Cover

Der König Erebors

 

Wenn ein Vermächtnis erwacht

 

 

 

Band 3

 

 

 

Finfiction/High Fantasy

 

 

 

 

Lisa Ausmeier

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dies ist eine Fanfiction, basierend auf dem Roman ,,Der Hobbit" von J.J.R. Tolkien und den Filmen der ,,Der Hobbit"-Triologie von Peter Jackson.

 

Es bestehen Abweichungen vom Original.

 

Die Handlung ist fiktiv und meine eigene Interpretation.

 

Alle Figuren, die nicht im Original auftauchen, sind fiktiv.

 

Die Khuzdul-Übersetzungen stammen von verschiedenen Internetseiten und wurden teilweise verändert.

 

Ich besitzte keinerlei Rechte am Original.

 

November 2015 - Mai 2016

 Überarbeitet 2018

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alle guten Geschichten verdienen es, ausgeschmückt zu werden.

~

Gandalf (Der Hobbit - Eine unerwartete Reise)

 

 

 

 

Some legends are told

Some turn to dust or to gold

But you will remember me

Remember me for centuries

And just one mistake

It all it will take

We'll go down in history

Remember me for centuries

~

Fall out Boy - Centuries

 

 

 

~

 

Ein langer, dünner Schrei wurde vom Wind überbracht. Es war das Erste, was sie zwischen dem unaufhörlichen Schlagen der Glocke von ihm hörte. Die Wolkendecke war dicht, verbarg den Mond, die Dämmerung nicht mehr weit entfernt. Die Stadt auf dem See war hell erleuchtet in ihrem hektischen Aufruhr. Vor Furcht getrieben brachen die Menschen auf. Jeder wollte sich vor der nahenden Gefahr in Sicherheit bringen, die so deutlich war, dass selbst sie sie spüren konnten. Eiskalter Wind wehte ihr entgegen und mit ihm kam sein ferner Ruf. Ihre feinen Elbenohren hörten ihn klar durch das Stimmengewirr hindurch, während ihre Augen gebannt und erwartend in die Nacht gerichtet waren.

Man sah ihn nicht. Man hörte nur sein Näherkommen, sein nach Rache dürstender Ruf.

 

1

 

,,Uns bleibt keine Zeit. Wir müssen fort“, befahl Tauriel, als sie zurück ins Haus trat. ,,Helft ihm hoch.“ Sie nahm Mäntel vom Haken neben der Tür, reichte sie den Kindern.

,,Komm, Bruder.“ Fili wollte ihn vom Stuhl hoch ziehen.

,,Lass mich los, ich kann geh’n“, schob Kili ihn von sich.

,,Wir werden nicht gehen“, erwiderte Bain stur, der auf einmal hinter ihr stand. ,,Nicht ohne unseren Vater.“

,,Wenn ihr bleibt, werden deine Schwestern sterben. Würde euer Vater das wollen?“

,,Macht schon, wir müssen los!“, rief Bofur dazwischen, schulterte die Gepäckbündel und lief die Treppe hinunter, zu dem Boot, das festgemacht am Haus war. Sie folgten dem Zwerg.

,,Beeilt euch. Rasch.“ Tauriel warf einen Blick den Kanal entlang. Aus allen Häusern kamen aus dem Schlaf gerissene Menschen, liefen über die Stege und beluden ihre Boote mit Habseligkeiten. Kinder weinten, weil sie nicht verstanden, was vor sich ging. Sie sah blanke Angst in jedem ihr so fremden Gesicht. Ihr Leben lang hatte sie bloß über Menschen gelesen, ihre Städte nur gemalt aus Büchern gesehen. Nun war sie endlich hier…doch bald würde eine, der ihr unbekannten Welten, nicht mehr existieren. Sie war hier, weil sie es gewagt hatte auszubrechen. Weil sie ihm begegnet war. Kili.

,,Kommt, kommt!“ Bofur sprang ins Boot, gefolgt von Oin und den Jungs und die Elbe wurde aus ihren sehnsuchtsvollen Gedanken geholt.

,,Gib mir deine Hand.“ Sigrid streckte sie zu Fili aus und er half ihr hinein.

,,Meine Puppe!“ Tilda schaute zurück.

,,Vergiss die verdammte Puppe.“ Ihre Schwester wollte sie zu sich zerren.

,,Aber die hab ich von Mama!“ Tilda machte kehrt und rannte die Treppe hinauf.

,,Tilda!!“ Sigrid wollte ihr nach, doch Fili sprang schon aus dem Boot und rannte ihr nach.

Verflucht sei dieses Mädchen. ,,Tilda!“ Im verwüsteten und vom Orkblut beschmierten Wohnraum fasste sie nach ihrer Puppe, die auf dem Esstisch lag, presste sie feste an sich.

Gerade als Fili sie an ihrem Mantelkragen gepackt hatte, gab es ein Rauschen, als würde die Luft mit aller Gewalt zerpflügt werden. Es rumste. Die Bretter entlang der Hauswand erzitterten unter der Welle eines gewaltigen Windstoßes. Die dünnen Fensterscheiben wurden ins Innere gedrückt und zerbarsten.

,,Runter!“ Fili warf sie und sich selbst zu Boden, presste sich schützend um das Mädchen, als spitze Scherben sie bedeckten. Der heftige Wind war abgeflaut und sie blieben noch für einen Moment erstarrt liegen.

,,Was war das?“, fragte Tildas dünnes Stimmchen.

,,Ich weiß nicht“, log er. Fili hob den Kopf, konnte jedoch nichts erkennen. ,,Komm hoch, wir müssen hier weg.“

Doch die Kleine blieb verängstig wo sie war, rührte sich nicht. ,,Ich will nicht“, schluchzte sie zitternd. ,,Ich hab Angst.“

Fili blieb bei ihr knien. So würde sie keinen weiteren Schritt machen. ,,Das ist nicht schlimm.“

Das Mädchen schaute ihn mit ihren blauen Augen an, die zu groß für ihr Gesicht zu sein schienen. ,,Hast du denn gar keine Angst?“

,,Doch, auch ich habe Angst. Jeder hat vor irgendetwas Angst. Das ist ganz normal. Nur…“, er senkte die Stimme und beugte sich zu ihr, als würde er ein Geheimnis weiterverraten. ,,…wir Zwerge geben das bloß nie zu.“

Beschämt über ihr Verhalten wich sie seinem Blick aus und zupfte ihrer Puppe an den roten Kordeln-Haaren. ,,Ich musste Nana einfach holen. Mama hat sie für mich gemacht.“

,,Ich verstehe. Ich war auch noch klein, als meine Mutter starb.“

,,Wirklich?“

Er nickte. ,,Einmal, da sagte sie: Jeder wird in seinem Leben Mut beweisen müssen. Und manche von uns sogar sehr viel. Man braucht sich für Furcht nicht zu schämen, hat meine Mutter mir gelehrt, denn was zählt ist, wie man ihr entgegentritt.“

,,Und…jetzt muss ich mutig sein, nicht wahr?“

Wieder nickte er, die Antwort aber blieb ihm bei dem Gedanken an die Gefahr fast im Hals stecken. ,,Ja, sehr sogar.“

 

~

 

Das kleine Boot lag bereits tief im Wasser, als Fili mit Tilda an der Hand wieder die Treppe hinunter geeilt kam. Er hob sie ins Boot, wo sie von ihrer Schwester in die Arme genommen wurde.

,,Mach so etwas nicht nochmal, hörst du?“

Fili band das Tau los und stieß das Boot von seinem Platz ab, ehe auch er hinein sprang. Zusammen mit Bofur nahm er ein langes Paddel und stakte damit durchs schwarze Wasser des Kanals.

Eng aneinander hockten sie auf den Querbrettern, als ihr kleines Boot zwischen den einzelnen Schicksalen hindurch fuhr. Tilda drückte ihre Puppe an sich, betrachtete die fliehenden Menschen über deren Kopf hinweg. ,,Wir müssen jetzt mutig sein“, flüsterte sie Nana ins Ohr, als der Himmel sich plötzlich verdunkelte.

Ein mächtiger Schatten rauschte über die Dächer. Unangekündigt. Er war auf einmal da.

Panische Schreie folgten dem Drachen, der mit weit gespannten Schwingen tief über sie hinweg segelte. Mit stockendem Atem verfolgten sie seinen Flug und Fili musste daran zurückdenken, als er schutzlos auf dem Boden der Eingangshallen gelegen und ihn das erste Mal gesehen hatte. Obwohl er damals noch ein Kind gewesen war, hatte er das Bild der Bestie nie vergessen können.

Der Drache gewann wieder an Höhe. ,,Jetzt. Wir müssen uns beeilen.“

,,Wartet“, flüsterte jedoch Tauriel ganz vorne im Boot, hielt sich deckungsgebend an einem Hausbalken fest. ,,Wartet...“
Ein schwarzer Schatten fiel falkengleich durch die Wolkendecke, wandelte sich in einen gleißenden Kometen. Dann brach das Feuer aus.

Smaug brannte eine Schneise aus Flammen quer über die Stadt. Meterhoch loderten sie auf, fraßen sich sofort durch Holz und Seele.

Das Geschrei wurde unaushaltbar. Tilda presste sich die Hände über die Ohren, machte sich zwischen ihren Geschwistern ganz klein.

Tauriel warf einen Blick hinter sich und gab damit das stille Kommando zur Weiterfahrt. Überall war es so laut, die Kälte der Nacht vertrieben. In Flammen stehende Menschen warfen sich aus Verzweiflung aus ihren Fenstern ins Eiswasser. Ein Mann wollte die Tür zu seinem Haus öffnen, doch sie flog ihm entgegen, als die Flammen in dessen Innerem verpufften. Menschen versuchten strampelnd und schreiend aus dem Wasser zu kommen. Diejenigen, die keine Boote besaßen, flehten die Vorbeifahrenden an ihre Kinder mitzunehmen. Haltlos und durcheinander in der Panik ruderten die nussschalenähnlichen Boote so schnell wie es ihnen möglich war in Richtung offenes Wasser. Die Hauptwasserstraßen waren bereits überfüll oder vom Feuerwall abgeschnitten. Sigrid lenkte sie in einen kleineren Nebenkanal. Kaum hatten die Zwerge es geschafft, ihr Boot zu wenden und dort hinein zu bringen, hörten sie ein raues Brüllen, gefolgt vom unaufhaltsamen Knacken von Holz ganz in ihrer Nähe. Hitze schlug ihnen wie eine Peitsche in den Rücken, als Smaug ein weiteres Mal in den Sinkflug ging und die Stadt mit einem erneuten Wall aus Flammen zeichnete. Funken und Hitze folgten ihnen gefährlich. Alle blickten zurück und sahen nicht, was vor ihnen war.

,,Achtung!“ Ihr Boot wurde gerammt. Der Schlag im Holz war so heftig, dass sie nach vorn geworfen wurden. Die Mädchen kreischten, als sie kippten.

,,Haltet euch fest!“ Reflexartig fasste Kili nach der Elbe vor ihm, die gefährlich über den Rand geworfen wurde. Sie spürte seine Hand, drehte sich zu ihm um und ihre Blicke begegneten sich für einen kurzen Moment.

,,Weg da!“, blaffte jemand. Vor ihnen versuchte das um einiges größerer Boot weiter zu fahren.

Sie schauten auf und erkannten Braga, der mit gezücktem Schwert vor ihnen an der Reling stand, ein paar seiner Männer an den Rudern. Das Boot des Bürgermeisters war zu ihrem Erstaunen bergeweise beladen mit Gold und Schmuckstücken, von denen die Bürger Esgaroths nur hatten träumen können. Vom Zusammenstoß rutschte ein Teil der Güter ins Wasser und verschwand in seiner Tiefe.

,,Bewegt euch! Bewegt euch! Macht schon, schneller!“ Mit krächzend hoher Stimme trieb der Bürgermeister seine Männer an, die Not hatten das Boot wieder in Bewegung zu bringen.

Besorgt betrachtete Alfred ihre Fracht. ,,Wir sind zu schwer. Wir müssen Ballast abwerfen.“

Der Bürgermeister sah ihn an, ,,Ganz recht, Alfred“, fasste seinen Berater an der Schulter und stieß ihn über Bord. Ohne auf ihre Umgebung zu achten, versuchten seine Männer vorwärts zu kommen. Vor ihnen trieb hilflos eine alte Frau im Wasser. Es gab einen dumpfen Schlag, als der Bug ihren Kopf traf.

,,Sieh nicht hin.“ Sigrid drehte das Gesicht ihrer Schwester zu sich, um sie vor der Hitze und den Anblick der panischen und bereits toten Menschen zu schützen.

Bofur und Fili stemmten sich gegen die langen Paddel und wieder ging Smaug zum Angriff über, spie seine Flammen rachsüchtig auf die Häuser der Menschen nieder, mit der Absicht, die Stadt auf dem See für immer von den Karten auszulöschen.

~


Weit entfernt auf der anderen Seite des Langen Sees hörten die Gefährten am alten Aussichtsposten am Rabenberg versammelt die Glocke. Unaufhörlich schlug sie zwischen dickem, aufsteigendem Qualm weiter, als würde sie nicht aufgeben, nach Hilfe zu rufen. Mit jedem weiteren Schlag wurde ihr Ruf flehender, die Hoffnung auf Rettung geringer. Es gab niemanden, der sie retten konnte.

Ganz Esgaroth stand in Flammen. Ein leuchtender Fleck in der Ferne.

,,Arme Menschen“, brach Balin traurig die Stille, als er es nicht mehr für sich behalten konnte.

Nori drückte Oris Schulter, der vor sich hin starrend an der Mauer gelehnt hockte. Alle hörten die Glockenschläge, deren Ruf nach Hilfe zu einem Lied der Klage wurde. Keiner sprach es aus, doch alle wussten darüber Bescheid: Bofur, Oin und die Jungs waren dort unten.

Bilbo musste den Blick von der brennenden Stadt abwenden. Tief betroffen sah er über die schneebesprenkelten Ruinen Dales, die verlassen und still im Tal neben ihnen lagen.

Die Katastrophe von damals musste wahrscheinlich ganz ähnlich gewesen sein. Bei ihrem Weg zur Geheimen Tür waren sie selbst nicht innerhalb ihrer Mauern gewesen und so konnte er nur erahnen, was für grässliche Bilder sie in der toten Stadt heut noch finden würden. Er wollte es sich nicht ausmalen, doch wenn man ganz genau lauschte, konnte man Schreie inmitten von Drachenfeuer vernehmen.

Nun war so eine Katastrophe abermals passiert. Und diesmal trugen sie die Schuld.

Er wusste, dass sie es gewesen waren, die den Zorn des Drachen geweckt hatten. Sie hatten hunderte Menschenleben auf dem Gewissen.

Der rosige Schein der Dämmerung, die langsam die Umgebung in ein immer heller werdendes Grau tauchte, kroch über die Kuppen der Bergausläufer. In wenigen Stunden würde Esgaroth ebenfalls eine Ruine wie diese sein.

Er stieß einen stillen Seufzer aus. Was haben wir bloß getan?

Als er sich umdrehte, bemerkte er Thorin. Allein stand er unterhalb von ihnen, jedoch in die entgegengesetzte Richtung gewandt. Sein Blick war hinüber zum Haupttor gerichtet, das am Fuße des Gipfels lag. Teilnahmslos stand er dort unten. Ein dunkler, unerschütterlicher Fels in der Landschaft.

Bilbo folgte ihm hinab zum Tor, richtete die Augen dann wieder auf ihren Anführer. Was mochte bloß in seinem Kopf vorgehen?

 

~

 

Das schwarze Wasser war nicht länger schwarz. Auf seiner unruhigen Oberfläche spiegelten sich die Flammen wieder, als stünde es selbst in Brand. Rasend schnell fraß sich das Feuer durch die Häuserreihen, einem hungrigen, lebendigen Wesen gleich. Wilde Funkenstürme wurden durch die Luft getrieben, unter denen ihr Boot hindurch glitt. Die Hitze der lichterloh brennenden Gebäude zu ihren beiden Seiten drückte schmerzhaft auf ihre Körper, als auf einmal das Schlagen der Glocke verstummte.

Bain schaute zum Glockenturm. ,,Vater…“ Ungläubig folgten die Blicke seinem.

Eine Silhouette hob sich dort oben vor der grellen Luft ab.

,,Vater!!“, schrie nun auch Tilda.

Es war tatsächlich Bard. Er stand in der Turmspitze, in den Händen einen zum Anschlag gespannten Langbogen. Er schoss auf Smaug, der dicht über den Dächern seine Bahnen zog.

,,Getroffen!“, rief Kili. ,,Er hat den Drachen getroffen!“

,,Nein“, erwiderte Tauriel kühl, konnte ihre Augen nicht von dem Mann abwenden.

,,Doch, er hat ihn getroffen. Ich hab’s geseh’n.“

 ,,Seine Pfeile können seinen Panzer nicht durchdringen. Nichts kann das.“

Bain schaute wieder zum Glockenturm, zu seinem Vater, an dem sie bereits vorbei waren. Neben ihnen eröffnete sich ein Kanal und er entdeckte eine Statue. Sie zeigte den Bürgermeister, schlank und mit noch vollem Haupthaar, als es der Stadt noch gut ging. Damals, vor seiner Geburt hatten andere Zeiten geherrscht, hatte ihm sein Vater oft erzählt.

Und genau dort hatte er den Schwarzen Pfeil versteckt.

Über ihnen tauchte ein Haken an Seilen und Flaschenzügen auf. Bain überlegte nicht lange. Er stand auf, streckte sich zu diesem empor und hing sich daran.

,,Was machst du denn?!“ Bofur wollte den Jungen fassen, doch der Balken schwang herum und hievte ihn auf den nahen Anleger. ,,Bain! Komm zurück!“ Doch dieser hörte nicht auf ihre Rufe, sondern rannte los und verschwand zwischen Rauchschwaden.

,,Lasst ihn! Wir können nicht umkehren“, warnte Tauriel.
,,Baain!“, rief Tilda ihm nach, wurde von ihrer Schwester festgehalten. ,,Wo läuft er hin? Er darf nicht gehen. Er darf uns nicht allein lassen.“

,,Er kommt zurück, ganz bestimmt kommt er zurück, so wie Papa. Wir werden sie wiedersehen, Tilda, ganz bestimmt…“, redete sie ihr ein. ,,Alles wird wieder gut…“

Das Feuer nahm die ganze Stadt erbarmungslos ein, doch ihr kleines Boot erreichte heil die äußersten Häuser. Vor ihnen eröffnete sich der See.

,,Bain, er ist auf dem Turm!“ Sofort fuhren alle herum und folgten Kilis Fingerzeig. Sie konnten gerade noch verfolgen, wie Smaug den Turm streifte. Krachend wurde dessen oberer Teil von seinem Flügel zerschmettert. In den Augen der Mädchen sammelten sich Tränen. Alle hielten den Atem an, versuchten in der flimmernden Luft etwas zu erkennen.

Währenddessen flog Smaug einen engen Bogen und landete. Häuser brachen unter seinem Gewicht zusammen. Holz auf Holz wurde zermalmt. ,,Wer bisst du, dass du es wagst miir die Stirn zu bieten?“ Jedes zu diesem Zeitpunkt noch schlagende Herz machte bei der Stimme des Drachen einen Aussetzer. Er musste Bard zwischen den schiefen und zerfetzten Resten des Dachstuhls gemeint haben. Er war also noch am Leben.

,,Ohh, was für ein Jammer…Was wirst du nun tun, Bogenschützze?“, betitelte er ihn verachtend. ,,Du bist verlassen. Hilfe wird keine kommen.“ Siegessicher bewegte er sich auf ihn zu, ging über die Flammen, setzte seine Läufe in die Glutnester einstiger Häuser. Feuer konnte ihm nichts.

Als würde ihn der Anblick, der vor ihm lag, erfreuen, erklang ein Grummeln aus seiner Kehle. ,,Mhh, ist das dein Kind? Du kannst ihn nicht vor dem Feuer retten… Er wird brennen.“

Von Sigrid hörte man ein ungehaltenes Schluchzen, bevor sie sich die Hand vor dem Mund schlagen konnte. Sie waren unfähig einfach weiter zu rudern und dem Mann seinem Schicksal zu überlassen, der es gewagt hatte, den Zorn der Bestie auf sich zu nehmen. Sie trieben auf dem Wasser, wurden von den Armen der Strömung weiter hinaus getragen und konnten ein jeder ihre Augen nicht von dem kümmerlichen Rest des Glockenturmes abwenden, auch wenn hochschlagende Flammen ihn immer wieder verbargen.

Auf einmal entstand zwischen jenen Flammen Bewegung. Zwei unterschiedlich große Silhouetten durchbrachen die flimmernde Luft und zwischen ihnen ein langer Strich, für das normale Auge kaum wahrzunehmen. Doch Tauriel sah ihn. Ihre Augen wurden groß und achtsam, denn sie erkannte diese typisch gedrehte Spitze wieder. Sie hatte Bilder gesehen, darüber gelesen. Ein Schwarzer Pfeil.

,,Was tun sie?“

 ,,Sie haben einen Schwarzen Pfeil.“

,,Sag mir…Wiccht“, erklang erneut die Stimme des Drachen, ,,wie könnte einer wie duu mir gefährlich werden?... Dir ist nichts geblieben, außer deinem Tood!“ Smaug riss das Maul auf und stürzte sich in ihre Richtung. Und Zeit hörte auf zu existieren.

,,Worauf wartet er denn?!“

,,Schieß…Schieß…“, presste Kili durch die Zähne hervor. ,,Schieß doch…“

Doch er schoss nicht.

Sekunden wurden unendlich.

Der weit geöffnete Rachen der hasserfüllten Bestie verlor immer mehr an Distanz, um den Rebellen der letzten Stunde Esgaroths aus den Gedächtnissen aller zu rauben. Auch diese Kinder würden ihren Vater nun sterben sehen. Der unbedeutend wirkende Funken, der es gewagt hatte, aus den Kohlen zu springen, würde erlöschen.

Dann auf einmal geschah es. Bards Finger ließen los.

Smaug geriet ins Straucheln, stieß einen langen, fauchenden Schrei aus. Der Glockenturm wurde von seinem fallenden Leib getroffen, was die letzten Träger brechen ließ. Er kippte und verschwand inmitten von Feuer und Wasser. Smaug schlitterte über die Häuser, zermalmte auch den letzten Rest der Stadt. Noch einmal schaffte er es sich in die Lüfte zu erheben, stieg mit kraftraubenden Flügelschlägen in die Höhe. Verzweifelt krallten sich die Vorderläufe in die dünne Luft. Sein markerschütternder Schrei schallte über den ganzen See. Rau und schmerzerfüllt.

Der Schwarze Pfeil hatte sein Ziel gefunden.

Die Flügelschläge erstarben in der Luft. Das Glühen wich aus seinen Augen und wurde zusammen mit seiner Seele vom Winterwind davon getragen. Langsam begann der gewaltige Körper zu sinken, immer schneller, unaufhaltsam einem Bett aus Flammen entgegen.

 

~

 

Ein Donnern schallte bis ins Gebirge hoch, gefolgt von einer Erschütterung, die tief durch den Felsboden ging. ,,Was war das? Was ist passiert?“ Ori stand auf und richtete wie alle den Blick zum qualmverhangenen See.

,,Er ist abgestürzt, ich hab’s geseh‘n“, murmelte Bilbo und suchte den Himmel ab. Nein, seine Augen hatten ihn nicht getäuscht. Der Drache war vom Himmel verschwunden. Er war abgestürzt.

Doch das konnte nur eines bedeuten…aber, das war unmöglich…

 Zuerst sträubte er sich noch gegen diesen neuen Hoffnungsschimmer. In seinem Herzen wurde er jedoch immer deutlicher. Immer wahrer. ,,Er ist tot“, wisperte Bilbo, drehte sich zu den Zwergen um. ,,Smaug ist tot.“

,,Bei meinem Barte… ich glaube, er hat recht. Seht doch!“ Gloin zeigte in den Himmel und näherkommendes Gekrächze ertönte. ,,Die Raben Erebors kehren zum Berg zurück!“

Er hatte recht. Dutzende Vögel flogen über sie hinweg, zogen lautstark Kreise über die zerklüfteten Wehrruinen ihrer alten Heimat, die den eingefrorenen Wasserfall zu beiden Seiten flankierten.

,,Ja…“ Glücklich nickte Balin, betrachtete die zurückgekehrten Vögel aus alter Zeit. ,,Die Nachricht wird sich verbreiten. Nicht mehr lange, dann weiß es jeder in ganz Mittelerde: der Drache ist tot!“

Mit diesen Worten fiel die Anspannung der letzten Tage von ihnen ab. Was übrig blieb, war Freude und Erleichterung. Auch Bilbo tat es den anderen gleich, reckte wie sie die Fäuste in die Luft und wurde in ihre Runde aufgenommen. Während die Raben um den Turm hinter ihnen ihre Kreise zogen, lagen sich die Männer in den Armen. Ihr Jubel kannte in diesem Augenblick keine Grenzen, keine Sorgen und keine Trauer. Nur die Erleichterung ihrer vollbrachten Aufgabe.

 

~

 

Zwar hörte Thorin die anderen hinter sich, doch er beteiligte sich nicht an ihrem ausgelassenen Jubel. Stattdessen nahm er einen tiefen Atemzug, sog den süßen Triumph des Sieges ein und spürte mit ihm dieses Gefühl der Macht wieder in seinem Brustkorb aufflammen. Stärker als zuvor.

Der Drache war Geschichte. Nun würde seine von neuem beginnen.

Er begann, die verwinkelten Stufen zwischen schneebedecktem Fels hinabzusteigen.

Seiner Zukunft entgegen.

2

 

Splitter knirschten unter seinen Stiefeln, als er die Brücke erreichte, die über den Graben vor dem Tor führte. Mit angehaltenem Atem passierte Thorin den Durchbruch in den Berg, folgte seinem vorangehenden Schatten, der von dem allmählich heller werdenden Licht in die Halle geworfen wurde. Seine Schritte wurden langsamer, bis er schließlich zwischen Gesteinsbrocken und Schutt stehen blieb. Zu seinen Seiten standen zwei Paare steinerner Zwerge. Eine Statue lag gebrochen am Boden. Einst standen sie jedem Ankömmling Spalier. Doch er und sein Schatten waren die einzigen hier und für einen Moment fühlte er entrückende Einsamkeit.

Vor ihm erstreckten sich die Eingangshallen Erebors mit ihrer einschüchternden Macht, jeden durch ihre Gewaltigkeit Ehrfurcht spüren zu lassen. Thorin schloss die Augen, konzentrierte sich einzig auf das Sein in diesem Moment. Stille umgab ihn gespenstisch, so intensiv, dass er seinen eigenen Atem hören, das stete Schlagen seines Herzens spüren konnte. Er erinnerte sich, wie die Versorgungstrecks durch das Tor gefahren kamen, die Osthalle hinab, wo die Wagen voll Brennholz und allen erdenklichen Gütern, die den Berg und seine Bewohner nützlich waren und ernährten, mit den Winden in die Kornspeicher und Vorratskammern hinab gezogen wurden. Oder wie Wagen von Händlern, beladen mit Edelsteinen und Metallgütern, die in den fernen Städten verkauft werden sollten, aus dem Tor hinaus fuhren. Hier hatte ein reges Kommen und Gehen geherrscht. Diese Hallen waren Ankunftsort für Jedermann gewesen. Und auch Thorin fühlte sich nun endlich angekommen.

Links von ihm befanden sich die Wachstuben, wo Hauptmänner und Ausbilder ihre Schreibstuben gehabt hatten. Er drehte sich um und blickte hoch zum Wehrgang hinauf, der oberhalb des Tores lag, von dem selbst nichts mehr übrig geblieben war. Die komplette Rückseite des Ganges mit seinen Säulen fehlte, sodass Thorin durch das riesige Loch in den ergrauenden Himmel schaute. Dort oben hatten Soldaten bei Wind und Wetter Wache gestanden. Der tragende Fels war stark angeschlagen, durch den meterbreiten Durchbruch gespalten. An manchen Stellen durchzogen immer noch dunkle Risse das Gestein. Trotz seiner Dicke und Härte hatte es den Kräften des Drachen nicht standhalten können.

Sein Blick fiel auf eine riesige, goldene Glocke und ließ ihn näher treten.

Die aus reinem Gold gegossene Glocke von Thjalfar, der Vater von Thror und zu seiner Zeit König unter dem Berge, zeigte stolz stehende Zwerge mit ruhenden Äxten vor sich, jene seine drei Söhne symbolisierten. Hoch oben im Giebel der Südhalle hatte sie ihren Platz gehabt, doch die Träger waren bei dem Angriff des Drachen an jenem schicksalhaften Morgen gebrochen, sodass sie ihr Dasein über Jahre zwischen ebenso großen Gesteinsstücken, Schutt und Staub gefristet hatte.

Beim Nähertreten zeichnete sich sein Spiegelbild auf dem Metall ab. Seine Hand streckte sich danach aus, legte sich auf das kalte, glatte Edelmetall, ihr tonnenschweres Gewicht spürend. Während er auf das Machtvolle in sich horchte, dass er wieder deutlich spürte, dachte Thorin über dieses neuartige Gefühl nach. War es bloß der Stolz, den er fühlte? Oder war es etwas ganz anderes? Würde er es eine Farbe geben, so würde er Dunkel sagen…so wie sein Abbild vor sich. Die von dem ausgesetzten Wind gemachte Kälte des Goldes kroch tief in seine Haut…und das Dunkel wandelte sich in Finsternis.

Thorin riss die Augen auf, wollte zurück weichen, doch er konnte sich nicht mehr rühren, als sich sein Spiegelbild zu ändern begann. Bronzefarbene Schuppen traten hervor, scharfe Wangenkochen von riesigen Ausmaßen, Stacheln an Schläfen… Die Gestalt wandte sich ihm zu und fixierte ihn mit einem großen, orangefarbenen Auge, das einem Reptil glich. Der Kopf eines Drachen.

,,Willkommen zurück, Eure Majestät. Ich habe Euch erwartet...“

Er taumelte zurück, starrte auf die Stelle, wo ihn soeben noch Smaug begegnet war.

Intuitiv sah Thorin hinter sich, doch wie zu erwarten war da nichts.

Die Bestie war tot. Das, was er gesehen hatte oder sich einbildete, gesehen zu haben, existierte nur in seinem Kopf. Es war bloß eine Reaktion seines Körpers auf den Schlafentzug und der völligen Erschöpfung.

Diese Gedanken versuchend von sich zuschieben und einem Fluch auf den Lippen, wandte er sich ab, nicht ohne noch einmal einen Blick auf das Gold zu werfen.

In Grabesstille getaucht schritt er die Hallen entlang, überquerte ein Schlachtfeld aus Asche.

Zwischen grauem Schmutz und geschmolzenem Metall einstiger Rüstungen, was sich teilweise wie verlaufenes Wachs ausgebreitet hatte, lagen vereinzelt noch deformierte, schwarze Knochen, welche nicht sofort vom Drachenfeuer zu Asche geworden waren. Thorin konnte kaum den Blick abwenden. Meist waren es die Schädel, die noch etwa als solche zu erkennen waren. Hier hatten so viele von ihnen ihren Tod gefunden. Grausame Bilder, unbeschreiblich für jeden, der nicht dabei gewesen war, hatten sich hier abgespielt, befremdlich und furchteinflößend. Wie ein immer wiederkehrender Geist existierten sie und ihre Schatten noch in seinem Gedächtnis.

Plötzlich trat er auf etwas anderes als den harten Fußboden. Der schwarzhaarige Zwerg blieb verwundert stehen und nahm seinen Fuß von dem Stofffetzen runter. Als er ihn hoch hob, rieselten Staub und Asche ab. Blaue Farbe wurde erkennbar. Thorin schüttelte die Fahne einmal kräftig und stand im nächsten Augenblick in einer grauen Wolke. Er wedelte mit der Hand in der Luft und entdeckte das goldene Rabenpaar in seinen Händen, welches Rücken an Rücken stand, die Hälse gekrümmt, die großen Krallen furchtlos erhoben. Das Wappen seines Landes hatte das Feuer überstanden. Thorin blickte die weiten Hallen entlang, die durch das hereinströmende, rötliche Morgenlicht immer heller wurden. Kein Drachenfeuer hatte den Wänden aus Stein schaden können. Zwar waren manche Säulen schwarz gefärbt, doch das war bloß Ruß. Dort, wo er stand, war die Asche vom Wind der Jahre verweht worden. Ruß könnte man wegwischen, wie Asche und Staub. Die mächtigen Säulen aber, die den Anschein machten, den Berg zu halten, wurden für die Ewigkeit erbaut.

Weitere Leben würden vergehen. Erebor hingegen würde ewig währen.

Jegliche Regungen fielen aus seinem Gesicht, als er die Osthalle hinabsah. Wie von selbst setzten sich seine Beine in Bewegung. Er wurde dorthin angezogen. Nicht von Magie, sondern von Erinnerungen getrieben.

Mit der Fahne in der Hand schritt er zwischen Säulenpaaren hindurch. Er wusste nicht, was er zu finden erhoffte, wollte insgeheim nichts finden. Er wollte bloß diesen Ort in sich wahren. Sein Blick wanderte in die Höhe, blieb bei der ersten Empore hängen. Dort oben hatte er gestanden... Damals als seine Welt unterging.

Irgendwann stoppten seine Beine mitten in der Halle, als wüssten sie es ganz genau.

Und alles was er fand war Asche.

Für ihn hatte es keine Hilfe mehr gegeben. Man hatte ihn nicht retten gekonnt.

Von seinen Gefühlen geleitet sprach Thorin ganz leise und nur für sich selbst seinen Namen. Es war der Name eines Helden, der fortan für Selbstlosigkeit und bedingungslose Liebe gestanden hatte.

,,Frerin…“ Seine Kehle verengte sich schmerzhaft, als plötzlich lang aufgehaltene Tränen in seinen Augen aufstiegen. Er kniff sie zusammen, hielt den Stoff in seinen Händen fest umklammert, um sie auch weiterhin zurückzuhalten. Doch er brach an seinen Gefühlen.

Langsam sank Thorin auf die Knie und ließ seine Trauer zu.

Wenn er die Halle hinab sah, tauchte durch seine schwimmenden Augen ein Hang mit grünem Gras auf. Er hörte es leise im Wind knistern. Der Geruch nach Sommer lag in der Luft. Weiter unten erstreckten sich Geröllfelder. Ein kleiner Wasserfall fiel an Felsen hinunter. Und davor sah Thorin seinen Bruder, bekleidet mit einem Kettenhemd und seinem Schwert in den Händen. Er wirbelte den Stahl herum, vollzog Scheinangriffe in der Luft, drehte sich um die eigene Achse. Sein geübtes Handgelenk ließ die Klinge bewegungsreich sein, ließ sie für die letzten Streiche durch die Luft wirbeln. Dann drehte er sich zu ihm um, als habe er seine Anwesenheit erst jetzt bemerkt. Seine halblangen Haare wehten im Wind und ihm ins Gesicht. Das herausfordernde Grinsen wurde von einem noch lichten Bart umschlossen. Frerin hob die Hand zum Gruß und wie Nebel in der Sonne verloren die kostbaren Bilder langsam an Farbe, ehe sie sich auflösten.

Sein Bruder hatte ebenso mutig und furchtlos wie waghalsig gekämpft. Unzählige Male hatte Thorin ihn in den Übungskämpfen, an ihrem Übungsplatz in den Berghängen zu Boden gebracht, ehe er anfing zu lernen. Er hatte viel gelernt, hatte sein Leben in vollen Zügen genossen. Das Kampfblut lag in jedem Zwerg, in den Söhnen Durins, doch in Frerin schlug auch das Herz Durins, als er sein Leben für das seiner Schwester gegeben hatte.

Thorin sah auf den breiten Ring an seinem Daumen, den er einst von Dis geschenkt bekommen hatte, strich mit dem Zeigefinger über das schwarze Muster im Metall, als würde er etwas Reelles von ihr bei sich tragen. Thorin presste den Stoff an seine Lippen, erwies seinem Bruder die letzte Ehre und legte das Wappen seines Hauses nieder. Dann erhob er sich, streckte entschlossen den Rücken durch  und verließ diesen Ort.

Am Übergang in die nächste Halle stieg er ein Treppenhaus hinauf, um den weiten Weg zu seinem nächsten Ziel anzustreben. Verlaufen würde er sich nicht. Er war zuhause.

                                                                                
Seine Fingerspitzen strichen über die Fäden des Wandteppichs, zogen dunklere Spuren durch die Staubschicht, die auf allem und überall haftete. Für all das hatte er gekämpft. Für sein Volk und seine Familie. Er hatte den Traum seines Großvaters von einem freien Erebor nie aufgegeben. Heute Nacht war er für ihn in Erfüllung gegangen. Es war das Ende und gleichzeitig der Anfang. Er hatte gesiegt und in ihm herrschte eine Ruhe, wie schon lange nicht mehr.

Wie ein Traumwandler stieg er die imposante Treppe im Vorsaal hinauf. Der rote Teppich wurde von einem grünen abgelöst, der ihn bis nach oben begleitete. Ohne brennende Lampen war es dunkel auf dem Flur, doch Thorin war bereits viele Male in seinen Träumen hier gewesen.

Er öffnete die Eichentür mit den schwarzen, eisernen Beschlägen und blendende Helligkeit strömte ihm entgegen. Er kniff die Augen zu, die sich erst wieder an das plötzliche Tageslicht gewöhnen mussten. Die im Raum herrschende Kälte biss an seinem Gesicht. Die grünen, schweren Vorhänge wurden leicht vom morgendlichen Wind bewegt. Mit weiten Schritten durchmaß er den Raum, schloss die offenstehende Balkontür und schob mit dem Fuß den Vorleger aus zotteligem Fell davor, als hätte er sie am Morgen erst vergessen zuzumachen. Doch der Schnee und die Nässe, die sich auf dem Boden ausgebreitet hatten, holten ihn in die Realität zurück.

Es waren Jahre vergangen, seit er zum Frühstück das Gemach verlassen hatte.

Erst jetzt nahm er den Raum um sich herum richtig wahr und schaute sich um. Es war alles noch so, wie er es an jenem Morgen verlassen hatte. Alles stand an seinem Platz. Die Möbel aus edel gearbeitetem, dunklem Holz, das Bett und der Schreibtisch, der Kleiderschrank, die Teppiche auf den grauen Gesteinsboden. Die vielen Sachen und Gegenstände, die seine Augen überflogen. Als wäre es ein einziges Gemälde, sah er sich alles in dem Gemach an, welches einst, vor vielen Jahren seines gewesen war.

Thorin wandelte durch den Raum und Bilder seiner Kindheit und sorgloser Zeiten strömten auf ihn ein. Er betrachtete sein Bett, in dem er seine Nächte verbracht hatte, erinnerte sich an die Male, wie Dis als kleines Kind bei Gewitter zu ihm unter die Decke gekrochen kam und wie sie zusammen dem Donner und dem Regen gelauscht hatten, der vom Wind an die Fenster gepeitscht wurde…und an die vielen Male, bei denen er sein Bett mit Sladnik geteilt hatte…

Wie eine glühende Klinge durchbrach es seinen Geist und hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Es war das erste Mal seit langem, dass er an sie denken musste. Wieso gerade jetzt? All ihre Sachen hatte er nach ihrem Streit aus seinem Gemach bringen lassen. Warum war der Gedanke an die Zwergin dann so plötzlich wieder da?

In der Hoffnung, sich so auch von den unerwarteten Erinnerungen an sie entfernen zu können, trat er davon fort und erblickte im Umdrehen erneut sein Spiegelbild. Die unschöne Begegnung von vorhin ließ ihn den Spiegel misstrauisch mustern, doch es war nur ein gewöhnlicher Spiegel in einer Schranktür, der ihm darlegte, in welch einer Verfassung er war.

Die Blässe und die Augenringe waren stumme Proteste nach Schlaf. Oh ja, am liebsten würde er sich in sein Bett legen und bis zum nächsten Tag durchschlafen – doch das konnte er nicht. Noch nicht.

Thorin sah an sich hinab. Die zu große Kleidung; das dunkelblaue Hemd, darunter das rote… Die Kleidung eines armen Fischers.

Er war nicht mehr der Schmied, der verhöhnte Erbe einer ausgelöschten Familie. Er musste sich nicht länger verstecken. Nun konnte er der König sein, der er immer hätte sein sollen. Endlich hatte er den rechtmäßigen Anspruch auf das seine, was ihm mit der Geburt und dem Blut in seinen Adern gegeben wurde. Und niemand würde ihn den je wieder nehmen können.

Energisch trat sich der Zwerg die Stiefel von den Hacken und warf seine alten Sachen von sich. Wie eine zweite Haut legte sich die kalte Luft des Raumes über seinen halbnackten Körper, als er die großen Schranktüren öffnete. All diese Sachen waren seine. Diese, vor ein paar Tagen noch unglaubwürdige Erkenntnis, ließ ihn unweigerlich schmunzeln. Bis seine Augen auf etwas Silbernes stießen. Verwundert holte er es hervor. Es war ein Kettenhemd. Um es sich genauer anzusehen, breitete er es aus,. Unglaublich leicht war das Metall, gefertigt aus winzigen Kettenringen aus Silberstahl. Die Fertigung eines solchen Stückes war eine uralte Tradition, die heutige Schmiede nur noch selten zu können vermochten. An Kragen und Ärmeln zierte es ein feiner, goldiger Saum.

Er erinnerte sich, daran, dass es ihm zu groß gewesen war, als er es bekommen hatte. ,,Nur Geduld, du wirst hineinwachsen“, hörte er seine Mutter tadeln. Und das war er auch.

Durch Kampf und Arbeit waren seine Schultern jedoch noch breiter geworden. Es würde niemals mehr passen. Thorin belächelte es und hing es an seinen Platz zurück. Stattdessen zog er sich eine dunkle Hose und ein olivfarbenes Hemd an und beim weitern Suchen fand Thorin seine Kettenrüste.

Kleine, nachtschwarze, ineinander gewebte Kettenreihen rasselten beim Anziehen. Dann holte er die dazugehörige Jacke heraus, deren langen Ärmel aus gehärteten, fast schwarzen Stoff bestanden, und zog es über das Kettenhemd. Die Rüste war so lang, dass die beiden unteren Säume am Beginn seiner Stiefel endeten. Die Schulterpartie aus grauem, gehärtetem Leder schmiegte sich spielend leicht um diese. Obwohl er nie wirklich die Gelegenheit gehabt hatte, sie zu tragen, passte sie nun perfekt, als wäre er vor langer Zeit schon als ihr alleiniger Herr bestimmt worden. Auch nahm er sich einen neuen Gürtel, den er um die Ketten, unter die Jacke legte. Auf dessen großer Schnalle war das Rabenpaar ihres Wappens zu sehen.

Thorin klappte die Schranktür zu und stand erneut seinem Spiegelbild gegenüber. Doch es war anders als zuvor. Er hatte sich verändert. Allein die Stiefel waren seine alten. Vielleicht würde er auch ein Paar neue finden. Nun stand nicht mehr der Zwerg in Menschenkleidung vor ihm. Der Fischgeruch, der daran immer noch gehaftet hatte, war verschwunden sowie ein Teil seines alten Lebens. Sein neues würde jedoch nicht hier seinen Mittelpunkt finden.

Thorin zog es noch woanders hin und so verließ er sein altes Gemach.

Sein Weg führte ihn zurück bis zur Treppe, ließ ihn sie hinauf steigen und ihn die Rüste spüren. Schon bald würde er das ungewohnte Gewicht kaum mehr wahrnehmen. Eine Ebene höher gelangte er in einen kleinen Flur an dessen Ende sich eine Tür befand, wie jede mit schwarzen Beschlägen, größer und eindrucksvoller jedoch. Thorin öffnete sie und trat durch die kleine Diele, bis der Raum sich ganz öffnete. Alles war so wie in seinen frühsten Erinnerungen.

Links lag die Tür zum Waschraum. Vor ihm war der Kamin, groß genug um den ganzen Raum auch im Winter mit seiner Wärme zu speisen. Davor befanden sich um einen kleinen Tisch Sitzgelegenheiten aus rotem Stoff. Hier oben herrschte weniger Staub vor. Es fühlte sich nicht so an, als waren Jahre vergangen. Es war, als könnte Thror gleich durch die nächste Tür kommen, ihn begrüßen und nach einem Zimmermädchen rufen lassen, um ihnen etwas zu trinken zu bringen. Als Thorin zum Sessel sah, sah er den alten Zwerg mit dem prächtigen eisengrauen Bart auf seinem Platz sitzen. Er roch den würzigen Tabak seiner Pfeife und hörte seine warme Stimme, als er seinen Enkeln, die zu seinen Füßen auf dem riesigen Bärenfellteppich saßen und seinen Geschichten gelauscht hatten, nach ihrem unnachgiebigem Betteln die nächste erzählte. Damals als sie noch Kinder gewesen waren…bevor Thror sich verändert hatte.

Betrübt über dieses Kapitel seiner Vergangenheit drehte Thorin sich zur anderen Raumseite. In einer von der Eingangsdiele geschaffenen Vertiefung des reich ausgestatteten Raumes, stand der Schreibtisch des Königs, gefertigt aus schwerem Holz. Er fand seinen Mantel über der Stuhllehne gelegt, nahm den dunklen Stoff und schlüpfte hinein. Bis zum Boden reichte der Saum, der aus dunkelbraunem Wolfsfell war, wie auch Ärmel und Kragen. Sein Erbe schlang ihn sich enger um den Leib, bevor er sich auf den Stuhl des Königs niederließ. Andächtig fuhr er mit der Hand die lange Tischkante nach. Kleine Edelsteine; rote Amethysten, Rosenquarze und blaue Kyaniten lagen vor ihm, dazu eine Augenlupe und stapelweise Papiere und Notizzettel, ein eingetrocknetes Tintenfässchen, Schreibfedern. Viele Schriften waren im vertrauten Khuzdul verfasst, wenige andere in der Gemeinen Zunge. Thorin lehnte sich zurück und hatte freien Blick auf das prächtige Hirschgeweih über dem Kamin. Der dichte Kragen schmiegte sich weich wie Flaum in seinen Nacken und an den Schultern und ließ ihn für einen Moment erneut  Erschöpfung spüren. Rechts grenzte das Schlafgemach an. Durch weit geöffnete Flügeltüren konnte er das große Himmelbett sehen, welches von bodentiefen Fenstern im Kopfende umrahmt wurde. Als Thorin an künftige Nächte dachte, die er hier mit Marie verbringen würde, verspürte er abermals das süße Kribbeln in seinem Bauch. Die Sehnsucht nach ihr schien wieder an seinem Herz zu ziehen und einmal mehr wurde ihm bewusst, wie sehr er sie vermisste. Wie sehr er sie liebte. Er sehnte sich nach der Wärme ihres Körpers, nach ihren grünen Augen, derer er verfallen war.  Schon bald würde er hier mit ihr wohnen. Dies waren die Gemächer des Königs und bald auch ihr neues Heim. Mit dieser Vorstellung versuchte er, die Sehnsucht ein wenig zu mildern. Alles würde er mit ihr teilen und sie mit Reichtum und Ansehen belohnen.

In ihm herrschte bereits die ganze Zeit über dieses Gefühl der Macht, doch bei dem aufkeimenden Gedanken, dass nun alles im Erebor ihm gehörte, intensivierte es sich schlagartig und fühlte sich gut an. Der Schmerz der Sehnsucht verschwand. Statt dem Kribbeln in seinem Bauch ballte sich ein Schatten in seiner… Ein Pochen ließ ihn aufhorchen. Etwas klopfte hart gegen das Glas im Schlafgemach. Verwundert stand Thorin auf und ging zur Balkontür neben dem Bett. Die Angeln quietschten und etwas Schwarzes sprang bei dem Geräusch zurück. Im nächsten Moment saß ein Rabe vor ihm auf dem Balkongeländer.

Aus klugen Kohleaugen schaute ihn das pechschwarze Tier an. ,,Krah! Bard Drachentöter! Bard Drachentöter!“

Von hier oben hatte man einen atemberaubenden Blick über die Landschaft, die von dem Schein der Dämmerung rot gefärbt wurde. Meilenweit erstreckte sich Gebirge. Morgendlicher Nebel lag noch über den Fels- und Geröllhängen. Ein Fluss glitzerte in der Ferne. Der Zarâm-sijrevas schimmerte wie Blut vom rötlichen Himmel, auf den man von hier blicken konnte.

Der Rabe stieß ein Krächzen aus, breitete die Flügel aus. ,,Berg hat König wieder!“ Er stieß sich vom Geländer ab, stürzte sich in die Tiefe, ehe die Lüfte ihn trugen und er mit den Flügel schlug.

,,Berg hat König wieder!“, hörte Thorin ihn noch fern verkünden und legte die Hände auf dem glattgemeißelten, schneebedeckten Stein der Balustrade ab, schaute über sein Land, über dem das Licht der Morgensonne sich ausgebreitet hatte.

Ein neuer Tag war angebrochen. Bald würde der Staub verschwunden sein und Erebor würde im neuen Glanz erstrahlen, heller und prächtiger als zuvor. Die Hallen würden wieder gefüllt mit Stimmen sein, die Lampen brennen.

Eine neue Ära war angebrochen, als die Prophezeiung ihre Erfüllung gefunden hatte.

Kalte Winde fuhren ihm durchs Haar, als Thorin an das Gold im Inneren des Berges dachte.

 

~

 

Mit dem Licht des neuen Tages wurde das Ausmaß an Not und Leid der Nacht sichtbar. Die Überlebenden hatten sich ans nahe Ufer gerettet. Menschen schrien in dem panischen Durcheinander um Hilfe, versuchten, aus dem kalten Wasser zu kommen. Jeder wollte sich in erster Linie selbst retten. Die, die sich untereinander halfen, bargen Sachen und Verletzte.

Unter Schock stehende und Tote lagen zwischen Schutt und Holz am steinigen Ufer. Ganze Häuserteile waren mit ihnen an Land gespült worden, während über dem dunstverhangenen See dicke Rauchschwaden von den immer noch schwelenden Stadtresten aufstiegen.

Kili schreckte zurück, als etwas seinen Fuß berührte. Das aufgedunsene Gesicht einer in der Brandung liegenden Leiche starrte ihn an. Er trat einen Schritt zur Seite, konnte nicht aufhören, den Blick durch die Masse an Menschen schweifen zu lassen. Überall riefen sie nach Hilfe, suchten Angehörige oder hielten ihre leblosen, grauen Körper in den Armen.

Eine ganz in Schwarz gekleidete, kleine Gestalt krabbelte zitternd und Wasser schluckend an Land. ,,Hilfe! Hilfee!“ Jämmerlich wälzte sich Alfred im Wasser. Der Bürgermeister war nirgends zu sehen. Auch von seinen Männern, die mit ihm zusammen die gehüteten Steuern der Stadt geplündert hatten, fehlte jede Spur. Nun kämpften die einfachsten Leute um ihr Überleben. Die Atemwolken eines jeden waren in der bitterkalten, feuchten Morgenluft zu erkennen. Jeder zitterte in seinen nassen Kleidern. Schon bald würden sie erfrieren, wenn sie es nicht schaffen würden, Feuer zu machen.

,,Vater!“

Wieder ging sein Blick zu den Mädchen.

,,Vater!...Bain!“ Sigrid und Tilda riefen immer wieder, doch ihre bereits heiseren Stimmen wurden von den vielen anderen unterdrückt. ,,Vater!“, schluchzte Sigrid laut und presste sich die Hand vor die Augen. Sie rang mit sich, ihre Verzweiflung nicht zu stark werden zu lassen.

Sie müsste jetzt stark für ihre kleine Schwester sein.

Wie ihre Hüterin war Tauriel bei ihnen, um sie sicher durch die Menschen zu führen. Sie müsse ihnen helfen, zu überleben.

Als er den Bug über den Kies schaben hörte, sah der junge Zwerg hinter sich. Bofur, Oin und Fili waren bei, ihr Boot zurück ins Wasser zu schieben. Sie wollten keine Zeit verlieren zum Berg zu kommen. Wenn es ihm besser ginge, sollten sie nachkommen, hatte sein Onkel ihm gesagt. Sicher machten sie sich wegen dem Geschehenen große Sorgen. Doch auch sie hier am See wussten nicht um das Schicksal ihrer Gefährten bescheid. Was war im Berg passiert, dass der Drache Esgaroth überfallen hatte? Was war mit den anderen? Waren sie überhaupt noch am Leben?

Sie brauchten Gewissheit und dafür mussten sie nach Erebor. Unverzüglich. Bei dem Gedanken nun endlich das Land zu sehen, aus dem seine Familie stammte, fühlte Kili das erwartungsvolle Gefühl der Vorfreude in sich ausbreiten. Im nächsten Moment wurde seinem voranfliegenden Geist die Flügel gebrochen. Er sah zu Tauriel, die am Ufer stand und auf die Menschen blickte, dabei die Mädchen im Auge behielt, die weiter nach ihrem Vater und Bruder suchten…und wollte sie dennoch nicht gehen lassen.

Früher oder später würde sie wieder in ihre Welt verschwinden, in die Hallen des Waldlandreiches, zurückgezogen in diesem Wald. Und dann wäre sie unerreichbar für ihn. Kili kannte seine Gefühle für sie. Empfand sie auch irgendetwas für ihn? Er entfernte sich von seinen Gefährten und trat zu ihr, obwohl jeder Schritt an seinem Mut nagte.

Als sie ihn näher kommen hörte, drehte sie sich zu ihm.

,,Tauriel.“

,,Kili, komm jetzt!“, hörte er seinen Bruder rufen, ,,Wir brechen auf!“, doch er ignorierte ihn, schaute die Elbe an. Der Wind wehte ihm braune Strähnen ins Gesicht. Sein Magen fühlte sich wie reines Eis an, als er zu zweifeln begann.

Tauriel senkte den Blick. ,,Das sind Eure Leute. Ihr müsst weiter.“ Ihre Stimme war so kühl und distanziert, wie bei ihrer ersten Begegnung. Mit gesenktem Gesicht trat sie an ihm vorbei und ging.

Da war wieder die kalte Elbe, die so oft ihm gegenüber gestanden hatte. Warum waren Elben so? Warum war sie so? Er kannte ihr Lächeln, als sie getrennt durch dicke Gitterstäbe vor ihm gestanden und ihm von den Sternen, von der Legende ihres Volkes über diese erzählt hatte. Er wusste gar nichts über sie und war doch von der allerersten Minute an fasziniert von ihr gewesen. Was wusste sie noch alles? Was für eine Kraft besaß sie, dass sie fähig gewesen war, ihn aus der Finsternis zurück zu holen?

Nichts als Schwärze hatte ihn umgeben, hatte ihn gefangen gehalten. Er hatte sich immer weiter vom Licht entfernt, welches zuletzt nur noch ein Schimmer in der Ferne gewesen war. Zwischen all dem glühenden Schmerz war ihre Stimme gewesen, diese fremden Worte, die er nicht verstand. Sie hatte ihn gerettet, hatte ihn zurück geholt, fort vom bodenlosen Abgrund, der unter ihm gelauert hatte.

Hätte sie mich lieben können? Er sprach es in seinem Delirium, mehr ohnmächtig als wach, und doch war in jeder Silbe die reine Wahrheit gewesen. Nur schwach konnte er sich daran erinnern, dafür hörte er noch klar jedes einzelne ihrer Worte, spürte ihre Hände, die seine umschlossen hatten: Sie hat es gewagt zwischen den Welten zu wandeln…weil er ihr ein Licht gab. Sie möchte fremde Sterne sehen und sehnt sich nach einem Feuermond…

Kili fuhr herum und die Worte kamen über seine Zunge, direkt aus seinem Herzen. ,,Kommt mit mir.“

Wie erstarrt blieb sie stehen. Ihre Mund öffnete sich und in ihren Augen sah er ihre Ungläubigkeit über seine Worte und…gar so etwas wie Angst in ihnen. Wovor fürchtete sie sich? Er erinnerte sich an ihre Neugierde, sah ihren wissbegierigen Blick, als sie anmutig vor seiner Zellentür auf den Stufen saß.

Ich bin schon einmal dort gewesen. Über den Wald hinaus und hinauf in die Nacht… Ich hab gesehen, wie die Welt verschwindet und das weiße Licht der Ewigkeit die Luft erfüllt… Und langsam wurde für ihn zumindest ein Teil von ihr klarer: Tauriels Leidenschaft galt den Himmelskörpern, die unerreichbar am Firmament standen, doch auch Dinge auf Erden, die fern waren. Dinge, die außerhalb der Grenzen des Waldlandreiches lagen.

,,Kommt mit mir“, bat er abermals. ,,Ich weiß, was ich empfinde, ich habe keine Angst. Ihr gebt mir das Gefühl lebendig zu sein.“

Ihre Fassade bröckelte. Sie wandte das Gesicht ab, wollte aus der Situation fliehen. ,,Ich kann nicht“, hauchte sie, doch Kili fasste sie am Arm, damit sie sich nicht von ihm wegdrehte.

Vielleicht war Liebe einfach zu viel verlangt gewesen. Vielleicht war er auch bloß zu naiv gewesen.

Wenn es so sein wollte, dass wollte er nicht mehr an Liebe für sie denken und doch musste er es ihr sagen, bevor er sich von seinen tiefsten Gefühlen für sie lossagen konnte. Für ihn fühlte sich der Satz nicht falsch an. Er schmerzte nur unergründlich. Wenigsten einmal wollte er es ihr sagen, damit sie es wusste.

,,Tauriel…amrá lime.“

Verunsichert schaute sie ihn an. ,,Ich weiß nicht, was das bedeutet.“

Auf seinem Mund breitete sich ein sanftes Lächeln aus, wenngleich auch etwas wehmütig. ,,Ich glaube doch“, antwortete er genauso leise, schaute zu ihr hinauf, sie zu ihm hinab und Elb und Zwerg standen sich gegenüber, so nah wie nie zuvor.

Auf einmal versteifte sie sich. Sie nahm Haltung ein und sprach mit klarer Stimme: ,, Ir‘nin, Legolas. “

Hinter ihr stand der Blonde mit den Kristallaugen. Sie musste seine Anwesenheit gespürt haben. Unnachgiebig richtete Kili seine dunklen Augen auf ihn und wünschte ihn ans andere Ende der Welt. Verschnürt und in einen Sack gesteckt.

Der Elb sagte etwas auf ihrer Sprache, woraufhin sie den Zwergenprinzen mit großen Augen ansah, Traurigkeit und Bedauern in ihnen. Und Kili verstand.

Es hätte nicht funktionieren können. Von Anfang an nicht. Sie kamen aus zwei so verschiedenen und verfeindeten Welten. Der Eisblock in seinem Magen weitete sich aus, machte ihm das Atmen schwer. Wie eine penetrante Mahnung, dass er es hatte besser wissen müssen, schmerzte sein Bein wieder. Er presste den Mund aufeinander, nickte nur vage und drehte sich um. Seine Augen überflogen den grauen See. Wenn er jetzt ginge, würde er aufgeben. Doch er konnte nicht alle seinen jemals gemachten Hoffnungen so einfach den Rücken kehren, wollte nicht das Wort eines anderen akzeptieren und diese unsichtbare Verbindung zwischen ihnen kappen, ohne dafür gekämpft zu haben. Er wollte Tauriel nicht aufgeben. Irgendwann würde er sie mit sich nehmen, mit in seine Welt.

Entschlossen drehte sich Kili um, fasste in seinen Stiefel und holte seinen Runenstein heraus. Er nahm ihre Hand und legte den Talisman hinein. ,,Behaltet ihn“, raunte er, schloss ihre Hand mit seinen und hielt sie fest, ,,als ein Versprechen.“

Für einen kurzen Moment berührten sich ihre Atemwolken, verschmolzen ineinander, ehe er als Abschied den Kopf neigte, sich von ihr los riss und zum Boot hinkte, wo die anderen bereits ungeduldig warteten. Er kletterte hinein und sogleich stießen die Männer die Paddel ins unruhige Wasser. Kili schaute zurück und sah Tauriel am Ufer stehen. Eine Flamme im grauen Dunst des Morgens, die sein kostbarstes Gut in ihren Händen hielt und ihn zusammen mit seinen Erinnerungen an sich drückte.

3

 

,,Und dann war sie einfach verschwunden?“, fragte Anna nun zum wiederholten Male.

,,Wenn ich es dir doch sage…“

,,Ein ganzer Wagen samt Frau und Pony kann aber nicht so einfach verschwinden“, beharrte sie. ,,Und wenn sie wirklich eine Hexe war, wie du gesagt hast?“

Marie rollte mit den Augen und musste einen großen Schritt machen, um über den Ast zu steigen, der auf dem Weg lag. ,,Sie war freundlich. Ich bin mir sicher, dass ihre Absichten gut waren.“ ,,Hoffentlich“, meinte Anna nachdenklich und war keinesfalls beruhigt dadurch.

Die klammen Blätter raschelten, während die Frauen nebeneinander her gingen. Im Sommer spendeten die Baumkronen Schatten und Kühle. Jetzt im Winter spannte sich das kahles Geäst des Waldes über ihren Köpfen wie unzählige Fäden eines Spinnennetzes.

,,Es war unheimlich, so wie sie mich angesehen hat. Als könnten ihre Augen durch mich hindurch sehen.“ Ein Schauer huschte bei der Erinnerung an die alte Frau über ihre Haut. Sie verschränkte die Arme.

,,Dass du es bei ihr ausgehalten hast. Ich wäre schreiend davongelaufen.“

,,Glaub mir, das hätte ich am liebsten getan, als sie anfing von meinem Vater zu sprechen und…als sie dann auch noch von Thorin sprach…da überlief es mich eiskalt.“

,,Ein Schatten hat die Hand nach ihm ausgestreckt - unabwendbar“, wiederholte Anna die Worte, die Marie ihr erzählt hatte und bescherte ihr erneut eine Gänseheut. ,,Ich frage mich, was sie damit meinte.“

,,Nicht nur du.“

Die letzte Nacht war für Marie der reinste Albtraum gewesen. Sie hatte sich im Bett hin und her gewälzt und dennoch keinen Schlaf gefunden. Immer wieder hatte sie an die Worte der geheimnisvollen Alten denken müssen: Ich sehe Gold… Ich sehe einen König… Die Kette… Er ist der Träger der Lyrif-Kette… Doch die Kette kann ihren Träger nicht vor sich selbst beschützen…

Gerade dieser Satz hatte ihr keine Ruhe gelassen. Wie war es möglich, dass sie das alles durch ihre Hand gelesen hatte? Marie hatte selbst auf ihre Handfläche gestarrt und rein gar nichts gesehen. Was hatte es mit ihrer Kette auf sich? Welches Bindeglied war sie zwischen ihr und Thorin? Waren die Gefährten am Erebor angekommen? Hatten sie es bereits geschafft in den Berg zu kommen?

Fragen über Fragen häuften sich in ihrem Kopf und blieben unbeantwortet. Jede schlimmer als die andere in ihrer Bedeutung. Eines wusste sie aber: Thorin schwebte in Gefahr.

Anna versetzte sie wieder ins Hier und Jetzt zurück. ,,Wir sind da.“

Sie waren an einer kleinen Lichtung angekommen. Respektvoll verhielt sich ihre Begleiterin im Hintergrund, als Marie ihren Weg fortsetzte. Das nasse Gras durchweichte ihre Stiefel, als der graue Himmel über ihr aufriss. Sie ging zu einer Birke, unter der zwei Gräber aus Stein ihren Platz hatten. Hallo, Mam… Hallo, Pa , sagte sie in Gedanken jene Worte, die sie immer sprach, wenn sie hier war. Um ihren Händen ein wenig Beschäftigung zu geben, ging sie in die Hocke, zog die Fäustling aus und begann, ein wenig Unkraut, welches zwischen den aufeinander gestapelten Steinen hervor kam, auszureißen. ,,Es ist viel passiert“, flüsterte sie leise, wusste, dass nur sie und ihre Eltern es hören konnten. ,,So viel, dass ich es kaum in Worte fassen kann.“ Sie biss sich auf die Unterlippe, als sie den Kloß im Hals verspürte. Normalerweise kam sie hierher und sprach etwas, erzählte, was sie bewegte. Sie wollte ihnen von Thorin erzählen, dass sie ihn wiedergefunden hatte. Heute jedoch wollten die Sätze nicht aus ihr.

Zwei Jahre, nun beinahe schon drei war es her, dass sie hier diese Steine mit ihren eigenen Händen gestapelt hatte. Zuerst starb ihre Mutter, nur wenige Monate später ihr Vater. Es ging alles so schnell und Marie hatte sich noch nie in ihrem Leben so machtlos gefühlt. Sie hatte sie gepflegte, hatte alles versucht, um der Krankheit entgegen zu wirken, doch letztendlich konnte sie in jenen letzten Stunden nur bei ihnen sein.

Dies war der Lieblingsort von ihrer Mutter gewesen. Die Lichtung war versteckt gelegen. Niemand kam hier her. Außer Marie und Anna, die als eine der wenigen sie hierher begleiten durfte. Obwohl ihr der Boden nicht gehörte, war es ihre Lichtung, so wie die Kräuterlichtung. Es waren ihre geheimen Orte, an denen sie ungestört sein konnte. Myrrte hatte diesen Ort wegen seiner Blumen geliebt. Jetzt im Winter war er trostlos, doch im Frühling sprossen hier hunderte Schneeglöckchen und Buschwindröschen, dazwischen blaue Leberblümchen und gelbe Tupfen von Scharbockskraut, sodass jedes Jahr zur gleichen Zeit ein dichter Teppich aus Blüten ausgerollt da lag.

,,Ich hoffe, die Blumen werden im nächsten Jahr genauso schön sein, wie sie es in diesem gewesen waren“, sagte auf einmal Anna neben ihr, als hätte sie ihre Gedanken erraten.

Traurig hob sich ihr Mundwinkel. ,,Meine Mutter kam oft wegen ihnen hier her.“ Sie legte eine Hand auf die gestapelten Steine, ließ sie Finger über das körnige Gestein fahren. ,,Manchmal…da sitze ich einfach nur hier“, vertraute sie ihr an, ,,höre den Vögel in den Bäumen zu, dem Wind im Geäst.“ Als sie von einem Schmerzschub im Unterleib geplagt wurde, schloss sie die Augen und versuchte, ihn auszuatmen.

,,Jetzt hast du Gewissheit.“

Sie schaute zu Anna auf, die stehend für sie noch größer wirkte. Jetzt hatte sie Gewissheit, dass sie nicht schwanger war, doch es war nur der bekannte Tropfen auf dem heißen Stein. Die Ungewissheit über Thorin und sein Schicksal wog schwerer als alles andere. Sie wandte den Blick ab, widmete sich wieder dem Unkraut.

,,Hättest…hättest du es dir gewünscht?“

,,Weiß nicht“, Marie zuckte mit den Achseln, doch spürte ein Gefühlschaos in sich, was ihr unterschiedliche Sachen sagte.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. ,,Er wird zurück kommen.“

Schweigend fasste Marie nach der Hand und drückte sie.

Zusammen schauten die Freundinnen für eine Weile schweigend auf die Gräber. Marie spürte wie der Kloß in ihrem Hals größer wurde. Schließlich erhob sie sich und wischte sich die Hände an ihrer Hose ab. ,,Komm, lass uns zurück gehen. Mir wird kalt.“

 

Würde jemand ihnen entgegen kommen, wäre dieser sicherlich verwundert über die zwei, die ein ungewöhnlich anzuschauendes Duo bildeten. Marie, die als Frau unter ihrem Umhang Hemd und Hose trug, welche sie zudem auch noch in ihre zu großen Winterstiefel gestopft hatte, bildete einen scharfen Kontrast zu Anna, die einen Mantel über ihrem Kleid trug - vor allen Dingen aber durch ihre ungewöhnliche Körpergröße, die jeden zweimal hinschauen lassen würde.

,,Du, Marie“, begann Anna ein anderes Thema, ,,es gibt doch da diesen Trank, der eine Schwangerschaft verhindert, von dem du mir mal erzählt hast.“

,,Ja… Warum?“

Aus taktischen Gründen ließ Anna die Gegenfrage gleich aus. ,,Hast du ihn schon mal genommen?“

,,Einmal als ich neunzehn war. Das andere Mal, als ich mit Greg…naja, zusammen war.“ Zwar hatte sie sich entschieden es geradeaus zu sagen, doch Marie fühlte sich in diesem Moment unwohl in ihrer Haut es so offen vor Anna zu sagen, doch ihre Freundin machte sich entweder nichts daraus oder überspielte es gut genug.

,,Was macht es mit einem? Ich mein‘, bekommt man Bauchschmerzen oder so etwas?“

,,Nein, man spürt nichts davon. Es schmeckt nur widerlich.“

Auf dem Sommerfest hatte Myrrte ihr ein Schnapsglas gereicht, um auf den Abend anzustoßen. Dass dies allerdings kein Schnaps gewesen war, hatte Marie schnell gemerkt und fürchtete schon, ihre Mutter hätte sie wohlmöglich als Versuchsobjekt für irgendwelche Rezepturen missbraucht. Am Tag darauf hatte sie dann erfahren, was sie da eigentlich getrunken hatte. Knallrot war sie angelaufen und hatte ihre Mutter nicht zu beichten gebraucht, was geschehen war. Myrrte hatte es sofort erkannt, als die beiden Hand in Hand zurück zum Fest gekommen waren...

 

~

 

,,Lass uns doch lieber hier bleiben…“ Wie ein zufriedener Kater streckte sich Thorin wohlig im Gras.

,,Wenn uns hier jemand gesehen hat…“ Marie hingegen setzte sich bereits auf und verdeckte ihren Oberkörper. Sie spähte aus der Mulde aus Gras heraus, die sie zusammen plattgelegen hatten und bekam bei dem bloßen Gedanken an Spanner schon wieder heiße Wangen. Als sie zu Thorin sah, hatte sich dieser auf den Rücken gerollt, und sie musste den Kopf wieder abwenden, um sich nicht beim Starren erwischen zu lassen. Ein Grinsen stahl sich auf ihre, noch vom Küssen empfindliche Lippen.

Sorglos verschränkte der Prinz einen Arm hinter dem Kopf und schaute in die Sterne. ,,Alle sind beim Fest. Wer soll um diese Zeit noch unterwegs sein?“

,,Vielleicht andere Paare.“

 ,,Dann sind wir jetzt also ein Paar?“, hörte sie ihn hinter sich murmeln. Verwirrte starrte sie in die Nacht hinein. Unbehagen machte sich plötzlich in ihr breit. ,,Sind wir das nicht?“

Als sie ein Glucksen hinter sich hörte, drehte sie sich um und Thorin, der sich sein Lachen nicht mehr verkneifen konnte, prustete los. Marie boxte ihn. ,,Hör auf, mir so eine Angst einzujagen!“

,,Au.“ Immer noch lachend hielt er sich den Arm und setzte sich schließlich ebenfalls hin. ,,Schon gut, schon gut, hör auf mich zu verprügeln.“

Maries Augen verfolgten seine Finger, die durch seine pechschwarzen Haare glitten, um die Unordnung, die sie veranstaltet hatte, wieder zu beseitigen. Himmel, seine geschickten Finger… Marie vergaß, dass sie böse auf ihn gewesen war.

,,Wovor hattest du Angst, Liebling?“, fragte Thorin und begann ihre Schulter mit kleinen Küssen zu liebkosten.

,,Dass es dir nicht ernst ist.“

Abrupt hielt er inne. ,,Denkst du wirklich, ich hätte nur meinen Spaß mit dir gewollt?“

,,Nein… Ach, vergiss es.“ Sie kaute auf ihrer Lippe und hörte, wie er tief ausatmete. Der warme Windhauch streifte ihre verschwitzte Haut.

,,Sieh mich an“, befahl er sanft und sie tat es. ,,Marie, ich liebe dich, mehr als irgendeine sonst auf dieser Welt. Ich weiß, wie viel dir das heute bedeutet hat. Und ich hoffe, du weißt auch, was es mir bedeutet hat. Mir ist das sehr ernst mit uns. Du hast mir deine Liebe gestanden und deine Unschuld geschenkt. Ein intimeres Geschenk hättest du mir nicht machen können. Dich wieder fallen zu lassen? Unmöglich. Ich werde dich nie wieder hergeben.“

Marie lehnte sich zu ihm und küsste ihn. Thorin nahm ihr Gesicht in beide Hände. Beschwichtigend wanderte sein Mund über ihre Lippen und gab sie nicht mehr frei. Seine Küsse wurden intensiver und schon bald fuhr seine Hand ihren Rücken hinab.

,,Wir wollten doch zurück…“, sagte Marie unvermittelt und bremste seine neu aufflammende Leidenschaft sichtbar.

,,Du wolltest.“

,,Ja, weil ich nochmal mit dir tanzen möchte.“

Statt zu antworten, küsste er sie erneut. ,,Nur noch ein bisschen…“

,,Du bist unersättlich! Thorin!“ Sie musste lachend, als sein Bart kitzelte und er spielerisch an ihr knabberte. ,,Hör auf, mich aufzufressen! Hilfe!“ Er warf sie zurück ins Gras und küsste sie, bis ihre Sinne drohten zu entschwinden. Er ließ seine Zungenspitze sinnlich über ihre Haut gleiten, sodass eine heiße Welle über sie hinweg rollte. Marie nahm ihn in ihre Umarmung und schloss die Augen, doch so gern sie nochmal mit ihm schlafen wollte: sie spürte jeden Knochen in ihrem Körper. Er hat einfach mehr Erfahrung als ich, rief sie sich ins Gedächtnis und vermied dabei irgendwelche eifersüchtigen Gedanken an seine vorherige Freundin - Verlobte -  für die sie inzwischen leidenschaftlichen Hass empfand.

,,Thorin…“ Sanft legte sie ihm einen Finger auf den Mund.

,,Du willst wirklich zurück?“

,,Ja.“

Enttäuscht stöhnte er auf. ,,Also schön.“

Zur Entschuldigung schenkte sie ihm ihr schönstes Lächeln und krabbelte unter ihm hervor. ,,Denk dran, Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freunde.“

Von ihr zum Aufbruch genötigt erhob er sich ebenfalls und begann, seine Sachen zusammen zu sammeln. ,,Wer das in Gegenwart eines nackten, wunderschönen Mädchens sagt, der hat sie nicht mehr alle beisammen.“

 In der Dunkelheit griff Marie nach ihrem Kleid und wurde plötzlich von hinten gepackt. Kräftige Arme schlagen sich um ihre Taille und ließen ihr Herz klopfen.

Auf ihrem Rücken hauchte Thorin einen Kuss. ,,Lass mich nicht zu lange warten."

Marie drehte sich in seinen Armen um und beugte sich zu ihm. ,,Niemals“, raunte sie. Er hob das Kinn und Marie beugte sich tiefer, gab ihm einen Kuss. Seine Arme drückten ihren nackten Körper an seinen. ,,Thorin…“ Seufzend ergab er sich ihretwillen und löste sich von ihr.

Während er seine Kleidung zusammen sammelte, fand Marie ihr Unterhose – oder besser gesagt, das, was davon übrig war. Irritiert hob sie den Fetzen Stoff ins Mondlicht und erinnerte sich, was damit geschehen war. ,,Thorin, musste das sein?“

,,Verzeih mir“, murmelte er mit schiefgelegtem Kopf.

,,Was soll ich denn jetzt anziehen?“, fuhr sie bei diesem Blick milder gestimmt fort. ,,Ich kann doch nicht mit nichts drunter zum Fest gehen.“

,,Ich pass schon auf, dass dir keiner unter den Rock schaut.“ Er nahm ihr den Stofffetzen ab und drückte ihn zwischen ihre Schenkel.

Instinktiv wich sie zurück. ,,Was tust du?“

,,Ich will nur nicht, dass du dir dein Kleid ruinierst. Halt still.“

Sie ließ ihn. Doch als sie sah, was an der Innenseite ihres Schenkels klebte, wich sie trotzdem geschockt von dem Anblick ihres Blutes zurück.

,,Sch…schon gut. Das ist normal, sorg dich nicht.“ Der Klang seiner Stimme hatte sogleich eine beruhigende Wirkung auf sie. ,,Es sieht schlimmer aus als es ist.“

Obwohl es ihr sehr peinlich und unangenehm war, dass er sich so um sie kümmerte, schluckte Marie und schätzte seine liebevollen Bemühungen.

,,Wie fühlst du dich, mell nin?“

Sie zuckte mit den Schultern und trat von einen Fuß auf den anderen, als er gründlicher vorging.

,,Hab ich dir sehr wehgetan?“

,,Nein“, sagte sie kopfschüttelnd und musste über seine Sorgenfalten auf der Stirn lächeln. ,,Nein, das hast du nicht. Du…du hast mich glücklich gemacht.“

Für einen Moment sah auch er lächelnd zu ihr empor. ,,Du mich auch. Sehr sogar.“

Beide lächelten sich an, bis Marie errötend das Kinn auf die Brust presste.

Der Zwergenprinz stopfte sich die Reste ihres Höschens in die Hosentasche und half ihr in ihr Kleid hinein, indem er es sorgfältig wieder schloss. Auch die Kordel hatte er in der Hand, die er um ihre Taille legte.

Währenddessen kämmte Marie mit den Fingern ihr Haar durch und entfernte Grashalme, die zwischen ihren Strähnen hingen. ,,Geht das so? Wie seh‘ ich aus?“

,,Wie ein geplatztes Eichhörnchen“, meinte er und machte seelenruhig eine Schleife ins Band.

,,Was?!“

Grinsend zupfte er ihr einen weiteren Halm aus dem Haar. ,,Das war ein Scherz.“

,,Schön, dass du dich über mich amüsierst. Ich will nur nicht, dass jeder mir ansieht, was wir hier getrieben haben. Sie fragen sich sicher schon, wo wir sind.“

,,Mach dir darüber keine Gedanken.“ Er hielt sie an der Hüfte fest. Als wäre sie ein einziges Kunstwerk, betrachteten seine Augen sie genussvoll, ehe sie wieder die ihre fanden. ,,Und wenn, dann sieh jeder, dass du nun mein bist…“, raunte er und stellte sich auf die Zehenspitzen, um sie ein letztes Mal zu küssen.

Marie biss sich auf die Lippe, wich verlegen von seinen Worten seinem Blick aus und wartete auf ihn, als er sich die Stiefel anzog. Dann streckte er die Hand zu ihr aus, die sie mit klopfendem Herzen ergriff. Den restlichen Abend über, so schwor Marie sich, würde sie ihn nicht mehr loslassen wollen.

Vom Zirpen der Grillen begleitet schlenderten sie zurück zur erleuchteten Stadt, die einem Feuerball gleich der Nacht Farbe gab.

,,Du schuldest mir übrigens ein neues Höschen.“

,,Merk ich mir, mein Liebling…“

 

~

 

,,…Mari-ie?! Hallo?! Hörst du mir überhaupt noch zu?“

Sie fuhr zusammen. Himmel! Anna war ja auch noch da… Augenblicklich bekam sie rote Wangen über ihren Tagtraum, dessen Inhalt zum Glück nur sie wusste.

,,Was? - Äh, ja. T’schuldige. Was hast du gesagt?“

,,Dass ich davon zwei bräuchte. Donja hat auch wieder nach so einem gefragt. Ich sollte ihr so einen bringen.“

,,Bist du jetzt ihr Laufmädchen?“

,,Wie witzig“, gab Anna bloß beleidigt zurück.

Marie seufzte. ,,Ich hab ihr schon mal gesagt, dass sie sich den bei mir selber abholen soll. Man darf es mit Sumpfdottergrün nicht übertreiben. Die Wirkung kann bei zu häufigem Gebrauch ausbleiben. Und bei ihr wird es bald dazu kommen, so oft, wie sie einen will. Und jetzt gleich zwei?“

,,Nein, nein, nur einer ist für sie.“ Auf einmal wirkte Anna schrecklich verlegen, strich sich ihre goldbraunen Haare zurück hinters Ohr. ,,Der andere ist für mich.“

Überrascht blinzelnd schaute Marie zu ihr empor.

,,Guck nicht so. Ich, also… Greg hat mich angesprochen.“ Bei seinem Namen wurde sie wie immer rot wie eine Tomate. ,,Er hat mich eingeladen und will sich mit mir in der Kupfer Stube treffen. Morgen nach der Arbeit. Und nein - ich werde den Trank ihn nicht gleich am ersten Abend benutzen, falls du so etwas denkst. So eine bin ich nicht. Ich will ihn nur haben, falls es irgendwann vielleicht einmal dazu kommt. Also nur vielleicht.“

Gleich am ersten Abend… Thorin und sie hatten sich an einem Abend das erste Mal geküsst und miteinander geschlafen. Sie hatte wie auf Wolken geschwebt und nicht über die möglichen Konsequenten nachgedacht. Nut gut, dass Myrrte mitgedacht hatte.

Anna, wenn du wüsstest… Der bekannte Schmerz über die Erinnerungen an diese sorglose Zeit war wieder deutlich in ihrer Brust zu spüren und Marie fiel auf, dass sie nie mit ihr darüber geredet hatte. Anna hatte erst über Thorin erfahren, als sie ihr und Hilda am Tag seines Aufbruchs alles über ihn erzählt hatte.

,,Das habe ich nicht gedacht“, konnte sie sie beruhigen. ,,Ich will nur, dass du dir nicht zu viel auf einmal erhoffst und du dann enttäuscht wirst.“

,,Ich weiß…“, seufzte sie bei den oft gehörten Worten.

,,Aber bei Greg hab ich ein gutes Gefühl.“ Die Freundinnen wechselten vielsagende Blicke und Anna begann, wie ein kleines Mädchen zu strahlen.

,,Kommst du vorher nochmal bei mir vorbei? Dann kannst du Mel bei mir lassen. Dann seid ihr ungestört…“

,,Na schön. Es sei denn, du willst mir noch ein paar Ratschläge mit auf den Weg geben.“

Marie pustete los. Sie konnte die Männer, mit denen sie ein intimes Verhältnis hatte, an zwei Fingern ablesen. Na gut, zwei ein halb. ,,Als ob ich dir irgendwelche geben könnte!“

,,Sagt die, die bei einem König gelegen hat.“ Plötzlich wurden Anna ihre Worte bewusst. Sie hielt inne, starrte erst Marie und dann ihre Schuhe an.

Die Eisenklauen, die ihren Brustkorb zusammendrückten, deuteten sadistisch ihr Bestehen an, doch Marie wollte nicht, dass sie ständig jedes Wort überdenken musste. Für ihren Hohn bekam ihre Freundin einen Schubs und Anna, die damit nicht gerechnet hatte, fiel fast ins Unterholz.

