tragend, der so alt wie die Welt selbst ist.

Neben sich konnte er Maries schemenhaften Umriss ausmachen, am Fußende ein Fellknäul. Wann hatte sie den Hund ins Zimmer gelassen? Doch es tat nichts mehr zur Sache. Seine Aufmerksamkeit galt etwas Anderem. Viel Gefährlicherem.

Thorin fuhr herum, als er das Glühen unter der Zimmertür sah. Auf ein Feuer gefasst, riss er die Tür auf. Widererwarten war es bloß der Feuerschein vom Kamin, der plötzlich so stark glühte. Ein Schatten ließ die Flammen erzittern. An der Wand zeichneten sie sich ab, wie sie wuchsen, sich gegenseitig zerfraßen und von neuem aufloderten. Dazwischen der riesige Schädel eines Raubtieres, lange Reihen von dolchartigen Zähnen…

,,Eiccchenssschild…“

Er verschwand keine Gedanken daran, sich zu bewaffnen. Denn was hätte eine Klinge aus Stahl schon für eine Wirkung gegen einen Geist? Er blickte zu Marie zurück. Sie schlief und bekam von all dem nichts mit. Er machte einen Schritt und schloss die Tür. Mit wild schlagendem Herzen verließ Thorin den sicheren Treppenabsatz und folgte der Stimme des Drachen.

 

 

 

 

 

 

18

 

 

Ich habe mich gefragt, wann du dich wieder zeigen würdest. Ich hatte schon viel früher mit dir gerechnet.“ Die Flammen erzitterten, als der Schatten des Drachen sich erneut darin regte.

,,Enttäuscht, Eichenschild?“

,,Nicht wirklich.“

,,Hast du geglaubt, du seist hier in Sicherheit? Weit weg vom Erebor und dem Schatzzz?“

Thorin spürte die Hitze und die flirrende Macht, die aus seinem Körper zu drängen versuchte. Smaug war immer noch in seinem Gefängnis, jedoch würde dieses ihm nicht mehr lange standhalten. In der tiefsten Dunkelheit seines Ichs hatte er neue Kraft gesammelt, so viel, dass er sein Element, das Feuer, beeinflussen konnte. Er versuchte Thorin einzuschüchtern, ihn zu überlisten, damit dieser ihn befreite. Er musste wachsam bleiben.

,,Du hast spekuliert, dass wir dich aus dem Berg verjagen würden. Deshalb hast du mich verflucht.“

Smaug lachte, als erheiterte die Vorstellung ihn. ,,Falsch.“

,,Woher wusstest du dann, dass dein Fluch funktionieren würde? Ich will es wissen.“

,,Endlich hörst du mir zu. Gut. Wir beide machen Fortschritte.“ Thorin antwortete nicht darauf. ,,Ich habe schon vor langer Zeit geahnt, dass der Erbe kommen würde, nicht bloß in dieser Nacht. Ich verfluchte den Schatz und band meine Seele daran.“

,,Es hätte jeder das Gold berühren können.“

,,Mein Fluch war für dich vorherbestimmt. Du warst anfällig für die Drachenkrankheit, alles weitere war ein Kinderspiel.“

Smaugs Macht war mit seinem irdischen Leben nicht erloschen. Abermals musste Thorin das am eigenen Leib erfahren. Obwohl er nicht im Raum war, spürte er seinen Blick auf sich. In jedem Feuerschein an den Wänden lauerte er, als würde sein Schatten von einem zum anderen huschen und ihn umkreisen.

,,Das Gold, es zieht uns beide immer noch in seinen Bann, ist es nicht so?“ Vehement wiedersprach er in seinen Gedanken. ,,Lügner…“, hörte er Smaug höhnen.

,,Raus aus meinem Kopf!“

,,Gewöhn dich lieber daran, Eichenschild. Es wird für den Rest deines Lebens sein.“

 

~

 

Das Fiepen des Hundes weckte Marie. Es bereuend, ihn heimlich ins Zimmer gelassen zu haben, zwang sie ihre Augen auf. Der Streuner lag nicht mehr am Fußende, er stand an der Zimmertür und kratzte am Holz, wie es die Geräusche vermuten ließen. Stöhnend ließ sie den Kopf zurück ins Kissen fallen. ,,Thorin, lass den Hund raus. Bitte, mach das mal.“ Sie wollte ihn anstupsen und merkte, dass sie allein im Bett lag.

Das Fiepen wurde so eindringlich, dass es ihr plötzlich durch den ganzen Körper ging. Ihrem schlechten Gefühl folgend schälte Marie sich aus der Decke, und eilte zur Tür. Kaum dass der Türspalt groß genug war, quetschte sich der Hund hindurch und rannte die Treppe hinunter.

 

~

 

,,Ich bin geneigt über deinen Fauxpas hinwegzusehen. Mein Angebot steht noch. Verbünde dich mit mir und du erlangst ewiges Leben und eine Macht, die du dir nur erträumen kannst. Du wärst der mächtigste Herrscher in ganz Mittelerde…“

,,Eher würde ich sterben!“

,,Überleg es dir gut, Eichenschild“, knurrte der Drache. So langsam schien er die Geduld zu verlieren. ,,Du willst doch sicher nicht, dass deiner kleinen Freundin etwas passiert…“

Thorin versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sein Puls in die Höhe schnellte. ,,Du irrst dich. Du kannst ihr nichts antun.“

,,Ach, nein?“ Smaug lachte und ließ ihn die Fäuste ballen. Es war schon wieder eine Lüge gewesen.

,,Sie könnte so einfach durch meine Hand sterben – oh, ich vergaß, durch deine Hand. Ich sehe, ich habe dir Angst gemacht. Ausgezeichnet.“

,,Ich habe keine Angst, du elender Wurm! Verschwinde aus meinem Leben!“

,,Du hast es immer noch nicht verstanden. Entweder bist du zu einfältig oder bloß sehr stur.“ Der Hieb traf ihn völlig unvorbereitet. Thorin wurde auf die Dielen geschleudert und bekam keine Luft mehr. Seine Brust brannte, als hätten Krallen ihn getroffen und vom Hals bis zum Bauch aufgeschlitzt. Er war unfähig sich zu bewegen, als Flammen auf ihn zu schossen und verschlangen. Hitze fraß sich unter seine Haut, durch sein Fleisch. Der Geruch nach versengtem Haar wurde unerträglich.

,,Mein Fluch ist mächtiger als alle Macht jenseits der anderen Welt! Ich bestimme dein Leben ab sofort. Du bist MEIN!“

Die Schmerzen ließ ihn losschreien. Er wurde bei lebendigem Leibe verbrannt.

,,Thorin!“ Er wurde gepackt und wehrte sich gegen den Angriff.

,,NEIN!“ Plötzlich blinzelte er und sah Maries Umrisse in der Dunkelheit über sich schweben. ,,Das Feuer, du verbrennt dich!“

,,Welches Feuer? Komm zu dir, Thorin. Das Feuer ist aus.“

Er fuhr hoch und sah die kalte Glut im Kamin. Die dämmernde Erkenntnis. Marie ging neben ihm in die Hocke. Als sie ihn berührte, zuckte er zusammen, wie ein geschlagenes Tier.

,,Es war nur ein böser Traum, Liebling.“ Er ließ es zu, dass sie ihn näher zog. Thorins Körper fand in ihrer Umarmung Halt, während er in einem Kokon aus Leere versank.

Smaug hatte eine Warnung für ihn hinterlassen, die er keinesfalls missachten sollte.

 

~

 

Die nächsten Tage verbrachten die beiden nur für sich. Marie begann für ihr neues Leben in Erebor zu packen. Dass sie nur das nötigste mitnehmen konnte, brauchte Thorin ihr nicht sagen. Gern ließ sie ihre übrigen Sachen für ihre Freundin Anna zurück. Sie erledigten zusammen die Hausarbeit und gingen nachmittags im Wald spazieren. Für den Hund warf Thorin ein Stöckchen, jedoch nur halbherzig.

Über den Vorfall in der Nacht sprachen sie kein Wort mehr. Marie dachte, er wäre schlafgewandelt, und Thorin ließ sie in der Annahme. Die Angst vor dem Feind im eigenen Körper war zurückgekehrt und nahm ihm erneut ein Stück seiner Lebensfreude. Smaug erpresste ihn mit Marie und er konnte kaum an etwas anderes mehr denken, als an einen Weg aus dieser Hölle.

Die meiste Zeit war er still. Dafür redetet Marie mehr. Vielleicht versuchte sie ihn von seinen Gedanken abzulenken.

,,Ein schöner Ort für sie.“ Er hielt ihre Hand, als sie vor den Gräbern standen, die unter einer Birke errichtet worden waren.

,,Ein komisches Gefühl, sie hier zu lassen.“ Unterwegs hatte Marie ein paar Blümchen gepflückt und zu zwei kleinen Sträußen genommen, von denen sie nun auf jedem Steinhügel einen legte. ,,Bekommen eure Angehörigen auch Gräber?“

,,Sie werden den Flammen übergeben“, antwortete er knapp. Marie nickte. ,,Unser Stammvater, Durin“, sprach er weiter, weil er sich zu mehr schuldig fühlt, ,,er war nicht nur ein Krieger.“ Aufmerksam lauschte Marie seiner Stimme, die in den letzten Stunden selten geworden war. ,,Er war Schmied, Handwerker, Steinmetz, Bergarbeiter. Mein Volk glaubt, dass die Flammen die Seele direkt zu ihm tragen werden, damit sie am Feuer seiner Essen an seiner reichgedeckten Tafel platznehmen können.“

,,Ein hoffnungsvoller Gedanke.“ Ein letztes Mal sah sie auf die Gräber ihrer Eltern und verabschiedete sich in aller Stille von ihnen. Dann straffte sie die Schultern und blickte zu ihm. ,,Wollen wir?“ Thorin nickte und sie trat an ihm vorbei. Ungesehen nahm er zwei kleine Steine von den Gräbern und steckte sie ein, ehe er Marie folgte, die am Rande der Lichtung bereits auf ihn wartete.

 

Zur Mittagszeit besuchten sie Hilda, die für sie ein Festessen gezaubert hatte. Ihre langjährige Freundin hatte von Thorins Rückkehr bereits von Anna erfahren und die beiden zu sich eingeladen. Der Zwerg aß sich satt, was Hilde mit Entzücken zur Kenntnis nahm, und erzählte ihnen das, was er auch Anna und Greg erzählt hatte. Hildas Söhne und Mann klebten dem Zurück-gekehrten an den Lippen und stellten Fragen, die er alle ausweichend beantwortete. Marie war froh, dass er überhaupt gesprächig war, und ließ ihn mit Gunnar nach dem Essen im Esszimmer Pfeife rauchen. Die Frauen zogen sich in die Küche zurück, wo Marie beim Abwasch die Gelegenheit nutzte und ihre Freundin unter vier Augen sprechen konnte.

,,Ich wollte dir danken, Hilda. Für alles, was du und Anna für mich getan habt.“

,,Das ist doch nicht der Rede wert“, winkte sie ab. ,,Ach, ich freue mich so für euch zwei. Das ist einfach unglaublich! Und dass du nun mit ihm gehst… Hach, ich möcht am liebsten schon wieder weinen.“ Hilda kam aus dem schwärmen gar nicht mehr raus, wenngleich der baldige Abschied näher rückte.