Gespielt arrogant warf Marie sich die Haare zurück und imitierte die hohe Stimme von Donja nach. ,,Neidisch?“

Anna erkannte sie und fiel in ihr Lachen mit ein.

,,Kommst du noch auf eine Kanne Tee mit rein?“

,,Tee klingt gut.“ Sie hauchte in ihre Hände, die im Gegensatz zu Maries vor der Kälte ungeschützt waren. ,,Brrr…Ich bin durchgefroren.“

Aus dem Augenwinkel schielte diese auf ihren oft geflickten Umhang und dem verschlissenen Rock. ,,Lass uns schneller gehen, sonst werden wir noch zu Eiszapfen.“

,,Du wärst ein ziemlich kleiner Eiszapfen…“

Anna bekam noch einen Schubs.

 

Sie waren bei der Brücke am Waldrand angekommen, die sicher über den Fluss führte. Beim Näherkommen an ihr Haus tauchte eine Person auf dem Weg auf. ,,Ach, da seid ihr!“ Etwas aus der Puste kam ihnen Hilda entgegen. Durch ihren dicken Mantel sah sie aus wie eine runde Fellkugel. ,,Und ich wundere mich, warum niemand aufmacht.“

,,‘Tschuldige, wir waren spazieren“, erklärte Marie. Die Frauen umarmten sie zur Begrüßung.

,,Wo habt ihr denn die Kleine gelassen?“

,,Die ist mit ihren Freunden spielen.“

,,Komm doch mit rein, ich mache uns einen Tee zum Aufwärmen.“

,,Würde ich liebend gern, aber ich muss wieder. Ihr wisst ja… Zuhause wartet noch jede Menge Arbeit auf mich. Meine Bengels machen Wäsche für zehn! Ich wollte dir eigentlich nur das hier vorbeibringen.“

Marie nahm den Korb entgegen und lüftete das darübergelegte Tuch. Darunter kamen zwei kleine Räucher- und eine Mettwurst sowie ein Stück Schinken zum Vorschein.

,,Das ist aber wenig“, bemerkte Anna unzufrieden hinter ihr. ,,Du hättest mehr aushandeln sollen, Hilda! Die Ziege war noch gut im Futter.“

,,Kotter wollte nicht mehr geben“, verteidigte sie sich. ,,Du weißt doch, wie er ist. Ich hab Gunnar vorgeschickt. Mit ihm komme ich lieber nicht in Diskussionen. Er hat so viel gefeilscht, wie er konnte, ohne zu befürchten, davon gejagt zu werden.“

,,Ist schon in Ordnung“, schlichtete Marie. Sie kannte den hitzigen Metzger und seine Art und war dankbar, dass Gunnar das für sie übernommen hatten. ,,Mir reicht das. Danke nochmal.“

Hilda winkte ab. ,,Ach – ehe ich’s jetzt ganz vergesse: Kotters Junge hat sich verletzt.“ Vor Zorn überkommen stemmte sie die Fäuste in die breiten Hüften. ,,Agnate, diese undankbare, wollte mich nicht an ihn lassen. Sie meinte, du sollst ihn dir persönlich ansehen. Als wäre er aus Zucker!“

In Maries Magen verknotete sich was. ,,Das kannst du auch. Sag Agnate das.“

Anna und Hilda warfen sich Blicke zu. ,,Es hörte sich ernst an“, versuchte sie es nochmals. ,,Irgendetwas mit seiner Hand. Er könne nicht mitarbeiten Zuhause.“

Sollen sie doch zusehen… ,,Sie haben alle zwei gesunde Beine. Wenn es ernst wäre, wäre sie selbst oder der Junge allein zu mir gekommen. Abgesehen davon müssen sie dich als meine Vertretung akzeptieren. Wenn nicht, dann ist es ihr Pech. Nicht meines oder deines.“

Wieder suchte sie bei Anna Hilfe.

Marie beobachtete, wie die beiden sich mit Blicken verständigten und als sie auch noch zu gestikulieren anfingen, ballte sie die Fäuste. ,,Also schön! Der Junge soll noch heute zu mir kommen. Aber Agnate setzt keinen Fuß auf mein Grundstück. Seid ihr jetzt zufrieden?“

Hilda und Anna grinsten um die Wette. ,,Wenn du wütend bist, siehst du aus wie ein kleiner Kobold“, sagte Anna. ,,Fehlt nur noch, dass du mit dem Fuß stampfst und dir Qualm aus den Ohren kommt.“

,,Ich werd dir helfen!“ Grummelig drohte Marie ihr und holte den Schlüssel aus ihrer Tasche. Ein Zeichen, dass sie das Gespräch für beendet hielt. ,,Sieh zu, dass du reinkommst. Und du, Hilda, schick mir diesen verdammten Jungen her, damit ich endlich Ruhe vor euch schnatternden Gänsen habe.“

,,Zu Befehl!“ Hilda zwinkerte Anna zu und machte sich von dannen.

Grinsend folgte Anna Marie ins Haus.

Die beiden waren ein eingespieltes Team, deren Abläufe bereits eingefleischt waren. Anna entzündete den Ofen, setzte die Kanne Wasser auf, während Marie neuerdings die Bank an die Küchenzeile schob und sie erklomm, um die Teedosen herauszuholen. Etwas besorgt wurde sie beobachtet. ,,Soll ich das nicht lieber machen?“

,,Ich schaffe das allein.“ Tinkturen vom Regal und einige der hölzernen Dosen aus dem Kräuterschrank folgten, dazu einen großen Becher und Mörser mit Schale, was sie alles auf die Arbeitsfläche stellte.

,,Ach, komm schon. Bist du uns immer noch böse wegen der Kleinigkeit eben?“

,,Ich hab das Gefühl, ihr habt euch gegen mich verschworen.“

,,Wir wollen dir nur helfen, das weißt du doch. Vorsicht! Bist du dir sicher, dass du das hinkriegst auf dieser wackeligen Bank da.“

,,Die ist nicht wackelig und außerdem bin ich kein kleines Kind.“

,,Manchmal benimmst du dich wie eins…“, setzte Anna leiser hinterher, tat Teeblätter und getrocknete Nelken in die Kanne und wandte sich seufzend ab.

Marie warf ihrer Freundin am Herd einen funkelnden Blick zu. Verbittert fing sie an, Pulver und Inhalte der Fläschchen in den Becher zu kippen. Sie wollte nicht ins Dorf. Warum verstanden die beiden sie nicht, dass sie nicht einfach so mehr dorthin spazieren kann? Ist das kindisch, was sie tat? Ach, Mist! Beim zu kraftvollen Verrühren war etwas vom Inhalt aus dem Becher geschleudert worden, was sie nun wegmischen musste. Mag sein, dass es kindisch war, aber so schützte sie sich am besten. Die Menschen dort hatten sich in ihre Feinde verwandelt, Menschen, die sie alle beim Namen kannte und von denen sie früher geachtet und geschätzt worden war. Seit dem Markttag jedoch war alles anders. Und wenn sie ehrlich war, war sie darüber nicht wütend, sondern bitter enttäuscht.

,,Hast du heute Morgen den Sonnenaufgang gesehen?“, fragte Anna und legte nebenbei neue Scheite auf die heruntergebrannte Glut im Kamin. ,,So einen Blutmorgen hab ich noch nie gesehen.“ Immer wenn sich eine blutrote Dämmerung über Mittelerdes Morgenhimmel erstreckte, bedeutete es, dass irgendwo in der Nacht viele Leben gewaltsam beendet wurden.

,,Es sah wunderschön aus, aber gleichzeitig auch so…ich weiß nicht, so traurig.“

,,Hab ich auch gesehen“, antwortete Marie wie von selbst, zerstieß halbherzig etwas Wachholdersamen. Ihre Gedanken waren bei Thorin in der inständigen Hoffnung, dass ihre schlimmsten Befürchtungen sich nicht bewahrheitet hatten.

Schweigend und mit dem Kampf dunkle Gedanken zu beschwichtigen beschäftigt, fuhr sie mit ihrer Arbeit fort, während Anna Platz nahm und ihr zusah. Diesmal ohne einen Tropfen zu vergeuden, füllte sie die fertige Flüssigkeit in Glasfläschchen, verschloss sie mit Korken und stellte sie vor Anna auf den Tisch. Diese nahm sich eines, hob es hoch und spähte neugierig durch den grünen Inhalt.

,,Trink ihn zeitnah, wenn es passiert. Wenn ich’s mir recht überlege,“, mit einem bösartigen Schmunzeln verschränkte Marie die Arme und fühlte sich beinahe selbst wie eine Hexe, ,,hätte ich doch Tollkirschen in Donjas Glas untermischen sollen…“

Langsam ließ Anna es wieder sinken. ,,Lieber nicht.“

Irritiert zog Marie die Augenbrauen in die Höhe. ,,Was ist denn mit dir? Sonst hätte der Spruch doch glatt von dir kommen können.“

 ,,Ich hab schon genug Probleme mit der.“ Unruhig nestelte sie am Korken herum. Marie schaute sie auffordernd an, solang bis sie schließlich damit herausrückte. ,,Ich hab Ärger bekommen, weil ich letzte Woche nicht erschienen war.“

Auf einmal empfand Marie tiefe Schuldgefühle. Als sie sie am meisten gebraucht hatte, war sie dagewesen und hatte ihre Arbeit, deren Geld das Überleben ihrer kleinen Familie sicherstellte, zurückgestellt. Reuevoll setzte sie sich an den Tisch. ,,Anna, das wollte ich nicht.“ Sie legte eine Hand auf ihre. ,,Das ist allein meine Schuld. Sag ihnen das. Ab jetzt machst du nicht mehr Blau, hörst du?“

Sie nickte bloß. Etwas überschattete ihr Gesicht. Marie sah es sofort, spürte, dass ihre Hand unter der ihrer unruhig war. ,,Anna? Alles in Ordnung?“

,,Hm?“

 ,,Ist irgendetwas?“

,,Nein, nichts. Ich bin nur müde. Der Wind hat durchs Dach gepfiffen. Ich hab ziemlich schlecht geschlafen. Das ist alles.“

Dass es nicht alles gewesen und dass ihr undichtes Dach nur Nebensache war, sah Marie ihr an.

Das hohe Pfeifen der Kanne wurde lauter und Anna zog ihre Hand weg. ,,Der Tee ist fertig.“

 

 

 

4

 

Fili, der ihre kleine Gruppe anführte, drehte sich um, um auf die Nachhut zu achten, die Oin und Bofur bildeten. Immer wieder mussten die Brüder auf den alten Zwerg warten. Den Kopf in den Nacken gelegt, die Zunge heraushängend trottete Bofur vor ihm her.

Vier einsame Punkte in der Landschaft. Mehr waren sie nicht. Gewaltige Felsen säumten die kargen Ebenen, welche sich vor einem greifbaren Himmel erstreckten. Geröllfelder und grasbedeckte Hänge wechselten sich unter diesem ab. Bei jedem tiefen Atemzug stach die Kälte der Luft ihnen in den Lungen. Es roch nach Schnee und nassen Flechten.

Der Anstieg war beschwerlich, doch die Aussicht auf ihr Ziel ließ sie auch den nächsten Schritt tun. Der schneebedeckte Berggipfel, dessen abgerundete Spitze über ihnen den höchsten Punkt des Einsamen Berges bildete, schien jedoch mit jeder gegangenen Meile unbeugsam an keiner Größe zu verlieren. Sonnenstrahlen ließen den Schnee gleißend hell erstrahlen und die Tropfen auf den Halmen der Grasbüschel wie kleine Diamanten funkelnd, was überall dort wuchs, wo Gestein harter Erde Platz gegeben hatte.

Kili nahm den Wasserbeutel von seiner Schulter und hielt ihn unter ein Rinnsal Schmelzwasser bis er einen guten Schluck gesammelt hatte, um es zu trinken. Auch nahm er eine Handvoll Schnee und reib sich damit über den Nacken und das Gesicht, um den Schweiß fortzuwischen, der trotz der Kälte auf seiner Haut lag. Blinzelt durch das strahlenden Weiß um sich sah er den kaum erkennbaren Weg voraus. ,,Wie weit ist es noch?“ Er reichte den Wasserbeutel an Oin weiter, der sich auf einem Fels nieder gelassen hatte.

Mit zusammengekniffenen Augen und gerümpfter Hakennase tat der grauhaarige Mediziner es ihm gleich. ,,Zwei Stunden - wenn nicht zweieinhalb werden wir noch gehen, wenn ich mich nicht irre.“

Bofur wickelte sich den Schal vom Hals und nahm seine Mütze ab. Er klopfte auf das braune Lammfell, um es von Ruß und Dreck zu befreien. Sein treuer Weggefährte hatte eindeutig schon bessere Tage gesehen.

Seufzend ließ sich Kili ebenfalls an Ort und Stelle nieder. Wenigstens hielten die Sachen, die Bard ihnen gegeben hatte, einigermaßen warm, auch wenn sie zu groß und ausgeschlissen waren. Er verschränkte die Arme auf die angezogenen Knie und fragte sich, was aus ihm geworden war.

,,Glaubst du, Bard hat überlebt?“

Fili, der neben ihm gerade sein Gepäckbündel ablegte, hielt kurz inne. Seine Bartzöpfe bewegten sich mit, als er den Kopf schüttelte. ,,Der Turm ist umgekippt.“ Er schnürte das Bündel auf. ,,Die Elbe wird den Mädchen weiterhelfen. Ihr Vater und Bruder sind als mutige Männer gestorben.“

Während sein Bruder ein Stück Brot herausholte, musste Kili unvermeidlich an Tauriel denken. In Gedanken versunken strich er über seinen Oberschenkel, wo der dunkle Stoff geteilt und verfärbt und wo eine verheilende Wunde übrig geblieben war. Sicherlich hat der Blonde sie mitgenommen und zurück gebracht… Bestimmt war sie bereits wieder bei den ihren.

Jemand fasste ihm auf die Schulter. ,,Sie gehen zu lassen, war das richtige“, flüsterte sein Bruder und drückte bekräftigen zu. Kili sagte nichts, nickte nur.

Fili teilte das Brot, was Bofur auf ihrer Flucht mitgehen gelassen hatte, in drei Teile, die er an die anderen weiter reichte. Kili wollte seinen Anteil mit ihm teilen, doch er wehrte ab. ,,Nein, iss du. Du brauchst es mehr als ich.“

 

Als ihre Kräfte bereits schwanden, stieg der Weg noch einmal an. Doch Oin behielt recht.

Auf einer Kuppe angekommen eröffnete sich vor ihnen ein umschlossenes Tal, still und einsam, vom Rest der Welt hier oben vergessen.

Das Haupttor wurde immer größer und höher, während sie auf dem Weg dorthin Dale an ihrer Linken vorbei ziehen ließen. Sie erklommen die Stufen vor der Brücke und blieben mit offenen Mündern stehen. Ehrfürchtig betrachteten sie die Wächter Erebors und den Durchbruch. Hier musste etwas sehr großes und kraftvolles durchgejagt sein, um den Stein so zersprengen zu können.

Mit der Erkenntnis über den Verursacher schauten sie einander an und sahen dieselben Befürchtungen in den Augen des anderen. Von diesen getrieben liefen sie durch das zerstörte Tor und fanden sich im nächsten Moment in einem Geröllfeld aus dickem, gebrochenem Gestein wieder. Wie dichte, starre Schleier strömten Sonnenstrahlen hinter ihnen schräg gen Boden.

,,Hallo?!“, rief Bofur. Sein Echo wurde von den Hallen wiederholt. ,,Bombur?!... Bifur?!... Irgendjemand?!“, versuchte er es nochmal und bekam nur Antwort von der Stille.

,,Sie müssen hier irgendwo sein“, sprach Fili und setzte sich in Bewegung. Der Satz war aufgezwungen. Doch er klammerte sich daran fest. Was anderes hatten sie nicht.

Die Erwägung, dass die anderen überlebt hatten, war gering. Obwohl jeder der Vier das wusste, sagte niemand etwas dagegen, als sie tiefer in den Berg hinein gingen. Am Ende der Nordhalle war die Wand ähnlich dem Tor zertrümmert. Der klaffende Durchgang eröffnete eine anschließende Halle, in der gigantische Säulen den weiten Raum beherrschten. Wege und Treppen fanden an ihnen ihren Halt. Das graue Gestein des Erebors mit seinem typischen leicht grünlichen Ton war durch jahrhundertelange, unermüdliche und künstlerische Arbeit von Generationen zu einer weitreichenden Stadt unter dem Berge geformt worden. Ebenen um Ebenen reichte dieser ihrer Teile, der Gabod-dûm genannt wurde, sowohl in die Höhe als auch in die Tiefe.

In den Augen der Jungs funkelte Faszination. Schon jetzt war dieser Anblick so prachtvoll, wie ihr Onkel und Balin es jeher in ihren Geschichten beschrieben hatten. Rasch hatten sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt, welches in jedem Zwergenreich herrschte. Trotz unter Tage gab es immer von irgendwo her Licht, sodass sie nicht in völliger Dunkelheit waren. Die Männer überquerten den breiten Weg, der bis ans andere Ende führte, jene freie Wege, die weder Geländer noch Überdachung hatten. Die Jungs spähten über den sicheren Boden nach unten und konnten den der Halle nicht erkennen.

Bei dem Anblick der, an langen Ketten herabhängenden Lampen, deren gelbe und grüne Glasfenster überall in der feien Luft zu schweben schienen, malte sich Kili aus, wie es wäre, wenn sie entzündet sein würden. Er dachte an brennende Sterne, verteilt auf einem dunklen Himmel.

Tauriel würde das gefallen… Er zwang seine Mundwinkel nach unten und ihr Abbild aus seinem Kopf. Es tat weh, dass es sein musste.

Sie erreichten das Ende an einer der Säulen, die mit ihren überdachten Gängen Knotenpunkte der Wege bildeten. Auf einmal war auch etwas anderes zwischen ihren knirschenden Schritten auf den Stufen zu vernehmen. ,,Wartet!“, rief eine bekannte Stimme. ,,Wartet!“

,,Das ist Bilbo, er lebt!“

Schon kam er um die nächste Ecke gebogen, ,,Halt! Halt!“, und schlitternd vor ihnen zum Stehen. ,,Ihr müsst sofort weg hier. Wir alle müssen hier weg.“

Verwirrt schauten sie den Hobbit an, ganz außer Atem war. Hatte er sie kommen sehen und war den ganzen Weg wie der Teufel gerannt?

Bofur zog eine Grimasse. ,,Wir kommen doch grad‘ erst an.“

,,Ich hab versucht, mit ihm zu reden. Er hört nicht.“

,,W-was meinst du, Junge?“, nuschelte Oin in seinen Bart, den Trichter ins Ohr gedrückt, um die merkwürdige Begrüßung zu verstehen.

,,Thorin!“

Sie zuckten zusammen.

,,Thorin“, wiederholte Bilbo beim zweiten Mal leiser und schaute zuerst hinter sich, ehe er seine Erklärung startete, als fürchte er belauscht werden zu können. ,,Thorin. Er ist seit Stunden da unten. Er schläft nicht. Er isst nicht. Er ist…nicht mehr er selbst.“

Filis Blick wurde von dem aufgeregten Hobbit abgelenkt. Er schaute an ihm vorbei, sah zu dem goldenen Schein, der zwischen Trägern eines Ganges, einige Ebenen unter ihnen hindurch schien. Zuerst dachte er, ein Feuer würde dort unten brennen, doch keine, sich bewegenden Flammen waren erkennbar. Das Licht war eher sanft, wie eine wattierte Wolke aus Licht.

Dieser… goldige Schein… Er erinnerte ihn an etwas.

Etwas, was er schon einmal in seinem Leben gesehen hatte… Genau hier.

,,Nicht im Geringsten. Das…“ Bilbo musste neuen Atem schöpfen, ,,liegt an diesem Ort.“ Wackelnd zeigte er mit dem Finger nach oben, als Geste, die scheinbar alles hier umfassen sollte. ,,Eine Krankheit scheint auf ihn zu liegen.“

Die Augen immer noch gebannt auf das Licht gerichtet, trat der blonde Zwerg an ihm vorbei.

,,Krankheit? Was für eine Krankheit?“ Allarmiert sah Kili zwischen ihm und seinen Bruder hin und her.

Dieser ging bereits die Stufen hinab. Bilbo bemerkte seine Absicht. ,,Fili...“, wollte er ihn aufhalten, doch die Brüder tauschten einen Blick, der nur Bruchstücke einer Sekunde andauerte, und

Fili eilte los, dicht gefolgt von seinem Bruder.

Vergeblich versuchte Bilbo, ihn zurückzurufen, aber die beiden rannten die Stufen hinab und ihnen blieb nichts anderes übrig, als hinterher zu laufen.

Die Wände glitten als graue Masse an ihm vorbei. Seine Füße überflogen alle Stufen. Er wusste es jetzt. Er wusste, was dort unten lag. Es war der Schein der Schatzhalle, den er immerzu als Kind gesehen hatte. Sein Herz pochte spürbar. Jemand hatte die Feuerschalen entzündet.

Fili lief durch einen langen Torbogen und weitere Stufen hinab. Hinter ihm schlossen die anderen auf, als er langsamer wurde und schließlich auf dem Treppenpodest stehen blieb. Die anderen nahm er gar nicht wirklich wahr, denn der Anblick der Münzen, die von brennenden Fackeln und Feuerschalen erstrahlt wurden, ließ ihn und seine Verfolger erstarren.

Von ihrer erhöhten Position aus lagen sie unzählbar vor ihnen, wie eingefrorene, sanfte Wellen.

Zu allen drei Seiten konnten sie tiefer in die Schatzhalle blicken, doch das Meer aus Milliarden einzelnen schimmernden Tropfen fand kein Ende.

Bilbo trat näher und sah das wortlose Staunen und die Fassungslosigkeit auf den Gesichtern der Vier, die er ebenfalls am eigenen Leib erlebt hatte.

Plötzlich knirschten unter ihnen irgendwo Münzen und eine tiefe Stimme erklang beinahe grollend. ,,Gold...“

Alle Blicke richteten sich auf Thorin, der aus einem Torbogen trat. Langsam schritt er über den goldenen Hügel, den Blick darüber und durch die Halle wandernd.

Bilbo presste den Mund aufeinander. Er war also immer noch hier unten.

,,Gold jenseits aller Vorstellungen.“ Thorin sprach langsam, seine Stimme hörte sich müde an, doch steckte in ihr gleichzeitig noch eine währende Kraft. ,,Jenseits von Trauer und Gram.“ Er entdeckte sie und für einen langen Augenblick schaute er zu ihnen hinauf. ,,Seht ihn an, den gewaltigen Schatz von Thror.“ Dann holte er aus, warf etwas zu ihnen empor.

Mit einem leisen Zischen flog ein purpurner Edelstein durch die Luft und wurde von Fili gefangen. Alle sahen ihn an, er starrte auf den Edelstein.

Thorin legte die Hand auf sein Herz. ,,Willkommen, meine Schwester Söhne.“

Ob es von der Szene kam, die sich vor ihnen abspielte, der Anblick seines Onkels oder von dem kalten Stein in seinen Händen, dass ihn ein Schauer durchfuhr, wusste Fili nicht.

Eines war für ihn jedoch sicher: an Bilbos Befürchtung war etwas Wahres dran.

Thorin blickte auf das Gold unter seinen Füßen und auf seinem Gesicht erkannten sie ein kurzes, fast schon ungläubiges Lächeln, ehe er die Arme ausbreitete und es erstarb, ,,…in dem Königreich Erebor.“

 

~

 

,,Balin!“ Er und sein Bruder drehten sich um und erblickten die vier Totgeglaubten, die den Raum betraten. Laut lachend breitete Dwalin die Arme aus, um Fili an sich zu drücken.

,,Bombur!“ Herzlich umarmten sich auch Bofur und sein Bruder. Sofort kamen die anderen hinzu und begrüßten ausgelassen und johlend die Ankömmlinge, mit denen niemand mehr gerechnet hatte.

,,Bei den Göttern, ihr habt es geschafft!“ Kameradschaftlich wurde ihnen auf die Rücken geklopft.

,,Wir fürchteten schon mit dem Schlimmsten.“

Kili löste sich aus einer Umarmung. ,,Ha! Uns werdet ihr nicht so schnell los.“

,,Wie hast du dich erholt?“, kam die Nachfrage auf.

Mit einer Mischung aus Bitte und Ermahnung warf der junge Zwerg seinem Bruder und den zwei anderen einen Blick zu und sah mit Erleichterung, dass sie verstanden. ,,Ihr wisst doch: so schnell sterbe ich nicht.“

,,Junge, Junge…“, nuschelte Gloin in seinen roten Bart, ,,so viel Glück wie du muss man erst mal haben…“ Die Männer lachten.

Dwalin nahm Kili in den Schwitzkasten. ,,Ihr Kerle, ihr…!“

Wehleidig verzog der Junge das Gesicht und sah zu Fili hinüber. Danke… , vermittelte er ihm still für sein Dichthalten.

Fili zog eine der blonden Augenbrauen hoch. Ich hab was gut bei dir…

Er rollte mit den Augen. Jaja…

,,Wir haben das Feuer gesehen“, wandte sich Nori an sie. ,,Der Drache…potz Blitz, wie konntet ihr entkommen?“

,,Mit ‘nem Boot“, antwortete Kili, schlüpfte unter dem riesigen Arm seines Ziehonkels hindurch und gab er der dazugehörigen Schulter einen Schlag mit der Faust.

,,Durin stand uns nahe. Nur so konnten wir es schaffen“, schloss sein Bruder.

,,Und die Menschen?“, fragte Bilbo, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte.

Der blonde Prinz schüttelte den Kopf. Anteilnehmende Stille senkte sich über sie.

,,Aber der Drache…Es ist doch wahr, dass er tot ist?“, fragte Ori leise, als fürchte er, es könnte wohlmöglich anders sein. ,,Oder?“

,,Ja“, versicherte Fili und sah dabei durch die Runde, ,,es ist wahr. Smaug ist tot.“

,,Vom Himmel abgestürzt – nein, abgeschossen! Wusch!“ Bofur erzählte von dramatischer Gestik begleitet die Geschichte. ,,Und dann…broach! Kawumm! Es war Bard! Mit einem einzigen Schuss hat er den Drachen getötet. Wie ein Komet vom Himmel…“

,,Moment mal. Bard?!“

,,Ja, ganz genau.“

Verblüfftes Gemurmel brach aus und wurde noch lauter, als er als nächsten von dem Schwarzen Pfeil erzählte.

,,Aber warum hat Smaug erst den Berg verlassen und Seestadt angegriffen?“, fragte Fili, als sich die Aufregung ein wenig gelichtet hatte.

,,Ja, was haben wir hier verpasst?“, fragte sein Bruder.

Und so erzählten die Zwerge, was sie in der vergangenen, ereignisreichen Nacht erlebt hatten. Sie berichteten von der Geheimen Tür, von Bilbos Versuch den Arkenstein zu bergen, von Thorins gescheiterten Plan, den Drachen mit flüssigem Gold zu töten und von dessen Rache.

,,Ja, und nun sind wir hier“, seufzte Balin. Vertraut und als eine feierliche Geste legte er ihnen die Hände auf die Schultern. ,,Willkommen in Erebor, Jungs.“

Erleichtert und bewusst es endlich geschafft zu haben sahen ihn die beiden gerührt an.

,,Wo sind wir hier?“, fragte Kili und schaute sich in dem mehreckigen Raum um, in dem sie sich befanden.

,,Dies ist der Ratssaal, mein Junge. Einst tagten hier die wichtigsten Zwerge eures Landes.“

Dieser war nur zu einer Hälfte von Wänden umgeben. Säulen trugen zu ihrer Linken die Decke, zwischen denen jeweils halbrunde Balkone herausragten. Auf diesen konnte man hinunter auf einen Vorhof blicken, der mit einem kreisrunden Mosaik aus grünen, blauen und weißen Scherben verziert war. In der Mitte des Saales stand eine lange, bestuhlte Tafel. Die Gefährten hatten bereits Fackeln in ihren Halterungen an den Wänden und Kerzen auf dem Tisch entzündet.

,,Ohh, ihr habt was zu essen!“, raunte Bofur schmachtend und beugte sich mit gierigem Blick über die gesammelten Sachen auf einem Tisch an der Wand. Kleine Fässer waren hergetragen worden, Einmachgläser mit undefinierbarem Inhalt, Flaschen sowie in Tüchern eingewickeltes.

,,Es ist nicht viel.“ Balin und alle anderen schritten ebenfalls dort hinüber.

,,Wir waren in den Vorratskammern“, brummte sein jüngerer Bruder. ,,Das Meiste ist verdorben und kriecht vor Schimmel davon.“

Irritiert nahm Kili eines der Gläser hoch, dessen Inneres sich braun gegen das Glas drückte. ,,Was ist das?“

,,Probier doch mal…“

Er machte es auf, roch hinein und knallte den Deckel wieder zu. ,,Was auch immer es war, es ist dies jetzt nicht mehr.“

Dwalin zuckte mit den Achseln. ,,Vegetiert ja auch schon ein Weilchen vor sich hin.“

,,Dafür haben wir Wein.“ Dori hob zwei der vollgestaubten Flaschen hoch. ,,Keine Ahnung, wie alt der ist, er hatte jedenfalls genug Zeit zum Reifen.“

Während Oin bei einer anderen angestrengt auf das vergilbte Etikett starrte und versuchte, es zu entziffern, verzog Kili entmutigt das Gesicht. ,,Wir werden hier noch verhungern.“

,,Wir werden Kaninchen jagen gehen“, entschied Dwalin, der als ungenannter Anführer die Bemühung, hier ein provisorisches Lager aufzubauen, in die Hand genommen hatte. ,,Drüben am Osthang müssten welche sein. Wir müssen Vorräte anlegen; Essenbares, Wasser, Decken zum Schlafen. Lampenöl. Brennholz. Alles was uns nützlich ist.“

,,Ja, so ist es, denke ich, das beste“, stimmte ihm sein Bruder zu. ,,Wir bleiben vorerst hier.“

Die Männer staubten Gläser, die noch immer auf dem Tisch gestanden hatten, mit ihren Ärmeln ab und entkorkten die Flaschen. Nachdem die Ersten probiert haben, nahmen sie erleichtert einen zweiten Schluck. 

,,Balin…“ Beunruhigt wandte sich Fili an den alten Zwerg. ,,Unser Onkel…“

Alle weiteren Gespräche verstummten und eine bedrückte Stille machte sich breit.

,,Was ist mit ihm?“ Plötzlich sah er den traurigen Ausdruck in Balins Augen und seine Sorgen nahmen zu. ,,Seit wann ist er…?“ Ihm fehlten die Worte. Er überlegte, doch fand er keine, welche es am besten beschrieben.

,,Seit wann er so ist?“

Dieses so, wie Balin es nannte, beschrieb es wohl am besten. ,,Ja.“

,,Das weiß ich nicht, mein Junge. Wir bemerkten sein Verschwinden erst, als wir vom Rabenberg zurückkehren wollten. Er war unten beim Gold, als Bilbo ihn fand.“

Fili sah zu dem Hobbit und bat, ihm alles davon zu erzählen.

 

~

 

Außer Atem stakste er den Rest des Goldhügels hinab. Unter jedem seiner Schritte knirschte und klirrte es laut. ,,Hier bist du. Wir haben dich gesucht.“

Nichts. Nicht einmal die kleinste Reaktion folgte. Fragwürdig musterte er Thorin. Durch den Kragen des Mantels, den er sich wie der Rest seiner Kleidung irgendwo geholt hatte, wirkten seine Schultern noch breiter, seine Erscheinung noch mächtiger. Er stand inmitten des Goldes, mit dem Rücken zu ihm. Vergebens wartete Bilbo auf irgendeine Antwort. Es schien geradezu, als hätte er sein Näherkommen nicht einmal bemerkt. Überhören konnte er mich kaum... Um ihn falls doch nicht zu erschrecken, trat er vorsichtig an seine Seite, hob den Kopf und sah ihn an.

Ausdruckslos blickte der Zwergenkönig an ihm vorbei, als wäre er in tiefste Gedanken versunken. Um herauszufinden, wohin er schaute, folgte der Hobbit seinem Blick.

Vor ihnen fiel eine senkrechte Kante ab, sodass sie von dieser Selle aus die gesamte Schatzhalle überblicken konnten. Bilbo fiel auf, dass sie einem Amphitheater ähnlich war, dessen Mitte den tiefsten Punkt bildete und sich, je weiter von diesem weg, die Goldhänge ebenenweise hoben. Wie bei Schneewehen waren die massiven Säulen von Schätzen verborgen.

Als Thorin zu sprechen begann, ließ die Tiefe seiner Stimme etwas in seinem Brustkorb vibrieren. ,,Hast du jemals so etwas Gewaltiges gesehen? Etwas, was zugleich Schönheit und Macht besitzt…und dich so fesseln kann, dass du nichts als Ehrfurcht verspürst?“

,,Nein.“ Das hatte er jetzt nicht erwartet. Sein Respekt vor diesem Zwerg wuchs noch einmal. Nicht nur durch die neuen Kleider wirkte seine Ausstrahlung anders. Insgesamt war er anders.

Noch einmal sah sich Bilbo ihn an - und auch jetzt erwiderte er seinen Blick nicht. Rein äußerlich schien er sich nicht verändert zu haben; der schwarze Bart, die markante Nase, dunklen Augenbrauen, lange Haare…führte Bilbo die Liste fort. Und doch machte sich ein mulmiges Gefühl breit. ,,Nein, wahrlich nicht.“

,,Mein Volk hat es aus den Tiefen des Erdreiches geschöpft. Mit seinem Reichtum konnten wir unser Land errichten und es zu dem machen, was du heute siehst. Es ist die Lebensader des Berges. In den Blauen Bergen ist es das Eisen, in den Eredmithrin das Silber, in Nogrod Erze, sowie in Erebor es das…“ Thorins Lippen öffneten und schlossen sich. ,,…das Gold ist.“

Seine Stimme war bei diesem Wort plötzlich um einiges tiefer und dunkler geworden. Weil es so plötzlich kam und auch wieder verschwand als sei nichts gewesen, wusste Bilbo nicht, ob er sich bloß verhört hatte.

,,Und es ist immer noch hier“, sprach er mit gehärteter Stimme weiter, durch die Bilbo seine Ehrfurcht für diesen Ort spüren konnte. ,,Wir stehen hier und schauen…und können uns doch nur ein Bruchteil von seinem Wert vorstellen. Man fühlt sich gar wertlos, wenn man seine ganze Pracht mit seinen eigenen Augen sieht.“ Sein Mund wurde zu einem dünnen Strich. ,,All die Zeit lag es hier. Niemand hat meinem Großvater geglaubt.“ Bilbo sah zu ihm hinauf und Thorin laß die Frage von ihm ab, als hätte er sie gesehen. ,,Dass Erebor eines Tages wieder frei ist. Es waren nicht bloß nur Worte einer alten Frau.“

,,Darüber wollte ich mit dir nochmal sprechen…“ Er schluckte, spürte das mulmige Gefühl in seinem Bauch deutlich. ,,Die Menschen aus Esgaroth…“ Abermals stockte er, denn der Ausdruck in Thorins Augen wurde plötzlich sichtbar härter. ,,I-ihre Stadt wurde zerstört…“

Ungerührt hab er das Kinn. ,,Die Prophezeiung hat ihre Erfüllung gefunden.“

Aber die Menschen… Bilbo biss sich auf die Zunge und ließ seinen Einwand da, wo er war. Lag es an seiner neuen Erscheinung oder seinem abwesenden Blick, denn er empfand eine Kälte, wie er sie schon einmal gespürt hatte. Er musste an ihr Gespräch denken, als sie in dem Hause des Bürgermeisters von Seestadt eingekehrt waren, und an das ,, und wenn schon… “ Wieder fühlte es sich an, als würde er gegen eine Wand reden…nur dass diese nun dicker war. Er konnte es sich nicht erklären. Was war passiert, als er hier alleine war? Am Morgen hatte er nicht bei ihnen gestanden, sondern der brennenden Stadt den Rücken gekehrt. Waren ihm die Schicksale der Menschen denn so vollkommen egal?

Bilbo entschloss sich zu einem letzten Versuch. ,,Wir wollen etwas zu essen suchen. Kommst du mit hoch zu uns?“

,,Später.“

Er nickte und wandte sich zum Gehen ab. Viel mehr würde er hier und jetzt nicht erreichen.

,,Mein Großvater sprach von dieser…Kraft. Damals verstand ich ihn nicht.“

Bilbo drehte sich wieder zu ihm und seine Nackenhaare stellten sich auf, denn Thorin schaute ihn direkt an. Bei der Intensität seiner Augen und diesem schimmernden Blick wurde ihm kalt. Seine graue Iris war wie flüssiges, kaltes Silber.

,,Heute tu ich es.“

 

 

5

 

Für einen Moment schwieg Fili, um über das Gehörte nachzudenken. ,,Du sagtest, er sei krank.“

,,So scheint es mir.“

,,Ist er das wirklich, Balin?“, fragte er, wobei eine ganz andere Frage ihn viel mehr beschäftigte. Und wenn ja, ist es wirklich die Krankheit?

Der weißhaarige Zwerg öffnete den Mund, ehe seine Augen an Thorin hängen blieben.

Wie bei etwas ertappt, drehten sich alle zu ihrem Anführer um, der auf einmal im Raum stand und düster zurück starrte.

Bilbo schielte von Balin, der in diesem Moment sichtbar schluckte, zu Thorin, der erhitzt und erschöpft zugleich wirkte. Wie viel hat er mit angehört?

Thorin rang mit sich selbst, seinen ersten Gedanken zu unterdrücken, doch behielt ihn sich im Gedächtnis. Er würde sich später damit beschäftigen und seinen alten Freund zu Rede stellen.

,,Ich wusste, ihr würdet es schaffen.“ Der König Erebors trat ein und der Saal schien augenblicklich zu schrumpfen. Sein Mantel wölbte sich auf, als er mit wenigen Schritten den Raum zu seinen Neffen überwand. Er fasste ihnen in die Haare und legte die Stirn an ihre - ein Ritual ihres Volkes, so alt wie die Zeitrechnung. Die Jungs fassten ihm auf die Arme und genossen seine unvorhergesehene liebevolle wie innige Geste.

,,Jetzt seid ihr hier, wo ihr hingehört“, murmelte er leise. Eine tiefe Ruhe erfüllte ihn und ließ ihn die Augen schließen. Seine Neffen wohl auf zu sehen, tat gut. Es war, als verschwanden dichte, graue Wolken an einem verregneten Tag.

Er legte ihnen die Hände auf die Schultern und sein Blick wanderte zu den anderen. ,,Wir haben es geschafft.“

Die Männer sahen in die Runde. Es waren alle längst vertraute Gesichter, in die sie schauten.

Vor über einem halben Jahr waren sie auf Gandalfs Geheiß im Auenland bei Bilbo Beutling zusammengekommen, um zu dieser Mission aufzubrechen. Zusammen als Gemeinschaft waren sie den Trollen und Azogs Häschern entkommen, waren bei Herr Elrond in Bruchtal zu Gast gewesen, im Nebelgebirge in einem Unwetter mitten in einem Kampf zwischen Steinriesen geraten und aus der Gefangennahme von Bilwissen geflüchtet. Sie hatten die Brandschlacht überlebt, waren in Maries Obhut und bei Beorn gewesen und im Düsterwald Spinnen, Elben und Stromschnellen entkommen. Sie hatten die Orks hinter sich gelassen und waren schließlich in Esgaroth zum Berg aufgebrochen, wo sie Smaugs Feuer und Zorn überstanden hatten.

Es waren treue Gesichter, die sie sahen, mit denen sie auf dieser Reise nebeneinander gestanden und gekämpft hatten. Trotz aller Gefahren war ein jeder von ihnen hier an diesem Ort. Sie hatten es geschafft.

Jemand begann zu lächeln und steckte damit weitere an. Und dann lächelten alle. Lachen breitete sich aus, erleichtert und froh ihre Aufgabe vollbracht zu haben.

,,Leute, das schreit geradezu danach, darauf einen zu trinken.“ Sogleich bediente sich Bofur am Wein und begeisterte Zustimmung erfüllte den Saal.

Es ist alles noch an seinem Platz… Ungläubig sah Fili zu, wie Dori die Gläser von der Tafel nahm, um sie zu säubern und dem großzügigem Verteilen von Bofur nachzukommen, als auf einmal eine kribbelige Ahnung durch seinen Körper schoss. Aufgeregt rüttelte er an seinem Bruder. ,,Es ist alles noch da. Kili, weiß du, was das bedeutet?“

Zuerst verwirrst über diesen Gefühlsausbruch sah dieser ihn an, doch allmählich glätteten sich seine Züge, als er die Bedeutung dessen begriff.

,,Geht durch den Nordflügel.“ Wie aus dem Boden geschossen stand Balin plötzlich neben ihnen. ,,Immer höher, die Treppen hinauf.“ Seine braunen Augen schimmerten, als er die jungen Männer wie der liebevolle Großvater ansah, der er für sie war.

Bofur schleckte sich den Wein von den Fingern. ,,Kommt endlich her, hab für jeden schon mal voll gemacht…“

,,Nein.“ Die Stimme war von kalter Dominanz, sodass sich augenblicklich alle ein zweites Mal umdrehten.

Mit den knappen Worten ,,das kann warten“ ging Thorin zurück zum Treppenansatz, wo er hergekommen war. ,,Zuerst müssen wir den Arkenstein finden. Er ist immer noch dort unten.“

Unentschlossen, was sie tun sollten, bewegten sich seine Männer nicht vom Fleck. Ihre Bäuche schmerzten vor Leere, sie hätten im Stehen schlafen können…und doch wussten sie, dass es ein Befehl gewesen war. Ein Befehl ihres Königs Und den hatten sie zu befolgen.

,,Lauft.“ Balin gab den Brüdern einen Stoß und die Junge rannten los, vorbei an ihrem Onkel, der herum fuhr. ,,Kili! Fili!“

,,So lass sie doch, Thorin.“ Balin legte ihm eine Hand auf die Schulter. ,,Wir können auch ohne sie suchen.“

Strafend richtete er seine zornige Miene auf den Zwerg, doch Balin lachte nur in seinen Bart hinein. ,,Lass sie“, wiederholte er mit aller Ruhe. ,,Meinst du nicht auch, dass sie das Recht darauf haben?“

Thorin sah hinter den beiden her, deren Silhouetten gerade noch um die Ecke huschten. Und mit einem tiefen Seufzer ließ er sie gehen.

 

~

 

Sie nahmen zwei Stufen auf einmal, manchmal drei mit einem Satz. Die breiten Treppen von Gabod-dûm , wie die größte, zentral gelegenste Halle der Zwergenstadt, in der gigantische Säulen Platz fanden, genannt wurde, flogen nur so unter ihnen fort. Seite an Seite jagten sie wie der Schatten des anderen durch die verlassenen Bauten. ,,Weißt du überhaupt, wo es lang geht?!“, rief Kili.

,,Nein, aber ich hab da so ein Bauchgefühl!“

Sie sahen die Gewaltigkeit und die Kunst der Stadt unter dem Berge. Einstige Könige und Helden bewachten ihren Weg, für die Ewigkeit in Stein gemeißelt.

,,Komm schon!“, spornte Fili seinen Bruder an.

Kili zog sich am gemeißelten Geländer hoch, welche die Treppen säumten, und hielt sein Bein, doch der Schmerz der Wundheilung war schwach. Neugierde und Erwartung viel größer, ließ ihre Herzen vor Aufregung pochen.

Sie gelangten in immer höhere Ebenen. Keuchend jagten sie mit wehenden Haaren durch die Gänge und über frei führende Wege. ,,Da lang!“ Kopf an Kopf lieferten sie sich ein Rennen, bis Fili um eine scharfe Ecke bog.

,,Wohh!“ Kili schwankte über den Rand. Vor ihm öffnete sich Gabod-dûm und für einen Herzschlag lang sah er in ihre bodenlose Tiefe hinab. Seine Stiefelspitzen ragten über die Kante hinaus, in die sich noch verzweifelt seine Fersen bohrten, während kalte Luft an seinem Körper zog und sich das tödliche Nichts vor ihm auftat, auf das er zusteuerte... Doch Fili war bei ihm und packte ihn. Zusammen mit ihm verlor er das Gleichgewicht und stürzte auf den staubigen Boden.

Nach Atem suchend setzten sich die Brüder auf. ,,Mann, das war knapp.“

,,Wie oft muss ich dir eigentlich noch deinen Arsch retten?“ Fili schob ihn von sich, da Kili auf ihm gelandet war, und trat nach seinem Hintern.

,,Bis jetzt machst du doch deine Sache ganz gut, Bruderherz.“

Fili ergriff die ausgestreckte Hand und ließ sie von ihr auf die Beine ziehen. ,,Gewöhn dich nur nicht daran.“

 

Als sie am Fuße einer großen Treppe ankamen und zwei Gänge unter ihr in die entgegengesetzten Richtungen führten, blieben sie stehen. Kili stützte sich an die Wand und beugte sich auf die Knie. ,,So…Und jetzt?...Wo lang?“, japste er zwischen den Atemzügen.

Ratlos schaute Fili die leeren Flure hinab. Ein roter Teppich führte die Stufen, der sich leicht nach links schwenkenden Treppe hinauf. Über ihnen hingen an Ketten Lampen aus grünem Glas.

,,Geb zu, dass wir uns verlaufen haben.“

,,Haben wir nicht“, beharrte Fili stoisch. Bis jetzt hatte er sich immer auf sein Bauchgefühl verlassen, doch jetzt wusste er nicht mehr weiter. Neben Kili in einer Nische in der Wand stand auf einem Sockel eine Statue. Er trat näher. Der abgebildete Zwerg war ein Gelehrter, dessen prächtiger Bart zu einem dicken Zopf geflochten war, während sich auf seinem Kopf bloß noch ein Haarkranz gehalten hatte. Er hielt Schriftrollen in der Armbeuge. Seine andere Hand war nach rechts den Gang entlang gewandt.

Mit großen Augen folgte Fili seiner Weisung. Die Bibliothek… Dann schaute er dem dicken Gelehrten ins Gesicht. Das Doppelkinn… Dazu die Nase… ,,Wie ein Schwein…“

,,Was sagt du?“

,,Ich erinnere mich… Daran erinnere mich! Haha, ich hab ihn Schwein genannt!“ Fili fuhr herum und eilte auf die Treppe zu.

,,Und was hat das jetzt zu bedeuten?“ Verwundert sah Kili zwischen der Statue und seinem Bruder hin und her, der bereits die Stufen hoch jagte. ,,Hey! Kannst du mir das mal erklären?“

,,Später! Komm, Kili, es ist nicht mehr weit. Wir sind Zuhause!“

 

Oben angekommen gelangten die Brüder in einen Saal. Inzwischen hatte Kili aufholen gekonnt, doch dann entdeckte er rechts und links große Wandteppiche hängen. Weit über den glatten Boden schlitternd kam er zum Stehen. Sofort sah er die dicken, sich ballenden Wolken, dazwischen gelbe Blitze. Ein Zwerg mit weißem Haar war abgebildet, neben ihm sieben Steine, die im nächsten Bild zerbarsten. ,,Fili, das ist die Geschichte von Durin!“ Über die unzählbaren Fäden des Teppichs hatte jemand mit der Hand gestrichen. Man konnte die dunkleren Spuren im Staub sehen, die die Finger hinterlassen hatten. ,,Jemand ist bereits hier gewesen!“

,,Kili!“, hörte er seinen Bruder nach ihm rufen, der schon voraus gerannt war. Kili warf einen letzten Blick auf die Abbilder der Götter, ehe er sich anherrschte, ihn nicht zu verlieren. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Anders als seinem Bruder, gab ihm nichts hier Anhaltspunkte. Alles, was er bis jetzt gesehen hatte, war fremd und neu für ihn.

Zum Glück hatte sein Bruder auf ihn gewartet und zusammen rannten sie die nächste imposante Treppe empor, auf der nun ein grüner Teppich die Geräusche ihrer Schritte dämpfte. Oben im Flur angekommen, bog Fili nach rechts, sein Bruder folgte ihm. Grau flogen die Wände an ihnen vorbei…bis Fili wie angewurzelt stehen blieb, sodass Kili gegen ihn prallte.

,,Aah…“ Er rieb sich das stoppelige Kinn. ,,Warum bleibst du stehen?“

Fili antwortete nicht. Seine Augen waren groß, ihr Grau und Grün glänzend, als er auf die Tür starrte, vor der sie standen. Sein Mund zitterte, als er drei heisere Worte hervorbrach: ,,Es ist hier.“

Und da begriff Kili. Wie sein Bruder starrte auch er nun die Tür aus schwerem Eichenholz an, hinter der ihre Vergangenheit lag. Irgendwann wurde ihm die Situation bewusst. ,,Worauf wartest du?“

Bei seiner Stimme im Ohr schreckte Fili auf. ,,Was?“

,,Willst du hier Wurzeln schlagen? Mach sie auf!“

Das Wissen, dass sie am Ende ihrer Suche waren, dass sie vielleicht Antworten auf lang gehegte Fragen bekommen würden, ließ ihn zögern. Nur eine Tür waren sie getrennt von ihrem Leben als Prinzen, aus dem sie einst mit Gewalt gerissen wurden. Er brauchte nur die Hand ausstrecken…

Was würden sie dort drinnen finden?

Noch eine Minute länger und Kili wäre verrückt geworden. Vor Ungeduld hätte er die greifbare Spannung fast zerrissen, doch endlich fasste sein Bruder die Türklinke. Die Angeln gaben mit einem lauten Quietschten nach und die nur angelehnte Tür schwang auf.

 

 

6

 

Wie lange sie in dem kalten Eingangsbereich dagestanden hatten, konnten sie im Nachhinein nicht sagen. Nach gefühlten Minuten, die verstrichen sein mussten, verschwand die Lähmung ihrer Körper. Das Blei in ihren Beinen verflüchtigte sich und endlich wagten es die Brüder einzutreten.

Fili schluckte an seiner trockenen Kehle. Es war geradezu unheimlich. Diese Stille - wie lange mochte sie schon in diesen Räumen hier oben ruhen? - die Eindrücke, die ihn regelrecht überfluteten. Tageslicht strömte durch die bleiverstrebten Fenster, die von üppigen Gardinen eingerahmt wurden, und enthüllte einen reich ausgestatteten Wohnraum, der seit Jahren unangetastet geblieben war, und trotz Staub und Spinnweben ein friedvolles Bild aus seiner Kindheit in ihm hervor rief.

In dem Raum standen zu ihrer Linken ein Tisch und Stühle, die einem privaten Esstisch gleichkamen. Er sah die großen Truhen, die unter den Fensterbänken standen, und fragte sich, ob er als Kind auf eine geklettert war, um aus dem Fenster auf das Gebirge blicken zu können. In der anderen Raumhälfte waren Sofas und Sessel einladend um einen kleinen Tisch angeordnet. Einige Teppiche waren auf dem Boden ausgebreitet, die vielen Möbel aus edlem Holz.

Filis Blick wanderte zum großen Kamin hinüber, deren Feuerkuhle längst erkaltet vor ihnen lag. Dann entdeckte er davor etwas. Eilig trat er näher, ließ sich auf die Knie fallen.

Auf dem weichen Fellteppich lagen Holzklötze und geschnitzte Figuren. Meist waren es Ponys aus Holz. Manche davon lagen auf den Rücken. Ungläubig hob Fili eines auf. Er drehte es, sah die liebevolle Handarbeit, mit der es gefertigt worden war.

Die Erinnerungen kamen so plötzlich, wie eine einst gehörte Melodie.

Ein Kind lachte und quickte mit hoher Stimme: ,,Papa!“

,,Ich will auch einmal Soldat werden, so wie du, Vati.“

,,Das wirst du!“, er lachte, laut und herzlich, ,,Natürlich, wirst du das!“

,,Mama, Kili schmeißt die ganze Zeit die Figuren um!“

,,Lass ihn, mein Schatz, er ist noch klein. “

,,Mama, wo gehst du hin? Papa hat doch gesagt, wir sollen hierbleiben…“

,,Ich hab dich lieb, Mami.“

,,Ich dich auch, mein Schatz…“

Unweigerlich waren ihm Tränen in die Augen getreten. Eilig blinzelte er, um sie für sich zu behalten. ,,Dieser Ort ist wie die Erinnerung aus einem Traum.“

Kili sah auf seinen Bruder, der dort vor ihm am Boden hockte. Gerne hätte auch er von diesen Erinnerungen kosten dürfen. Für ihn war das alles hier fremd. Trotz der Fremde, die ihn ihr umfing, spürte er die fast schon magische Anziehungskraft dieses Ortes, zu dem er eine, für ihn verborgene Verbindung in seinem Innersten besaß. Viele Male hatte er es sich ausgemalt, wie es wohl wäre, wenn… Doch nichts von all dem kam an die widersprüchlichen Gefühle heran, welche jetzt in ihm wüteten.

Filis Aufmerksamkeit fiel auf ein Holzschwert, was zwischen den Spielsachen lag. Erneut wurden seine Augen groß, sein Mund öffnete sich vor Ungläubigkeit, als sich seine Hand danach ausstreckte. Er nahm es am lederumwickeltem Griff, hielt das Holz wie eine echte Waffe vor sich hoch. ,,Das…das ist meins“, brach er hervor, betrachtete die stumpfe, abgeschmirgelte Klinge an der das Heft genagelt war. ,,Vater hat es mir geschenkt, als…“, ich ein Geschwisterchen bekam, beendete er im Geiste und drehte sich zu seinem Bruder um, der gerade ein blaues Tuch aufhob, was am Boden gelegen hatte.

,,Das gehörte dir.“

Ruckartig hob Kili den Kopf, starrte ihn an.

Fili nickte und wies zu den Spielsachen auf dem Teppich. ,,Wir haben hier oft gespielt. Und dort“, mit dem Schwert wies er auf einen Ohrensessel neben dem Kamin, ,,hatte Mutter gesessen und uns zugeschaut.“

Wieder starrte sein Bruder nur auf das Wickeltuch, rieb den weichen Stoff zwischen seinen Fingern. ,,Ich kann mich an nichts davon erinnern.“

In Fili schmerzte es. Er wusste nicht, was er sagen sollte, ohne seinen Bruder zu kränken, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Bei dem scharfen Atemzug horchte er auf, sah wie Kili mit weiten Schritten und hoffnungsvollem Leuchten in den braunen Augen zum Kamin eilte. ,,Das ist unser Onkel.“

Kili hatte Bilder entdeckt, die auf dem Kaminsims standen und sofort erhob sich auch Fili. Er nahm einen der dunklen Rahmen, befreite das Glas mit seinem Ärmel vom Staub und zusammen schauten sie sich das Bild von ihrem Onkel an, der darauf nur wenig älter gewesen sein musste als sie es jetzt waren. ,,Und wer ist das daneben?“

Neben Thorin stand ein jüngerer Zwerg mit braunem Haar. Auf Filis Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. ,,Onkel Frerin.“ Die Brüder hatten dieselben Nasen. Auch ihre Gesichtskonturen ähnelten sich. Thorins Augen blickten stolz und selbstbewusst. Aus Frerins funkelte der Schalk.

,,Ja…unverkennbar“, stimmte Kili ihm lächelnd zu. Es wandelte sich jedoch zu einem Staunen, als er ein anderes Bild sah. Schnell legte er das erste beiseite und nahm mit zitternden Händen ein anderes. Auf einem Kissen saß ein blond gelockter Junge. In seinen Armen lag, in jene blaue Decke gewickelt ein Baby. ,,Das sind wir“, flüsterte er tonlos, starrte auf das Baby mit den vielen braunen Haaren.

Fili konnte nur mit dem Kopf schütteln. ,,Ich kann‘s nicht glauben.“ Völlig perplex sahen sie zusammen auf die beiden Kinder. Etwas anderes als zu atmen konnten sie im ersten Moment nicht.

,,Kneif mich. Ich glaube, ich träume.“

,,Nein, es ist kein Traum. Ich hab denselben.“

,,Falls es dennoch bloß einer ist, bringe ich denjenigen um, der mich weckt.“ Vorsichtig stellte Kili es wieder zurück an seinen Platz. Auf dem Sims verteilt standen viele solcher Bilder. Beim Überfliegen der kleinen Gemälde sah er ältere Männer und Frauen, von denen er vermutete, ihre Großeltern und Urgroßeltern zu sehen. Dann seufzte er. ,,Es ist alles so…so viel auf einmal…“

,,Ich weiß, was du meinst“, antwortete Fili und begann, im Raum umher zu gehen. ,,Mir geht es genauso.“

Auch Kili schlenderte nun durch das Gemach, schaute sich die hohen Decken und den von Spinnweben ummantelten Kronleuchter an. Als er sich vor dem Sessel stehend wieder fand, überkam ihm ein tiefes Gefühl des Vermissens. Über der Armlehne lag ein weißes Fell, daneben, auf einem Tischchen ein Buch. Kili nahm es in die Hand. Zwischen den Seiten steckte noch das Lesezeichen.

Und plötzlich musste auch Kili mit seinen Gefühlen ringen. Er atmete einmal tief durch und warf einen Blick zu Fili, der jedoch nichts davon mitbekommen hatte und soeben in ein Zimmer trat, was links, auf der Seite der Tür angrenzte. Kili schaute zurück auf das Buch, dessen Titel vor seinen Augen verschwamm. Das musste sie als letztes gelesen haben… Ihn überkamen wieder die Sehnsucht und die Enttäuschung, die er schon oft verspürt hatte. Er fragte sich, ob sie ihnen daraus je etwas vorgelesen hatte - oder aus einem anderen. Wie gerne hätte er ihre Stimme in diesem Moment gehört. Nur ein einziges Mal. Er würde alles dafür geben, sie ein einziges Mal zu sehen.

In der Zwischenzeit hatte es Fili in sein altes Zimmer geführt. Es war klein, doch damals hatte es für ihn gereicht. Er wusste, dass es einmal das Ankleidezimmer seiner Mutter gewesen war, als sie in diesen Räumen noch allein gewohnt hatte. Über dem Bett entdeckte er ein Blatt Pergament. Mit roter Farbe war ein kleiner Handabdruck darauf gedrückt worden. ,,Kili, sieh dir das an!“ Rasch legte er sein Holzschwert beiseite, was er unbewusst immer noch mit sich herumgetragen hatte. ,,Das hab ich gemacht.“ Er legte seine eigene Hand darüber, unter der die Kleine restlos verschwand. ,,So viele Erinnerungen kommen wieder… Das hier war mein Zimmer. Schau dir die ganzen Sachen an!“ Mit einem Ohr zur Tür wartete er auf sein Eintreten. ,,Kili?“, rief er erneut, horchte. Sein Bruder antwortete nicht.

Beunruhigt stand er auf und schaute aus der Tür. Der Wohnraum war leer, Kili nicht mehr da.

Fili ging nach rechts zum Schlafzimmer hinüber und bereits auf den Weg dorthin sah er ihn im Raum stehen. ,,Da bist du. Warum antwortest du denn nicht?“ Sein Bruder stand vor ihm und starrte die Wand hinauf. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er am ganzen Körper zitterte. ,,Kili, was hast du?“ Besorgt folgte er seinem Blick. Und dann sah auch Fili in die Gesichter seiner Eltern.

 

~


Unruhig wie ein Wolf im Käfig lief Thorin auf und ab. ,,Habt ihr irgendwas?“

,,Noch nicht“, kam die Antwort von Dwalin.

,,Hier ist nichts!“

Als er Oris Stimmchen vernahm, hätte er fast gelacht. Angesichts ihrer Situation war ihm jedoch alles Lachen vergangen. ,,Sucht weiter!“, entgegnete er schroff und wandte sich knurrend ab.

Obwohl die Müdigkeit ihn vorhin noch zu übermannen drohte, war sie nun verflogen. Seinen Mangel an Schlaf spürte er nicht. Auch nicht das gequälte Knurren seines Magens.

Er hatte andere, weit wichtigere Sorgen.

Thorin ließ sich auf den Stuhl hinter dem Tisch sinken und versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Sein Inneres war ruhelos wie eine aufgewühlte See im Sturm. Er musste den Arkenstein haben. Eher würde er keine Ruhe bekommen, das wusste er. Er ist das Königsjuwel, das fehlende Stück, das unsere Mission beendet, ging ihm wieder und wieder durch den Kopf, während er dem unregelmäßigen Klirren der Münzen von unten lauschte, wo seine Gefährten am Suchen waren. Unschätzbar in seinem Wert und Bedeutung. Hätte Bilbo ihn nur gleich bekommen… Thorin massierte sich die hämmernden Schläfen. Sie konnten jetzt nicht aufhören zu suchen. Er war dort unten irgendwo. Sie waren so nah dran…

Er befand sich auf einem Balkon, von dessen erhöhten Punkt er in die Schatzhalle blicken konnte. Es war ein Vorraum der Diamant-Kammer, wie der Bereich genannt wurde, wo die fertig bearbeiteten und geschätzten Edelsteine ihrer Werte und Größen nach gelagert wurden. Doch der Drache hatte in seiner Raffsucht fast die komplette Seite der, zur Schatzhalle hin liegenden Kammer aufgerissen. Krallen und Zähne hatten gierig den Fels wie das Fleisch seiner Beute aufgerissen, sodass Edelsteine in die Schatzhalle gelangt waren und der Drache sie unter sich horten konnte.

Frustriert und verbittert starrte Thorin auf das Geländer des Balkons. Er spürte ganz genau, dass die anderen seine Sorgen und Bemühungen nicht verstanden. War es ihnen egal, wo der Arkenstein sich befand? So schien es jedenfalls. Begriffen sie denn nicht, dass er ihn doch nur wieder zurück an seinem Platz wissen wollte? Über den Thron, dort, wo er hingehörte. Seine Väter vor ihm hatten unter seinem Licht auf dem Königsplatz gesessen - ein Bild, was untrennbar miteinander verbunden war. Sie verstanden ihn einfach nicht.

Du sagtest, er sei krank.

So scheint es mir.

Ist er das wirklich, Balin?

Seine Hände krallten sich in die Armlehnen, so feste, dass seine Gelenke schmerzten. Der Geschmack von Wut lag in seinem Mund. Ich bin nicht krank. Das haben schon ganz andere gesagt.

Alle haben es gesagt. Und nun sie.

Er hatte ihr Gespräch mit angehört, als er die Treppen hinaufgekommen war und war von seinem alten Freund enttäuscht gewesen. Warum hatte Balin die Krankheit nicht abgestritten, als Fili ihn gefragt hatte, ihn nicht verteidigt? Warum hatte er nicht auf seiner Seite gestanden?

Was ist…wenn…? Thorin schluckte, schaute auf seine eigenen Hände und sah die Spiegelung eines Drachen im Gold erneut vor sich…

Nein! Vom eigenen Selbstzweifel erzürnt ballte er sie zu Fäusten, die Kiefer hart aufeinander gepresst. Ich habe mich nicht verändert. Ich bin nicht krank.

,,Dieser Stein könnte überall sein“, murrte Oin.

Thorin erhob sich, grub die Hände in die Balustrade. ,,Der Arkenstein liegt in diesen Hallen. Findet ihn!“

,,Ihr habt’s gehört. Sucht weiter“, gab Dwalin das Kommando weiter.

,,Ihr alle! Niemand ruht bis er gefunden ist!“

 

~


Reste von Zinnen und Säulen ragten wie faule Zähne empor. Im weiten Tal herrschte eine gespenstische Windstille. In der Einsamkeit, die ihn hier oben auf dem Wehrgang umgab, konnte er seine Fußsohlen über Stein wetzen hören. Bilbo blieb stehen, atmete die eisige Luft ein und wieder aus. Dann schaute er sich um und setzte sich, als niemand anderes zu sehen war, auf einen abgebrochenen Steinbrocken. Er schniefte, bewegte die kalte Nase.

Die anderen waren am Suchen und er wusste, dass sie Wochen oder Monate noch damit zu tun haben würden; ein Grund, weswegen er sich davon gestohlen hatte. Die Stille im Tal tat ihm gut. Nie zuvor hatte er geglaubt, dass Stille auch laut sein konnte. Sie war zu laut, so unnatürlich still. Unnatürlich war dabei ein treffender Ausdruck.

Gerade mal eine Nacht und den verstrichenen Tag waren sie in diesem Berg und alles hatte bereits einen anderen Weg eingeschlagen. In seine Gedanken versunken schaute Bilbo zu den Ruinen von Dale hinüber. Dass er noch am Leben war, grenzte an ein Wunder. Er hatte Auge um Auge mit einem Drachen gestanden und überlebt. Nun musste er an jene Worte denken, die er nicht vergessen hatte. Die einschüchternde Stimme Smaugs hallte in seinem Schädel wieder, so klar, dass, wenn er die Augen schließen würde, denken könnte, er stünde wieder vor ihm.

Es lockt mich ihn dir beinahe zu lassen...und sei es nur um zu sehen, wie Eichenschild leidet. Zu sehen, wie’s ihn zerstört… Zu sehen, wie’s ihm das Herz verseucht und ihn in den Wahhnsinn treibt… Der glühende Rachen schnellte auf ihn zu und ihm blieb die letzte Chance, sich den Ring anzustecken. Als sein Verschwinden bemerkt wurde, waren nur noch Sekunden übrig. Unsichtbar hatte er nach dem Arkenstein gelangt, ihn fest an sich gedrückt, bevor er die Hitze des Feuers gespürt hatte und um sein Leben gerannt war.

Thorin konnte suchen, so viel er wollte. Er würde den Stein niemals finden.

Bilbo hatte es niemandem gesagt und so nahmen alle an, dass er ihn nie gefunden hatte.

Noch einmal sah er sich um, um auch ganz sicher unbemerkt zu sein, ehe er den Arkenstein aus seinem Mantel holte.

Das Herz des Berges, wie Gloin vom Stein über der Geheimen Tür vorgelesen hatte, war leichter als angenommen, so groß wie eine Birne und glatt wie Eis. In seinem flammend orangen Inneren war er  durchzogen von feinsten purpurnen Adern. Ihn umgab ein Blau, was nach außen hin heller wurde und sich in ein reines Weiß wandelte und ihn leuchten ließ. Manchmal da leuchteten und bewegten sich winzige Splitter in seinem Kern, fast so, als würde der Stein ein eigenes Leben besitzen. In diesem Moment schien es, als läge er müde und beruhigt von der Obhut des Hobbits in seinen Händen.

Du erkennst ihn, wenn du ihn siehst… Das stimmte - obwohl ihn Bilbo nicht als weiß beschrieben hätte. Für ein ,,Weiß“ war er einfach zu außergewöhnlich und zu schön. Etwas Vergleichbares hatte er nie zuvor gesehen.

Zuerst wusste Bilbo nicht, wieso er soeben an Smaugs Worte gedacht hatte, doch langsam bekamen die Sätze eine reelle Bedeutung. Das Bild von Thorin, als er letzte Nacht in der Schatzhalle zu ihm gestoßen war, tauchte vor seinem inneren Auge auf. Das Schwert auf ihn gerichtet… Diesen kalten, stählernen Schimmer in seinen Augen…

Er war nicht mehr er selbst. Und solange Bilbo nicht wusste, was mit ihm war, entschied er, dass Thorin das Juwel vorerst besser nicht bekommen sollte.

Beidhändig hielt Bilbo den Arkenstein in den Händen und ahnte, dass dieser Stein wohlmöglich auch sein Schicksal und das von Thorin war.

 

 

7

 

Ihr dichtes Haar glich Ebenholz. Zwei dicke, gedrehte Zöpfe, die mit Lederbändern zusammengehalten wurden, hingen über ihre, durch das schulterfreie Kleid betonten, zartblassen Schlüsselbeine. Flache Schmuckplättchen waren an den Wurzeln der Zöpfe eingearbeitet. Ihre Haare am Ansatz und den Seiten lagen nach hinten und gaben ihr Gesicht frei, bei dem jeder Maler vor Freude geweint hätte; dunkle, geschwungene Augenbrauen, volle Lippen. Dunkle Barthaare verliefen von den Ohren über den Unterkiefer bis zum Kinn. Tiefschwarze Wimpern rahmten graue Augen mit einem braunen Kranz ein. Trotz ihrer stolzen Haltung vermittelten sie Güte und Sanftheit.

Sie hatte den Kopf etwas nach links, zu ihrem Ehemann geneigt. Dicht an ihrer Seite stand ein breitschultriger Zwerg mit blondem Haar, hinter den einst so manch junge Zwergin her gelechzt hatte. Die Ähnlichkeit zu seinem Erstgeborenen war geradezu unheimlich. Bis auf ein paar wenige dünne Zöpfe waren seine Haare offen. Er trug einen kurzen Vollbart, wobei die Haare auf der Oberlippe zu zwei Zöpfen geflochten, die an seinen Mundwinkeln hinab hingen und mit Metallstiften verschlossen wurden. Unter seinem breiten Kinn waren sie zu einem dickeren Zopf gebändigt. Die Ausstrahlung seiner tiefgründigen grünen Augen war loyal, selbstsicher und ehrenvoll und allein durch dieses Bild sah jeder, dass er für seine Prinzessin an seiner Seite alles getan hätte.

Mit gekreuzten Beinen saß ihr Zweitgeborener auf der mit Staub überzogenen Bettdecke. Immer wieder suchten seine Augen das riesige Gemälde in dem verschnörkelten Rahmen auf, als fürchteten sie, dass die Pinselstriche jeden Moment verschwinden könnten. In seinen Händen lag das Buch. Er strich über den Einband, wo mit schwarzer Tinte der Titel geschrieben worden war.

,,Sie hat viel gelesen, oder?“ Beiläufig blätterte er durch die Seiten, auf deren vergilbtem Papier die vertrauten Zeilen ihrer Sprache niedergeschrieben worden waren.

,,Hm, sie war oft in der Bibliothek“, antwortete Fili, der zwischen den geöffneten Türen des enormen Schrankes stand, der mit zwei weiteren fast die gesamte Wand einnahm. Auf einer Stange reihten sich dicht an dicht Kleider. Andächtig glitten seine Finger über die verschiedenen Stoffe, drückten die Haken auseinander, um sie sich anzuschauen und sich vorzustellen, wie seine Mutter in ihnen ausgesehen haben musste.

Die Wände in dem Schlafzimmer waren zur Hälfte vertäfelt. Darüber waren sie mit roten Wandteppichen behangen. Ein Kinderbett stand vor dem Ehebett und Kili wusste, dass es seins gewesen sein musste. In der Ecke stand ein Ofen, der ihn und seine Eltern in kalten Nächten gewärmt haben musste.

,,Hast du sie dir so vorgestellt?“

Als er aufsah, hatte Fili sich zu ihm umgedreht und wies mit einem Nicken zu ihren Eltern hinauf. Wieder betrachtete Kili ihre Gesichter, an deren Anblick er sich noch nicht gewöhnt hatte. ,,Eigentlich schon.“ Das Gefühl, sie endlich so lebensecht gemalt zu Gesicht zu bekommen, hatte ihn überwältigt. Von der augenblicklich gefühlten Verbindung zwischen ihnen hatten ihm wahrlich die Knie geschlottert. Sein Bruder hatte ihn zum Bett führen müssen, damit er sich setzen konnte.

,,Du hast ihre Nase“, meinte Fili schmunzelnd.

,,Hm, und die Haare. Ich weiß noch, als Thorin einmal gesagt hat, dass, wenn wir Sehnsucht nach ihm hätten, du dich vor einen Spiegel stellen solltest. Jetzt weiß ich, was er meinte.“

Fili schmunzelte nur.

Sein Blick richtete sich zurück auf das Buch. ,,Mam hat Heldengeschichten gemocht?“

,,Helden, furchtlose Männer, die Jungfern und Prinzessinnen vor Orks und Monster retten, Nymphen. All so was, worauf Mädchen stehen. Vor allem die Legenden aus alter Zeit.“

,,Glaubst du, ihr würde unsere Geschichte auch gefallen?“

Fili schluckte am Stein in seiner Kehle, der ein kleines bisschen größer wurde. ,,Ganz bestimmt. Ich…“ Er sprach nicht weiter. Einen Moment lang hielt er inne, dann nahm er langsam das Kleid heraus, weswegen sein Atem stockte. Es war so lang, dass er drei Schritte zurück gehen musste. Weiß wie Schnee war der kostbare Stoff, unglaublich rein und so fein, dass er durch seine Finger zu rinnen schien. Er wand sich sanft über das perlenbesetzte Mieder und schien wie Wolken in den Rock überzugehen, bis hin zur verschwenderisch langen Schleppe.

Fili drückte das Mieder an seine Nase, schloss die Augen…doch ihr Geruch war unauffindbar.

,,Das ist ihr Hochzeitskleid.“

Die Stimme seines Bruders war dünn und brüchig. Kili sah, wie er mit hängenden Schultern dastand und einfach nur auf das Kleid hinab sah. Erlegte das Buch beiseite und stand auf. ,,Hey, großer Bruder, brauchst doch nicht flennen“, zog er ihn zu Ermunterung auf, als er das verräterische Flackern in seinen Augen gesehen hatte.

,,Tu ich doch gar nicht.“ Verlegen wischte er sich über die Nase. ,,Ich hab nur Staub im Auge.“ Da er Angst hatte, es wohlmöglich schmutzig gemacht zu haben, hängte er es zurück an seinen Platz. Achtsam es dabei nicht zu zerknüddeln schob er den Stoff zurück zwischen die anderen. Als er wieder zu Kili sah, hielt dieser eine flache Schachtel aus dunkelblauem Samt in den Fingern. ,,Was ist das?“

Dieser zuckte mit den Achseln und klappte sie neugierig auf. Im nächsten Moment wurden helle Lichtflecken auf ihre staunenden Gesichter geworfen. ,,Leck die Ziege…“

Auf Samt lag ein Collier, so prachtvoll, wie die beiden es noch nie gesehen hatten. An einer feinen Silberkette hingen großflächige, kristallartige Edelsteinen, die leicht in Rautenformen angeordnet waren, wobei der mittlere Teil der prachtvollste war. Überall an dem Schmuckstück funkelte es strahlend hell mit winzigen Lichtpunkten in allen Regenbogenfarben.

,,Ihr habt es gefunden.“

Bei der bekannten Stimme fuhren beide herum. Vor Schreck wäre Kili um ein Haar die Schachtel aus den Händen gerutscht. Im Türrahmen stand ihr Onkel.

,,Wir…“ Langsam schritt Thorin näher. ,,Tut uns leid, dass wir davongelaufen sind.“

Thorin seufzte. Inzwischen hatten sie die erfolglose Suche nach dem Arkenstein abgebrochen. ,,Schon in Ordnung. Wir werden morgen weitersuchen.“ Der Anblick seiner Neffen in diesen Räumen war eine Wohltat für seine miese Laune. Gern wäre er dabei gewesen, wie sie ihre Vergangenheit erforscht hätten. ,,Was habt ihr da?“ Kili hielt ihm die Schatulle hin und sein Mundwinkel hob sich. Vorsichtig nahm Thorin die Kette in beide Hände, sodass die leuchtenden Schmucksteine in der Luft hingen und in ihrer ganzen Pracht glitzerten. ,,Die Steine von Lasgal.“

Dieses Collier bildete das Glanzstück einer kleinen, mit solchen Steinen gefüllten Truhe. Aus dem reinsten Licht bestehend hielten die Elben sie gar für gefallene Sterne. Vor hunderten Jahren hatten ihre Völker versucht, Bündnisse zu schließen. Doch die Zusammenkunft eskalierte. Als Provozierung wurde die Truhe von jungen Zwergen direkt aus dem elbischen Lager gestohlen und Zwerge aus Erebor bekamen sie in die Hände. Einst hatte Thranduil die Herausgabe der Steine gefordert, doch Thror hatte ihm die Truhe vor den Händen zugeklappt und sie ihm verweigert. Heute war die Kette ein Erbstück, von jeder Königin an ihre Tochter oder Enkelin weitergereicht.

,,Ich kenne einen Elbenkönig, der einen stolzen Preis dafür bezahlen würde“, raunte Thorin mit dunkler Stimme.

,,Elben haben sie gefertigt?“, fragte Kili.

Wachsam schielte sein Bruder aus dem Augenwinkel zu ihm.

Thorin legte die Kette zurück in den Samt. Sein geantwortetes ,,Ja“ wurde von dem lauten Zusammenklappen der Schatulle überdeckt. Er gab sie zurück an Kili. ,,Doch nun gehört sie Erebor.“

Fragen lagen ihm auf der Zunge, doch etwas in den Augen seines Onkels hinderte ihm daran weitere zu stellen und so tat er sie wieder dorthin, wo er sie hergenommen hatte.

Thorin drehte sich um und entdeckte das Gemälde. Sein Herz zog sich bei dem Anblick seiner geliebten Schwester zusammen. Durin, wie schön sie gewesen war. Genau so hatte er sie sich in seinen Erinnerungen bewahrt. Wie lange ist es her gewesen? Auch betrachtete er seinen Freund, der, wie im Leben auch, treu und stark an ihrer Seite stand. Mit eigenen Augen hatte er gesehen, wie er um Dis gekämpft und sich aus Liebe gegen das Wort ihres Vaters gestellt hatte. Er hatte sich mit ihm in ein Rudel ausgehungerter Warge gestürzt, als Dis von Zuhause Reißaus genommen hatte, mit ihm in einer tobenden Schlacht gestanden und war bei ihm gewesen, als er seinen letzten Atemzug tat. Thorin blickte zu seinen Neffen, als sie an seine Seite traten, und ihm wurde wieder von Neuem bewusst, wie sehr sie sich doch ähnelten. Sie waren Fleisch und Blut von ihren Eltern, der Beweis ihrer fortwährenden Liebe.

,,Sie ist wunderschön.“

Thorin sah zu Kili, dessen Augen sehnsuchtsvoll auf seine Mutter gerichtet waren. ,,Ja, nicht wahr?“, hauchte er, während sich ein liebevolles Lächeln auf seinen Mund stahl. ,,Kommt, ich will euch etwas zeigen.“

Unter neugierigen Blicken ging er zu dem dritten Kleiderschrank, der jedoch nur halb so groß wie die anderen war. Er öffnete die Türen und die Jungs sahen, dass es Karifs gewesen sein musste.

Thorin griff hinein und holte zwei zusammengelegte Kettenrüsten hervor. ,,Die gehörtem eurem Vater.“ Gepanzerter Stoff und Kettenreihen knisterten und rasselten, als er die dicken Lagen losließ und sie sich in grau und gold ausbreiteten. ,,Und nun gehören sie euch.“

Mit geweiteten Augen starrten sie die Rüsten an, die er ihnen entgegen hielt. Es war eine Freude, ihre Überraschung zu sehen. Sichtbar fehlte ihnen die Sprache. ,,Legt sie an“, sagte Thorin verständnisvoll und sogleich begannen sie mit kindlicher Hast ihre alten Oberteile von sich zu zerren. ,,Und das.“ Er reichte ihnen langärmelige Hemden, die weit über den Hosenbund reichten. Kilis war tiefblau. Das graue von Fili hatte an den Händen und Unterarmen leichte Panzerungen in den Stoff eingenäht.

Thorin half ihm mit der Rüste, indem er sie ihm abnahm und hinhielt. Der blonde Zwerg drehte ihm den Rücken zu, schob seine Hände durch die langen Ärmel aus Leder und schob sie sich mit einem groben Schulterzucken höher. ,,Wie fühlt es sich an?“

,,Gut.“

,,Sie passen euch.“ Er strich sie über seine Schultern glatt. ,,Wie angegossen. Seht euch an.“ Die Hände in ihr Kreuz gelegt begleitete er sie zum Spiegel, der in der Ecke stand und so breit war, dass sie sich gleichzeitig betrachten konnten.

Kilis Rüste bestand aus goldfarbigen Kettenreihen, die stellenweise ab der Hüfte in Plättchen übergingen. Aufeinanderliegende, blaue Stoffplatten bildeten die Schulterstücke. Der Saum war olivgrün. Ein dunkelblauer, flacher Gürtel mit traditionellem Muster gehörte dazu.

Hingegen bestand Filis Rüste aus dickem, weichem Leder in grau-blau und braun. Die großen Schulterstücke und der Nackenbereich waren mit Kettenreihen überlegt. Abgerundet wurde es durch einen schlichten Ledergürtel.

Eines gab es aber noch zu erledigen. Thorin trat vor sie, rückte Kilis Sachen ordentlicher zurecht. ,,Hier seid ihr geboren. Hier gehört ihr hin“, sprach er und sah ihnen eindringlichen in die Augen. Er wollte ihnen keine Predigt halten, er wollte bloß, dass sie ihre wiedergefundenen Wurzeln schätzen sollten, um ihr Schicksal erneut antreten. ,,Ihr seid die Söhne von Dis, Tochter des Thrain, Prinzessin des Reiches Erebor, und Karif, Sohn von Khal, Hauptmann Erebors. Ich will, dass ihr das nie vergesst.“

Beide nickten. ,,Das werden wir nicht“, antwortete Fili ernst.

Anerkennend neigte Thorin sein Haupt. ,,Ihr seid Prinz und Kronprinz Erebors,“ sein Blick richtete sich zurück auf Fili, ,,…und sein zukünftiger Hauptmann.“

Als seine Absichten langsam die jungen Zwerge erreichten, schlug Kili freudestrahlen seinem Bruder gegen den Arm, doch Fili war nicht zum Lachen zumute. ,,Hauptmann?“ Ihm blieb das Wort fast im Hals stecken. ,,Aber ich…ich bin kein Hauptmann. Onkel, das…Das kann ich nicht.“

Thorin fasste ihn an der Schulter, sodass er ihm in die Augen schauen musste. ,,Du kannst das, Fili. Dein Vater hatte es von Anfang an in sich - und er war der Beste. Ich sehe es in dir, dass er es an dich weitergegeben hat. Du wirst das schaffen. Ich lehrte euch alles, was ich weiß. Du weißt, worauf es ankommt. Du wirst eines Tages in die Fußstapfen deines Vaters treten. Hast du mich verstanden, Fili?“

Fügsam senkte er die Augen, nickte.

Sein Onkel stieß den Atem aus, wies dann mit einer Kopfbewegung zur Tür. ,,Und nun kommt mit runter“, sagte er eine Spur sanfter. ,,Die anderen haben etwas zu essen aufgetrieben.“

 

 

8

 

Jemand pfiff beeindruckt, als die drei den Raum betraten. Betont lässig drehte sich Kili, um sich in seiner neuen Aufmachung von allen Seiten zu zeigen.