,,Danke, Hilda. Der Abschied von euch wird mir unendlich schwer fallen. Ich werde hier so Vieles vermissen. Bevor ich aufbreche, muss ich dich aber um einen großen Gefallen bitten. Damit ich ruhigen Gewissens alles hinter mir lassen kann.“

,,Und der wäre?“

,,Ich möchte, dass du mein Erbe ausführst und meine Stelle als Heilerin dieses Dorfes antrittst. Es würde mir sehr viel bedeuten.“

Hildas Lächeln wich und hinterließ ratloses Staunen. ,,Marie, das… Meinst du das ernst?“

,,Ich war mir selten so sicher. Du hast das in den letzten Wochen anstandslos gemacht. Du bist soweit. Du weiß alles, was es zu wissen gibt, und die Übung, die kommt. Du wirst jeden Tag dazu lernen. Ich lasse dir das Buch meiner Eltern da.“

,,Nein, nicht das Buch!“, widersprach Hilda kaum, dass sie geendet hatte. ,,Marie, das kann ich absolut nicht annehmen! Es ist zu wertvoll für dich. Deine Mutter hat es geschrieben. Und davor ihre Mutter. Nein, das nimmst du schön mit. Ich kenne es schließlich fast auswendig.“

,,Heißt das, du nimmst meine Aufgabe an?“

Nun lächelte Hilda. ,,Mit dem größten Vergnügen.“

 

~

 

,,Was wird das, wenn es fertig ist?“

Marie wäre beinahe vom Zaun gefallen. ,,Oh, hallo, Thorin. Ich wollte bloß…hooo, stehen bleiben…etwas reiten lernen.“ Die Arme vor der Brust gekreuzt sah er zu, wie sie Ferrox am Stick hielt und näher zu sich bewegen wollte, um das Bein über den breiten Pferderücken zu bekommen. Skeptischer hätte der Zwerg nicht aussehen können.

,,Ich habe nämlich keine Lust…alle viertel Meile runter zu fallen. Ja, so ist`s brav. Und jetzt schön stehen bleiben.“ Endlich hatte sie das Tier soweit. Sie griff in die Mähne und gerade als sie zum Sprung ansetzen wollte, zog er sie vom Zaun runter. ,,Hey!“ Sie strampelte sich aus seinem Griff zurück auf den Boden und funkelte ihn an. ,,Was soll das?“

,,Das Holz wäre jeden Moment durchgebrochen und du wärst auf der Nase gelandet“, entgegnete er nüchtern.

,,Ich hätte es bestimmt geschafft, wenn du mich gelassen hättest!“

,,Nein, du wärst am Pferdebauch runter gerutscht wie ein nasser Waschlappen.“ Beleidigt stemmte Marie die Hände in die Taille. ,,Wenn du Reiten wolltest, warum hast du mich nicht gefragt?“

,,Muss ich das?“

,,Ich hätte dir helfen können.“ Immer noch war er nüchtern am Argumentieren, was sie nervte. Ihm war es wohl egal, dass er sie total bevormundete. Keinesfalls wollte sie diejenige sein, die nachgibt. Marie fand sich im Recht.

,,Ich wollte das allein schaffen. Außerdem, was kann daran schon so schwer sein? Traust du mir etwa nicht zu, auf ein Pferd zu steigen und ein paar Schritte im Kreis zu gehen?“

Seine Miene blieb grimmiger Natur. Er schaute zu dem Hengst hinüber, der inzwischen graste, und zurück auf sie. ,,Warte hier.“ Er ließ sie stehen und stapfte zum Stall.

Marie lehnte sich an Ferrox Schulter und sah ihm beim Fressen zu. ,,Er ist manchmal echt herrisch, findest du nicht auch?“

Mit Sattelzeug auf dem Arm kehrte Thorin zurück. ,,Du hast dir eine Hose angezogen, das ist schon mal von Vorteil. Du wirst auch beim Ritt Hosen tragen. Und nur mit Sattel reiten.“ Er legte diesen Ferrox auf und zog die Gurte an.

Marie dachte sich ihren Teil dazu. Wie Ihr befielt, Mylord.

Als er fertig war, trat sie näher, um sich aufhelfen zu lassen. ,,Fass den Riemen ganz vorn am Sattel. Jetzt deinen Fuß. Den anderen...“ Der Krieger warf sie auf das Pferd, als wiege sie nichts. Marie fing sich und strich ihre Haare aus ihrem Gesicht. Dabei schickte sie einen bösen Blick in seine Richtung und bemerkte die Höhe, in der sie sich jetzt befand. Dass es so hoch sein würde, hätte sie nicht gedacht…

,,Stell deine Füße in die Bügel. Nicht ganz. Nur die Fußspitzen. Deine Beine“, er fasste ihr linkes, ,,hier liegen lassen. Hinter dem Gurt. Immer im Kontakt zum Pferdebauch.“

,,Du hast mir auf den Hintern geguckt!“

Thorin blickte zu ihr empor und sein Grinsen erinnerte sie an damals, als sie beide noch jünger waren. ,,Durin sei Dank hast du deine Rundungen an den richtigen Stellen behalten.“

,,Halt die Klappe und sag mir lieber, was ich jetzt tun soll.“

,,Nicht runterfallen.“

 

Fast zwei Stunden verbrachte er damit, sie an den Pferderücken zu gewöhnen. Als sie von Ferrox glitt, war von ihren Beinen nur noch schmerzender Pudding übrig. Sofort nachdem sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, ging sie in die Hocke. ,,Ich sterbe noch bevor wir Erebor erreichen!“

Thorin hatte wohl Mitleid mit ihr und half ihr aufzustehen. ,,Nach dem dritten Muskelkater hat man sich daran gewöhnt.“

Er hatte aufgehört, zu kommandieren, und Marie erlaubte es sich, an ihn zu lehnen. ,,Das hast du gut gemacht.“ Er küsste sie auf den Scheitel und vergessen waren die Reibereien.

 

Den übrigen Nachmittag verbachten Marie und Hilda damit, sich ein letztes Mal über Heil- und Kräuterkunde auszutauschen. Es sollte ein Schnellkurs für die neue Heilerin von Kerrt durch all ihr gemeinsames Wissen sein. Extra dafür hatte Hilda einige der Kräutervorräte und Tinkturen mitgebracht, die sie vorrübergehend bei sich aufbewahrt hatte.

Mit allen Sinnen genoss Marie es ihrer Leidenschaft wieder frönen zu dürfen. Sie schmeckte, roch und fühlte die Kräuter und Salben. Besprach mit ihrer Freundin Eigenschaften und Wirkung. Ein Gefühl von Heimat nistete sich in ihrer Brust ein und belebte die damit verbundenen Erinnerungen.

Ein weiterer Abschied.

Thorin ließ die Frauen irgendwann allein. Er nahm noch etwas aus der Küche mit, was Marie im Augenwinkel bemerkte und verschwand dann mit den Worten, er bliebe in der Nähe.

Der Tag verging wie im Flug, doch erst, als Hilda nach Hause ging, tauchte er wieder auf und verabschiedete sich von ihr.

,,Wo hast du gesteckt?“, fragte Marie und musste lachen, als sie ihn sah. ,,Und wie schaust du überhaupt aus? Deine Hände sind ja ganz dreckig.“ Sie fasste noch ihnen und drehte sie amüsiert. ,,Was hast du getrieben?“

,,Hab etwas für dich gemacht.“

,,Für mich?“

,,Komm mit. Ich hab es zum Abkühlen draußen gelassen.“ Thorin ergriff ihre Hand und führte sie nach draußen. ,,Da bin ich aber mal gespannt.“ Zu ihrer Verwunderung steuerte er auf den Stall zu und ging daran vorbei. Hinter dem Gebäude staunte Marie nicht schlecht, als sie die Feuerstelle sah. In einem, von Hitze und Ruß schwarz gefärbten Erdloch schwelten noch Reste von Holz und Glut. Er hatte ihren Hackklotz heran gerollt und drauf eine provisorische Werkstatt ausgebreitet. Reste von gesplittertem Stein und -staub bedeckten das Gras. Sie entdeckte ein verbeultes Metallstück, das ihr vage bekannt vorkam.

,,War das etwa einer meiner Töpfe? Und meine Schöpfkelle?“ Sie drehte sich zu Thorin um, der plötzlich etwas in den Händen hielt.

,,Gestern bei den Gräbern deiner Eltern hast du gesagt, es sei seltsam, sie hier lassen zu müssen. Das hier sind Steine von ihnen. Ich habe sie etwas…aufgehübscht für dich.“

Sie traute ihren Augen nicht. In seinen Handflächen lagen zwei kleine Herzen aus Stein, umrahmt von einem dünnen Band aus Gold. Es sah aus, wie Schleifen.

,,Die hast du gemacht?“ Er nickte. ,,Thorin…die sind wundervoll.“ Zum ersten Mal lächelte er.

,,Such für sie einen Platz in Erebor, wo du sie immer anschauen kannst. Falls du Heimweh hast nach ihnen.“

Marie spürte einen Kloß im Hals, als er die beiden Herzen in ihre Hände legte. Das Gold war kalt und schmiegte sich glatt und harmonisch und den, in Form geschlagenen Stein. So etwas Schönes, hatte sie noch nie gesehen. ,,Ich danke dir.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.

,,Es freut mich, dass sie dir gefallen. Wäre ich in einer richtigen Werkstatt, hätte ich sie dir noch besser gemacht.“

,,Himmel“, sie musste lachen, ,,sie sind perfekt, so wie sie sind.“ Eingehend betrachtete sie ihre Geschenke. ,,Wo hast du das Gold her?“

,,Ich hab Münzen aus meinem Geldbeutel geschmolzen. Tut mir leid, wegen deinem Topf. Ich…“ Er atmete tief durch und sah auf die Steine in ihren Händen, als würde er noch etwas anderes im Gold sehen. Marie bemerkte den Schatten, der seine Augen trübte. ,,Ich wollte mich selbst beweisen“, hörte sie ihn sagen.

,,Wieso?“

,,Es gab eine Zeit, da konnte ich dem Schatz meines Landes nichts mehr abgewinnen. Ich habe ihn gehasst. Weil er viel Leid brachte für diejenigen, die ihn wollten.“

Marie trat näher, sodass sie ihren Kopf in den Nacken legen musste. ,,Das wusste ich nicht.“

,,Gold hat eine zerstörerische Macht. Es ist hübsch anzusehen, aber es hat zwei Seiten.“

,,Hast du diese andere Seite schon mal gespürt?“

,,Jeden Tag, den wir in Erebor verbracht hatten.“

Seine Antwort beunruhigte sie zutiefst. Worüber sprach er da? Es hörte sich beinahe so an, als hätte das Gold ihm etwas angetan.

,,Ich sehe Furcht in deinen Augen.“ Er nahm ihre Hände in seine und hauchte einen Kuss darauf. ,,Ich wollte dir keine Angst machen. Verzeih.“

,,Hast du nicht“, log sie. ,,Ich verstehe nur nicht, von was du da sprichst.“

Er holte Luft, doch brach wieder ab. Dann lächelte er beschwichtigend. ,,Es dunkelt schon. Wir sollten wann anders weitersprechen.“ Sein Lächeln erreichte seine Augen nicht und ließ Marie mit alten Fragen zurück.

 

Sie legte die Hand an den Türrahmen und fühlte das Holz, welches sie mit ihrem Vater geschlagen und über den Fluss hier her geschafft hatten, um aus der verlassenen Ruine ihr neues Heim zu schaffen. Sie wartete auf ein Knarzen in den Wänden, sog die Gerüche des Hauses auf. Der Rauch, der ins Gebälk gezogen ist. Der Duft nach Kräutern, obwohl keine mehr da waren. Nach gebackenem Brot. Nach Geborgenheit. Familie.