,,Meine Augen spielen mir Streiche. Es ist, als sähe ich deinem Vater ins Gesicht.“ Balin klopfte Fili gegen den Arm, vielleicht auch um von seinen schimmernden Augen abzulenken. ,,Eure Eltern wären stolz, euch so zu sehen.“

,,Danke, Balin“, murmelte Fili tief bewegt.

,,Schluss mit der Gefühlsduselei.“ Dwalin zog sich einen Stuhl zurück. ,,Wenn wir noch länger warten, verschmoren uns die Karnickel. Und dann werdet ihr deren Plätze einnehmen!“

Die Männer begaben sich an die bereits hergerichtete Tafel, wo Bombur damit beschäftigt war, die gebratenen Kaninchen zu zerteilen. Alle fanden Platz an dem großen Tisch, der früher den Ratsmitgliedern vorbehalten war. Wie von selbst hatte man Thorin dabei den Vorsitz zugestanden, dessen Stuhl als einziger mit Samt gepolstert und früher für den König bestimmt gewesen war. Zu seiner Rechten hatte sich Kili niedergelassen, auf seiner Linken Dwalin. Engste Vertraute zu beiden Seiten. Zu den brennen Fackelständern waren auf dem Tisch die Kerzen in ihren schmiedeeisernen Ständern entzündet worden. Der muffige Geruch von brennendem Staub und alten Wachs wurde vom Geruch des gebratenen Fleisches überdeckt.

Bilbo bemerkte, dass es unter dem Berge spürbar dunkler geworden war. Er wusste nicht, wie weit die Nacht entfernt war, vermutete jedoch, dass die Veränderungen der Lichtverhältnisse damit zusammenhingen. Wieder konnte er nur die Architektur der Zwerge bewundern.

Obwohl die fünf geschossenen Kaninchen für vierzehn Männer kaum reichten, murrte niemand. Alle waren dankbar. Zudem wurde Wein und Wasser herumgereicht.

Als Thorin den ersten Schluck Wein nahm, merkte er, wie durstig er war. Er sah die Tafel hinab, über seine, in Lumpen gekleideten Gefährten und ihr notdürftiges Mahl. Wir sind erst am Anfang. Erst müssen wir uns auf das Wiedererlangen des Arkensteins konzentrieren, dann auf alles weitere… Alles wird gut werden. Irgendwann.

Erneut spürte er dieses fremde Gefühl in seiner Brust, so intensiv, dass er einen tiefen Atemzug machen musste. Vielleicht brütete er eine Grippe aus. Auf eine Armlehne gelehnt legte er sich die Hand an die Stirn. Er hatte Kopfschmerzen. Ja, eine Grippe. Das wird es wohl sein. Das dämmernde Gefühl der Müdigkeit, was nun allmählich versuchte, Besitz von ihm zu erlangen, war wieder deutlich zu spüren. Thorin schob den leeren Silberteller von sich und füllte sich ein Glas mit Wasser.

,,Und, was habt ihr da oben erlebt, Jungs?“, fragte Dori an die beiden gewandt.

,,Wir haben Bilder gesehen“, erzählte Kili und schob sich das nächste Stück in den Mund. ,,Es ist, als wäre die Zeit eingefroren. Es war alles so… ich weiß nicht, so fremd und gleichzeitig vertraut…“ Angesichts der Euphorie auf seinem Gesicht mussten die älteren Zwerge lächeln. ,,Oh“, er schluckte, ,,und Fili wird Hauptmann werden.“

Dieser rammte ihm unter dem Tisch den Fuß in die Wade.

Zu allem Überfluss sagte Balin: ,,Ich bin mir sicher, er wird diese würdige Aufgabe sehr gewissenhaft erfüllen.“

Während Fili einen Todesblick seinem Bruder gegenüber zuwarf, der mit einem schuldlosen Schulterzucken weiter aß, gab es von überall am Tisch gemurmelte Zustimmungen.

Fili nestelte am Besteck herum und blieb den restlichen Abend über still.

 

Wenig später waren nur noch Knochen übrig, die Teller leer, doch die Gefährten saßen noch beieinander und leerten bei ruhigen Gesprächen den Wein. Meist aber hüllten sie sich in Schweigen. Sie hatten sich Pfeifen und Tabak gesucht und rauchte nach dem Essen. Die angespannte Stimmung der letzten Stunden war spürbar verflogen. Die Ersten gähnten bereits.

,,Wo warst du eigentlich vorhin, Dwalin? Du warst so plötzlich verschwunden“, fragte Bofur.

,,Auch ich bin ein wenig“, er begann in seinem Mantel herumzukramen, ,,in der Vergangenheit gewesen“, und holte etwas hervor.

,,Du meine Güte…“ Ein weiteres Mal an diesem Abend bekam sein Bruder nasse Augen.

Bilbo, der ihm nahe saß, spähte auf das Bild und nahm seine Pfeife aus dem Mund. ,,Wer ist das?“

,,Meine Kriegerin.“

Es war das erst Mal, dass Bilbo eine Zwergin zu Gesicht bekam – wenngleich auch nur gemalt. Ihre rote Lockenmähne, die über ihre rechte Schulter lag, fiel ihm als erstes ins Auge. Da ihr Gesicht etwas im Halbprofil stand, war der Blick frei auf die Fläche ungewöhnlich kurzer Haare auf ihrer anderen Kopfseite. Ihre blauen Augen standen im Kontrast dazu, die Bilbo sehr schön fand. Auch ihr Gesicht war hübsch anzusehen, obwohl es grobe Züge besaß. Natürlich sah er auch ihre Barthaare, die jede Zwergin mit Stolz trug und passend zu ihrer Haarfarbe waren. Sie trug sie kurzgeschnitten am Kinn. Dieser Anblick war für ihn jedoch etwas befremdlich.

,,Hast du eine Frau, Bilbo?“, fragte Thorin.

Dieser sah zu ihm hinüber. Das verstrebte, milchige Glas über Thorin in der Wand kam dem Abbild des Thrones gleichkam, den sie auf dem Steinblock über der Geheimen Tür gesehen hatten.

,,Ich?“ Eher gezwungenermaßen stieß er ein Lachen aus. ,,Nein, nein.“

,,Warum nicht?“, fragte Nori. ,,Gibt es keine hübschen Frauen in Beutelsfeld?“

,,Doch…“

,,Und da ist keine dabei, die dir gefällt?“

,,Doch. Nur…Ich bin in diesen Dingen nicht so.“ Unwohl über dieses Thema offen zu sprechen paffte er an seinem Kraut. Bei dem, was er auf der Reise schon alles von den Männern aufgeschnappt hatte, war er wahrscheinlich eh geschädigt fürs Leben.

Thorin zog höhnisch den Mundwinkel hoch. ,,Unser Meister Beutling muss wohl erst noch auf den Geschmack kommen.“ Die Männer lachten. Als hätte er Mitleid mit ihm, wuschelte Nori ihm durch die Haare. Bilbo errötete und zog den Kopf zwischen die Schultern.

,,Liegst du einmal bei einer Zwergin, willst du nie wieder aus dem Bett“, warf Gloin dazwischen.

Fast schon wehmütig strich Dwalin neben ihm über das Glas des Bildes. ,,Die Schönste von allen. Wie eine Khazâd-felak. Ich sag es euch.“

Bilbo hatte diesen Ausdruck schon einmal aufgeschnappt. Es waren die Götter des Zwergenvolkes, die außergewöhnlich stark, ehrenhaft und schön gewesen sein sollen. Kinder Durins wurden sie auch genannt, da sie von ihm einst aus Stein gemeißelt und vom Donner eines Gewitters zum Leben erweckt worden waren. Den Legenden nach sollen alle Zwerge von ihnen abstammen und die sieben Zwergenreiche von ihnen gegründet worden sein.

,,Jaja…Red‘ du man“, kam eine Bemerkung. ,,Meine ist die Schönste.“

,,Pah, wohl kaum! An mein Prachtweib kommt keiner ran.“

,,Dass sie bei dir Pfosten geblieben ist, ist für mich unbegreiflich. Ist es eigentlich wahr, dass du deine Jungfräulichkeit an eine Ziege verloren hast?“

 ,,Wenigstens hat er sie schon verloren. Stimmt’s Ori?“

Während Ori sich seinen Schal über das Gesicht presste, brachen alle anderen in schallende Gelächter aus und hitzige Diskussionen über Frauen und, wie Bilbo es wiedergeben würde, den schönsten Nebenbeschäftigungen der Welt entflammten.

Die Diskussionen zogen an Thorins Ohren entlang. Seine Gedanken wanderten ebenfalls zu einer Frau. Auch sie war für ihn eine Khazâd-felak gewesen. Schon seit geraumen Stunden hatte er das Gefühl, eine Regung in sich wahrzunehmen, die da vorher nicht war. Als würde im Verborgenem ein Raubtier schlummern, auf etwas wartend. Mächtig und dunkel. Genau diese Dunkelheit ballte sich plötzlich zu einer zähflüssigen Masse zusammen und erfüllte ihn mit einer kalten, wissenden Ruhe. Er dachte an ein schönes Gesicht, an blauen Augen und hellblondes Haar. Eine Stimme flüsterte ihren Namen: Sladnik

Als könnte er gleichzeitig sie und seine Gedanken erwürgen, umfassten seine Hände die Lehnen, sodass es im Holz knackte. Seine Seele kämpfte sich zurück aus dem schwarzen Nebel, der sie augenblicklich bedrängt hatte, und zerrte das Raubtier zurück in einen hintersten Winkel seines Innersten. Krampfhaft versuchte Thorin, das lästige Gefühl zu verdrängen, konzentrierte sich auf etwas anderes, starrte auf die Flamme der Kerze vor sich. Als ihr Bild endlich verschwunden war, lehnte Thorin sich zurück, versuchte, sich zu entspannen. Der Wein musste schlecht und ihm zu Kopf gestiegen sein, der nun von jeder Minute schwerer zu werden schien. Wie eine verlockende Decke legte die Müdigkeit ihren dämmernden Zustand über ihn.

 

,,Einmal, da hat sie mit ihrem kleinen Finger….“

,,Pscht“, zischte Bofur.

,,Geht das Gezische schon wieder los?“

Bofur deutete auf jemanden.

Den Arm auf die Tischplatte gelegt, den Kopf darauf, war ihr Anführer eingeschlafen. Im Schlaf waren seine Züge angespannt, so als würde er angestrengt nachdenken. Fili kannte diesen Ausdruck auf seinem Gesicht. Schon öfters hatte er ihn gesehen, häufig, wenn ihn etwas belastete.  

,,Lassen wir ihn schlafen“, flüsterte Balin. ,,Er braucht ihn dringend.“ Ein sorgenvoller Unterton schwang in seiner Stimme mit, den es nicht zu verbergen galt. ,,Kommt, Jungs, es war eine lange Nacht – für uns alle.“

Leise kratzten Stuhlbeine über den Boden. Kerzen wurde ausgeblasen. Es wurde ruhig im Erebor.

 

~

 

Erneut nahm er einen Schluck, hörte das Geräusch, wenn der klarflüssige Inhalt schwenkte und gegen sein Gefängnis aus Glas traf. Wie eine Melodie, die immer wiederkehrte.

Der Alkohol war sein Verbündeter in diesen Tagen, der einzige dessen Anwesenheit er ertragen konnte. Die Flüssigkeit rann seine Kehle hinunter und wandelte sich in seinem Körper zu einer warmen Wolke. Ohne ein Ziel zu haben schlurfte er durch Gänge, Wege und Straßen, starrte auf das immer gleiche graue Gestein. Er hatte keine Lust zurück in sein Quartier zu kehren. Bestimmt hatte Balin schon seinem Bruder das Vorgefallene berichtet. Und das bedeutete Vorwürfe von ihm und Ninak. Als würde er diese nicht schon genug hören.

Von Anfang an wollte er zu der Versammlung nicht hingehen. Ninak hatte ihn gezwungen dort zu erscheinen. König Baryn wünschte, dass er käme, hatte sie immer wieder beharrt. Es wäre eine Ehre, dass seine Anwesenheit geschätzt würde, und seine Pflicht.

Pflichten… Pflichten hatte er schon lange nicht mehr.

Er war ein König des Nichts.

Lustlos hatte er sich aus seinem Bett hoch gekämpft, sich auf ihr Geheiß angezogen. Seit Tagen etwas frisches. Es überdeckte seinen Körpergeruch zwar etwas, den selbst er wahrnehmen konnte, doch das war von derselben Bedeutung wie seine eigene Existenz.

Er hatte gerade die Wohnstube verlassen wollen, da hielt Ninak ihn noch einmal auf, hatte sein Hemd zurecht gerückt, seine Kleider ordentlich gestrichen. Wer war sie? Seine Mutter? Als ob er nicht wüsste, wie man sich anzuziehen hatte.

Es wäre eine gute Gelegenheit, dass er mal wieder aus diesen vier Wänden käme, hatte sie gemeint. Als Antwort hatte es nur ein Brummen gegeben. Hier hatte er wenigstens die meiste Zeit seine Ruhe.

Ninak schickte ihn los. Was sie und auch Thorin jedoch nicht wissen konnten war, dass an diesem Tag die Zukunft seiner Familie aufs Spiel stehen sollte.

 

,,Was denkt Ihr darüber, Thorin Eichenschild, Sohn des Thrain?“

Balin stieß ihn mit dem Ellenbogen an, weckte ihn aus seinem Dämmerzustand. Thorin merkte, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren.

Irgendwelche Verkäufe und Besprechungen der Protokollbücher des monatlichen Bergbaus waren eben noch Thema gewesen und so hatte er schnell gar nicht mehr zugehört.

Auch heute fühlte er sich völlig fehl am Platz. Was sollten sie jedes Mal hier? Sie hatten eh kein Recht irgendetwas mit zu bestimmen. Sie waren nur Geduldete.

Am Tisch waren alle Ratsmitglieder der Blauen Berge, König Baryn und der Kronprinz anwesend. Und mitten unter ihnen Balin, das einzige überlebende Ratsmitglied Erebors, und er, der Erbe einer untergegangenen königlichen Dynastie. Allein aus Anstand lud man sie ein und jedes seltene Mal, wenn er an einer Versammlung teilnahm, spürte Thorin die Verachtung der alten Zwerge am Tisch, welche ihn mit stiller Ignoranz straften. Er wusste genau, was sie von ihm dachten.

Balin räusperte sich. Thorin begann, seine übereinander geschlagenen Beine zu entknoten und setzte sich gerade hin. ,,Worüber sollte ich was denken?“

,,Wie wäre es, wenn Ihr zur Abwechslung uns wenigsten einen Teil Eurer kostbaren Aufmerksamkeit schenken würden, anstatt sie anderweitig zu vergeuden“, kommentierte sein Gegenüber spitz.

Dafür schenkte Thorin dem alten Zwerg, den er eh nicht mochte, einen funkelnden Blick.

,,Ratsmitglied Varis, ich dulde keinerlei Anschuldigungen. Egal, welcher Art sie sind.“

,,Ja, Euer Gnaden.“

König Baryn wandte sich zurück an Thorin und fuhr nachsichtig fort. ,,Es geht über die angesprochene militärische Zusammensetzung.“

Aha. Ein Themenwechsel inzwischen. ,,Sprecht mit Eurem Hauptmann darüber. Ich lernte ihn als einen vernünftigen und erfahrenen Mann kennen. Ich bin da sicherlich der Falsche, dessen Rat Ihr ersuchen solltet.“

,,Es geht um die Übernahme Eurer kampffähigen Männer.“

Allermiert wurde er wacher. ,,Wie meint Ihr das?“

,,So wie es gesagt wurde“, meldete sich sein Gegenüber wieder zu Wort. ,,Ihr braucht sie ja schließlich nicht mehr.“

Und ab dieser Minute hasste Thorin ihn. Er versuchte, seine Stimme ruhig zu halten, obwohl sein Inneres bereits zum Zerbersten drohte. ,,Es sind Soldaten Erebors…“

,,Erebor gibt es nicht mehr.“ Die schlichten Worte waren blank war Grausamkeit. Sie brachen in seiner Brust etwas, dort, wo einst sein Herz gewesen war. ,,Sie würden nun unserem Land die Treue schwören“, fuhr der Weißhaarige geradezu unbekümmert fort. ,,Es sind gute und tapfere Männer. Ich bin mir sicher, sie würden unser Militär nützlich stärken. Es ist schließlich Eures Großvaters Verdienst gewesen, dass sich unsere Reihen gelichtet haben…“

Thorin fuhr so heftig hoch, dass sein Stuhl rückwärts zu Boden krachte. Seine Hände gruben sich in den Tisch. ,,Wie könnt Ihr es wagen?!“ Der Saal erbebte. Zwei Wachsoldaten, die an der Tür Stellung bezogen hatten, traten sofort näher.

,,Thorin, setz dich wieder.“ Baryn gebot seinen Männern mit einer Handbewegung Einhalt. ,,Bitte sei vernünftig. Und Ihr, Varis, solltet Euch ebenfalls zurück nehmen!“

,,Mylord, bei allem Respekt, aber dieser Mann dort hat schon lange seine Vernunft verloren...genau wie sein kranker Großvater.“

Die Wachen fassten ihn, als Thorin vom Zorn überkommen über den Tisch klettern wollte. ,,Sag das nochmal, du Scheisskerl!!“ Im Saal brach Chaos aus. Weingläser wurden umgestoßen, Papiere segelten durch die Luft. Thorin wurde vom Tisch hinunter gezogen, versuchte sich noch aus den Griffen zu winden, doch auf den notwendigen Befehl hin brachten die Wachen ihn vor die Tür. Er wurde der Versammlung verwiesen. Schön, nun bräuchte er wenigstens nicht mehr dorthin. Die nächste Kneipe war sein Ziel gewesen. Mit der Kapuze seines Umhangs über dem Kopf tauchte er unter das Volk und kaufte eine Flasche Korn, um die Schmach hinunter zu spülen.

 

Erneut nahm Thorin einen Schluck von dem Zeug. Seine Stärke spürte er schon nicht mehr. Es war mittlerweile spät am Abend - glaubte er zumindest. Zeit spielte für ihn auch keine Rolle mehr. Es gab nichts, worauf er wartete oder hinarbeiten könnte. Sein Leben bestand aus nichts.

Der Alkohol half ihm wenigstens etwas. Für ein paar Stunden vergaß er seinen Kummer. Der währende Dämmerzustand schloss die Erinnerungen aus seinem Kopf, verdrängte die Trauer, die ihn jeden Tag begleitete.

Allein mit seiner Melodie wandelte Thorin durch die Gassen und Straßen der nächtlichen Stadt, vorbei an Geschäften, Werkstätten und Wohnstuben. Links von ihm erhoben sich Gebäudekomplexe in die Höhe, die die Felsen auf der anderen Seite des unterirdischen Flusses prägten. Sein ruhiges Gluckern war zu vernehmen. Aus manchen der Fenster drang noch der Lichtschein der Stuben, wo Familien den Abend zusammen verbrachten. Ausdruckslos betrachtete der ungekrönte König die warmen Lichter, ehe er sich abwandte. Ein paar Nachtschwärmer waren noch unterwegs. Er hörte ihr sorgloses Gerede und realisierte auf einmal, dass er sich verlaufen hatte. Er suchte nach Anhaltspunkten in welcher Halle er war, doch wenn er den Kopf empor hob, fühlte es sich an, als drehte sich sein Schädelinneres um die eigene Achse. Er kam zu einem großen Eckhaus und bog in eine schmale Gasse ein, damit er auf die andere Seite des Flusses gelangte. Über ihm verlief ein Laufgang, der das Gebäude mit einem zweiten verband.

,,Guten Abend, mein Heer.“ Bei der plötzlichen Stimme drehte er sich um. Neben ihm im Halbschattenstand stand eine dicke Zwergin. ,,Meine Mädchen haben ein Auge auf Euch geworfen, flüsterten mir ins Ohr, sie würden Euch gern den Abend versüßen...“

Von wegen ins Ohr geflüstert. Nicht gerade sanft zog sie eine junge, blonde Frau an sich heran, die Thorin gar nicht wahrgenommen hatte. Sie trug eine Korsage und ihr Mieder war so weit ausgeschnitten, dass er eine rosige Brustwarze sehen konnte. Dirnen..., dachte er angewidert. Dank der Kapuze, die sein Gesicht beschattete, erkannten sie nicht, wer da vor ihnen stand.

,,Schaut sie Euch an. Ist sie nicht ein hübsches Ding?“ Thorin knurrte in sich hinein und wollte weiter gehen, da schob sich die Dicke ihm in den Weg. ,,Oder lieber eine Braunhaarige?“ Sofort war eine andere an ihre Seite, schaute mit großen, gar unschuldig tuenden Augen zu ihm empor. Braun war ihr Haar. Dunkeln und dicht… So wie ihres gewesen war… Sie erinnerte ihn an sein Mädchen aus Dale.

Da spürte er eine Hand, die ihm verführerisch über die Brust fuhr, empor zu seinem Hals und eine weitere an seiner Lende. Wie Katzen schmiegten sich die beiden Dirnen an ihn und sein Körper, der Verräter, reagierte darauf. Wütend über sich selbst riss er sich von ihnen los. ,,Verschwindet“, knurrte er. ,,Fasst mich nicht an.“ Mit energischen Schritten und rüden Beschimpfungen am Hinterkopf eilte er weiter die Gasse hinab, die aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem Bordell gehörte, und versuchte, seine aufgekommene Lust mit einem kräftigen Schluck zu ertränken. Wo war er hier gelandet?

,,Ihr solltet nicht hier sein, Eure Hoheit.“

Wieder blieb er stehen. Wieder war es eine Stimme neben ihm. Doch diesmal hatte sie ihn erkannt.

Neben einer Tür lehnte eine Zwergin. Soweit er das noch erkennen konnte hatte sie braunes Haar in das blonde Strähnen und rote Bänder eingeflochten waren. Sie trug bloß ein Hauch von einem Kleid. Der dünne Stoff in rosa, den zwei Broschen auf ihren Schultern hielten war fast schon transparent, umfloss ihre zarte Silhouette schmeichelhaft.

,,Geht zurück, Mylord.“

Ihre helle Stimme riss ihn von ihrem Anblick los. ,,Du hast mir gar nichts zu sagen, Hure.“ Abermals wollte er einen Schluck nehmen, doch sie versuchte, ihn davon abzuhalten. ,,Bitte, hört auf damit.“ Ihre Hand streckte sich nach der Flasche aus. Unvermittelt packte Thorin ihre Kehle, drückte das Mädchen zurück an die Wand. ,,Du hast mir nichts vorzuschreiben!“, zischte er ihr ins Gesicht. Ihr lieblicher Geruch schlug ihm entgegen.

Angestrengt sog sie die Luft ein. ,,Ich sehe, dass es Euch schlecht geht“, flüsterte sie heiser unter seinem zu festen Griff, starrte zu ihm hinauf.

,,Was weißt du schon?“ Da bemerkte er ihre Augen, welche vor Furcht und vor etwas für ihn unleserlichem geweitet waren. Braun mit goldenen Sprenkeln waren sie. Wie Bernstein. ,,Was weist du schon…“ Sein Blick wurde je tiefer gelenkt. Durch ihren Ausschnitt konnte er ihre schnellen Atemzüge sehen, die ihren Brustkorb hoben und senkten. Er schaute ihr zurück ins Gesicht und merkte, wie nah sie sich eigentlich waren.

Sacht hob das Mädchen eine Hand an seine Wange. Ihre sanfte Berührung erinnerte ihn an ihre einst, ließ ihn die Augen schließen und beruhigte seine gepeinigte Seele.

,,Kommt.“ Sie ergriff seine Hand und öffnete die Tür. ,,Kommt.“ Das war alles, was sie sagte. Thorin wusste nicht, wie ihm geschah, doch folgte ihr wie ein hilfloser Blinder.

Als sie drinnen waren schloss sie sie eilig, führte ihn eine Treppe hinauf und durch einen Korridor. Der dämmrige Nebel ließ ihn schwanken, sie aber hielt seine Hand fest in ihrer. Dann öffnete das Mädchen eine der Zimmertüren. Sofort fiel sein Blick auf das große Himmelbett, das von links den kleinen Raum einnahm, der von herabhängenden Lampen einladend erleuchtet wurde. Sie verriegelte die Tür kam geradewegs auf ihn zu und küsste seinen Hals, schob ihn so tiefer in den Raum. Unfähig ihr irgendwelchen Einhalt zu geben, schloss er die Augen und gab sich ihrer fast schon liebevollen Liebkosung hin, nach genau derer Art er sich all die Monate gesehnt hatte.

Zielsicher fuhr die Dirne tiefer und kniete im nächsten Moment bereits vor ihm, nestelte an seiner Hose herum. Sein Mund öffnete sich ohne einen Ton, als er ihre Hand an seiner beginnenden Erektion spürte. Fest umklammerte er den Flaschenhals, richtete bewegungsunfähig den Blick auf sie, während er mit heruntergelassenen Hosen in einem Bordellzimmer stand. Ihre Hand umschloss die weiche Haut am Schaft, sanft und dennoch fest zugleich. Dann spürte er ihre Lippen, als sie ihn küssten. Bedenken oder Scheu waren nicht von Bedeutung. Thorin kostete ihre Hingabe voll aus, hob die Flache zu einem neuen Schluck und schaute ihr mit vor Alkohol und Lust verschleiertem Blick zu.

Sie öffnete den Mund und nahm ihn in sich auf, erhöhte den Druck ihrer Hand, die sie langsam und fest an seiner Wurzel auf und ab bewegte. Stöhnend fasste er nach dem Pfosten des Bettes, presste den Kopf gegen das marmorierte Holz, als die Lust ihn übermannte. Gedanken zerflossen. Sie hatte ihm die Verantwortung abgenommen. Mit dem Verriegeln der Tür, hatte sie die Welt vor ihm weggesperrt.

Wellen aus Ektase rollten durch sein Blut. Durch ihre Zunge verspürte er Hitze. Thorin keuchte und sie hob die Bernsteinaugen zu ihm empor. Bei diesem Anblick drang aus seiner Brust grollend ein Stöhnen. Hingebungsvoll verwöhnte sie ihn weiter mit dem Mund. Doch dann spürte er ihre Zähne, wie sie einen empfindlichen Punkt streiften. Wie ein heller Blitz durchzuckte es seinen Körper unangenehm. Er fasste ihr ins Haar, drückte ihren Kopf wieder näher zu sich. Seine Hüfte schob sich vor, seine Hände wühlten in ihrem Haar, Strähnen und Bänder fest in den Fingern.

Gerade als er den dämmrigen Nebel verdichten wollte, ließ sie von ihm ab. Sie nahm ihm die Flasche aus der Hand, stellte sie auf den Boden. Thorin fasste nach ihr, umschlang ihren Körper und zog sie zu sich, doch sie schlug die Augen nieder, drehte eilig den Kopf weg. ,,Man küsst eine Hure nicht auf den Mund, mein König.“ Stattdessen drückte Thorin seinen Kopf in ihre Halskuhle, entlockte auch ihr einen Seufzer. Er nahm ihr Duftwasser war, schmeckte ihre Haut. Zarte Rosenblüten umgaben ihn.

Geschickt wurde ihm der Umhang ausgezogen. Sie schob ihn etwas weiter, drehte ihn um. Thorin spürte die Bettkante in seinen Kniekehlen und stolperte wegen der Hose um seine Knöchel. Tücher aus Seide strichen an ihm vorbei. Rot und Orange teilten sich. Ihm wurde schummrig und einen Augenblick lang drehte sich alles um ihn herum.

Dann vernahm er eine Bewegung auf der Matratze und schaffte es seinen schweren Kopf zu heben. Die Zwergin kletterte auf ihn, kniete über ihn - nackt. Wann hatte sie ihr Kleid abgelegt? Er spürte ihr Gesäß und jegliche Fragen verflüchtigen sich. Die Augen auf ihn gerichtet rieb sie sich lasziv an ihm. Vom Verlangen gequält hob er voller Ungeduld die Hüfte. Sie fasste nach seiner steil aufragenden Männlichkeit und senkte langsam ihr Becken. Er schloss die Augen, spürte feuchte Wärme, als er in ihren Schoß eindrang, der ihm ein Gefühl von Geborgenheit schenkte.

Mit weit gespreizten Fingern legte sie die Hände auf seine Brust und begann, sich auf ihm zu bewegen. In parfümierte Kissen gebettet fuhr er ihre Schenkel entlang, fasste nach ihren Hüften und sie legte ihre Hände auf seine, als wollte sie ihn wissen lassen, dass er ihr vertrauen konnte, ließ ihr Becken unter ihnen kreisen, ritt ihn. Mal sinnlicher, mal zurückhaltender.

Von ihr ausgeliefert stöhnte Thorin mit offenem Mund, drückte seinen Stiefel auf die Dielen, während er versuchte, seine Hüfte ihr entgegen zupressen, um mehr von ihr zu bekommen. Immer flacher ging sein Atem. Es gab nur sie in diesem Moment und seine Lust. Und es fühlte sich einfach gut an.

Schon bald packte Thorin die Kissen um sich herum, vergrub die Finger darin. Seine Augen verloren den Fokus, als sie ihm zum Höhepunkt und darüber hinaus brachte. Ein heiserer Schrei drang aus seiner Kehle. Die Schleier begannen zu einem Ton zu verschwimmen.

9

 

Das Nächste, woran er sich wieder klar erinnern konnte, waren zunächst die Farben. Rot und Orange umgaben ihn warm, Ruhe und tiefe Entspannung erfüllten ihn. Weich wie Wachs waren seine Knochen, als er sich herum rollte. Er fühlte sich fast schon behütet... Thorin schmiegte sich in die Kissen, atmete tief aus und schloss wieder die Augen, nur um sie im nächsten Moment aufzureißen. Bei Durin! Er starrte durch die Vorhänge, doch er war allein im Raum. Inmitten von fein bestickten Kissen liegend bemerkte er, dass er keine Kleidung anhatte. Über ihm war eine dünne Bettdecke aus rotem, glänzendem Stoff gelegt worden. Ahnungsvoll hob er sie an. Er war nackt. Scheiße. Er konnte sich nicht erinnern, dass er sich ausgezogen hatte. Was war noch alles passiert? Dämmrige Erinnerungen schossen ungebremst auf ihn ein und er sah das Mädchen wieder über sich… Fluchtartig sprang er aus dem Bett, wobei sein Schädel zu explodieren drohte, riss einen der Schleier fast ab. Haltlos drehte er sich im Zimmer, fuhr sich durch die Haare. Was hatte er getan?

Rechts neben der Tür befand sich eine breite Kommode mit Spiegel, auf der eine graue Mappe lag und eine Schüssel mit milchigem Wasser stand, Lappen und Schwamm daneben liegend. Hatte man ihn gewaschen? Vor dem Bett entdeckte er einen Stuhl, auf dem seine Sachen lagen. Er packte den ordentlich zusammengelegten Berg und warf sich sein Hemd über, zog die Hose an. Wie lange war er bei ihr gewesen? Graute der Morgen schon? Er langte nach den darunter stehenden Stiefeln und schlüpfte barfuß hinein, als die Tür sich öffnete. ,,Oh, Ihr seid wach.“

Wie einen Geist starrte er die Zwergin an. Wieder angekleidet trug sie ein Tablett in den Händen, balancierte es mit bemühter Vorsicht aus, als sie die Tür mit der Fußspitze schloss. ,,Ich hab mit gedacht…“ Scheppernd fiel das Tablett zu Boden. Das feine Porzellan ging zu Bruch, als Thorin es ihr vor ungehaltenen Zorn aus den Händen schlug. ,,Gehört das zu euren Diensten dazu?! Tee und Gebäck?!“

Sie fuhr bei seiner Stimme zusammen, wich verschreckt zurück. ,,Ich…Nein...“

,,Wieso bin ich dann immer noch hier?“

Sie traute sich nicht ihm in die Augen zu sehen, ging vor ihm auf die Knie und fing mit zitternden Händen an das Chaos zu beseitigen.

Beidhändig fuhr er sich erneut durch die Haare, presste die Lippen aufeinander. Socken und Unterhose stopfte er in die Hosentaschen, warf sich seinen Umhang über und klemmte sich seine restlichen Sachen unter den Arm. Er wollte nur noch so schnell wie möglich hier verschwinden.

Als er jedoch die Klinke fasste, stoppte er in der Bewegung. Wütend stieß er ein Knurren aus, als sein Gewissen ihn strafte. ,,Wie viel?“

Immer noch sammelte die Zwergin die Scherben der Teekanne in der Hand. ,,Drei Silberne“, antwortete sie bedeutungslos.

Thorin fasste an seinem Bund, wo sein Geldbeutel zum Glück noch hing. Offenbar war noch alles da. Das wäre ja auch zu schön gewesen… Er knallte es auf die Kommode, schob sich die Kapuze über den Kopf und eilte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter, bedacht darauf keinem anderen Freier zu begegnen.

 

Leise öffnete er die Tür zu seinem Quartier. Man hatte sie nicht abgeschlossen. Er wurde also noch erwartet. Er schlich den dunklen Flur entlang, in der Hoffnung sein Wiederkommen würde unbemerkt bleiben, und war gerade bei seiner Wohnstube angekommen, da öffnete sich die Nebentür. Eine breite Silhouette lehnte im Rahmen. ,,Wollte schon ne‘ Vermisstenmeldung rausgeben“, brummte Dwalin. ,,Wo warst du?“

,,Nirgendswo.“

,,Ninak hat getobt. Die Kinder waren die ganze Zeit alleine.“

Thorin blieb stumm.

,,Balin hat erzählt, was auf der Versammlung passiert ist.“

,,Hat er das…“

,,Wenn du das nächste Mal dem fetten Wiesel Varis eine reinhauen willst, dann mach das schneller.“ Auf einmal fasste Dwalin seine Schulter, lehnte sich zu ihm und roch an ihm. ,,Wo warst du?“, wiederholte er seine Frage abermals, nun jedoch todernst.

Thorin spürte seinen bohrenden Blick auf der Haut, fürchtete, man könnte es ihm ansehen. ,,Nirgendswo. Und jetzt lass mich in Frieden.“

Dwalin sagte nichts mehr und ließ ihn.

Thorin wandte sich von seinem Freund ab und betrat seine Räume. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, hielt er inne und nahm einen tiefen Atemzug. Dann drückte er den Hemdkragen gegen seine Nase und empfand Wut und Ekel als er Rosenblüten roch.

Durch das Fenster war über den blauen, bergigen Nadelwäldern fern am Horizont der ersten Schimmer des Tagesanbruchs zu erkennen. Er durchquerte durch den großen Wohnraum, in dem sein eigenes Bett stand, und lugte in das Nebenzimmer. Keine Rührung war in den Betten zu erkennen. Wie immer hatte Ninak die winzige Kerze an der Tür angelassen. Thorin öffnete das Türchen der Lampe und blies sie aus.

Im Waschraum entzündete er eine andere und füllte den Zuber, warf die Kleidung von sich und stieg ohne den darunterliegenden Heizkasten anzufachen hinein. Das Wasser aus dem Schacht war eiskalt, betäubte seine Haut und sein Gemüt. Mit der Seife vom Brett schruppte er sich ab, solange bis seine Haut wund zu sein schien und er sicher sein konnte, kein Duftwasser mehr zu riechen. Nichts sollte daran erinnern, dass er ein Freier gewesen war. Im Schmerz von tausenden Nadelstichen nahm er Atem und tauchte unter.

 

Die Nadeln waren immer noch da, vereinten sich nun mit dem alten Schmerz in seiner leeren Brust, als Thorin wenig später mit dem Wannenrand im Genick leichenähnlich im Wasser lag. Doch für eine Leiche waren seine Gedanken zu lebendig. Er hätte sie nicht bezahlen sollen, hätte ihr Einhalt gebieten sollen. Wie hatte er es bloß zulassen können? Nie zuvor hatte er sich zu dieser unteren Schicht herabgelassen, zu den Frauen, die keine Ehre besaßen. Er war kein Söldner, kein Gruber. Er war nicht von diesem Schlag Mann, der Huren aufsuchte. Er wollte kein skucha, sein. Hurenbespringer. In ihm herrschte eine stille Abneigung gegen solche - das hatte er jedenfalls immer gedacht. Und nun…nun schien es, als gehörte er dazu.

Ausdruckslos starrte er an den Fels der Raumdecke, der allein von der Kerze auf dem nahen Brett erleuchtet wurde, und sah ihre Bernsteinaugen über sich. Auf die Frage, warum er ihr so einfach gefolgt war, sprang im Nachhinein die Antworte wie ein aufgescheuchtes Tier aus seinem Versteck vor ihm auf: Ihre Berührung auf der Straße. Sie hatte ihn so an Maries erinnert.

Der allgegenwärtige Schmerz des Vermissens in seiner Brust, der bereits zu einem Teil seines Körpers geworden war, nahm nochmals an Stärke zu, schien ihn innerlich zu zerreißen. Marie. Er hatte sie betrogen. Mit einer Hure.

,,Onkel Thorin…?“ Im roten Schlafanzug stand Kili in der Tür, die dunklen Haare wild verwuschelt. ,,Warum badest du mitten in der Nacht?“ Noch im Halbschlaf rieb er sich mit seinen kleinen Fäusten die Augen.

Bei seinem Anblick bildete sich ein wehmütiger Ausdruck auf seinem Gesicht. Thorin stieg aus dem Zuber, nahm ein Handtuch, was er sich um die Hüfte schlang. ,,Marsch, Soldat, zurück ins Bett.“

Der Junge schmunzelte träge bei der oft benutzten Floskel, streckte die Hände zu ihm empor und sein Onkel nahm ihn auf den Arm. Vom leisen Geräusch nackter Füße begleitet brachte er ihn zurück. ,,Schlaf noch ein wenig“, flüsterte er, deckte ihn wieder zu und legte sein Stofftier an seine Seite. Er strich dem Jungen über’s Haar und ging leise aus dem Raum. Die Tür blieb angelehnt.

10

 

Der Winter hatte Einzug gehalten. Draußen wurden die Schneeflocken vom Wind umher getrieben und auf die stillen Wiesen und abgeernteten Felder gewirbelt. Im Haus am Waldrand brannte das Feuer im Kamin, erfüllte den Wohnraum mit seinem heimeligen Knistern. Noch war der Brotlaib im Ofen roh, doch mit der Wärme der Glut würde er rasch braun werden. Zufrieden klappte Marie die Luke zu. ,,Wie du ausschaust!“ Mel stand auf der Bank, über und über mit Mehl bedeckt. Sie nahm einen Lappen, tauchte ihn in das Spülwasser und wischte ihr die Teigreste von den Fingern.

,,Du, Marie, das, was im Stall passiert ist, wollte ich wirklich nicht. Wegen mir hast du die ganze Milch verschüttet. Ich wollte nicht, dass du wieder traurig wirst.“

,,Das weiß ich doch.“ Sie hob die Hände zu ihrem Gesicht, um auch das abzuwischen. Wehleidig kniff die Kleine die Augen zu und versuchte, der Wäsche zu entkommen. ,,Dich trifft absolut keine Schuld. Ich hab mich nur erschrocken.“

,,Vor was erschrocken?“

,,Das ist etwas schwer zu erklären.“ Sie befreite ihre Sachen von dem weißen Staub, wischte dann den Tisch ab, auf dem sie den Teig geknetet hatten.

Mel setzte sich, ließ die Füße baumeln. ,,Also ich würde mich freuen, wenn du ein Baby bekommst“, meinte sie, während Marie den Lappen auswusch.

,,Ich würde mich auch darüber freuen, aber nicht jetzt.“

,,Wieso?“

,,Es wäre doch schade, wenn Thorin nicht dabei wäre.“ An dieser Stelle verschwieg sie ihr, dass er auch gar nicht zurückkehren könnte und so sein Kind niemals sehen würde. Mit dem Gedanken, dass es so besser war, versuchte sie sich zu trösten.

Auf den Zehenspitzen schob Marie sich reckend die sauberen Schüsseln vom Mittagessen zurück in den Geschirrschrank. Am Morgen hatte Anna Mel vorbeigebracht, um sich nach der Arbeit mit Greg treffen zu können. Manchmal half ihre Tochter im Stoffladen oder erledigte im Dorf Botengänge für die Danners und manchmal, wenn sie sehr fleißig war, hatte selbst der alte Danner ein Herz und gab ihr ein Kupferstück, auf das sie dann besonders stolz war und Zuhause mit ein paar anderen sorgsam zurücklegte.

,,Oh. Da hast du recht.“

,,Aber nun weiß ich ja, dass ich nicht schwanger bin.“ Sie schob den Eimer unter die Spüle, zog den Stöpsel, damit das Wasser vom Abwasch hinaus fließen kann.

,,Wie weiß man das denn?“

Marie musste schmunzeln. ,,Das erkläre ich dir ein anderes Mal.“

,,Na gut... Du, Marie, was bist du eigentlich für mich?“

Diese Frage überraschte sie. ,,Wie meinst du das?“

,,Meine Mama hat mir erzählt, dass du mich auf die Welt geholt hast.“

,,Ich hab ihr nur geholfen.“

,,Aber du bist mit meiner Mama ganz dolle befreundet. Sie sagte, dass ihr euch lieb habt und ich finde, dass ihr auch Schwestern sein könnt und dann wärst du ja meine Tante, glaube ich. Und deshalb wollte ich fragen, was du für mich bist.“

,,Wie sind doch Freunde, du und ich“, sagte Marie und drehte sich zu ihr um.

,,Kann ich nicht auch zu dir Tante sagen? Ich hab mir schon immer eine Tante gewünscht. Und dann wären wir verwandt und eine Familie, weil du doch keine Familie mehr hast.“

Damit hatte Marie absolut nicht gerechnet. Mels kindliche Sorge und Niedlichkeit berührten sie zutiefst. ,,Natürlich kannst du das“, wisperte sie und schlang die Arme um ihre neugewonnene Nichte.

Bis über beide Ohren grinsend presste diese sich an sie. ,,Und dann wäre Thorin mein Onkel, oder?“

Ihr Herz wurde plötzlich wieder unsagbar schwer. Marie strich dem Kind über die Haare. ,,Ja, das wäre er.“

,,Wenn er ein König ist und ich dann seine Nichte, bin ich dann eine Prinzessin?“

Oh, Mel… werd‘ bitte niemals erwachsen.

Während sie den Brotteig vorbereitet hatten, hatte sie wieder nach Thorin und den Zwergen gefragt. Diesmal konnte Marie sich überwinden und während sie an einem ihrer geflochtenen Zöpfe, die sie zur Erinnerung an seine unter den Haaren trug, beim Reden über ihn und seine Gefährten herumgespielt hatte, hatte sie die Flügelschläge der Schmetterlinge wieder in sich gespürt. Trotz allem flatterten sie tapfer weiter und sie fragte sich, wie Schmerz und Liebe verbunden sein konnten, wenn das Empfundene sich so gegensätzlich anfühlte. Die Kleine, die sonst nur so vor Neugierde strotzte, hatte jedoch ihre Fragen ungewohnt sorgsam bedacht, sodass Marie vermutete, dass Anna ihr eingeschärft hatte, es mit dem Nachbohren nicht zu übertreiben. Doch vor so viel Eifer konnte sie jetzt nur lachen. ,,Nein, nein…tut mir leid, Schatz. So einfach ist das nicht.“

Enttäuscht zog Mel einen Schmollmund. ,,Schade. Wenn er wieder da ist, will ich ihn und alle anderen unbedingt kennenlernen“, nuschelte sie und kuschelte sich tiefer in die Umarmung ihrer Tante. Die Wahrheit würde ungesagt bleiben. Mel würde es nicht verstehen.

Marie erinnerte sich an seine Worte, als sie in der letzten gemeinsamen Nacht zusammen waren. Wenn er nicht zurückkäme, sollte sie ihn vergessen. Schmerzlich wusste sie, was er damit meinte und genau davor hatte sie Angst. Sie hatte Angst nach einem Jahr immer noch alleine zu sein, ohne Lebenszeichen von ihm. Sie hatte Angst eine Nachricht zu bekommen, in der stand, dass der König Erebors im Kampf um sein Land gefallen war. Der bloße Gedanken daran, dass sie ihn ein zweites Mal verlieren könnte, war einfach nur grausam, denn dieses Mal würde es für immer sein.

Jemanden anderes lieben, noch einmal ein neues Leben aufbauen, ihn vergessen, das könnte sie nie. Für alle Zeit war Thorin in ihrem Herzen, so als wäre sein Name hinein gebrannt worden. Sie würde ohne ihn nicht mehr leben können. So einfach war das. Und genauso verheerend.

,,Tante Marie…du erdrückst mich.“

Mit einem traurigen Lächeln befreite sie das Mädchen von sich. ,,Mach es dir gemütlich. Ich bring nur das dreckige Wasser weg.“ Damit nahm sie sich ihren Umhang vom Haken und schleppte den vollen Eimer ihn zur Tür hinaus, um das dreckige Wasser in den Graben zu schütten.

Auch wenn sie damit begann wieder so etwas wie Normalität in ihr Leben zu bekommen: das Wiedersehen auf der Farnlichtung hatte ihre Welt, die sie sich hier über die Jahre hinweg mühsam aufgebaut hatte, über den Haufen geworfen. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, hielten sich in der Vergangenheit auf. Wenn sie an ihn dachte, verspürte sie Sorge, Angst und ihre Liebe zu ihm, die ihre Seele fest in ihrer Gewalt hatte. Er fehlte ihr. Sie wollte ihm wieder nahe sein, ihn spüren; sein Atem auf ihrer Haut, seinen Körper, seine Lippen, seine tiefe Stimme hören, wenn seine Arme sie an seine Brust drückten. Die blasse Leiche, die im Spiegel ihr gegenüber gestanden hatte, war dank der Unterstützung ihrer Freundinnen verschwunden. Der Beweis seiner Leidenschaft auf ihrem Hals war nun nichts weiter als gelb-grüne Flecken. Der Weg zu den Marktständen an jenem Morgen war ihre Hinrichtung gewesen, die Flecken auf ihrem Hals ihre Verurteilung. So wie sie von Tag zu Tag verblassten, so wollte sie nicht darüber nachdenken, dass die Sehnsucht nach ihm mit jedem Tag wuchs. Es war ein Fehler ihnen nicht zu folgen.

 

Als sie wieder ins Haus trat, kniete Mel auf der Sitzbank und schaute dem Schneetreiben vor dem Fenster zu. ,,Du, Marie?“, murmelte sie betrübt, das Kinn mit den Händen auf die Fensterbank gelegt.

,,Ja, mein Schatz?“ Sie schob den Riegel vor die Tür und strich über ihre Schultern, um den Schnee loszuwerden.

,,Kannst du mit meiner Mama reden? Ich mache mir Sorgen um sie.“

Marie hängte den Umgang zurück. Besorgt legte sie dem Mädchen eine Hand auf den Rücken, als sie sich neben sie setzte.

Mel drehte sich zu ihr um. ,,Meine Mama hat letzte Nacht geweint. Sie hat gedacht, ich würde schlafen, aber ich hab sie gehört.“

,,Wieso hat sie geweint?“ Ein mehr als schlechtes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit. Ich hätte mich nicht so einfach von ihr abwimmeln lassen dürfen. Vorhin hat sie nicht ein Wort darüber verloren. ,,Ich hab sie danach gefragt, aber sie hat gesagt, es wäre nichts. Ich weiß, dass sie mir die Wahrheit nicht erzählen wollte. Wenn du etwas darüber weißt, Mel, musste du mir das sagen.“

 ,,Sie hat erzählt, dass die Schwester von Greg gemein zu ihr war.“

Eine Alarmglocke in ihrem Kopf machte sich bemerkbar. ,,Du meinst Donja?“

,,Ja, genau die. Ich mag sie nicht! Und sie ist auch gemein zu mir. Ich wäre lästig, hat sie gesagt, und eine Rotzgöre. Sie ist selber eine!“, fauchte die Kleine und verschränkte beleidigt die Arme.

Maries Stimme fing vor Zorn an zu beben. Sie versuchte, sie ihretwillen ruhig zu halten. ,,Hat sie dir irgendetwas getan?“

 ,,Nein, das nicht. Mama sagt, dass Donja nicht will, dass sie mit Greg spricht.“ Sie blickte auf ihre Schuhe, als sah sie dort etwas Interessantes. ,,Aber ich finde das toll, dass sie sich heute treffen wollen. Ich mag Greg.“ Ihre Augen funkelten. ,,Wenn er mein neuer Papa werden würde, wäre das toll! Er ist immer nett zu mir! Einmal, da hat er mir süße Bonbons aus einer großen Stadt mitgebracht. Mit Puderzucker!“

,,Und was sagt Greg dazu, dass Donja deine Mama ärgert?“

Mel rümpfte die Stupsnase. ,,Der bekommt das nicht mit. Donja macht das nur, wenn er nicht da ist. Und meine Mama will ihm nichts davon erzählen.“

Donja Danner, du elendige, hinterhältige Schlampe, wenn du das nächste Mal an meine Tür klopfst, ertränk ich dich gleich hinterm Haus. Sie seufzte schwer. Anna, warum hast du mir das verschwiegen? ,,Ich rede mit ihr“, versprach sie an Mel gewandt. ,,Mach dir keine Sorgen um…“

,,Marie!!“, drang auf einmal der Ruf von draußen zu ihnen. Verwundert stand sie auf, doch schon klopfte jemand Sturm. ,,Marie, Marie, schnell!“ Sie beeilte sich, um Hilda rein zulassen, die gegen die Tür hämmerte. Wie ein Wirbelwind fegte sie ins Haus, nahm das Schneegestöber mit hinein.

Marie schickte sich an die Tür wieder zu schließen.

,,Nimm deine Tasche! Das Bitterkraut, das Nachtrot – gleich alles.“

,,Was ist passiert?“

,,Ginja. Sie hatte einen Schwächeanfall – auf dem Markt. Sie ist zusammengebrochen.“ Außer Atem, die fülligen Wangen knallrot vom schnellen Laufen, nahm sie Maries Korb von der Anrichte und öffnete den Kräuterschrank. Hektisch griff sie nach Fläschchen auf dem Regal, doch Maries kleiner Körper stand festgenagelt auf den Dielen. Etwas schnürte ihr die Kehle zu. ,,Auf dem Markt?“

 ,,Ja, auf dem Marktplatz. Sie ist einfach zwischen den Leuten zusammen gesunken. Nimm dir endlich einen Mantel. Rasch!“

,,Nein. Bring sie hierher. Ich beriete das Zimmer für sie vor.“

,,Nein, der Weg wäre zu anstrengend für sie. Ich hab Sonna bei ihr gelassen. Schnell, wir müssen uns beeilen.“

Der Fluch dieses Ortes nahm ihr die Vernunft ihres Handelns. Ihr Inneres war wie zerrissen, an denen beiden Seiten Kräfte zogen und eine Seite stärker war. Heilerin war ihr Beruf und ihre Pflicht…doch sie fürchtete sich vor den Leuten und ihrem Gerede, so sehr, dass ihr Körper zu kaltem Stein wurde. Noch einmal sich diesen Spott und Hohn anzuhören, würde sie nicht ertragen können. Verzweifelt fuhr Marie sich durch die Haare. Die Wände ihrer aufgebauten Festung drohten eingerissen zu werden. Vor ihren Augen zerschellte noch einmal das Schild, welches Thorin ihr in ihrem Tagtraum gegeben hatte. Sie wollte, konnte jedoch nicht. Es ging einfach nicht. Sie konnte nicht!

,,Marie!“

Starr vor Angst schaute sie in Hildas aufgerissene blaue Augen. ,,Ich… Ich kann nicht.“ Vor Scham senkte Marie die Augen. Sie konnte ihre Freundin nicht anschauen.

Wortlos starrte Hilda sie an. Ihr rundes Gesicht verlor die Farbe, ehe sie wiederkam - noch roter als zuvor. Und diesmal vor Wut. ,,Ohrr!“ Sie stopfte die letzten Sachen in den Korb und eilte an ihr vorbei, ,,Ich hoffe, du bist jetzt glücklich!“, stürmte aus dem Haus und ließ Marie stehen.

Die Tür blieb offen, als letzte Chance ihr doch noch zu folgen. Doch sie blieb wo sie war, wurde vom hereinwehender Schnee eingehüllt und in seinen tröstenden Tanz mit aufgenommen, dessen Kälte durch ihren Körper drang, als wäre sie Nichts. Kleine Pünktchen breiteten sich um sie herum aus, als Flocken auf die Dielen fielen und starben. Dutzende gefallene Tränen. Konnte es noch schlimmer werden? Marie wünschte sich eine Schneeflocke zu sein, eine von jenen, die von ihrem unbarmherzigen Herrn, dem Wind, ins Kaminfeuer gedrängt wurden. Hatte sie nun auch Hilda verloren? Verzweifelt biss sie sich auf die Lippe und musste die Augen vor sich selbst schließen.

Jemand zupfte an ihrem Hemd. ,,Marie?“ Noch einmal. ,,Marie, der Schnee kommt herein.“

Erst jetzt bemerkte sie Mel. Die Nägel verschwanden aus ihren Füßen. Die Löcher, die sie geschlagen hatten, aber blieben. Sie schloss die immer noch offenstehende Tür und spürte auf einmal eine Hand, die ihre nahm. Vorsichtig führte Mel sie zurück an den Tisch, setzte sich mit ihr auf die Bank.

 Für einen Augenblick saßen sie schweigend nebeneinander.

,,Warum ist Hilda böse auf dich?“, fragte sie in die Stille hinein.

,,Sie ist enttäuscht von mir“, ihre Stimme war leise und schwach wie die Tage zuvor, ,,weil ich ihr nicht helfe.“

,,Warum hilfst du ihr nicht?“

Nur langsam verschwand die Schwere aus ihrem Körper und Marie zwang sich aufzustehen. Unruhig kaute sie auf ihrer Unterlippe, als sie ans kleine Fenster über der Arbeitsplatte trat und auf den Weg hinaus schaute. Hilda war nicht mehr zu sehen. Sie schaute den Feldweg entlang, der immer mehr unter der Schneeschicht verschwand, hoffte, dass diese Brücke ganz verschwinden würde. Dann wäre sie wieder sicher in ihrer Festung, abgeschieden vom Rest der Welt.

Marie erinnerte sich, dass sie Mel noch eine Antwort schuldete. ,,Dafür müsste ich nach Kerrt.“

,,Wieso gehst du nicht ins Dorf?“

,,Die Leute dort haben schlimme Dinge zu mir gesagt“, versuchte sie der Kleinen verstehen zu geben, schlang die Arme um sich, die ihr allein als Rüstung dienten. ,,Sie haben mir sehr wehgetan.“ Sie rieb sich über die Arme und ging zum Kamin, um neue Scheite aufzulegen und der Kälte entgegenzuwirken. ,,Ich habe Angst dort hinzugehen“, gestand sie dem Mädchen.

Eine Pause entstand.

,,Einmal, da hatte ich Angst über die Steine am Fluss zu springen“, erzählte Mel hinter ihr, während sie vor dem Feuer hocken blieb. ,,Du weißt schon, da wo die Frauen Wäsche waschen. Die anderen Kinder konnten das. Sie haben mich ausgelacht und ich konnte nicht mitspielen. Sie sagten, ich wäre zu klein, um das zu schaffen. Doch dann habe ich mich auch getraut und danach war es gar nicht mehr so schlimm. Jetzt kann ich immer mit den anderen da spielen.“

Die Arme fest um die angezogenen Knie gelegt schaute Marie in die Flammen.

,,Aber Sonna und die anderen sagen…“

,,Mel, ich möchte gar nicht wissen, was sie über mich sagen.“

,,Oh“, raunte sie enttäuscht. ,,Na gut…“

Marie schloss die Augen, atmete tief aus. Die Marktfrauen waren zu verschworen. Ihre boshaften, falschen Worte hatten sich wie Feuer durch ihr Fleisch bis auf ihre Knochen gebrannt. Nachdem sie ihren Wunsch Gandalf geäußert hatte, hatte sie noch gedacht, sie würde das Gerede einfach überhören können. Gegen Rabia jedoch konnte sie nichts entgegensetzen. Da Hilda sich um Kranke kümmerte, schwand ihr Geldvorrat. Auch ihre Vorratskammer war immer noch nur spärlich gefüllt, obwohl ihre Freundinnen ihr aushalfen. Einnahmen wären gerade gut. Aber sie hatte sich geschworen, niemals wieder einen Fuß in dieses Dorf zu setzen. Am liebsten würde sie sich dort nie wieder blicken lassen. Hier in ihrer Festung war sie sicher. Sie umklammerte ihre Beine fester, als Tränen unter ihren geschlossenen Lidern drückten.

Angst hatte sie erstarren lassen, als Gonzo sie an die Wand gedrückt hatte. Nun ließ die Angst sie untätig sein. Vor ein paar Tagen noch war in Thorins Armen zu sein, der sicherste Ort der Welt. Heute war es ihr Haus und seine Abgeschiedenheit.

~


,,Er ist hier in diesen Hallen. Ich weiß es.“

,,Wir haben alles abgesucht.“

,,Nicht gründlich genug“, zischte Thorin durch die gebleckten Zähne, den Blick starr auf die Vertiefung gerichtet, wo der Arkenstein seit Jahrhunderten seinen Platz gehabt hatte. Leer und glanzlos wirkte sie. Völlig kalt.

In, vom angrenzenden Hallenschiff hinab strömenden Lichtstrahlen stand der Zwergenfürst vor dem Thron, die Hände auf die Armlehnen gepresst. Die hohe Rückenlehne des Throns war beschädigt. Drachenkrallen hatten respektlos über traditionelle, goldene Muster gewetzt und das jahrtausendealte Gestein aufgerissen, knapp in der Mitte vorbei, wo die leere Vertiefung des Arkensteins höhnisch prangte. Darüber ragte ein mächtiger Gesteinsfortsatz wie ein stumpfer Eiszapfen herab und verschmolz mit dem Königssitz, in seiner Mitte eine Goldader mit sich führend, eine der unzähligen des Berges.

,,Thorin, wir alle wünschen uns den Stein zurück“, versicherte Dwalin erneut.

,,Und doch ist er noch nicht gefunden!“ Hart und voller Jähzorn spuckte er die Worte aus.

Neben dem Thron stand Bilbo, die Augen starr zu Boden gezwungen, damit er nicht unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Das Schweigen war für ihn kaum auszuhalten.

Balin fuhr fort, tastete sich langsam und vorsichtig an eine völlig neue Erwägung heran. ,,Zweifelst du…an der Ergebenheit von irgendeinem hier?“

Bilbo sah zu Thorin, der sich in diesem Moment umdrehte, und wandte eilig den Blick wieder ab. Das Gewicht in seiner Manteltasche wurde schwerer. Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Er fürchtete, dass Thorin sein rasendes Mäuseherz spüren konnte. Ohne den Ring am Finger hoffte er mit dem bloßen Atemanhalten unsichtbar zu werden.

,,Der Arkenstein ist das Geburtsrecht unseres Volkes.“ Der alte Zwerg sprach klar und deutlich, während Thorin langsam die Stufen zu den Brüdern hinab stieg. Auf der letzten blieb er stehen, sah ungerührt und mit silbernem Glanz in den Augen auf sie hinab.

,,Er ist das Königsjuwel.“ Er unterdrückte das Beben in seiner Stimme. Doch dann konnte er seinen Frust und seine Enttäuschung nicht länger in sich halten. Die Hand zur Faust geballt sprengte seine Stimme die Luft: ,,BIN ICH NICHT DER KÖNIG?!“ Wie ein Donnerschlag hallte es von den Wänden der Thronhalle wieder. Bilbo zuckte zusammen. Die Brüder blieben stumm, schauten unbewegt zu ihm hinauf.

Lange nachdem das Echo verschwunden war, warf Thorin einen Blick zurück auf die Stelle, wo der Arkenstein säße. An seiner Schläfe tuckerte der Puls sichtbar, als er über die Worte von Balin nachdachte. ,,Merkt euch…“, sprach er schließlich die Drohung aus. ,,Sollte jemand ihn finden…und ihn mir vorenthalten, wird ihn meine Rache treffen.“

 

Bilbo konnte nicht länger ausharren. Er bauchte Antworten auf seine Fragen, etwas, was ihn in seiner Entscheidung bekräftigte oder ihn im Falle um entscheiden könnte. Er musste sich jemandem anvertrauen, sonst käme er selbst noch um den Verstand.

Er überlegte, mit wem er reden konnte. Dabei kam für ihn nur einer in Betracht. Erst als sie zurück im Ratssaal gewesen waren, war ihm jedoch aufgefallen, dass der alte Zwerg nicht mehr da war. Sein schlechtes Gewissen musste ihn doch stärker beschäftigt haben, als ihm eigentlich klar war.

Dwalin sagte ihm, dass sein Bruder in die Bibliothek wollte und Ori, der sie bereits aufgesucht hatte, erklärte sich bereit ihn zu begleiten, worüber der Hobbit sehr dankbar war. Ohne den kleinen Zwerg an seiner Seite würde er sich hoffnungslos verlaufen. Schon jetzt hatte er nicht die leiseste Ahnung, wo sie sich befanden. Er konnte die Inschriften auf Khuzdul, die an vielen Wegkreuzungen in den Fels gehauen waren, nicht lesen.

,,Hier ist es“, sagte Ori schließlich nach einer Ewigkeit und schob eine schwere Tür auf. Bilbo bedankte sich. ,,Ist es dir recht, wenn ich dich allein lasse?“

 ,,Ja, natürlich. Ich finde schon zurück.“

Höflich machte Ori eine Verbeugung und sich dann auf den Rückweg.

In der Luft hing der Geruch von Papier, Staub und verstrichenen Jahrhunderten, als Bilbo die Bibliothek betrat. Vor ihm ragten überall lange Holzegale im Halbdunkeln auf, die mit in Leder gebundenen Büchern und Schriftrollen vollgestopft waren. Er hob den Kopf und konnte wieder einmal nur staunen. Weitere Emporen reichten in die Höhe, über deren Geländer man die Ecken weiterer Bücherregale sehen konnte. So viele Bücher auf einmal hatte er noch nie gesehen.

Ein schwacher Lichtschein erregte seine Aufmerksamkeit, der zwischen Lücken in den Regalen hindurch schien. Bilbo ging dem Licht nach, durchquerte einige im weiten Raum stehende Holztische. Er bog zwischen den dichtstehenden Regalen ein und fand sich vor einem Gang in der Wand wieder, aus dem das Licht kam. Verwundert betrachtete er ihn. Das schräg danebenstehende Regal hatte eine Spur hinterlassen, als es davor weg geschoben worden war. Wieso verschließt man diesen Raum?, dachte er und spürte, dass dort drinnen etwas von Bedeutung lag.

Neugierig und zugleich auf der Hut schlich er den grob gehauenen Gang entlang. Der glatte Boden wurde von einem rauen abgelöst. Spinnweben streiften sein Gesicht, die er angeekelt von sich wischte. Er erstarrte, als jemand auf einmal hörbar atmete. Eine Schwere lastete auf dem Atemzug. Ein paar Schritte weiter sah der Hobbit woher der Lichtschein rührte.

Balin hockte an einem kleinen Tisch in der Kammer. Vor ihm lagen viele aufgeschlagene Bücher und ausgebreitete Schriftrollen im hellen Schein einer Kerze, die er wohl aus dem danebenstehenden, nun völlig leeren Regal geholt hatte. Die gewölbten Decken der Kammer waren aus rauem, unebenem Fels. An mancher Stelle waren noch die Schläge der Steinäxte und Spitzhacken zu sehen, als wurde dieser Raum mit Eile erschaffen.

Im Gang stehend sah Bilbo den alten Zwerg schniefend dort sitzen. Er empfand Mitleid mit seinem Gefährten, in dessen kleinen Augen er die Tränen glitzern sehen konnte, und trat langsam näher.

Balin hörte sein Näherkommen und blickte auf. ,,Drachenkrankheit“, sagte er. ,,Das hab ich schon mal gesehen… Dieser Blick. Das schreckliche Verlangen.“ Er ballte seine, in seinen Handschuhen gehüllte Hand. ,,Es ist eine wilde und neidvolle Liebe, Bilbo. Sie hat seinen Großvater in den Wahn getrieben.“ Mag es an der herrschenden Kälte hier liegen, Bilbo bekam eine Gänsehaut.

,,Das hier…“, er sah durch das Gewölbe. ,,König Thror hat das veranlasst. Jegliche Schriften über Drachenkrankheit oder was damit verbunden war, sollten weggeschlossen werden… Weil er es nicht wahrhaben wollte“, fügte er flüsternd hinzu, schaute traurig auf den Berg aus Papier vor sich. Etwas war darauf geschrieben, doch Bilbo konnte die Schriften nicht entziffern. ,,Es ist eine seltene und mächtige Krankheit, Bilbo. Wer von ihr befallen ist, empfindet keine Liebe. Sie ist bedeutungslos für denjenigen. Allein die Liebe zum Gold und zu Schätzen existiert.“

,,Keine Liebe mehr?“ Aber…Was ist dann mit Marie?, schoss es ihm unausweichlich durch den Kopf.

,,Du denkst an Marie“, sagte Balin, sah ihm in die Augen, als hätte er es laut ausgesprochen, ,,und seine Liebe zu ihr.“ Bilbo nickte unglücklich. ,,Die Wahrheit ist, mein Junge, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis diese Liebe verkümmern wird. Ja…er wird sie vergessen“, seufzte der alte Zwerg kaum verständlich, ehe seine Stimme brach und er erneut mit seinen Gefühlen rang.

Das kann nicht sein. Bilbo musste das Gesicht abwenden. Das kann es nicht sein. Er konnte seine Gedanken nicht aussprechen. Gandalf sagte zu ihm: ,,Es ist die Liebe, die ihn stärkt und Kraft gibt. Und er wird alle Kraft brauchen, die er aufbringen kann, für das, was kommen wird… Nur deswegen habe ich ihr ihren Wunsch erfüllt. Weil ich gesehen habe, dass diese Verbindung, die diese zwei Personen eingehen, einzigartig ist, die man kein zweites Mal findet. Beide werden auf eine Probe gestellt…“ Gandalf hatte zu ihm gesagt, dass die Liebe die stärkste Macht sei, die es gab. Marie würde ihm helfen, doch wie sollte sie ihm helfen, wenn diese Krankheit nun im Stande sein soll, ihre Liebe zu zerstören?

Das durfte einfach nicht wahr sein. Bilbo fasste sich ein Herz. Er brauchte eine Antwort.

,,Balin, wenn Thorin den Arkenstein hätte…“ Aufmerksam hörte der alte Zwerg ihm zu. ,,Wenn…wenn er gefunden werden würde… Würde das helfen?“

Balin beugte sich vor, denn das, was er ihm anvertraute, durfte diesen Ort nie verlassen. ,,Dieser Stein ist die Krönung von allem. Er ist der Gipfel allen Reichtums hier und verleiht demjenigen Macht, der ihn bei sich trägt. Würde er seinem Wahnsinn Einhalt gebieten?“ Er schnaubte betrübt. ,,Nein, mein Junge. Ich fürchte es würde schlimmer werden. Vielleicht ist es das Beste, er bleibt verloren.“

Er redet nicht über sie. Dachte er denn wenigstens noch an sie? Oder hat er Marie bereits vergessen? Das Gehörte lag zäh in seinem Kopf, wollte nicht weniger werden. Er hatte die beiden doch gesehen, sie alle. Sie hatten sie zusammen erlebt, wussten, was Thorin getan hatte, um sie zu beschützen. Er hatte getötet für sie. Konnte diese Liebe einfach so weg sein? Unbedeutend wie Staub im Wind?

Allein saß er auf einer Empore, unweit der Bibliothek. Im Dämmerlicht gelegen war auf der anderen Seite des schmiedeeisernen Geländers eine der Hallen. Er sah sich die Statuen an, die aus dem Fels geschlagenen Wege und Treppen, Gebäude und Balkone an. Wann würden die Lampen der Stadt unter dem Berge wieder brennen? Wann würden Stimmen und Gelächter die Wohnhallen wieder füllen? Die Zwerge hatten ihre alten Zuhause aufgesucht, sich neu eingekleidet - als Zeichen dafür, dass es weiter gehen musste, hatten in der Vergangenheit und der Zukunft geschwelgt. Sie redeten davon Boten zu den anderen Königreichen zu schicken, um zu verkünden, dass Erebor frei ist. Doch ihren Anführer hatten sie bei all dem nicht miteinbezogen.

Thorin war in sich gekehrt, verschlossen, wirkte sehr aufgewühlt und rastlos. Letzte Nacht wurden sie von ihm geweckt, als ein Albtraum ihn plagte. Es war schrecklich, ihn so zu sehen. Die Jungs hatten wirklich Mühegehabt ihn zu wecken, als er schweißgebadet keuchte und das Gesicht verzog, als hätte er Schmerzen. Auch heute hatten sie wieder stundenlang gesucht. Thorin gab nicht auf. Doch nur Bilbo wusste, dass sie nichts finden würden solange der Arkenstein bei ihm war. Sie wollten vorankommen, und doch kamen sie nicht von der Stelle, drehten sich im Kreis.

In seiner rechten Tasche lag der Zauberring, in seiner linken spürbar der Arkenstein. Bilbo lehnte sich zurück und versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Er konnte ihm den Stein nicht geben. Was würde Thorin mit ihm machen, wenn er ihm ihn einfach in die Hand drücken würde? Er nahm sich nochmal vor mit seinem Freund zu sprechen. Doch konnte er ihm überhaupt in die Augen sehen, ohne dass der Zwerg etwas bemerkte? Und was würde er mit ihm tun, wenn er es bemerkte?

11

Der Arkenstein war hier in Erebor, das wusste, spürte er. Sie hatten nicht richtig gesucht – nicht überall gesucht. Aller Wahrscheinlichkeit nach war das Juwel verschüttet, was bedeutete, dass sie anfangen mussten, tiefer im Gold zu graben. Schließlich hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie der leuchtende Stein im, vom Rausch des Drachen aufgewühlten Gold verschwunden war.

Thorin war fest entschlossen. Er würde jede einzelne Münze umdrehen, um den Stein zu finden.

Das Machtvolle in seiner Brust rumorte, das Raubtier drehte seine Kreise an einer kurzen Kette, welche seine Seele vor dieser Bestie schütze: ein düsteres Gefühl, das nicht zu ihm gehörte.

Thorin blieb stehen und fuhr sich übers Gesicht. Nein…geh weg, beschwor er es, rieb sich über sein Herz, dort, wo es am stärksten und zugleich am dunkelsten war. Sei still!

Es war verrückt, sich vorzustellen, dass ein wildes Tier in einem steckte, irgendwo an einem tiefen Ort seines Innersten. Ganz nah an seiner Seele. Aber so fühlte es sich nun mal an.

Wie kam es dahin? War es immer schon da und hatte geschlummert? Was hat es erwachen lassen?

Mit niemandem wollte er darüber sprechen. Man würde ihn für verrückt halten und ihn wie ein rohes Ei behandeln. Es war das Letzte, was er wollte.

Wenn er an den Arkenstein oder an das Gold dachte, wenn er in der Schatzhalle war, war diese lauernde Dunkelheit spürbar. Durch sie empfand er keine Schwäche, Müdigkeit, Hunger oder Durst. Es hielt ihn wach, nährte sich von seinen Sorgen um den Arkenstein und den Anblick des Reichtums seines Volkes.

Thorin war nicht naiv. Er wusste selbst, dass er an einen gefährlichen Grat angelangt war. Zu glauben, dass es die Krankheit war, die seinen Großvater heimgesucht hatte, erlaubte er sich dennoch nicht. Denn es konnte nicht stimmen.

Er war nicht wie sein Großvater. Er war nicht Thror.

Mit aller Macht versuchte Thorin es auszublenden, es zu verdrängen, doch sein Inneres glich einem kleinen Boot, was auf hoher See in Sturm geraten war und von darüber brechenden Wellen immerzu erfasst wurde. Er würde nicht eher Ruhe finden, bis der Arkenstein wieder auf seinem rechtmäßigen Platz ist. Sobald er es geschafft hatte, würde es besser werden.

In der Hoffnung, der Schlaf könnte ihm neue Kraft schenken, hatte er sich hingelegt…

Nicht einmal dort war er sicher. Die Dämonen aus seinen Albträumen waren zurück gekehrt.

Der Schlamm schimmerte vor Blut und Tränen. Inmitten darin lag seine Schwester.

,,Dis…“ Thorin streichelte ihr Gesicht, rüttelte an ihr, flehte sie an, aufzustehen. Was er auch tat: sie bewegte sich nicht mehr. Stimmen raschelten im Wind. Er zückte sein Schwert. ,,Azog! Zeig dich, ich habe keine Angst vor dir! Zeig dich, du Mörder!“ Er sah sich um. Weit wurden seine Rufe durch das verdorrte Nichts getragen. Niemand antwortete ihm.

Die Welt geriet ins Wanken. Der Boden erzitterte. ,,Du bist zu spät, Eichenschild!“ Flammen züngelten empor, kamen rasend schnell näher. Er hob den Leichnam seiner Schwester auf die Arme und rannte los. Das Feuer war schneller. Vor ihnen schlug es hoch, kesselte sie ein. Es war so schrecklich heiß.

Über den Flammenwall senkte sich ein Schatten. Mit glühenden Augen beugte Smaug seinen riesigen Kopf zu ihnen hinab, seine Stimme voll Hohn und Hass, sein Lachen voll Grausamkeit. ,,Aww, wie rührend. Hast du etwas verloren, Thronräuber?“

Thorin schirmte Dis mit seinem Körper ab. ,,Wage es ja nicht ihr näher zu kommen!“

,,Ich habe kein Interesse an totem Fleisch. Ich kann sie dir nicht zurück bringen, so leid mir das tut.“

,,Heuchler. Was willst du dann von mir? Lass uns gehen!“

,,Dich gehen lassen? Haha, horch in dich hinein, Eichenschild. Ich werde dich niemals frei geben.“ Die

Flammen krochen auf sie zu und drohten, sie zu verschlingen. ,,Bis in alle Ewigkeit wirst du mein Gefangener sein…“

Thorin gab seinem Körper Halt an der Wand. Schon lange hatte er keinen Albtraum mehr gehabt. Bei der Erinnerung jagte ihm ein Schauer über die Haut, denn immer noch lagen die Bilder lebendig vor ihm. Er fuhr sich übers Gesicht, versuchte das Geträumte zu vergessen. Es war nur ein Geist aus der Vergangenheit.

Doch auch über das mit angehörte Gespräch der anderen musste er immer wieder nachdenken: Du sagtest, er sei krank. So scheint es mir. Ist er das wirklich, Balin?

Als er ein kleiner Junge war, hatte sein Großvater ihn mit in die Thronhalle genommen und Thorin durfte sich auf den Thron setzen. Voller Stolz und einem Grinsen war er auf den hohen Platz geklettert. ,,Schau nach oben“, hatte Thror gesagt. ,,Was siehst du?“

Den Kopf in den Nacken gelegt hatte er nach oben gespäht und brav geantwortet: ,,Den Arkenstein.“

Anerkennenden hatte sein Großvater genickt. ,,Solange es einen König unter dem Berge gibt, wird er leuchten. Wenn die Zeit gekommen ist, mein Sohn, wirst du diesen Platz nach deinem Vater einnehmen und ehren, so wie ich und vor mir meine Väter es getan haben. Eines Tages wird er auch über dir leuchten“, hatte er ihm stets liebevoll gelehrt - damals, bevor Thror anfing sich zu verändern.

Vehement ballte sein Enkel die Fäuste. Ich bin nicht mein Großvater. Entschlossen stieß er sich von der Wand ab, ging mit festem Schritt seinen Weg weiter, um jeden Zweifel daran zu ersticken. Ich bin nicht krank.

Seit er denken konnte gehörte der Arkenstein zu dem Königsbild ihres Volkes dazu und das würde auch weiterhin so bleiben. Zu allem bereit war Thorin fest entschlossen ihn wieder auf seinen Platz zu bringen - dort, wo er hingehörte. Die gesamte Halle zu durchforsten würde jedoch Wochen dauern. Ihre Suche kam nicht voran, weshalb andere Möglichkeiten langsam aber unvermeidlich näher rückten, sodass man sie irgendwann nicht mehr außer Acht lassen konnte: wo, wenn nicht in der Schatzhalle, sollte der Stein sonst sein?

Zweifelst du an der Ergebenheit von irgendeinem hier? Augenblicklich ballte sich wie eine Faust das Dunkel in ihm zusammen. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen, als er Bilbo entdeckte. Dieser saß auf einer Empore, die sich rechts von ihm entlang zog, und hielt etwas in den Händen.

,,Was ist das?“ Bei seiner scharfen Stimme fuhr der Hobbit herum, starrte ihn mit riesigen Augen an, doch Thorin stand bereits nach drei Schritten bei ihm. ,,In deiner Hand!“

Bilbo sprang auf. ,,Das…das ist nichts.“

,,Zeig es mir.“

Erst zögerte der Hobbit, dann öffnete er die Hand und Thorins Blick fiel auf eine kleine Nuss. Keuchend entließ er die angehaltene Luft.

Bilbo sah die Bewegung seines Brustkorbes, wie seine Züge sich sichtlich entspannten. ,,Ich hab sie in Beorns Garten aufgelesen.“

,,Du hast sie bis hierher gebracht?“

Den Blick gesenkt zuckte er mit den Schultern und steckte sie zurück in seine Hosentasche. ,,Ich pflanze sie in meinen Garten, in Beutelsfeld.“ Als er Thorin durch die Nase schnauben hörte, schaute er zu ihm auf und sah Ansätze eines warmen Lächelns.

,,Ein recht kleines Andenken für das Auenland.“ Die Härte in seiner Stimme war fort.

,,Sie wird ein Baum. Und wenn ich ihn ansehe, werde ich mich erinnern.“ Aufrichtig sah Bilbo ihm in die grauen Augen. ,,An alles was geschehen ist. Das Gute. Das Böse. Und an das Glück, es nach Hause geschafft zu haben.“

So ein kleiner Hobbit…, dachte Thorin. Wie groß seine Hoffnung doch ist.

Bilbo sah seine weißen Zähne, die Grübchen, die das plötzliche Lächeln in seinen Mundwinkeln hinterließ. In diesem Augenblick stand vor ihm nicht der kranke Thorin, sondern der Thorin, den er kannte. Erleichtert und mit ihm froh schloss sich Bilbo seinem Lächeln an.

Komm schon, sprich es jetzt an… Einen günstigeren Zeitpunkt wird es nicht geben. Er holte tief Luft. ,,Thorin, ich…“, setzte er an, doch dann bog Dwalin um die Ecke und sein Vorhaben wurde einfach nieder gewalzt.

,,Thorin, Überlebende aus der Seestadt. Sie strömen nach Dale hinein. Zu Hunderten.“

Machtlos musste Bilbo mit ansehen, wie der gelöste Zwerg vor seine Augen verschwand. Mit jeder Sekunde fielen seine Mundwinkel. Abschätzend richteten sich seine Augen zur Seite und als sie vor seinen eigenen anfingen, sich zu verändern, empfand Bilbo eisige Kälte. Augen eines lauernden Tieres.

,,Ruf alle ans Tor“, murmelte Thorin, ging mit großen Schritten davon, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als ihm hinterher zusehen. ,,Ans Tor! Sofort!“

 

Die Nacht war bereits hereingebrochen und sie waren immer noch dabei den Durchbruch im Tor mit  Geröll und Steinen zu verbarrikadieren. Im Licht der brennenden Feuerschalen wurde Stein um Stein gestapelt und zu einem Wall aufgetürmt. Sie hatten mit Seile und Umlaufrollen Flaschenzüge gebaut. Das harte Aufeinanderschlagen von Fels war immerzu zu hören und ab und an Kommandos, wenn sie Steine in die Höhe zogen.

,,Hoch damit!“ Mit vereinten Kräften bewegte sich langsam der Teil der gebrochenen Statue, die einst Ankömmlingen Spalier gestanden hatte. ,,Nori, zieh!“

Dwalin schulterte dicke Brocken und trug sie zum Durchbruch, während Gloin mit Meißel und Hammer Steine für Lücken zu Recht schlug. Zusammen mit Bilbo zog Kili einen Karren voller kleinerer Steine heran, als mit wehendem Mantel Thorin durch seine Männer hindurch schritt.

,,Ich will die Festung bis Sonnenaufgang gesichert haben!“ Er ging nach vorn zum Durchbruch, der schon zur Hälfte verbarrikadiert war, stieg die kleine Aufschichtung hinauf, um darüber hinweg spähen zu können. ,,Den Berg zu erobern war schwer. Ich lasse ihn mir nicht noch einmal nehmen.“

Kili ließ die Deichsel fallen. ,,Die Menschen der Seestadt haben nichts mehr.“ Sein Onkel drehte sich zu ihm um. ,,Sie kommen in der Not zu uns“, sagte er, den Morgen am Seeufer klar vor Augen. ,,Alles was sie hatten, haben sie verloren.“ Er wollte es wenigstens versuchen, dass sein Onkel seine Entscheidung überdachte. Wenigstens das.

,,Erzähle mir nicht, was sie verloren haben“, knurrte Thorin, warf ihm einen warnenden Blick zu. ,,Ihr Leid ist mir durchaus bekannt.“ Erneut sah er über den Wall hinweg zu den Ruinen, die von den Menschen aufgesucht worden waren. Fackeln erleuchteten die Stadt. Die Frage, was mit den Menschen werden würde, interessierte ihn nicht im Geringsten. Wer hat ihnen damals geholfen?

Damals als sein Volk fliehen musste ging es ihnen nicht besser. Sie hatten genau wie sie in wenigen Stunden alles verloren. Thorin hatte miterlebt, wie sein Volk im Feuer starb, hatte den Gestank vom verbrennenden Fleisch gerochen und gesehen, wie Smaug sein Volk fraß und zu Krüppeln gemachte. Als junger Prinz musste er große Verantwortung übernehmen. Alle Blicke hatten sich zu ihm gehoben, als er den Befehl zum Aufbruch gab. Unter hunderten hoffnungsvollen und tränenverschleierten Augen war er vorangegangen und sein Volk hatte sich erhoben, um ihm zu folgen. Drei Tage hatten sie in die Blauen Berge gebraucht. Wegen den Verletzten waren sie nur langsam vorangekommen. Auf seine Befehle hin hatten sie die vom Rauch panischen Ponys aus den Ställen und die Bergwidder zusammengetrieben. Frauen und Kinder bekamen vorrangig Reittiere, doch sie reichten nicht für alle. Die Verletzten wurden in Barren aus Ästen und Mänteln hinter den Tieren hergezogen. Wunden hatten sich entzündet. Am nächsten Morgen waren die Betroffenen tot, krepiert an der Wundentzündung. Schwangere hatten Fehlgeburten erlitten. Noch heute sah er vor sich, wie der Soldat sein totes Baby fortbrachte, um es in einem Grab aus Steinen und Erde niederzulegen. Er hatte das Weinen in den Nächten gehört, das Quengeln der hungrigen Kinder.