Sie sah auf ihre gepackten Rucksäcke, die schon für den morgigen Tag bereit lagen. Die Stiefel und Mäntel. Morgen war der Anfang ihrer Zukunft. Einer gemeinsamen Zukunft mit Thorin. Alles war vorbereitet.

Es war nicht viel, was sie mitnahm und doch hatte sie alles, was sie brauchen würde. In diesem Moment schlangen zwei Arme sich um ihre Mitte und zogen sie an eine warme Brust.

,,Du siehst so nachdenklich aus, mel nin“, flüsterte eine tiefe Stimme an ihrem Ohr.

,,Ich verabschiede mich von meinem Zuhause.“

Thorin senkte den Kopf und küsste ihre Halskuhle. Prickelnd hinterließ sein Bart eine Spur auf ihrer Haut. ,,Ich kenne das Gefühl, seine Heimat aufzugeben.“

Marie drehte sich, damit sie ihn anschauen konnte. ,,Du bist ab jetzt meine Heimat. Wohin du gehst, gehe ich auch.“

Sie blickten in die Augen des anderen, die sie kennen und lieben gelernt hatten. Thorin spürte das kribbelnde Gefühl von Leichtigkeit, welches immer aufkam, wenn sie in seiner Nähe war. Er verlor sich in dem Smaragdgrün ihrer Augen, sah in ihnen alles, was er jemals gewollt hatte.

Mit ihrem Lächeln rückte Marie die Welt an diesem Tag für ihn ein kleines bisschen zurück ins Gleichgewicht. Er war geprägt gewesen von düsteren Gedanken rund um Smaugs Drohung und die Furcht vor dem Fluch, als er sich erneut an das Gold heran gewagt hatte. Für sie war er über seinen Schatten gesprungen, um der Frau, die sein Leben war, den erneuten Abschied von ihrem Heim erträglicher zu machen.

,,Ich hab das Buch noch eingepackt bekommen“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. ,,Ich hab`s dir ja gesagt. Ein kleines Plätzchen lässt sich immer noch finden.“

,,Ich hab keinen Moment daran gezweifelt.“ Er musterte den kleinen Rucksack, indem Marie tatsächlich alles bekommen hatte. ,,Du bist sehr sparsam. Ich habe gedacht, du willst so wie andere Weiber deinen ganzen Hausrat mitnehmen.“

,,Falls Ihr das noch nicht gemerkt habt, Eure Hoheit, ich bin nicht wie andere Weiber.

,,Keinesfalls…Mylady.“ Er küsste die Frau, die er schon bald heiraten wollte und spürte das Lächeln auf ihren Lippen.

Sie löschten das Licht und gingen nach oben. Der Hund erhob sich von seinem Schlafplatz vor dem Kamin, trottete ihnen nach und machte es sich auf dem Bett bequem.

,,Er ist drei Tage hier und schon verwöhnt“, sagte Thorin mit missbilligen Blick.

,,Du bist nur eifersüchtig, dass ein anderes männliches Wesen in meinem Bett schlafen darf.“ Marie schnipste, zeigte ans Fußende, woraufhin ihr Findelkind sich dort unten einrollte. ,,Eins haben sie aber gemeinsam: sie hören alle auf mein Kommando.“

Kopfschüttelnd öffnete er seinen Gürtel. ,,Träum weiter, Prinzessin.“

Marie steckte ihm die Zunge raus, legte ihre Sachen zu den anderen, die sie morgen anziehen würde, und schlüpfte nackt unter die Decke. Als sie seinen Blick auf ihrer Haut fühlte, entgegnete sie: ,,Mein Nachthemd ist schon eingepackt.“

,,Sowas aber auch…“ Damit schob er seine Hose von den Hüften. Die Gelegenheit nutzend drehte Marie sich auf die Seite und beobachtete jede seiner Bewegungen. Langsam zog er seine Hemden über den Kopf, zeigte Stück für Stück mehr Haut. Muskeln zeichneten sich auf dem Körper des Kriegers bei jeder Streckung und Beugung ab. Ganz von allein folgten ihre Augen dem Strich aus Haaren, der unterhalb seines Nabels eine Spur der Versuchung für sie bildete. Sie bekam einen trockenen Mund und zwang ihren Blick von seiner ruhenden Männlichkeit fort. Schwarz und ungekämmt fielen ihm die Haare über die Schultern, rahmten sein markantes Gesicht ein, als er sich zu ihr zuwandte. Ohne Scheu suchte Marie die Narben auf seinem Körper: der Schnitt an seiner Schulter, den sie selbst versorgt hatte. Die auf seinem Bauch, die ihm beinahe das Leben gekostet hatte. Weitere auf seinen Armen und auf dem Rücken, von denen sie wusste. Und jene in seinem Gesicht.

Als sie seinen Blick bemerkte, funkelte dieser grau wie polierter Stahl. ,,Ich schaue dich gern an.“

,,Obwohl ich jetzt so aussehe?“

,,Gerade deshalb.“ Marie sah keine Regung auf seinem Gesicht, die ihre Wort hinterließen sollten. ,,Komm ins Bett, Liebling.“ Sie hielt die Decke für ihn auf. Thorin löschte die Kerze und legte sich zu ihr. ,,Ich liebe dich.“ Sie zeichnete die feine weiße Linie auf seiner Stirn nach, die in seiner Augenbraue endete. ,,Egal, mit wie vielen Narben.“ Liebevoll legte sie eine Hand auf seinen Bauch und ließ sie direkt auf der riesigen Narbe ruhen. Und Thorin glaubte ihr.

Seine eigene wanderte von ihrer Schulter über die Landschaft ihren Köpers, ihren Bauch und wieder hinauf zu ihren Rippen, die immer noch zu sehen waren. ,,Du sagtest einmal, dass meine Narben für jeden sichtbar sind. Deine aber unter deiner Haut lägen. Sie gehören zu den Worten, die ich nicht vergessen kann.“

,,Weißt du noch, als du mich in der Kneipe warntest, dass über mich geredet werden würde und ich antwortete, dass es mir egal wäre?“ Er nickte schließlich. ,,Ich täuschte mich“, wisperte Marie und hätte am liebsten über ihre damalige Naivität laut gelacht. ,,Worte haben die gleiche Kraft wie eine Waffe aus Stahl.“

,,Sprich weiter.“ Er wollte es nicht hören, musste es aber, um ihre Geschichte zu verstehen. Nun war sie an der Reihe.

,,Die Menschen aus dem Dorf sagten schlimme Dinge, weil sie keine Ahnung hatten, was geschehen war.“ Kalt und abgebrüht klang ihre Stimme, die er so selten gehört hatte. ,,Es wurde getratscht und hinter meinem Rücken getuschelt. Sie zeigten mit dem Finger auf mich, als wäre ich kein Mensch mehr.“ Sie wurde an die Flecken auf ihrem Hals erinnert, die sie vogelfrei an diesem Tag gemacht hatten. Wie abschussbereites Wild.

,,Irgendwann sah ich Rot und ging der Frau an die Gurgel, die am lautesten über mich herzog. Ich hätte sie am liebsten erwürgt, für all das, was sie sagte. Hilda zog mich von ihr weg und sie setzte von neuem an, als sie die Flecken auf meinem Hals sah. Hure haben sie mich genannt...“ Thorin riss sie so plötzlich in seine Arme, dass Marie die Augen zukniff. Er umschlang sie inbrünstig, als würde er sterben, wenn nicht.

Thorin entschuldigte sich nicht. Weil er wusste, dass sie keine akzeptieren würde. Marie würde ihm sagen, dass es nicht seine Schuld gewesen wäre. Deshalb schwieg er und kämpfte mit sich selbst und dem Wissen, dass es nicht soweit hätte kommen müssen. ,,Du bist keine Hure“, war alles, was er heraus brachte.

Er fühlte, wie sie sich an seinen Körper schmiegte und nicht mehr losließ.

,,Dann bin ich davon gelaufen. Ich war feige gewesen.“ Als sie sich regte, hob Thorin den Blick und begegnete ihren Augen, die grünes Feuer zu sprühen schienen. ,,Das werde ich nie wieder sein.“

 

~

 

Der dritte Morgen wurde von der Sonne angekündigt, die langsam über den Rand der Welt kroch. Mit dem Anbruch des Tages traf man bei dem Haus am Waldrand ein.

Hilda und Gunner, Greg, Anna und Mel waren gekommen, um sich von Marie und Thorin zu verabschieden. Die Sonne lud sie ein, den Neuanfang und das Leben zu feiern. Doch es rief ihnen auch in Erinnerung, dass zuerst etwas enden musste, damit etwas Neues beginnen konnte.

,,Passt bitte auf euch auf“, wisperte Anna, die tief gebeugt über ihrer Freundin stand und sie in ihrer letzten Umarmung festhielt. ,,Ich vermisse dich schon jetzt.“

,,Hör auf, mach es mir nicht noch schwerer.“ Marie blinzelte gegen die Tränen an, die ihr die Sicht verschleierten. So lange wie möglich wollte sie ihre Freundin und Schwester im Herzen festhalten. Nie würde sie sich an Abschiede gewöhnen.

Thorin wurde von jedem herzlich umarmt. Auch er war in den letzten Tagen Teil dieser Familie geworden. Hilda, die kaum aufhörte zu weinen, drückte ihn an ihre Brust und er ließ es über sich ergehen, einen Augenblick keine Luft mehr zu bekommen.

,,Pass gut auf unsere Marie auf“, sagte Greg zu dem Zwerg, als er bei ihm angekommen war. ,,Sie ist eine ganz besondere Frau.“

,,Du hast mein Wort.“ Sie reichten einander den Arm. ,,Alles Gute für euch.“

,,Vergiss uns nicht.“

,,Anna, wie könnte ich? Ihr seid meine Familie.“ Trotz allem musste sie lächeln. ,,Ich werde euch schreiben. Jede Woche. So oft ich kann“, versicherte sie. ,,Ich liebe dich.“

,,Ich dich auch.“ Anna schniefte und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Für sie schien der Abschied noch schwerer zu sein, als für Marie. Zum Trost trat ihr Verlobter zu ihnen und legte ihr einen Arm um die Taille. Neben ihrem Stiefvater stand Mel und hielt seine andere Hand. Das Mädchen war die ganze Zeit sehr still gewesen. Zeit, dass Marie das änderte.

,,Mel, Thorin und ich haben noch etwas für dich.“

Die Kleine rieb ihre Augen trocken. ,,Für mich?“

,,Mach die Augen zu. Es soll eine Überraschung sein.“

Sie tat wie geheißen. Thorin wartete, ob sie lunzen würde, ging dann noch einmal ins Haus und kehrte mit dem Hund auf den Armen zurück. Aus der Schneiderei hatte Greg eine rote Stoffschleife mitgebracht, die sie ihrem Findelkind um den Hals gebunden hatten. Er setzte den Streuner vor dem Mädchen ab. Dieser wurde auf Mel aufmerksam und schnüffelte neugierig an ihrem Gesicht. Erstaunt nahm sie die Hände runter und die Erwachsenen sahen zu, wie immer größer ihre Augen wurden.

,,Ein Hund? Ihr schenkt mir einen Hund?!“

,,Er braucht ein richtiges Zuhause. Wir dachten, in deiner Obhut wäre er am besten aufgehoben.“

Plötzlich wurde ihre Freude getrübt. Ängstlich sah Mel zu ihrer Mutter. ,,Aber, Mama…“

,,Ist schon in Ordnung, Schatz. Wir haben es erlaubt.“

,,Wirklich? Oh, Danke!“ Sie stürmte zu jedem, der das möglich gemacht hatte, ,,Vielen Dank!“, und umarmte ihn.