Sie haben wenigstens ein Dach über dem Kopf, dachte Thorin voller Gram, als er sich an all das erinnerte. Wir hatten nichts gehabt…

Beim Schweigen seines Onkels schluckte Kili. ,,Wir sollten versuchen Frieden zu wahren.“

Thorin wirbelte herum. ,,Frieden? Du willst Frieden mit Schwäche wahren?“

Von jetzt an hielt Kili das Beste, den Mund zu halten.

Thorin sah, wie er den Blick senkte, schüttelte den Kopf. ,,Es gab nie Frieden“, raunte er leise, wandte sich von ihm ab und betrachtete die hell erleuchtete Stadt, die unter dichten Wolken am Nachthimmel in der Hochebene lag. ,,Die das Drachenfeuer überlebt haben, sollten sich freuen. Sie haben allen Grund dankbar zu sein.“ Die flackernden, zahlreichen Lichter bewegten sich überall auf den Mauern, die seit Jahren wieder Leben in sich trugen. Leben, welche zur Bedrohung werden könnten. Wie konnten wir über Nacht das Tor unbewacht lassen? Schon längst hätten Eindringliche hier hinein gelangen können. In seinem Kopf wuchsen die spekulativsten Vorstellungen, wenn es so gewesen wäre. Sie wurden von der Bestie geschürt, die hellwach seine Kreise in ihrem engen Gefängnis zog. Plötzlich musste er an den Köder denken, den er in Esgaroth ausgeworfen hatte, um unbehelligt weiter ziehen zu können. Sie würden das Gold verlangen! Die Bestie tobte, kratzte und zerrte an ihren Ketten und brachte die Ösen in ihrer Verankerung zum Wackeln.

,,Mehr Steine.“ Eigenhändig packte Thorin einen, wuchtete ihn auf den Wall. ,,Bringt mehr Steine zum Tor!“

Ihm entging, dass er die ganze Zeit beobachtet wurde. Nur schwer konnte Bilbo seinen Blick von ihm abwenden. Er hatte den silbernen Schimmer in seinen Augen funkeln gesehen, der ihn an den eisigen Winterwind erinnerte. Was ist das bloß für eine schreckliche Krankheit, die ihn so veränderte?

 

Dunkelheit umgab ihn. Nur seine Esse brannte und hielt ihn in ihrem Licht, wie die Motte in der Nacht gefangen. Das stete Schlagen auf Metall schallte durch die leere Schmiede. Hier in seinem Rückzugsort, tief unter dem Berge. Seine langen Haare hatte er sich hochgebunden. Schweiß rannte ihm salzig über die nackte Brust bis auf den Bauch, die Hitze des Schmiedefeuers drückend auf seiner Körperhälfte. Eine lederne Schürze hielt Funken von seiner Haut ab. Mit der Zange hielt Thorin das Metall auf den Amboss, während er es mit dem Hammer bearbeitete. Neben ihm auf der Arbeitsfläche zusammen gesammelt lag alles bereit, was er bräuchte. Er brauchte eine Arbeit, bei der er sich konzentrieren musste. Es beruhigte seine Gedanken. Die Beschäftigung tat seinen Nerven gut, die Anstrengung belebte seine Muskeln mit neuem, heißem Blut. Schlaf würde er eh nicht finden.

Hell und metallisch überdeckten die Schläge das Knistern der Glutbrocken. Unbeachtet lag die schwarze Schnur seiner Kette um seinen Hals, der Anhänger auf seiner schimmernden Brust. Auf dem matten Metall spiegelte sich der Feuerschein wieder.

Im Feuer war sein Königreich untergegangen. Im Feuer würde er es wieder aufbauen.

Präzise bearbeitete Thorin das lange Metallstück, faltete es immer wieder mit sich selbst, bis es wieder in die Glut gelegt werden musste. Schweiß perlte über sein Gesicht, als er dem orangen Glühen zusah und seine Gedanken zu der alten Stadt wanderten, in deren Ruinen die Menschen aus Esgaroth Schutz gesucht hatten. Jetzt, da das Tor verbarrikadiert war, fühlte er sich sicherer.

Sie konnten ihnen nichts mehr anhaben. Sie würden schon bald angekrochen kommen und um Gnade betteln… Je mehr die Nacht nicht überstehen, desto besser. Er würde es bald wissen, so sicher wie der Sonnenaufgang.

Mit der Zange nahm er seine Arbeit wieder aus dem Feuer, legte es auf den Amboss und ließ den schweren Hammer darauf nieder sausen.

Schwach und wehleidig. Menschen waren alle gleich. Als die anderen beim Essen von ihren Frauen erzählt hatten, hatte auch er an eine gedacht. Doch unkontrolliert war das Bild einer Zwergin vor seinen Augen erschienen und eine leise Stimme in seinem Inneren hatte ihren Namen geflüstert. Süß und verführerisch, so wie sie zu ihm gewesen war: Sladnik.

Er hätte sie nicht von sich stoßen sollen. Schon bald hätte er ihr ein Kind geschenkt. Sie wollte es – wollte ihn immerzu, umgarnte und schätze ihn. Eine stolze Zwergin war sie gewesen, aus einer alten und glorreichen Familie stammend und hätte eine ebenso stolze Königin werden können. Nach ihrem Streit hätte er sie zurückhaben können… Doch wofür hatte er sich entschieden? Hart rumste der schwere Hammer auf den Amboss. Funken flogen auf. Für eine menschliche Bauerntochter.

Kraftvoll schlug Thorin zu und während der Wiederhall der Schläge in seinen Muskelsträngen bebte, konnte er spüren, wie die Finsternis in ihm endgültig erwachte. Er ließ die Bestie von seinen Ketten, bediente sich an ihrer Macht und hieß sie willkommen.

 

12

 

Marie seufzte und verließ endgültig das Fenster in ihrer Küche, aus dem sie wegen der Dunkelheit schon längst nichts mehr erkennen konnte. Trotzdem hatte sie im Minutentakt hinaus geschaut und war jedes Mal enttäuscht worden. Wie vereinbart hatte Anna nach ihrem Treffen mit Greg vorbei kommen gewollt. Ihre Freundin aber war nicht bei ihr erschienen.

,,Was ist, wenn es spät wird?“, hatte Marie gefragt und zweideutig mit den Brauen gewackelt.

,,Das wird es nicht“, hatte Anna vehement beharrt. ,,Ich muss schließlich morgen wieder früh raus. Ich kann es mir nicht noch einmal erlauben, zu spät zu erscheinen. Noch vor dem Dunkeln werde ich dir alles berichtet haben.“

,,Ich bestehe darauf!“

Mel, die den Tag bei Marie verbracht hatte, war irgendwann von Freunden abgeholt worden, mit denen sie spielen gehen wollte. Sie ließ Mel mit der Schar von Kindern, die neugierig einen Blick auf die verzauberte Heilerin erhaschen wollten, mit dem Versprechen ziehen, dass Mel beim ersten Einsetzen der Dämmerung nach  Hause ging. Anna würde ja dort zeitnah eintreffen – so hatte sie es jedenfalls angenommen.

Marie nahm ihren leeren Tee vom Esstisch, den sie sich gemacht hatte, und stellte den Krug neben die Spüle. Und wenn ihre Freundin bloß die Zeit vergessen hatte? Nein, Anna war die Zuverlässigkeit in Person! Sie würde nie schludern, möge der Kerl ihr gegenüber noch so charmant sein. In diesen Sachen vertraute Marie ihr mehr zu als sich selbst. Irgendetwas stimmte nicht. Sie spürte, dass sie sie brauchte. Es war wie eine drohende Laune, die sie bereits seit geraumer Zeit erfasst hatte. Das Wissen, dass etwas passiert sein musste, machte das Warten und Herumsitzen unerträglich.

Mit der Zunge fuhr Marie sich über die Unterlippe, welche durch ihre lästige Angewohnheit schon ganz zerkaut war. Einfach ins Bett zu gehen, grenzte an eine Unmöglichkeit. Sie sah zu der Bank unter dem Fenster, wo sie die letzte Stunde schon ausgeharrt hatte. Die braune Decke, unter der sie nach ihrer Aussprache zusammen geschlafen hatten, lag dort, so, als wäre es wieder sein Lager. Jede Nacht schlief sie mit ihr im Bett, das Gesicht in den wolligen Stoff geschmiegt, der ihr wie sein Körper einst Wärme schenkte und immer noch ein wenig seinen Geruch trug. Vielleicht bildete sie sich das auch bloß nur ein.

Marie kannte Anna lange genug, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte. Das passte so gar nicht zu ihr. Da stimmt etwas nicht, dachte sie zum zwanzigsten Mal. Wieder sah sie aus dem Fenster, trat von einem Fuß auf den anderen. Das schlafende Dorf war verlockend. Es war dunkel. Niemand würde sie bemerken, denn wegen der Kälte war niemand noch draußen. Sie konnte ungesehen zu Anna und von dort auch wieder verschwinden. Keiner würde sie aufhalten. Nach Kerrt zu gehen gleich einem Wagnis, doch der Zeitpunkt war günstig und ihre Sorge berechtigt, sodass sie es einging. Sie musste es tun, so einfach war es. Mit der Gewissheit, dass Anna das gleiche auch für sie tun würde, lief Marie die Treppe hinauf. Wie gehetzt durchwühlte sie ihren Schrank nach den dunkelsten Sachen, die sie besaß, zog eine schwarze Hose und ein dunkelbraunes Oberteil an, dazu mehrere Paar Socken. Ihre langen Haare kämmte sie flüchtig durch, flocht sie sich zu einem Zopf. Die beiden dünnen ließ sie heraus. Ihr Herz pochte vor Nervosität gegen ihre Rippen. Jetzt einen Rückzieher zu machen würde sie sich nie verzeihen. Sie musste es tun, musste es wagen. Für Anna.

Marie eilte die Treppe hinunter, schlüpfte in die Stiefel und warf sich ihren Umhang über, schloss die Schließe und steckte den Schlüssel in ihre Tasche. Als sie die Tür entriegelte, eröffnete sich die Dunkelheit bedrohlich vor ihr und nächtliche Kälte strömte ihr entgegen. Sie schloss die Augen und hob das Gesicht den Sternen entgegen. Thorin, wo du auch bist, steh mir bei. Lass mich den Mut jetzt nicht verlieren. Lass mich nicht allein. Dann hielt sie den Atem an und setzte einen Fuß über die Schwelle ihrer Festung.

 

In schneller Abfolge knirschte der Schnee unter ihren Schritten. Als die Lichter des Dorfes hinter dem Hügel erschienen, zwang sie sich weiterzulaufen. Der Wind war schneidend kalt. Es fühlte sich an, als ritzten ihr Rasierklingen Hände und Wangen auf. Marie zog die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht, versuchte, den Fluch dieses Orten nicht an sich rankommen zu lassen. Die Nacht wurde zu ihrer Verbündeten und nahm sie in sich auf. Wie der Schatten eines scheuen Rehs huschte sie über die Steinbrücke, die über den Fluss führte. Wie vermutet war niemand zu dieser späten Stunde und wegen dem Wind noch unterwegs und so sah auch niemand den kleinen Schatten, der durch die Gassen eilte.

Annas Haus würde Marie auch im Schlaf finden. Sie umging die Hauptstraße und die Gasse, wo das Wirtshaus ihren Platz hatte, von der sie fernes Stimmengewirr vernahm. In ihrem Magen verknotete sich etwas, bei der Erinnerung an die Begegnung dort. Erst an dem kleinen, schiefen Haus am anderen Ende des Dorfes blieb sie schließlich stehen. Der seit Ewigkeiten kaputte Fensterladen quietschte im Wind, ansonsten war alles ruhig. Unter der Kapuze hervor spähend sah sie sich nach allen Seiten um, ehe sie klopfte. ,,Anna?“, rief sie gerade so laut, wie sie es wagte. Sie wartete, doch keiner öffnete ihr. Marie ging zum Fenster, musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um etwas zu sehen. Im Inneren des Hauses glomm ein schwacher Lichtschein; es musste jemand zuhause sein. Sie klopfte gegen das Glas. Endlich hörte sie jemanden zur Tür kommen. Als ihr geöffnet wurde, zog sie ihre Kapuze vom Kopf.

,,Marie? Was…?“

Doch diese hatte keine Ohren für Annas Frage. Ihre Freundin hatte schrecklich verquollene Augen. Nur im Unterkleid und mit einer dünnen Decke übergelegt stand sie vor ihr, in der Hand ein zerknülltes Taschentuch. Marie drückte sie zurück ins Haus, schloss die Tür und sofort schlang Anna so fest ihre Arme um ihren Hals, dass Marie fast keine Luft mehr bekam. Augenblicklich brach sie in Tränen aus. ,,Sie macht alles kaputt!“, schluchzte sie tief über sie gebeugt. ,,Ich hasse sie…“

Marie ließ sie sich ausweinen, strich ihr über den Rücken, damit sie fühlte, dass sie nun nicht mehr alleine war. Es zerriss ihr das Herz, sie so zu sehen. ,,Was ist passiert?“ Eine dunkle Vorahnung begann bereits in ihr zu reifen.

Erst als sie sich etwas beruhigt hatte, führte Marie sie zum Bett hinüber, was sich auf der anderen Seite des spärlich eingerichteten Raumes befand. Auf dem Boden daneben lagen mehrere Taschentücher verstreut. Immer noch schluchzend ließ Anna sich darauf nieder und bekam von Marie die Decke über die Beine gelegt. Als nächstes schürte sie das jämmerlich kleine Feuer im Ofen ordentlich ein, der neben dem Bett versuchte den Raum zu wärmen. Sie richtete sich auf und sah die kleine Gestalt von Mel auf der Treppe zum Dachstuhl hocken. ,,Tante Marie, du bist hier.“ Die Kleine hatte ebenfalls Tränen in den Augen und Marie hörte wie ihr Herz knackte, das wie angeschlagenes Glas in seine Einzelteile zerfiel. Sie kletterte ihr entgegen und strich ihr besorgt über die Wangen. ,,Alles in Ordnung mit dir, mein Schatz?“

Sie schniefte und nickte tapfer. ,,Mama denkt, ich schlafe. Sie weint die ganze Zeit.“

Erst jetzt bemerkte Marie die schwarze Katze, die auf Mels Schoß döste. ,,Jetzt bin ich hier“, flüsterte Marie, strich ihr über die seidigen Haare, um sie zu trösten.

Traurig kraulte das Mädchen die Katze. ,,Donja war wieder gemein zu ihr.“

Ihr dunkler Verdacht bestätigte sich. ,,Ich kümmere mich um deine Mama. Hast du schön mit deinen Freunden gespielt?“ Die Kleine nickte. ,,Mach dir keine Sorgen. Alles wird wieder gut. Geh ins Bett. Ich bin hier unten, wenn was ist. Felicitas wird dir bestimmt Gesellschaft leisten.“

,,Das ist nicht Felicitas. Das ist Karl, Felicitas Kumpel.“

,,Oh. Ich denke, Karl wird sich freuen, die Nacht in einem warmen Bett zu verbringen.“ Marie zwinkerte. ,,Ich verrate deiner Mama auch nichts.“

,,Danke“, hauchte Mel und konnte wieder ein kleines Lächeln aufbringen. Sie nahm den Kater und trug ihn hinauf in ihre Kammer.

Als Mel verschwunden war, kehrt Marie zu Anna zurück, die in sich zusammengesunken auf dem Bett hockte, die Stirn in die Hände gelegt. Das letzte Mal als sie ihre Freundin so verzweifelt gesehen hatte war, als der Vater von Mel sie verlassen hatte. Was hatte Donja ihr angetan?

Marie legte ihren Umhang über die Lehne eines Stuhls am Tisch und ließ sich zu ihr aufs Bett sinken. ,,Erzähl mir, was passiert ist“, flüsterte sie.

Anna versuchte, ihre Augen zu trocknen, knetete mit zitternden Händen das Stofftuch. Ihre Schultern hoben und senkten sich mit den hochkommenden Schluchzern. Wieder strich ihr Marie über den Rücken, fasste mit der anderen nach ihrer Hand, um ihr Mut zu geben. Es war entsetzlich für sie zusehen, wie sehr sie unter Druck stand. Was war es, was ihr so zusetzte?

,,Ich war fertig mit der Arbeit und wollte gerade gehen. Den ganzen Tag hatte mich auf das Treffen gefreut… Doch dann erschien Donja und hat all meine Nadeln vom Pult gefegt. Sie hat gesagt, ich sei ungeschickt und nicht zu gebrauchen. Nur um Ärger zu vermeiden, habe ich sie aufgesammelt. Du hättest ihr Grinsen sehen sollen…“

,,Das stimmt nicht.“ Marie strich ihr über das verwirrte goldbraune Haar, um sie zu bestärken und dem neuen Weinkrampf entgegenzuwirken. ,,Egal, was sie sagt: es stimmt nicht.“

Nach einer Pause, in der sie durchgeatmet hatte, konnte Anna etwas gefasster weitererzählen. ,,Dann kam der Danner in die Nähstube. Sie hat sich mit ihrem Vater unterhalten, dass irgendeine Brosche von ihr fehlen würde. Ich war am Aufsammeln der blöden Nadeln, als er das Kleid, an dem ich gerade arbeite, von meinem Platz nahm, um sich wie immer mein Tagwerk anzusehen.“ Sie schlug sich mit der Hand aufs Knie. ,,Und dann fällt diese verdammte Brosche aus den Falten, direkt vor seine Füße! Donja wurde ganz hysterisch, beschuldigte mich, ich hätte sie geklaut, weil ich neidisch auf sie sei! So ein Unsinn! Ich würde niemals stehlen! Aber ihr Vater, er hat natürlich seinem Töchterchen geglaubt.“ Mit tränenverschleierten Augen sah sie sie an. ,,Er hat mich gekündigt, Marie. Ich hab keine Arbeit mehr! Jetzt hab ich nichts mehr.“

Für einen Moment stand Marie der Mund auf. ,,Er kann diesen billigen Trick doch nicht geglaubt haben.“

,,Ich hab ihn angefleht, hab mich verteidigt…aber er glaubt seiner Tochter natürlich mehr als mir. Sie ist so falsch…“ Das letzte Wort war nur noch ein leises Flüstern. ,,Und nachdem er mich vor die Tür gesetzt hatte, kam auch noch Donja zu mir. Sie hat gesagt, sie wüsste nicht, was ihr Bruder an mir fände.“ Dicke Tränen rollten über ihre Wangen. ,,Ich käme von der Straße und da würde ich jetzt wieder hingehen. Ich wäre eine Schande für ihre Familie, wenn sich ihr Bruder mit mir einlassen würde. Sie hat gesagt, er verdiene nicht so etwas wie mich…und dass das erst der Anfang sei. Wenn ich mich nicht von ihm fernhalte, dann…“ Sie schluchzte auf, presste sich das Tuch unter die Nase.

,,Oder, was?“ Doch Anna presste die Augen zu, schüttelte den Kopf. ,,Was? Anna, was hat sie gesagt?“ Am liebsten hätte Marie sie geschüttelt. Was führte Donja im Schilde? Zu was war sie noch fähig?

,,Sie sagte, wenn du dich nicht von Greg fernhältst, dann passiert deiner…deiner Bastardtochter etwas.“ Ihre Stimme brach und Anna weinte bitterlich.

Marie zog sie in ihre Arme, starrte einen unbedeutenden Punkt an der Wand an. Sie empfand nur noch Hass für diese Frau, die ein kleines, unschuldiges Mädchen damit reinzog und so verachtend beleidigte, und hatte Mitleid für Anna, die mit der größten Angst erpresst wurde, die eine Mutter nur haben konnte.

Leicht wiegte Marie sie hin und her, versuchte, ihr Schutz und Halt zu geben. ,,Du bist nicht zum Treffen gegangen“, mutmaßte sie.

Ihre Freundin schüttelte den Kopf. ,,Greg wird nie wieder etwas mit mir zu tun haben wollen, jetzt nachdem ich ihn versetzt habe und als Diebin gelte.“ Marie konnte den Schmerz in ihrem Herzen am eigenen Leib fühlen. ,,Es ist vorbei. Er wird mir nicht glauben. Er wird auch denken, ich hab den Schmuck gestohlen.“

,,Du bist keine Diebin, Anna. Donja sagte doch selbst, dass er etwas an dir findet, und das weißt du auch. Wenn du mit ihm redest, wird er dir sicherlich glauben.“

,,Ich kann nicht… Er wird mir die kalte Schulter zeigen. Donja hat gewonnen.“

,,Nein, Ann, wir dürfen sie nicht das erreichen lassen, was sie will; nämlich dich von Greg zu trennen. Nein!“, wiederholte Marie fest entschlossen und kämpfte mittlerweile selbst mit ihren eigenen Tränen. Es tat einfach nur weh, Anna so gebrochen zu sehen. ,,Nein, Donja darf nicht gewinnen.“

,,Aber was ist, wenn sie ihre Drohung wahr macht? Ich hab doch nur Mel… Sie ist mein Ein und Alles.“

,,Das wird sie nicht wagen, nein, das wird sie nicht. Mel wird nichts passieren. Ich werde mit Greg reden.“

Abrupt sah Anna sie an. In ihren Augen lag nur noch Schmerz und Angst. ,,Dann wird alles schlimmer!“

,,Anna, er wird mir glauben.“ Diese presste die Augen zusammen, weil sie nicht mehr dagegen anreden konnte, und vergrub das Gesicht an Maries Hals. ,,Alles wird wieder gut. Ich bekomme das wieder hin“, flüsterte sie nah an ihrem Ohr, wie auch sie sie vor nicht allzu langer Zeit zu trösten versucht hatte. ,,Alles wird wieder gut.“

Zitternd atmete ihre Freundin ein. ,,Was soll ich denn jetzt bloß machen?“

,,Wir werden dir helfen, so wie du und Hilda mir helft.“

,,Oh, Marie.“ Anna setzte sich auf, um sie ansehen zu können. ,,Wenn ich dich nicht hätte…“

,,Wenn ich dich nicht hätte“, antwortete Marie genauso leise, nahm Annas Kopf in beide Hände und führte ihn behutsam an ihrer Stirn, denn Anna sollte ihr Vertrauen und ihre tiefreichende Verbundenheit fühlen, so wie sie dies von Thorin gezeigt und gespürt bekommen hatte.

,,Wir halten zusammen – du und ich. Das verspreche ich dir. Wir kämpfen gemeinsam.“

Still genoss Anna diese innige Geste und ihre leisen Worte.

Schließlich strich Marie ihr die Tränenspuren fort und hob den Kopf. ,,Versuch jetzt zu schlafen.“

Anna legte sich hin und bekam von ihr die Decken übergelegt. ,,Bleibst du bei mir?“, fragte sie und sah zu ihr hinauf.

,,Wie kannst du das fragen?“ Marie schenkte ihr ein sanftes Lächeln, zog sich die Stiefel von den Füßen und schlüpfte zu ihr unter die Decke. Eng beieinander hörten sie dem Knistern des Ofens zu. Draußen pfiff und johlte der kalte Winterwind, doch das kleine, schiefe Haus und der stete Herzschlag der anderen umschlossen sie schützend.

Als hätte sie Angst, sie könnte gehen, hielt sich Anna an ihrem kleinen Körper fest. ,,Ich hab dich so schrecklich lieb, Marie.“

Sie wollte ihr antworten, doch Anna war bereits eingeschlafen.

~


,,Onkel Thorin…“ Das Stimmchen rüttelte an seiner Schulter, riss ihn aus seinen dämmrigen Schlaf und wieder hinein in die graue Wirklichkeit. ,,Onkel Thorin, wach auf.“ Leere Flaschen klirrten aneinander, als der kleine Junge sie umstieß. ,,Du hast versprochen, dass du uns das Reiten beibringst. Und zwar heute.“

Brummend zog er sich die Decke über den Kopf.

,,Lass ihn, Kili. Er wird nicht aufstehen“, murmelte sein Bruder.

,,Warum nicht?“ Wieder schlugen die Flaschen gegeneinander. Ein Aufschluchzen und flinke Schritte liefen vom Bett weg.

Gut, dachte Thorin und hoffte nun auf Ruhe, damit er sich zurück in den Schlaf flüchten konnte… Die Bettdecke flog über ihm davon und eiskaltes Wasser klatschte ihm auf den nackten Rücken. Vor Schreck und Kälte schrie er auf. Jemand packte ihn und rollte ihn zur Bettkante. Wie betäubt schlug er neben dem Bett auf. Nass und von Zorn erfüllt fuhr er hoch…und presste sich die Hand gegen die Stirn.

Vor ihm, mit einem Eimer bewaffnet stand Ninak, die Hand in die Hüfte gestemmt. ,,Na, Kopfschmerzen?“

Bei Durin… ,,Kannst du nicht leiser…“

,,Ich rede so laut, wie ich will!“ In seinen Ohren klingelte alles.

,,Beweg endlich deinen Arsch aus dem Bett!“

,,Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: das habe ich bereits getan“, gab er zurück, massierte sich die hämmernde Stirn.

,,Ja, und das auch nur dank mir.“ Angriffslustig sprühten ihre blauen Augen Funken. ,,Du würdest wieder den ganzen Tag im Bett hocken, schmollend unter der Bettdecke verkrochen, wie ein kleiner Junge.“

Vom gebrochenen, restlichen Stolz, den er noch besaß, getrieben kam Thorin auf die Beine, baute sich drohend vor ihr auf.

,,Nicht streiten!“ Auf einmal stand Kili neben ihnen, schaute zu den beiden Erwachsenen empor, die sich wie Rivalen gegenüber standen, kaum eine Handbreit Luft dazwischen.

,,Jungs, geht in euer Zimmer“, sagte Ninak nicht unfreundlich, ohne den Blick von Thorin zu nehmen. ,,Ich habe ein ernstes Wort mit eurem Onkel zu sprechen.“

Fili nahm seinen Bruder bei der Hand. Eilig trollten sich die beiden.

,,Wulkna beschwert sich nur noch über dich. Sie weigert sich deinen Kram wegzuräumen und den Saustall sauber zu halten, den du hier veranstaltest.“

,,Sie soll sich nicht beschweren. Das ist ihre Arbeit.“

 ,,Aber meine ist es auch nicht! Ebenso wie es meine nicht ist, dass ich mich den ganzen Tag und auch nächtelang um deine Neffen kümmere, während Dwalin und ich noch arbeiten müssen. Auch jetzt hätte ich schon wieder längst dort sein müssen. Wo warst du letzte Woche? Die halbe Nacht war ich bei ihnen. Ist dir das überhaupt klar?“

Thorin presste die Kiefer aufeinander. ,,Das geht dich nichts an.“

Sie stieß die Luft aus, um einen Versuch zu unternehmen ihr Gemüt etwas zu beruhigen. Doch es hatte nur wenig Nutzen. ,,Du weißt es. Du weißt, dass ich sie liebe, dass sie wie meine eigenen Kinder sind, die ich nie haben werden kann. Doch ich bin es leid, ihnen zu erklären, warum ihr Onkel so geworden ist. Ich schäme mich für dich, Thorin“, fauchte sie ihm ungehalten ins Gesicht. ,,Ich kann nicht mit ansehen, wie du ihnen die kalte Schulter zeigst. Du besitzt noch nicht einmal den Anstand, deine Versprechen ihnen gegenüber einzuhalten. Du hast schon vor Tagen gesagt, du würdest sie mit zu den Ställen nehmen. So etwas würde ein Vater seinen Söhnen beibringen. Karif hat…“

,,Ihr Vater ist tot“, fuhr er ihr über den Mund, damit sie nicht noch tiefer die Wunden aufriss.

,,Gerade deshalb musst du es tun! Du musst für sie da sein!“

,,Hör auf mir immerzu nur zu sagen, was ich zu tun habe! Du hast gar keine Ahnung, wie es mir geht!“

Nicht einen Zentimeter wich sie vor seiner geladenen Stimme oder ihm zurück. ,,Dann sag es mir.“

Trauer. Sorge. Nicht zu wissen, wie es weiterging. Nicht zu wissen, ob es je wieder eine gute Zeit geben könnte. Scham. Wut. Und wieder diese Trauer, die ihn wie sein Schatten verfolgte. Schuldgefühle. Albträume, die ihn plagten. Schöne Momente, die ihn jedes Mal wieder erinnerten und sich dann in schreckliche Bilder wandelten - ein Spiegel dessen, was ihm widerfahren war. Die Liste war lang, der Schmerz groß und mächtig. Die Vorwürfe fraßen ihn von innen auf. Der Platz, wo sein Herz gewesen war, schmerzte wie eine klaffende, blutende Wunde. Die Welt war für ihn trostlos und grau geworden. Wie sollte sie verstehen, dass er sich bloß noch ihrer entziehen wollte, doch sich gleichzeitig von ihr wie in Ketten gelegt fühlte…

Thorin wandte das Gesicht ab. ,,Lass mich in Ruhe.“ Das war das einzige, was er ihr antworten konnte.

,,Du hast recht“, raunte Ninak und trat noch näher an ihn. Ihre Körper berührten fast einander. ,,Ich sollte dich weiter in deinem Loch aus Selbstmitleid verkümmern lassen. Ich sollte dir noch eine Schaufel reichen, damit du schneller daraus dein Grab machen und es anschließend verscharren kannst. Krieg endlich dein Leben wieder in den Griff - für Kili und Fili. Das ist das Letzte, was ich noch zu dir sagen kann.“ In ihren Augen flackerte es, doch ihr Ausdruck blieb eisern. ,,Manchmal da denke ich darüber nach, was wäre, wenn du anstatt ihrer in Moria geblieben wärst.“

Thorin starrte sie an, starrte in ein Gesicht, das Trauer und Zorn in sich trug. Ninak wandte sich zum Gehen ab, doch drehte sich ihm noch einmal zu. ,,Aber ich warne dich, Thorin Eichenschild“, sie zeigte mit dem Finger direkt auf sein Gesicht, ,,solltest du jemals einem der beiden auch nur ein einziges Mal ein Haar in deinem Suff krümmen oder sie gar mit in dein Loch reißen, dann werde ich dafür sorgen, bei Durin, dass du es bereuen wirst, mich gekannt zu haben.“ Ihre roten Locken wirbelten hinter ihr her, als sie sich ihre Tasche über die Schulter warf und zur Tür hinaus stürmte. Mit einem Rums krachte die Tür ins Schloss.

Thorin sah ihr hinterher, wusste nicht, ob er Wut oder gar Hass für sie in diesem Moment empfinden sollte. Sein Blick fiel auf Dwalin, der an der Wand unweit der Tür lehnte und das Schauspiel verfolgt hatte. ,,Was ist?“, schnauzte er ihn an.

Er kratze sich in den schwarzen Haaren neben seinem Irokesen. ,,Ich würde mit ihrem Zorn vorsichtig sein und ernst nehmen. Glaub mir.“

Brummend ließ Thorin sich zurück auf’s Bett sinken und fuhr sich durchs Gesicht. ,,Manchmal frage ich mich ernsthaft, wer bei euch die Hosen anhat.“

Dwalin verzog den Mund zu einem schiefen Schmunzeln. ,,Ich musste sie auch erst bändigen, doch ganz geschafft habe ich es nie.“

,,Verschon mich bitte damit.“ Auf irgendwelche Bettgeschichten konnte er an diesem Morgen gut und gern verzichten. Ein Klopf an der Tür verschaffte ihm Abhilfe.

,,Was ist denn in Ninak gefahren?“, fragte Balin sogleich, als er eintrat. ,,Sie kam mir wie eine Furie entgegen und grüßte nicht einmal. Was habt ihr angestellt?“

Stumm wies ihr Gefährte mit dem Daumen auf Thorin.

,,Aha. Verstehe“, seufzte der grauhaarige Zwerg nur. ,,Sind die Jungs fertig?“

,,Sind im Zimmer.“

,,Zu was fertig?“, fragte Thorin, während er sich verrenkte und nach einer der Flaschen angelte, die neben dem Bett standen. Er erwischte eine leere, stellte sie gleich wieder aus der Hand und bekam beim nächsten Versuch eine noch halbvolle zu fassen.

,,Zum Unterricht“, antwortete Dwalin auf dem Weg zum Nebenzimmer. ,,Das trifft sich gelegen. In einer halben Stunde hast du die Audienz.“

Träge hob Thorin den Kopf.

,,König Baryn wünscht dich zu sprechen.“

Nicht schon wieder… Er kippte die Flasche und zwang sich den Schnaps mit drei großen Schlücken hinunter. Die erhoffte Wolke breitete sich in seinem Magen aus, ein Vorbote des ersehnten Dämmerzustandes. ,,Sag ihm, ein anderes Mal.“

 ,,Tut mir leid, das werde ich nicht.“

Thorin richtete einen funkelnden Blick auf ihn.

Als Dwalin die Tür zum Kinderzimmer öffnete, gab es einen dumpfen Schlag. Die Jungs kamen dahinter zum Vorschein. Jeder rieb sich den Kopf. ,,Habt ihr etwa gelauscht?“

,,Nein!“, riefen die beiden wie aus einem Mund. ,,Nein, haben wir nicht. Wirklich!“

,,Abmarsch. Balin nimmt euch mit.“ Sofort war der schmerzende Kopf vergessen und die beiden liefen zu ihm. An der Tür jedoch drehte sich Kili noch einmal zu seinem Onkel um und zögerte nachdenklich.

,,Na komm, mein Junge.“ Balin legte die Hand hinter seinen Rücken und schob ihn sanft weiter. ,,Und komm ja nicht auf die Idee, die Audienz zu schwänzen“, rief er noch über die Schulter. ,,Dwalin wird dich begleiten.“

Thorin rollte mit den Augen und ließ sich stöhnend mit der Flasche zurück auf sein nasses Bett fallen.

 

,,Wir sehen dich nicht mehr in der Lage, an solchen Versammlungen teilzunehmen.“

,,Denkst du so oder war das ein Entscheid von Varis und den anderen?“

Sie waren allein in den Gemächern des Königs. Dieser rückte auf seinem Stuhl vor, legte die Hände auf den Tisch. Baryn war klein und dicklich. Sein weißes Haar, in denen sich noch restliche blonde Strähnen gehalten hatten, war zu einem Zopf zurück gebunden. Der bauschige Bart, der ihm bis zum Gürtel reichte, war zweigeteilt und mit goldenen Ringen geschmückt. Seine blauen Augen besaßen immer Wärme und Besonnenheit, wie auch in diesem Moment.

,,Die Entscheidung der Vereinigung deines und meines Heeres war nötig. Ich kann nachvollziehen, dass du dich übergangen fühlst, aber es war eine gute Entscheidung. Gib deinen Männern einen Neuanfang. Lass sie das Geschehene vergessen und sie hier ganz Fuß fassen.“

Ausdruckslos sah Thorin irgendwo auf die Tischmaserung. ,,Ich kann nichts vergessen.“

,,Ich verstehe, dass es schmerzt, doch du solltest dich damit abfinden, dass Erebor gefallen ist.“

Er riss den Blick zu seinem Gegenüber hoch, beugte sich ebenfalls vor. ,,Das kann ich nicht“, presste er zwischen den Zähnen hervor. ,,Irgendwann werden sie wieder unserem Land dienen. Das weiß ich.“

Baryn kratzte sich die Stirn und nahm sich die Zeit, um durchzuatmen. Thorin lehnte sich wieder zurück. Er mochte den alten Zwerg, der trotz der Stimmen seines Rates und Weisungen seiner Berater sich zudem stets auch ein eigenes Urteil bildete.

,,Thorin, dein Großvater und ich waren nicht nur Verbündete sondern auch Freunde“, fuhr Baryn fort. ,,Du weißt, was ich von dir halte. Viele - und ja, insbesondere der Rat kann das Geschehene nicht von deinem Haus nehmen“, räumte er ein. ,,Sie sehen Thror in dich. Wie viele auch.“

Thorin sah an ihm vorbei zu dem Wappen der Blauen Berge, das auf ein Schild gemalt an der Wand hing: zwei gekreuzte Äxte auf dunkelblauem Grund. Eine Streitaxt. Eine Arbeitsaxt. ,,Ich bin nicht mein Großvater.“

 ,,Das weiß ich. Glaube mir.“ Er legte die Hand auf seinen Arm. Thorin schaute ihn an. ,,Du weißt, dass du und deine Neffen für immer als meine persönlichen Gäste bleiben dürft.“

Er ließ den Atem aus seinen Lungen, nickte. ,,Ich weiß.“ Er besaß kein eigenes Einkommen. Lord Baryn finanzierte sein Leben und den Luxus von Zimmermädchen für alle drei geräumigen Wohnstuben im Gästeflügel, die er, Dwalin und Balin mit ihren Familien zur Verfügung gestellt hatte.

,,Wenn du je irgendetwas brauchst, dann sprich es aus.“ Freundschaftlich tätschelte Baryn seinen Arm, ehe er sich wieder zurück lehnte. ,,Ich kann dir deine Krone nicht zurückgeben“, seufzte er. ,,Doch wenn du magst, kann ich dir eine Stellung vermachen. Egal wo. Militär. Offiziersränge.“

Doch Thorin schüttelte den Kopf, wusste, dass er sich wie ein Verräter seinem eigenen Land gegenüber fühlen würde. ,,Das möchte ich nicht. Ich weiß deine Mühen zu schätzen“, antwortete er ehrlich und dankbar. ,,Was du für mein Volk getan hast, vergesse ich nie.“

Auf Baryns Zügen bildete sich ein verständnisvolles Lächeln, ,,wie du magst“, und Thorin neigte das Haupt als Dank. ,,Eines muss ich aber noch mit dir besprechen.“ Er strich sich den Bart um die Mundwinkel nach. Seine Stimme wurde ernster, ließ Thorin achtsam werden. ,,Im Rat kam die Frage auf, was aus den Söhnen deiner Schwester wird.“ Man sah ihm an, dass er den folgenden Vorschlag selbst nicht gut fand, doch er beschönigte nichts. ,,Manche waren der Meinung, dass sie bei anderen Fürstenfamilien besser aufgehoben sein würden.“

,,Varis?“ Kalt und verhasst sprach Thorin den Namen aus.

,,Ja“, er nickte bedacht. ,,Ratsmitglied Varis hatte diesen Punkt auf dem Protokoll angeführt. Thorin…ich muss dir mitteilen, dass es darüber bereits eine Abstimmung gab. Es wurde entschieden, dass die Jungs in einem anderen Haus als Mündel aufgezogen werden.“

Wortlos starrte Thorin ihn an, während vor seinen Augen die letzte Stütze seines Lebens weggerissen wurde. Man hatte ihm den Todesstoß versetzt.

,,Doch ich habe mein Veto eingesetzt. Vor allen Dingen, da zwei getrennte Häuser ausgesucht wurden, welche für sie in Zukunft Sorge tragen sollten. Die Familien, die Varis genannt hatte, hielt ich für ungeeignet. Daher habe ich beschlossen, dass ich sie im nächsten Herbst unter meine eigene Hand nehme. Ich würde mich persönlich um sie kümmern und du dürftest sie sehen, so oft du willst.“

Abwesend nickte Thorin einfach.

,,Für deine Neffen werde ich die besten Ausbildungen organisieren, da gebe ich dir mein Wort. Sie können große Zwerge werden. Denk darüber nach, was das Beste für sie ist.“ Damit erhob Lord Baryn sich und Thorin tat es ihm, wie an Fäden gezogen gleich.

Mit der Hand auf der Schulter begleitete der Zwergenfürst ihn zur Tür. ,,Glaub mir, ich wünsche dir und deiner Familie nur das Beste.“

Dwalin, der draußen gewartet hatte, erhob sich beim Öffnen der Tür.

,,Das weiß ich zu schätzen“, murmelte Thorin. ,,Ich werde dein Angebot nicht vergessen.“

Zum Trost konnte Baryn ein Lächeln aufbringen. ,,Alles Gute für dich.“

 

Dwalins geballt Faust sauste auf den Tisch nieder, dass es nur so rumste. ,,Das können die doch nicht einfach bestimmen, ohne ein Sterbenswörtchen mit uns zu besprechen! Bei Durin, wir kümmern uns doch um die Jungs. Varis, dieses Arschloch, tut das nur, um dir zu schaden! Sollte er mir eines Tages gegenüber stehen, dann, ohh, dann…“ Voller Abscheu und Vorfreude rieb er sich die mit schwarzen Inschriften tätowierten Fingerknöchel.

Thorin saß ihm gegenüber und starrte auf seinen Bierschaum im Krug. Das rege Treiben der Kneipe um sie herum war nichts weiter als ein monotones Brummen. Was hatte jetzt überhaupt noch Sinn und Bedeutung? Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt von dem Kampf mit seinem Leben. Was konnte er noch ausrichten? Alles war aus. Alles vorbei.

Ein Mädchen mit einem Tablett voll Schnapsflaschen kam an ihrem Tisch vorbei. Er winkte sie heran, ließ eine Münze auf den Tisch fallen und warf seinem Freund einen Blick zu, der ihm mit finsterer Miene zusah. ,,Versuch mich erst gar nicht davon abzuhalten.“ Sie füllte ihm einen Schnaps ein, den er sogleich kippte. Mit einem lauten Knall setzte er das leere Glas ab und schob es ihr zu. ,,Noch einen.“

Dwalin seufzte. ,,Ach, was soll‘s…Mir auch.“ Zwei Gläser wurden gefüllt.

,,Auf alle Freunde und jeden Feind“, murmelte Thorin und die beiden stießen an.

,,Seht mal, wer unsere bescheidene Stube besucht“, rief auf einmal jemand. Über die Schultern blickten sie zum Tresen, wo eine Gruppe Männer sich versammelt hatte, die wohl gerade von der Arbeit kam, denn ihre Kleidung und Bärte waren vom Sägewerk noch mit Schmutz und Späne bedeckt. ,,Der letzte König Erebors“, spottete ihr Wortführer geradezu respektlos. ,,Es ist mir eine Ehre!“ Er verbeugte sich übertrieben, woraufhin seine Kumpanen in Gelächter verfielen.

Thorins rechte Faust ballte sich. Die Knöchel wurden weiß und knackten unter der Anspannung.

Aus einer anderen Ecke rief jemand, sie sollen es gut seinlassen, doch ein Anderer wetteiferte seinem Kamerad nach und erntete noch lauteres Gelächter. ,,Hey, König der Kurzbärte, wo ist Euer Krönchen?“

Dwalin sah Thorin an. Thorin sah Dwalin an. Und dann gab es kein Halten mehr. Während Thorins Faust dem Wortführer die Nase brach, trat Dwalin dem Erstbesten kraftvoll gegen die Brust, sodass dieser zurück gegen den Tresen flog. Die weiblichen Gäste und Bedienungen brachten sich schleunigst in Sicherheit. Mit hochgekrempelten Ärmeln stürzten sich die Männer dazwischen. Schon bald wusste keiner mehr, wer eigentlich angefangen hatte. Haltlos wurde auf jeden eingeschlagen, der am nächsten stand. Die Fronten waren untrennbar ineinander verkeilt. Bänke wurden umgeworfen. Stühle flogen durch den gesamten Raum. Gläser und Kruge gingen massenweise zu Bruch. Flaschen wurden über Köpfe zerschlagen. Teilweise rutschten sie auf dem, von Bier überschwemmten Boden aus, wälzten sich über die Scherben.

Thorin nahm einen der Stühle und zerschlug ihn krachend auf einem Rücken. Fausthiebe hagelten auf ihn ein, doch der Alkohol machte ihn schmerzunempfindlich und euphorisch.

,,Gib den da mir!“, hörte er Dwalin über die Laustärke hinweg brüllen. Sogleich packte er den Typen am Kragen und warf ihn in seine Richtung. Dwalin pustete ihm mit einem Schlag die Lichter aus. ,,Ihr solltet Euren Laden mal auswischen,“, rief er dem Wirt zu, ,,hier lieg überall Dreck!“, und trat nach dem am Boden Liegenden.

Der Nächste sprang auf Thorin zu. Er fasste ihn an der Taille und wuchtete ihn über sich, schmetterte ihn zu Boden. Plötzlich waren jegliche Schläge an ihm verschwunden. Wie durch schweren Nebel schaute er dem wilden Szenario zu, was überall um ihn herum tobte. Helle Flecken sprangen vor seinen Augen umher. Schwarze Sterne engten sein Sehfeld ein. Alles verlief viel langsamer ab. Bewegungen waren verzerrt, das Geschrei tonlos. Wie Bullen schoben sich die Männer an den Schultern gepackt umher, versuchten, sich gegenseitig zu Boden zu drängen. Münder waren weit und stumm aufgerissen. Seinen Herzschlag hörte er als einziges in seinem Kopf, der vor Schmerz zu explodieren drohte. Er fasste sich an die Schläfen, hatte auf einmal das Gefühl keine Luft mehr zubekommen. Er musste hier raus.

Den Blick starr auf die Tür gerichtet drängte er sich durch die Menge, stolperte und wankte, schubste, stieß und schlug sich einen Weg frei. Plötzlich war er draußen. Die Tür schlug hinter ihm zu, den undeutlichen Lärm dahinter gefangen.

 

 

13

 

Höhnisch schien sich der Boden unter seinen Füßen zu verschieben. Er spürte das Auftreten seiner Füße nicht, konnte nicht sagen, ob er ging oder stand. Mit pochendem Gesicht schwankte Thorin durch die Gasse, rot und blau ums Auge. Die Wut über den Spott hatte er sich aus dem Leib geprügelt. Was übrig blieb war der zurückgebliebene Schmerz und plötzliche Übelkeit. Galle stieg ihm hoch. Thorin musste sich an einer Wand abstützen und übergab sich. Würgend rutschte er auf die Knie, hatte sich nie elendiger gefühlt. Ein letztes Mal spuckte er aus, schaute keuchend auf sein Erbrochenes und sah, wo er gelandet war: in der Gosse.

Manchmal da denke ich darüber nach, was wäre, wenn du anstatt ihrer in Moria geblieben wärst. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr ihn Ninaks Worte getroffen hatten. Seine Finger krallten sich in den Boden, wollten Halt finden, wo es keinen gab. Ja, manchmal da dachte er darüber nach, wie es wäre, einfach tot zu sein. Warum war er überhaupt noch auf dieser Welt? Wozu sollte er es bleiben? Sein Leben war ihm durch die Finger entglitten. Unwiderruflich.

Und bald würde man ihm auch Kili und Fili nehmen, seinen Lebensfaden durchtrennen.

Schmerzhaft zog sich etwas in seiner Brust zusammen, als würde ihm etwas Lebenswichtiges abgeschnürt werden. Er war am Ende angekommen.

Thorin setzte sich in die Gosse und dämmerte in seinem Nebel dahin…bis er Marie sah. Sie tanzte in ihrem weißen Kleid unter tausenden, bunten Lichter, eingetaucht in eine Melodie. Sie sah ihn an und lachte. Sorglos und frei. Sein wunderschönes Mädchen, das er zurück gelassen hatte… Er wusste nicht einmal, ob sie noch am Leben war. Er musste ihr das Herz gebrochen haben.

Thorin kniff die Augen zusammen bis sie schmerzten, wollte zur Flasche greifen, damit er die Pein verdrängen konnte, doch er hatte keine zur Hand. In dem Moment, als er zu schluchzen begann, drang aus weiter Ferne eine Stimme durch den Nebel zu ihm durch. Schwach hob er den Kopf. ,,Marie?“ Sie erhörte seinen Ruf. Zwei warme Hände legten sich an sein Gesicht. ,,Marie…“ Es war ihm egal, dass er nicht verstand, was sie zu ihm sagte. Alles war egal, denn sie war bei ihm.

Sein Arm wurde um ihre zarte Schulter gelegt. Nur mühsam bekam sie ihn auf die Beine. Er war müde und erschöpft, doch unendlich froh bei Marie zu sein. Zusammen gingen sie durch die Gassen der Stadt, bis ihm erneut übel wurde. Er drehte sich weg von ihr und erbrach erneut. Sie hockte sich neben ihm, nahm ihm die Haare aus dem Gesicht. Das Würgen und die Galle wollten nicht weniger werden. Erst als im alles weh tat und der verdammte Alkohol endlich aus seinem Körper war, lichtete sich auch der Nebel in seinem Kopf. Er fühlte eine Hand, die ihm über den Rücken strich und drehte den Kopf. Alles in ihm erstarrte. ,,Nein… Du?“ Wortlos sah die Dirne mit den bernsteinbraunen Augen ihn an.

,,Verschwinde“, knurrte Thorin, nachdem er die bittere Realität schlucken musste. ,,Hast du nicht gehört, du sollst verschwinden!“ Sie jedoch machte keine Anstalten das Weite zu suchen. Unschlüssig presste die Frau den Mund aufeinander und wollte ihm aufhelfen.

,,Fass mich nicht an.“ Er schob sie von sich, taumelte zurück, bis er die Wand im Rücken spürte.

,,Kommt, Mylord, es ist nicht weit.“ Vorsichtig streckte sie die Hand nach ihm aus. Thorin schlug sie weg. ,,Ihr seid verletzt“, beharrte sie.

,,Ich brauche kein Mitleid. Schon gar nicht von dir.“

,,Bitte. Vertraut mir.“

Eine lange Zeit sah Thorin sie an. Er wusste nicht mehr, wo er war, noch wie er zurück gelangen konnte, geschweige denn wie es weitergehen sollte. Es war eh alles zu spät.

Mit einem Keuchen gab er seinen Widerstand auf und sie nahm seinen Arm, legte ihn sich wieder

über, um ihn zu stützen. ,,Es ist nicht weit.“ Thorin ließ sich von ihr führen.

Seine betäubten Sinne wurden jedoch schlagartig wach, als er das Eckhaus sah. Er erkannte das Bordell und stemmte die Füße in den Boden. ,,Nein.“

,,Ich will nur Eure Wunden versorgen.“

 ,,Nein…“

 ,,Nur Eure Wunden.“

Zögernd schaute Thorin an dem Gebäude empor. Sanft führte sie ihn weiter und er konnte nichts anderes tun, als ihr zu vertrauen.

An der Rückseite des Gebäudes öffnete das Mädchen eine Hintertür und betrat mit ihm den Flur. Auf der Treppe merkte Thorin seinen schweren Kopf wieder. Seine Beine waren plötzlich wie Pudding.

Die kleine Dirne musste sich alle Mühe geben, damit er das Gleichgewicht nicht verlor. ,,Uff, seid Ihr schwer…“ Mädchenhaftes Gekicher und Musik aus dem unteren Stockwerk waren zu vernehmen. Immer wieder schaute das Mädchen sich um, als sie ihn den Korridor entlang führte, unter dessen Zimmertüren Lichtscheine und Schatten hindurch flackerten. Thorin bemerkte ihre Nervosität, sah, wie sie auf jedes Knarzen im Holz lauschte, und dankte ihr, dass sie ihn heimlich ins Freudenhaus schmuggelte.

Sie öffnete eine der Zimmertüren und führte ihn zu dem dortigen Bett. ,,Setzt Euch…Vorsichtig.“

Mit Schmerzen im Rücken ließ er sich darauf nieder. Jeder erdenkliche Knochen tat ihm nach der Schlägerei weh, was ihm zeigte, dass er gehörig aus der Übung gekommen war. Die Braunhaarige schob die farbigen Bettschleier beiseite und knotete sie jeweils an den Pfosten zusammen, damit sie ihn nicht störten. Nun erkannte Thorin den Raum wieder. Er war schon einmal hier gewesen.

Flink schob die Dirne den Riegel vor die Tür und legte ihren Umhang ab. Zum Vorschein kam ein rosafarbenes Kleid aus dünnem Stoff. Er sah ihr zu, wie sie mit der Sicherheit ihrer vier Wände nun Wasser aus dem Krug von der Kommode in die danebenstehende Schüssel goss, ein Fläschchen aus einer der Schubladen hervor holte und etwas davon ins Wasser tat. Sie kam mit der Schale und einem Schwamm zu ihm, ließ sich neben ihm nieder. ,,Lasst mich Eure Verletzungen sehen.“

Thorin drehte ihr den Rücken zu und sehr vorsichtig wurden ihm Weste und Hemd von den Schultern gezogen, wobei er scharf die Luft einzog. Zaghaft tastete sie seine Wirbelsäule und Rippen ab und begann mit dem Schwamm jene Stellen abzutupfen, wo es unter seiner Haut pochte.

Im Spiegel auf der Kommode, die neben der Tür stand, beobachtete er sie, fühlte, dass sie so etwas nicht zum ersten Mal machte. Das kalte Wasser tat gut, kühlte die erhitzte Haut. Er roch Salbei und Kamille und konnte fühlen, wie Blutergüsse zu wachsen begannen.

,,Nun Euer Gesicht“, bat sie und Thorin wandte sich ihr zu. Die Fingerspitzen an sein Kinn gelegt betupfte sie mit noch größerer Vorsicht Platzwunden an Stirn und Wangenknochen, die er gar nicht wahrgenommen hatte, und zupfte ihm noch etwas Sägespäne aus den Haaren.

Thorin nutze die Gelegenheit und sah sie sich genauer an. Sie war noch jung, jünger als er und recht hübsch anzusehen. Ein Zopf mit einer roten Holzperle zierte ihr halblanges Haar, in das rote Bänder und blonde Strähnen eingeflochten waren. Ihre großen, braunen Augen waren das einzige, woran er sich klar erinnern konnte. Feine Sommersprossen hatte sie auf den Wangen und der Nase. Ihre Barthaare am Unterkiefer entlang waren ebenso fein und unscheinbar. Dann entdeckte er die aufgeplatzte Stelle an ihrem Mundwinkel. Er war sich sicher, dass sie geschlagen worden war. ,,Wer war das?“

Sie merkte seinen Blick, schüttelte jedoch bloß den Kopf. Anscheinend wollte sie nicht darüber reden. Während sie sich um seine aufgesprungenen Lippen kümmerte, versuchte sie krampfhaft, ihm nicht in die Augen zuschauen. ,,Eine Ohrfeige“, antwortete sie schließlich. ,,Und eine besonders kraftvolle noch dazu.“

 ,,Wofür?“ Er zuckte zusammen, als seine geschwollene Lippe den Schwamm streifte.

,,Bitte, nicht sprechen. Es war die Hausherrin.“

Er fragte sich, was sie getan hatte, dass sie deren Zorn auf sich gelenkt hatte. ,,Warum…“

,,Nicht sprechen.“

,,Warum tust du das alles?“ Das weiche Knäul entfernte sich. ,,Warum hast du mich vor ein paar Tagen in dieses Zimmer geführt?“

Sie schlug die Augen nieder. ,,Ich - ich wollte Euch helfen.“ Nervös knetete sie den Schwamm in ihren Händen, den Blick eisern darauf gerichtet. ,,Ich sah, dass es Euch schlecht ging.“

,,Was weiß eine Hure schon von meinen Problemen? Du verstehst nur etwas vom Ficken. Mehr kannst du nicht.“

,,Verurteilt mich nicht nach dem, was ich tue“, sprach sie zwar leise, jedoch klar und bestimmt. ,,Ihr seht vielleicht nur eine Hure in mir.“ Sie säuberte den Schwamm im Wasser, um ihn nicht anschauen zu müssen. ,,Wenn Ihr das tut, seid Ihr ein anderer, für den ich Euch halte. Vielleicht sagt Ihr das, weil Ihr zornig seid. Das verstehe ich. Trauer und Zorn vermischt ergibt einen unkontrollierten Geist - den habe ich bei Euch gespürt.“ Dann wagte sie es, den Kopf zu heben. ,,Ich habe es Euch angesehen. Jeder, der halbwegs bei gesundem Verstand ist, sieht es Euch an.“

,,Was? Dass ich eine Hure nötig gehabt hatte?“ Seine gereizten Worte verklangen im Raum. Thorin schüttelte den Kopf. ,,Das, was ich brauche, kannst du mir nicht geben.“

Als das Mädchen ihm antwortete, war es so, als wüsste es, wovon er sprach. ,,Nein, das kann ich wahrlich nicht.“ Sie erhob sich und stellte die Schüssel zurück. ,,Eure Sehnsucht.“ Thorin schaute auf. ,,Das war es, was ich in Euren Augen gesehen hatte. Ich wollte bloß, dass Ihr für einen Moment alles vergesst. Seid ehrlich, hatte ich es nicht geschafft?“

Thorin verengte die Augen. Seine Kiefer mahlten. Er weigerte sich vehement, ihr Recht zu geben. Doch insgeheim wusste er, dass sie seinen unbefriedigten Drang genommen und ihm innere Ruhe geschenkt hatte. Bei ihr hatte er seine Trauer vergessen können und als sie ihm Lust und Verlangen schenkte, konnte er der grauen Wirklichkeit entkommen.

Wut über sich selbst machte sich in ihm breit, dass er diese Erkenntnis zuließ. Der Tag war schon schrecklich genug, da musste er sich nicht auch noch sowas anhören! Es dürstete ihn wieder nach guten alten Korn, damit er den Kopf freibekommen und sich im dämmrigen Nebel verstecken konnte. Auf einmal entdeckte er die Flasche, die er beim ersten Mal wohl hier vergessen haben musste, auf der Kommode neben ihr stehen. Die Dirne folgte seinem Blick und sah ihn wie ein Kind tadelnd an. ,,Hört auf mit dem Trinken. Es wird Euch noch zu Grunde richten.“ Die Distanz zu ihm verschaffte ihr wohl Mut, denn sie nahm die fast leere Flasche und ging damit entschlossen zum Fenster.

Thorin ahnte, was sie vorhatte. ,,Nein! Wehe, du…“ Schon hatte sie die Fensterhälften geöffnet und kippte den Inhalt auf die Straße. Von unten hörte man es leise plätschern. Vor Wut kochend musste er mit ansehen, wie sie seelenruhig die Flasche schüttelte, damit euch der letzte Tropfen seines Verbündeten verschwand und zufrieden das Fenster schloss. Sie stellte die Flasche dorthin, wo sie gestanden hatte, und ein Atemzug später war Thorin bei ihr.

Das Holz erzitterte in seinen Angeln, als er sie gegen die Tür drückte und sich haltlos die Hose aufknöpfte. ,,Nein!“ Sie stemmte die Hände gegen seine Brust, wollte ihn von sich schieben. Der Mann ihr gegenüber war stärker. Er schob ihr das Kleid hoch und bemerkte zufriedenstellend, dass sie nichts darunter trug. Ihren Rücken gegen die Tür gepresst, fasste er ihre Schenkel und hob sie hoch. Als er in sie eindrang, stöhnte sie vor Schmerz auf. Es war ihm egal, dass sie nicht bereit für ihn war. Er dachte nicht darüber nach. Er tat einfach.

Von einem tiefen, inneren Trieb gelenkt fuhr er mit einem harten Stoß in sie. Sie schrie auf, krallte ihre Arme um seinen Hals, um sich irgendwie zu halten. Die Bretter erbebten unter ihrem Rücken, als er sie nahm. ,,Thorin…“ Wie einem Geliebten streichelte sie seine Schläfe, seine Wange, versuchte, ihn zur Ruhe zu bewegen. ,,Thorin…Sie mich an.“ Er nahm ihre sanfte Berührung wahr, sah ihr in die Augen. Ihr angestrengter Atem streifte sein Gesicht, vermischte sich mit seinem eigenen. Ein Duft von Rosenblüten.

Er hob sie von der Tür weg, trug sie durch den Raum und warf sie aufs Bett. Den Blick auf sie gerichtet, riss er sich die Hose von den Knöcheln, die Stiefel hinterher. ,,Dreh dich um“, kam der kalte Befehl. Sie gehorchte und blieb, aus Angst vor der Folge, wenn sie es nicht täte, stumm. Thorin ließ sich hinter sie sinken, fasste ihre Hüfte und zog sie auf die Knie. Als er ihr das Kleid hoch schlug, stieß sie ein Wimmern aus, presste aber schnell den Mund aufeinander und ließ es geschehen.

Ein animalischer Instinkt lenkte Thorin blind und taub für sein Umfeld. Er brachte sich in Position und drang abermals in sie ein. Tief und hart nahm er sie, packte in ihre Haare, damit sie ein Hohlkreuz machte und ihn tiefer in sich aufnehmen konnte, wollte endlich diesen Schmerz aus sich heraushaben, der ihn innerlich auffraß. Mit jedem Stoß ließ er die Wut über sich selbst und über die Welt raus. Ein Zorn auf alle und jeden und zugleich und am meisten auf sich selbst erfüllte ihn.

Er hatte Marie verloren! Seine Schwester war tot! Sein Bruder war tot! Alle tot! Tot! TOT!!

Es dauerte nicht lange, da kam der süße Rausch, der ihn erfasste und mit sich nahm. Er schlang die Arme um ihren Leib, klammerte sich haltsuchend an ihr fest. Außer Atem begrub er das Mädchen unter seinem Gewicht. Das Gesicht in ihrem frisch gewaschenen Haar sog er die Wärme ihres Köpers, wie ein Ertrinkender das rettende Land, in sich auf.

Irgendwann, als sich sein Pulsschlag allmählich normalisierte und sein Kopf wieder anfing zu arbeiten, nahm Thorin den Körper unter sich wahr und stemmte sich erschrocken hoch. Die Hände neben ihren Kopf gelegt lag sie wie eine Geisel unter ihm. Er hörte ihren angestrengten Atem, sah ihr Zittern und realisierte, was er soeben getan hatte.

14

Huren waren ohne Ehre. Das hatte er jedenfalls immer gedacht. Heute wusste er es besser: es waren die Männer. Männer wie er.

Nackt lag er auf dem roten Laken, starrte mit leerem Blick an das Baldachin des Himmelbettes und wollte sich vor Scham und Ekel vor sich selbst am liebsten umbringen. Unaufhaltbar spürte er Tränen aufsteigen. Was habe ich getan?

Es war still im Zimmer geworden. Andere Geräusche des Hauses drangen zu ihnen. Nach einer Zeit spürte er, wie sich die Dirne neben ihn bewegte. Doch widererwarten ergriff sie nicht die Flucht, schrie um Hilfe oder wandte sich von ihm ab. Stattdessen kam sie näher, legte sich an seine Seite, machte sich klein, als wäre ihr kalt. Zaghaft legte sie ihren Kopf an seine Schulter, die Hand auf seine Brust. Dort, wo einst sein Herz gewesen war.

,,Ich hatte Euch schlafen gelassen.“ Ihr leises Flüstern zitterte, ,,ich hatte über Euch gewacht…damit niemand herein kam…und sie Euch finden“, und er spürte, wie sie schluckte. ,,Als ich mir sicher war, dass Ihr schlaft, ging ich, um Euch etwas zu Essen und einen Tee gegen Kopfschmerzen aus der Küche zu besorgen. Ich bekam Ärger, weil ich nur so wenig an diesem Tag verdient hatte. Und als ich auch noch gestand, dass mir das Teeservice zu Bruch gegangen ist…da hat sie mich geschlagen.“

Thorin musste die Augen vor sich selbst verschließen. Er war es gewesen, der ihr das Tablett aus der Hand geschlagen hatte und in diesem Moment fühlte er nichts anderes als Reue, auf eine so aufrichtige Weise wie niemals zuvor. Sein Arm legte sich um ihren zusammengekauerten Körper, seine Hand schützend um ihre Schulter, den feinen Stoff ihres Kleides zwischen den Fingern. Er drehte den Kopf und auch sie sah ihn an. Damit sie sich nicht vor ihm fürchtete, hob er die Hand langsam, um sie auf ihre Wange zu legen. Sein Daumen fuhr über ihre weiche Haut, über ihre Augenbraun, ganz vorsichtig über die feinen Wimpern ihres Auges, welches sie schloss. Wieso sie ihn nicht hasste, wie sie es ertragen konnte noch bei ihm zu sein, fragte er sich, als er ihr Seufzen vernahm und spürte, wie sie begann, sich in seinem Arm zu entspannen. Ihre Lippen öffneten sich, während er auch über diese strich, über die Stelle an ihrem Mundwinkel, an der er die Schuld trug. Mit brennenden Augen beugte Thorin sich zu ihr und küsste sie auf die Stirn, zärtlich und sanft, um sie für das, was er ihr angetan hatte, um Vergebung zu bitten. Mit den leichten Berührungen seiner Lippen ehrte er sie, während seine aufgestauten Gefühle der letzten Wochen hochkamen und seine Tränen ihr Gesicht benässten.

Als sie es bemerkte, versuchte sie sie erschrocken fortzuwischen, doch immer neue bahnten sich ihren Weg. ,,Nein, Thorin, nicht weinen.“

Thorin hielt sie fest, bis er keine Tränen mehr übrig hatte.

 

Er hatte sie gebraucht. Das wurde ihm klar, als sie bei ihm lag. Er hatte sie bei ihrer ersten Begegnung gebraucht und er hatte sie auch jetzt gebraucht. Wenn sie die Tür verriegelte, schloss sie alles andere von ihm weg und er konnte seinen Kummer ausblenden. Wenigstens für ein paar Stunden.

Stetig strichen ihre Finger über seiner Brust, als würde sie etwas malen. Vielleicht war er etwas weggedämmert, denn als er ihre Stimme hörte, schlug er die Augen auf. ,,Eure Hoheit…“ Sofort legte er ihr den Finger auf die Lippen. ,,Nein, nenn mich bei meinem Namen.“

Ungläubig sah die Zwergin ihn an. ,,Das steht mir nicht zu.“

,,Du hast es doch schon getan.“ Bei der Erwähnung senkte sie die Augen, doch er hob ihr Kinn an, um sie daran zu hindern. ,,Ich möchte es.“

Grübchen erschienen in ihren Wangen, als ein Lächeln sich auf ihrem hübschen Gesicht ausbreitete, welche sie noch jünger erschienen lassen. Dann nickte sie zum Einverständnis. ,,Darf ich aufstehen, um etwas zu trinken?“

Thorin küsste sie auf die Schläfe und ließ sie los. Sie verzog beim Aufstehen gequält das Gesicht. Auch er setzte sich auf. Reue vermischte sich mit Sorge. Wie sehr hatte er sie verletzt?

Als sie ihr Kleid gerichtet und den Rücken durchgestreckt hatte, ging sie zur Kommode hinüber, öffnete eine der Schubladen und holte zwei Gläser heraus.

Thorin schaute ihr zu und fragte sich, was sie alles in den vielen Fächern aufbewahrte. Sie schenkte Wasser aus dem Krug in die Gläser und reichte ihm eines. Er nahm es und spülte den säuerlichen Geschmack hinunter, der immer noch in seinem Hals gelegen hatte. Fast in Eins trank er es aus. Nie schmeckte schieres Wasser reiner. Sein Blick fiel zurück auf die Schüssel und seine Gedanken wanderten zu ihrer ersten Begegnung zurück. ,,Du hattest mich gewaschen.“

,,Das hattest du nötig.“ Als wurden ihr ihre gesprochenen Worte plötzlich bewusst, verlor ihr Gesicht an Farbe. ,,Verzeiht mir, mein König. Das meinte ich nicht so…“

Thorin schmunzelte nur, amüsiert über ihren geschockten Gesichtsausdruck. ,,Du kommst aus Erebor?“

An das Möbel gelehnte, drehte sie sich ihm zu. Eine Augenbraue hob sich. ,,Woher weißt du das?“

Ihm gefiel, dass sie keine Höflichkeitsform mehr benutzte. Dass sie ihn mit ,,Euer Hoheit“ oder dergleichen anredete, hatte er nicht verdient. Er wollte mit ihr auf einer Augenhöhe stehen, sein blaues Blut bei ihr – und damit seine Pflichten – außer Acht lassen. ,,Du sagtest, ,mein König‘.“

,,Meine Familie stammt ursprünglich von dort. Ich bin zwar hier geboren, doch meine Eltern haben oft von Erebor gesprochen und wollten immer dorthin zurückkehren, sodass ich es irgendwie als meine eigentliche Heimat ansehe.“

Die ganze Zeit schon hatte er das Gefühl, dass sie seinen inneren Schmerz verstand, und ließ ihn vermuten, dass auch sie eine schwere Zeit hinter sich hatte. ,,Wie ist dein Name?“ Zu seiner Überraschung fiel sie in ein glockenhelles Lachen.

,,Eine Hure verrät niemals ihren wahren Namen. Du darfst mich nennen, wie du willst.“

Für ein paar Sekunden überlegte er, ob er ihr einen Namen geben sollte, entschied sich jedoch dagegen. Wer weiß, welche Namen sie bereits trug. In jene Gedanken versunken fiel seine Aufmerksamkeit auf ihr Kleid. Der zarte Stoff gab nur Ansätze ihres Körpers frei, wurde mit goldenen, spangenähnlichen Broschen auf ihren Schultern gehalten. Doch diese Ansätze verfehlten ihre verführerische Wirkung nicht im Geringsten.

,,Leg dein Kleid ab“, murmelte Thorin sanft. ,,Ich will dich sehen.“

Ein allwissendes Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab. Fast schon langsam stellte sie ihr Glas beiseite und öffnete beide Broschen gleichzeitig. In einer einzigen fließenden Bewegung fiel der Stoff um ihre Knöchel in sich zusammen und gewährte ihm uneingeschränkte Sicht auf ihren Körper.

Sie war klein und zierlich gebaut, besaß jedoch ein weibliches Becken. Er genoss ihren Anblick, ließ seine Augen ungeniert über ihre Brüste wandern, die klein und fest waren, hinab über ihren Bauch, zu ihrem Schoß und über ihre Beine. Der Zwergenfürst stellte sein Glas beiseite und streckte die Hand zu ihr aus. Das Mädchen trat näher, legte ihre Hand in seine. ,,Verzeih mir, was ich getan habe. Ich werde es nie wieder tun.“ Sie nickte schluckend und Thorin sah, dass seine Entschuldigung sie nicht kalt ließ, sondern ihr etwas bedeutete. Er zog sie zu sich und im nächsten Moment saß sie auf seinem Schoß. Als seine Lippen an ihrem Hals entlang wanderten, fasste sie ihm in die Haare, kraulte seinen Nacken und stöhnte leise unter seinen Küssen, gab damit ihr Einverständnis. Während sie auch seinen Hals liebkoste und ihre Hände scheinbar überall gleichzeitig über seinen Körper strichen, dirigierte er sie näher zu sich und wurde mit zärtlich geflüsterten Worten willkommen geheißen.

Ihre nackten Leiber pressten und rieben gegeneinander. Die Beschleunigung seines Atems gab ihr zum Anlass, sich lasziv auf ihm zu bewegen. Thorin nahm an, dass ihr Vergnügen gespielt war, doch sie machte es so gut, dass es ihn nicht störte. Ohne sich zu küssen sahen sie einander an, waren miteinander verbunden und dennoch getrennt. Sie ließ ihr Becken rollend kreisen, obwohl Thorin spürte, wie wund sie noch von ihm war. Sie lehnte ihn nicht ab, sondern gab ihm das, was er brauchte: einen Ort, an dem er geborgen war.

Das ungeduldige, heftige Anheben seiner Hüften erstarrte schließlich in der Bewegung. Er warf den Kopf zurück, ergoss sich mit einem Keuchen in ihr. Sie knabberte an seinem Hals und Thorin gab ein kehliges Lachen von sich. Die Nase an ihre warme Haut gepresst sog er ihren Geruch und ihre Wärme für seine erkaltete Seele in sich hinein, küsste den Beginn ihrer Brust und merkte, wie sie sich ihm entgegen wölbte. Wieder hatte sie ihm das gegeben, wonach er verlangt hatte. Nun war sie an der Reihe.

In seine Arme gebettet drehte Thorin sich mit ihr um, sodass sie nun unter ihm lag. Ihr Kichern verstummte, als er mit der Zunge über ihren Hals fuhr, über ihre Kehle, die sie ihm so ungeschützt darbot. Er fuhr tiefer und nahm ihre Brustwarze zwischen die Finger. Sie stöhnte, bäumte sich ihm entgegen, während sein Mund die andere einnahm. Er wollte, dass sie ihr eigenes Empfinden genoss. Ohne Scheu oder Zwang. Nur ihrer eigenen Lust willen.

Hungrig rückte er tiefer, glitt mit dem Mund über ihren Bauch, folgte der hauchfeinen Spur von hellen Haaren, die über ihren Unterleib verlief und ihn zu dem Ort führte, wo ihre Schenkel sich vereinten. Schnell merkte sie, was seine Absicht des Ganzen war. ,,Du musst das nicht tu - ahh…“ Seine Hände hielten ihr Becken fest in den Laken, was sie immer wieder ihm entgegen recken wollte. Als er an ihrem empfindlichsten Punkt saugte, schrie sie kurz auf. Ihre Hände durchwühlten sein Haar, drängten nach mehr. Sie wandte sich unter seiner Zunge, die er immer mal wieder wie Hiebe auf ihr empfindliches Fleisch peitschen ließ. Genauso wie er ihr Lust gab, so steigerte es auch seine erneut. Wieder war er hart. Die Adern an seiner Erektion pulsierten, je länger er sie befriedigte.

Sie keuchte, hob den Kopf. ,,Bitte.“

Thorin versenkte zwei Finger an ihr, fühlte, wie ihr zartes Inneres ihn umklammerte. Er blies sanft über ihre Knospe und sie zuckte wimmernd zusammen. ,,Bitte, Thorin...“

,,Was möchtest du?“, fragte er ruhig und rau.

,,Dich. In mir.“ Doch da erfasste sie der ersehnte Rausch bereits. Rhythmisch zog sich ihr Inneres um seine Finger zusammen. Sie hatte den Atem angehalten, rang nun nach neuer Luft. Und Thorin kam ihrer Bitte nach. Gemeinsam entflohen sie der grausamen Wirklichkeit.

 

Einen Arm hinter dem Kopf verschränkt lag Thorin tiefenentspannt zwischen vielen, fein bestickten Kissen, die rotglänzende Decke hochgezogen, damit das Mädchen nicht fror. Von seinem anderen Arm geborgen lag die Dirne mit den Bernsteinaugen auf seiner Brust, war genauso verschwitzt wie er. Mit geschlossenen Augen fühlte der einstige Krieger ihre Hand, deren Fingerspitzen wie Pinselstriche über seine Brust und Bauchmuskeln fuhren. Plötzlich stoppte sie. Ihr Körper versteifte sich, die Augen groß und zur Tür gerichtet. Mit wuchtigen Schritten ging jemand über den Korridor. Erst als die Person vorbei gegangen war, atmete sie hörbar aus, kuschelte sie sich wieder an ihn. Thorin fing ihren Blick, sah sie fragend an.

,,Die Hausherrin. Hässlich, fett und überaus launisch.“

,,Ich glaube, ich bin ihr begegnet, bevor ich dich traf. Sie wollte mir zwei von euch andrehen.“

,,Gleich zwei?“, fragte sie gedehnt. ,,Und Ihr habt sie nicht mitgenommen, Mylord? Wohl doch kein so böser Junge, wie ich dachte…“

,,Ich kann auch anders. Beschwör es nicht.“

,,Ich weiß.“ Sie küsste ihn knapp über der flachen Brustwarze. ,,Die eine war sicherlich Tani gewesen. Du hörst sie übrigens gerade.“ Sie lauschten den obszönen Geräuschen, die durch die Wände des Freudenhauses zu hören waren. ,,Sie quiekt immer wie ein Schwein.“

Ihre Art bewirkte, dass er lächeln musste, doch es erstarb beim Anblick der aufgeplatzten Stelle an ihrem Mundwinkel. Vorsichtig ließ er den Daumen erneut daran entlang fahren. ,,Ich werde dafür sorgen, dass sie dafür eine Strafe bekommt.“ Ihre Augen weiteten sich und er fragte sich, ob es aus Angst war.

,,Aber dann würden sie herausfinden, dass du bei mir warst.“

Thorin lehnte sich zurück, schaute hinauf ans Baldachin und auf die Tücher, die darunter entlang gespannt waren. ,,Was hab ich jetzt noch zu verlieren…“

Sie sagte nichts dazu, strich nur über seine Brust, als wollte sie ihn dadurch ablenken. ,,Nein, Thorin, das möchte ich nicht.“

,,Sie darf euch nicht schlagen. Ihr seid nicht ihr Eigentum, womit sie machen kann, was sie will. Ihr habt immer noch einen freien Willen.“ Auf einmal hob sie ihren Kopf, sodass sie ihn anschauen konnte, und Thorin bemerkte eine Veränderung an ihr: ihre Iris glänzte golden, der Mund stand ihr auf.

,,Ich wünschte alle Freier wären wie du.“ Auf den Unterarm gestützt strich sie über seinen Wangenknochen, wo bereits farbige Blutergüsse zu sehen waren. ,,Das hat noch nie jemand über uns gesagt. Die Männer, die zu uns kommen, sehen in uns nur Huren.“ Immer noch folgten ihre Augen ihren Fingern, die sein Gesicht berührten. ,,Dinge, die sie haben und benutzen können, wie es ihnen passt. Die meisten glauben das, was wir ihnen vorspielen. Wir können sie ablehnen, doch meist fügen wir uns. Weil wir müssen. Weil wir meist keine andere Wahl haben und hierauf angewiesen sind. Ihnen geht es nicht um unsere Gefühle. Sie wollen bloß etwas haben, wo sie ihren Schwanz reinstecken können. Aber du…“ Nun sah sie ihm in die Augen und Thorin sah, ihre Ehrlichkeit in ihnen. Sie beugte sich vor und küsste ihn aufs Kinn. Ganz nahe an seinem Mund. ,,Du bist anders.“

Er legte die Hand an ihr Gesicht und sie schmiegte sich dort hinein. Dann küsste sie seine Handfläche und legte sich zurück auf seine Brust.

,,Ich habe immer gedacht, Huren hätten keine Ehre. Doch ich lag falsch. Es sind die Männer, weil sie euch wie Gegenstände handhaben. Männer wie ich.“

,,Nein, Thorin, du bist sehr ehrenvoll...“

,,Ich habe dich gegen deinen Willen genommen. Sag mir, was daran ehrenvoll ist.“

,,Jeder macht Fehler. Doch die Wenigsten gestehen sie sich auch ein…haben den Mut sie anzuerkennen und um Verzeihung zu bitten. Jeder hat eine zweite Chance verdient. Und ich habe dir verziehen, Thorin.“

Er fuhr sich übers Gesicht und seufzte. ,,Manchmal sprichst du wie ein Straßenkind und im nächsten Moment wie eine weise Gelehrte.“

,,Obwohl ich nur die Tochter eines armen Grubers bin. Nicht schlecht, was?“

,,Zweite Chance hin oder her, wenn eure Herrin es noch einmal tut, ist sie ihre Stelle los.“

,,In Ordnung…“, gab sie schließlich nach und beließ es dabei. Stille kehrte in das Zimmer ein.

Thorin fühlte, wie sich ihre weichen Brüste an seine Seite drückten. Es war ein schönes Gefühl. Es war schon lange her, dass er bei einer Frau gelegen hatte… Als hätte sie es geahnt, strich das Mädchen über die Schnur seiner Kette und plötzlich rissen qualvolle Erinnerungen einer Sommernacht ihn entzwei. Neugierig berührte sie den Anhänger, doch es fühlte sich an, als versenkte das Metall ihm das Fleisch, bohrte sich wie ein giftiger Stachel tief in seine Brust und lähmte sein Herz.

Eilig schob Thorin sie von sich, rückte fort an die Bettkante, um dem zu entfliehen. Mit zitternden Händen fuhr er sich durch die Haare, um Luft zu holen. Der Schmerz und die Sehnsucht nach dem Mädchen aus seinen Träumen waren wieder da.

,,Thorin?“ Er spürte die Bewegungen auf der Matratze, als die Hure sich hinter ihm setzte. ,,Hab ich etwas falsch gemacht?“

,,Nein…Nein.“

Leicht wie eine Feder berührten ihre Lippen seine Schulter. ,,Was ist es, das dich betrübt?“

Er wollte ihr nichts von ihr erzählen, denn wieder war ihm bewusst geworden, dass er Marie betrog. Es würde nur die alte Wunde aufreißen. Sie saß zu tief, als dass sie ihm hätte helfen können. Und er wusste, dass sie nie mehr verheilen würde.

,,Meine Neffen“, antwortete er stattdessen. ,,Man will sie mir wegnehmen.“ Tröstend schlang sie die Arme um ihn, legte ihr Kinn auf seine Schulter ab. ,,Weil sie denken, sie hätten es woanders besser. Und ich glaube, sie haben recht.“ Sich es einzugestehen, hatte die gleiche Wirkung wie ein Seil um sein Genick. ,,Ich bin ein schlechter Onkel. Ich… Ich weiß einfach nicht mehr weiter.“

,,Ich weiß, wie es ist, wenn man in allem, was man tut, keine Hoffnung mehr sieht“, sprach sie erst nach einer ganzen Weile. ,,Ich kenne das Gefühl, wenn man Angst vor der Zukunft hat. Auch ich verlor meine Familie. Nur meine Schwester ist mir geblieben. Aber es gibt immer einen Weg. Kämpfe um sie. Gib sie nicht auf, Thorin. Sie brauchen dich. Und du brauchst sie. Mehr denn je. Geh zu ihnen. Zeige ihnen, dass du sie lieb hast und dass du für sie da bist. Sie haben nur noch dich. Unternehm doch etwas mit ihnen“, schlug sie vor. ,,Zeig ihnen, dass du da bist und fang am besten gleich damit an.“

Wie schaffte sie es nur, dass er sich allein durch ihre Stimme besser fühlte? Schwach hob sich sein Mundwinkel. ,,Willst du mich rauswerfen?“, fragte er und spürte regelrecht ihre Grübchen, als sie hinter ihm schmunzelte.