,,Du musst ihn abrichten und ihm Manieren beibringen“, warnte Thorin sie fast schon väterlich, ,,und ihm jeden Tag Futter und Wasser geben. Im Winter musst du dafür sorgen, dass er nicht friert, und dass er keinen Dreck mit ins Haus nimmt. Du hast jetzt eine Verantwortung. Bekommst du das hin?“

,,Das werde ich, versprochen!“ Mel kniete sich zu dem Hund und nahm ihn in den Arm, um ihn zu knuddeln.

,,Er hat noch keinen richtigen Namen“, sagte Marie. ,,Du musst ihm einen geben.“

,,Dann heißt er Strolch. Weil er wie einer aussieht. Wie findest du das, Strolch?“ Der Hund schleckte ihr übers Gesicht.

Die Erwachsenen nahmen sich die Zeit, um ihr zuzuschauen, wie sie mit ihrem neuen Freund herum tobte, der ebenfalls von dem Kind ganz angetan zu sein schien.

,,Marie.“ Sie sah zu Thorin hinauf, der neben ihr gestanden und ihre Hand gehalten hatte. ,,Es wird Zeit.“ Etwas verknotete sich in ihrer Brust, doch sie nickte. Die anderen hatten seine Worte ebenfalls gehört. Greg führte Ferrox, der gesattelt und gepackt bereit stand, näher. Thorin zog den Sattelgurt nach und ließ sich beim Aufsteigen von ihm helfen. Es blieb Zeit für eine kurze, allerletzte Umarmung. Marie krallte sich zuerst an Hilda, dann an Anna fest. Schon war der Moment vorbei. Greg hob sie hinter Thorin in den Sattel. Wie mechanisch nahm sie ihren Rucksack entgegen und zog ihn auf. Thorin nahm die Zügel, hob die Hand zum Gruß und lenkte das Pferd in Richtung des Weges, der nun vor ihnen lag.

,,Leb wohl, Marie!“ Sie sah zu ihrer Familie zurück. Zu einem Teil ihres Lebens, den sie hinter sich ließ. Alle winkten ihnen nach. Entfernten sich mit jedem Schritt, den das Pferd tat.

,,Auf Wiedersehen!!“ Sie winkte und rief ihnen zu, dass sie scheiben würde und dankbar für alles war.

Aus der Gruppe löste sich Mel und lief ihnen nach. ,,Tante Marie!“ Sie folgte dem Pferd noch ein Stück neben her, Strolch lief an ihrer Seite. ,,Schick einen Raben, wenn ihr in Erebor angekommen seid! Aber einen Sprechenden!“

,,Das werde ich. Ich hab dich unendlich lieb, Mel!“

Thorin sah zu den beiden hinab. ,,Pass gut auf das Mädchen auf, mein Freund.“ Strolch bellte, ganz so, als verstehe er seine neue Aufgabe. Irgendwann aber musste Mel stehen bleiben und sie ziehen lassen. Ihre Tante drehte sich im Sattel nach ihr um.

,,Auf Wiedersehen, mein Schatz! Wir sehen uns bald wieder!“

Mel hockte neben ihrem Hund, um ihn festzuhalten, damit er ihnen nicht nachlief. Sie winkte nicht, stattdessen hielt sie sich an seinem schwarzen Fell fest, damit niemand ihre Tränen sah.

Sie waren auf der Hügelkuppe angekommen und das Haus am Waldrand mit den Menschen davor rückte in die Ferne. Marie konnte nicht länger zurückschauen. Sie drückte das Gesicht an Thorins Rücken und fühlte, wie seine Hand, nach ihrer griff, während sie ihre Schluchzer zu ersticken versuchte.

Das sanfte Schaukeln des Pferderückens beruhigte ihre Seele wie das Wiegen einer Mutter. Tröstlich und kraftspendend. Die Arme um Thorins Leibesmitte geschlungen, schmiegte sie ihre Wange an das weiche Leder seines Umhangs. ,,Ich hasse Abschiede.“

,,Deshalb bin ich stolz auf dich.“

Marie sah über seine Schulter hinweg, wie nah sie den ersten Häusern des Dorfes bereits waren und all die schlechten Erinnerungen begannen erneut in ihrem Magen zu brodeln.

Vom Gespött der Gesellschaft, zurück zur geachteten Frau. Weil sie Donja Danners schlechten Charakter vor den Augen aller entlarvt hatte.

Thorin musste ihre Gedanken erraten haben. ,,Sollen wir außen herum reiten?“

,,Nein“, war ihre Antwort. ,,Ich verstecke mich nicht mehr.“

 

Die Menschen blieben stehen, als sie den weißen Hengst und den Zwerg auf ihm sahen, der aussah wie ein König. Hinter ihm erkannten sie die Heilerin und blickten zwischen ihr und dem Mann hin und her. Man zählte eins und eins zusammen.

Marie sah das Staunen und die Verwunderung auf ihren Gesichtern, dass sie tatsächlich fort gehen würde, und hörte das Getuschel hinter vorgehaltenen Händen. Zum ersten Mal war es ihr tatsächlich egal, was man über sie sagte oder dachte, denn sie hatten sich alle getäuscht.

Thorin beachtete die Menschen nicht, die freiwillig den Weg freimachten. Zielstrebig ritt er durch die Gassen Kerrts, den Blick mit würdevoller Gelassenheit geradeaus gerichtet, wie es nur jemand konnte, der von Königen abstammte.

Ein Mann nahm seine Mütze ab, ein weiterer tat es ihm gleich, als sie vorbei ritten. Plötzlich rief jemand nach ihnen. Es war Sonna, die zu ihnen gelaufen kam, und Thorin zügelte das Pferd. ,,Ihr geht fort?" Sie hatte ein Geschirrtuch in ihre Schürze stecken. Sie kam also gerade aus der Kneipe.