,,Das könnte ich durchaus... Nur ein Ruf die Treppe runter und Tjark kommt. Der packt dich schneller am Kragen, als du gucken kannst.“

Er drehte das Gesicht zu ihr. Sie waren sich so nah, dass seine Nase ihre berühren konnte. ,,Du hast recht“, sagte er ernster. ,,Ich sollte gehen. Es ist schon spät.“

Sie ließ ihn aus ihrer Umarmung frei und Thorin erhob sich. ,,Warte.“ Sie stand ebenfalls auf und nahm den Schwamm aus der Schüssel, wrang ihn etwas aus, ehe sie seinen Körper von Schweiß und Feuchte wusch, die noch an ihm haftete, und er sich ankleiden konnte. In die rote Decke gehüllt trat die Dirne wieder zu ihm, in der Hand ihren Umhang. ,,Damit dich keiner erkennt.“

Thorin dankte ihr und legte ihn sich um. Ohne Umschweife schnürte er seinen Lederbeutel vom Gürtel, fasste ihre Hand am Handgelenk, drehte den Beutel und ließ die Münzen in sie hinein rieseln.

,,Thorin, das ist zu viel! Viel zu viel!“ Erschrocken wollte sie vor den Münzen zurückweichen, die schon klimpernd auf den Boden fielen, doch er ließ sie nicht los, sondern zog sie näher an sich.

,,Es reicht gerade so für das, was du für mich getan hast. Und ist dennoch immer noch zu wenig.“

Sie hob den Kopf, die Augen groß und glänzend. Thorin zog sich die Kapuze über den Kopf, beugte sich zu ihr und gab ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange.

 

~

 

,,Du Scheißkerl!“ Kaum hatte er die Tür zu seiner Wohnstube geschlossen, stürzte sich Ninak auf ihn. Ehe er reagieren konnte, schlug sie wie besessen auf seine Brust ein. ,,Du mieses Schwein!“

,,Ninak!“ Er packte sie an beiden Oberarmen. Kraftvoll traf ein Schlag seine Eingeweide, sodass er keuchte. ,,Verdammt nochmal, Ninak, was ist los?“

,,Was los ist?!“, keifte sie zurück. Dunkle Schatten lagen unter ihren rot geweinten Augen. ,,Es ist deine Schuld! Alles ist deine Schuld!“

Damit sie nicht weiter auf ihn einschlagen konnte, hielt Thorin sie fest umklammert. Sie wehrte sich wie ein Tier, trat knurrend und schluchzend nach seinen Schienbeinen, doch er hielt ihr stand und musste ihre Tritte hinnehmen. Als ihr Körper der Erschöpfung nahe kam, brach sie in Tränen aus. Dwalin erschien. Ninak riss sich von ihm los und presste sich an die breite Brust ihres Mannes, der seine Arme um sie legte. Sein Freund hatte ebenfalls ein blaues Auge von der Schlägerei davon getragen, was böse zugeschwollen war. Regungslos waren seine Züge, als er den Blick auf ihn richtete. Dann hörte Thorin das Stöhnen eines Kindes, sah zu seinem Bett hinüber und hörte sein Herz auf dem Boden zerschellen.

,,Kili…“ Voller Sorge und Entsetzen fasste Thorin nach dem Jungen. ,,Kili, was ist mit dir?“ Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Er hielt sich den Bauch, antwortete nicht.

,,Er hat von deinem harten Zeug getrunken!“, schrie Ninak ihn in Dwalins Armen an, der sie davon abhalten musste, sich erneut auf ihn zu stürzen.

Thorin nahm die halbvolle Flasche vom Nachtisch hoch, starrte auf das Etikett und sah dennoch nichts. Sie war nicht voll gewesen, als er sie stehen gelassen hatte. ,,Wie viel hast du davon getrunken, Kili?“ Der Junge wimmerte, rollte sich bloß enger zusammen.

,,Sieh dir an, was du ihm angetan hast! Das ist alles deine Schuld!“ Dwalin warf sich Ninak über die Schulter und trug sie trotz Gegenwehr zu der Sitzgruppe vor dem Kamin.

,,Nicht streiten…“, murmelte Kili leise.

Immer heftiger begann die Flasche in seiner Hand zu zittern. Ihr Inhalt schwappte hin und her. Eine verzweifelte, klagende Melodie.

Die Flasche rollte zu Boden, als Thorin sich die Hände vors Gesicht presste. Auf den Knien sitzend wachte er lange Zeit an Kilis Seite, sah auf die Trümmer seines Lebens, die er hinterlassen hatte, und betete zu Durin.

 

Ninak saß auf dem Sofa, starrte in das prasselnde Feuer, als Thorin sich auf der anderen Sofaecke nieder ließ - genug Abstand zwischen ihr. ,,Letzte Woche hatte Fili einen Albtraum gehabt.“ Ihre rot schimmernden Haare verdeckten ihr Gesicht. Nur ihre Lippen waren zu sehen, wie sie gefährlich leise Worte entließen. ,,Er hat nach seinen Eltern gerufen. Und du warst nicht da. Die ganze, verdammte Nacht warst du nicht da.“ Sein Herz hörte endgültig auf zu schlagen.

,,Sie brauchen dich, Thorin. Ist dir das denn nicht klar?“ Ihre Unterlippe zitterte. Vor Wut oder vor Enttäuschung konnte er nicht sagen. ,,Nenn mir einen guten Grund, dich nicht umzubringen.“

Er schluckte am Fels in seiner Kehle, der ihm das Atmen unmöglich machte. Er schwieg, weil er keinen Grund fand. Daraufhin sagte Ninak nichts mehr.

Dwalin, der die ganze Zeit am Kamin gelehnt dagestanden hatte,  machte ihm mit einem Nicken verständlich, dass er ihm folgen sollte. ,,Ich weiß, wo du warst“, begann sein Freund ohne Umschweife, als sie zusammen vor dem Fenster standen.

Thorin sah ihm in die Augen, die die gleiche Farbe wie seine besaßen.

Dwalin tippte sich an die Nase. ,,Ich sag es keinem…du Hund.“ Selbst seine Neckerei konnte ihn nicht aufzumuntern. ,,Hey, der Bengel hat sich den Magen verstimmt, vorhin ein bisschen gekotzt. Er erholt sich schon wieder“, versuchte Dwalin ihn aufzubauen, doch Thorins Schuldgefühle waren noch zu groß. Nachdem der Waffenschmied seine Gesichtshälfte beäugt hatte, setzte er hinzu: ,,Du siehst echt scheiße aus.“

Vielsagend hob Thorin seinen Blick. ,,Deine Visage ist auch nicht viel besser.“

,,Aber dafür hat es sich gelohnt. Es gibt doch nicht besseres, als eine anständige Prügelei.“ Als er jedoch zu seiner Frau hinüber schaute, kratzte er sich nachdenklich im halblangen Bart. ,,Ich bringe sie ins Bett und komme später nochmal rüber. Wenn du reden willst oder so’n Scheiß… Naja, du weißt ja, wo du mich finden kannst.“ Thorin fasste ihm als Dank an die Schulter.

,,Ach, und zieh dir gefällig etwas anderes an“, meinte Dwalin beim Gehen und rümpfte angeekelt die Nase. ,,Du riechst, als wärst du auf ‘ner Blumenwiese herumgetollt.“

 

Als Thorin die Abenddämmerung sah, die sich wie bekannte rosa Schleier über die Nadelwälder der Eredluin zog, hatte er sämtliche Gardinen zugerissen. Gerade zog er sich sein langes Schlafhemd über den Kopf und klappte die Schranktür zu, als er Fili bemerkte. ,,Hey, mein Junge.“ Sofort lief dieser zu ihm und sein Onkel hob ihn hoch.

Fili schlang die Arme um seinen Hals. ,,Wo warst du?“

,,Bei einer Freundin“, antwortete er ohne lang zu überlegen. ,,Hast du schon zu Abend gegessen?“

,,Ja, Ninak hat etwas für uns gemacht.“

,,Hattet ihr heute Spaß mit Balin?“

,,Ja, wir waren mit ihm in den Schreibstuben. Ich kann jetzt alle Buchstaben.“

Er strich ihm über die blonden Locken, die er von seinem Vater geerbt hatte. ,,Ich bin stolz auf dich.“

Fili hatte sich ebenfalls seine Schlafsachen angezogen, hatte jedoch sein Oberteil falsch herum an. Thorin setzte ihn ab, zog es ihm schmunzelnd vom Kopf und wieder richtig herum an.

Der Wohnraum lag in Dunkelheit. Nur das Feuer im Kamin warf seinen langen Schein in den Raum, als er sich ins Bett legte. Fili schlüpfte unter die von ihm aufgehaltene Decke und machte es sich auf seinen ausgestreckten Arm bequem, während an Thorins Brust zusammengerollt Kili lag. Sorgfältig legte er die Decke über seine Neffen.

,,Onkel Thorin…“

,,Ich bin hier“, er strich Kili die dunklen Strähnen hinters Ohr.

,,Mein Bauch tun weh.“ Thorin legte seine freie Hand auf sein Bäuchlein und begann, sachte darüber zu reiben. ,,Ich wollte wissen, warum du das trinkst…“

,,Versprich mir, dass du das nie wieder tust.“

Er nickte.

,,Aber wenn es einem davon so schlecht geht“, fragte Fili, ,,wieso trinkst du das dann, Onkel?“

Liebevoll rieb seine Hand weiter über Kilis Bäuchlein, deren Größe es fast verdeckte. ,,Weißt du noch, als du dich an der heißen Pfanne verbrannt hast, Fili?“ Dieser nickte. ,,Und weißt du noch, was du getan hast?“

,,Ich hab das Fenster geöffnet und Schnee vom Fenstersims genommen und drauf gepresst. Dann tat es nicht mehr weh. Aber die Haut sich danach abgelöst.“

,,Die Verlockung, kalten Schnee zu nehmen, erscheint einem in diesem Moment das einzig richtige. Doch eigentlich ist es falsch so etwas Kaltes auf eine Verbrennung zu tun, wie du gemerkt hast. Stell dir vor, dass es auch so mit dem Trinken ist. Ich betäube den Schmerz, der in mir ist. Es ist schlecht für mich, ich weiß das, aber ich tue es trotzdem, weil es mir in diesem Moment hilft.“

Enger kuschelte sich Fili an ihn. ,,Du vermisst Mama und Papa auch, oder?“

Thorin strich über sein Haar, als der Schmerz ihn zu zerreißen drohte.

,,Ich auch“, flüsterte der Junge, als hätte er es aus seinem Schweigen gelesen. ,,Gehst du wieder weg?“

,,Nein, ich werde niemals weggehen. Ich werde immer bei euch sein. Schlaft jetzt… Ich werde hier sein, werde über euch wachen und euch beschützen. Wenn ihr fallt, werde ich euch die Hand reichen und euch mein Gehör schenken, wenn ihr danach verlangt. Und wenn ihr eines Tages gehen wollt, so werde ich auch lassen und euch Schutz und Heimat sein. Für den Rest meines Lebens“, wiederholte er den Schwur, der nach der Schlacht um Moria aus seinem Herzen entstammte, und erneuerte damit ihren Bund, den sie mit dem Blut in sich trugen.

Bald schon atmeten die Kinder neben ihm flach und gleichmäßig, sodass er wusste, dass sie eingeschlafen waren. Friedlich und ruhig. Völlig unschuldig an all dem Geschehenem.

Er hatte ihnen jene Worte versprochen, als er mit zerfetzter Rüstung im Matsch gesessen und sie in seinen Armen gehalten hatte, während Orkblut und Tränen ihm übers Gesicht gerannt waren. Um sie herum hatte das verwüstete Lager gebrannt, doch er hatte seine Neffen festgehalten, als er bereits dachte, sie für immer verloren zu haben.

Thorin schaute zu der Flasche, die er fälschlicherweise zurück auf den Nachttisch gestellt hatte, versuchte den Trott zu ignorieren…doch Schuldgefühle und die Trauer waren zu groß. Was passiert war, war seine Schuld, denn er hatte dieses Versprechen ihnen gegenüber gebrochen. Und so nahm er den Schnaps und trank, um zu vergessen.

 

~

 

Ein paar Tage später ging er schnellen Schrittes die Treppen hinab. Seine Laune war seit Tagen wieder aufgehellt, denn er hatte immer noch die freudigen Gesichter der Jungs vor Augen, als er ihnen sagte, er habe heute eine Überraschung für sie. Wie zwei Grashüpfer waren sie vor ihm umhergesprungen. ,,Was ist es denn? Was ist es denn?“

,,Wenn ich es euch sage, wäre es keine Überraschung mehr.“

,,Wir könnten ja dann so tun, als wären wir überrascht!“

Doch er wusste auch, dass das nur das stetige auf und ab seiner Gefühle war.

Schmackhafte Düfte wurden von der Bäckergasse verbreitet, deren Zunftmitglieder in der Halle unter ihm ihrer Arbeit nachgingen. Bleche voll roher Teigleiber wurden zu den Öfen getragen, die in den Backstuben unter halbrunden Gewölben gebaut worden waren. Bäckermeister lüfteten ihre Mützen und verteilten kleine Häppchen an die Damen, die morgens ihre Einkäufe für ihre Familien erledigten, wenn diese an ihren Läden vorbeikamen, die hier überall verteilt waren. Thorin konnte das Klappern eines nahen Mühlrades hören, was von einem der unterirdischen Flüsse angetrieben wurde, die wie Adern gezähmt unter Tage ihren Weg fanden. Die Stadt der Eredluin, wie die Blauen Berge in ihrer Sprache auch genannt wurden, hatte sich, wie unter anderem auch Erebor einst, Wasserkraft zu Nutzen gemacht. Es war eine Stadt, die lebte und atmete. Doch Thorin war ein Teil dieses Zahnwerkes, das keinen Platz darin fand. Er hatte sein Volk hierher geführt, ihnen einen Neuanfang gegeben, aber kein Zuhause gefunden. Wann immer er in der Stadt war; er war nur ein Zuschauer des abspielenden Lebens hier. Erebor war seine Heimat.

Der geliehene Umhang, den er trug, erinnerte ihn daran, dass er ihn nachher ihr zurück bringen wollte. Als das Mädchen von dem einstigen Wunsch ihrer Eltern gesprochen hatte, dorthin zurückzukehren, sprach sie so, als gäbe es das Reich Erebor immer noch. Sie war die Erste hier gewesen, die ihm nicht weismachen wollte, dass sein Land verloren war, und er ahnte, dass sie wohlmöglich ebenfalls die Hoffnung in sich trug, dass sich dies eines Tages wieder ändern könnte.

Ehe seine Gedanken sich weiter in die Richtung ausbreiten konnten, hörte er ihren Schrei: ,,Nein, das dürft Ihr nicht!“

Am anderen Ende des Ganges stand seine Dirne. Ihr Korb, den sie getragen haben musste, lag neben ihr am Boden, die Einkäufe überall verstreut. Sie wurde von einem Mann brutal festgehalten. Er stand mit dem Rücken zu ihm, sodass Thorin nur sein weißes Haar sah.

Gerade schob sie seine Hand von ihrem Arm. ,,Ich arbeite nicht!“, betonte sie mit jedem Wort und funkelte ihren Gegenüber angriffslustig entgegen. Als er näher trat, wollte sie vor ihm zurückweichen, doch hatte die Wand im Rücken. ,,Ich habe nein gesagt.“

,,Du verwehrst dich mir?“

,,Das ist mein gutes Recht.“

,,Seit wann seid ihr Huren so wählerisch? Ihr seid doch alle gleich…wollt ewig nur das eine. Ich werde dich eines Besseren belehren…“

Thorin zog sich die Kapuze über und rannte los.

Der Fremde hob die Hand zum Schlag, da packte ihn jemand an der Schulter. ,,Ich denke, das Nein der Lady war deutlich genug gewesen.“

Die Zwergin starrte Thorin mit riesigen Augen an. Der Mann jedoch drehte sich nur halb zu ihm, schüttelte kaum Notiz von ihm nehmend seine Hand ab. ,,Eine Lady? Diese Hündin?“ Er musste lachen. ,,Stellt Euch gefälligst hinten an. Ihr könnt sie ja danach haben…wenn sie dann noch stehen kann.“

Diese Stimme… Thorin packte seinen Kragen und riss ihn herum. Vor ihm stand niemand anderes als Ratsmitglied Varis. Schnell neigte er das Kinn auf die Brust, damit dieser ihn nicht erkannte. ,,Verschwindet“, raunte er düster. Purer Hass flammte in ihm auf.

,,Wer seid Ihr? Ihr Geldeintreiber?“

Thorin baute sich vor ihm auf, überragte ihn als dunkler Schatten. Eingeschüchtert trat der Weißhaarige einen Schritt zurück und Thorin machte noch einen auf ihn zu, stellte sich wie eine schützende Wand vor das Mädchen. ,, Sofort.“ Seine von Natur aus tiefe Stimme verfehlte ihre Wirkung nicht. Vor allem nicht, wenn sie von Verachtung und Hass pulsierte.

Varis knurrte etwas Unverständliches, und suchte eilig das Weite, ehe noch jemand auf sie aufmerksam wurde.

,,Alles in Ordnung?“, wandte sich Thorin an sie, als er verschwunden war.

,,Ja, ich denke schon.“

Er nahm sich den Umhang ab und legte ihn ihr über.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. ,,Danke.“ Zusammen machten sie sich daran, ihre Sachen aufzusammeln. ,,Wie geht es dir?“, fragte sie, als er den letzten Apfel in ihren Korb tat. ,,Du siehst besser aus.“

,,Mhh.“

,,Kleine Schritte, Thorin“, mahnte sie ihn sanft.

,,Nur kommt es mir so vor, als mache ich einen Schritt vor und zwei zurück.“

,,Arbeite jeden Tag an dir. Dann klappt das, was du dir vornimmst.“

Er seufzte resigniert, ,,ich treffe mich mit meinen Neffen bei den Stallungen“, und fragte sich im nächsten Augenblick, warum er ihr es erzählte.

Sie grinste und klatschte euphorisch in die Hände. ,,Wunderbar! Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Meine Schwester wartet auf mich.“ Damit erhob sie sich und machte einen vornehmen Knicks, den er ihr nie zugetraut hätte. ,,Habt Dank, edler Herr, dass Ihr eine ehrlose Lady wie mir geholfen habt.“ Sie zwinkerte ihm zu und ging mit locker schwingenden Hüften an ihm vorbei.

Als Thorin ihr nachsah, erwischte er das Schmunzeln, welches sich heimlich auf seinem Gesicht ausgebreitet hatte.

 

,,Nach hinten lehnen…Bleib auf deinem Hintern sitzen…Hacken runter, ja, so ist es gut…Sitzen bleiben!“ Thorin ließ das braune Pony an einem langen Strick im Kreis laufen. In der anderen Hand hielt er eine Peitsche, die er nur träge hinter dem braven Tier her streifen ließ. Fili war schon dran gewesen, saß nun auf dem Gatter und schaute zu, wie Kili seine Reitstunde meisterte.

,,Sieh mal, Onkel, freihändig! Woha…“ Eilig krallte er sich wieder am Sattel fest.

Über seinen Übermut konnte Thorin nur den Kopf schütteln. Der morgendliche Dunst lag noch über den Nadelwäldern und er genoss die frische feuchte Luft des Frühlings und den Geruch der Wälder.

,,Hoo…“ Bei dem tiefen Laut parierte das Pony fast augenblicklich in den Schritt und blieb daraufhin stehen. Die Leine aufwickelnd trat er auf das Pony zu.

,,Das hat Spaß gemacht!“, rief Kili und reckte die Arme in die Höhe. ,,Das müssen wir öfters machen, ja?“

,,Machen wir.“ Plötzlich wurde sein Bein umklammert. Fili war zu ihm gelaufen und presste sich an ihn. ,,Danke, Onkel Thorin“, wisperte er an seine Hose und fügte noch leiser hinzu: ,,ich hab dich lieb.“ Bei den rührenden Worten wurde ihm warm, wie schon lange nicht mehr. ,,Ich hab euch auch lieb“, flüsterte Thorin und legte eine Hand auf seinen Kopf. Dann wandte er sich an seinen Bruder. ,,Reiten wir noch ein Stück aus?“

,,Au ja!“

,,Ich sitze vorne!“

,,Nein, ich!“

,,Schluss. Ich entscheide“, beendete ihr Onkel die Diskussion und hob Fili hinter seinen Bruder in den Sattel, der hämisch grinste. Als er mit dem Pony im Schlepptau den Riegel des Pferchs umlegte, fiel sein Blick auf eine Person, die unweit der Stallungen stand und sie beobachtet hatte.

Er kannte zwar ihren Namen nicht, wusste jedoch, dass ihre Augen die Farbe von Bernstein besaßen. Sie sagte etwas, war jedoch zu weit entfernt, als dass er sie verstehen konnte. Stattdessen laß er es von ihren Lippen ab: ,,Gut gemacht.“

15

 

Kerrts Felder lagen verschlafen unter ihrer Schneedecke. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, der Osten noch in kaltes Grau gehüllt, doch aus den ersten Schornsteinen stieg bereits Rauch auf, während die reifbedeckten Straßen noch menschenleer waren. Marie nutze diese frühe Stunde. Leise zog sie hinter sich die Tür zu, bedacht darauf Anna nicht zu wecken, die noch schlief. Sie hatte ihr eine Nachricht hinterlassen, dass sie zum Mittag mit Mel zu ihr kommen sollte. Es würde sich schon etwas in ihrer Kammer finden, woraus sie etwas halbwegs Anständiges kochen konnte.

Flink lief sie durch die Gassen, duckte sich unter Fenster hindurch, damit niemand auf sie aufmerksam wurde. Sie zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie Anna am besten helfen konnte, und kam immer wieder auf den Punkt zurück, dass sie mit Greg reden musste. Doch was dann? Vielleicht konnte er ja seinen Vater überreden, ihr ihre Stelle wiederzugeben. Donja dufte mit solch einer Intrige einfach nicht durchkommen.

An einem schmalen Haus in einer noch schmaleren Gasse hielt sie an. Bevor sie nach Hause zurück kehren konnte, musste sie noch etwas erledigen.

Marie schaute sich nach möglichen Beobachtern um, ehe sie klopfte. ,,Hallo, Ginja?“ Als die Antwort kam, die Tür wäre auf, musste sie genau hinhören, um die heisere Stimme im Inneren zu verstehen. Marie huschte ins Haus. Sofort ihr Blick auf die alte, gebrechliche Frau, die in ihrem Bett saß, was man von seinem ursprünglichen Platz näher an das Kaminfeuer geschoben hatte.

Trübe Augen glänzten, als sie sie erkannten. ,,Nein, Marie! Schön, dass du mich besuchen kommst!“

,,Ich wünsch dir einen guten Morgen, Ginja.“ Sie schloss die Tür und nahm sich ein Stuhl vom Esstisch, den sie ans Bett stellte. Schon viel zu lange hatte sie sie nicht mehr besucht und erschrak, als sie näher getreten war. Um Mund und Nase auf dem schmalen Gesicht zeichnete sich bereits ein gelbes Dreieck ab. Das Totenmahl.

Schnell versuchte sie ihre Reaktion zu verbergen und setzte sich zu ihr. ,,Wie geht es dir?“ Sie ergriff die Hand, die ihr entgegenkam und strich der alten Frau über die knorrigen, mit Altersflecken übersäten Fingerknöchel.

,,Ach, Kind, wenn ich dich sehe, dann gleich viel besser. Mit deinem Lächeln geht die Sonne auf.“

Allein für sie versuchte Marie fröhlich zu wirken. Die Witwe mit dem schneeweißem Haar, auf dessen Länge sie bis ins hohe Alter immer noch stolz war und es stets penibel pflegte, war für Marie wie eine Großmutter, welche sie genauso gern hatte, wie Marie sie. Eng war sie mit ihrer Mutter Myrrte befreundet gewesen und früher öfters zu einem Stück Kuchen vorbei gekommen.

Marie stellte fest, dass es ihre alte Freundin warm, bequem und alles Wichtige in Reichweite hatte. Auf einem Tischchen neben dem Bett standen einige Fläschchen mit Medizin und eine dampfende Tasse Tee. ,,Hilda war bei dir gewesen?“, schlussfolgerte sie.

,,Ja, gerade e …“ Ein Husten hinderte sie am Weitersprechen. Ein Taschentuch vorm Hund gehalten, krümmte Ginja sich unter dem Anfall.

,,Dein Husten hört sich ja gar nicht gut an.“ Besorgt befühlte Marie mit dem Handrücken ihre Stirn.

,,Das ist das Alter“, winkte sie ab.

Marie wusste noch, wie sie einmal gesagt hatte, sie hätte aufgehört die Jahre zu zählen. Doch davon ließ sie sich nicht beirren. ,,Lass mich dich bitte trotzdem untersuchen.“

,,Ach, Kind, du lässt ja sonst nicht locker.“

,,Du kennst mich doch.“ Behutsam knöpfte sie ihr die Bluse etwas auf und legte ihr Ohr auf die Mitte ihres Körpers. Mit geschlossenen Augen horchte sie konzentriert ihrer Atmung. Da waren starke Geräusche. Es klang so, als wäre Wasser in ihrem Körper, was ihre Atemzüge verkürzte. Auch legte sie ihr Ohr auf ihr Herz, befühlte vorsichtig ihre Mandeln am Hals. Geschwollen, stellte sie fest, kaute nachdenklich auf ihrer Lippe. Die Wangen der alten Frau waren eingefallen und als sie in ihren Mund schaute, sah sie in einen geröteten Rachen. Marie schob ihr das Hemd hoch, tastete ihren Bauch und ihre Seiten ab und befühlte behutsam ihre schlaffe Brust, doch Knoten, wie sie sie einst bei ihrer Mutter gefühlt hatte und vor deren Auftauchen sie sich unausgesprochen fürchtete, konnte sie nicht finden. Zum Schluss deckte sie sie wieder sorgsam zu und besah die Tinkturen. Während Ginja mit zittrigen Händen die Tasse nahm und ihren Tee schlürfte, stellte Marie fest, dass Hilda ihr geeignete Medizin gegeben und darüber hinaus auch für Notfälle mitgedacht hatte.

,,Die gute Kornblumensalbe deiner Mutter“, sagte Ginja, als Marie diese in der Hand hatte. ,,Sie bewirkt wahre Wunder. Du siehst ihr so ähnlich.“ Ein neuer, noch schlimmerer Husten plagte die alte Frau. Eilig reichte sie Marie den Tee, damit diese ihn zurück stellen konnte. Als er endlich abgeklungen war, rieb sie ihre, mit blauen Adern überzogenen Hände. ,,Die kalten Tage spüre ich in jedem Gelenk.“

,,Es tut mir leid, Ginja.“

,,Was tut dir leid, Kind?“

,,Dass ich so lange nicht bei dir vorbei geschaut habe. Ich will mich auch in keinster Weise dafür rechtfertigen. Es war einfach egoistisch von mir.“

,,Ach, Marie. Dir brauch gar nichts leid zu tun. Ich habe alles in deinem Auftrag von Anna und Hilda erhalten. Mir hat es an nichts gemangelt. Von den beiden habe ich erfahren, dass du gerade eine schwere Zeit durchmachst. Aber…sag mal, Kind. Lass dich erst mal richtig anschauen.“ Sie kniff die Augen zusammen und Marie rechnete schon fest damit, dass sie über ihre Größe erschrocken wäre und Fragen stellen würde, doch etwas ganz anderes war der Fall. ,,Mensch, Kind, du bist dünn geworden! Isst du denn nicht genug?“

Entschuldigend zog sie die Schultern hoch. ,,Ich fürchte nicht.“ Prompt wollte Ginja aus dem Bett steigen und schon nach ihrem Gehstock greifen, der neben ihr an der Wand lehnte, doch Marie hielt sie zurück. ,,Nein, hier geblieben! Du hast Bettruhe. Strenge Bettruhe.“

,,Du verhungerst mir noch“, jammerte Ginja, blieb aber wo sie war. ,,Ich hatte einen kleinen Schwächeanfall. Das passiert schon mal in meinem Alter. Die Beine wollen nicht mehr so wie der Rest. Das hält mich doch nicht davon ab, dir etwas zu Essen zu machen“, versuchte sie es noch einmal. Dass sie bloß damit versuchte, ihr keine Sorgen zu bereiten, merkte Marie. Doch dafür war es zu spät, denn sie wusste, dass es ganz anders um ihre alte Freundin stand.

,,Du bleibst im Bett, ja?“, machte sie ihr mit Nachdruck verständlich. ,,Du musst dich schonen.“

,,Es ist wegen meinem Herzen, oder?“, fragte sie so plötzlich, dass Marie angesichts ihres ernsten Tons schlucken musste. Weil sie sie nicht anlügen wollte, nickte sie schließlich.

Ginja wandte den Blick ab und seufzte tief. Tröstend Marie fasste nach ihrer Hand - was anderes konnte sie nicht für sie tun, und sogleich erwiderte die alte Frau ihren Griff. ,,Du bist so ein gutes Kind.“

,,Ginja… Hör auf, das immer zu sagen. Das bin ich doch nicht mehr. In ein paar Jahren bin ich schon eine alte Schachtel.“

Die trüben Augen strahlten auf einmal. ,,Für mich wirst du immer das Mädchen aus Dale sein“, sagte sie wehmütig und Marie musste sich etwas vorlehnen, um sie besser verstehen zu können. ,,Ich weiß noch, als du hier ankamst.“ Sie strich ihr über den Zopf. ,,Damals hattest du so etwas Trauriges an dir…und schau dich jetzt an. Von dem verschreckten Mädchen mit dem gebrochenen Herzen ist eine bildschöne und kluge Frau geworden. Sie lässt sich weder von aufdringlichen Männern, noch von bösen Zungen etwas sagen.“ Sie berührte einen der dünnen Zöpfe, die über Maries Schlüsselbeinen lagen. ,,Ihr Herz wurde geheilt…und doch spüre ich, dass es wieder schwer in ihrer Brust liegt.“

,,Warum kannst du so gut aus mir lesen?“

Ginja tätschelte ihre Hand. ,,Ich bin zwar alt und werde bald sterben. Aber vormachen kann mir niemand etwas mehr.“

 

 

Die Zeit verging wie im Flug. Gern hätte sie den ganzen Tag bei Ginja verbracht, die von ihren Kindern und von ihren Enkeln und Urenkeln erzählte, von ihrem Mann Simon, den sie schon früh verlor; Geschichten, die Marie in und auswendig kannte. Sie hörte ihr zu, lachte mit ihr und hielt die ganze Zeit über ihre Hand. Mehr konnte sie nicht tun.

Der Vormittag war schon lange verstrichen, als Marie sich auf den Heimweg machte. Wenn sie noch ein Mittagessen für Mel und Anna zubereiten wollte, musste sie sich sputen. Verfolgt von ihren Gedanken schlug sie den schnellsten Weg nach Hause ein.

Ihr Herz ist zu schwach. Marie presste die Lippen aufeinander, als müsste sie es für sich bewahren, um es nicht wahr werden zu lassen. Sie wusste um ihr baldiges Schicksal Bescheid. Wasser im Körper war ein sicheres Zeichen dafür, dass das Herz nicht mehr richtig arbeitete. Es tat ihr unendlich leid, dass sie nicht schon viel früher nach ihr gesehen hatte. Marie schluckte hart, um die aufkeimende Verbitterung über ihre Tatenlosigkeit zu verdrängen, und nahm sich vor, die Zeit, die ihnen noch blieb, sooft es ging mit ihr zu verbringen – drohendes Gerede und Spott hin oder her.

Spatzen hüpften auf Futtersuche durch den Schnee, flogen davon, als sie näher kam. Sehnsüchtig schaute sie ihnen nach, bis sie als winzige Punkte vor dem strahlend blauen Himmel verschwanden. Sie wünschte sich auch Flügel. Dann würde sie von allem davon fliegen, in die Luft, wo sie niemand erreichen würde, und um zu dem Mann fliegen zu können, den sie liebte.

Ginja hatte Recht. Als Thorin damals fortging, hatte er ihr das Herz gebrochen, doch niemals hatte sie ihn dafür gehasst. Auch wenn sie es erst erkennen musste, war es seine Pflicht seinem Volk gegenüber gewesen, die ihn zwangen fortzugehen. Als sie sich auf der Farnlichtung wiedertrafen, zusammen am Fluss saßen, sich auf der Bank unter dem Fenster geküsst hatten, er ihr erneut seine Liebe gestanden hatte und auch als er und seine Gefährten im Sonnenaufgang verschwanden; da liebte sie ihn nur umso mehr. Wie das Murmeln des Windes hörte sie seine Worte: Bis in alle Ewigkeit. Marie wusste, Thorin würde ewig ein Teil von ihr sein.

Sie ließ ihre Fantasie freien Lauf und malte sich das Bild aus, wie er mit ihr an einem sonnigen Tag wie diesen spazieren gehen würde. Das Kribbeln im Bauch zauberte ihr ein Lächeln - die Schmetterlinge waren immer noch da. Seine von Arbeit und Kampf geraute Hand hielt sie unablässig, vielleicht verflocht er die Finger auch mit ihrer. Aber was sicher war: tiefgründige, graue Augen würden zu ihr hinab blicken und der eine Mundwinkel sich zu einen der Schmunzeln heben, welche sie so gern an ihm sah. Thorin…, flüsterte Marie seinen Namen im Geiste, hoffte, er würde es irgendwie spüren. Bitte komm zurück...

Die schönen Gedanken verflogen, als die Sehnsucht erneut groß wurde. Unten den Qualen ihres Herzens schnürte sich ihr Brustkorb zusammen. Es fühlte sich an, als wäre sie seit langem unvollständig.

Wann würde dieser Schmerz des Vermissens weniger werden? Ging es ihm gut, ging es den Gefährten gut? Waren sie alle wohl auf? Wann würde sie eine Antwort bekommen?

Die Ungewissheit begleitete sie jeden Tag. Und nun wollte sie nicht auch noch Ginja verlieren…

Marie presste die Augen zusammen, versuchte die Gedanken an einen baldigen Abschied beiseite zu schieben, wollte nicht wieder anfangen zu weinen, nicht hier auf der Straße. Sie wollte nur noch nach Hause, endlich raus aus diesem verfluchten Dorf.

,,Marie!“

Oh, nein… Man hatte sie bemerkt. In ihrer Unachtsamkeit war sie zum Fluss gelangt, dessen Ufer man direkt von einem Trampelpfad aus errichten konnte. Bei den Felsen, die das Wasser in Ufernähe in flache Tümpel unterteilten, hatte sich eine kleine Gruppe Frauen zum Wäschewaschen gescharrt. Marie erkannte Sonna, die Wirtsfrau der Kupfer Stube, die ihr winkte. Mist! Eilig ging sie weiter, tat so, als hätte sie sie nicht gesehen. Mist, Mist, Mist, Mist! Sie beschleunigte ihre Schritte, doch Sonna kam ihr hinterher gelaufen und fasste sie am Arm. ,,Marie, warte doch einmal!“

,,Lass mich in Ruhe, Sonna“, knurrte sie und entwand sich ihr. ,,Wenn du dich über mich lustig machen willst, dann tu es gleich. Ich habe keine Zeit.“

,,Was redest du denn da? So bleib doch stehen.“ Notgedrungen tat Marie es, starrte jedoch ihre Stiefelspitzen an. ,,Wie geht es dir? Wir haben uns um dich gesorgt, weil wir dich lange nicht mehr gesehen hatten. Ja, wirklich“, fügte sie hinzu, weil sie Maries misstrauischen Gesichtsausdruck erkannt haben musste. ,,Komm doch mit zu uns“, lud sie sie ein.

Ablehnend schüttelte Marie den Kopf. ,,Ich muss nach Hause.“

,,Du kannst dich doch nicht immer verkrümeln. Na los, komm schon.“ Sie fasste ihre Hand. Marie stemmte die Füße in den Boden. ,,Sonna, bitte…“ Trotz ihres Protestes wurde sie mitgezogen. Alle sahen ihr entgegen und Marie würde am liebsten im Erdboden versinken. Sie suchte nach Argwohn und Spott in den Gesichtern der Frauen, doch fand nichts dergleichen. Dennoch blieb sie misstrauisch und auf der Hut.

Die Frauen unterbrachen ihre Arbeit, um sie zu begrüßen. ,,Guten Morgen, Marie.“

,,Schön dich zu sehen.“

,,Wie geht’s?“

,,Morgen. Danke, gut“, nuschelte sie als knappe Antwort. Sie fühlte sich überhaupt nicht wohl.

Kinder spielten unbekümmert auf den Felsen Fangen, während ältere Töchter ihren Müttern zur Hand gingen.

,,Schau doch, Marie, was für ein propperes Kerlchen er geworden ist.“ Elia Gauner, die auf einem der Findlinge saß, stillte nebenbei ihren kleinen Sohn. Selig in einem dicken Lammfell eingewickelt schmatzte das Baby an ihrer Brust. ,,Das habe ich nur dir zu verdanken.“

,,Marie schafft es, jedes Kind durchzubekommen, und sei es auch so schwächlich. Sie hat all meiner Kinder auf die Welt geholt und alle haben es geschafft.“

Marie konnte nichts über das Lob von Pamina erwidern, da sprach Sigurd bereits weiter. ,,Eine bemerkenswerte Hebamme haben wir, das habe ich euch ja immer gesagt.“ Sigurd wischte sich mit der Armbeuge die ergrauten Strähnen aus dem Gesicht und schrubbte eifrig weiter.

,,Ähm, danke für eure Worte.“ Verblüfft musste Marie ihre Sprache erst wiederfinden. ,,Das hört man gerne. Ich hoffe, auch Hilda bekommt eine Chance von auch.“

,,Willst du etwa als unsere Heilerin aufhören?“ Schockiert hoben die Frauen die Köpfe.

,,Nein, in nächster Zeit nicht. Hilda hat ein großes Wissen über Heilkunde gelernt. Es ist wirklich erstaunlich, wie gut sie in letzter Zeit geworden ist. Ich möchte nur mein Können und Wissen mit ihr teilen. Es ist ein schönes Gefühl, wenn man jemanden etwas beigebracht hat und derjenige damit anderen helfen kann.“

,,Das ist wahr. Ich hörte, dass sie den Arm vom Kotter Jungen geschient hat.“

,,Was ist denn mit dem passiert?“

,,Hast du’s denn noch nicht mitgekriegt, Sonna? Ein Rind soll ausgekeilt haben und…“

,,Mädels, seht mal, wer da drüben umher stolziert“, raunte Elia auf einmal.

Alle Blicke richteten sich neugierig zur Straße hinauf. Die Nasenspitze in die Höhe gereckt ging Donja Danner mit wogenden Hüften ihres Weges. Für das blonde Haar, was in sündhaften Locken über ihren Rücken fiel, würde so manches junge Mädchen töten.

,,Da ist ja das werte Flittchen“, raunte Sonna und schrubbte die Hemden, als wollte sie Löcher hinein machen wollen. ,,Ich kann sie nicht ausstehen…“

,,Wer kann das schon?“, fragte Pamina. ,,Aufgetakeltes Flittchen.“

,,Die ist fast so schlimm wie Rabia.“ Elia zog das Fell dichter über das Köpfchen ihres Sohnes, als würde sie ihn von dem Unheil, was diese Frauen versprühten, abschirmen wollen. ,,Es wundert mich, dass die zwei keine Freundinnen sind. Zusammenpassen würden sie ja. Boshafte Schlangen…“

,,Fast? Ich würd‘ sagen genauso.“

,,Donja würde sich nie auf solch eine niedere Stufe einlassen“, widersprach Sonna. ,,Dafür ist die Lady fiel zu fein. Fürs Wäsche waschen übrigens auch. Wenn ihr mich fragt, ist Donja bloß ein kleiner Fisch. Rabia ist die Schlimmste von allen.“

,,Nein, die hässlichste.“ Die Frauen fielen in Sigurds lautes Lachen mit ein, das wie das Meckern einer Ziege klang.

Stumm hatte Marie zugehört und musste unwillkürlich grinsen – bis Elia ein anderes Thema zur Sprache brachte. ,,Ist es wahr, was Donja erzählt, Marie? Hat Anna wirklich Schmuck von ihr geklaut?“

Marie starrte sie an. Sie erzählt das herum? ,,Nein!“ Gelenkt von ihrem Zorn darüber sprang sie für Anna in die Bresche. ,,Wie könnt ihr das denken? Anna ist keine Diebin!“ Beschämt zog Elia den Kopf ein. Und auch die anderen Frauen hielten nachdenklich inne. Marie tat einen Atemzug, um ihr wallendes Blut zu beruhigen. ,,Donja setzt Gerüchte über sie in die Welt. Glaubt nicht, was ihr hört.“

,,Wir stehen hinter ihr“, sagte Sonna und sprach für die ganze Gruppe, die ihr sogleich nickend zustimmte. ,,Und hinter dir, Marie. Ich war auf dem Markt dabei. Obwohl ich nicht weiß, was bei dir Vorgefallen ist, weiß ich, dass es nur erstunken und erlogen sein kann, was die Marktweiber gesagt haben. Wir wissen, dass man ihnen keinen Glauben schenken darf. Wir kennen dich.“

Sonnas ehrliche Worte und die Zustimmung der anderen Frauen berührten sie. ,,Danke“, murmelte Marie einfach, weil sie nicht wusste, was sie anderes sagen sollte. Der Tag hielt anscheinend eine Menge Überraschungen sie bereit.

,,Und solange Anna keine neue Stelle hat“, fuhr Sonna fort, ,,kann sie erst mal bei uns aushelfen. Wir haben in dieser Jahreszeit alle Hände voll zu tun. Jeder, der anpacken kann, wird gebraucht.“

Abermals wollte Marie sich bedanken, doch kam gar nicht dazu. Allmählich waren die spielenden Kinder auf sie aufmerksam geworden und es dauerte keine Minute länger, da war sie umringt von schwatzenden Jungen und Mädchen, die sie neugierig anstarrten.

,,Warum bist du so klein?“

,,Ist das wahr, dass du verflucht worden bist?“

,,Mel hat erzählt, dass ein Zwergenkrieger in dich verliebt ist!“

,,Hast du wieder deine Kräuterbonbons dabei?“

,,Au ja! Kriegen wir welche? Bitte!“

,,Nein, erzähl uns von den Zwergen!“

Angesichts solch einer Bombardierung mit Fragen mussten ihre Mütter lachen.

,,Himmel, Moment einmal!“ Marie hob zu ihrer Verteidigung die Hände. ,,Nicht alle auf einmal. Ihr wollt also Antworten auf all eure Fragen haben, ja? Nun, wenn das so ist“, sie setzte sich auf einen der Steine, ,,dann kommt näher und hört gut zu.“ Sogleich war sie von der Kinderschar umringt, die sich zu ihren Füßen niederließ, um der Heilerin zu lauschen.

,,Die wichtigste Frage zuerst. Nein, ich bin nicht verflucht. Ich bin verzaubert worden.“

,,Von einer Fee?“

Über die Vorstellung, Gandalf wäre ihre gute Fee, musste sie lachen. ,,Nein, von einem Zauberer. Einem sehr mächtigen.“

,,Ohh…“, hörte man es fasziniert raunen. ,,Wie hat es sich angefühlt?“

,,Sind deine Füße zuerst geschrumpft?“     

,,Was ist mit den Zwergen passiert? Wo sind sie hin gegangen?“

,,Also schön, ich erzähl euch die Geschichte. Aber seid ihr euch mutig genug dazu? Denn ein feuerspeiender Drache kommt auch darin vor.“

,,Ein Drache?!“

,,Sei ruhig, Jabes, wir wollen die Geschichte hören!“

Der kleine Junge in der vordersten Reihe hielt sich schnell den Mund zu.

,,Auf jeden Fall sind wir mutig genug!“ Die Kinder bejahten alle.

,,Also schön. Es ist eine Geschichte von großem Heldenmut…“ Und so kam es, dass Marie ihnen von Gandalf dem Grauen und von der Gemeinschaft um Thorin Eichenschild erzählte. Selbst die Mütter hatten sich daneben gesetzt und hörten den Worten zu, die wahren Ursprungs waren. Ohne zu viel preiszugeben, erzählte Marie von den raubeinigen Zwergen und dem mutigen Hobbit, die sie geheilt hatte und die nun losgezogen sind, um gegen einen bösen Drachen zu kämpfen.

Als Marie schließlich geendet hatte, gab die Geschichte den Kindern Anlass für ein neues Spiel.

,,Kommt, wir Spielen Drachen sein!“, rief einer. Sofort stoben sie auseinander, rannten brüllend davon und ließen Marie mit einem erleichterten Gefühl ums Herz zurück.

Sie unterhielt sich noch ein wenig mit den Frauen, bis ihr Blick auf Hilda fiel, die zu ihnen hinüber sah. ,,Entschuldigt mich“, sagte sie schnell und eilte zu ihr. ,,Hilda. Bitte warte! Es tut mir so leid. Du hattest allen Grund wütend auf mich zu sein.“ Ihre Freundin wollte etwas erwidern, doch sie konnte nicht aufhören zu reden. ,,Ich will nicht, dass du meine Aufgaben allein machen musst. Aber ich danke dir, dass du es für mich tust! Und in Zukunft werde ich meine Pflicht wieder erfüllen. Aber bitte, sei nicht mehr böse auf mich. Wir können uns die Arbeit ja tei…“ Plötzlich wurde sie so feste gedrückt, dass ihr die Luft wegblieb.

,,Ach, Marie“, seufzte Hilda. ,,Wie kann ich denn jemals böse auf dich sein?“ Sie lösten sich voneinander und ihre Freundin sah freundlich zu ihr hinab. ,,Ich hoffe, du hast jetzt gesehen, dass nicht jeder hier schlecht über dich denkt.“

,,Ja“, gestand Marie sich reumütig ein und warf einen Blick auf die Gruppe am Fluss zurück. ,,Das musste ich erst einsehen.“ Die Frauen hoben gemeinsam die Wäschekörbe an und winkten ihr. ,,Ich musste mich erst trauen, über den Stein zu springen“, murmelte sie und hob ebenfalls die Hand. Danke, Mel…

,,Von welchen Steinen redest du?“

Marie lächelte in sich hinein. ,,Die, die jeder mit sich trägt.“ Hilda runzelte bloß die Stirn.

,,Magst du heute zum Mittagessen kommen?“, wandte sie sich ihr wieder zu. ,,Anna und Mel kommen auch. Du bist hiermit herzlich eingeladen.“

,,Wenn du für uns drei Mittag machen willst, dann musst du dich aber ranhalten.“

,,Oje, das wird mächtig knapp werden!“

,,Was stehen wir hier noch rum?“ Hilda hakte sich schwungvoll bei ihr ein. ,,Meine Männer sind heute außer Haus. Zu zweit schaffen wir das im Handumdrehen noch rechtzeitig.“ Arm in Arm verließen sie Kerrt, jede ein Lächeln im Gesicht.

 

~

 

Schneidend kalt war es am Erebor. Der Wind peitschte auf dem Wall durch jedes Haar, zerrte an den Kleidern, wie eine aufdringliche Geliebte, und fuhr dem Raben in sein Federkleid bis dieser ganz struppig aussah. Der grüne Schimmer auf den pechschwarzen Federn tanzte verärgert, als der Vogel sich aufplusterte, damit seine verwüstete Pracht wieder ihre Ordnung fand. Um dem Wind zu entgehen, hockte er sich auf die Schulter des Bergkönigs, der schon eine ganze Weile regungslos in das Tal hinein schaute.

Wie in einem Ameisenbau, wo sich das meiste verborgen vor fremden Blicken unter der Erde abspielte, trug der Wind Geräusche aus den Ruinen Dales hinauf. Etwas ging vor sich dort. Termitenbau, flüsterte ihm die dunkle Stimme jener Macht ins Ohr, deren Kraft er seit sie hier in Erebor sind gespürt hatte. Schmarotzer. Schon bald werden sie sich zeigen und etwas von uns erbetteln, damit sie nicht jämmerlich erfrieren. Was sollen wir mit ihnen teilen, was wir selber zum Überleben brauchen? Löchrige Decken? Die Kaninchen auf den Wiesen?

Der Zwerg verdrängte das Gefühl in seiner Brust nicht länger. Es hatte sich als zu nützlich erwiesen, anstatt die Macht zu verleumden, die sich nun Gehör verschaffen hatte.

Nach erfolglosen Stunden hatten sie eine erneute Suche nach dem Arkenstein abgebrochen, obwohl er seine Mannschaft angewiesen hatte, nicht aufzuhören, ehe der Stein gefunden war. Seine Männer wurden müde, klagten über Hunger und Erschöpfung. Thorin hingegen fühlte nichts dergleichen. Ihre Chancen, das Juwel zu finden, wurden täglich kleiner und er fühlte, wie die Sehnsucht nach diesem Stein täglich wuchs. Er brauchte ihn…

Bei dem Gedanken an den Arkenstein erwachte die Bestie aus ihrem Schlummer. Ein Tier, jedoch mit einem uralten Wissen und einer Kraft, die seinesgleichen auf dieser Erde suchte. Angst vor diesem Raubtier hatte er keine, das nun ein Teil von ihm war, denn es schenkte ihm ein fast schon grenzenloses Gefühl der Macht und der Unsterblichkeit. Manchmal da bildete er sich ein, ein Schatten im Feuer, in Spiegeln oder auf metallischen Oberflächen zu sehen, wie der eines Geistes: klauenbewehrte Läufe, ein muskulöser, von schimmernden Schuppen gepanzerter Körper und Augen so orange wie lodernde Flammen.

Das Gesicht in den Wind gereckt schaute Thorin in das Tal hinein, doch wagte es nicht, die Augen zu schließen. Er wusste es nicht zu benennen, aber etwas lag in der Luft des Hochgebirges.

Es war, als wartete der Berg auf die nächsten Ereignisse, die schon bald eintreten würden.

,,Nein, nein, nein! Was, bei Durin, machst du denn da?“ Thorin drehte sich zu den anderen um, die sich unter ihm in der Eingangshalle versammelt hatten. Gerade riss Gloin Bilbo einen Wetzstein aus den Händen, der damit über die Klinge seines kleinen Schwertes Stich rieb, als wollte er Käse hobeln. ,,Doch nicht damit und schon gar nicht so! Eine Klinge wie diese braucht einen viel feineren. Du verdirbst sie dir bloß.“

Für Menschen mochte es vielleicht bloß ein Brieföffner sein; für Bilbo hatte das Schwert die perfekte Größe. Es stammte ebenfalls wie Glamdring, Gandalfs Schwert, und Orcrist, jenes großes Schwert, welches Thorin als sein Eigen anerkannt hatte, jedoch nach der Gefangenahme der Elben im Düsterwald bei dem Blonden mit den Kristallaugen geblieben war, aus der Trollhöhle, die sie auf ihrer Reise gefunden hatten. ,,Stich“, wie Bilbo es genannt hatte, hatte einen mit weichem, braunen Leder ummantelten Griff. Die Klinge jedoch, die ebenfalls wie Orcrist elbische Schmiedekunst war, war außergewöhnlich. Sie leuchtete blau sobald sich Orks oder Bilwisse in der Nähe befanden und hatte ihm bereits gute Dienste geleistet.

,,So musst du es machen.“ Der rothaarige Zwerg mit dem prachtvollen Bart strich sorgfältig und langsam zur Spitze hin. ,,Mit dem Metall. Lange, fließende Bewegungen. Siehst du?“

Die Gefährten saßen oder standen beisammen, während sie ihre Waffen schärften oder mit ihnen trainierten. Bombur rührte in einem Kessel, unter dem man ein Feuer in Gang gebracht hatte, eifrig den Eintopf aus wilden Wurzeln, die die Männer am Morgen aus Schnee und hartgefrorener Erde gegraben hatten. Im Vergleich dazu war das Kaninchenfleisch ein Gaumenschmaus, die Wurzelpampe würde mit den Befürchtungen aller als Gaumengraus enden – da halfen auch keine würzigen Kräuter von Oin mehr. 

Inzwischen trug jeder eine Schwertscheide am Gürtel. Die Schwerter, die die Zwerge benutzten, waren für ihre Größe angemessene Kurzschwerter. Anders als Stich oder Orcrist es gewesen war, waren sie schmucklos, die Klingen praktisch und stabil gearbeitet. An einem der Schuttfelsen hatten sie ihre fertig polierten und geschärften Schwerter reihenweise aufgestellt und kümmerten sich nun um andere verschiedensten Waffen ihrer Wahl. Bifur und Bofur inspizierten Piken, während Bombur immer noch seinen Eintopf beschwor. Dwalin hatte sich für seinen Favoriten; eine doppelseitige Streitaxt entschieden, Gloin für eine einseitige. Nori saß auf einem der Felsbrocken und vertrieb sich die Zeit zwei sichelartige Dolche kunstvoll in den Händen kreisen zu lassen.

Obwohl es für jeden anderen wie reiner Zeitvertreib aussehen musste, erkannte Thorin, dass seine Männer sich bereit hielten. Auch sie mussten spüren, dass etwas bevorstand.

Abseits von den anderen fiel ihrem Anführer ein Paar ins Auge. Mit Schwertern in den Händen standen sich seine Neffen gegenüber und begannen, wie rauflustige junge Böcke, die sich ihr Geweih abstoßen mussten, den anderen zu umrunden. Thorin lehnte sich mit den Unterarmen auf die Reste des Wehrganges und sah ihnen aufmerksam zu.

Fili machte einen Ausfallschritt in Kilis Richtung, sodass dieser zurück zuckte, bereit auf jede Bewegung zu reagieren. ,,Wartest du auf den Frühling? Mach schon, greif mich endlich an!“

,,Achte lieber auf dein Standbein“, gab Fili nüchtern zurück, der sich wie sein Bruder die Haare zusammengebunden hatte, um von diesen ungestört zu sein.

Kili unterdrückte es mit den Augen zu rollen. ,,Zu Befehl, Hauptmann...“

Mit einem lauten Knurren ging Fili auf ihn los. Die Klingen schabten aneinander vorbei, als die Schwerter gegeneinander schlugen. Sie sprangen auseinander und Kili setzte dagegen an, schwang die Waffe auf Filis ungeschützte Seite zu, doch Fili hielt seine wie ein Schild zwischen sich und dem Hieb. Stahl schmetterte auf Stahl.

Der Rabe krächzte. ,,Schschsch…“ Der Zwergenkönig kraulte ihn unter der hüpfenden Kehle, während er dem Spektakel zusah.

Die jungen Männer wichen geschickt vor den Angriffen des anderen aus oder blockten sie ab, um mit einem Gegenschlag zu kontern, nutzten jede ungeschützte Haltung aus und schlugen mit der flachen Seite der Klinge gegen die Rüste des anderen, wenn sie einen tödlichen Hieb in der ernsten Realität ausgeführt hätten.

,,Ich hab schon wieder gewonnen!“, verkündete Fili und machte ein Gesicht, als hätte man einem Zwergenkind zwei Krüge voll Bier in die Hände gedrückt - Kili hingegen, als hätte man ihm genau diese weggenommen.

,,Nächste Runde mach‘ ich dich fertig.“

,,Seltsam, das hast du vor dieser auch schon gesagt.“ Als sie sich neu aufgestellt hatten, krümmte Fili provozierend den Finger und Kili stürmte brüllend auf ihn los.

Das Aufeinanderprallen der Eisen hallte von den Wänden wieder. Die Brüder waren sich absolut ebenbürtig. Keiner war bereit nachzugeben. Es waren zwei prachtvolle Prinzen, die ihren Onkel mit Stolz erfüllten - doch auch sie mussten noch einiges lernen. Besonders Kili.

Der Rabe gab ein zufriedenes Gurren von sich, als Thorin ihm über den Kopf strich. Dann berührte er die kleine Schriftrolle, die er ihm an den Fuß gebunden hatte. ,,Halte dich bereit.“

,,Krah! Bergkönig!“ Der Rabe sprang zurück auf die Zinnen und plusterte sein Brustgefieder stolz über seinen Auftrag auf.

 

Als Thorin zu seinen Männern stieß, teilten diese gerade die Wetteinsätze aus, die sie vor dem Übungskampf der Jungs abgeschlossen hatten. ,,Nicht schlecht, Jungs“, meinte Balin, der stets für die fachgerechte Verwaltung der Einsätze zuständig war. ,,Nicht schlecht…“

Die beiden saßen vor der Thjalfar-Glocke, teilten sich leicht verschwitzt und dennoch mit einem Lächeln einen Wasserbeutel, obwohl Fili seinen Bruder letztendlich mit mehr erfolgreichen Angriffen schlagen konnte.

Thorin nahm eines der Schwerter. Prüfend wog er es in der Hand und hielt sich die Klinge ans Auge, um daran entlang zu sehen. Orcrist hatte sich ganz anders angefühlt und er fragte sich, wie er bloß mit einer elbischen Klinge hatte kämpfen können. Dann zog er seinen Mantel aus und warf ihn auf die Steine. ,,Kili. Zeig mir, was du kannst.“

Ein breites Grinsen lag auf seinem Mund, als der Junge sein Schwert nahm und seinem Onkel in die Mitte der Halle folgte.

Gespannt sahen die Gefährten zu ihnen hinüber. Dwalin polierte weiterhin auf einem Stein hockend seine Axt und war wie immer die Ruhe selbst. ,,Das wird interessant.“

,,Ich setz auf Thorin“, kam es sogleich von Gloin, der eine gute Chance auf etwas Gewinn sah.

,,Bin dabei. Mit sechs Angriffen.“

,,Fünf“, sagte ein anderer. Münzen klimperten, als man eine neue Runde Wettverträge abschloss.

Kili und Thorin hatten sich unterdessen aufgestellt: ein Fuß weiter hinten als der andere für einen sicheren Stand, das Gewicht tief verlagert, um die volle Kraft schöpfen zu können. Sie ließen die Schwerter in ihrer Mitte gegeneinander schlagen. Nicht feste, fast wie eine vorsichtige Berührung. Ein Herantasten.

,,Was habe ich euch gelehrt?“

,,Ein Krieger kämpft mit Herz und Kopf“, sagte Kili die Weisung auf, die schon so alt war wie die Legenden selbst. Dann begannen sie, sich zu umrunden. Wie das Spiegelbild des anderen drehten sie sich synchron im Kreis. Einer in schwarz. Der andere in gold und blau.

Thorin zog dieses lauernde Umeinander-Rum-Geschleiche mit Absicht in die Länge, um Kilis Ungeduld auf die Probe zu stellen. Als er dann blitzschnell einen Satz nach vorn machte, werte Kili den absichtlich leichten Schlag ab, wollte euphorisch sofort mit einem Gegenhieb kontern, doch vergaß seine Beinstellung. Sein Standbein, jenes, das mehr Körpergewicht trug, war für kurze Zeit das vordere. Sein Onkel war schneller. Mit einem Scheinangriff riss er ihm das Bein weg und Kili landete auf dem Rücken.

Ein dunkler Schatten ragte neben seinem Kopf auf. Symbolisch legte Thorin ihm die Klinge an den Hals. ,,Du wärst jetzt tot.“ Über sich selbst verärgert schob Kili sie beiseite und setzte sich auf.

,,Du bist zu forsch. Mach deine Augen auf. Werde dir deine Fehler bewusst, sonst tut es dein Gegner für dich.“ Thorin hielt ihm die Hand hin und zog ihn wieder auf die Beine. ,,Nochmal.“

Erneut stellten sie sich in Position, doch jetzt hatte Kili der Ehrgeiz gepackt. Beim Abfangen der Schläge biss er die Zähne so fest zusammen, dass Sehnen an seinem Hals hervortraten. Er stieß ihn von sich und trieb ihn zurück, griff nun mit jedem seiner Hiebe an, die seinen Onkel auf den Fersen hielten. Doch Thorin hielt stand und drillte ihn weiter. Gegenseitig trieben sie sich immer wieder vor und zurück. Schnell aufeinanderfolgend prallten die Eisen gegeneinander, schabten aneinander vorbei oder teilten zischend die Luft, wenn der Gegner auswich. Eine lange Zeit hielten sie dieses hohe Tempo bei und in Kili rumorte der Willen, endlich einen Treffer zu landen, immer stärker.

Auf einmal traf Thorins Schwert seines mit solch einer Gewalt, dass sein Handgelenk durch die Erschütterung schwach wurde. Er ließ los und das Schwert landete scheppernd auf dem Boden. ,,Tot!“ Thorin schlug ihm ordentlich die flache Klinge gegen den Arm. ,,Du bist nicht bei der Sache. Konzentrier dich! Ein Schwert ist die Verlängerung deines Armes. Und dein Arm fällt auch nicht einfach so ab. Der Stahl ist mit deiner Hand verbunden.“

,,Das weiß ich“, gab Kili grummelnd von sich und musste zur Schmach seine Waffe wieder aufheben.

,,Dann setz es um. Nochmal.“

Wie die Anderen konnte Fili dem Übungskampf nur zuschauen. Doch er war der einzige, der ahnte, was oder wer seinem Bruder im Kopf herumgeisterte. ,,Komm schon, Kili…“

Abermals knallten die Schwerter in der neuen Runde aufeinander und Thorin musste an Kilis Worte denken, als sie das Tor gesichert hatten. Dunkelheit bahnte sich seinen Weg durch sein Blut.

Es war Zeit für eine Lektion.

Er fing seinen Hieb ab, stemmte sich gegen die gekreuzten Klingen und trat ihm gegen den Oberschenkel, genau auf die alte Wunde.

Wie ein Grashalm knickte sein Bein ein. Er hatte Mühe, die Waffe überhaupt noch zu halten. Plötzlich wurde ihm ein Schwerknauf in die Nieren gerammt. Es drückte ihm die Eingeweide zusammen. In sich gekrümmt fiel er zu Boden, suchte angestrengt nach Luft, die auf einmal nicht mehr da war.

Von der plötzlichen Wendung des Kampfes erstarrten die Gefährten. Mit alarmiertem Blick hatte sich Dwalin erhoben.

Kili wollte nach seinem Schwert greifen, doch es schlitterte von ihm fort. Im nächsten Moment spürte er kalten Stahl an seinem Hals. Er drehte den Kopf und sah seinen Onkel über sich stehen. Das Grau seiner Augen schimmerte wie geborstenes Silber– mit gleicher kalter Härte.

,,Der Versuch, mitten in einem Kampf an Sensibilität, Zartheit, Mitgefühl festzuhalten“, sprach er auf Khuzdul, ,,erscheint mir wie das Vorhaben, mit einer Kerze in der Hand durch einen gewaltigen Sturm zu gehen. Findest du nicht auch?“

Bilbo, der es als einziger nicht verstand, blinzelte. Die Sprache der Zwerge hörte sich für ihn immer wie ein Knurren an. Hart Laute, wo man oft die einzelnen Buchstaben nicht verstehen konnte. Ganz anders als Sindarin, die Elbensprache, die fließen und komplizierte Lautenbildungen hatten, die man mit der Zungenspitze machte.

Kili schluckte. ,,Mae.“

Das Schwert wich von seinem Hals. Thorin wandte ihm den Rücken zu und entfernte sich, um sich erneut aufzustellen. ,,Komm auf die Beine, Junge.“

Irritiert sah er ihm nach und rappelte sich hoch.

,,Kili!“ Fili warf ihm ein neues Schwert zu. Er fing es und einen Moment später standen beide Brüder mit gezückten Waffen vor ihrem Onkel, der keinesfalls überrascht von diesem Zug war.

,,Zwei gegen einen!“ Die meisten wollten zügig ihre Wetten angesichts dieser unvorhergesehenen Wendung ändern, doch Dwalin blieb bei seiner. ,,Alles auf Thorin.“

Wie Raubtiere verteilten sich die Jungs an seinen Flanken und trieben ihn langsam auf die Felsen zu.

Die Herausforderung ließ Thorins Körper in höchste Konzentration verfallen und ihn wölfisch lächeln.

Den Blick fest auf seine Gegner gerichtet wich er zurück, während er auf den richtigen Zeitpunkt wartete. Als er nah genug an seinem Ziel war, fuhr er mit dem Fuß unter eines der Schwerter, die am Fels hinter ihm lehnten. Sich drehend wurde die Klinge hoch gewirbelt. In der Luft schlossen sich seine Finger um den Griff und einen Wimpernschlag später stand er mit zwei Schwertern bewaffnet vor seinen Neffen. Jetzt wurde es ernst richtig interessant.

Vereint stürzten die Brüder vorwärts, doch Thorin reckte den Stahl und stemmte sich dagegen. Mit einem grässlichen Geräusch schabten die Klingen aneinander entlang, als er sie mit einem grollenden Schrei aus seiner Brust von sich stieß. Kili musste den Kopf einziehen, als die Klinge über ihm die Luft teilte, die dem Feind den Kopf von den Schultern getrennt hätte.

Sämtliche Sehnen und Muskeln waren auf Äußerte angespannt, ihre Geister wach und reaktionsfähig. Das Klirren von Stahl hallte durch die Hallen, während sie herum wirbelten, unter den Hieben stöhnten und ächzten und einen Sturm aus tödlich scharfen Schwertern, rasselnden Kettenrüsten und fliegenden Haaren in drei unterschiedlichen Farbschlägen bildeten.

Lauthals feuerten ihre Gefährten sie an. Es war, als hätten ihre Götter selbst sich versammelt, um diesen Kampf beizuwohnen. Fest schloss sich Bilbos Hand um den Griff von Stich. Er unterdrückte es an den Nägeln zu kauen. So einen Kampf hatte er noch nie gesehen. Er fieberte mit, zuckte unter jedem Schlag zusammen und war sich sicher, dass Durin selbst dieser Kampf gefallen würde.

Fili drehte sich um die eigene Achse, ließ die Waffe kraftvoll auf Thorin zu sausen. Gleichzeitig sprang Kili auf einen der Felsen, wartete, um sich dann auf seinen Onkel zu stürzen.

Gerade noch rechtzeitig konnte Thorin Fili eine Schulter gegen die Brust rammen und ihn so beiseite stoßen. Er musste ein Schwert fallen lassen, reckte das andere über seinen Kopf, als Kili auf ihn zu sprang. Die Erschütterung ging durchs Metall, direkt in seine Knochen. In seinem Fallen fasste er mit der freien Hand nach Kilis Handgelenk. Er riss ihn mit sich zu Boden und verdrehte ihm den Arm auf den Rücken. Kili schrie auf und ließ die Waffe fallen, damit sein Gelenk nicht verstaucht wurde. Erneut griff Fili an und brachte Thorin in Bedrängnis. Er musste das Knie Kili auf Hand und Rücken pressen, um sich zu verteidigen. Er ließ seine verbliebene Klinge eng um die andere herum kreisen, sodass sie ihm vom Druck unkontrolliert aus der Hand geschleudert wurde. Kili regte sich unter ihm, wollte sich mit aller Macht hochstemmen und brachte ihn ins Wanken. Sein Bruder nutzte diese Ablenkung und griff an.

Das letzte Schwert fiel scheppernd zu Boden, als er sich mit seinem ganzen Körper auf seinen Onkel warf. Sie fielen übereinander her, kämpften nur noch mit rohen Fäusten und ihrem Gewicht. Brüllten, knurrend, als wäre es ein Kampf um Leben und Tot. Faustschläge waren ohne Gnade. Ihr gleiches Blut zählte nicht. Alle drei keuchten inzwischen, wälzten sich in ihren schweren Rüsten über den Boden.

Thorin bekam ein Schlag auf den Unterkiefer, gab Kili dafür einen Kinnhaken zurück. Ein wildes, ungehemmtes Feuer loderte in seinen Augen. Plötzlich drückte Filis Gewicht ihn auf den Boden. Wie einen Baumstamm packte Thorin ihn an Arm und Kniekehle, sodass er sich nicht mehr eigenständig rühren konnte. Zu aller Erstaunen stemmte er sich mit ihn auf seinen Schultern hoch und stand wieder auf.

Fili wurde neben seinem Bruder geworfen. Hektisch drehten sie sich um und schauten zu Thorin empor, der keuchend über ihnen stand. Etwas blitzte auf. Er spürte den Druck einer Klinge zwischen dem Hämmern seines Pulses in seiner Kniekehle und sah vor Verwunderung hinab. Kili hatte einen Dolch unter sich hervor gezogen und drückte ihn an seine Sehnen. Thorin erkannte ihn. Es war sein eigener. Unbemerkt musste er ihn aus seinem Stiefel gezogen haben. Seine Hand war vollkommen ruhig, sodass sein Onkel wusste, dass er dem Feind jetzt mühelos die Beinsehnen durchtrennt hätte.

Bei dieser Erkenntnis wurden seine Züge wieder sanfter. Die Anspannung und Ernsthaftigkeit fiel wie Masken von allen. Onkel und Neffen sahen sich an und mussten lachen.

,,Gut gemacht.“ Thorin streckte die Hände zu ihnen aus und zog beide auf die Beine. ,,Ihr habt gut gekämpft.“

Kili gab ihm den Dolch zurück. ,,Du auch, Onkel.“

Er lächelte und tätschelte ihm die Schulter. Außer Atem setzten sich die Jungs wieder auf ihre Plätze. Fili massierte seinen Nacken, legte den Kopf von einer zur anderen Seite, sodass es knackte.

,,Ich glaub, du hast mir ‘nen Zahn ausgeschlagen, Onkel.“ Kili steckte sich den Finger in den Mund und zog die Wange beiseite, damit sein Bruder nachschauen konnte.

Die Gefährten klopften ihnen gratulierend auf die Rücken und reichten den beiden Siegern Wasserbeutel. ,,Habt ihr das gesehen? Einfach wieder aufgestanden! Mann-o-mann, was war das denn, in Durins Namen, eben grade?“ Bofur war immer noch ganz aus dem Häuschen von dem Kampf. Man unterhielt sich angeregt darüber.

,,Warum kostest du mich eigentlich immer so viel?“ Grimmig über seine verlorene Wette reichte

Dwalin Thorin etwas Wasser.

,,Du bist schlecht im Wetten. Außerdem“, fuhr Thorin nachdem er getrunken hatte etwas höhnisch fort, ,,ist das nicht mein Problem.“

,,Wir hatten halt den besten Lehrer“, gab Kili als Antwort.

Thorin schmunzelte. Und plötzlich war da ein Gefühl, was er lange schon nicht mehr gespürt hatte. Sanft und mit einer zärtlichen Wärme öffnete es sein Herz für die kleinen Dinge, die um ihn herum geschahen. Er sah seine Jungs lachen… Diese Wärme hatte er schon einmal gespürt - nur viel intensiver. Liebe. Er glaubte, man nannte es Liebe…

,,Pass auf, dass du nicht auf deinem Schleim ausrutschst, Bengel“, gab Dwalin mürrisch zurück und holte ihn aus seinen weitverzweigten Gedanken heraus. ,,Thorin“, sein Freund war näher getreten, um ungehört ein paar Worte mit ihm zu wechseln, ,,was war das da eben gerade?“

,,Was meinst du?“

,,Spiel nicht den Ahnungslosen. Das eben… Es war so… Es war, als wärst du nicht du selbst gewesen.“

Thorin warf sich seinen Mantel wieder über. ,,Ich habe gekämpft. Das ist alles.“

,,Mit wessen Kraft hast du gekämpft?“

Er hob den Blick und traf den von Dwalin. Dann machte er einen Schritt auf ihn zu. ,,Mit einer sehr machtvollen.“

,,Thorin, was auch immer du tust, sei…“ Seine Warnung fand kein Gehör mehr.

Ein Rabe hockte auf dem Steinwall und schlug krächzend Alarm.

Schlagartig kippte Thorins Stimmung. ,,Komm mit.“

,,Was ist da los?“, fragte jemand, bekam jedoch keine Antwort. Die Männer ließen alles liegen und folgten ihrem Anführer, der mit weiten Schritten durch die Halle eilte. Sie liefen die Treppe hinauf, die sie mit Steinen hochgezogen hatten, um auf die Mauer zu gelangen.

Und dort sahen sie die Elben.

In langen Reihen standen sie auf Dales Mauern. Ein Dargebot ihrer Anwesenheit und Größe.

Es waren die gleichen goldenen Rüstung, die gleiche Reflexion in der Sonne, die Thorin wissen ließ, zu welchem Elbenfürst dieses Heer gehörte. Schon einmal hatte er sie gesehen. Damals, als sie auf dem Bergkamm standen und zugesehen hatten, wie sein Volk heimatlos wurde.

Seine Finger krallten sich in die Zinnen. Dieser Elb, der sein entstelltes Gesicht hinter einer Maske seiner Kräfte verbarg, hatte sich also mit den Menschen verbündet und war heimlich in die Stadt gelangt. Sie mussten die ganze Zeit dagewesen, knurrte er in sich hinein. Tiefliegender Hass breitete sich wie Gift in seinem Körper aus.

Das Geräusch von Hufeisen auf dem steinigen Weg erregte ihre Aufmerksamkeit. Kurz darauf kam das Pferd in Sicht, das den Weg nach Erebor hinauf galoppierte. Es war ein stämmiger Schimmelhengst und sein Reiter war niemand anderes als Bard.

,,Seid gegrüßt, Thorin, Sohn von Thrain!“ Vor den Stufen der Grabenbrücke parierte er schließlich durch. ,,Dass Ihr noch am Leben seid, wagten wir nicht zu hoffen.“ Der Held Esgaroths trug noch genau den gleichen abgewetzten Mantel aus Rehhäuten, doch unter diesem schimmerte ein dunkles, nagelneues Kettenhemd.

,,Warum kommt Ihr in Kriegsrüstung an das Tor des Königs unter dem Berge?“, fragte Thorin mit einer Stimme, die meilenweite Distanz in sich trug.

,,Warum verschanzt sich der König unter dem Berg, wie ein Räuber in seiner Höhle?“

,,Vielleicht weil ich erwarte, beraubt zu werden.“

,,Mein Herr, um Euch zu berauben sind wir nicht hier. Nur um einer gerechten Einigung willen. Wollt Ihr nicht mit mir sprechen?“

Er hatte nicht geglaubt, ihren Schmuggler jemals wiederzusehen. Abschätzend betrachtete Thorin das Kettenhemd, fragte sich, wie sehr dieser Mensch schon unter dem Einfluss des Waldelben stand. Gegen den Rebellenanführer und seine Anhänger hätten sie den Berg vielleicht noch verteidigen können. Nun hatten sich beide - Mensch und Elb - zusammen gegen sie verschworen und waren ihnen zahlenmäßig hoffnungslos überlegen.

Thorin nickte und wies Bard mit einer Kopfbewegung an, näher zu treten. Seine Männer gingen bereits wieder in die Halle hinunter, um das folgende Gespräch besser verfolgen zu können, doch er hielt dem Raben den Arm hin, worauf dieser sprang. ,,Flieg, so schnell dich die Winde tragen.“ Krächzend stieß sich der schwarze Vogel ab, gewann an Höhe und verschwand mit der Nachricht an seinem Fuß in Richtung Osten.

 

Durch das Aufeinanderstapeln der Steinbrocken waren Lücken in der Mauer entstanden. Sie waren nicht groß, groß genug jedoch, um sich durch diese sehen zu können. Als Thorin Bards Schritte auf der anderen Seite des meterdicken Walls hörte, trat er an ein solches Loch. ,,Ich höre.“

Bard holte neuen Atem. ,,Im Namen der Bürger der Seestadt, ersuche ich Euch, Euer Wort zu halten. Ein Anteil am Schatz, damit sie ihr Leben neu aufbauen können.“

Diese Bitte stieß angesichts der Drohung durch die Elben bei ihm auf taube Ohren. ,,Ich werde mit niemandem verhandeln, solange ein Heer in Waffen vor meinem Tor steht.“

,,Dieses ,Heer in Waffen‘ wird den Berg bei Sonnenaufgang angreifen, wenn wir uns nicht einig werden“, entgegneter der Mensch beinahe schon drängend.

Gleichgültig hörte Thorin es sich an. ,,Eure Drohungen beeindrucken mich nicht.“

,,Und Euer Gewissen? Sagt es Euch nicht, dass unser Anliegen rechtens ist?“ Bard stützte den Arm ab und beugte sich näher heran, als wollte er seine Worte unterstützen. ,,Mein Volk hat Euch geholfen. Und zum Dank brachtet Ihr ihnen nicht weiter als Verderben und Tod.“

Thorin konterte scharf: ,,Wann haben die Menschen aus der Seestadt je geholfen ohne dafür reich belohnt werden zu wollen?“

,,Wir haben eine Abmachung!“

,,Eine Abmachung?!“, wiederholte er zornerfüllt, die silbern schimmernden Augen auf ihn gerichtet. ,,Was konnten wir tun, als unser Geburtsrecht gegen Decken und Essen zu verschachern? Als unsere Freiheit mit unserer Zukunft zu erkaufen?! Das nennt Ihr einen gerechten Handel?“ Thorin legte den Kopf schief, machte eine Pause, um seinen Worten Wirkung zu geben. ,,Sagt mir, Bard der Drachentöter, warum sollte ich solche Regeln anerkennen?“

Nachdem er erst verwundert über sein Wissen von seiner Tat geschwiegen hatte, lehnte Bard sich erneut vor. ,,Weil Ihr uns Euer Wort gegeben habt“, antwortete er mit fester Stimme. ,,Bedeutet das denn gar nichts?“

Auf einmal ging eine Veränderung in ihm vor. Da war plötzlich die Stimme einer Frau… Komm zurück zu mir… flehend und zerbrechlich. Du hast es mir versprochen. Er konnte sich nicht mehr auf das Gesicht ihm gegenüber konzentrieren. Thorin. Sie rief ihn. Thorin… Das Echo seines eigenen Namens hallte in seinem Schädel wieder. Spürbar pochte sein Herz ihm gegen die Rippen, als wollte es der Stimme antworten, als wären sie miteinander verbunden. Sie zerbrach seinen inneren Kern und zerrte eine Schwäche ans Tageslicht.

Nackt. Verwundbar.

Liebe.

Als könnte er dem entfliehen, zog Thorin sich zurück, musste sich gegen den Wall lehnen, als seine Beine drohten, ihm den Dienst zu versagen. Was war das? Er musste sich aufs Atmen konzentrieren. Es war, als würden zwei Mächte in ihm ihren Streit austragen, sein Inneres als Schauplatz eines Kampfes missbrauchen. Schwarz gegen weiß. Dunkel gegen Licht…

Langsam hob er den Blick. Vor ihm versammelt standen seine Männer und starrten ihn an.

Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um Schwäche zu zeigen. Die Bestie bäumte sich auf und verbannte diese Schwäche dorthin zurück, wo sie herkam. Thorin zerrte jegliches Empfinden von Liebe in den hintersten Winkel seiner Seele und sperrte es weg. Sie wollen einen Anteil an dem Schatz meines Volkes? Dann sollen sie ihn sich holen. Wir sind bereit. Niemals wieder würde man seinem Volk das nehmen, was ihnen zustand und wofür er gekämpft hatte. Ihre Heimat. Sie würde man nicht in die Knie zwingen können. Niemals.

,,Verschwindet!“, bellte Thorin ihm die Aufforderung entgegen. ,,Ehe unsere Pfeile fliegen!“

Vor Wut schlug Bard gegen die Mauer. Er stapfte zurück, schwang sich auf das Pferd und trieb es an.

Zurück auf der Mauer sahen die Gefährten, wie er in Richtung Dale verschwand.

,,Was tust du?“ Bilbo konnte nicht länger schweigen und doch fehlten ihm die Worte für Thorins Handeln. ,,Du…Du kannst doch keinen Krieg führen“, wisperte er und sprach seine heimlichsten Ängste aus, wie ihm plötzlich bewusst wurde. Wie hatte sich der Lauf der Dinge bloß so entwickeln können?

Thorins Blick war in die Ferne gerichtet, als er ihm mit dieser oft gehörten kalten Stimme antwortete. ,,Das geht dich nichts an.“

,,Entschuldige, aber falls du es noch nicht bemerkt hast: ein Elbenheer steht dort unten vor dem Tor! Ganz zu schweigen von hunderten zorniger Fischer.“ Alle drehten sich zu dem kleinen Hobbit und seinem impulsiven Ausbruch um. ,,W-wir sind deutlich in der Unterzahl.“

,,Nicht mehr sehr lange“, entgegnete ihr Anführer mit dem Hauch eines Schmunzeln, was Bilbos schlechtes Gefühl nur noch verstärkte. Auch die anderen horchten auf. ,,Was soll das heißen?“

,,Das heißt, Meister Beutling“, Thorin stellte sich direkt vor ihm und flüsterte ein dunkles Versprechen, ,,dass man Zwerge niemals unterschätzen sollte. Wir haben den Erebor zurück“, wandte sich der König dann an all seine Männer. Leidenschaft und Gnadenlosigkeit vereinten sich in seiner Stimme zu einem Vorhaben, was in Stein gemeißelt wurde. ,,Nun verteidigen wir ihn.“

Hilfe- und antwortsuchend sah Bilbo durch die Runde, sah zu Balin, doch der alte Zwerg wandte sich mit Tränen in den Augen ab. Nie zuvor in seinem Leben hatte Bilbo sich so machtlos gefühlt. Alles lief auf einen Krieg hinaus und sie konnten nichts anderes als zuschauen, wie die Krankheit Thorin mehr und mehr in ihre Gewalt brachte.

 

 

 

 

16

 

,,Ori.“ Gloin drückte ihn auf einen Stuhl. ,,Du schreibst.“

Ori fand sein Gleichgewicht wieder und schaute unschlüssig auf die Feder, die in einem vor ihm platziertem Tintenfässchen steckte, und auf das leere Blatt Papier, was ihm Bofur zuschob. Dann hob er den Blick zu den anderen, die sich um den großen Tisch im Ratssaal versammelt hatten.

Am Saaleingang hatte Bifur Stellung bezogen. Mit einer Schnitzarbeit beschäftigt behielt der Zwerg die Treppe im Auge, um bei der kleinsten Regung dort unten den anderen Bescheid zu sagen.

Alle waren sich darüber im Klaren, dass das, was sie hier taten, hinter dem Rücken ihres Anführers von statten ging. Seit vorhin war Thorin unauffindbar. Er mied das Beisammensein mit den anderen, war noch verschlossener als sonst.

Zögernd griff Ori nach der Feder. ,,Und was soll ich schreiben?“

,,Fang mit ,,Liebe Marie“ an“, schlug Kili vor, der auf einem der Stühle fläzte. ,,Das geht immer.“

Ori, der in den Blauen Bergen eine Ausbildung als Schreiber begonnen hatte und daher dem Schreiben der Gemeinen Zunge mächtig war, tunkte den Federkiel ins Fässchen, streifte überschüssige Tinte sorgsam ab und schrieb.

Bis auf Dori und Nori, die Wachdienst am Tor hatten, waren alle Gefährten zusammengekommen. Man hoffte, dass die beiden Halbbrüder sich wenigstens für ein paar Stunden zusammenreißen würden, um aufmerksam genug bleiben zu können. Bombur stand an einem Feuerkorb, über dem sich unter schmachtenden Blicken der anderen Kaninchen an Spießen langsam um sich selbst drehten. Einstimmig hatte man beschlossen: Wurzelsuppe sollte es nie wieder geben!

Sie hatten Glück, dass es von Kaninchen genug in den einst verlassenen Hochebenen gab. Jetzt bei dem Schnee mussten sich die Tierchen aus ihren Verstecken wagen, um selbst nach Futter zu suchen. Eine Nahrungsquelle, die in ihrer Situation unentbehrlich war.

Zum verführerischen Duft des bratenden Fleisches kamen noch diverse Kräuter und Zwiebeln hinzu, die der dicke Zwerg ab und an auf die goldbraune Haut streute. Runde um Runde drehten sich die Spieße und den Männern grummelten die Mägen.

,,Und wie weiter?“, fragte Ori, als der letzte Strich gesetzt war.

,,Hmm…“ Fili ihm gegenüber stütze die Ellenbogen auf den Tisch ab und wickelte sich beim Grübeln eine blonde Haarsträhne um den Finger. ,,Dass es uns gut geht und dass sie sich keine Sorgen machen soll.“

Ori nahm neue Tinte und die Feder flog nur so über das noch leere Blatt. Neugierig spähte Bofur über seine Schulter.

Plötzlich setzte sich Bifur kerzengerade auf. Wie ein Habicht starrte er die Treppe hinab.

,,Reg dich ab, Bifur. Ich bin’s doch bloß“, hörte man Dwalins Brummen. ,,Ich hab das Federvieh!“ Er trug ein dunkles Bündel unterm Arm. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte man, dass es ein Rabe war, gut verschnürt wie ein Paket.

Balin bestrafte ihn mit einem äußerst vorwurfvollen Blick. ,,Bei Durin, musste das sein?“

,,Das Vieh hat nach mir gehackt!“ Der Rabe knackte mit seinem Schnabel, als wäge er ab es noch einmal zu tun.

,,Dwalin!“, rief Oin entrüstet. ,,Also wirklich.“

Während Gloin seinen schwerhörigen Bruder sein Missverständnis klarmachte, nahm Balin den Vogel und befreite kopfschüttelnd das Tier. ,,Wenn wir ihnen keinen Respekt entgegenbringen, dann werden sie es andersherum auch nicht tun.“ Kaum hatte er die Flügel frei, brachte der Rabe sich eilig auf dem Vorsprung der Glasfenster in Sicherheit.

Frustriert raufte sich Dwalin seinen nicht mehr vorhandenen Irokesen. ,,Hast du eigentlich eine Ahnung, wie lange ich dazu gebraucht habe?“

Der Rabe warf beim Krächzen den Kopf vor und zurück. ,,Krah! Schwachkopf!

Er ballte die Fäuste und verfluchte das Tier, das ihm viel Überredungskunst und noch mehr seiner nicht vorhandene Geduld gekostete hatte.

,,Sei nett zu ihm, Dwalin. Wir brauchen ihn“, versuchte Bilbo zu schlichten, der die Initiative gehabt hatte, einen Brief nach Kerrt zu schicken. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass sie einen zweiten Raben brauchen werden, in der festen Annahme, dass auch die Männer Briefe in die Blauen Berge schicken wollten, um ihren Familien Nachrichten zu schicken, doch sie hatten sich nicht dazu geäußert. Vielleicht wussten die gestandenen Krieger ganz einfach nicht, was sie an ihre Liebsten schreiben sollten. Oder, wie Bilbo am ehesten dachte, war ihre Sehnsucht zu groß, um es niederzuschreiben können. Gern hätte auch er jemandem geschrieben, doch Zuhause in Beutelsfeld wartete niemand auf ihn.

,,Zeig mal, was du bis jetzt hast“, forderte Kili.

Der schwarze Vogel saß im Lichtkegel der Fenster und verfolgte das Geschehen unter sich.

Ori nahm den Brief und laß vor. ,,Liebe Marie… “

,,Lauter!“

,,Kann einer dem alten Kauz mal sagen, er solle seinen Trichter auch benutzen, wenn er den schon hat“, murrte Dwalin immer noch beleidigt. Gloin drückte das besagte Blechstück Oin gegen die Brust.

Nach einem Räuspern begann Ori von Neuem:

,,Liebe Marie, wir schreiben dir, um dich wissen zulassen, dass Erebor wieder unser ist. Wir sind alle wohl auf, doch erleben unruhige Zeiten. Wir grüßen dich alle und hoffen, dass es auch dir gut geht. Bitte sorg dich nicht. Wir lassen dich wissen, wann es sicherer ist, auf dass wir uns schon bald

wiedersehen werden.

Er legte das Schriftstück beiseite und schaute selbstzufrieden in die Runde. ,,Und? Was haltet ihr davon?“

Kili kratzte sich die Bartstoppeln. ,,Irgendwie…nichts sagend.“

,,So soll es auch sein“, widersprach Balin. ,,Falls der Brief in falsche Hände kommen sollte.“

,,Ganz richtig“, meinte Bofur. ,,Wir wollen Marie ja nicht unter die Nase reiben, dass wir fast ertrunken, mehrfache Festnahmen hinter uns haben oder beinahe flambiert worden sind - oder dass wir kurz vor einem Kampf stehen.“

,,Meine Axt ist geschärft“, rief Dwalin allen ins Gedächtnis. ,,Sollte mir so ein Spitzohr davor laufen, schicke ihn in seinen Einzelteilen zu seinem feigen König zurück.“

,,Krah! Angeber!“, ertönte es von weiter oben.

,,Bombur, hast du noch einen Spieß für diese vorlaute Nebelkrähe übrig?“

,,Dort unten in den Ruinen hocken ein paar Fischer und jetzt auch Elben“, sprach Gloin, der sich die Hände am Feuer wärmte. ,,Wir werden es keinem von beiden so leicht machen.“ Er lachte und bekam laute Zustimmung von den kampferprobten Männern. Bilbo hingegen musste schlucken und hoffte wohl als einziger weiterhin auf irgendeine friedliche Lösung.

Balin nahm den Brief an sich und überflog die wenigen Zeilen noch einmal. ,,Unruhige Zeiten… Gut gemacht, Junge. Sie wartet sicherlich schon auf ein Lebenszeichen von uns.“ Dann nahm er die Feder und unterzeichnete. Sie wurde herumgereicht und jeder schrieb seinen Namen unter die Zeilen. Ori setzte sie für seine Halbbrüder darunter und hielt inne. ,,Sollen wir Thorins auch darunter schreiben?“

,,Das allerwichtigste Weglassen?“ Bofur griff wie selbstverständlich zur Feder. ,,Sie muss nach ganz oben…“

,,Halt!“ Gerade noch so konnte Bofur verhindern, dass ein Tintenklecks das Blatt beschmutzte. Kili sah ihn strafend an. ,,Seine Unterschrift fälschen? Bei dir piepsts wohl!“

,,Und was sollen wir deiner Meinung nach machen? Auf den Knien rutschend deinem Onkel das Blatt hinhalten und ihn ganz lieb bitten?“

,,Aber Marie wird sich doch fragen, warum ausgerechnet sein Name nicht darunter steht“, warf Ori ein und eröffnete mit diesem Vorwurf eine hitzige Diskussion. Durcheinander, quer über den Tisch und über Oris eingezogenen Kopf hinweg wurde darüber gestritten.

,,Er hat die Drachenkrankheit.“

Es wurde so leise, dass keiner eine Nadel unbemerkt hätte fallen lassen können. Wegen der ernsten Stimme, aber noch mehr wegen der Offenlegung allen Übels.

Alle hatten den Blick auf Fili gerichtet, als sich dieser von seinem Platz erhob.

,,Dwalin, Balin, Bilbo, was ihr uns berichtet habt… Es passt alles ins Bild. Wir alle haben ihn gesehen, wie er sich verändert hat und verändert, sobald man mit ihm spricht. Es geschieht vor unseren Augen und wir können nichts dagegen tun. Es gibt kein Heilmittel. Wir können es leugnen, ja, aber die Krankheit ist ausgebrochen. Sie ist da, ist in ihm. Und sie wird immer schlimmer.“ Etwas in seiner Brust spannte sich schmerzlich. Erkennen zu müssen, dass andere, die dies bereits lange zuvor mit bösen Zungen gesagt hatten, recht behalten sollten, tat einfach nur weh. ,,Balin hat es mir erzählt. Was die Krankheit mit einem anstellt...“ Traurig blickte er auf den Brief vor sich. ,,Jegliche Liebe wird für Thorin irgendwann erloschen. Wahrscheinlich empfindet er schon nichts mehr für Marie. Er wird diesen Briefen nicht unterschreiben. Aber wir werden es tun.“ Damit nahm er die Feder und schrieb in schöner, geschwungener Schrift Thorin Eichenschild zu all den anderen Namen.

Mehr Worte bedurfte es nicht.

Schweigend holte Balin einen Umschlag hervor, tat den gefalteten Brief hinein und nahm eine der Kerzen vom Tisch, ließ ihr heißes Wachs darauf tropfen, um ihr Geheimnis zu versiegeln.

Überrascht riss Bilbo die Augen auf, als man ihm den Brief in die Hand drückte.

Dwalin stieß ihn in die Richtung des Vogels. ,,Deine Idee: du holst den da runter! Ich lasse mir von der Nebelkrähe keinen Finger abzwacken.“

Mit einem mulmigen Gefühl betrachtete Bilbo den großen Schnabel des Vogels. In dessen Gefieder erwachten die Feuerscheine im Saal zum zweiten Leben, als er beleidigt über diese Bezeichnung sich aufplusterte und vor Entrüstung sogar eine Feder verlor. ,,Rabe nicht Krähe! Nicht Krähe!

,,Er… Er hat es nicht so gemeint!“ Bilbo trat ein paar Schritte näher. ,,Bitte verzeih, aber wir brauchen dich.“ Er räusperte sich und sah bemüht, entschlossener zu sein, zu ihm hinauf. ,,Du wirst uns jetzt helfen, Rabe.“

,,Futter!

Die Forderung brachte Bilbo wieder aus dem Konzept. ,,In Ordnung. Du bekommst so viel Futter wie du willst, wenn du den Brief übergeben hast. Es ist ganz wichtig.“ Er dachte nach, wie er es dem Vogel schmackhafter machen konnte. ,,Nur ein solch begabter Flieger, wie ihr Bergraben es seid, könnte diese Aufgabe erfüllen. Wir brauchen einen Raben, der schneller und ausdauernder ist, als alle anderen. Einen wahren Meisterflieger.“

Der Rabe tapste auf dem Vorsprung hin und her, legte den Kopf schief, als haderte er noch, ihnen den Gefallen zu tun. ,,Brief für wen?

,,Für Marie. Sie ist…“ Bilbo blieb der Mund offen. Wie in aller Welt sollte er Marie beschreiben? Ihm fielen tausende Sachen ein, die letztendlich doch nicht passen, weil sie ihr nicht gerecht wurden.

,,Sie ist eine ganz besondere Frau“, endete er deshalb ganz einfach.

Der Vogel stieß dieses typisch quakende Geräusch für Raben aus. Dann breitete er die Flügel aus und glitt als Schatten durch den Saal. Bilbo zuckte zurück, als scharfe Krallen sich nach dem Umschlag ausstreckten. Sie klaubten ihn direkt aus seiner Hand, ehe er sie zurückziehen konnte. Beim Landen auf dem Tisch erlosch eine der Kerzen unter der aufgewirbelten Luft. Der Vogel blickte auf den Brief in seinen Krallen und dann zu Bilbo. ,,Glanzfeder fliegt. “

Dankbar lächelte er. ,,Danke, Glanzfeder.“

Wie das erste, bedrohliche Grollen eines Gewitters erklang Thorins Stimme aus dem Inneren des Berg. ,,Luok maghtar!“ Alle schauten auf und urplötzlich war der Raum von einer unnennbaren Spannung erfüllt. Tiefreichende Ernsthaftigkeit lag auf den Gesichtern aller Krieger.

,,Es geht los“, murmelte Balin leise.

Irritiert sah Bilbo um sich, als jeder der Männer sich auf das, für ihn unsichtbare Zeichen hin erhob. Beunruhigt legte er die Stirn in Falten. Was ging los? Was hatte das zu bedeuten?

Der Rabe schlug mit den Flügeln. ,,Bergkönig!

,,Pscht, halt den Schnabel!“

,,Eil dich.“ Balin scheuchte ihn mit sich hinaus. ,,Lass ihn fliegen. Er darf den Brief nicht sehen.“

,,Maghtar!! “, brüllte Thorin erneut.

,,Glanzfeder, komm.“ Zu Bilbos Erstaunen flog der Rabe mit dem Umschlag in seinen Fängen zu ihm.

,,Aber das Essen ist fertig!“

,,Nimm die Spieße einfach vom Feuer, Bombur. Das muss warten.“

Dieser nahm die fertigen Braten und legte sie notgedrungen auf dem Tisch ab. Der dicke Zwerg musste sich beeilen, um die anderen noch einzuholen.

,,Geh, Bilbo, es wird Zeit.“ Am Ende der Treppe hatte sich Balin zu ihm umgedreht. ,,Komm nach, wenn du es erledigt hast.“

Bilbo nickte und eilte mit dem Raben auf seiner Schulter in die entgegengesetzte Richtung wie die anderen. Er wusste nicht, was das alles bedeutete, doch er hoffte, dass der Kampf, in den die Zwerge mit Stolz und Ehre gehen würden, nicht schon jetzt begann.

 

~

 

Mit den Worten: ,,Bring das nach Kerrt, ein Dorf östlich des Nebelgebirges. In dem Haus am Waldrand wirst du sie finden“, wurde der Rabe am Tor des Zwergenreiches entlassen.

Glanzfeder ließ den Hobbit am Erdboden zurück und erhob sich in den, mit Schneewolken gefüllten Himmel und folgte dem eingefrorenen Flusslauf, der an den Ruinen der alten Stadt entlang führte. Hütten aus Stoff waren innerhalb der Stadtmauern aufgestellt worden. Vom Schall der Steinwände wurden metallisches Hämmern und viele Stimmen zu ihm hinauf getragen. Glanzfeder umkreiste die Stadt, um auch einen Blick auf den Lange See hinüber zu werfen, von dem die Seemanschen stammten. Verkohlte, schwarze Reste. Mehr war von ihrer Stadt nicht übrig. Und inmitten darin erkannte er etwas, was kein Holz gewesen war. Der Rabe spielte mit dem Gedanken, hinunter zu fliegen und sich das genauer anzusehen. Doch er besann sich wieder auf seinen Auftrag, denn genauso wie er ein neugieriger Vogel war, war er auch ein stolzer. Schon seit Generationengedenken stammten aus ihrem Clan die persönlichen Boten des Königs und Glanzfeder sah es als Ehre an, in die Krallen seiner Vorfahren zutreten. Beschwingt von seinem ersten Auftrag als Bote flog er seinen Kreis noch zu Ende und wandte sich dann nach Westen ab.

Wenn er einen guten Windfluss fand, ließ der Rabe sich von diesem tragen. Dann glitt der kalte Wind wie von alleine über die Schwingen, perlte wie Wasser daran entlang, und er konnte Kraft sparen. Doch kalte Luft trug nicht gut und so musste er öfters mit Flügelschlägen aushelfen.

Eine halbe Flugstunde vom Erebor entfernt erstreckten sich ausgedehnte Ebenen. Zwischen gelbem Gras ragten graugesprenkelte Felsen aus der Erde. Weit und breit war kein Baum zu sehen.

Die Wintersonne stand schon tief. Nur drei Spannen waren noch zwischen dem glühenden Ball und dem Horizont Platz. Glanzfeder fasste den Umschlag fester und legte mehr Kraft in die Flügelschläge. Er wollte so schnell wie möglich diese baumlose Landschaft hinter sich lassen, um in der Nacht Schutz finden zu können, doch schon von weitem sah er etwas, was seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Weil es nicht in die Landschaft passte, fiel es ihm sofort ins Auge. Je näher er kam, desto größer wurde der dunkle Fleck, der sich vor ihm auftat. Und lebendiger.

Wie ein Wurmwesen bewegte sich dieses Gebilde ihm entgegen. Mit seinem Näherkommen schwollen auch verschiedenste Geräusche an, die es ausstieß. Glanzfeder legte den Kopf schief und flog einen Bogen, um dieses Wesen genauer zu beäugen. Doch zu spät erkannte er die Gefahr.

Ein Pfeil schoss in den Himmel empor und durchdrang seinen Flügel. Fremde, stinkende Federn und Blut beschmutzten sein schönes Kleid. Der Rabe geriet ins Taumeln. Der Flügel versagte ihm und er sank strauchelnd in die Tiefe.

 

Glanzfeder riss die Augen auf und sah den Himmel über sich, der so schrecklich weit weg war. Sein geliebter Himmel! Noch benommen lag er still und doch bewegte er sich. Nein, nicht er. Etwas anderes bewegte sich. Direkt unter ihm.

Der Vogel ließ den Kopf hängen und sah Muskeln und drahtige Sehnen sich gemächlich unter weißem Fell bewegen. Er stieß ein Laut des Erschreckens aus. Sein Köpf schnellte wieder hoch. Schutzlos lag er auf dem Rücken, umschlossen von den Fingern einer riesigen Hand. Sein kleines Herz hämmerte wie verrückt, als er seinem Fänger ins Gesicht sah. Augen wie Eis blickten auf ihn herab und Glanzfeder begann am ganzen Körper zu zittern. Der bleiche, kahlköpfige Ork trug eine hellgraue Rüstung. Weißes, verfilztes Fell kam unter den Rändern seines Harnischs hervor. Muskelbepackte Schultern konnte der Vogel sehen, sowie einen zerrissenen Lendenschurz aus dünnem Leder, der die Hälfte seiner kräftigen Oberschenkel bedeckte. War das da der Schädel eines Vogels an seinem Gürtel? Dem Raben wurde schwindlig. Doch am Schlimmsten war sein Gesicht.

Vor Furcht legte Glanzfeder das Gefieder an. Noch nie hatte sie so einen Ork gesehen. Seine Wangen, Kinn und Schläfen waren von tiefen Narben durchzogen, die aus keinem Kampf stammten. Dafür waren sie zu ebenmäßig. Es war vielmehr so, als hätte er sie sich absichtlich zugefügt.

Was Glanzfeder erst jetzt wahrnahm, war die riesige Legion von Orks, die hinter ihnen her marschierte. Finstere Gesichter waren hinter Helmen verborgen, aus denen ihre heißen Atem als stinkende Wolken in der Luft verflogen. Es war das immerzu hörende Klappern ihrer schwarzen Rüstungen, was ein stetes, rhythmisches Murmeln war. Unzählige Speere standen wie Stacheln bedrohlich in den Himmel.

Ihr Fänger, der an der Spitze ritt, verzog seine dünnen Lippen zu einem grausamen Lächeln. Glanzfeder versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, doch es war hoffnungslos. Sein Flügel tat so weh.

Gerade wurde der Rabe in seiner Hand wie ein Stück Fleisch abgewogen, als ein anderer Wargreiter zu ihnen aufschloss. Er ritt auf einem grauen Tier, war genauso breitschultrig und großgewachsen wie der Bleiche. Durch eine alte Verletzung war eines seiner Augen erblindet. Über die Hälfte seines Schädels lag eine Eisenplatte zwischen der Haut. Genauso bizarr steckten Teile einer zackenbewehrten Rüstung in seinem unbedeckten Oberkörper.

Sie begannen in Schwarzer Sprache zu sprechen. Glanzfeder konnte nur den grässlichen Lauten und dem Hämmern seines Herzens horchen und sich weiterhin verzweifelt an dem Brief festkrallen.

,,Waldland Elben!“ Bolg stoppte vor seinem Herrn. ,,Der Königssohn und eine Elbe. Sie kamen uns in Seestadt dazwischen.“

Glanzfeders Fänger verzog keine Miene. Stattdessen hob er seinen linken Arm. Ein Schwert kam in sein Blickfeld und noch einmal schwindelte es dem Raben. Wo einst sein Unterarm war, steckte ein Schwert mit einer geschwungenen Klinge aus grobem Stahl im zurückgebliebenen Stumpf des Ellenbogens. Von seiner Spitze bis zur Mitte hin war es gespalten, sodass zwei eng stehende Spitzen in den Himmel zeigten. Jemand musste ihn dem Arm abgeschlagen haben.

Begleitet vom Scheppern der Rüstungen kamen hunderte Orks hinter ihm zum Stehen. Den Vogel in seiner Hand vergessen zog er seinem Warg im Nackenfell, der daraufhin begann, den anderen zu umrunden. Warnend wie seine Stimme es war, erhob Azog der Schänder seinen verkrüppelten Arm. ,,Und du hast sie getötet?“

,,Sie flohen, quiekend wie feige Maden.“

,,Du Narr!“ Glanzfeder zuckte zusammen. Noch tiefer senkte Bolg den Kopf.

,,Sie werden zurückkommen. Mit einer Armee von Elben in ihrem Rücken!“ Die Hand schloss sich fester um den Vogel. Der Rabe kreischte auf, doch der Ork scherte sich nicht um ihn. ,,Du solltest ihn töten! Ich gab den Auftrag an dich weiter, Eichenschild zu töten.“

 ,,Eichenschild war schon lange fort.“

Azog atmete tief durch, als wollte er sein Gemüt ruhig halten. ,,Ist wenigstens der Zwergenbengel tot, von dem du mir berichtet hast. Der Prinz? Einer deiner Morgul Pfeile hatte ihn doch im Grünwald getroffen, nicht wahr?“

,,Wahrscheinlich.“

Ein raues Knurren drang aus seiner Kehle. ,,Ein Wahrscheinlich genügt mir nicht! Ich will ihre ganze Familie tot sehen! Hast du mich verstanden?“ Er trieb seinen Warg näher an ihn heran. ,,Du hast schon einmal versagt. Ein weiteres Mal wird es nicht geben. War das deutlich genug?“, zischte Azog ihm direkt ins Gesicht. Ehrfürchtig hielt Bolg den Blick gesenkt, presste die faulen Zähne aufeinander. Nachdenkend lehnte sich Azog wieder zurück. ,,Reite nach Gundabard“, befahl er schließlich. ,,Lass unsere Truppen vorrücken.“

Bolg nickte. Er rammte seine Fersen in den Leib seines Reittieres und ritt nach Norden davon.

Azog sah ihm nach, drehte dann seinen weißen Wolfsbären zu der Front seines Heeres. ,,Elben! Menschen! Zwerge!“, stachelte der Herr von Moria sein Gefolge an, das vor Blutgier begann, ihre Waffen gegen die Schilde zu schlagen. Brüllen mischte sich unter den immer lauter werdenden Lärm, ließ Glanzfeder vor Angst erstarren. Und dazwischen der Ruf ihres Heerführers zum Aufbruch: ,,Der Berg wird ihr Grab sein!“

Der Klang eines großen Kriegshorns war das letzte, was Glanzfeder hörte, ehe die Hand seinen Hals griff. Mit einem grässlichen Knacken brach Azog dem Vogel das Genick, beugte sich vor und gab ihm seinen Warg zu fressen. Blutige Federn taumelten zu Boden, sanken auf den bereits dort liegenden Umschlag nieder und verloren ihren Glanz.

Die Legion setzte sich in Bewegung und zertrampelte den Brief bis zur Unkenntlichkeit.

 

 

17

 

Das Licht der Fackeln im hinteren Teil reichte nicht aus, um die ganze Waffenkammer auszuleuchten. Ihr Orange stand im Kontrast zu dem besonders beeindruckenden Petrolgrün der Steinwände in diesem Teil des Berges, flackerte als Wiederspiegelungen auf jeglichem Metall. Massive Säulen hielten die Decken und unterteilten den Raum in dem auch noch nach Jahren Rüstungen auf die Rückkehr ihrer Besitzer warteten. Ordentlich aufgereiht standen die Waffen in hölzernen Haltern. Wie eine zweite Haut lag der Staub auf den Klingen und Spitzen, bedeckte ihre immer noch darunter liegende Schärfe, wartend, dass ihre Zeit auf ein Neues begann.

Nur zögerlich tapste Bilbo in die Richtung, aus der die Stimmen und die Quellen des Lichts rührten. Am liebsten würde er sich irgendwo verstecken.

,,Meister Beutling, kommt her!“

Er ballte die Fäuste und schluckte das flaue Gefühl im Hals runter. Doch anstatt zu verschwinden, rutschte es ihm bis in den Magen. Widerstrebend ging er tiefer in die Waffenkammer hinein, der Person entgegen, die ihn gerufen hatte.

Wie in einen Kokon aus diffusem Licht gehüllt stand Thorin vor ihm. Der schleierhafte Schein ließ seine Umrisse und ihn selbst glühen. Als er dem Hobbit entgegen trat, klapperte leise seine vergoldete Rüstung. Obwohl man ihre Schwere nur an seinen Schritten erahnen konnte, konnte man sie dem großgewachsenen Zwerg nicht ansehen. Nur sein Kopf war unbedeckt, sodass seine Haare locker auf das veredelte Metall fielen. Bilbo war fasziniert von den detaillierten, dunkler abgesetzten Ausführungen auf den Rüstungsteilen: die Schulterstücke ähnelten Rabenhälften, Halsberge und Harnisch waren bedeckt wie von mehreren Lagen Platten – undurchdringbar für jeden Speerstoß. Bis zum Knie bedeckten Beinschienen die Schienbeine, wo oberhalb von diesem der Rüstungsrock anschloss, der, wie er vermutete, für Bewegungsfreiheit mehrfach geteilt war. Um seine Taille trug Thorin seinen Gürtel, auf dem das Wappen Erebors zu sehen war, an den Armen dicke Schützer, die die Finger ausließen.

Erst jetzt sah Bilbo, dass er etwas in den Händen trug. ,,Das könnt dir nützlich sein“, sagte Thorin leise, als er vor ihm stehen geblieben war. ,,Leg es an.“

Verwundert betrachtete Bilbo für einen Moment das silberne Bündel, ehe er begann, seinen Mantel auszuziehen.

,,Dieses Hemd wurde aus Silberstahl geschmiedet.“ Thorin hob es hoch und sah ihn durch das feine Kettengewebe wie durch einen Seidenschleier an. ,,Mithril. So haben es meine Vorfahren genannt. Keine Klinge kann es durchdringen.“

Zögerlich fasste Bilbo den Saum und schob sich das Hemd über den Kopf. Thorin sah auf den kleinen Hobbit hinab, der es sich umständlich zurecht zog, und bemerkte zufrieden, dass sich sein altes Mithril passend um seine schmale Brust schmiegte.

Aus seinem Augenwinkel erkannte Bilbo, dass alle anderen, die mit ihren eigenen Rüstungen beschäftigt gewesen waren, für einen Moment inne hielten und ihn ansahen. Bilbo wurde zunehmend unbehaglicher. Er sah Thorin an, der wie ein richtiger König aussah und dann an sich selbst hinab. Der Unterschied hätte nicht größer sein können.

,,Ich sehe lächerlich aus. Ich bin kein Krieger, ich bin ein Hobbit.“

,,Es ist ein Geschenk“, gab der Fürst nicht unfreundlich zurück. ,,Ein Zeichen unserer Freundschaft.“ Dann blickte er zu seinen Gefährten hinüber und sichtbar fielen seine Mundwinkel. Abschätzend wurden seine Züge. Voller Misstrauen. ,,Wahre Freunde findet man selten.“ Mit festem Griff packte er Bilbos Schulter und schob ihn vor sich her, bis er genug Abstand zwischen ihnen und den anderen geschaffen hatte. ,,Ich war blind! Doch jetzt sehe ich wieder klar.“ Er schob Bilbo hinter eine Ecke, sodass dieser fast stolperte. ,,Man hat mich verraten!“

Bilbo fuhr herum und starrte ihn an. ,,Verraten?“, echote er fast unhörbar. Sein Mäuseherz schlug ihm bis zum Hals. Er war aufgeflogen…

,,Der Arkenstein…“ Der Zwerg machte einen Schritt näher, beugte sich zu ihm, nur wenig Luft zwischen ihren Körpern. ,,Einer von ihnen hat ihn gestohlen.“

Hörbar entließ Bilbo seinen Atem, zwang den Drang nieder, die Augen vor Erleichterung zu schließen.

Hatten sie gedacht, er würde es nicht merken, dass sie etwas vor ihm geheim hielten? Ein Fehler, der sie nun verriet.

Letzte Nacht in der Schmiede hatte Thorin sich den Kopf darüber zerbrochen. Etwas ging hinter seinen Rücken vor, etwas, wovon er keine Ahnung hatte. Er hätte es schon viel eher erkennen müssen. Erst jetzt tat er es. Alles fügte sich zusammen und ergab einen Sinn. Sie hätten den Stein schon längst finden müssen…wenn er immer noch in der Schatzkammer wäre.

Zweifelst du an der Ergebenheit von irgendeinem hier?

Die Antwort lautete Ja. Es war die einzige Erklärung.

Enttäuschung und Zorn waren ins Unermessliche stiegen, als ihm klar geworden war, dass jemand den Arkenstein haben musste. Thorin hatte vor Wut getobt und das Kohlebecken umgestoßen. 

Glutbrocken waren durch die Schmiede geschleudert worden, bis er in einem Meer aus glühendem Feuer gestanden hatte. Das Wissen über den Verrat verdarb jeden einzelnen seiner Gedanken. Wollten sie durch den Arkenstein einen höheren Anteil an ihrer Belohnung haben? Waren sie von Anfang an nur auf den Stein aus, der den Königen vorbeihalten war? Erebors Schatz durch vierzehn teilen?  Das hatten sie sich nun gründlich verspielt. Er würde nichts davon mit Verrätern teilen!

Sie wissen, wo er ist. Thorin warf einen Blick über die Schulter zurück, hellwach für jeden Hinweis, den sie ihm lieferten. Oder für einem Angriff aus dem Hinterhalt. Er konnte ihnen nicht mehr vertrauen. Hinterhältig wahren sie den Schein. Wo sollte das Juwel sonst sein? In den Händen eines von ihnen! Die Bestie lag sehr dicht unter seiner Haut und ließ ihre Kraft in sein schweres Blut sickern.

,,Einer von ihnen ist ein Betrüger“, hauchte Thorin und ließ Bilbo mit seiner Stimme einen Schauer über den Rücken laufen. Ein silbernes Feuer loderte in seinen Augen, das an Wahnsinn grenzte. Bilbo bekam es das erste Mal in Thorins Anwesenheit wirklich mit der Angst zu tun. Er holte neuen Atem, sammelte seinen Mut zusammen, bevor er sich ganz verflüchtigen konnte. ,,Thorin, die Aufgabe ist erfüllt“, raunte er langsam, hoffte, er würde so sein Bewusstsein erreichen. ,,Du hast den Berg zurück. Ist das nicht genug?“

Ungerührt sah der König ihn an. ,,Verraten von meinen eigenen Leuten…“

,,Nein – ähm… Du hast den Menschen der Seestadt ein Versprechen gegeben. Du hast Marie ein Versprechen gegeben. “ Bilbo wusste, dass er unbefugtes Gebiet erreicht hatte, doch hoffte, dass die Krankheit nicht bereits schneller gewesen war und er durch ihre Erwähnung etwas in ihm erregen konnte. Es durfte noch nicht zu spät sein!

Doch der Schimmer in den Augen ihm gegenüber blieb unverändert.

Marie. So war ihr Name gewesen. Ein Name, der heute bedeutungslos war.

Die Bestie gab ihm Kraft und Stärke, verdrängte jegliche Sehnsucht und Liebe. Denn genau das war es, was verletzbar und schwach machte: Liebe war nichts anderes als Schwäche. Sein Innerstes war wehrlos gegen dieses Gefühl gewesen, das all die Zeit verborgen in seinem Körper verharrt hatte, bis zu jenem Tage, an dem es entfesselt wurde. Nun war es dabei, die Mauern seiner Seele einzureißen, um auch sie sich zu nehmen. Längst war die Macht nicht mehr fremd. Es war ein Teil von ihm. War es schon immer gewesen.

,,Ist dieser Schatz den wirklich mehr wert als deine Ehre?“, fragte Bilbo erneut und ließ ihn aufblicken, als Thorin nur ausdruckslos zu Boden gestarrte hatte. ,,Unsere Ehre, Thorin. Ich war dabei. Auch ich habe mein Wort gegeben.“

,,Und ich bin dankbar dafür“, antwortete er. Mit jedem Wort wurden seine Züge härter. ,,Das war großmutig, aber dieser Schatz in diesem Berg gehört nicht den Menschen aus der Seestadt. Dieses Gold …“ Das dunkle Feuer streifte sein Gesicht, wie das Streicheln einer Berührung. Thorin sah ihm direkt in die Augen und die Finsternis ballte sich in seiner Brust zu seiner ganzen Stärke. Eine Welle aus glühendem Hass rollte durch seine Venen und brach in seiner Stimme ans Licht. ,,… gehört uns. Uns allein.“ Langsam trat er von ihm fort, durchbohrte ihn mit seinem Blick, wollte ihn spüren lassen, was es hieß, ihn als Feind zu haben. ,,Bei meinem Leben… Ich werde mich von keiner einzzigen Münze trennen“, zischte er. ,,Keinem…noch so kleinen…Stück davon.

Nein. Bilbo hatte sich getäuscht. Alle täuschten sich.

Smaug war nicht tot.

Er lebte in Thorin weiter, trat in dem Ausdruck seiner Augen und seiner Stimme zum Vorschein. In Form einer gefährlichen und alles vernichtenden Krankheit. Thorin glich einem Drachen.

In diesem Moment marschierten seine Männer in voller Rüstung zwischen sie hindurch. Ihre schweren Schritte hallten über den glatten Boden, die Harnische und Schilde glänzend vor Entschlossenheit im Fackelschein, doch Bilbo konnte nur Thorin dahinter anstarren. Stolz hob der König Erebors das Kinn. Zwischen ihnen eine Armee, die ihren Berg bis zum Ende verteidigen würde. Ihre Mission würde nicht eher zu Ende sein, bis ihr Berg endgültig frei war oder bis ihre Herzen aufgehört haben zu schlagen.

Es darf nicht zu einem Krieg kommen, dachte Bilbo leidenschaftlich. Er durfte es nicht zulassen.

 

~

 

Marie mühte sich mit der riesigen Heugabel ab. Ächzend wuchtete sie das getrocknete Gras, was sie vom Heuboden hinab geworfen hatte, über die Boxenwand. Die kleine Ziegenschar, die schon ungeduldig darüber gespäht hatte, wich blökend zurück und machte sich gierig über ihr Futter her.

Ein Graupelschauer trieb vor der offenen Stalltür sein Unwesen und durchweichte den liegenden Schnee zu einer Matschlandschaft. Die kahlen Äste am Waldrand schlugen im heftigen Wind auf und nieder. Am schiefergrauen Himmel ballten sich dicke Wolken, türmten sich zu einer Wand auf und nahmen die Sonne als ihre Geisel. So ein mieses Wetter war schon lange nicht mehr gewesen.

Trotz der Kälte rann ihr der Schweiß an den Schläfen entlang. Seit dem Misten klebte ihr das Hemd am Rücken. Marie wischte sich mit dem Arm über die Stirn und strich sich die Strähnen zurück hinters Ohr, sog den beruhigenden Geruch der Tiere und dem Heu ein und seufzte. Es hatte nur wenig nutzen. Wie das Wetter, so war auch ihre Stimmung mies. Ihre Gedanken waren ständig bei Anna und Ginja. Wenn sie hier fertig war, wollte sie sich frisch machen und nach ihnen sehen. Dann wollte sie auch endlich Greg aufsuchen. Sie musste es schaffen, ihn zu überzeugen, dass Donja ihr den Diebstahl nur angehängt hatte, damit er seinen Vater überreden konnte, Anna ihre Stelle wiederzugeben. Er würde ihr glauben. Er musste es einfach…

Neben ihr peitschten zufrieden die Schwänze der Kühe um ihre Bäuche, während sie ihre Portion Heu kauten. Immer weniger Milch gaben sie. Der Zeitpunkt sie erneut decken zu lassen, hatte sie verpasst. Und nun hatte sie entschieden, sie lieber zu verkaufen. Die Ziegenmilch reichte auch für sie allein und das Geld würde sie gut gebrauchen können. Marie kraulte einer Kuh über die Stirn. ,,Was hältst du von?“ Ungestört fraß sie weiter.

Marie betrachtete die Pfützen vorm Stall, die sich bereits auf der hartgefrorenen Erde gebildet hatten. Ruhelos wurde ihre Oberfläche durchstochen von dem Regen. Plötzlich tauchte ein gedrungener Umriss aus dem Grau der Landschaft auf.

Marie ging zur Tür und hielt sich die Hand über die Augen, um besser erkennen zu können. Jemand war auf dem Weg zu ihr, den, von einem Tuch geschützten Kopf gegen den Regen eingezogen. Sie wischte sich die Hände an ihren Sachen ab und trat aus der offenen Tür. Feiner Regen wurde ihr ins Gesicht geweht.

Hilda entdeckte sie und kam auf sie zu. ,,Marie!“ Erst kurz vor ihr blieb sie stehen, die blauen Augen weit aufgerissen. ,,Ginja… Sie…“ Verzweiflung flackerte in ihnen auf. ,,Ich hab getan, was ich konnte…“ Weiter brauchte sie nicht zusprechen.

Marie ließ die Heugabel fallen und rannte los.

Wasser spritzte hoch auf, als sie durch die Pfützen jagte. Sie berührte die Erde kaum, achtete nicht auf ihren Tritt. Der Schneeregen drang schnell durch den Stoff, bis sie seine Nässe auf ihrer Haut spürte. Gedanken krachten ineinander und zerschellten in einem Chaos, in das sich wie der scharfe Stachel eines Dorns Vorwürfe bohrten. Vor ihrem inneren Auge rauschten Bilder vorbei. Von Ginja, von ihren Eltern. Von sorglosen Zeiten. Doch immer wieder die alte Frau in ihrem Bett.

Marie biss die Zähne zusammen, würgte den Schrei hinunter. Nur die Tränen konnte sie nicht aufhalten, die heiß unter ihren Lidern brannten. Ihr Inneres wurde von einem Gefühl zerrissen, was sie nur allzu gut kannte.

Als sie das Dorf erreichte, klebten bereits ihre Sachen völlig durchnässt an ihr. Sie jagte über das Kopfsteinpflaster mit der einzigen Hoffnung, dass es noch nicht zu spät war.

 

Die Tür wurde aufgerissen und knallte von einem Windstoß gegen die Wand, sodass der Putz abbröckelte. Vor Nässe triefend stand Marie in der offenen Tür, starrte zu dem Bett vor dem Kamin und fühlte, wie ihr Herz sich zusammen krampfte.

Sie machte die Tür hinter sich zu und ging langsam zu der alten Frau, die die Augen geschlossen hatte. Bei ihrem Anblick merkte Marie, wie sehr sie zitterte. ,,Ginja…“

Doch dann öffneten sie die Augen, deren Trübung an Stärke zugenommen hatte. Sie versuchte, ihren Namen zu sagen. Mehr als ein Flüstern war es nicht. Ihre blasse Haut schien durchschimmernd zu sein, hatte einen gelblichen Ton angenommen.

Marie setzte sich auf den danebenstehenden Stuhl und griff nach Ginjas Hand, ihr Körper taub vor Kälte und Trauer. ,,Ja, ich bin es.“ Das Wasser lief ihr aus den Haaren über den Rücken. Durchweichte Strähnen klebten an ihrer Stirn. Die Wärme des Kaminfeuers existierte nicht.

Ginja versuchte ihren Blick auf sie zu fokussieren. Ihre kurzen Atemzüge strengte sie sichtlich an.

Noch vom Rennen keuchend starrte Marie auf die Bettdecke. Ihre Gedanken bekamen nur langsam wieder eine Ordnung. Hektisch begann sie, die vielen Tinkturen, die auf dem Nachttisch standen, zu sichten. Nachtrot. Sie nahm und entkorkte es, hielt der alten Frau das Fläschchen vor den Mund, während sie mit der anderen Hand ihren Kopf stützte. ,,Trink das.“ Ein schwaches Lächeln schien auf Ginjas eingefallenen Gesicht, als sie stattdessen ihre Hand nahm. ,,Ginja, bitte, trink das!“, schrie Marie lauter als sie wollte.

Doch die alte Frau strich ihr bloß über die Hand. ,,Meine Zeit ist vorbei.“

,,Nein!“ Die erste Träne fiel an ihrer Wange vorbei. ,,Geh nicht. Bitte…geh noch nicht…“

Auf den Zügen der sterbenden Frau blieb ein schwaches Lächeln, warm vor Güte und Liebe. ,,Simon wartet auf mich.“

Das Fläschchen fiel auf die Dielen und zersprang. Marie beugte sich auf Ginjas Leib und ließ die Tränen frei, fühle, wie eine Hand die ihre nahm.

Das Sterben gehörte zum Leben dazu. Sie hatte Kinder auf die Welt geholt, hatte Menschen sterben sehen…doch Ginja gehörte zu ihrer Familie. Sie war die Großmutter, die sie nie hatte.

,,Bitte…geh nicht“, wisperte sie und wusste dennoch, dass sie nichts dagegen tun konnte. Sie wollte nicht, dass sie starb. Nicht auch noch sie. Es war so ungerecht.

,,Ach, mein Kind“, seufzte Ginja kaum hörbar. Ihr Puls unter ihren Fingern fühlte sich wie das Flattern eines Schmetterlings an. Marie verstärkte den Druck ihrer Hand. Es tat so furchtbar weh und doch tat es gut, die Trauer loszuwerden. Sie musste an ihre Eltern denken. Ihr Herz wurde noch schwerer, die Leere in ihrer Brust noch tiefer. Tränen noch zahlreicher.

Sie erinnerte sich, wie sie ihre Mutter in ihrem Zimmer gefunden hatte. Halbnackt hatte sie vor ihrem Spiegel gestanden, mit abwesendem Blick hinein geschaut. ,,Mam?“ Myrrte sah auf und ihre Augen trafen sich im Glas. ,,Was hast du?“ Ihre Mutter drehte sich zu ihr, nahm ihre Hand und legte sie an ihre Brust. Zuerst wich Marie zurück, doch dann fühlte sie es.

,,Was ist denn hier los?“ Soren stand im Türrahmen und riss verwundert über diese Szene die Augenbrauen in die Höhe. Myrrte nahm ebenfalls die Hand ihres Mannes und führte sie zu ihrer Brust. Und Marie sah einen Blick, den sie noch nie bei ihrem Vater gesehen hatte. ,,Bist du sicher?“, flüsterte er, Furcht in den grünen Augen, die ihren so ähnlich gewesen waren. Sie sagte nichts, nickte nur und Soren schloss sie in seine Arme.

Die unheilbare Krankheit, bei der der Körper immer schwächer wurde und wo sich verändertes Gewebe ausbreitete, hatte auf ihre Mutter übergegriffen. Marie würde nie vergessen können, wie sie eines Tages beim Wasserholen zusammenbrach, wie sie ihre Eimer ebenfalls fallen ließ und zu ihr rannte, wie Soren sie ins Haus trug, in ihr Bett, aus dem sie nie wieder aufstehen sollte.

Was sie auch tat: Marie konnte ihren Tod nicht aufhalten. Nur wenige Tage später starb Myrrte in den Armen ihrer Tochter. An einem Tag voller Regen begrub man sie auf der Lichtung im Wald. Alle Dorfbewohner kamen, sprachen ihre Beileidsbekundungen Marie und ihrem Vater aus, die diese jedoch nur wie betäubt zur Kenntnis nahmen. Soren sagte kein Wort.

An diesem Tag veränderte sich alles. Ihre neue Welt, die Marie sich nach der Katastrophe in Dale und nach der Trennung von Thorin aufgebaut hatte, wurde in ihren Grundfesten erschüttert.

Viele Nächte danach, als sie bereits zu Bett gegangen war, hörte sie ihren Vater alleine im Wohnzimmer weinen. Marie und Soren versuchten weiterzuleben wie bisher, doch Monate später schlug das Schicksal ein zweites Mal zu. Soren aß, wurde aber immer dünner. Seit dem Winter begleitete ihn ein immerwährender Husten. Irgendwann spuckte er Blut. Wie krank er war, hatte er versucht ihr zu verbergen, damit seine Tochter nicht in ständiger Angst leben sollte.

,,Ein Mensch stirbt erst dann, wenn er vergessen ist“, hatte er am Sterbebett zu ihr gesagt. ,,Er ist immer bei dir, auch wenn du ihn nicht sehen kannst. Wir sind da oben…und schauen von den Sternen auf dich herab. Marie, mein liebster Schatz… Bleib genauso stark, wie du es immer gewesen warst.“ Und dann ging er von ihr.

Soren wurde neben seiner Frau auf der Lichtung beigesetzt, unter den Wurzeln der Birken, die für immer ineinander verflochten ihnen Schutz und Halt geben sollten.

,,Es tut mir leid…so leid“, wisperte Marie. ,,Ich hätte eher nach dir sehen müssen. Ich war nur um mich bedacht.“ Vielleicht hätte ich es verhindern können, dachte sie, doch sprach es nicht aus, konnte es nicht.

,,Nein“, widersprach Ginja, als hätte sie es gespürt. ,,Du kannst alles denken… nur nicht das.“ Bei diesen Worten konnte Marie nur schwer ihr Schluchzen unterdrücken. ,,Das ist der Weg allen Lebens…den wir alle gehen müssen. Doch ich bin froh, dass du hier bist, Marie… Sing mir noch einmal etwas vor“, bat sie, als die Wärme aus ihrer Hand verschwand. ,,Ich hab doch so gern deine Stimme gehört.“

Draußen wandelte sich der Graupelschauer in dicken Regen, trommelte mittlerweile auf die Dachschindeln. Im Haus aber gab es nur ihre Stimme, die ihre Freundin auf ihrem letzten Weg begleiten sollte.

,,Weh…weh…mein Herz ist schwer,

gab für immer meinen Liebsten her.

Seine wilde Rose blüht nicht mehr…

Seine wilde Rose blüht nicht mehr.

 

Mein Liebster zog in die Schlacht dahin

und rief: ,Solang ich siegreich bin,

wird diese wilde Rose blüh’n.

Ich gab der Blume seinen Nam‘.

Sie blühte stolz und unbeugsam,

bis eines Nachts dann der Winter kam.

 

Weh, weh, mein Herz ist schwer,

gab für immer meinen Liebsten her.

Werd ich seh’n ihn bald? – mir bangt so sehr…“ Sie drückte sich enger an Ginja und schloss die Augen, als die nächsten Zeilen drohten, ihr Herz zu zerreißen.

,,Es kam ein Brief in dem es stand,

er starb als Held im fernen Land,

eine Rose fest in seiner Hand.

 

Weh, weh, mein Herz ist schwer

gab für immer meinen Liebsten her.

Seine wilde Rose blüht nicht mehr…

Mir ist – oh – so kalt… Er kommt nie mehr…“

Ihre Hand legte sich auf Maries Kopf. Eine Geste voller Trost.

Das tränennasse Gesicht in ihre Decke gedrückt schloss Marie die Augen und verabschiedete sich von Ginja.

 

 

 

 

18

 

,,Selbstmord! Nur das ist es!“

,,Wie wollt ihr in den Berg gelangen? Habt ihr den Drachen vergessen? Niemand kommt an Smaugs Feuer und seinem Zorn vorbei.“

,,Wir werden einen Weg finden!“, versuchte er das Gemurmel in der heruntergekommenen Gaststätte zu durchbrechen, die er für dieses Treffen ausgewählt hatte. Kein Fremder würde auf die Idee kommen, dass im Keller eine geheime Einberufung aller Zwergenreiche stattfand. Nur der Wirt wusste Bescheid, den er mit ein wenig Silbergeld bestochen hatte.

Langsam verebbten die aufgeregten Stimmen wieder. Thorin gab nicht auf, auf Hilfe zu hoffen. ,,Ich weiß, dass wir es schaffen können! Mit eurer Unterstützung haben wir eine Chance.“

Die Männer lachten und ließen Thorins Groll wachsen.

,,Bei allem Respekt, Thorin. Gib auf.“

Er sah zu dem König aus Aule hinüber, der ihn lehrend wie ein Vater anschaute, obwohl dieser kaum älter war als er selbst. ,,Dann werdet Ihr mir nicht helfen.“

,,Ich denke“, der junge König schaute die Versammelten an, ,,ich spreche für alle, wenn ich sage, nein.“

König Ubba war seiner Natur nach weniger besonnen. ,,Ich jedenfalls werde meine Männer nicht in den sicheren Tod schicken!“

,,Es geht hier um mein Land. Um die Zukunft eines ganzen Volkes, das auch ein Teil eures ist.“

,,Seid zufrieden, dass Euer Volk bei König Baryn eine neue Heimat gefunden hat“, rief Ubba. Baryn zu seiner Rechten schwieg dazu.

,,Ja, gebt Euch damit zufrieden!“, echote ein Prinz aus Nogrod eher unbeholfen.

Thorin ignorierte diesen grünohrigen Schwätzer, den man als Abgesandten für sein Königreich geschickt hatte. ,,Mein Großvater…“

,,Euer Großvater?“, prustete König Gorm. ,,Er hat Euch seinen Wahn mit in die Wiege gelegt.“

Thorin schluckte hart an dem Vorwurf und musste zuschauen, wie die Männer erneut in Gemurmel verfielen. Immer wieder richteten sich Blicke voller Misstrauen auf ihn.

Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. ,,Ich als Erbe meines Vaters habe das Recht auf eure Hilfe! Habt ihr die Legenden aus alter Zeit vergessen? Die Schwüre, die ihr den Königen untereinander gabt?“ Stille bereitete sich an der langen Tafel aus. Betreten schauten die sonst so stolzen Fürsten auf ihre Finger.

,,Wieso habe ich nicht euer Wort?“ In der Hoffnung, in seinem Vetter aus den Eisenbergen einen Verbündeten zu haben, sprach Thorin ihn an. ,,Dain.“

Doch  der sonst um keiner Worte verlegene Zwerg öffnete und schloss tatenlos seinen Mund. Schließlich schüttelte auch er den Kopf. ,,Tut mir leid, Thorin.“

Langsam rückte die niederschmetternde Erkenntnis in sein Bewusstsein vor. Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich, als er keine Worte mehr fand. Thorin riss seine Habseligkeiten von der Stuhllehne, verließ den Raum und ließ einen zerbrochenen Bund zurück.

 

Mit einer Zange nahm er den verrusten Behälter aus dem Glutnest der Esse. Bedacht darauf ohne Lufteinschlüsse zu arbeiten, goss er die glühende, bereits blubbernde Masse von Metall in die Gussform, schabte mit einem flachen Holzkeil Überschüssiges ab und klappte die einzelnen Hälften zu, ehe er es in einem mit Wasser gefüllten Eimer versengte. Zischend stieg Dampf auf. Thorin setzte sich die Schutzbrille aus Leder und Glas auf die Stirn und fasste sich in den Zopf, um ihn fester zu ziehen. Dann richtete er das, in einem Halbkreis angeordnete Schmuckgebilde vor sich neu aus und

ließ einen heißen Tropfen Restmetall aus dem Behälter auf eine Stelle tropfen. Ehe es erkalten

konnte, legte er in filigraner Maßarbeit ein dünnes Plättchen aus Onyx darauf, um es zu befestigen.

,,Hier treibst du dich also die Nächte rum.“ Aus der in Schatten gelegenen Schmiede trat Dwalin und ließ seinen Blick durch den Saal und über die Esse schweifen, die Thorin seit ein paar Tagen in Beschlag genommen hatte.

Dieser sah nur kurz zu ihm auf, widmete sich dann wieder den Goldbrocken, die er in einen neuen Schmelzbehälter füllte.

,,Was soll das werden, wenn es fertig ist?“

Thorin nahm etwas neben sich auf und warf es seinem Freund zu, der dies reflexartig fing. Erstaunt begutachtete er den breiten, kopfumfang großen Ring von allen Seiten. Im Feuerschein wurden die Wellen im Metall erkennbar, wo es wieder und wieder mit sich selbst gefaltet worden war. Darauf war ein traditionelles Muster aus dunkleren Linien abgebildet. ,,Ich bin Waffenschmied, kein Kunstschmied.“ Dwalin gab ihm seine unfertige Arbeit zurück.

,,Auch das kann eine Waffe sein.“ Mithilfe Hammer und Meißel und einem gezielten Schlag brach er die Gussform auf und kippte das hart gewordene, flache Metallstück zu den anderen, die er zu einem Haufen gestapelt hatte, bereit zum Schleifen und Polieren.

Auf der anderen Seite des Tisches erschien Dwalin. ,,Waffen der Könige“, wiedersprach er nüchtern und nahm das Herzstück seiner Arbeit in die Hände. Er stieß einen Pfiff der Anerkennung durch die Zähne aus. ,,Du hast wirklich an alles gedacht.“

Thorin nahm es ihm wieder ab. ,,Es ist noch nicht fertig.“ Vorsichtig legte er es zurück auf das Tuch, was als weiche Unterlage diente. Dann seufzte er. ,,Ein Zeichen“, sagte er leiser, strich mit den Fingern über sein fast fertiges Werk. ,,Für einen Neuanfang.“

Thorin verfolgte, wie sein Freund das kontrollierte Durcheinander seiner Arbeit besah. Es war wie eine tiefe Vibration in seinem Brustkorb, als er wachsamer wurde: sein geschärfter Instinkt für den Selbsterhalt. War gar er es gewesen? Hatte er den Arkenstein an sich genommen? Mein bester Freund?

,,An was denkst du?“

Thorin wandte den Blick ab. Er nahm ein Tuch aus der Tasche seiner Schürze, die er als Schutz vor Hitze und Funken über seiner nackten Brust trug. ,,An die Versammlung“, wich er mit der halben Wahrheit aus und wischte sich die Hände sauber. ,,Damals in dem Wirtshaus an der Wegkreuzung.“ Gedankenverloren würgte seine Faust den dreckigen Stoff. ,,Sie alle haben sich getäuscht.“

Dwalin zuckte mit den Schultern. ,,Müssen sie wohl. Wir stehen schließlich hier.“

,,Ja, und wir werden es zu Ende bringen.“

Auf dem vertrauten Gesicht ihm gegenüber hob sich eine Augenbraue. ,,Na schön. Ist zwar schon ein Weilchen her, seit ich einen Schmiedehammer in der Hand hatte“, Dwalin kam um den Tisch herum, zog sich die Hosenträger von den Schultern und begann, sein Hemd aufzuknöpfen, ,,aber verdammt soll ich sein, wenn ich es nicht mehr hinbekäme.“

,,Was hast du vor?“

Als verstehe er seine Frage nicht, machte er eine Grimasse und warf sein Hemd auf die verlassene Arbeitsstätte nebenan. ,,Dir helfen?“

,,Geh wieder zu den anderen. Ich schaffe das hier schon.“

Thorin hatte es ernst gemeint, er wollte niemanden, der ihm Löcher ins Hemd starrte, doch alles, was er als Reaktion bekam, war ein spöttisches Lachen. ,,Haha! Und dir den ganzen Spaß lassen?“ Der Krieger nahm den wuchtigen Hammer und ließ ihn fast schon spielerisch in der Hand kreisen. ,,Du versauerst mir hier noch alleine. ,Wir bringen das zu Ende‘. Schon vergessen?“

Unweigerlich musste Thorin schmunzeln. Er nahm eine Schürze neben sich auf und warf sie ihm

gegen die Brust, ehe er sich die Schutzbrille über die Augen schob. ,,Dann halt die Klappe und lass uns weitermachen.“

Der Blasebalg ließ das Feuer aufbrüllen, die Hitze Ströme aus Schweiß über die definierten Muskeln der Männer rinnen, als diese nebeneinander her arbeitete, als hätten sie nie etwas anderes gemacht.

Vor dem Schleifstein sitzend bearbeitete Dwalin die Einzelteile, während Thorin den Onyx mit einem, durch Pedalkraft angetriebenen Sägeblatt aus Diamantstahl zu feinen Platten schnitt. Manchmal warfen sie sich Werkzeuge zu und fingen sie ohne hinzusehen auf. Ihre Schatten verschmolzen mit dem Feuerschein, waren hier und dort, verständigten sich ganz ohne Worte.

Erst als ihre Arme lahm wurden und ihnen sämtliche Sachen an der Haut klebten, sollten sie fertig sein. Spät in der Nacht verließen sie die Schmiede und ließen ihr fertiges Werk auf einem Tuch gebettet zurück. Bereit ein weiterer Schatz Erebors zu werden.

 

~

 

Seine Hände zitterten vor Kälte und Nervosität, als er das Seil an einem in den Fels geschlagenen Ring festzumachen versuchte. Er klirrte gegen den Stein, ein dummes Geräusch in der Stille der Nacht, das sein kleines Herz stolpern ließ. Warum musste es denn so kalt sein? Er rieb seine mittlerweile steifen Finger über seine Hose und spähte abermals über den Wall in die dunkle Tiefe hinab.

,,Du solltet lieber reingehen“, meint jemand plötzlich und ließ ihn aufspringen. Bilbo starrte Bofur an, der sich an einem Feuerkorb die Hände wärmte. ,,Aus dem Wind raus“, nahm dieser seinen Faden wieder auf.

,,Äh, ich, äh…musste an die Luft“, erklärte der Hobbit eilig und verbarg das Seil hinter seinem Rücken. ,,Hier stinkt es immer noch nach Drache.“

Entweder hatte er nichts gemerkt oder er wollte nichts merken. Jedenfalls schlenderte Bofur zu den Zinnen der aufgeschichteten Mauer. Bilbo holte neue Luft und trat neben ihm.

,,Die Elben bringen ihre Bogenschützen in Stellung.“

Beiläufig machte er ein neugieriges Geräusch und folgte dem Blick seines Weggefährten zur erleuchteten Stadt hinüber.

,,Morgen Abend wird die Schlacht vorüber sein. Doch ich bezweifle, dass wir es erleben.“

Mit offenem Mund starrte er den Zwerg an, der trotz Kettenrüste wie immer seine Mütze auf dem Kopf hatte. So ernst und gefasst hatte er Bofur jedoch noch nie erlebt. ,,Dies sind dunkle Tage“, sagte Bilbo in die Stille hinein.

,,Wahrlich dunkle Tage…“ Als Bofur seinen Blick erwiderte, sah Bilbo schnell weg. ,,Man kann es keiner Seele verdenken lieber woanders sein zu wollen.“ Dann blickte er in den nächtlichen Himmel empor, der in dieser Nacht wunderschön war. ,,Es muss auf Mitternacht zugehen“, meinte er, als überlege er laut. ,,Bombur hält als nächster Wache.“ Abermals sah er ihn an, diesmal mit einem heimlichen Schmunzeln auf den Lippen. ,,Es dauert ihn zu wecken. Ich kann sein Schnarchen bis hier hören.“ Langsam ging er zur Treppe. Und da wurde Bilbo klar, dass er es ahnte.

Verschaffte er ihm gerade eine Gelegenheit zu verschwinden? Schon einmal hatte Bofur ihm eine Flucht ermöglicht. Als sie auf ihrer Reise in einer Höhle in den Nebelbergen die Nacht verbracht hatten, war Bilbo heimlich aufgebrochen, um zurück nach Beutelsfeld zu gehen. Zu der Zeit hatte er noch von Thorin zu spüren bekommen, dass er nicht zu ihrer Gemeinschaft dazugehörte. Bofur hatte Nachtwache gehalten und wollte ihn zunächst aufhalten und umstimmen, doch Bilbo plagte das Heimweh und das Gefühl nicht erwünscht zu sein. Weil Bofur wusste, dass er sein Zuhause vermisste – ein Gefühl, welches sein Volk schon lange verspürte, wollte er ihn ziehen lassen. Soweit kam es jedoch nicht.

Der Boden, auf dem die Gefährten gelegen hatten, klappte wie Scharniere auf und brachte die aus dem Schlaf gerissenen Männer in die Fänge der Billwisse, die in den Bergen in unterirdische Höhlen hausten. Und in genau jenen fand der geheimnisvolle Ring den Weg zu Bilbo.

Nur durch Gandalfs Rettung konnten sie ihnen mit Not entkommen und erst nachdem Bilbo sich in der Brandschlacht zwischen Thorin und Azog gestellt hatte, hatte der Zwergenfürst eingesehen, dass er weit mehr war als ein tollpatschiger und ängstlicher Hobbit.

,,Bofur.“ Auf den Stufen hielt der Zwerg noch einmal inne und drehte sich zu ihm um. Bilbo legte die Stirn in Falten. ,,Wir sehen uns morgen früh.“ Es gelang ihm sogar ein Lächeln, als ihm bewusst wurde, dass er in diesem liebenswürdigen Kerl einen wirklich guten Freund gefunden hatte.

Auch Bofur lächelte. ,,Auf Wiedersehen, Bilbo.“

Seufzend sah der Hobbit ihm nach und nahm dann einen tiefen Atemzug. Nun gut. Entschlossen ging er zurück zum Seil. Ehe die Nacht vorbei war, musste er wieder zurück sein, damit sein Verschwinden niemandem auffiel. Noch einmal kontrollierte er seinen Knoten und warf dann das Seil über die Mauer. Er kletterte zwischen die Zinnen und spähte den Weg nach unten entlang. Sofort bereute er es, fasste schnell nach etwas, woran er sich festhalten konnte. Aber er hatte keine andere Wahl. Er musste es tun. Es war Lebensmüde - in vielerlei Hinsicht, doch sein einziger Hoffnungsschimmer, an dem er sich klammern würde wie nun an dieses Seil, was ihn davor bewahrte zehn Meter tief auf unnachgiebigem Stein zu landen.

Bilbo kehrte der Kante den Rücken, krallte sich in die rauen Fasern und beschwor sie, nicht zu reißen. Schritt für Schritt tastete er sich rückwärts den Wall hinab bis er bei der Hälfte war und den Halt verlor. Seine nackten Hobbitfüße rutschten ab, seine Knie schlugen gegen den Fels. Er unterdrückte einen Schmerzenslaut, hoffte, dass ihn niemand gehört hatte. Er horchte. Über ihm  regte sich nichts.

Immer mehr schnitt das raue Seil ihm in die Hände. Er biss die Zähne zusammen, stemmte seine Füße wieder gegen die Mauer und kletterte weiter.

Das letzte Stück musste Bilbo springen. Der Aufprall sandte Schmerz durch seine Gelenke, ein Brennen durch seine aufgeschlagenen Knie und ließ ihn fast stürzen. Er schaute noch oben, ob auf dem Wehrgang jemand erschienen war. Doch da war niemand außer dem Flackern des Feuers. Mit der Hand auf Stichs Knauf überquerte er geduckt die Brücke über dem leeren Graben und lief die Stufen hinab bis seine Füße harte Erde unter sich hatten. Der Weg nach Dale lag vor ihm.

 

Ein Vorteil seines Volkes war definitiv seine Größe. Hobbits waren bemerkenswert leichtfüßig. Klein und unscheinbar und trotzdem widerstandsfähig.

Auch in dieser Nacht, wie schon so viele Male davor, bediente Bilbo sich dieser Attribute. Beinahe mit Leichtigkeit gelangte er durch das Haupttor, obwohl auf der Stadtmauer und in der Stadt selbst Wachen der Elben pattrollierten. Keiner war in ernsthafter Verteidigungsbereitschaft, denn niemand würde ein Angriff erwarten, wenn sie als gut ausgerüstetes Heer auf der anderen Seite einer gut gesicherten Stadtmauer warteten und ihr einziger, hinter einem Wall verbarrikadierter Feind gerade einmal dreizehn Mann zählte. Thranduils Armee trug goldene, leichte Rüstungen oder feste Lederharnische. Edel erscheinende Helme verdeckten die typisch hohen Wangenknochen durch den Gesichtsschutz. Ihre langen Haare legten sich über rote Umhänge. Auch Frauen waren unter den Soldaten, was Bilbo nicht allzu sehr verwunderte, denn als die Elben sie im Düsterwald gefangen genommen hatten, waren auch weibliche Soldaten unter ihnen gewesen. Es zeigte nur, dass auch die Elbenfrauen mit Bogen und Klingen umgehen konnten. Die Geschlechter der Elben zu unterscheiden konnte für andere Völker ziemlich schwer sein. Sie waren sich im Körperbau sehr ähnlich, hatten alle lange, seidige Haare, die Männer zudem keinen Bartwuchs, wie Kili damals peinlicherweise in Bruchtal feststellen musste, als er vermeintlich ein Auge auf eine ,,Elbe“ geworfen hatte.

Hinter dem Tor gelangte Bilbo auf einen Vorplatz mit einem verwitterten Springbrunnen. Von dort zweigten mehrere Hauptstraßen ab, deren Gassen die Stadt wie Adern durchzogen, die auf und um eine Erhöhung herum erbaut worden war. Zwar hatte Bilbo den Ring in der Tasche seiner Weste, mit dessen Magie er unsichtbar werden konnte, doch vor seiner Benutzung sträubte er sich. Er wusste nicht, was es war, aber tief in seinem Unterbewusstsein spürte er, dass jede Benutzung eine Gefahr darstellte, auch wenn es sehr verlockend war.

Fest entschlossen es auch ohne den Ring zu schaffen, schlich er weiter durch die Straßen ohne genau zu wissen, wohin er sollte. Bilbo schaute sich aufmerksam um. Knorrige Bäume säumten die, mit großen Steinen gepflasterten Straßen Dales, und die engstehenden, ruinenhaften Häuser aus ergrautem, schneebedecktem Sandstein. Manche besaßen kleine Balkone, die einladend zu den Plätzen zeigten. Jetzt in der Nacht wirkten die Ziegeldächer schwarz. Lichter brannten in Fenstern, wo Menschen aus der Seestadt eine Zuflucht gefunden hatten. An Straßenecken saßen Männer um kleine Feuer zusammen, Mäntel und Schals gegen die Kälte um Leiber und Köpfe geschlungen. Durch die jahrelange Einsamkeit konnten kahle Schlingpflanzen ungebändigt an Gebäuden wuchern. Trotz der verstrichenen Jahre der Einöde sah man noch an vielen Stellen Relikte aus einer vergangenen Zeit.

Als Bilbo unter einem Fenster entlang schlich, hörte er eine Mutter ein Lied zum Einschlafen für ihr Kind summen. Leise und liebevoll. Er verspürte einen plötzlichen Kloß im Hals, als er an die Kleinsten dachte, die Smaugs Feuer mit angesehen und überlebt hatten und an jene, die nicht.

Diese erwartende Ruhe, die ansonsten in der ganzen Stadt weilte, hatte sich über das ganze Hochtal ausgebreitet. Das musste sie sein. Die oft benannte Ruhe vor dem Sturm.

Irgendwo weinte ein Kind. Er wollte an das Morgen nicht denken.

Mittlerweile war Bilbo den Straßen weiter bergauf gefolgt und fand sich auf einem hoch gelegenen Platz wieder. Wo war nun… Ein großes Zelt aus gelbem und orangenem Stoff erregte seine Aufmerksamkeit. Elbische Wachen standen vor dem Eingang. Gerade als er näher heran schlich, hörte er eine Stimme, die ihn wissen ließ, dass er sie gefunden hatte.

,,Reibt Euch das Eis aus den Augen, edle Herren! Die Jauchegruben Dol Guldurs ergießen sich! Ihr alle seid in tödlicher Gefahr.“

Moment! Das war doch… Bilbo traute seinen Ohren nicht. Es war Gandalf, der da sprach! Sofort hockte er sich hinter eine niedrige Mauer, sah sich nochmal nach allen Seiten um. Verwildertes Gestrüpp verbarg ihn, als er durch einen Schlitz im Stoff ins Innere spähen konnte. Und als er seinen alten Freund dann auch sah, leibhaftig vor ihm stehend, verspürte er fast schon so etwas wie Erleichterung. Ein sehnsüchtig willkommenes Gefühl. Es war wirklich der Zauberer. Wann hatte er ihn das letzte Mal gesehen? Am Düsterwald trennten sich ihre Wege. Was war seitdem alles passiert…

,,Was redet Ihr da?“, fragte Bard gerade, der neben dem Eingang zu Bilbos Rechten stand. Er klang ernsthaft besorgt. An den Zeltstangen hingen Lampen, sodass Bilbo alles sehen konnte. In der Mitte stand ein Tisch und hinter diesem saß auf einem edlen Stuhl, die langen Beine überschlagen Thranduil selbst. Er trug ein silbernes Gewand, darüber eine ausladende Robe aus rötlichem Samt, auf seinem Kopf ein silbernes Diadem.

,,Ich sehe, dass Ihr nichts von Zauberern wisst“, meinte der Elbenfürst in diesem Moment weniger besorgt. Anmutig erhob er sich von seinem Platz und schritt zu einem kleinen Tisch, worauf Karaffen bereitgestellt waren. ,,Sie sind wie ein Wintergewitter, das auf einem rasenden Wind heran rollt, um dann donnernd schlechte Kunde zu bringen.“ Er füllte sich einen Kelch Wein und reichte auch Bard einen. ,,Doch manchmal ist ein Sturm nur ein Sturm“, fügte er hinzu, sah dabei direkt Gandalf an.

,,Nicht dieses Mal!“, beharrte der Zauberer, den Bilbo bislang von hinten sehen konnte. ,,Orkheere

 rücken vor. Es sind Kämpfer! Sie wurden für den Krieg gezüchtet. Unser Feind hat all sein

Streitkräfte versammelt.“

Orkheere? Welcher Feind? Auch Bilbo fragte sich nun, wovon er sprach. Wie aufs Stichwort zwickte ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend. Und bis jetzt hatte es ihn noch nie im Stich gelassen.

,,Warum sollte er sich jetzt zeigen?“, fragte der Elbenkönig fast schon gelangweilt.

,,Weil wir ihn gezwungen haben“, war Gandalfs Antwort. ,,Damals als Thorin Eichenschild aufbrach um sich seine Heimat zurückzuholen.“ Er schlug die hintere Zeltwand beiseite und ging hinaus. Die anderen beiden stellten ihre Gläser ab und folgten ihm verwundert.

Bilbo schickte sich an, sie nicht zu verlieren. Er lugte hinters Zelt und sah die drei, die ein größeres, höher gelegenes Gebäude ansteuerten. Im Schutze der Dunkelheit schlich er durch angrenzendes Gestrüpp näher heran. Zweige zogen an seinen kupferfarbenen Locken wie dünne Krallen von Händen.

Die mächtigsten Männer in Dale erreichten einen alten Garten mit einem großen Pavillon, deren kuppelartigem Dach vor langer Zeit eingestürzt war. Es gehörte zu einem angrenzenden, prachtvollen Herrenhaus, was einer der höchsten Punkte der Stadt bildete. Von hier hatte man einen ungehinderten Blick auf den verschneiten Berggipfel und das Haupttor des Zwergenreiches. Wenn die Situation nicht so ernst wäre, hätte man diesen schönen Ausblick sogar genießen können.

,,Die Zwerge sollten Erebor nie erreichen“, setzte Gandalf seine Rede fort. ,,Azog der Schänder wurde geschickt, um sie zu töten. Sein Herr will den Berg in seine Gewalt bringen. Nicht nur wegen des Schatzes, sondern wegen seiner Lage, seiner strategischen Position. Das ist das Tor zur Rückeroberung des Landes Anmar im Norden.“ Er drehte sich zu seinen Zuhörern um. ,,Erhebt sich dieses dunkle Königreich erneut, werden Bruchtal, Lorthlorien, das Auenland… sogar Gondor untergehen.“

,,Diese Orkheere, von denen Ihr sprecht, Misrandir, wo sind sie?“, fragte Thranduil unbekümmert, obwohl bei den Worten und seinem ernsten Ton Bilbo eine Gänsehaut über die Haut gekrochen war. Und diese hielt an, als er Gandalfs Gesicht nun sehen konnte. Über seiner linken Wange war eine böse Abschürfung. Er hatte eine Platzwunde auf der gleichen Seite und auch eine aufgeplatzte Lippe. Wo um alles in der Welt war er gewesen? Und vor allem: was war passiert?

Gandalf machte ein böses Gesicht über die Taubheit, auf der er traf. Als er an ihnen vorbei, zurück zum Zelt stapfte, konnte Bilbo ihn mürrisches Zeug murmeln hören. Thranduil wechselte unterdessen einen Blick mit Bard, der für sich sprach. Mit einer eleganten Geste, ließ er ihm den Vortritt.

Bilbo wollte seinen Platz wieder einnehmen, da trat er auf einen Ast.

Thranduils Elbenohren fingen das unüberhörbare Knacken ein. Er riss den Kopf zu ihm herum. Seine kristallartigen Augen starrten direkt in seine Richtung.

Bilbo hatte gerade noch Zeit gehabt, sich hinzuhocken. In dieser unmöglichen Position festsitzend hielt er den Atem an und wagte es noch nicht einmal, zu blinzeln. Schon einmal hatte er dem Elbenkönig nur knapp entkommen können. So viel Glück konnte doch keiner haben...

Bilbo wusste nicht, wie lange er in diesem alten Garten gekauerte hatte, als sein aufgeschürftes Knie durch die Spannung seiner Hose erneut zu bluten begann und er aus dem Augenwinkel wahr nahm, dass der Elb die Stufen hinunterging. Bilbo presste sich die Hand aufs Herz, was mit doppelter Geschwindigkeit schlug als es sollte und schnappte keuchend nach Luft.

Nachdem er sich einigermaßen wieder gefangen hatte, positionierte er sich erneut vor dem Schlitz in dem Zeltstoff und konnte gerade noch den Rest von Gandalfs Schimpftirade mitbekommen.

,,Seit wann wird mein Rat so gering geschätzt? Was denkt ihr, bezwecke ich damit?“

Thranduil nahm einen Schluck von seinem Wein. ,,Ich glaube, Ihr wollt Eure Zwergen-Freunde retten und ich bewundere Eure Treue zu ihnen“, er trat nah zu ihm heran, ,,aber das bringt mich nicht ab von meinem Kurs. Ihr habt es begonnen, Misrandir, verzeiht mir, wenn ich es beende“, raunte er dem Zauberer fast schon drohend zu. Dann wandte er sich an seine Wache vor dem Zelt. ,,Sind die Bogenschützen in Stellung?“

Ein Elb erschien und salutierte. ,,Ja, mein Herr.“

,,Erteilt den Befehl: Wenn sich irgendetwas auf dem Berg rührt, tötet es.“

,,Mein Herr.“ Der Soldat machte eine Verbeugung und trat ab.

,,Die Zeit der Zwerge ist um“, verkündete Thranduil ohne jegliche Gefühlsregung.

Bilbo riss die Augen auf. Nein…

Während der Elbenkönig sich mit seinem Wein auf seinen Platz zurück zog, trat Gandalf zu Bard, der schweigend am Eingang gelehnt und in die Sterne geschaut hatte. ,,Bogenschütze, seid Ihr damit einverstanden? Ist Gold Euch tatsächlich so wichtig? Erkauft mit dem Blut von Zwergen?“

,,Dazu wird es nicht kommen“, antwortete Bard. ,,Diesen Kampf können sie nicht gewinnen.“

Bilbo hatte genug gehört. Denn genau deshalb war er hier.

,,Das wird sie nicht aufhalten!“ Die beiden drehten sich zu dem Hobbit um, der wie aus dem Nichts vor dem Zelt stand. ,,Glaubt Ihr, Zwerge ergeben sich? Niemals. Sie kämpfen bis in den Tod für ihre Sache.“

,,Bilbo Beutling…“ Gerührte und aufrichtige Freude zeichnete sich auf Gandalfs wettergegerbten Gesicht ab. ,,Noch nie in meinem ganzen Leben war ich so froh, jemanden zu sehen.“ Er beugte sich vor und reichte ihm beide Hände.

Auch Bard streckte ihm die Hand hin. ,,Ich bin froh, Euch wohlauf zusehen.“

Bilbo schüttelte die Hand ihres ehemaligen Schmugglers, der ihn ebenfalls nicht vergessen hatte. ,,Ich hörte von Eurer Tat.“

Bard legte den Kopf schief. ,,Mein Sohn trägt auch einen Teil dazu bei“, raunte er ihm zu, ein stolzes Lächeln auf seinem breiten Mund wie nur ein Vater es haben kann.

Thranduil überschlug erneut die Beine auf seinem Stuhl und durchbohrte ihn mit seinen Augen. ,,Wenn ich mich nicht täusche, ist dies der Halbling, der die Schlüssel zu meinen Verließen vor der Nase meiner Wachen gestohlen hat.“

,,Nja…“, gab dieser nur widerwillig und aus reinem Anstand von sich. ,,Bitte um Verzeihung.“

Auf dem ebenmäßigen Gesicht des Elben regte sich nichts. Bard jedoch verbarg sein Lachen hinter einem Grinsen und kratzte sich die bärtige Oberlippe.

Bilbo nahm tief Luft und auch ein wenig mehr Entschlossenheit, bevor er zu dem Tisch in der Mitte trat. Er holte ein Tuch aus seiner Manteltasche und legte das darin eingewickelte ab. ,,Ich bin gekommen, um Euch das hier zu geben.“ Er schlug das weiche Leder auf und enthüllte den Arkenstein.

Augenblicklich erhob sich Thranduil. ,,Das Herz des Berges. Das Königsjuwel…“ Die Männer kamen um den Tisch zusammen und starrten auf dem sagenumwobenen Edelstein. Die strahlenden Splitter in seinem Inneren bewegten sich, als würde er merken, dass er die Hauptrolle trug und sich in den bewundernden Blicken baden.

,,Und königliche Auslöse wert“, bemerkte Bard. ,,Wie kommt er in Euren Besitz?“

,,Das ist mein vierzehntel Anteil am Schatz“, erklärte Bilbo und wusste im gleichen Moment, dass er tot war, wenn Thorin das rausbekäme. Richtig tot.

,,Warum tut Ihr das?“, fragte Bard wieder. Ihm standen tausend Gedanken auf der Stirn geschrieben. ,,Ihr schuldet uns keine Treue.“

Den Kopf schüttelnd sah Bilbo zu dem Menschen empor, ,,ich tue das nicht für Euch“, und seufzte. ,,Ich weiß, Zwerge können starrsinnig sein. Und dickköpfig. Schwierig, misstrauisch und heimlichtuerisch. Und sie haben die schlimmsten Manieren, die man sich vorstellen kann…“ Er warf Gandalf einen Blick zu, als ihm das Chaos ins Gedächtnis trat, welches die Gefährten damals in seinem Esszimmer veranstaltet hatten. Der alte Zauberer quittierte es mit einem Lächeln. ,,Aber sie sind auch tapfer“, fuhr Bilbo betrübt fort, ,,und gütig. Und unendlich treu. Ich habe sie ins Herz geschlossen und möchte sie retten, wenn ich kann.“

Bard schürzte die Lippen, senkte den Blick.

Auf das leuchtende Juwel zeigend sagte Bilbo: ,,Thorin ist dieser Stein mehr wert, als alles andere.“ Und genau das stimmte ihn noch trauriger. Vor nicht allzu langer Zeit war das anders gewesen. Da war er anders gewesen. ,,Um ihn zurückzuhaben wird er Euch sicherlich geben, was er Euch schuldet. Es gibt für Krieg also keinen Grund.“

Im Zelt senkte sich Schweigen über sie. Bard sah Thranduil an. Eine Bitte in den braunen Augen, es zu versuchen.

 

~

 

,,Ruh dich heute Nacht aus“, befahl Gandalf. ,,Du musst Morgen aufbrechen.“

,,Was?“

,,Geh soweit wie möglich fort von hier.“

,,Ich werde nicht gehen“, beharrte Bilbo vehement und blieb mitten auf der Straße stehen. ,,Du hast mich zum vierzehnten Mann gemacht. Ich verlasse die Unternehmung jetzt nicht.“

Gandalf knurrte und setzte seinen Weg fort, als könnte er seine Worte ihm dadurch einprügeln. ,,Es gibt keine Unternehmung – nicht mehr! Nicht auszudenken, was Thorin tut, wenn er hiervon erfährt.“

Bilbo blieb, wo er war, und verschränkte die Arme vor der Brust. ,,Ich habe keine Angst vor Thorin.“

Gandalf fuhr herum. ,,Solltest du aber!“

Auf einmal wurde dem Hobbit flau im Magen. Na schön, vielleicht hatte er das doch…

,,Unterschätze niemals das Böse in Gold. Gold auf dem ein Drache gelegen hat“, warnte der Zauberer ihn. ,,Die Drachenkrankheit dringt in Herzen ein und verseucht sie mit einem Gift, so dunkel wie die finstersten Mächte selbst.“ Er wollte weiter, doch Bilbo hielt ihn auf.

,,Ich denke, es ist eher der Drache selbst, der in einen eindringt.“

,,Sprichst du von Smaug?“

,,Ja.“

,,Was hast du beobachtet, Bilbo? Erzähl mir, was passiert ist.“

Er zuckte mit den Achseln. ,,Was passiert ist, wissen wir selbst nicht. Plötzlich bemerkten wir die Veränderung, die mit Thorin geschah. Es ist, als wäre er besessen von etwas.“

Gandalf hörte ihm zu und ließ Bilbo lange auf eine Antwort warten. ,,Wenn es tatsächlich so ist, wie du es beschreibst“, sprach er schließlich, ,,dann hat die Drachenkrankheit ganz neue Formen angenommen. Niemand kann Thorins Verhalten mehr einschätzen. Selbst mir ist dies völlig unbekannt.“

Dass selbst Gandalf nicht weiter wusste, schockierte Bilbo. ,,Gibt es denn wirklich gar kein Heilmittel?“ Es war Gandalfs Kopfschütteln, das Bilbos letzte Hoffnungen zunichtemachte. Niedergeschlagener denn je stand er auf der Straße. ,,Ich habe euch belauscht, Gandalf“, gestand er traurig. ,,Ich hab jedes Wort gehört. Was meintest du vorhin? Von welchem Feind hast du gesprochen?“

Auf seinen Zügen legte sich erneut ein Schatten voller Sorge. ,,Der Geist Saurons hat überlebt.“

,,Sauron?“ Fast traute Bilbo sich nicht diesen Namen auszusprechen. Das ergab keinen Sinn. Wie konnte das sein? Der dunkle Herrscher war seit dreihundert Jahren tot.