Marie schenkte ihrer Freundin ein Lächeln. ,,Ich werde Thorin in seine Heimat folgen.“

Die Rothaarige sah sich den Zwergenkrieger einen Moment lang aus nächster Nähe an. ,,Als ich dich erkannte, wollte ich dir alles Gute wünschen. Du hast es verdient glücklich zu sein.“

,,Das ist lieb von dir.“ Marie beugte sich zu ihr hinab und umarmte Sonna, die sich ihr entgegen streckte. ,,Richte bitte den anderen ganz liebe Grüße aus. Ich werde an euch denken. Ihr wart immer gut zu mir. Das habe ich nicht vergessen.“

Ein wenig traurig nickte die Frau des Wirtes. ,,Werde ich ausrichten. Leb wohl, Marie.“

,,Danke, Sonna. Lebe auch du wohl.“ Ferrox setzte sich wieder in Bewegung und Marie winkte ihrer Freundin nach.

Als sie wieder nach vorn blickte, sah sie eine Frau einen prall gefüllten Wäschekorb den Weg zum Fluss hinunter schleppen. Vor schweißüberströmten Gesicht und Rußflecken auf dem billigen Kleid hätte Marie sie beinahe nicht erkannt.

,,Das ist Donja.“

Thorin wurde sofort hellhörig und folgte ihrem Blick zu der Frau hinüber. Er spürte eine Ader an seiner Schäfe pochen, je länger er zu der Frau starrte, die den Raben abgefangen und ihm eine Lüge zurück geschickt hatte. Eine zarte Hand legte sich über seine Fäuste, die sich um die Zügel verkrampft hatten.

,,Egal, was du vorhast: lass es gut sein“, raunte Marie ihm zu.

,,Sie kann nicht ungestraft…“

,,Schau sie dir an. Sie hat ihre Strafe bereits bekommen.“

Das Hufgeklapper ließ Donja sich umdrehen. Sie starrte zu Marie und dem fremden Mann und wurde auf einmal kalkweiß im Gesicht. Schreiend ließ sie die Wäsche fallen und wollte davon rennen. Sie stolperte, landete im Dreck, rappelte sich wieder auf und rannte, als wäre ein Dämon hinter ihr her.

Marie musste kichern, als sie Thorins entgeistertes Gesicht bemerkte. ,,Es könnte sein, dass ich ihr erzählt habe, dass du, wenn du wiederkehrst, sie auf höchst unangenehme Weise töten wirst.“

Er drehte sich im Sattel, sodass er sie anschauen konnte. ,,Das hast du gesagt?“

,,Das hab ich gesagt.“

Er kam ihr so nah, dass sein Mund ihren beim Sprechen streifte. ,,Dann sollte ich mich in Zukunft auch vor dir in Acht nehmen.“

Ihre Lippen legten sich aufeinander. ,,Das solltest du.“

 

Sie ließen Kerrt hinter sich und kamen zu dem Gräberhain außerhalb des Dorfes. ,,Können wir nochmal anhalten?“ Angesichts des Ortes fragte Thorin nicht nach. Er brachte Ferrox zum Stehen und half Marie aus dem Sattel zu gleiten. ,,Es dauert nicht lange“, versprach sie ihm und eilte zu den Grabsteinen hinüber, um sich zu beeilen. Auf dem Weg dorthin pflückte sie ein paar Wiesenblumen, um nicht ganz mit leeren Händen zu erscheinen. Nach kurzem Suchen fand sie den Grabstein mit dem richtigen Namen.

,,Ich wollte nicht gehen, ohne mich vorher zu verabschieden.“ Vor kurzem hatte jemand einen kleinen Strauß Blumen hier abgelegt. Marie legte ihre dazu und berührte den Stein, der nun über ihre Freundin wachen würde. ,,Danke für deine Freundschaft, Ginja. Du warst Teil meiner Familie.“

Sie wollte bereits gehen, da sah sie noch einen anderen Grabstein. Obwohl sie noch nie hier war, hatte Anna ihr beschrieben, wo er lag. Wie von selbst zogen ihre Beine sie dorthin und plötzlich stand sie vor seiner Inschrift.

,,Auch dir bin ich einen letzten Besuch schuldig.“ Wie bei Ginja so legte sie auch hier ihre Hand auf den kalten Stein, in dem die Buchstaben G. F. W. gemeißelt worden waren.

Gonzo Ferris Wildbacher

,,Wer liegt hier begraben?“, sagte eine Stimme hinter ihr.

Marie hatte nicht bemerkt, dass Thorin ihr gefolgt war und ging zurück zu ihm. Dann lächelte sie. ,,Ein alter Freund.“

Er beobachtete für einen Moment die Einzelheiten ihres Gesichtes, ehe er zurück auf die Buchstaben sah und rätselte. Marie schmiegte sich an ihm und spürte, den kleinen Schmetterling in ihrem Bauch, als seine Arme sich um sie legten. Egal, welch Schwierigkeiten die Zukunft für sie bereit halten mag; sie würden ihnen gemeinsam entgegen treten.

Sie hob das Gesicht und blickten den Krieger an, der ihr Herz erobert hatte. ,,Bring mich nach Hause. Bring mich nach Erebor.“

 

 

 

 

Fortsetzung folgt…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nachwort

 

 

Eigentlich sollte Band 4 der letzte werden… Eigentlich.

Ich hab mich dann aber angesichts der Story, die ich noch zu erzählen habe, entschieden, Band 4 in zwei Teile zu teilen. Ihr habt also noch ein wenig länger das Vergnügen mit dieser verflixt ausgearteten FanFiction.

Ich hoffe, ihr bleibt mir als Leser weiterhin treu. Über Herzchen oder Kommentare unter meinen Büchern würde ich mich sehr freuen.

 

 

 

 

 

 

Impressum

Cover: https://www.flickr.com/photos/98033075@N03/10725984194/
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2019

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