Gandalf musste seine Frage erahnt haben. ,,Der Nekromant aus Dol Guldur.“

Irgendetwas klingelte in seinem Gedächtnis. ,,Die alte Festung von der Beorn sprach?“

Gandalf nickte. ,,Ein dunkler Hexenmeister, der imstande ist, die Toten auf zu erwecken. Ich war da. In Dol Guldur.“ Einen Moment lang ging sein Blick durch Bilbo hindurch, als wäre er mit seinen Gedanken wieder genau an diesem Ort. ,,Deswegen musste ich euch verlassen. Am Elbentor des Düsterwaldes sah ich ein Zeichen. Ein Zeichen, welches ich lange nicht mehr gesehen habe.“ Der Zauberer sah sich um, ehe er etwas mit dem Ende seines Stabes in die Erde malte. Ein großes Auge mit scharfem, eckigem Lid und länglicher Pupille. Das Zeichen Saurons.

Ein kalter Hauch streifte Bilbos Nacken. Ihm stellten sich sämtliche Härchen auf. Schon einmal hatte er es gesehen.

,,Ich sah ihn mit eigenen Augen. Es ist wahr. Er ist aus den tiefsten Abgründen, wo er hingeschickt wurde, zurückgekehrt. Zusammen mit den Neun, seinen Handlangern der Finsternis. Frau Galadriel spürte meinen Hilferuf. Ihr folgten auch Herr Elrond, Radagast und Saruman aus meinem Orden.“

Bilbo kannte die mächtige wie schöne Elbe aus Lorthlorien nur von Erzählungen, ebenso wie Saruman, den Weißen. Radagast, den Braunen, ein ulkiger Kerl, der als Einsiedler Grünwald lebt, allerdings waren die Gefährten schon begegnet.

,,Sie kämpften gegen die Nazgul, doch erst Frau Galadriel konnte sie mit ihrer Kraft vertreiben. Er floh in den Osten. Wir haben uns täuschen lassen…“, schloss Gandalf in seine eigenen Gedanken eingetaucht. ,,Vor dreihundert Jahren wurde Sauron besiegt, doch er war nie besiegt. Und nun will er erneut die Herrschaft Mittelerdes. Auch ich habe gegen ihn gekämpft… doch er war zu mächtig gegen meine Kraft.“

,,Und die Orkheere?“, fragte Bilbo mit Zittern in der Stimme.

,,Reihe um Reihe marschierten sie aus Dol Guldur. Für den Kampf gerüstet. Azog der Schänder war ein Jäger, doch nun befehligt er Legionen. Er ist ein Diener des Bösen und ist ihm allein hörig.“

Elben, Menschen, Zwerge und nun auch noch Orks, die alle dasselbe Ziel hatten. Bilbo ballte die Fäuste und versuchte jegliche Panik runterzuschlucken. Und dann hörte er sich selbst eine Frage stellen, so ruhig über das Geschehende wissend, wie er es nie für möglich gehalten hätte. ,,Wann werden sie hier sein?“

,,Jeden Augenblick.“

Bilbo glaubte, der Ohnmacht gefährlich nahe zu sein. Er faltete die Hände hinter dem Kopf, presste den Mund aufeinander und sah einfach nur nickend in den Himmel, wo in dieser Nacht tausende Sterne leuchteten. Er zuckte mit den Schultern. ,,Gut. Toll.“ Seufzend ließ er die Arme fallen und spürte im nächsten Augenblick eine große Hand, die sich auf seine Schulter legte. ,,Gandalf?“ Plötzlich fühlte er sich elendig erschöpft. ,,Woher wusstest du, dass Thorin krank ist?“

,,Ich ahnte es. Schon seit einiger Zeit.“

Es ist die Liebe, die ihn stärkt und Kraft gibt, wiederholten sich in seinem Gedächtnis die Worte des Zauberers damals in der Kupfer Stube und beinhalteten diesmal eine ganz andere Bedeutung. Und er wird alle Kraft brauchen, die er aufbringen kann für das, was kommen wird... Geht nicht ohne mich in den Berg hinein…

,,Ihr da!“ Bilbo folgte ihm die Straße runter und erkannte die Person wieder, für die der Ruf bestimmt war. Ein kleiner unscheinbarer Mann, ganz in schwarz gekleidet blieb stehen.

,,Sucht diesem Hobbit ein Bett“, befahl Gandalf freundlich. Alfred rollte zwar mit den Augen, doch kam auf sie zu. ,,Füllt seinen Bauch mit warmen Essen. Er hat’s verdient.“

Bilbo bedankte sich mit einem Lächeln und ging schon ein Stück voraus.

Als Alfred an ihm vorbei wollte, packte Gandalf ihn und zog ihn zu sich. ,,Behaltet ihm im Auge. Wenn er verschwinden will, sagt es mir.“

Alfred nickte nur, rückte sich den Kragen wieder zurecht und stapfte genervt zu Bilbo. ,,Na, geh schon! Dummer Hobbit…“

 

Alfred führte Bilbo zu dem Herrenhaus hinüber. Mit hängenden Schultern ging er die großen Stufen hinauf, Bilbo dicht hinter ihm her, der das herrschaftliche Anwesen bestaunte.

Früher musste dieses Haus einer sehr angesehenen Person gehört haben. Er sah ein Licht im Erdgeschoss durch halbrunde Fenster scheinen, offenbar wohnte jemand hier. Kiesbeete und verwilderte Sträucher säumten den Weg zur Tür.

Alfred stieß das große Eingangsportal auf und machte ihm klar, dass er vorgehen sollte. Bilbo betrat den dunklen Eingangsbereich und sofort kamen ihm lebhafte Stimmen entgegen.

,,Nur noch fünf Minuten! Bitte!“

,,Die letzten fünf sind schon längst um.“

,,Aber Bain ist auch noch auf!“

,,Er ist ja auch älter.“

,,Aber…“

,,Hör auf zu nörgeln, sonst hol ich Papa.“

Vor ihm führte eine große Treppe in das erste Stockwerk. Rechts schloss sich ein Raum an, in dem in einem großen Kamin ein Feuer prasselte. Sofort spürte Bilbo seine Wärme auf seinem Gesicht und entdeckte Tilda, die auf einem der Sofas in der Raummitte auf und ab hüpfte und jede Menge Staubwolken aufwirbelte. Erst als sie den Hobbit im Türrahmen stehen sah, hielt sie inne. Ihr Bruder saß tiefer im Raum auf einem anderen Sofa. Sigrid hatte gerade eine Decke auf dem dritten ausgebrietet, als sie die Gäste bemerkte.

,,Hey, Mädchen, kümmere dich um den hier.“ Auf den fettigen Haaren von seinem Begleiter glänzte es, als er im Raum stand. ,,Bekommst du das hin?“

Die Hände in die Taille gestemmt musterte sie beide argwöhnisch. ,,Wer ist er?“ Mit dem Kinn wies sie auf Bilbo. Tilda zupfte an ihrem Ärmel. ,,Das ist der Halbling, der bei uns war“, flüsterte sie ihr ins Ohr und das Gesicht ihrer großen Schwester klärte sich etwas.

,,Was ist nun? Hast du verstanden, Mädchen?“

,,Nenn mich nicht ,Mädchen‘!“, fauchte sie zurück.

,,Wie auch immer… Na? Heute noch, wenn’s geht.“

,,Ja, du kannst ihn hierlassen. Und jetzt verschwinde.“

,,Na bitte. War doch gar nicht so schwer.“ Alfred machte kehrt und einen Augenblick später fiel die Tür ins Schloss.

Seufzend strich Sigrid die Strähnen hinter ihre Ohren, die nicht in ihrem hochgesteckten Haar bleiben wollten. ,,Ihr müsst diesen hinterhältigen Kerl entschuldigen.“

Sich die eisigen Hände reibend stand Bilbo ein wenig verloren im Raum.

,,Setzt Euch. Wir haben noch etwas vom Essen übrig.“

Als habe er mitgehört, rumorte sein leerer Magen leise. ,,Danke. Das ist sehr nett.“ Weil er es unhöflich fand, sich auf die soeben ausgebreitete Decke zu setzen, setzte er sich stattdessen neben Tilda. Bilbo sah der Ältesten zu, wie sie vor einem kleinen Topf am Feuer hockte und in ihm rührte. Allmählich spürte er, wie seine Wangen und Nase auftauten. Als er sich beobachtet fühlte, drehte Bilbo den Kopf und bemerkte Tilda, die ihn mit großen Augen betrachtete und sich überhaupt nicht an dem Gast störte. Eher im Gegenteil. Sigrid erhob sich und reichte ihm den Topf auf einem Brett. Hungrig schaute er hinein, doch alles was er sah, war ein Klecks Haferbrei, der wirklich nicht mehr als ein Klecks war, und dazu eine Scheibe Brot.

Sigrid musste seinen Blick gesehen haben. ,,Wir haben nicht viel“, erklärte sie und zog eine

Augenbraue in die Höhe, als wollte sie sagen: ,,Sei froh, dass du überhaupt etwas bekommen hast und begnüg dich damit.“

,,Nein, das reicht wirklich“, versicherte er ihr. ,,Ich brauche nicht viel.“

Sie zog einen Mundwinkel hoch und sich das gehäkelte Tuch zurück über die Schultern. ,,Tilda?“

,,Hm?“

,,Du musst ins Bett“, erinnerte sie sie.

,,Aber doch nicht jetzt!“

 ,,Ich erzähle Papa, dass du wieder mal nicht auf mich hörst.“

,,Papa ist auf einer ganz wichtigen Besprechung mit dem Elbenkönig und dem Zauberer“, zitierte sie hörbar Bards Worte. ,,Wir sollen ihn doch nicht stören. Das hat er selbst gesagt.“

Verzweifelt warf Sigrid die Hände in die Luft. ,,Bain, sag doch auch mal was!“

Dieser zuckte nur mit den Achseln. ,,Deine Aufgabe.“

,,Arrgh!“ Sie vergrub das Gesicht in den Händen.

,,Vielleicht noch fünf Minuten?“, schlug Bilbo vor und bekam von ihr einen funkelnden Blick zugeworfen. Schnell aß er weiter.

,,Bitte!“ Tilda machte einen Schmollmund bis ihre Unterlippe zitterte.

,,Also schön.“ Resigniert ließ Sigrid sich auf das leere Sofa zu Bilbos Linken fallen und hob den Finger. ,,Aber das sind die allerletzten fünf Minuten. Es ist wirklich schon spät.“

Bilbo spürte, wie die Kleine mit dem Hintern auf und ab wippte und musste über das quirlige Kind schmunzeln. Er nahm das Brot und wischte damit den Rest Brei auf.

,,Was hast du da gemacht?“

,,Wie bitte?“

Tilda zeigte auf seine Knie. Seine Hosenbeine waren an der Stelle gerissen und Blut ließ sie an der Haut kleben. ,,Hab mich gestoßen.“

,,Ich bringe Euch später etwas zum Verbinden“, bot ihre Schwester an. ,,Als die Elben in die Stadt kamen, brachten sie auch Medizin mit. Wir haben noch etwas von ihrem Wasser hier, was Wunden verschließt.“

,,Und sie brachten Essen für alle mit.“ Tilda riss die Arme auseinander. ,,Wagen voller Essen! Von riesigen Pferden gezogen!“, erzählte sie ihrem Gast mit kindlichem Hang zur Übertreibung.

Dieser jedoch blickte in den leeren Topf auf seinem Schoß und fühlte sich auf einmal schlecht, ihr letztes Essen aufgegessen zu haben. ,,Und dann teilt ihr mit mir euer Nötigstes?“

Die Kinder schauten sich an, als wüssten sie nicht, was sie sagen sollten. ,,Jeder hilft jedem hier“, antwortete Sigrid. Ein ehrliches Lächeln zierte ihr hübsches Gesicht. ,,So haben wir überlebt.“

,,Danke, das ist wirklich sehr nett. Alles, meine ich“, fügte er hinzu, auch auf die Versorgung seiner Knie bezogen. Sigrid lächelte und nahm den Topf wieder entgegen.

,,Ich hab noch nie so ein kleines Schwert gesehen.“ Fasziniert betrachtete Tilda Stich in seiner Scheide an Bilbos Gürtel. ,,Ist das dein eigenes?“

,,Ja, das gehört mir.“

,,Warum bist du hier in Dale?“

,,Ich musste mit Gandalf, dem Zauberer sprechen.“

,,Warst du auch auf der Besprechung? Vater sagt, dass Thranduil hier ist, um das zurückzufordern, was ihm gehört. Weißt du, was das ist?“

,,Nein, das weiß ich auch nicht“, gab er ehrlich zu. Die Frage, welche Rolle Thranduil in dem Ganzen einnahm, hatte er sich auch schon gestellt. Was wollte er? Auch einen Anteil am Gold?

Weil er ahnte, dass sie auch fragen würde, worum es bei dieser Besprechung ging, lenkte Bilbo auf ein anderes Thema um. ,,Euer Vater muss jetzt ein großer Mann sein.“

,,Papa ist ein Held. Und mein Bruder auch.“

Bain strubbelte ihr durch die braunen Haare, als er auf dem Weg war sich den Wasserschlauch vom Tisch zu holen.

,,Papa hat uns hier hergeführt.“

,,Und Alfred ist Vaters Mädchen für alles geworden“, höhnte ihr Bruder. ,,Sie wollten dieses verlogene Wiesel am nächsten Baum aufknüpfen, weil er zusammen mit dem Bürgermeister die gut von ihnen verwahrten Güter aus der Schatzkammer geplündert hatten.“

Sigrid verschränkte die Arme unter der Brust. ,,Von mir aus hätten sie es ruhig tun können, aber Vater ist dazwischen gegangen.“

,,Wo ist der Bürgermeister jetzt?“, fragte Bilbo.

,,Niemand weiß.“

,,Abgehauen“, meinte Bain. ,,Mit Braga und den anderen Halunken.“

,,Ich glaub, Papa ist jetzt Bürgermeister.“

,,Nein, Tilda. Er wollte das nicht sein, hat er gesagt.“ Dann sah Sigrid Bilbo an und erklärte: ,,Aber trotzdem haben die Leute hier ihm einen Titel zugestanden, den er auch angenommen hat.“

,,Papa hat gesagt, dass das Girions Haus war, mit dem er verwandt ist. Vielleicht wird Papa ja jetzt auch ein Fürst.“

,,Man kann nicht so einfach Fürst werden“, widersprach Bain und machte es sich bereits bequemer. ,,Dazu muss man blaues Blut haben. Oder jemanden heiraten, der es hat. Wer weiß, vielleicht heiratet Sigrid ja einen Fürsten“, zog er mit einem Grinsen seine Schwester auf.

,,Ha-ha. Hör auf über Themen zu reden, von denen du keine Ahnung hast.“

,,Du etwa?“

,,Mehr als du.“

,,Du hast mit Kuno dem Bäckerssohn unterm Haus rum geknutscht. Ich glaube nicht, dass das reicht, um Ahnung vom Heiraten zu haben.“

Ihre Wangen färbten sich knallrot. Sie nahm ein Kissen und schleuderte es ihm ins Gesicht, sodass er sich an der Staubwolke verschluckte. ,,Du Idiot!“

Tilda gluckste, doch wurde von einem Gähnen heimgesucht, was sie sich die Augen reiben ließ.

,,Soso, da ist wohl wer müde.“

,,Bin ich nicht“, nuschelte die Kleine, obwohl die Müdigkeit schon längst gewann.

Sigrid nahm sie hoch und legte sie auf die ausgebreitete Decke, die sie um ihre Schwester schlang.

,,Sigrid?“, fragte sie mit bereits halb geschlossenen Augen und bekam von ihr ihre Puppe Nana in den Arm gelegt. ,,Werden die Zwerge sich wieder mit uns vertragen?“

Ihre Schwester versuchte, sich von den Sorgen der Erwachsenen nichts anmerken zu lassen. Sie setzte sich an ihre Seite und strich ihr über die Stirn. ,,Ganz bestimmt.“

,,Das ist gut… Wenn, können wir dann die Zwerge zu uns einladen? Die, die bei uns waren? Der Blonde, der mit den Zöpfen, der war so nett zu uns. Du hast nicht auf ihn gehört, als er sagte, wir sollen im Haus bleiben. Und dann hat er dich gerettet, weißt du noch?“ Immer schwerer wurden ihre Augen.

Sigrid schmunzelte. ,,Wie könnte ich das vergessen.“

,,Er ist echt nett. Wenn du jemanden heiraten willst, dann kannst du ihn ruhig heiraten. Dann ist es mir auch egal, dass er kein Fürst ist.“

Aus Bains Ecke kam ein Glucksen. Sigrid überhörte es. ,,Ich werd’s mir überlegen“, beschwichtigte sie sie schmunzelnd.

,,Und dann feiern wir ein Fest. Im Frühling, wenn alles blüht. Damit du ein Kleid aus Blüten bekommst.“

,,Das machen wir“, flüsterte Sigrid und Bilbo sah es in ihren Augen beginnen zu schimmern. ,,Im Frühling werden der Schnee und die Kälte weg sein. Dann ist alles vorbei und alles wird blühen. Und dann machen wir Dale zu unserem neuen Zuhause. Wir feiern ein ganz großes Fest.“ Sie gab ihrer Schwester einen Kuss auf die Stirn. ,,Schlaf gut, Tilda.“

Leise erhob sie sich und riss zwei Kerzen aus ihren Haltern an der Wand, die sie am Feuer ansteckte. Bilbo verstand und folgte ihr. Ein letztes Mal drehte er sich zu Bain und Tilda um, die vom Feuerschein bewacht schon schliefen.

Die alten Bohlen knarzten unter jedem ihrer Schritte, als er Sigrid die Treppe hinauf folgte. Der Schein der Kerzen reichte gerade so, um sich auf dem Flur zurecht zu finden. Sigrid zeigte Bilbo einen kleinen Raum, in dem ein Bett stand. Es gab keinen Kamin, dafür war das Bett trocken, doch seine mottenzerfressenden Decken waren über die Jahre hart geworden. Sigrid ließ ihn mit einer der Kerzen allein und er hatte ein wenig Zeit, um über den Tag nachzudenken.

Als er die Laken und die Bezüge ausklopfte, musste er an die Kinder im Wohnraum denken und an das, was morgen geschehen könnte. Wollte Thorin wirklich einen Krieg? Können die Zwerge sich jemals wieder mit den Menschen vertragen? Er hoffte es mehr denn je und setzte seine allerletzten Hoffnungen auf das Funktionieren seines Plans. Alles an dem morgigen Tag graute ihm. Doch er war auch erleichtert zu sehen, dass Bards Familie nicht durch den Drachenangriff auseinandergerissen worden war.

Sigrid war eine junge Frau, die seit dem Tod der Mutter schon früh viel Verantwortung in ihrer Familie übernehmen musste. Sie übernahm die Rolle einer Mutter, führte den Haushalt und hielt ihre Geschwister beisammen. Bilbo rechnete es ihr hoch an. Insgeheim war er ein wenig neidisch auf Geschwister, die so einander kümmerten und beschützten, denn er selbst hatte keine. Und hatte er da etwa eine zarte Rötung auf ihren Wangen gesehen, als Tilda von Fili gesprochen hatte? Wenn Tilda wüsste, dass er der Kronprinz war…

In diesem Moment kam Sigrid wieder und unterbrach weitere Vermutungen. Sie brachte ihm eine Decke, warmes Wasser und ein paar Leinenfetzen für seine Knie. Außerdem eine Bettpfanne mit heißen Kohlen, über die sich Bilbo sehr freute und dankbar annahm.

Als er schließlich in dem Bett lag, die Hose hochgekrempelt, die Knie gesäubert und verbunden, fand er allmählich Ruhe. Er versuchte nochmal vergeblich das flache Kissen aufzuplustern und rollte sich enger um die Bettpfanne zusammen, deren Wärme wohltuend in seinen Bauch einzog und unter der Decke ein warmes Luftpolster schuf. Er spähte auf Stichs glänzende Klinge, die er von ihrer Hülle befreit neben sich abgelegt hatte, um bei dem kleinsten blauen Aufleuchten aus dem Bett springen zu können. Als er an das dachte, was Gandalf zu Alfred geraunt hatte, musste er schmunzeln. Er hatte es noch gehört. Dieses Wiesel, wie Sigrid ihn passenderweise genannt hatte, war ein jämmerlicher Spitzel. Wenn Alfred morgen früh hier her kommen sollte, würde er schon längst zurück im Erebor sein. Er war auf alles vorbereitet.

Bilbo zog die Decke bis über die Nase, schloss die Augen und stellte sich auf eine sehr kurze Nacht ein.

 

 

19

 

Ausdruckslos sah Thorin an das Baldachin des Himmelbettes. Er hatte geglaubt, dass der Lauf der Zeit ihm seine Sehnsucht nehmen würde. Doch aus grauen Stunden waren Tage geworden und aus Wochen dunkle Monate. Vieles war farblos. Er spürte ein schweres Gewicht, das er Tag für Tag mit sich herum trug, als lägen ihm Steine auf jedem einzelnen seiner Organe.

Er lebte in den Tag hinein ohne zu wissen, wie es morgen weitergehen sollte. Dieses Zimmer war für ihn eine Zufluchtsstätte geworden. Wenn das trostlose Grau, das ihn gefangen hielt, ihn seine Lasten spüren ließ, dann kam er hierher.

Lautlos seufzte Thorin und verschränkte den rechten Arm hinterm Kopf. In seinem anderem, ihren Kopf auf seiner Brust ruhend, lag das Mädchen. Die rote Decke ans Fußende verbannt schmiegten sich ihre nackten Körper aneinander, fühlten sich klebrig an, dort wo sie sich berührten. Das offene Fenster brachte Abkühlung und eröffnete die Geräusche aus der Stadt unter den Eredluin für sie.

Auf einmal spürte er, wie sich ihre Wange unter einem Lächeln bewegte. Er strich ihr durchs Haar, ließ die mit Bänder durchflochtenen Strähnen durch seine Finger rinnen und sie antwortete: ,,Ich höre deinem Herzen zu.“ Seine Hand verharrte, wo sie war, und sein Blick richtete sich zurück an die Zimmerdecke. ,,Manchmal denke ich, dass ich keins mehr habe.“

Fragend sah sie ihn an, die Augen vor Unverständnis und einer Sorge groß. ,,Wieso sagst du so etwas?“

,,Ich habe es an ein Mädchen verloren“, gestand der Zwerg und tat damit etwas, was er vor ihr und Fremden hatte vermeiden wollen. Nun war seine größte Schwäche ausgesprochen und Erinnerungen regnen auf ihn nieder. Thorin drehte den Kopf zur anderen Seite, weil er ihr Mitleid nicht sehen wollte. Er hatte es nicht verdient, denn er selbst war daran schuld.

Betrübt schürzte die Dirne die Lippen, bis ihr Blick auf seine Brust fiel und nachdenklich wurde. Sie nahm die schwarze Schnur und ließ die Finger über den Anhänger fahren. Thorins Kopf fuhr herum. Instinktiv nahm er ihr die Kette aus der Hand. Er wollte nicht, dass sie sein persönlichsten Besitz anfasste. Es fühlte sich falsch an, wenn man die Bedeutung verstand, die dieses unscheinbare Schmuckstück für ihn hatte.

Dass sein Griff fester als beabsichtigt gewesen sein musste, bemerkte Thorin, setzte sich deshalb auf und küsste sie als Entschuldigung auf die Stirn.

,,Marie. Sie ist es.“

Es war, als hätte sie ihm einen harten Gegenstand über den Schädel gezogen und ihn auf zutiefst unheimliche Weise wie aus einem Albtraum aufschrecken lassen. ,,Woher weißt du von ihr?“

,,Du hast von ihr im Schlaf gesprochen“, mit der Fingerspitze strich sie über seine angespannten Bauchmuskeln, ,,damals, als du das erste Mal bei mir gewesen warst. Und als ich dich auf der Gasse fand, sagtest du ihren Namen.“ Sie legte den Kopf schief, als wäre diese Kombination für sie ein Kinderspiel. ,,Marie war es, die dir diese Kette geschenkt hat. Du trägst sie Tag und Nacht, legst sie nicht ab. Ich hab nie danach gefragt, aber sie muss dir viel bedeuten, so wie derjenige, der sie dir gegeben hat.“ Mit einem Schulterzucken kam sie zu dem Schluss, dass es Maries Kette sein musste.

Thorin ließ sich zurück in die Kissen sinken. Der Schmerz seiner blutenden Brust hatte ihn förmlich nieder gezwungen.

,,Was ist mit ihr passiert?“, wisperte das Mädchen.

Wie von einem reißenden Fluss davon getrieben, schossen Bilder jenen Tages vor seinen Augen entlang. Zu schnell, um alles zu erkennen, trotzdem ausreichend, um es ihn ein zweites Mal fühlen zu lassen. Thorin schluckte, damit die Enge aus seiner Kehle verschwand. ,,Ich musste sie zurück lassen, als wir flohen.“

,,Ist sie ein Mensch?“

Er blieb ihr die Antwort schuldig, denn er hatte sie bereits in ihren Augen gesehen.

,,Wieso gehst du sie nicht suchen?“

,,Es ist unmöglich. Sie könnte überall sein oder…“ Allein der Gedanke daran war grausam für ihn. Thorin sah aus dem Augenwinkel, dass sie nicht verstand. ,,Oder nirgendwo.“

Da war dieser Ausdruck von Mitleid in ihren Augen. ,,Ich verstehe.“

Er drehte das Gesicht weg. ,,So oder so, es ist eh zu spät.“

,,Thorin…“, sie schenkte ihm einen vorwurfsvollen Blick, ,,es ist niemals zu spät, seine Träume wahrzumachen.“

Jetzt war sie wieder da. Die namenlose Poetin.

,,Ach, ja?“ Er schnaubte und lehnte sich tiefer in die Kissen. ,,Erzähl mir von den Träumen einer Hure.“

Grinsend setzte sie sich in die Mitte des Bettes und schlang die Arme um ihre gekreuzten Beine. ,,Ich möchte Malerin werden.“

Verwundert zog Thorin eine Augenbraue hoch. ,,Malerin?“

,,Ja. Hier“, seufzte sie und wies durch ihr Zimmer. ,,Hier will ich nicht bleiben. Ich möchte meine eigene Werkstatt aufmachen, mein eigenes kleines Reich, wo ich wirklich frei sein kann.“ Erneut grinste sie, doch diesmal mit einem durchtriebenen Funkeln in der Iris, als sie ihn betrachtete. ,,Bleib so.“ Sie warf sich die Decke über und flog mit einem nymphenhaften Sprung förmlich aus dem Bett und über seine am Boden liegenden Stiefel hinweg. Thorin konnte gar nicht so schnell schauen, wie sie die Schubladen der Kommode aufriss, ein Blatt Papier, was auf einer Art Brett geklemmt war, zusammen mit einer Blechdose heraus nahm und sich den Stuhl heran zog.

In dem glänzenden Stoff gehüllt überschlug sie die Beine und legte sich das Papier auf die Knie, die Blechdose in den Schoß. ,,Deinen Arm…wie eben.“ Sie hob ihren eigenen und machte es ihm vor. Thorin folgte und legte seinen rechten Arm über seinen Kopf auf die Kissen. Ihre Bernsteinaugen überflogen seinen Körper, betrachteten jeden einzelnen Zentimeter genauestens. Erst dann nahm sie aus der Dose einen Kohlestift und tauchte in ihr Element ein.

Scharf beobachtete sie ihn, studierte sein Gesicht. Ihre Finger waren immer in Bewegung, ruhten nicht einen Augenblick. Manchmal nahm sie ein kleines Messer, um die Kohlestifte neu anzuspitzen.

Thorin hielt still und beobachtete, wie ihre Hände ein Kunstwerk vollbrachten. Sie sah sehr süß aus, wie sie konzentriert den Kopf schief legte, sich Strähnen aus dem Gesicht pustete oder die Stirn zusammen zog.

,,Nicht bewegen.“

,,Hab ich doch gar nicht.“ Strafend sah sie ihn an und er zwang seine Mundwinkel wieder nach unten. Ihm war bewusst, dass sie ihn teilhaben ließ an einem Teil ihres Lebens, der ihr sehr wichtig war.

Nach einer Weile setzte sie den letzten, winzigen Strich und wischte sich über die Wange, wo sie prompt einen schwarzen Streifen hinterließ. Mit einem zufriedenen Lächeln legte das Mädchen ihre Utensilien beiseite und reichte ihm das Bild. Es überstieg Thorins kühnsten Vorstellungen meilenweit. Er sah sich selbst, wie er auf dem Bett liegend dem Betrachter entgegen schaute. Er war bis zum Nabel gezeichnet, so lebensecht, obwohl das Ganze nichts weiter war als Kohle auf Pergament. Raffinierte Schattierungen erweckten es zum Leben. Man meinte, jedes einzelne Haar zu erkennen.

,,Die hier hab ich gemacht, als du das erste Mal bei mir gewesen warst“, gestand sie und gab ihm zwei weitere Blatt Papier. Wieder war er abgebildet, diesmal auf dem Bauch liegend. Jeder Faltenwurf des zerwühlten Lakens war ausgearbeitet. Ein Bein von ihm war eingewinkelt, sein Hintern unbedeckt, was dem Bild einen leicht erotischen Charme gab.

Auf dem zweiten waren nur seine Augen gemalt: nachtschwarze Pupillen, graue Iris, Wimpern, Augenbraun… Jede Reflektion des Lichts so detailliert, jedes Härchen genau gesetzt, jedes ihrer Bild wunderschön gearbeitet.

Als Thorin sie ansah, wich sie verlegen aus. Vielleicht war es ihr peinlich, ihm diese heimlich gemalten Bilder zu zeigen. ,,Wie konntest du meine Augen so genau malen, wenn ich zu der Zeit geschlafen hab?“

Sie tippte sich an die Schläfe. ,,Ich kann Dinge sehr genau wiedergeben. Ist, glaube ich, ein Talent von mir.“

 ,,Unglaublich“, raunte er fasziniert, den Blick zurück auf die Kunstwerke gerichtet. Was würde sie erst erschaffen können, wenn sie eine Leinwand und Ölfarben vor sich stehen hätte? ,,Sie sind wunderschön.“ Er gab sie ihr zurück und sie tat sie in eine graue Mappe, die ihm vertraut vorkam. Er hatte diese irgendwann schon einmal hier im Zimmer liegen sehen.

,,Wie kommt es, dass du stattdessen Dirne bist?“ Augenblicklich bereute er die Frage, als er sah, wie niedergeschlagen sie plötzlich aussah.

Schweigend verstaute sie die Zeichnungen in den Heiligtümern ihrer Kommode, ehe sie sich aufs Bett sinken ließ und die Decke enger um ihren nackten Körper schlang. ,,Mein Vater musste mich und meine Geschwister allein großziehen. Er war nur ein Gruber und meine Brüder wurden es auch. Meine kleine Schwester verdiente als Näherin dazu, um unseren eher bescheidenen Lebensunterhalt aufzubessern, während ich den Haushalt schmiss. Wir hätten um die Runden kommen können“, ihre Stimme wurde leiser, ,, doch meine Schwester erblindete.“ Sie nahm ihren Zopf mit der roten Holzperle zwischen die Finger, als sie erzählte. ,,Anit konnte nicht mehr arbeiten und wir mussten sie fortan durchfüttern, wie mein Vater es öfters genannt hatte.“ Groll darüber schwang in ihrem Ton mit. ,,Als junges Mädchen hab ich ihn ständig angebettelt mir Sachen zum Malen zu kaufen, aber das ging nun nicht mehr. Wir versuchten, ihr Augenlicht zu retten, holten die verschiedensten Heiler und Mediziner ins Haus, doch alles, was es brachte, war unsere Geldbeutel zu leeren. Als ich älter wurde, hab ich meinen Wunsch geäußert, Malerin zu werden, um damit Geld zu verdienen. Dafür brauchte ich Stifte, Farben, Leinwände, Papier… Naja, alles, was man halt so brauch, um sich eine Existenz aufzubauen. Das Geld reichte hinten und vorne nicht. Mein Vater hatte mich nicht ernst genommen, hatte mir gesagt, ich solle mir das schleunigst aus dem Kopf schlagen.“ Sie rieb ihre Hände gegeneinander, um die dunklen Flecken abzubekommen, als wären sie ein Beweis für etwas Verbotenes, was sie dennoch getan hatte. Als Thorin es in ihren Augen flackern sah, schlang er die Arme um ihre Taille und zog sie zu sich. An seinen Körper gelehnt, schaffte sie es weiterzuerzählen.

,,Vor vier Jahren gab es ein großes Grubenunglück hier. Eine Stollenwinde ging kaputt. Mein Vater, meine Brüder und noch fünf weitere Männer starben, als die Winde in die Tiefe stürzte. Von da an waren ich und meine Schwester auf uns allein gestellt.“ Sie hob den Kopf und sah ihn an. ,,Ich wusste keinen anderen Ausweg. Ich arbeite hier einzig und allein für Anit und für meinen Traum. Ich spare jede Kupfermünze, um ihn eines Tages wahrzumachen.“

Beschwichtigend strich Thorin ihr übers Haar. ,,Ich weiß, dass du es schaffen wirst. Ich glaub an dich.“

,,Danke. Das bedeutet mir wirklich viel.“

,,Wenn du Geld brauchst…“ Er leckte über seinen Daumen und rieb ihre Wange, um ihre Sommersprossen von der Kohle zu befreien.

Reflexartig wich sie zurück. ,,Nein! Ich will dein Geld nicht.“

Ihre heftige Abwehr war für ihn unverständlich. ,,Hätte ich das alles gewusst, hätte ich es dir schon längst verschafft und dich hier rausgeholt.“

,,Genau deshalb wollte ich nicht, dass du es weißt.“

,,Warum willst du meine Hilfe nicht?“, fragte Thorin und wurde langsam wütend, als er seinen Fehler nicht fand, weswegen sie ihn jetzt beschuldigte.

,,Du meinst wohl König Baryns Hilfe“, entgegnete sie spitz. ,,Versteh doch, ich will es selber schaffen. Ich will von niemandem abhängig sein. Das nennt man, für seine Träume kämpfen. Solltest du übrigens auch mal versuchen.“

Ihren plötzlichen Vorwurf vor die Füße geschmettert starrte Thorin sie an. Wie sollte er kämpfen, wenn er alles verloren hatte? Er war ein Gestrandeter im Leben ohne Kompass. Für ihn gab es keine Himmelsrichtungen mehr.

Seufzend stieß die Dirne den Atem aus. ,,Wieso hast du deine Träume aufgegeben, Thorin?“

,,Das habe ich nicht.“

,,Doch, das hast du.“ Wie auch er verengte sie die Augen. ,,Solange du hier bleibst, kannst du sie nicht wahrmachen. Was hindert dich daran?“

,,Willst du, dass ich allein zum Erebor gehe?“

,,Ich meine deinen anderen.“

Seinen anderen Traum? Marie wiederzusehen.

Nein. Nein, es war vorbei. Es war zu spät. Er konnte die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Man konnte die vergangene Zeit nicht einfach so ignorieren, nicht zurück drehen, ganz gleich, wie sehr man es sich auch wünschte.

Und wenn er sie tatsächlich wiederfinden sollte, was dann? Nur um dann zu sehen, wie sein Auftauchen ihr neues Leben zerstörte? Sie würde ihn nicht sehen wollen. Sie hatte allen Grund dazu. Vielleicht stößt er auf ihren Mann, sieht sie in den Armen eines anderen, der sie glücklich machen konnte.

Der Gedanke an sein Mädchen war tödlich für ihn. Wieso quälte sie ihn, sich mit seinen Ängsten und Schuldgefühlen auseinanderzusetzten? Thorin wiedersetzte sich ihr. Er wollte diesen Schmerz des Vermissens nicht haben! Drängend nahm er ihren Kopf in beide Hände, um sie bei sich zu halten, küsste verzweifelt ihre Kehle, um den Rausch des Vergessens zu spüren. Er versuchte, die Decke von ihrem Leib zu zerren. Unmissverständlich drückte sie eine Hand auf seine Brust. Thorin blickte auf.

Sie sah ihn nicht an, wirkte auf einmal traurig und enttäuscht. ,,Du solltest gehen.“

Er spürte ihre Hand zittern, als sie ihn auf Abstand hielt und eine große, klaffende Lücke zwischen ihnen schaffte. Und es war, als wären ihre Worte und ihre Geste endgültig.

Thorin presste die Lippen aufeinander und akzeptierte ihre Entscheidung.

Er stand auf und begann, seine Sachen, die am Boden verteilt lagen, auf zu sammeln. ,,Wieso habe ich das Gefühl, dass dies ein Abschied ist?“

Es blieb still im Zimmer. Die Antwort auf diese Frage musste er selbst herausfinden.

Schweigend zog er sich an und legte wie immer drei Silbermünzen auf die Kommode neben der Tür. Mit einem Lebewohl auf der Zunge fasste er die Klinke und... ,,Amris.“

In der Tür drehte Thorin sich noch einmal um, verwundert über das Wort für ,,Bernstein“ in Khuzdul, und sah sie lächeln. Ein schönes, junges Lächeln, was er schon so oft bei seiner Dirne gesehen hatte. ,,Mein Name ist Amris.“

 

Zurück im Gästeflügel der königlichen Gemächer kreisten immer noch Fetzen von ihrem Gespräch durch seine Gedanken, ließen ihn nicht mehr in Ruhe. Wie zäher Leim hing ihr Name ihm im Kopf fest. Amris hatte ihn also rausgeschmissen und an demselben Punkt ausgesetzt, wo er schon Wochen zuvor gestanden hatte. Was sollte er mit sich anstellen?

Thorin schloss die Tür zu seiner Wohnstube auf und fand gähnende Leere vor. Wie passend, dachte er mürrisch und warf die Tür ins Schloss. Ein angelehntes Fenster klapperte, als draußen die ersten verfärbten Blätter vom Wind durch die Luft gewirbelt wurden. Zum Glück schien niemand daheim zu sein, der ihm auch noch auf die Nerven gehen konnte.

Zu dem Bild des Raumes gehörten seit einigen Tagen die leeren Flaschen dazu, die neben dem ungemachten Bett am Boden verweilten. Wulkna, sein Zimmermädchen, das hier sauber gemacht und täglich jeglichen Schnaps auf Ninkas Anweisung hin entsorgt hatte, hatte gekündigt. In manchen der Flaschen waren nur noch Pfützen und Thorin konnte sich nicht erinnern, wann er diese Mengen getrunken hatte. Seine Augen fokussieren eine noch halbvolle an und der Wunsch, diesen verkorksten Tag zu vergessen, schlich bereits näher. Er machte einen Schritt in die Richtung und wurde ohne Vorwarnung an die Wand geworfen. ,,Hör auf!!“

Erfolglos versuchte Thorin, ihn von sich zu drücken. Dwalin packte sein Oberteil und nagelte ihn an der Wand fest. ,,Wenn du das jetzt tust, dann schwör ich dir…“

,,Was dann?!“ Er stemmte sich gegen ihn, doch es war, als versuchte er, einen Berg zu verschieben.

Dwalin hielt ihn am Kragen und schüttelte ihn. ,,Wach endlich auf! Der Sommer ist vorbei, Thorin, man wird dir Kili und Fili wegnehmen!“

Langsam sickerte die fatale Bedeutung der Worte in sein Bewusstsein vor. Sie durchbohrten sein Inneres, schlitzten es auf und hinterließen blutige Stücke Fleisch.

Er drehte das Gesicht weg, doch Dwalin verstärkte seinen Griff und zwang ihn, ihn anzusehen. ,,Du hast ihnen auf dem Schlachtfeld etwas versprochen“, raunte er langsam, als versuchte er, die Beherrschung über sich nicht zu verlieren. ,,Ich war dabei, habe es mit meinen eigenen Sinnen gehört und gesehen. Würde Baryn sie nicht zu sich nehmen, würden andere dir jeglichen Kontakt verwehren.“ Seine geballten Hände bebten, gaben den Sturm preis, der in ihm wütete. ,,Ist es das, was du willst? Willst du das?!“

Thorin besaß keine Kraft mehr, den Kopf zu schütteln. ,,Was kann ich jetzt noch ausrichten?“

,,Ich sage dir, was du tun sollst: trage wieder Verantwortung für dein Leben und das ihres. Dein Trinken. Das. Muss. Aufhören. Verstehst du? Ihretwegen. Sie haben nur noch dich. Hörst du mir zu? Verstehst du, was ich sage?“

Die Lasten schnürten sich enger um seinen Körper. Schnürten ihm die Luft zum Leben ab.

Dwalin stieß ihn heftig gegen die Wand. ,,Was bedeuten sie dir?!“

Und Thorin brüllte zurück: ,,Ich liebe sie!!“ Er wurde losgelassen, als könnte man sich an ihm verbrennen.

,,Dann beweis das, verdammt nochmal!“

,,Wenn du wüsstest, wie es sich anfühlt, alles verloren zu haben! Einfach nicht mehr weiter zu wissen. Keinen Sinn, keine Hoffnung in allem, was man tut. Weißt du, was das für ein Gefühl ist?“ Nervöse Stille legte sich zwischen die beiden Männer.

Nun war es sein Freund, der den Kopf schüttelte. ,,Weißt du, was ich sehe?“ Traurig musterte er ihn. ,,Ich sehe einen Mann, der aufgehört hat, er selbst zu sein.“

,,Was soll ich deiner Meinung nach tun?“

,,Kämpfen. Um ihr Leben und um dein eigenes. Ich werde nicht mit ansehen, wie du dich zu Grunde richtest. Willst du wirklich aufgeben? Oder willst du um sie kämpfen?“

Es gibt immer einen Weg, flüsterte plötzlich eine Stimme wie aus dem Nichts. Gib sie nicht auf, Thorin. Sie brauchen dich. Und du brauchst sie. Mehr denn je. Es ist niemals zu spät, seine Träume wahrzumachen. Ein Windstoß ließ das angelehnte Fenster aufschlagen und Thorin sah die Sonne über dem Wald versinken. Das nennt man, für seine Träume kämpfen.

,,Thorin, hörst du mir überhaupt noch zu?“

Da war ein Weg, ein Lichtstrahl am Ende des trostlosen Graus. Er musste aufhören, abhängig zu sein. Von jemandem oder von etwas. Er musste frei sein.

Als hätte sie ihn gehört, kam ihre Stimme, direkt aus dem Licht: Was hindert dich daran? Du solltest gehen... War es nicht genau das, was Amris ihm gesagt hatte?

,,Ich schwör dir, ich prügel dich tot, wenn du mir nicht gleich antwortest.“ Dwalins erboste Stimme holte ihn aus seiner Trance. Thorin sah seinen Freund an und die Chance auf eine Flucht aus all dem stand in der flammenden Dämmerung geschrieben. ,,Ich muss fort…“

Der Zorn wich aus den Zügen ihm gegenüber. Dwalin trat einen Schritt zurück und gab ihm wieder Freiraum.

,,Ich muss gehen.“ Unruhig irrten seine Augen hin und her, als er seine sich überschlagenen Gedanken zu ordnen versuchte. Thorin schluckte und sah Dwalin an. ,,Ich kann nicht mehr hier bleiben.“

Als er seine Entscheidung verstand, nickte der Zwerg. ,,Dann musst du gehen.“

Plötzlich wurde die Verbindungtür zur anderen Wohnstube aufgerissen und Ninak stürzte herein. ,,Sie kommen! Es ist Varis. Er und zwei Soldaten.“ Sie keuchte, als wäre sie um ihr Leben gerannt. ,,Sie sind schon auf der Treppe. Sie wollen die Kinder holen!“

,,Das werden sie nicht.“ Beide sahen Thorin an, aus dessen Augen heiße Funken sprühten. Mit geballten Fäusten stand er vor ihnen. ,,Sie bekommen meine Jungs nur über meine Leiche.“

Dwalin und Ninak sahen sich an, dann nickten sie ihm zu. Sie waren zu allem bereit.

Ein lautes Klopfen auf dem Flur ließ sie sich umdrehen. Balin erschien hinter Ninak im Zimmer. ,,Da steht Ratsmitglied Varis vor der Tür. Soll ich ihn…?“

,,Nein!“, riefen alle drei wie aus einem Mund und ließen den alten Zwerg zusammen zucken.

Dann passierte alles auf einmal. Gleichzeitig setzten sich Thorin und Dwalin in Bewegung. ,,Wo sind die Jungs?“

,,Bei mir. Ninak, halt sie auf.“

,,Darauf kannst du Gift nehmen.“

Es klopfte wieder. ,,Im Namen des Königs: Aufmachen!“

Thorin hetzte an seinen Schrank, holte einen Rucksack hervor und stopfte Kleidung hinein. Sein Puls stieg rasend in die Höhe. Die Angst, dass es wohlmöglich doch zu spät war, saß ihm im Nacken. Für sich selbst würde er  nicht viel brauchen. Er musste so schnell wie möglich fort. Zwischen den Lagen seiner Hosen holte er ein Säckchen hervor und tat die wenigen Münzen zu denen an seinem Gürtel. Es war alles, was er noch besaß.

Im Kinderzimmer riss er die Schränke auf, tat warme Sachen für die Kinder hinein, alles, was sie brauchen würden und nützlich war. Als er schon aus dem Zimmer wollte, stopfte er noch zuletzt Kilis Kuscheltier in den Rucksack und schnürte ihn zu.

Dwalin kam zurück, hatte die Jungs dabei. ,,Onkel Thorin, wo gehen wir hin?“, fragte Kili, versuchte Schritt zu halten.

,,Fort von hier.“ Er nahm ihm das Kind ab und half dem Jungen beim Anziehen. ,,Wir müssen uns beeilen. Fili, zieh dich an.“ Sie taten brav, was er verlangte. Deutlich spürten sie die Aufregung der Erwachsenen.

Das Klopfen wurde immer lauter, bollerte inzwischen gegen die Tür. Stimmen drangen aus dem Nebenraum zu ihnen, als Ninak schließlich ihre Tür aufmachte. ,,Ich bin im Auftrag von König Baryn hier.“

Thorin spürte Hass auflodern, als er diesen Widerling hörte.

,,Was habt Ihr dann hier verloren? Warum kommt Eure Hoheit nicht persönlich?“

Weil Varis es sich nicht nehmen lassen wollte, dabei zu sein, wie man ihm das Herz brach, vermutete er. Er wusste, Varis wollte ihn leiden sehen.

Dieser blieb Ninak jedoch seine Erklärung schuldig. ,,Tritt beiseite, Weib.“

Etwas schlug mit eiskalter Härte gegen den Türrahmen. Es klang nach einem Küchenmesser, mit dem Ninak ihnen den Weg versperrte. ,,Setzt Ihr einen Fuß über diese Türschwelle, war es Euer Fuß gewesen.“

Thorin zog seinen Mantel an und warf sich das Gepäck über.

,,Die noch.“ Balin legte eine zusammengerollte Decke unter die Klappe des Rucksackes und machte die Schnalle fest. ,,Ninak wird sie rein lassen. Dann geht ihr durch die andere Tür raus. Wenn sie dich sehen sollten, musst du rennen. Bleib nicht stehen. Sollten sie dich kriegen, wird Varis mit Sicherheit veranlassen, dich wegen Wiedersetzung von königlichen Befugnissen zu verhaften. Und dann…“

,,Keine Sorge, Balin. Sie werden mich nicht aufhalten können.“

,,Macht Platz, sonst tun es meine Männer!“

,,Wagt es ja nicht!!“

,,Wir haben keine Zeit mehr“, drängte Dwalin, der so schnell wie möglich seiner inzwischen Zeter und Mordio schreien Frau zur Hilfe eilen wollte.

Thorin drehte sich zu ihm und umarmte als letzte Amtshandlung seinen Freund und Weggefährten. Hier nun würden sich also ihre Wege trennen. Doch er wusste auch, dass es nicht für immer sein sollte. Nur so lange, bis er sich selbst wiedergefunden hatte. Was er in diesem Augenblick empfand, war für ihn auch noch Jahre später nicht in Worte zu fassen. ,,Atenio. Danke für alles.“

Dwalin erwiderte die Umarmung und schloss seinen besten Freund in seine Arme. ,,Atenio. Tan in Valar gargem beniath.

Dann umarmte Thorin auch Balin. ,,Pass gut auf sie auf, mein Junge.“

,,Das werde ich.“ Thorin streckte die Hände nach ihnen aus und Kili und Fili ergriffen sie. ,,Ninak, lass sie rein!“

Es gab ein lautes Poltern. ,,Wo sind sie?“

In dem Moment, wo die Tür geschlossen wurde, tat sich eine andere auf. Laute Stimmen riefen hinter ihm durcheinander, als man den verwaisten Raum durchsuchte.

Thorin hörte noch das Knallen, als Dwalins Faust Varis Gesicht traf, Ninak, wie sie einem der Männer eine ihrer Bratpfannen über zog. Thorin blieb nicht stehen, sondern lief Seite an Seite mit den Kindern weiter. Er hielt die Hände seiner Neffen. Und nur das zählte noch für ihn.

 

 

20

 

Harter Frost hatte sich über Nacht nieder gelassen, ließ den Boden im allerersten Licht der Dämmerung funkeln. Über den Kuppen der Berghänge und zwischen den zerfallenen Türmen am Rabenberg kroch der Nebeldunst. Verborgen von den kalten Wolken ragte der Gipfel des Erebors hoch über ihnen auf.

Auf dem Wehrgang verfolgten die Gefährten, wie das Zwielicht langsam seine Finger austreckte, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Es war so leise, dass man sich einbilden konnte, den Nebel zu hören, wie er an ihren geschärften Waffen entlang strich und die Rüstungen tätschelte, die sich alle am Vorabend für diesen Tag zurechtgelegt hatten.

Bewegungslos und schweigend warteten sie auf das Anbrechen des Tages.

Der erste Sonnenstrahl schaffte es durch die Wolken und brach sich in der, direkt aus der Schmiede kommenden Krone, die ihr Anführer und König in ihrer Mitte auf dem Haupt trug.

Die alte Krone ihres Landes war in der Schlacht um Moria verloren gegangen. Was die Orks damit gemacht hatten, war ungewiss. Bei Thorins Erscheinen hatten die Gefährten staunend die Krone ihrer alten Könige wiedererkannt, denn diese neue glich jener verschollenen bis auf das letzte Detail.

Ein Ring aus dunklem, mit schwarzen Gravuren versehenem Metall bildete das Hauptstück. Über der Stirn waren goldgeränderte Elemente zu einem außergewöhnlichen Schmuck angeordnet. Auf Edelsteine wurde verzichtet, stattdessen breiteten sich über der Stirn zu den Seiten hin tiefschwarze Onyxplatten auf, als gehörten sie zu zwei abstrakten Rabenhälften, die sich an den Schnäbeln am Scheitel berührten und deren Schwingen bis zu den Beginn von Thorins Wangenknochen nach unten reichten. Die Arbeit war unglaublich fein und ordentlich. Alles vereinte diese Krone: robust, stark und edel, mächtig und unbeugsam. Thorins Charakter wurde darin erkennbar.

Als sich die ersten Strahlen der Sonne auf seinem Gesicht ausbreiteten, schloss er die Augen und horchte in den Morgen hinein. Das Wolfsfell seines Mantels bewegte sich ruhig vom kalten Wind. Das Gewicht seiner goldenen Rüstung fühlte sich beruhigend und richtig an und ließ ihn seines Großvaters und dessen Traum gedenken: ein freies Erebor.

In der Stille des Morgens konnten sie sie hören, noch in der Ferne, doch sie kamen stetig näher.

Bard sollte Wort halten: ihr Feind machte sich auf dem Weg zu ihnen.

Thorins Geist und Körper waren hellwach. Er hob das Gesicht in den Wind. Er war bereit, sein Erbe zu verteidigen. Mit Feuer und Zorn. Sollten sie kommen und ihm sein Land oder sein Gold nehmen wollen, so werden sie scheitern und ihr Todesurteil unterschreiben.

Ewigkeiten schienen zu verstreichen, in denen sie das Tal hinab sahen und nur das rhythmische Klappern und Rassel von Rüstungen und Schilden im perfekten Gleichschritt hören konnten.

Dann sahen sie das Heer der Elben das Tal hinauf marschieren.

Speere standen unzählbar in den Himmel. Ein Soldat glich dem anderen, verschmolz in der Masse aus goldenen Rüstungen und roten Umhängen. Abwartend verfolgten die Zwerge, wie hunderte von Elben auf der winterlichen Ebene vor dem Tor des Zwergenreiches zum Stehen kamen. Die Reihen teilten sich, um zwei Reitern den Weg zu ebnen. Selbst auf diese Entfernung war König Thranduil unverkennbar. Das Morgenlicht ließ seine Rüstung und seine Haare unnatürlich silbern schimmern, als wären sie aus weißer Seide. Sein grau-glänzender Umhang bedeckte den Hintern seines großen Hirsches, dessen mächtiges Geweih eindrucksvoll Raum einnahm. Neben ihm ritt der Drachentöter auf dem Kaltblutschimmel, in Kettenhemd und seinem alten Mantel weniger glanzvoll bekleidet. Seine Männer bildeten nur einen kleinen Teil des Heeres, die sich hinter ihm zu seiner Flanke befanden. Im Gegensatz zu den Elben trugen die Menschen gar keine Rüstungen, sondern waren mit Schilden aus geflochtenem Bastkörben, Mistgabeln oder ähnlichem bewaffnet. Nur die wenigsten hatten in den Ruinen noch Waffen gefunden.

Die beiden Heeresführer brachen durch die vorderste Reihe und wollten die Stufen zur Brücke betreten. Mit kalter Ruhe nahm Thorin einen Bogen auf, spannte einen Pfeil, als die beiden seinem Ermessen nach nah genug waren, und schoss. Der Pfeil prallte neben den Vorderläufen des Hirsches auf den Fels auf. Sofort zügelte Thranduil sein Tier und starrte auf die Stelle, wo der Pfeil scharf aufgekommen war.

,,Der nächste trifft Euch zwischen die Augen“, warnte Thorin vor und spannte, begleitet von sämtliche Beleidigungen in Khuzdul aus seinem Rücken, einen neuen Pfeil in die Sehne.

Der Elb heftete seinen Blick auf ihn. Auf ein unlesbares Zeichen hin entstand Bewegung in seinem Heer. Die gesamten ersten zehn Reihen nahmen ihre Bögen in Position, holten im selben Takt einen Pfeil aus dem Köcher und legten ihn an. Eilig gingen die Zwerge in Deckung, einzig Thorin blieb stehen und starrte zurück.

Missbilligend sah Bard Thranduil an, um ihn zur Ruhe zu bewegen. Dieser hob zwei Finger und seine Soldaten steckten die Drohung seinerseits folgsam zurück. Als die Wogen sich wieder geglättet hatten, erhob Thranduil das Wort. ,,Wir kommen, um Euch zu sagen, dass die Begleichung Eurer Schuld angeboten und angenommen wurde.“

,,Welche Begleichung?“, rief Thorin zu ihnen hinunter, den Bogen immer noch gespannt. ,,Ich habe Euch nichts geben. Ihr habt Nichts.“ Der Pfeilschaft zwischen seinen Fingern bettelte förmlich danach, losgelassen zu werden.  

Der Elbenkönig sah zu Bard hinüber und der Mensch kam der stillen Aufforderung nach. Er fasste in seinen Mantel und holte etwas hervor.

,,Wir haben das hier.“ Bard hielt einen leuchtenden Edelstein hoch. Augenblicklich sank der Bogen. Fassungslos starrte Thorin den Stein an, wurde von seinen geheimnisvollen Leuchten in seinen Bann gezogen.

,,Sie haben den Arkenstein…“, raunte Kili neben ihm genauso überrumpelt wie er. ,,Diebe! Wie kommt das Erbstück unseres Hauses in Eure Hände?!“

Die Bestie in ihm tobte inzwischen. Das Rauschen seines eigenen Blutes übertönte Kilis Stimme mehr und mehr und Thorin hörte ihn wie hinter einer zähen Wand: ,,Dieser Stein gehört dem König!“ Sein Blickfeld engte sich ein. Er sah nur noch das helle Leuchten des Juwels, nach dem er so lange gesucht und sich sein Herz verzehrt hatte.

,,Und der König soll ihn bekommen.“ Bard warf den Arkenstein hoch und fing ihn wieder, als wäre er ein Spielzeug. ,,Mit unserem Wohlwollen.“ Thorin wollte ihm am liebsten den Hals umdrehen.

Der Stein verschwand zurück in seinem Mantel. Um einiges ernster nun sah der Mensch direkt den Zwergenfürsten an. ,,Aber zuerst muss er zu seinem Wort stehen.“

Wie um alles in der Welt hätte Bard sich den Stein aus dem Erebor holen können? Niemand würde es wagen, ihn ihnen freiwillig auszuhändigen. Warum auch? Fieberhaft versuchte Thorins, es zu erklären, doch es gab keine andere logische Erklärung für das, was Bard in die Luft gehalten hatte, als dass sie ihn mit einer Attrappe locken wollten. Sie dachten, sie hätten so ein Druckmittel gegen ihn in der Hand, damit er weich wurde und ihnen einen Anteil am Schatz aushändigte, um ihr erbärmliches Rattenloch erträglicher machen zu können.

,,Sie wollen uns zum Narren halten“, zischte Thorin seinen Männern zu. Seine Finger krallten sich wie Krallen in den Fels. ,,Das ist nur eine List. Eine dreckige Lüge. Der Arkenstein liegt in diesem Berg versteckt!“, brüllte er nach unten. ,,Das ist eine Täuschung!“

,,N-nein, das ist keine Täuschung“, sagte auf einmal jemand. Aus den Gefährten trat Bilbo vor. ,,Ich hab ihn ihnen gegeben.“

 Noch ehe die Nacht zu Ende gewesen war, war er aus Dale verschwunden und an dem Seil die Mauer mühsam wieder empor geklettert. Niemand hatte sein Verschwinden bemerkt. Dass er den Arkenstein, wie es seine Aufgabe gewesen war, aus der Schatzhalle und Smaug vor der Nase weggenommen hatte, war sein Geheimnis geblieben. Bis jetzt.

Sein Plan war soeben mit Thorins Reaktion fehlgeschlagen. Bilbo wusste, er würde niemals auf diesen Tausch eingehen, und konnte nicht eine Minute länger mehr schweigen.

Die Luft um Thorins Körper schien zu vibrieren, als er sich umdrehte. Sein Blick fuhr herum und fand den Hobbit. ,,Du?“, hauchte er und schmeckte bittere Enttäuschung.

Die beiden Heerführer vor dem Tor wurden unruhig. Bilbos Opfer hatte nicht zu ihrem Plan gehört…

Im Angesicht seiner gefährlich silbern schimmernden Augen musste Bilbo schlucken, doch er sprach entschlossen die Worte, die er für richtig hielt. ,,Ich hab ihn als mein vierzehntel Anteil genommen.“

Verlogenheit und Selbstsucht umgab diesen Verräter wie ein schwelender Gestank. Es hämmerte in Thorins Kopf, als er das ganze Ausmaß dieses Verrats zu begreifen begann. ,,Du hast ihn mir gestohlen.“

,,Dir gestohlen? Nein.“ Bilbo schüttelte den Kopf. ,,Mag sein, dass ich ein Dieb bin, doch ein ehrlicher, behaupte ich.“ Er ballte die Fäuste, um ihr Zittern zu unterdrücken, während Thorin ihn weiterhin anstarrte. ,,Ich bin bereit dafür, auf meine Ansprüche zu verzichten.“

,,Auf deine Ansprüche?“ Er lachte freudlos. ,,Deine Ansprüche…“ Mit mahlenden Kiefern warf Thorin den Bogen fort und machte einen Schritt auf ihn zu. Seine Stimme donnerte. ,,Du hast keine Ansprüche an mich, du elender WURM!!“

Bilbos Herz klopfte tapfer weiter. ,,Ich wollte ihn dir geben. Viele Male wollte ich es…“

,,Aber was, Dieb?“

,,Du hast dich verändert, Thorin!“, machte er ihm klar verständlich, als er wieder in dieser Stimme gesprochen hatte, die nicht seine eigene war. Jeden winzigen Funken Mut und Entschlossenheit, der noch in ihm steckte, nahm Bilbo zusammen und ließ sie los.

,,Der Zwerg, den ich in Beutelsfeld kennenlernte, hätte sein Wort niemals gebrochen! Hätte nie an der Treue der Seinen gezweifelt! Sag mir, wie viel noch übrig ist von dem alten, von dem wahren Thorin. Der, den wir kennen. Der, der geliebt wird - oder hast du Marie bereits vergessen?“, spie er ihm die Vorwürfe unüberlegt entgegen.

Die Würfel waren gefallen. Er hatte nichts mehr zu verlieren.

,,Sag diesen Namen nie wieder in meiner Gegenwart.“ Jedes einzelne Wort troff vor Verachtung. ,,Glaubst du wirklich, ich habe dieses Bauernmädchen geliebt?“ Auf den Zügen des Zwerges erschien ein Lächeln so voller Kälte, dass Bilbo einen Schritt zurück machte.

Unfähig einzuschreiten oder irgendetwas zu unternehmen, standen die Gefährten daneben. Die Worte ihres Anführers hingen unheilvoll über ihnen.

,,Sie ist bloß ein Mensch. Unbedeutend und weinerlich. Was könnte sie mir schon bieten? Durch sie war ich schwach und angreifbar. Doch das ist nun vorbei. Ich brauche sie nicht, weder heute noch morgen!“ Thorin war inzwischen von glühender Wut erfüllt. ,,Doch du… Du sprichst zu mir von Treue? Du kennst dieses Wort doch gar nicht!“ Außer Kontrolle flogen seine Gedanken hin und her bei dem Versuch, die letzten zwei Minuten zu verarbeiten. Er hatte ihm vertraut… und war mit Hochverrat belohnt worden. Nur eine Strafe kam für ihn in diesem Moment in Frage.

,,Werft ihn den Wall hinunter!“

Bilbo starrte ihn an. Thranduil und Bard konnten nichts anderes tun, als zum Wehrgang hinauf zu schauen und Bilbos Schicksal zu verfolgen.

Als jedoch nichts dergleichen geschah, sah Thorin seine Gefährten an. Niemand rührte sich.

,,Hört ihr mich nicht?!“ Er packte Fili, der ihm am nächsten war, doch sein Neffe schlug ihn gegen den Arm und schob ihn so von sich.

,,Dann mach ich es selbst.“ Damit packte er Bilbo mit beiden Händen am Kragen.

,,Thorin, nein!“

,,Das darfst du nicht!“ Die Zwerge versuchten, ihn davon abzuhalten. Niemand konnte ihn jedoch mehr zügeln.

,,Verfluchst sollst du sein! Du und der Zauberer, der dich uns aufgezwungen hat!“ Thorin  drückte den Verräter durch die Zinnen. Bilbo hatte nicht den Hauch einer Chance gegen ihn und spürte die gähnende Leere bereits hinter sich.

Auf sein Stichwort hin bahnte sich Gandalf einen Weg durch die Reihen und seine Einhalt gebietende Stimme, die er mit seiner Kraft mächtiger lassen ließ, legte sich über alle: ,,Wenn du mit meinem Meisterdieb nicht zufrieden bist, dann tu ihm bitte nichts! Gib ihn mir zurück.“

Auf dem Rücken blieb Bilbo zwischen den Zinnen liegen, Kopf und Oberkörper über der Tiefe hängend. Schwer atmend starrte er den Zwerg über sich an, der sein Leben in den Händen hielt.

,,Bis jetzt machst du als König unter dem Berge keine sehr gute Figur. Nicht wahr Thorin, Sohn von Thrain?“

Langsam lockerten sich die Finger von seinem Hals. Der Hobbit rutschte zu Boden, versuchte, wieder Luft in seine Lungen zu bekommen. ,,Komm her“, sagte auf einmal jemand und nahm ihm beim Arm. Bofur zog ihn auf die Beine und brachte ihn in Sicherheit. ,,Und jetzt geh. Geh!“

Wie Espenlaub zitternd nahm Bilbo das rettende Seil, warf es über die Mauer und sich gleich hinterher, während Thorin voller Hass zurück gab: ,,Ich will nichts mehr zu schaffen haben mit Zauberern und Auenland-Ratten!!“

,,Sind wir uns einig?“, rief Bard empor, um eine erneute Konfrontation zu vermeiden. ,,Die Rückgabe des Arkensteins gegen das, was versprochen war?“

Wie ein geschleuderter Stein sprangen Thorins Gedanken über ein stilles Gewässer. Nur das sein Wasser nicht still war, sondern einer Jahrhundertflut gleichkam. Jegliche Emotionen zeichneten sich auf seinem Gesicht ab, durchliefen ihn unkontrolliert. Er blickte über den Berghang in die aufgegangene Sonne, suchte erfolglos den Horizont ab.

Der Verzweiflung immer näher begann er wie ein in die enge getriebenes Tier auf und ab zu laufen. ,,Warum sollte ich etwas zurückkaufen, was rechtmäßig mir gehört?“ Er fühlte sich von allen Seiten angegriffen. Von allen verraten.

,,Behaltet den Stein, verkauft ihn“, riet Thranduil seinem Verbündeten. ,,Extralion von Gondor gibt Euch einen guten Preis dafür.“

Thorin grub die Hände in den Fels, wünschte, es wäre sein Hals. ,,Ich bring Euch um!! Bei meinem Schwur, ich töte euch alle!“, schrie er dem Elben von oben an den Kopf und erstickte fast an seinem Zorn.

,,Eurer Schwur bedeutet gar nichts!“, zischte Thranduil zurück. ,,Ich habe genug gehört“, beendete er nüchtern und war dabei, seinen Hirsch zu wenden, um die Befehle zum Angriff zu geben.

,,Thorin, legte Eure Waffen nieder“, versuchte Gandalf ein letztes Mal seinen Weggefährten zur Vernunft zu bringen. ,,Öffnet dieses Tor. Dieser Schatz wird Eurer Tod sein.“

,,Thorin…“ Eine Hand legte sich auf seinen Rücken. Die Berührung eines alten Freundes. ,,Wir können diesen Kampf nicht gewinnen“, sagte Balin leise.

Die Finsternis engte ihn in seinem eigene Körper ein, erschwerte seinen Herzschlag, wie eine Hand, die sich immer enger um seinen Lebensfaden drückte. Die Bestie in ihm wollte kämpfen, töten und vernichten. Thorin aber konnte nicht mehr. Er senkte den Kopf, atmete tief und mühevoll. Mithilfe eines weitaus mächtigeren Geistes hatte er sich eingebildet, unbesiegbar zu sein. Seine Schultern jedoch beugten sich unter der Bürde, die er für sein Land und Volk trug. Er stand mit dem Rücken zur Wand und fühlte das Messer, das man ihm auf die Brust gesetzt hatte.

,,Gebt uns Eure Antwort“, verlangte Bard schließlich nach Sekunden der völligen Stille. ,,Wollt Ihr Frieden… oder Krieg?“

Das Schweigen wurde von einem Raben unterbrochen, der krächzend auf der Mauer landete. Aus klugen Augen blickte er Thorin an, welcher die Schriftrolle an dessen Fuß wiedererkannte. Aus der Ferne wurde plötzlich ein Donnern lauter, rückte immer deutlicher näher. Und da begriff Thorin.

Sein ausgesandter Bote war zurückgekehrt.

Die Finsternis kam mit all ihrer Macht zurück und erfüllte sein Herz bis in den letzten Winkel. Purer, schwarzer Hass griff danach, spaltete es mitten durch und entfesselte den Drachen in ihm.

,,Ich will Krieg.“ Thorin drehte sich nach Osten, an dessen Horizont eine Armee von Zwergen erschien.

 

21

Lange Reihen von lanzen- und schildtragenden Soldaten kamen über die Kuppe und marschierten den Berghang hinab. Das Rattern von stählernen Streitwagenrädern wurde lauter, die jeweils von sechs Widdern gezogen werden mussten. Die Zwerge des Erebors verfielen in Jubel, als sie auf den Standarten das Wappen der Eisenberge erkannten, und reckten die Fäuste zur Begrüßung ihrer Verstärkung in die Luft.

Thranduil gab seinem Hirsch die Sporen und galoppierte durch seine Elben dem feindlichen Heer entgegen. Auf seinen Befehl in Sindarin hin, zog das Elbenheer die Schwerter und richtete sich dem der Zwerge entgegen, die in einem sicheren Abstand stehen geblieben waren.

,,Hey, Thorin!“, rief jemand über die ganze Ebene.

Die Gefährten jubelten. ,,Eisenfuß ist gekommen!“

Stolz hob Thorin das Kinn, als er den einzelnen, bereits hoffnungsvoll erwarteten Zwerg sah, der sich aus seinem Heer löste und den Hügel zu ihnen hinab ritt.

,,Wer ist das?“, fragte Bilbo an Gandalf Seite. ,,Glücklich sieht er nicht aus.“

 ,,Das ist Dain, der Herr der Eisenberge. Thorins Vetter.“

,,Sind sie sich ähnlich?“

,,Für mich war Thorin immer der Vernünftigerer von beiden…“

Dains Reittier, ein zotteliges Wildschwein, trottete mit federndem Gang und tiefem Grunzen auf sie zu, bis sein Herr es auf einem aus dem gelben Gras ragenden Felsen zügelte.

,,Guten Morgen! Wie geht’s uns allerseits?“ Kein Mucks drang aus den Reihen der Elben. Die Menschen zwischen ihnen, zusammengedrängt wie Schafe, fassten ihre Dreschflegel und Mistgabeln beim Anblick des kräftigen Zwerges argwöhnisch fester.

Dain Eisenfuß trug eine braune Rüstung, darüber ein Umhang aus Bärenfell. Seine roten Haare, die ein wenig auf dem Kopf hochstanden, waren sehr lang und wüst. Zwei dicke Zöpfe, die an seinen Schläfen entsprungen, langen über kleineren, mit Metall geschmückten. Seine Nase war krumm von mehreren Brüchen zusammengewachsen. Die obere Hälfte seines Bartes war bereits weiß, der Oberlippenbart bauschig mit Aufsätzen an den gebogenen Spitzen, die solidarisch an die Hauer seines Reittieres erinnerten.

,,Ich hätte da einen kleinen Vorschlag zu machen, wenn ihr mir einen Augenblick eurer Zeit schenken würdet“, begann der König der Eisenberge mit der tätowierten Stirn und dem wildem Äußerem. ,,Wärt ihr so freundlich…UND VERSCHWINDET VON HIER!! IHR ALLE UND ZWAR SOFORT!!“, kam Dain ohne Umschweife zum Punkt.

Bei seiner markanten und vor allem lauten Reibeisenstimme wichen die Menschen eingeschüchtert zurück. ,,Haltet die Stellung!“, befahl Bard mit gezücktem Schwert.

,,Oh, aber nicht doch, Fürst Dain!“ Gandalf trat zwischen die Fronten und machte eine Verbeugung.

,,Gandalf, der Graue“, begrüßte Dain den altbekannten Zauberer. ,,Sagt diesem Gesindel, es soll verschwinden. Sonst tränke ich den Boden mit ihrem Blut!“

,,Ein Krieg zwischen Zwergen, Menschen und Elben ist unnötig“, versuchte er den temperamentvollen Zwerg zu besänftigen und sich Gehör zu schaffen. ,,Ein Heer von Orks marschiert auf den Berg zu. Haltet Eure Streitmacht zurück.“

,,Vor Elben halte ich überhaupt nichts zurück - und schon gar nicht vor diesen ehrlosen Waldland-Kobold.“ Mit seinem Streithammer wies Dain auf Thranduil, der die Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln verzogen hatte. ,,Er wünscht sich nur das Schlechteste für mein Volk. Und sollte er sich zwischen mich und meine Sippe stellen, dann spalte ich ihm seinen hübschen Schädel! Mal sehen, ob er dann immer noch so fein lächelt.“

,,Er ist ebenso irrsinnig, wie sein Vetter“, kommentierte der Elb ungerührt.

Dains Miene verdüsterten sich über Thranduils Überheblichkeit. Knurrend riss er die Zügel seines Schweins herum und galoppierte zurück.

,,Dain! Wartet!“, versuchte ihn Gandalf zurückzurufen, um Schlimmeres zu vermeiden.

Doch es war zu spät.

,,Sollen sie vorrücken“, meinte Thranduil. ,,Wir werden sehen, wie weit sie kommen.“

Dain, offenbar seine Worte noch gehört, antwortete: ,,Glaubst du, ich gebe auch nur einen toten Hund auf deine Drohung, du spitzohrige Prinzessin?!“

Oben vom Tor hallte Jubel und Gelächter. Auch ein paar anzügliche Pfiffe waren dabei. Die ,,Prinzessin“ hingegen machte ein finsteres Gesicht.

,,Hört ihr Freunde?! Es geht los!“ Bei seinen Männern angekommen schwenkte der Kriegsherr aus den Eisenbergen seinen Hammer. ,,Verpassen wir den Dreckskerlen eine ordentliche Abreibung!“

,,Dagnar durenul! “ Eintausend andere Stimmen erwiderten das Brüllen.

,,Zieht Eure Männer zurück“, befahl Thranduil in seiner Ehre verletzt Bard, ,,um Eisenfuß und sein Gesindel kümmere ich mich“, und setzte sich mit seinen Kriegern in Bewegung.

Mit ausgestrecktem Arm wies Bard seine Männer an, hinter ihm zu bleiben.

,,Nun gut. Bringen wir’s hinter uns“, murmelte Dain beim Anblick des vorrückenden Elbenheeres. ,,Schickt die Widder!“ Der Befehl wurde weitergegeben. Rasch wurden Lücken geschaffen, wodurch Reiter mit ihren Tieren trabten.

,,Iliorie shangai!“ Die Elben spannten die Bögen.

,,Thranduil, das ist Wahnsinn!!“, rief Gandalf ihm zu, doch das anschwellende Donnern von tausenden Hufpaaren überdeckte seine Warnung.

Hunderte Tiere galoppierten den Hang hinab und auf sie zu. Thranduil reckte sein Schwert, ,,Laitho!!“, und ein mächtiger Schwarm von Pfeilen stieg auf.

Daraufhin wurden sofort Befehle in den Reihen der Zwerge geschrien. Plötzlich schossen große Speere aus Dains hintersten Reihen in den Himmel. Sie klappten aus und drehten sich fliegend dem Pfeilschwarm entgegen, zerfetzten unter dem Jubel der Gefährten ihn noch in der Luft. Sie flogen noch einen Augenblick weiter und schlugen dann in die Reihen der Elben ein. Fassungslos verfolgte Thranduil, wie seine Männer dahin gestreckt wurden.

,,Hey, wie gefallen euch unsere Wirbel-Zwirbel?!“, echote Dains raue Stimme. ,,Haha, ihr Mistkerle.“ „Laitho!!“ Schon sirrte ein zweiter Schwarm Pfeile los und ihnen antworteten die sich drehenden Speere aus den Eisenbergen mit der gleichen Wirkung, während unaufhaltsam die Widder den Hügel hinab kamen. Die Spitzen von Speeren blitzten überall in der Sonne auf, als sie aufgenommen wurden.

Seine angespannten Muskeln zitterten vor Erregung, als Thorin zusah, wie die Tiere seinem Feind entgegen donnerten. Im vollen Galopp senkten sie die dicken Köpfe, ihre Reiter hoben ihre Lanzen. Die Erde erbebte. Keiner der Widder scheute, als sie in das Heer hinein jagten. Beim Aufprall brachen die meisten Speere an den breiten Hornschnecken ab. Andere Tiere starben, als Speerspitzen sich in ihre Brustkörbe bohrten. Männer wurden zu Boden geschleudert, kamen wieder auf die Beine und kämpften oder blieben liegen.

Dain auf seinem angriffslustig quiekendem Tier und seine Fußsoldaten stießen in einer zweiten Angriffswelle hinzu. Waffen und Schilde der verfeindeten Völker knallten gegeneinander und setzten die jahrhundertelang andauernde Fehde fort.

Die Ersten fielen bereits, als es unter ihren Füßen zu beben begann. Dumpf knackte es im Verborgenen. Immer lauter. Näher. Bis das Grollen eines Monsters erklang.

Die Kampfhandlung wurde unterbrochen. Jeder Soldat hielt inne, um auf das immer deutlicher werdende Grollen zu horchen. Etwas kroch durch die Erde und bahnte sich einen Weg an die Erdoberfläche.

Am östlichen Berghang, weiter das Tal hinab kamen sie zum Vorschein: große Erdfresser durchbrachen Erde und Fels wie riesige Würmer mit klauenbesetzten Mäulern, die selbst dazu fähig waren Gestein zu zermalmen.

Thorin schluckte an seiner trockenen Kehle. Bei Durin…

,,Das gibt’s doch nicht!“, knurrte sein Vetter über diese unvorhergesehene Wendung.

Die Monster zogen sich zurück, verschwanden wieder in den Tiefen des Erdreiches und hinterließen riesige Löcher. Plötzlich klarte der Nebeldunst am Rabenberg auf. Ein Ruf in Schwarzer Sprache erklang von der höchsten Turmspitze. Eine dort oben aufgestellte Vorrichtung bewegte sich wie ein Fahnenmast mit mehreren Armen. Wooooo, brummte ein langes Hornsignal…

Und plötzlich war der Feind da.

Lange Kolonnen von Orks drangen immer zahlenmäßiger aus den Löchern ans Tageslicht. Hunderte. Tausende.

,,Nazarlu lacas! Die Horden der Finsternis greifen an!“ Dains Männer versammelten sich und rannten zwischen den Elben hindurch, die auf der Stelle verharrten. ,,In die Schlacht! In die Schlacht, Söhne Durins!“

,,Ich klettere den Wall hinunter!“, rief Fili entschlossen. ,,Wer kommt mit mir?“

Zustimmende Rufe bekam er, doch einer ließ sie alle verstummen.

,,Legt die Waffen nieder.“

Alle starrten ihren Anführer an. ,,Was?“

,,Nein…“ Fassungslos sah Fili seinen Onkel an. ,,Sollen wir denn gar nichts tun?“

Die schimmernden Augen, die ihm so schrecklich fremd geworden waren, sahen ihn nicht an. ,,Ich sagte: legt die Waffen nieder.“ Thorin wendete sich von dem Schauspiel dort draußen ab, schritt die Treppe hinunter und zog sich in den Berg zurück, ließ seine Männer hilflos zurück und das Schicksal der Soldaten auf dem Schlachtfeld das ihre sein.

 

Während die Zwerge auf der Ebene, die in wenigen Minuten zum Schlachtfeld werden würde, furchtlos den Orks entgegen stürmten, sah Bilbo, dass Thranduils Leute dort blieben, wo sie waren. ,,Die Elben… Werden sie nicht kämpfen?“

Das Jaulen und blutrünstige Knurren lag allen Männern aus den Eisenbergen in den Ohren, doch sie zeigten weder Angst noch Furcht, weder Feigheit noch Unsicherheit, sondern rannten direkt auf die Orks zu. Dann blieben sie stehen, bildeten eine endlos lange Reihe, die Schilde überlappt, die Füße fest in den Boden gestemmt; ein Igel mit stählernen Stacheln, der hinter Schilden lauernd wartete. ,,Igritu suh!“ Die Anspannung ließ sie verstummen. Die ihnen entgegen stürmenden Orks waren das einzige, was die Männer für eine lange Zeit hörten…

Eingetaucht wie in verzögerter Langsamkeit sprangen Schatten im letzten möglichen Augenblick über den Schildwall hinweg. Mit angezogenen Beinen flogen die Elben über die Köpfe der Zwerge und sprangen mit vorgehaltenen Klingen in ihren gemeinsamen Feind hinein.

Der Schildwall löste sich auf. Die Zwerge stürzten mit den Lanzen vorwärts und trafen auf Metall oder auf Fleisch.

Man konnte den Kampf hören und spüren. Im ganzen Tal vibrierte die Erde, hallte das Echo des Kampfes nach: das Knacken eines brechenden Speers, das helle Klirren von Schwertern, die Kampfschreie in Khuzdul, das Brüllen in Schwarzer Sprache, die Schreie der Sterbenden.

Die zweite Angriffsformation der Elben marschierte vorwärts. Gandalf und Bilbo mussten enger aneinander rücken. ,,Gandalf, ist das ratsam hier zu stehen? Gandalf?“

Ein neues Hornsignal wurde gegeben. Der Zauberer hörte Bilbo nicht zu, sondern folgte dem Geräusch und erkannte Azog auf dem Rabenberg. Er drehte sich zu den Löchern um, die die großen Erdfresser hinterlassen hatten und musste mit Graus feststellen, dass immer mehr Orktruppen und nun auch Trolle hervor kamen. Große, graue Bergtrolle, mit dicker, ledriger Haut trugen katapultartige Schleudern auf dem Rücken. Bilwiss-Söldner standen auf ihren Schultern, bereit, Steine nachzuladen.

Ein erneuter Pfeilregen wurde von Thranduil losgeschickt. Eine große Zahl von Orks fiel ihm zum Opfer. Gleichzeitig stürmten die Streitwagen der Zwerge vorwärts und zerfurchten das anrückende Heer. Ihren zackengespickten Speichen zerfetzten die am Boden liegenden oder brachten jene zu Fall, die noch standen.

Ruhelos lief Azog auf seinem Beobachtungsposten hin und her. Mit verkrüppeltem Arm wies er an, die Wagen aufzuhalten. Ein weiteres Hornsignal wurde geben und ein Arm der Vorrichtung ausgestreckt. Der Zauberer sah, dass die Trolle darauf regierten. Mit nichts als Keulen bewaffnet liefen sie los, trampelten dabei eigene Leute nieder. Schlitternd versuchten die Wagen ihnen auf der hartgefrorenen Erde auszuweichen, doch die Trolle packten die schweren Fuhrwerke und warfen sie um. Den Rest erledigten sie mit ihren Keulen und bloßen Händen.

Azog brüllte etwas und Gandalf konnte seine Worte aufschnappen: ,,Sie können nicht an zwei Fronten kämpfen! Greift die Stadt an!“

Jemand schrie ihm ins Ohr: ,,Gandalf!“ Er drehte sich zu Bilbo um, der ihn mit weit aufgerissenen Augen ansah. ,,Azog. Er will uns von den anderen trennen.“

Bard in ihrer Nähe reagierte allgegenwärtig. ,,Alle herhören!“ Er hatte Mühe seinen Hengst bei den immer mehr werdenden Monstern zu zügeln. ,,Rückzug nach Dale! Jetzt!“

,,In die Stadt, Bilbo“, rief Gandalf, bemüht, ihn nicht zu verlieren. ,,Hier entlang!“ Sie und die Menschen rannten geschlossen los, während die Welt im Chaos versank.

Der Krieg hatte begonnen.

 

22

 

Es war egal, wann der Tod kam.

Denn er kam immer zu früh, sowohl für den Verstorbenen als auch für die Hinterbliebenen.

Das Kinn auf die aufgestützten Hände gelegt starrte Marie die diversen Flaschen an, die sich ordentlich in den Regalen reihten. Sonnas Mann machte hinter der Theke ein wenig sauber. Ansonsten waren sie allein und Marie genoss die Ruhe, auf die man sich zu dieser frühen Stunde in der Kupfer Stube verlassen konnte.

Immer mal wieder warf Edgar ihr einen Blick zu, als ob er sich vergewissern wollte, dass sie nicht eingeschlafen war und wohlmöglich drohte, von seinem Thekenhocker zu fallen.

Als sie in den frühen Morgenstunden aufgewacht war, hatte sie die kalte Hand gespürt, die immer noch in der ihren gelegen hatte. Marie war die ganze Nacht geblieben. Am nächsten Morgen war Ginja tot.

In diesem Moment hatte sie nichts gefühlt. Sie saß nur da und schaute sie an. Ihre Freundin sah aus, als schliefe sie. Friedlich und ohne Schmerzen. Und trotz allem hatte Marie nicht mehr weinen können. Nicht eine Träne hatte sie zustande gebracht, als sie Ginjas Hände auf ihrem Bauch ineinander gefaltet und die Decke glatt gestrichen hatte. Weil sie wusste, dass es ihr gefallen hätte, kämmte sie ihr weißes Haar und legte es hübsch zurecht.

Beim Verlassen des Hauses stieß sie fast mit Ginjas Kindern zusammen, die die Nacht über aus dem nächsten Dorf angereist waren. Hilda musste sie benachrichtigt haben.

Marie ließ sie eintreten und entfernte sich, um die trauernde Familie unter sich sein zu lassen.

,,Ist auch wirklich alles in Ordnung mit dir?“

,,Hm, was?“

Das Handtuch über die dicke Schulter geworfen, lehnte vor ihr der bärtige Wirt an seiner Ausschenke. Seine dunklen Locken kräuselten sich in alle Richtungen, als er sie erneut fragte.

,,Mir geht es gut.“ Marie setzte sich auf, wobei sich ihr Rücken bemerkbar machte. ,,Ich hab nur eine harte Nacht hinter mir.“ Von dem Regen und der gebeugten Haltung, in der sie getrocknet waren, waren ihre Sachen ganz steif. Wie ihre Haare aussahen, wollte sie gar nicht erst wissen.

Mit dem Wunsch, es würde hier etwas wärmer sein, massierte sie ihre Schläfen, damit das darunterliegende Dröhnen nachließ. Ihr Magen war leer, sodass ihr schon ganz übel war. Sie brauchte etwas, was die Kälte vertreiben konnte. ,,Hast du noch was von der Drachenzunge, Edgar?“ ,,Meinen Ladenhüter? Natürlich.“ Sein Lachen verstummte, als er merkte, dass sie keinen Scherz gemacht hatte. ,,Du willst wirklich das Zeug?“ Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter zu irgendeiner der dutzenden Flaschen und Marie warf ihm einen Blick zu, der ihn wissen ließ, er solle dies ihre Sorge sein lassen. Beschwichtigend hob er die Hände, holte eine bauchige Flasche hervor und schenkte ihr etwas von ihrem Inhalt ein. ,,Der geht aufs Haus. Ich hatte schon vor, das Zeug in die Gosse zu schütten.“ Er schob ihr das Glas rüber. ,,Wohl bekomm‘s.“

Marie betrachtete den dunkelbraunen Inhalt vor sich, an dessen Geschmack sie sich mit brennenden Augen und Kehle erinnern konnte.

,,Auf Ginja. Möge ihre Seele Frieden gefunden haben.“

Ihr misslang kläglich über Edgars gute Worte zu lächeln. ,,Auf Ginja“, schloss sie sich leise an, kippte ihr Glas und fühlte sich schlagartig wieder lebendig. Himmel… Scharf und heiß floss es ihren Rachen runter. So schlimm hatte sie es nicht in Erinnerung gehabt. Marie atmete tief aus und hätte schwören können, nun Feuer zu speien. Nachdem ihre Kehle endlich aufhörte, zu brennen, breitete sich in ihrem Körper eine heiße Wolke aus, die zugleich die Trauer und Kälte vertrieb. Erinnerungen an einen Kuss, der nach diesem Schnaps geschmeckt hatte, berührten ihre Lippen. Meine Zwergin…

Die Tür ging auf und im Vorraum der Kneipe erschien die letzte Person auf dieser Erde, die Marie an diesem Tag sehen wollte. ,,Wirt! Deinen besten Wein!“ Frauen lachten. Sie machte sich so klein wie es ihr möglich war und hoffte, einfach übersehen zu werden.

,,Die Damen.“ Edgar tat, als würde er einen Hut lüften.

,,Setzt euch schon mal“, fuhr ihre Wortführerin fort, hörbar abgelenkt durch jemanden, den sie entdeckt haben musste.

Warum ich? Warum unter tausenden Menschen ich? Resigniert schloss Marie die Augen und wappnete sich. Sie schaute auf und sah Donja an der Ecke der Theke lehnen.

Hinter ihr hatten sich zwei andere Frauen, die sie nur vom Sehen kannte, an einem Tisch niedergelassen. Alle waren in schöne und auf den ersten Blick in sehr teure Kleider gehüllt. Ihre Freundinnen drapierten ihre Röcke über die langen, überschlagenen Beine und begrüßten gutgelaunt Edgar, der ihnen mit Verbeugung galant einschenkte. Mag es sein, dass er nur seine Arbeit nachkam und seine Gäste höflich bediente: Marie hasste ihn für so viel Schmeichelei für die falschen Leute.

Sie starrte wieder die Flaschen an, die ihr eindeutig sympathischer waren.

,,Mein Vater hat etliche gute Aufträge erhalten und das wollen wir ein wenig feiern.“ Donja machte eine Pause, um den Kelch entgegen zu nehmen, der ihr gereicht wurde.

,,Ich hatte nicht darum gebeten, dass du mir aus deinem ach so tollen Leben erzählst“, gab Marie harsch zurück. Nicht einmal einen Hauch Freundlichkeit würde sie dieser Frau entgegenbringen.

Doch als hätte sie sie gar nicht gehört, redete diese munter weiter. ,,Durch die Stoffe, die mein geliebter Bruder aus Rohan mitgebracht hat, konnten wir gute Geschäfte abschließen. Bei so vielen Aufträgen brauchen wir demnächst wohl eine zusätzliche Näherin.“ Lästig über ihre niederen Angestellten zu reden, zuckte sie mit den Schultern. ,,Es wird sich schon irgendjemand finden. Eine Stelle ist ja letztens erst frei geworden.“

Noch nie zuvor hatte Marie den Wunsch gepflegt jemanden zu töten.

Nun war es so weit. Sie wollte Donja tot sehen.

,,Wie findest du mein Kleid?“

Marie wollte sich nicht die Blöße geben, darauf zu regieren. Krampfhaft umklammerte ihre Hand ihr leeres Glas.

,,Ach, komm schon. Das ist aus einem der Stoffe, die Gregor mitgebracht hat. Sie es dir an, damit ich ihm sagen kann, ob er eine gute Wahl getroffen hat. Er wird sich freuen, es von dir zu hören. Es gab schließlich mal eine Zeit, da warst ihm sehr wichtig…“ Zielsicher traf sie einen immer noch wunden Punkt.

Marie sah sie an. Das Kleid war dunkelgrün mit einer breiten, cremefarbenen Mittelborte, die über das Mieder bis zum Rocksaum reichte und mit grünen Ranken dezent bestickt war. Um ihre Taille lag ein passendes, helles Band, als wäre ihre schmale Körpermitte nicht schon genug betont. Die langen, aufgeschlitzten Ärmel hingen gen Boden – viel zu viel für Maries Geschmack. Von Donjas langen, gelockten Haaren war ein Teil nach hinten gebunden, während alle anderen ihr Dekolleté zur Schau stellten. Mit etwas mehr männlicher Fantasie war sie so gut wie entblößt.

Marie musste mit ansehen, wie Donja auf sie zu schlenderte. Schnell wandte sie das Gesicht wieder ab.

,,Die Farbe würde auch zu deinen Augen passen“, hörte sie sie direkt neben ihrem Hocker spekulieren. Dann seufzte sie theatralisch. ,,Marie, Marie, Marie… Was ist bloß aus dir geworden?“ Diese spürte förmlich ihren angeekelten Blick, als ihre Augen über ihre Gestalt wanderten. ,,Ich konnte die Gerüchte kaum glauben, dass Gandalf der Graue dich geschrumpft haben soll, aber nun sehe ich es mit eigenen Augen. Warum hast du das gemacht? Du warst so eine schöne Frau… Und jetzt? Schau dich doch nur mal an.“

Maries Griff um das Glas wurde fester. Donjas Worte sollten sie kalt lassen, mussten es, doch das taten sie nicht. Unausweichlich sah sie an sich hinunter und musste schlucken. Bin ich nicht mehr schön?

,,Du hast dich gehen lassen… Ist das da Mist an deinen Sachen?“, fragte sie voller Ekel. ,,Marie, ich rieche dich bis hier!“

,,Dann verschwinde doch einfach. Wir hätten beide was davon.“

,,Und deine Haare…“ Spitze Finger hoben eine ihrer Strähnen an.

Marie riss sie ihr aus den Fängen. ,,Tu nicht so, als wäre ich deine Freundin! Verschwinde und lass mich einfach in Ruhe.“

Ihre volle Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund. ,,Sind wir das nicht? Schade eigentlich. Früher, muss ich gestehen, habe ich dich klüger eingeschätzt. Ich hatte deine Heilkünste bewundert. So eine hübsche Frau, dazu noch so talentiert. Du hättest jeden Mann haben können, den du wolltest. Meinen Bruder zum Beispiel. Er hat um deine Hand angehalten.“ Genau das musste sie ihr vorhalten und verbreitete damit nur weiter ihr Gift. ,,Sie auszuschlagen war das zweitdümmste, was du jemals gemacht hast, gleich nach deinem absurden Wunsch, dich so zu verschandeln.“

Marie hob ihr Glas Edgar entgegen. Dieser riss die Augenbrauen hoch. ,,Tu’s einfach.“

,,Er ist so attraktiv…“

,,Und so höflich und klug.“

,,Muss wohl in der Familie liegen“, hörte Marie währenddessen die Stimmen von Donjas Anhängsel im Hintergrund piepsen. Arschkriecherinnen… Bis auf den letzten Satz hatten sie jedoch recht. Greg war ein guter Mann. Aber mein Herz gehört schon lange jemand anderen.

,,Du bist zwar bei Weitem nicht das, was ich mir unter einer geeigneten Schwägerin vorgestellt hätte, wärst aber alle Male besser als diese Diebin gewesen…“

Marie fuhr herum. ,,Pass auf, was du sagst, Donja!“, fauchte sie mit konzentriertem Hass gespickt. ,,Anna ist keine Diebin und das weißt du ganz genau! Hör auf über sie Lügen zu verbreiten. Ich weiß, dass du ihr den Diebstahl in die Schuhe geschoben hast. Du hast die Brosche selber in den Stofffalten versteckt. Ich gebe dir eine letzte Chance, deine Tat selbst zu gestehen und dich zu entschuldigen. Ansonsten werde ich dich auffliegen lassen.“

Ungerührt schlug sich Donja die Hand an die Wange. ,,Wie recht du hast. Ich vergaß. Jetzt ist sie ja eine Bettlerin.“

Vor solch Verlogenheit stand Marie der Mund auf.

Donja machte einen Schritt auf sie zu. ,,Du naives, kleines Flittchen kannst mir gar nichts.“

Trotz ihrer Nähe, die sie einschüchtern sollte, schob Marie das Kinn vor und sah ihr, an ihrem Stolz festhaltend, in die Augen.

,,Na, los. Renn zu meinem Vater, sage ihm, was ich gemacht haben soll. Er wird dir nicht glauben, wenn sein Töchterchen neben ihm mit den Wimpern klimpert. Ich habe längst das erreicht, was ich wollte: dieses erbärmliche Ding aus der Nähe meines Bruders schaffen.“

,,Das war also dein Plan: Anna von Greg fernhalten. Warum?“

 ,,Na, weil mein Bruder sie liebt.“

Erstaunt blinzelte Marie. Greg liebt Anna?

Donja warf sich die Haare zurück und verdrehte die Augen. ,,Wenn diese Frau die Hand meines Bruders bekommen hätte… Nicht auszudenken! Gregor hat etwas viel besseres verdient. Nicht dieses Gossenmädchen, das eine uneheliche Göre am Rockzipfel hängen hat.“

Fassungslos über ihre Boshaftigkeit starrte Marie sie an. ,,Das ist der Grund? Du wolltest bloß deinen Stammbaum schützen? Hast du auch nur einmal daran gedacht, was du Anna damit angetan hast? Natürlich nicht, du allein bist dein Nächster. Sind dir dein guter Ruf und deine Position so wichtig, dass du keine Skrupel hast, ein wehrloses Kind da mit reinzuziehen?“ Marie musste sich beherrschen, ihr nicht ins Gesicht zu spucken. ,,Du bist das Allerletzte, Donja.“

Mit einem Schulterzucken tat diese es einfach ab. ,,Was tut man nicht alles für die Familie… Aber genug von mir. Zurück zu dir…“ Schneller als Marie reagieren konnte hatte Donja ihre Haare gepackt und legte ihren Hals frei. ,,Oh, deine Flecken sind ja weg.“ Ihre durchtriebenen Schlangenaugen fielen auf einen der Zöpfe, die sie unter den Haaren trug. ,,Wie niedlich. Wann bekomme ich denn deinen Liebhaber wieder zu Gesicht?“

Du, Dorfschlampe, schon mal gar nicht, dachte Marie bitter und riss sich von ihr los. ,,Fass mich nicht an!“

,,Muss ja ein richtig toller gewesen sein. Würdest du ihn mir mal ausleihen?“

Marie kippte den neu eingeschenkten Schnaps, um ihr Gerede zu ertragen. Sie verzog das Gesicht und krallte die Hände in die Kante des Holzes. Das verdammte Brennen lenkte sie ab. Die neue Luft, die sie holen musste, linderte jedoch nicht das Brodeln in ihrem Gemüt. Die tapfer weiterkämpfenden Schmetterlinge in ihrem Bauch schoben sich schon mal die Ärmel hoch.

,,Das ist wohl ein Nein“, stellte Donja fest. ,,Schade. Was ich so über deine Knutschflecken und deinen Auserwählten gehört habe, soll er ja ein beeindruckender Mann sein. Scheint dich wohl etwas härter rangenommen zu haben…“ Sie schnurrte, wie eine rollige Katze. ,,Genau mein Beuteschema.“

Marie wollte nicht darauf eingehen, wollte sich ihre Würde bewahren und verteidigen. In diesem Moment aber nahm ihre Intuition und die Gedanken an Thorin die Oberhand.

,,Er wird dich töten, Donja“, flüsterte sie mit kalter Ruhe, den Blick starr ins Leere gerichtet. Sie musste einen großen Atemzug nehmen, um derartige Eifersucht schürende Vorstellungen zu verscheuchen. ,,Er wird zurückkommen…und dann wird er dich töten, für das, was du gesagt hast und für das, was du Anna und Mel angetan hast. Thorin wird dich überall finden. Er wird dich aufspießen und dir deine verlogene Zunge heraus schneiden.“ Allein die Bilder waren für sie Genugtuung. ,,Und wenn du dann noch schreist, wird er dir die Kehle aufschneiden. Ganz langsam, damit du bis zum Schluss leidest und ihm in die Augen sehen kannst, denn seine Augen sind das Letzte, was du sehen wirst.“

Schweigen. Langes Schweigen. Das hatte gesessen.

,,Wegen solch einem Barbaren hast du dich verzaubern lassen?“

An ihrem Ton konnte Marie ihr Entsetzen heraus hören. Inständig hoffte sie, Donja und ihre Anhängsel, die an ihren Lippen klebten, würden bei ihrer Drohung oder ihrer, für sie nicht nachvollziehbaren Entscheidung tot oder zumindest ohnmächtig umfallen. Leider wurde sie enttäuscht.

,,Wen ich liebe geht dich gar nichts an.“

,,Liebe? Das wird ja immer besser!“ Amüsiert klatschte Donja Beifall und schlang ihren Arm um sie. Plötzlich war sie so nah, für Marie nicht zum Aushalten.

,,Lass mich dir einen guten Rat geben“, säuselte sie ihr mit schamloser Sanftheit ins Ohr. ,,Vergiss diesen Zwerg und zwar schnell. Er wird nicht für dich kleines Ding zurück kommen. Du hast dich völlig umsonst verzaubern lassen.“ Donja drehte sich um und schlenderte endlich zu ihren Freundinnen hinüber.

,,Er kommt wieder“, flüsterte Marie voller Hass und glühender Hoffnung.

,,Wer?“, fragte Donja beiläufig, als hätte sie ihn schon wieder vergessen, und setzte sich.

,,Mein Zwerg.“

Die Weiber prusteten los. Hysterisches Gelächter hallte durch das leere Wirtshaus.

Die kleinen Schmetterlinge mussten sich gegenseitig zurückhalten, um nicht zu eskalieren.

Marie streckte Edgar ihr Glas entgegen, der es ohne nachzufragen abermals füllte. Sofort trank sie es aus. Und nun tat es irgendwie gut.

Inzwischen hatten die Schnepfen sich wieder beruhigt. ,,Dein Zwerg? Ach ja?“

,,Er hat es mir versprochen.“

,,Sei doch mal ehrlich: diese Zwerge haben sich bei dir eingenistet, haben wahrscheinlich deine halbe Vorratskammer geplündert und dir keine einzige Münze da gelassen.“

Die erschreckend wahren Worte bohrten sich sadistisch in ihren Brustkorb. ,,Sie wollten mir das Geld geben, doch ich hab es ausgeschlagen.“ Der Alkohol verlieh ihr anscheinend eine lockere Zunge, für die Marie sich innerlich verfluchte.

Donja fiel vom Glauben ab. ,,Wie naiv bist du eigentlich? Mach die Augen auf! Sie haben dich nur ausgenutzt. Die sind fort, für immer und ewig, Marie, die siehst du nie wieder. Und dein Zwerg hat dir auch nur schöne Augen gemacht. Glaub mir, ich kenne solch Schlag von Mann. Du warst nur eine Kerbe im Bettpfosten.“

Hinter Maries Stirn explodierte etwas. Von unbändiger Wut erfasst fasste sie ihr Schnapsglas, holt aus und warf. An der Wand, nur einen Kopf über Donjas zerbarst es lautstark in hundert Scherben. Mit schrillem Kreischen zogen die Weiber erschrocken ihre Köpfe ein.

,,Sag mal, bist du bescheuert?!“

,,Schade, dass es dir nicht in dein gepudertes Gesicht geflogen ist!“, schrie Marie zurück. ,,Ihr wisst nichts, absolut gar nichts über sie!“ Sie sprang vom Hocker und verließ fluchtartig das Wirtshaus.

Edgar rief ihr noch etwas hinterher, doch Marie schlug die Tür zu, und wollte nur noch von hier fort.

Mit kraftvollen Schritten stampfte sie davon, versuchte Abstand von allem zu bekommen. Doch auch hier draußen hatte sie immer noch keine Ruhe.

Als sie auf dem nahe gelegenen Marktplatz kam, hörte sie Donja hinter sich herkommen, wie die Pest, die nicht aussterben wollte. ,,Das wirst du noch bereuen! So geht niemand mit mir um!“

Zu müde von den letzten Tagen blieb Marie stehen und stellte sich ihr. Sie wollte nicht vor so einer Person davonlaufen. ,,Was soll das Gejammer? Ich hab dich ja noch nicht einmal getroffen. Ich hätte dir dein verlogenes Maul mit den Scherben stopfen sollen.“

,,Du bist ja gemeingefährlich! Was machst du als nächstes? Mich vergiften?“ Entrüstet presste sie eine Hand auf ihre Brust, als hätte sie es mit dem Wein bereits getan.

Marie verschränkte die Arme. ,,Keine so schlechte Idee.“

,,Du bist doch verrückt geworden!“

Verrückt? Nicht mal ansatzweise. ,,Das sollte euch Schnepfen eigentlich am Arsch vorbei gehen!“ Ihre Stimme schallte über den ganzen Platz. Ein Fensterladen wurde aufgerissen. ,,Mir sollte eigentlich euer ganzes Gelaber egal sein! Ich bin sowieso bald weg! Thorin wird zurück kommen und mich mitnehmen!“

Auf Donjas Zügen hatte sich wieder ihr gehässiges Lächeln geschlichen. ,,Wie rührend… Du glaubst wirklich noch an das Märchen vom strahlenden Ritter? Werd erwachsen. Er hat nur ‘ne warme Stube gesucht, wo er sich mit seinen Kumpanen einnisten kann. Den siehst du nie wieder.“

Nein, sie lügt. Nichts als Lügen. Sie weiß nichts. Ich kenne die Wahrheit. ,,Er hat es mir versprochen!“ Marie fühlte sich elendig erschöpft, doch ihr bebender Körper sträubte sich einzuknicken und mobilisierte letzte Reserven.

Donja musterte sie ein letztes Mal und wollte sich zum Gehen abwenden. ,,Kommt, lassen wir die Verrückte weiter Zwergin spielen“, sagte sie zu ihren Freundinnen und machte eine wegwerfende Handbewegung in ihre Richtung. ,,Vielleicht wächst ihr ja über Nacht noch ein hässlicher Bart.“

Das war zu viel! Maries Blick wanderte gen Boden. Der Regen von gestern Abend hatte den Platz in ein Schlammfeld verwandelt. Mit der Stiefelkante begann sie, einen Haufen Dreck zusammenzukratzen.

Donja schrie auf, als ein Schlammklumpen sie direkt am Hinterkopf traf. Mit eingezogenem Kopf drehte sie sich zu Marie um, die ihr mit geballten, verschmierten Händen gegenüberstand, während der Schlamm von ihren gelockten Haaren ihr auf die Schultern tropfte.

,,Jetzt sieht jeder, was für ein dreckiges Miststück du bist!!“

,,Du…“ Ehe sie den Satz beenden konnte, flog eine erneute Ladung Schlamm zu ihr, diesmal auf ihr Dekolleté. Sie bekam Schnappatmung, streckte angewidert ihre Arme zur Seite.

Die danebenstehenden Frauen hielten die Hände vor die Münder, starrten sie nur hilflos an.

,,Er kommt zurück…“ Maries gesamter Körper zitterte. Ihre Augen waren weit aufgerissen, die Zähne entblößt. ,,Er hat es mir versprochen.“

Donja, die versucht hatte, den Dreck abzustreifen, hielt bei ihrer leisen Stimme inne und gab zurück: ,,Dein hässlicher Zwerg kommt nie wieder! Er sucht sich bestimmt schon die nächste, die er vö…“

Sie hatte keine Zeit mehr, den Mund zuzumachen.

Wie eine Furie stürzte sich Marie auf sie und riss sie zu Boden. Einen Moment später saß sie rittlings auf Donja und drückte sie in den Matsch. ,,Nimm das zurück!!“

Donja gelang es sie abzuschütteln, zog sie an den Haaren von sich runter. ,,Wieso?! Ist die Wahrheit!“

Marie schrie vor Schmerz. Es fühlte sich an, als würde ihre Kopfhaut jeden Moment reißen. Sie holte aus und scheuerte ihr eine. Es klatschte laut. ,,Du Miststück!!“ Sie drückte sie wieder auf den Boden, versuchte, die um sich schlagende Schlampe im Dreck unter sich zu halten. Donja war größer und schwerer als sie, doch der Hass für diese Frau beschleunigte die Dinge. Marie hatte keine Ahnung, wie man kämpfte, aber sie ballte instinktiv die rechte Hand zur Faust und schlug zu. Donja heulte auf, presste die Hände über ihren Kiefer. Angelockt von dem Gekreische hatten sie schon einige Schaulustige versammelt und schauten den zwei Frauen zu, die sich lautstark im Schlamm bekriegten.

Wild kratzten Fingernägel ihr quer übers Gesicht. Marie versuchte, sich zu schützen und wurde schlitternd in den Schlamm geworfen. Sie bekam eine Faust direkt aufs Auge, fühlte, wie der Bluterguss sich unter ihrer Haut ausbreitete, sie blau und lila tätowierte. Ihr Blut raste unkontrolliert unter ihrer Haut und ließ sie keine Schmerzen spüren. Ihre Sinne waren wie berauscht.

Erneut stürzte sie sich auf ihre Gegnerin, schaffte es, ihr Gesicht in den Matsch zu drücken. Donja gurgelte unverständliche Laute und würgte. Der Schlamm spritzte in alle Richtungen. An ihren Haaren gepackt riss Marie sie hoch und Donja schrie wie ein verletztes Tier. Plötzlich schaute Marie auf ein Büschel blonder Haare, die sie noch umklammert hielt. Donja japste nach Luft, rollte sich herum und drückte jetzt Marie zu Boden.

,,Du kleine Hure! Hast bestimmt für jeden von ihnen die Beine breitgemacht!“

Sie zerrten einander an den Sachen. In Hosen und Hemd war Marie im Vorteil, doch alles war nass und rutschig. Der tiefliegende Instinkt zum Überleben übernahm all ihr Handeln.

Mit all ihrer Kraft rollte sie sich herum. Beide wälzten sich als wild kämpfendes Knäul im Schlamm, bis eine stärkere Kraft sie schließlich auseinander zog. Zwei Männer hatten die hysterischen Kämpferinnen gepackt und versuchten nun, sie wie zwei tollwütige Hunde auseinander zu zerren. ,,Ladys, was ist denn in Euch gefahren?“

,,Sie hat angefangen!“, keifte Donja.

,,Nein, sie!“, schrie Marie zurück. ,,Lass mich los! Ich dreh ihr den Hals um!!“

,,Da, hört Ihr’s?! Sie ist völlig durchgedreht! Wie ein Tier hat sie sich auf mich gestürzt. Ich hab nichts gemacht, hab nur die Wahrheit gesagt. Die Wahrheit, die sie nicht akzeptieren will. Ach, lass mich los, du Bauer.“ Grob befreite sie sich von dem Mann und streifte den Schlamm von ihrem Kleid, was allerdings wenig Nutzen hatte. Es war komplett dunkelbraun und schlichtweg ruiniert, einschließlich ihre Frisur und ihr Gesicht.

,,Kann ich dich auch loslassen?“, fragte der andere Marie.

,,Ja“, knurrte sie leise und er löste seinen Griff vorsichtig. Maries Atem kam stoßweise, genau wie der von Donja. Immer noch konnte sie nicht woanders als in die Augen ihrer Gegnerin starren.

,,Ich hasse dich für das, was du Anna angetan hast.“ Sie spürte ihr Herz fest gegen ihre Rippen schlagen. ,,Ich werde nicht zulassen, dass du damit durchkommst. Du bekommst noch das, was du verdienst, merk dir das.“

Überheblich prustend verschränkte Donja die Arme unter der Brust. ,,Ich hab ihr gesagt, dass sie sich von Gregor fernhalten soll. Wer nicht hören will, muss fühlen. Und ihr die Brosche unterzujubeln… Das war zu einfach.“

Marie rannte gegen den Arm des Mannes, der sie festhalten musste. Sie wollte sie an ihren langen, blonden Locken zu Anna zerren, damit sie es ihr ins Gesicht sagen sollte!

Doch das war nicht mehr nötig.

Ihre Aufmerksamkeit löste sich von ihrer Erzfeindin, als sie die Leute bemerkte. Das ganze Dorf stand um die zwei Kämpferinnen versammelt. Auch Donja bemerkte erst jetzt die Menschentraube um sie herum und den Fehler, den sie begangen hatte. Von allen Seiten durchbohrten sie die Blicke. Überall schüttelten die Menschen die Köpfe oder verfielen in Gemurmel untereinander. Sie hatten alles mit angehört.

Vor Schreck wurden ihre Augen tellergroß, als sie ihren Vater entdeckte, der in die erste Reihe vortrat. Düsterer hätte das Gesicht des alten Danners nicht sein können.

Als ihr soeben laut geäußertes Geständnis in ihr Bewusstsein vordrang, fing Donja an jämmerlich zu schluchzen und ließ sich zu Boden sinken.

Der Arm löste sich von Marie, die wie betäubt das Schauspiel verfolgt hatte. Und dann sah auch sie ein bekanntes Gesicht in der Menge. Über Annas Wange rollte eine einzelne Träne. An ihrer Seite standen Hilda und Sonna.  

Die Fäuste immer geballt blickte Marie sie an, unfähig etwas zu sagen. Ihr Inneres war immer noch zu aufgewühlt. Sie konnte nicht zu ihr gehen.

Ein letztes Mal sah sie zu ihrer Gegnerin, die auf den Knien wie ein Häufchen Elend vor ihr hockte und von oben die abwertenden Blicke der Dorfbewohner und ihres Vaters zu spüren bekam.

,,Marie…“ Anna machte einen Schritt auf sie zu, doch sie schüttelte den Kopf.

Anna ließ ihre Hand wieder sinken, während eine weitere Träne der ersten folgte. ,,Danke“, flüsterte sie nur. Hilda trat zu ihr, legte den Arm um sie und lächelte.

Marie drehte sich um und ging. Und die Menge teilte sich für sie.

Wie ein einziger Schlammhaufen waren ihre kompletten Sachen, Gesicht und Haare braun und durchweicht. Einzig ihre blinzenden Smaragdaugen gaben dem Schlamm Farbe und verliehen der Siegerin Unantastbarkeit.

23

 

Sie dachte, sie fasste in Scherben. Das Wasser des Flusses war so kalt, dass es schmerzte, die Hände einzutauchen. Braune Schlieren lösten sich, wurden von der Strömung davongetragen. Am Ufer kniend konnte man vorgebeugt sich auf dem fließenden Wasser ein wenig spiegeln, doch Marie sah nicht sich selbst, sondern bloß einen Haufen Matsch.

Sie biss auf die Lippe und spuckte aus. Vor Dreck verklumpte Strähnen fielen in ihr Blickfeld. Die Hände voll Wasser geschöpft, klatschte sie es sich ins Gesicht und stöhnte auf. Ihr malträtiertes Auge dankte es ihr mit einem schmerzenden Stich, der bis in ihr Hirn hineinzog.

Du warst nur eine Kerbe im Bettpfosten. Sie versuchte, den Schlamm abzubekommen, den sie jedoch bloß ungeschickt in ihre Augen spülte. Er wird nicht für dich kleines Ding zurückkommen. Sie nahm mehr und mehr Wasser, schrubbte aggressiv über ihre Haut, über ihre Arme. Die Wahrheit, die sie nicht akzeptieren will...

Die Kälte des Wassers und des Schnees linderten zwar die fiebernde Hitze in ihr und brachten ihrem Körper Abkühlung, doch ihr Gewissen keine Ruhe. Du glaubst wirklich noch an das Märchen vom strahlenden Ritter? Werd erwachsen... Und auf einmal wandelte sich die Stimme in ihrem Kopf mitten im Satz in eine andere: Werd erwachsen. Er hat dich nie geliebt. Er hat dir nur etwas vorgemacht, dir nur Lügen erzählt. Ich würde so etwas nie tun. Ich sehe, wie sehr du leidest, Marie… In die von Gonzo.

Er hat dich im Stich gelassen, weil du Ballast für ihn warst. Er wird nicht zurückkommen. Sieh‘ es ein und vergiss ihn. Er hat dir das Herz gebrochen und das wird er auch wieder tun. Sooft er will. Schau mir in die Augen und sage mir, dass ich unrecht habe!

,,Nein!“ Sie schlug die Hand durchs Wasser, zerfetze das Spiegelbild ihr gegenüber. Nein… Die Hände in ihren Haaren vergraben versuchte sie tief ein und aus zu atmen, um das Engegefühl von ihrem Körper zu bekommen, welches sie wie eiserne Fesseln lähmte. Sie sehnte sich nach einem anderen Schmerz, als der, an dem ihr dummes Herz schuld war. Irgendeinen. Nur nicht den.

Marie beugte sich vor, legte die Hände auf die Felsen vor sich im Flussbett und glitt zwischen ihnen ins Wasser. Sie musste den Mund aufeinanderpressen, um den Schmerzenslaut zu unterdrücken, presste die Augen fest zu, als eisige Kälte sie betäubte.

Ihre Nerven. Jegliches körperliches Gefühl. Gedanken. Alles betäubt es.

Der neue Schmerz ließ die Stimmen endlich verschwinden. Schlagartig schien ihr Brustkorb zu klein zu werden. Dennoch versuchte sie Luft zu holen und tauchte unter, betrat eine andere Welt und entzog sich ihrer. Nur für einen Moment, schwor sie sich.

Dröhnend lagen die Wassermassen in ihren Ohren. Ihre langen Haare wehten ihr um den Kopf und sie fühlte, wie der alte Dreck von ihr fortgespült wurde. Sie hörte nichts mehr, nur das Wasser. Sie fühlte nichts. Selbst die Kälte verschwand. Wenn sie jetzt einen tiefen Atemzug wagen würde… Der Fluss würde sie mit sich nehmen. Fort von hier. Fort von all dem.

Der Halt an den Felsen verschwand. Wie von selbst lösten sich ihre Hände. Der Geist des Flusses begann, ihren Körper tiefer zu sich zu ziehen… Helle Schemen durchstießen die Grenze dieser Welten. Blasen wirbelten um ihren Körper auf. Zwei Hände packten sie.

Hustend und spuckend wurde sie zurück ans Ufer gezogen und blieb triefend im Schnee liegen. ,,Spinnst du?! Wolltest du dich umbringen?!“

Vor Schreck riss Marie die Augen auf. Erst jetzt realisierte sie, was sie da getan hatte. Oder tun wollte.

Mit wütendem Gesichtsausdruck schüttelte Greg seine Arme, um sie von der Nässe zu befreien. Bei seinem Rettungsversuch waren seine Stiefel voll Wasser gelaufen, seine Hose bis zum Gürtel nass. Er verengte die Augen bis ihr Blau nicht mehr zu erkennen war, zog sich einen Stiefel aus und schüttete ihn aus. ,,Ich warte, Marie.“

Sie versuchte, sich aufzusetzen, ihre Muskeln jedoch gehorchten ihr noch nicht. ,,W-w-worauf?“, presste sie hervor, spürte ihren Körper nicht mehr.

,,Auf eine Erklärung.“ Greg fuhr mit dem zweiten Stiefel genau wie mit dem ersten fort und strich sich die Haare aus den Augen. Gregor besaß blonde Haare, die ihm am längeren Pony in die Stirn fielen. An seinem kantigen Kinn lag ein dunklerer Bartschatten, was eigentlich ungewöhnlich für ihn war. ,,Du bist weder ein Fisch, noch haben wir sommerliches Wetter für ein Bad im Freien“, lenkte er sie von dieser Feststellung ab. ,,Warum also musste ich dich aus dem Fluss ziehen?“

Marie wagte es nicht ihm in die Augen zu sehen, weil sie es selbst nicht wusste. Ihr Verstand hatte einfach ausgesetzt. Es war, als hätte sie sich in fremde Hände gegeben, sich einfach leiten lassen. ,,Ich w-weiß es n-n-n-nicht.“ Sie zog die Knie an, um die letzte Wärme bei sich zu halten, und umklammerte ihren Leib. Die Kälte kam wieder zurück, schaffte es durch die Taubheit zu drücken. Schlimmer als jemals zuvor.

,,Wenn du solch eine irrsinnige Aktion noch einmal machst, dann lasse ich dich das nächste Mal drinnen, verstanden?“

Marie nickte nur. Das Antworten wurde ihr durch ihre aufeinanderschlagenden Zähne unmöglich gemacht.

Sie musste ein sehr mitleidserregten Anblick abgeben, wie sie da klatschnass auf gefrorenen Boden zwischen dem Schnee hockte, denn Gregs scharfe Worte verflogen. ,,Sehen wir zu, dass wir ins Warme kommen. Eine Minute länger hier draußen und du bist mir steifgefroren. Was täte ich dann bloß mit dir?“ Bei seinem jungenhaften Grinsen musste auch Marie lächeln, doch mehr als ein verzogener Mundwinkel war es nicht. Sie zitterte mittlerweile am ganzen Körper.

Nachdem er ihr aufgeholfen hatte, machte sie einen Schritt und stolperte gegen ihn. Er musste sie auffangen. ,,Woh! Langsam. Alles in Ordnung?“

Marie klammerte sich an ihm fest, konnte nicht sagen, ob sie überhaupt noch Beine besaß. ,,M-m-m-ir ist n-n-n-nur ka-ha-halt.“

,,Was du nicht sagst.“ Damit hob Greg sie hoch, als wäre sie nichts weiter als ein nasses Bündel Wäsche. ,,Das haben wir gleich.“

Dankbar ließ sie sich zum Haus tragen und drückte sich an seine Brust, um etwas von seiner Körperwärme zu bekommen. Als Hilda am vorigen Tag zu ihr geeilt kam, hatte sie den Stall zugemacht und die Haustür abgeschlossen. Zielsicher nahm Greg den Schlüssel aus ihrem gemeinsamen Versteck und Marie schmunzelte über sein Erinnerungsvermögen. Er schloss die Haustür auf, während er Marie dafür vor sich auf die Füße stellte. Als wäre es für ihn selbstverständlich, nahm er sie danach gleich wieder hoch. Zurück in den Wänden ihres vertrauten Zuhauses fühlte Marie sich sofort wohler. Mit dem Hacken machte Greg die Tür hinter ihnen zu und trug sie dann in ihr Zimmer hinauf. ,,Ich hole dir Handtücher und mache Feuer.“

Marie konnte kaum auf der Stelle stehen bleiben. Alles was sie über Kälte gedacht hatte wurde zunichte gemacht. Ihr Körper schmerzte, als steckten noch tausende Nadeln in ihrer Haut. Es wollte einfach nicht vergehen. Ihre Muskeln zuckten unkontrolliert. Mit keinem Gefühl in den Händen begann sie, ihre Haare auszuwringen, schälte sich mühsam aus ihren klammen, dreckigen Klamotten.

Sie hörte ihre Treppenstufen knarzen und einen Moment später erschien Greg wieder. Eilig drehte er sich um, als er sie nackt im Raum stehend vorfand.

Marie hatte seine roten Wangen bemerkt. ,,D-ahah g-gibt es n-nichts, was du n-nicht schon m-m-mal ges-sehen hast, Grr-greg.“

,,Trotzdem.“ Er streckte einen Arm nach hinten ins Leere und sie nahm die Handtücher entgegen. Während Greg immer noch mit dem Rücken zu ihr stand und konzentriert in die Ecke starrte, versuchte sie sich trocken zu reiben. Ihre Haut wurde knallrot, wo der Stoff darüberstrich. Es war, als riss er sie auf anstatt sie zu trocknen. Marie holte aus ihrem Schrank eine Hose und Socken heraus und warf diese Greg neben die Füße.

,,Wie aufmerksam.“ Er nahm sie sich und wechselte ebenfalls seine Sachen. ,,Das Feuer brennt. Der Tee dauert noch.“

,,D-dass du-huhu n-noch weißt, wo d-du alles findest…“ Zitternd zog Marie eine weiche Hose, Kniestrümpfe und einen dicken Pullover an - alles viel zu weit, aber wenigstens warm und trocken.

,,So etwas vergisst man nicht.“

Sie wickelte sich ein Handtuch um die Haare, steckte den Zipfel fest und ließ sich auf ihr Bett nieder. ,,K-kannst dich w-w-wieder umdreh-n, Greg.“ Er kam er zu ihr, nahm die Bettdecke und legte sie ihr über. ,,Danke.“ Marie umklammerte die Enden, um sie dichter um sich zu ziehen bis nur noch ihr Gesicht zu sehen war.

,,Wird dir schon wärmer?“ Greg setzte sich neben sie.

Sie schüttelte den Kopf. Die ganze Decke vibrierte unter ihrem Zittern.

Ihr Freund legte den Arm um sie und rückte ein Stückchen näher. ,,War eine ziemlich blöde Idee. Merkste selber, ne?“

,,Halt die Klappe, Greg“, nuschelte Marie und lächelte.

Nach diesem Morgen hatte sie allein sein gewollt, doch nun war sie für seine Anwesenheit und vertraute Geste froh und ließ ihren Kopf an seine Schulter sinken.

,,Du hast es meiner Schwester ja ganz schön gezeigt.“

,,Du hast das m-mitbekommen?“

,,Wer hat das nicht? Ich hatte einen der besten Plätze. Eine richtig gute Vorstellung. Ihr hättet Eintritt verlangen können. Nein, warte! – Ich hätte Eintritt verlangen können! Mist.“

,,D-das ist n-nicht witzig, Greg.“

,,Irgendwie schon. Das Beste aber hast du verpasst. Nachdem du weg warst, hat unser Vater Donja zurück nach Hause geschleift - wortwörtlich. Sie wollte sich herausreden, hat davon gestammelt, dass du ihr gedroht hast, sie umbringen zu lassen. Mann-o-mann, ich weiß zwar nicht, wie du das angestellt hast, aber du scheinst ihr ja echt Angst eingeflößt zu haben. Vater hat ihr dann eine gescheuert, damit sie endlich still war. Glaub mir, sie wird in Zukunft klitzekleine Brötchen backen und die nächsten Monate Hausarrest und Küchendienst bekommen.“

Marie blinzelte matt. Dass sie Donja besiegt und damit Annas Ruf reingewaschen hatte, erreichte sie erst jetzt ganz. Sie hatte es wirklich geschafft. ,,Du hast ihr d-doch nicht etwa geglaubt, o-oder?“

Er dachte darüber nach. ,,Nein“, sagte er erst nach einer Weile. ,,Ich konnte es nicht glauben, dass Anna gestohlen haben soll. Sie würde so etwas nie tun. Als sie nicht zu unserer Verabredung erschienen war“, begann er, ,,da…“ Unruhig kratzte er sich in den Haaren und zuckte mit den Achseln. ,,Weiß nicht. Ich hab irgendwie Schiss bekommen, dass ich das Ganze doch falsch eingeschätzt habe.“

,,Wenn du w-w-wüsstest…“

,,Was denn?“

,,An-n-na ist in d-dich schon lange versch-schossen. Bis ü-über beide Ohren.“

Staunen breitet sich auf seinem Gesicht aus. ,,Echt jetzt?“

Marie rollte mit den Augen und seufzte. ,,Ach, Greg.“ Müde, jedoch mit einem Lächeln kuschelte sie sich ein und wurde von Gregs Armen empfangen. An seine breite Brust gebettet hörte sie sein Herzklopfen und erriet sein Grinsen.

Minuten verstrichen, in denen sie schweigend nebeneinandersaßen und er sie festhielt. Um den Wunsch, dass er jemand anderes sein sollte, kam sie dennoch nicht herum.

Greg musste ihre Sehnsucht gespürt haben, denn er legte den Kopf an ihren. ,,Hab Vertrauen in ihm“, flüsterte er leise und gab ihr einen Kuss auf die kalte Stirn. ,,Er kommt zurück.“

Marie schloss die Augen, wollte ihm Glauben schenken. Seit dem heutigen Tag jedoch war sie sich in keiner Sache mehr sicher.

 

~

 

Ferrox Hufe knallten im gestreckten Galopp über die großen Quader der Brücke. Bard drehte den Kopf nach links, als außerhalb der Stadtmauer etwas seine Aufmerksamkeit einfing. Trolle brachten in diesem Moment mit Rammböcken die angeschlagene Mauer zum Nachgeben. Die nur darauf wartende, blutgierige Legion von Orks rannte los und bahnte sich ihren Weg durch die Trümmer. Erste Schreie ertönten in Dale.

Die Angst, er könnte zu spät kommen, schnürte Bard die Kehle zu und ließ ihn seinen Hengst antreiben, noch schneller zu laufen. Wachen auf dem Haupttor sahen ihn über die Brücke preschen und öffneten eilig die gewaltigen Tore für ihren Hauptmann.

Seit er die verzweifelten und wütenden Menschen am Ufer des Langen Sees zur Besinnung gerufen hatte, als diese dabei gewesen waren, Alfred mit Strick zum nächsten Baum zu tragen, war Bard zu ihrem Anführer geworden, der sie durch Stunden des Leids, der Trauer und Entbehrung geführt hatte.

Inmitten der hochschlagenden Flammen war er auf dem Glockenturm Smaug entgegengetreten. Als sein Vorrat an Pfeilen erschöpft war, hatte ihm Bain den Schwarzen Pfeil gebracht und er entdeckte die Stelle an Smaugs Brust, wo einst ein Pfeil von Girion eine Schuppe gelöst hatte. Seine einzige verwundbare Stelle im Visier, schoss er und traf.

Als Held Esgaroths und Drachentöter war er gefeiert worden. Die Menschen blickten zu ihm auf und waren ihm von der ersten Minute an bedingungslos gefolgt. Sie vertrauten und achteten ihn.

In Seestadt hatte der Kahnführer bereits ein dichtes Netz im Untergrund geknüpft, verborgen für die von allen verachteten Soldaten und den Bürgermeister. Ihnen als einfache Bürger ging es schlecht und er ermunterte die Ärmsten zur Hoffnung auf wieder bessere Zeiten, ging ihnen als gutes Beispiel voran, sich gegenseitig zu helfen. Dies ging soweit, dass immer öfters von Aufständen hinter vorgehaltener Hand geredet wurde. Bard, als ihr heimlicher Anführer, war dem Bürgermeister jeher ein Dorn im Auge gewesen. Welches Schicksal diesem widerfahren war, hatte er mit eigenen Augen gesehen. Als er mit Bain wieder unter dem umgekippten Turm aus dem Wasser aufgetaucht war, hatte er den vom Himmel fallenden Leib des Drachen und das, mit den gehorteten Schätzen aus der Schatzkammer des Rathauses schwer beladene Boot gesehen. Der tote Körper von Smaug knallte auf Häuser und Kanäle, begrub den Bürgermeister und Braga zusammen mit den ihren und ihrer Raffsucht unter sich.

Geschickt trieb Bard Ferrox durch die Gassen und zwischen dahineilenden Menschen hindurch. Dale hatte eigentlich ihr neues Zuhause werden sollen. Er hatte diese Straßen mit Zuversicht und neuen Träumen füllen, mit dem Anteil am Gold des Erebors den Menschen ein neues Leben ermöglichen gewollt. Doch alles kam ganz anderes.

Er hatte die Prophezeiung gekannt und als ihm Thorins Identität bewusst geworden war, da wusste er auch, dass etwas Schlimmes folgen würde. Die Schmach von Alfred und dem Bürgermeister vor dem Platz des Rathauses hatte ihn schwer getroffen. Er war wütend gewesen, weil niemand auf ihn gehört hatte, hatte verhindern gewollt, dass der Drache ein weiteres Mal so viel Leid und Schrecken verbreitete. Nichts hatte Wirkung auf den Zwergenkönig gehabt, der bereit gewesen war, jeden Weg für sein Land zu gehen. Auch wenn das bedeutete, dass er in Kauf nahm, den See brennen zu sehen.

Verbittert über das Geschehene trieb Bard Ferrox weiter. Überall rannten panische Bürger auf der Flucht vor dem näherkommenden, unmenschlichen Brüllen der Orks, das den Lärm schürte. Er würde jeden einzelnen Mann brauchen, um diese Stadt verteidigen zu können. Und er wusste auch, dass nicht viele diesen Tag überleben würden.

Seine Finger krallten sich in die Zügel. Zuerst musste er aber seine Kinder finden.

~


Steine flogen, abgefeuert von den Schleudern der Bergtrolle über die Mauern. Unter brachialem Knacken schlugen sie in Gebäude ein, ließen den Boden unter ihren Füßen beben. Dachstühle brachen zusammen. Mauern wurden eingerissen. Schutt und gesplitterte Ziegel rieselten von oben auf das Pflaster. Bei jedem Einschlag zog das Mädchen den Kopf ein und drückte ihre Puppe fester an sich.

,,Weiter, Tilda! Schau nicht zurück!“ Beide Hände auf ihre Schultern gelegt, um sie vor Splitter zu schützen, drängte Sigrid sie zum Weiterlaufen. Sie folgten einer Gruppe Frauen und Kinder über einen großen Platz. Sigrid entdeckte Alfred zwischen Männern, die bewaffnet eine Straße hinunterrannten. Der ehemalige Berater passte in dieses Bild voll Tapferkeit einfach nicht hinein.

,,Angriff! Vorwärts, bis in den Tod!“ Aus der Puste blieb er auf die Knie gebeugt stehen. Als jedoch alle an ihm vorbei waren, sah Alfred sich eilig um und verschwand wie eine Ratte klammheimlich im Schatten eines Hauses.

Voller Abscheu diesem Kerl gegenüber wandte Sigrid ihren Blick von seiner Gestalt ab und fasste die Hand ihrer kleinen Schwester. ,,Komm, Tilda, hier entlang.“ Sie versuchte schneller mit ihr zu laufen, um die Gruppe nicht zu verlieren, die inzwischen an einer Kreuzung angekommen war. Das Blut gefror in ihren Adern, als von rechts eine Horde Orks auf den Platz stieß. Klingen blitzten auf, beendeten die hellen Schreie. Dumpfe Schläge folgten. Die Menschen hatten keine Chance.

Sigrid packte Tilda und rannte mit ihr in ein Haus hinein, während gurgelnde Laute hinter ihnen verstummten.

~


Bard sprang aus dem Sattel und zückte sein Schwert. ,,Meine Kinder, wo sind meine Kinder?!“

,,Ich hab sie gesehen!“, antwortete eine fliehenden Frau, kaum anhaltend. ,,Unten am alten Markt!“

,,Am Markt? Wo sind sie jetzt?“ Seine braunen Augen überflogen jedes Gesicht, das ihm entgegenkam. Nirgendswo war eine Spur von ihnen.

Sein Puls raste mittlerweile. Seit dem Tod seiner Frau, waren sie sein Lebensinhalt. Sie waren alles für ihn. Er musste sie finden!

Bard brüllte ihre Namen, doch seine Rufe gingen im Lärm und Panik verloren. Jemand anderes rief ihn dafür. Sein Freund Peridur kam angerannt, im Schlepptau einige Männer. ,,Bard! Orks stürmen über den Dammweg!“

,,Die Bogenschützen zur östlichen Brustwehr.“ Er legte die Hand auf Peridurs schmale Schulter. ,,Haltet sie auf, solange ihr könnt.“

Dieser nickte. ,,Schützen, hier entlang!“, kommandierte der alte Torwächter mit erhobenem Schwert einem Teil der Mannschaft an, ihm zu folgen.

Unter all seinem ungeordneten Gefühls- und Gedankenchaos registrierte Bard sein kleines Heer ebenfalls zu ihm stoßend, was inzwischen ihm in die Stadt gefolgt war - unter ihnen der Hobbit und Gandalf - als ein Mann wild gestikulierend eine Straße hochgelaufen kam.

,,Die Orks haben die Steinstraße übernommen! Der Markt wird überrannt!“

Bard sah ihm nach, starrte dann in die Richtung, aus der er gekommen war. Klauen schienen nach seinem Herz zu greifen und es zu zerquetschen. ,,Alle anderen: folgt mir“, knurrte er über die Schulter. Und alle folgten ihm. In die Richtung, aus der das lauteste Gebrüll kam.

Die Entschlossenheit eines Vaters führte sie an.

Ihre Schritte hallten hundertfach zwischen den Gassen wieder. Bilbo hatte grauenvolle Angst, doch rannte zwischen den Menschen, als wäre er einer von ihnen. Nun, da er direkt in den Kampf laufen würde, musste er einen Moment lang an sein Zuhause im Auenland denken und daran, dass er, wenn er diesen oft verfluchten Vertrag nicht unterschrieben hätte, niemals solch verschiedene Gefühle in sich so intensiv toben gefühlt hätte. Und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er dankbar war für die Reise, die er hinter sich hatte, dankbar für das, was er erleben durfte und für die Freunde, die er bekommen hatte. Dankbar für die Gefahren und die schönen Momente. Freud und Leid.

Das Gute und das Böse.

Das leuchtende Blau von Stich wurde stärker, immer stärker bis…

Als Bard und seine Männer zu brüllen begannen, tat auch er es ihnen gleich. Unter mehrstimmigen Kampfschreien bogen sie um die Ecke und donnerten geradewegs in eine Wand aus Orks hinein.

Der Aufprall ging durch Mark und Bein. Der Gestank feuchter Atem schlug ihnen entgegen. Sie hämmerten gegen die dunklen Rüstungen. Wolken ihrer erhitzten Körper vermischten sich in der kalten Luft. Bilbo hielt sich unten, zielte auf die Beine der Ungeheuer, während Gandalf über seinem Kopf Schwert und Stab herumwirbelte, ihn den Gegnern um die Ohren schlug. Sie hackten und drängten, stießen und traten. Das Scheppern von Metall war allgegenwärtig, der Lärm unaushaltbar.

Es ging um ihr Leben. Um die Zukunft ihres ganzen Seins.

 

~

 

Dunkel und modrig war es in dem alten Haus. Die Schwestern kletterten über eingestürzte Dachbalken, rannten bis auf die andere Seite. Kurz bevor sie das Sonnenlicht erreichten, zog Sigrid sie zurück. ,,Warte hier.“

Tilda riss die Augen auf, krallte sich an ihrer Hand fest. ,,Nein, lass mich nicht allein!“

,,Ich schaue nur nach, ob die Luft rein ist“, versuchte sie ihr so ruhig wie möglich zu erklären, obwohl ihr eigene Nerven längst brachlagen. Sie hatte Bain aus den Augen verloren, wusste weder wohin noch wie sie und die anderen Leute es aus der Stadt herausschaffen sollten. ,,Ich bin gleich da vorne und ganz schnell wieder bei dir.“

Tilda presste die Lippen aufeinander, nickte nur. ,,Wir müssen jetzt mutig sein, oder?“

Sigrid zog die Stirn hoch, dann nickte auch sie. ,,Du hast recht. Das müssen wir wirklich. Aber wir schaffen das. Wenn wir zusammenbleiben, schaffen wir alles. Das weißt du doch.“

Noch einmal sah sie zurück zu Tilda, die sich hinter eine Kiste gehockt hatte. Ihr Schultertuch enger gerafft, schlich sie zum Durchbruch in der Wand. Vorsichtig beugte sie sich vor, schaute die Gassen hoch und runter. Lärm schallte durch die Straßen. Metall schlug irgendwo ganz in ihrer Nähe im Kampf aufeinander. Doch keine Orks waren zu sehen. Sie winkte Tilda zu sich und ergriff ihre Hand.

Zusammen liefen sie nach links, die Gasse bergab. ,,Du bist das mutigste Mädchen, das ich kenne, Tilda.“ Am Ende der Ruine, in dessen Schatten sie sich bewegten, bogen sie um die Ecke…und standen zwei Orks gegenüber.

Tilda kreischte auf. Sofort machte Sigrid kehrt, drückte ihre Schwester vor sich her. ,,LAUF!!“ Eine große, graue Hand packte sie. ,,Lauf weiter, Tilda! Dreh dich nicht um!“ Sie versuchte um sich zu schlagen, doch die berüsteten Berge aus reinen Muskeln zerrten sie bereits zu Boden. ,,NEIN!!“

Auf die kalten Steine gedrückt, sah sie gerade noch, wie ein kleiner Schatten in einem Hauseingang verschwand und hoffte, ihre Schwester würde sich irgendwo verkriechen, wo keines der Monster sie jemals finden würde.

Der eine packte ihre Hände und hielt sie über ihren Kopf zusammen. Sigrid hörte sein hässliches Lachen. ,,Na, kleines Vögelchen…“ Kälte streifte ihre Haut, als ihr der Rock von dem anderen hochgeschoben wurde. Hilflos schluchzte sie auf, versuchte, sich irgendwie zu wehren. Mit ihrem Fuß holte sie aus, schaffte es jedoch nicht, den Ork zu treffen. Tränen rollten ihr bereits haltlos über die Wangen. Die große Hand fuhr über ihren Körper, fasste sie überall an. Sie würde sterben. Wenn sie mit ihr fertig waren, würde sie sterben. Hier und jetzt…

Auf einmal keuchte das Ungetüm zwischen ihren Knien auf und kippte wie ein Sack Mehl zur Seite. Mit einem schmatzenden Geräusch wurde das Schwert aus seinem Rücken gezogen. Wie einen Fremden starrte Sigrid ihren Bruder an. Der Übriggebliebene zog seine dreckige Sichel von seinem Gürtel und ließ sie auf den Jungen niedersausen. Bain rutschte auf dem Schnee aus und fiel. Er rollte sich weg und die Waffe hackte stattdessen in die vom Winter erbleichten Schlingpflanzen an der Wand. Geistesgegenwärtig hob der Junge die Klinge und rammte sie bis zum Heft in die breite Brust über ihm. Dunkles Blut kam ihm entgegen und besprenkelte sein Gesicht, ehe der schwere Körper über ihm zusammenbrach und ihn unter sich begrub.

,,Bain!“ Sigrid kroch zu ihm, versuchte, den Ork von ihm zu schieben. ,,Nein, bitte…Bain.“

Keuchend erschien ihr Bruder unter dem leblosen Körper. Die braunen Locken standen ihm wirr vom Kopf ab. Mit einem Schluchzen fiel seine Schwester ihm um den Hals, riss ihn fast erneut um.

,,Bain!“, rief eine zweite helle Stimme. Tilda überfiel ihn von hinten und grub ihre Finger unter seinen Hals.

Die Nase undamenhaft hochziehend löste sich Sigrid von ihm und boxte ihm gegen die Schulter. ,,Idiot! Wo warst du gewesen? Ich hab überall nach dir gesucht!“

Er zog das Schwert unter der verbeulten Rüstung hervor und wog es grinsend in der Hand ab. ,,Ich hab mir das hier besorgt.“

Sigrid wollte auf ihn böse sein, doch die Erleichterung überwog. Erneut drückte sie ihren Bruder an sich und seine Arme schlossen sich auch um sie.

,,Papa!“

Tildas große Geschwister rissen bei ihrem Ausruf die Köpfe hoch. Oben auf der Straße kämpfe ihr Vater im Getümmel. Sie sprangen auf. ,,Papa! Papa, hier unten!!“

Bard zog sein Schwert aus dem zerfetzten Hals seines Gegners heraus und fuhr herum, als er ihre Stimmen hörte. Diesen Anblick seiner winkenden und rufenden Kinder würde er nie wieder vergessen.

 

~

 

Das Grau seiner Iris war zu einem Silber geworden. Einem kalt schimmernden Silberton. Gefährlich und unberechenbar.

Mit beiden Händen hatte Thorin die Kanten des Tisches gepackt, als würde er die ganze Tafel jeden Moment umwerfen wollen. Die Luft um ihn herum knisterte wie schwelende Glut.

Mit unergründlicher Miene starrte er auf den Tisch, auf dem immer noch das schmutzige Geschirr stand.

Als wäre er ein Monster, dem man nicht zu nahetreten durfte, hielten sich die Gefährten im Hintergrund. Draußen im Tal tobte die Schlacht. Und sie hier im Erebor konnten nichts tun. Es war, als hätte er ihnen die Hände gebunden. Keiner wusste, was mit der Entscheidung ihres Anführers zu tun war. Sie waren ratlos, wie sie mit ihm reden sollten. Keine traute sich. Im nächsten Moment fuhren alle zusammen. Krachend flog das Steingutgeschirr auf den Boden und zerbrach, als Thorin es mit einem kräftigen Hieb quer durch den Saal fegte. Seine breiten Schultern hoben und senkten sich unter seinem tiefen Atem. Als wäre etwas in ihm. Etwas, was in seinem Körper lebte und seinen Zorn entließ.

Obgleich manche die Blicke von ihm abgewendet hatten, konnte Fili nicht wegschauen. Ein schrecklicher Gedanke keimte in ihm auf. Thorin tat das gleiche, was Smaug getan hatte: er bewachte sein Gold. Die Thronhalle lag über der Schatzhalle. Indem er auf dem Thron saß, hockte er wie die Feuerschlange einst auf dem Schatz. Er hatte den Menschen aus Esgaroth nicht geben, weil er alles Gold für sich allein haben wollte. Und um dieses zu behalten, würde er alles tun und jeden töten.

Dieses stumme Nichtstun steigerte sich zur puren Qual. Fili konnte nicht länger rumstehen und zuschauen. Sie alle befanden sich in großer Gefahr.

Entschlossen ging er zu seiner Lagerstätte hinüber, nahm einen Rucksack und kippte ihn aus.

Thorin wurde auf ihn aufmerksam. Er drehte sich zu ihm um und sah, wie sein Neffe mit einem Rucksack aus dem Saal verschwand.

,,Fili!“, hörte er seinen Onkel seinen Namen rufen, doch er reagierte nicht darauf, sondern lief eine Treppe nach der anderen hinunter. Er wollte nichts hören, nicht zurücksehen.

An ihrem Ende nahm er den Gang zu seiner Rechten, steuerte auf die nächsten Treppen nach unten zu. Er starrte nur geradeaus, folgte dem goldenen Licht, während er hinter sich Thorin hörte, der ihm hinterherkam. ,,Fili!

Fili rannte los, blieb nicht eher stehen, bis er endlich den langen Torbogen zur Schatzhalle passierte. Mit ernster Miene lief er die letzten Wege hinunter und trat in das Meer aus Gold hinein. Dort kniete er sich hin und klappte den Rucksack auf.

Münzen knirschten, rutschten neben ihm hinab. Thorin stand direkt hinter ihm.

,,Fili, was tust du da?“

,,Ich werde gehen.“ Stoisch füllte er den Rucksack. ,,Ich werde kämpfen und den Menschen aus Esgaroth ihren versprochenen Anteil geben.“ Er hörte und sah förmlich, wie sein Onkel die Fäuste ballte und die Augen zu schmalen Schlitzen verengte. Ein Ausdruck seines lauernden Zornes. Dass er diesen direkt auf sich lenkte, war Fili nur allzu bewusst. Doch es war ihm egal. Er wusste, er tat das einzig richtige.

,,Das ist Verrat, Fili. Das Gold gehört unserem Volk. Uns allein.“

Er schaute auf, sah in die Augen, die früher einmal Wärme besessen hatten. ,,Sind die anderen Völker geringer wert als wir? Denkst du nur über die unseren nach?“

Oben auf dem Balkon neben der Diamant-Kammer standen die restlichen Gefährten und verfolgten angespannt von dort das Geschehen.

Thorin reagierte nicht auf seinen Vorwurf.

,,Die Menschen haben alles verloren.“ Den Mund aufeinander gepresst wandte der Prinz sich wieder seinem Vorhaben zu. ,,Sie brauchen Hilfe.“

Hinter ihm begann erneut die Luft zu vibrieren. Kurz vor der Explosion.

,,Das ist nicht unsere Angelegenheit. Hör damit auf! Sofort!“

Fili warf die aufgegriffenen Münzen fort. Er hatte lange genug den Mund gehalten. Zornig über alles, was geschehen war, erhob er sich und trat dem Mann entgegen, zu dem er früher aufgeschaut hatte, auf den er früher stolz gewesen war, ihn Onkel nennen zu können. Nur noch eine dünne Schicht Luft, eiserne Harnische und ihre Hemmungen trennten sie.

,,Ich brauchte etwas, um sie dazu zubringen, uns gehen zu lassen.“ Thorins Stimme bebte vor etwas Mächtigem. An seiner Rebellion festhaltend hob Fili trotzig das Kinn und funkelte ihn an. ,,Sie hätten uns nie einfach so gehen gelassen. Ich habe uns für unsere Mission freigekauft. Ihre habgierigen Augen haben geleuchtet vor Hoffnung auf einen Anteil. Sie hätten ihn nie bekommen.“ Sein irres Lächeln erstarb. ,,Denn dieser Schatz gehört mir. Ihnen steht nichts von dem zu, was unser Volk jahrelang aus der Erde geschürft hat. Nichts, hörst du? Sie waren nie unsere Verbündeten“, betonte er mit jedem Wort. ,,Sie sind keine von uns. Feinde bleiben Feinde.“

,,Die Menschen waren nie deine Feinde gewesen!“, schoss Fili zurück. ,,Du hast ihnen einen Anspruch am Schatz versprochen! Es waren deine eigenen Worte. Steh auch zu ihnen!“

Thorin machte einem Schritt auf ihn zu. ,,Ich habe dich nicht so erzogen, dass du nun so mit mir sprichst. Du tust, was ich sage!

,,Damit ist jetzt Schluss! Du bist krank! Du bist nicht mehr in der Lage zu entscheiden, was richtig ist und was nicht. Wenn ich gewusst hätte, dass du dich so veränderst, hätte ich verhindert, dass Gandalf dir überhaupt erst den Schlüssel für die Tür in den Berg geben konnte!“

,,Du weißt nicht, was du da sagst, Fili…“

,,Das weiß ich sehr wohl! Ich bin kein Kind mehr. Du kannst mir nicht vorschreiben, was ich zu tun habe!“

Thorin packte ihn am Arm, zog ihn zu sich, das Gesicht nur Zentimeter von seinem entfernt. ,,Ich befehle es dir.

Fili riss sich los, der dumpf pochende Schmerz an seinem Arm ignorierend. ,,Du bist nicht länger mein König!!“ Er stieß ihn zurück, doch es war, als würde er auf eine Wand einschlagen. Er tat es nochmal und nochmal, legte seine ganze Verzweiflung und seine Wut hinein. ,,Du! Bist! Nicht! Mein Vater!!“ Tränen trübten seinen Blick. ,,DU bist nicht besser als Smaug!!“

Und dann kam die Explosion.

Fili spürte es erst, als es zu spät war, sah noch die, von den brennenden Feuerschalen geworfenen Reflexionen auf der Krone ihm gegenüber, ehe sein Kopf unter dem Schlag zur Seite schnellte.

Der junge Prinz wurde ins unnachgiebige Gold geschleudert und blieb liegen.

 

 

 

24

 

Kilis Schrei erfüllte die Schatzhalle. Wenige Sekunden später drängte er sich unsanft an Thorin vorbei, der noch mit geballter Faust über seinem Neffen stand.

Als Kili ihm aufzuhelfen versuchte, schüttelte Fili ihn mit zusammengebissenen Zähnen ab. Eigenständig kam er auf die Beine, presste sich die Hand ans Gesicht und zuckte vor Schmerz zusammen. Er blickte auf sie und begann zu zittern. An seinen Fingern klebte Blut, was aus seinem linken Nasenloch trat und ihm mittlerweile in den Bart tropfte. Aus verschleierten Augen starrte er seinen Onkel an und empfand nichts als eisige Kälte.

Thorin knurrte wie ein Wolf, eine Warnung, die er kein zweites Mal geben würde. ,,Geh mir aus den Augen.

Fili riss sich von seinem Bruder los und lief an ihm vorbei. Kili warf seinem Onkel einen vernichtenden Blick zu und folgte ihm zu den anderen, die geschockt von dem Geschehenen sie erwarteten. Oin streckte die Hand nach ihm aus. ,,Fili, lass mich sehen.“

,,Lasst mich in Ruhe!“ Der Prinz drängte sich an ihm vorbei und stürmte davon, damit sie nicht sahen, wie verletzt er wirklich war.

Schritte kündigten ihren Anführer an. Die Blicke aller richteten sich auf Thorin, der die Treppen hinaufkam. Intuitiv stellte sich Dwalin näher zu Kili. Nur seine sich öffnenden und schließenden Fäuste gaben die Wut in ihm preis.

Thorin sah durch die Runde und drehte sich schließlich um. Wortlos stemmte er die Hände auf die Brüstung und schaute in die Weite seiner Halle hinein.

,,Wie kannst du nur…“, zischte Balin und spürte deutlich, wie sein Bruder hinter ihm innerlich bebte. Er trat einen Schritt vor ihn. ,,Fili war dabei das Richtige zu tun.“

,,Er war dabei Verrat zu begehen.“

Fassungslos schüttelte der alte Zwerg den Kopf. ,,Du hast den Glauben an das Gute verloren.“

Ruhig und kalt war die Erwiderung von seinem langjährigen Weggefährten, als würde er von all dem nichts hören wollen. Als würde er eine andere, eine eigene Wahrheit kennen. ,,Unser Glauben macht es uns nur einfacher die Realität zu ertragen.“

,,Erklärst du so, was dir das Recht verleiht, die Hand gegen dein eigen Blut zu erheben?“ Balin atmete zittrig ein. ,,Deine Schwester würde sich im Grab umdrehen.“

Thorin sah ihn an und sein Blick erdolchte ihn. ,,Halt. Den. Mund.

Seiner deutlichen Drohung folgte Stille. Er wollte sich erneut abwenden, hielt jedoch inne. Er legte den Kopf zur Seite, als würde etwas ihn unangenehm am Hals scheuern. Seine Männer sahen zu, wie er in seine Rüstung fasste und die Schnur seiner Kette unter den Schichten seiner Kleidung hervorzog. Auf einmal klärte sich sein Blick. Seine Züge entglitten ihm.

,,Erinnerst du dich?“ Hoffnungsvoll trat Balin auf ihn zu, behutsam, um den sensiblen Moment nicht zu zerstören. ,,Marie schenkte sie dir.“ Thorin starrte bloß auf den Anhänger in seiner Handfläche, als würde er ihn zum ersten Mal sehen. ,,Erinnerst du dich an gar nichts?“, flüsterte Balin, immer stärker mit seiner Fassung ringend.

,,Das ist es“, hauchte Thorin plötzlich. Mit jeder weiteren Silbe jedoch verdüsterte sich seine Miene bis glühende Finsternis ihn umgab. Die große Hand seines Bruders packte ihn am Arm und zog ihn vor dem Mann zurück, der dabei war, sich in ein Monster zu verwandeln.

,,Auf diesem Stück Metall liegt ein Fluch, der mir von Anfang an Unglück brachte.“ Thorin sah auf den runden Anhänger in seiner Hand, in den Augen nichts als schwarzer Hass. ,,Talisman…“, raunte er verachtend. Dann schloss er die Hand zur Faust, riss die Lyrif-Kette von seinem Hals und warf sie von sich. Klirrend schlug sie gegen die Wand und fiel zu Boden.

Der Schrei einer Gefallenen.

,,Es gibt für mich keine Marie mehr.“ Er ging, doch plötzlich war es, als verließ ihn die Kraft des Drachen für einen kurzen Augenblick. Der große Zwerg musste sich an der Wand stützen. Irritiert schüttelte er den Kopf, nahm einen tiefen Atemzug und drückte seine Schultern durch, zwang seinen Körper zum Weiterzugehen. Sein Mantel wölbte sich unter seinen raumgreifenden Schritten, die ihn zurück ins schattengefüllte Erebor brachten.

Wie ein verletztes, kleines Wesen hob Bifur die Kette auf. Traurig verband er die aufgerissenen Enden der Schnur miteinander und gab sie Balin. Ein Schluchzen unterdrückt streckte dieser sie Kili entgegen. Kili starrte ihn an. ,,Nimm du sie, mein Junge.“

Zögernd nahm er die Lyrif-Kette an sich. Kili sah auf den matten Anhänger in seiner Handfläche und schloss sie um ihn, damit die Wärme einer verlorenen Liebe, die noch an ihm hing, nicht verschwand.

 

~

 

,,Bain, geh mit deinen Schwestern.“ Sanft nahm er dem Jungen das Schwert aus der Hand. Nicht noch mehr Blut sollte an ihm kleben.

Obwohl er ihm gelehrt hatte, einen Stock als Waffe zu führen und er wusste, dass er zweifelsohne auch mutig dazu war, ein Schwert zu benutzen, so war Bain mit seinen vierzehn Jahren noch viel zu jung fürs Kämpfen. Kein Vater sollte sein eigenes Kind in den Krieg schicken müssen.

,,Ich will, dass ihr alle Alten und Schwachen in die große Halle bringt“, wandte Bard sich an alle drei. ,,Nehmt so viele wie möglich mit euch und verschließt die Türen.“

,,Aber wir wollen bei dir bleiben!“ Tilda klammerte sich an seinem Mantel. Es war kaum für ihn zu ertragen, in ihre großen, blauen Augen zu sehen. Wortlos strich er ihr über das Haar, um sie zu beruhigen.

,,Ihr werdet doch wohl auf das Wort eures Vaters hören.“ Wie vom Erdboden ausgespuckt erschien Alfred bei ihnen und bekam von ihm eine misstrauische Musterung. Er zwang seine Hand von Tildas Kopf und presste ihm das Schwert gegen die Brust. ,,Nur Frauen und Kinder, Alfred. Kehre so schnell es geht wieder zurück. Ich brauche jeden Mann.“ Und sei er noch der größte Feigling.

Sein einstiger Widersacher starrte erschrocken auf die Waffe und ergriff sie unbeholfen. ,,Ich werde sie in Sicherheit bringen, Herr“, stotterte er. Die Angst war ihm deutlich anzusehen.

Die Gewissheit, ihm vertrauen zu müssen, behagte Bard gar nicht, doch er musste zurück zu seinen kämpfenden Männern, die weiterhin versuchten, die Stadt zu halten. Bard zog erneut sein Schwert aus der Scheide und berührte mit der anderen Hand die Wange seines Sohnes. Er sah seinem Jungen ins Gesicht und die Worte lagen ihm schwer auf der Zunge. Wie erwachsen er doch jetzt schon war. ,,Hab acht auf sie.“

,,Das werde ich.“

Sigrid hielt Tilda fest, als sie ihrem Vater hinterher sahen, bis er verschwunden war und nahm sie dann bei der Hand. ,,Komm, Tilda. Du hast Papa gehört.“

Mit düsterer Miene folgte Alfred den davoneilenden Mädchen. Als wäre es ihm lästig, warf er Bain das Schwert zu. Der Junge fing es nur knapp und funkelte ihn mit einem bitteren Blick an. Er würde seinen Schwestern nicht mehr von der Seite weichen.

 

~

 

Der Nebel hatte sich höher ins Gebirge verzogen, fort vom Hochtal, auf dessen Boden ein gnadenloser Krieg geführt wurde.

Zwerge. Elben. Menschen. Die am Morgen noch aufeinanderhetzenden Völker hatten sich gegen ihren aller Feind gewandt, um die Zukunft Mittelerdes auf ein Neues zu entscheiden.

Die Winterluft war bereits geschwängert mit dem Geruch nach Rauch und Blut. Auf dem westlichen Turm des Rabenberges zog Azog diesen Geruch des Triumphes ein und kostete den Anblick seiner vorrückenden, mordenden Truppen voll aus.

Trolle verschafften sich über die Mauern einen Weg in die Stadt, die währenddessen von den Steinschleudern beschossen wurde. Flammen von in Brand gesteckten Häusern loderten im Stadtkern auf. Thranduil und sein Heer kämpften nun auch in und um Dale, wo immer mehr Orks eindrangen. Schalle ihrer gegeneinanderschlagenden Klingen echoten hell auf allen Plätzen. Ihre Bewegungen waren tödlich präzise, ihre schlanken, drahtigen Körper denen der Orks unterlegen. Dafür besaßen sie die ihnen fehlende Schnelligkeit und das Geschick. Doch ihr Vorteil wurde zwischen der Hand des Bösen wie ein welkes Blatt zermalmt. Ihr Feind war ihnen zahlenmäßig weit überlegen. Inmitten seiner Leute stand Thranduil, ließ seine Schwerter an den Hälsen seiner Feinde tanzen. Sein Hirsch war längst getötet worden, seine eisblauen Augen genauso hart und kalt wie der Stahl in seinen Händen.

 

~

 

,,Kommt zur großen Halle!“, rief Bain über die Menge hinweg und umklammerte sein Schwert fester. Es gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Er entdeckte Sigrid, die eine alte Frau stütze.

Kinder, Frauen, Alte und Kranke strömten die langen Stufen hinauf zum alten Ratsgebäude der Stadt. Tilda lief zwischen anderen Kindern und hielt sie an den Händen.

Sie konnten es noch nicht wissen.

Viele von ihnen waren bereits Waisen.

,,Platz da! Lasst die Krüppel zurück!“ Schubsend bahnte sich niemand geringeres als Alfred seinen Weg durch die Menge. Seine Aufgabe als Krieger in den Wind geschossen, rannte er die Stufen hinauf, als wäre Sauron selbst hinter ihm her.

Bain konnte nichts weiter tun, als ihn zu lassen. Er hatte jetzt eine Aufgabe, die er erfüllen wollte.

Die großen, schweren Türen des Gebäudes wurden hinter den Letzten geschlossen. Einen Moment haderte Bain mit sich selbst, ob er nicht doch hinauslaufen und sich den furchtlosen Männern anschließen sollte. Doch er blieb, wie sein Vater es ihm befohlen hatte, und sah zu, wie von Innen der mächtige Riegel vorgelegt wurde.

 

~

 

Die Wächter Erebors besaßen keine Herzen. Vor Jahrhunderten waren sie aus Stein gemeißelt worden, um das Tor des Zwergenreiches zu bewachen. Schweigend hatten sie der Zeit, allen Witterungen und einem Drachenfeuer getrotzt. Mit den Äxten in ihren Händen konnten sie auch jetzt nur teilnahmslos die Ebene überblicken, die von den Scharen des dunklen Lords in ein Schlachtfeld verwüstet worden war.

Sie besaßen keine Herzen. Sie mussten das schreckliche Leid nicht fühlen.

Wie ein Wilder galoppierte Dain Eisenfuß seinen Hammer schwingend durch das Schlachtgeschehen, schlug den Ungeheuern nacheinander die Köpfe ein. Eine vorgereckte Lanze bohrte sich in die borstige Brust seines Reittieres. Schrill quickend brach sein Wildschwein unter ihm zusammen. Dain wurde zu Boden geschleudert und rappelte sich fluchend wieder auf. ,,Ihr Dreckskerle!“ Während die Beine seiner treuen Sau noch in ihren letzten Atemzügen zappelten, übte er derweilen schon Vergeltung aus. Noch ehe der Mörder seines Schweins zum Streich ausholen konnte, tat Dain es und zertrümmerte ihm die rechte Schädelseite. Dem Nächsten gab er eine seiner berüchtigten Kopfnüsse, dass es nur so knallte. Und auch die nächsten Orks, die ihm zu nahe kamen, wurden so niedergestreckt. Er packte eine ihm entgegen kommende Klinge, wich zur Seite und rammte sie dem hinter ihm stehenden durch den Leib, bevor er dem Schwertführer von seinem hässlichen Kopf befreite.

Der König aus den Eisenbergen sah sich nach allen Seiten um, zu seinen Männern, die zwischen den Orks kämpften. ,,Wo ist Thorin?!“, rief er in den Lärm hinein. ,,Wir brauchen ihn, wo ist er?!“

Staub und Rauch umgarnte die Kämpfenden. Schreie grellten überall. Stahl krachte immerzu auf seinesgleichen. Verendende Widder und verwundete Männer lagen zwischen bereits toten. Die riesigen Trolle und Standarten der Armee Saurons ragten vor dem grauen Himmel empor, deren Sonne vom Horizont verschwunden war.

In Dale wurden die Männer Esgaroths immer weiter zurück gedrängt. Bards Schrei ließ sie zurück weichen: ,,Zieht euch zurüüück!!“ Zu ihren Füßen lagen die Toten. In Lumpen und in goldenen Rüstungen. Ihre Blicke leer und gebrochen. Helles Elbenblut vermischte sich in den Rillen der Pflastersteine mit dem der Menschen. Ihre Lebensjahre, die sie beinahe unsterblich machten, waren fort. Denn im Tod war jeder gleich.

 

~

 

Wie ein Nebelstreif umgarnte ihn das Raubtier, drang als Schatten durch Metall und Fleisch in sein Innerstes, als existierte nicht die Festigkeit seines Körpers. Lauernd glitt Smaugs Geist um ihn herum, streiften sein Gesicht, seine Schulter. Eine kalte, lockende Berührung, wie die zarte Hand eines Geliebten. Die Macht der Bestie war dabei, die letzten Mauern seiner Seele einzureißen.

Der Drache hatte die Gewalt über sein Herz erlangt. Aber dennoch hatte er sein Ziel noch nicht erreich: es waren immer noch zwei Mächte in Thorin.

Zwei Schatten. Schwarz gegen weiß. Dunkel gegen Licht.

Dieser Kampf war anfangs so unangenehm und unerträglich gewesen, dass es ihm geradezu körperliche Schmerzen bereitet hatte. Er hatte es versucht zu verdrängen, von sich zu schieben. Doch die Drachenkrankheit war stärker gewesen, hatte die Liebe in ihm in Ketten gelegt und so tief in seine Seele gezerrt, wo sie als verglimmender Funken von Minute zu Minute schwächer wurde. Nun war dieses Kräfteringen vorbei und Thorin von einer kalten Ruhe erfüllt. Eine wissende Macht, die eines Königs würdig war.

Stille umgab ihn, wurde nur von dem leisen Knacken in den Feuerkörben unterbrochen, die neben dem Thron auf der Plattform standen. Unregelmäßige tanzten die feurigen Lichter auf dem Metall auf seinem Körper. Petrolgrün schimmerte das Gestein der Emporen, Statuen und kunstvollen Bögen, welche seinen Thronsaal schmückten. Das Jahrtausende alte Gestein des Königsthrones lag glatt unter seinen Händen, die Bestie wie ein schlafender Wachhund an seiner Seite.

Thorin blickte nicht auf, als Dwalin energischen Schrittes durch den Saal auf ihn zu kam. ,,Seit wann lassen wir unsere eigenen Leute im Stich?“ Er stapfte die wenigen Stufen zu ihm hoch und blieb direkt vor ihm stehen. Wie ein Greis ohne jeglichen Verstand saß sein Freund da und starrte ausdruckslos vor sich her. ,,Thorin, sie sterben dort draußen.“

Als Dwalin schon dachte, keine Antwort mehr zu bekommen, setzte Thorin sich gerader auf. Seine Lippen begannen, sich murmelnd zu bewegen. ,,Es gibt Hallen um Hallen unter diesem Berg.“ Zunächst verstand Dwalin nicht, was er da von sich gab.

Unter seinen Gedankengängen gingen seine Augen unruhig im Saal umher. ,,Orte, die wir befestigen können… Sichern, verstärken können, ja.“ Thorin erhob sich und trat auf ihn zu. ,,Ja, das ist es“, hauchte er, als wäre das die Lösung aller Probleme. ,,Wir müssen das Gold tiefer unter der Erde in Sicherheit bringen.“ Dazu entschlossen wandte er sich von ihm ab.

,,Hast du nicht gehört?!“

Der Ruf drang in sein Bewusstsein vor. Er drehte sich zu Dwalin um, der ihm nicht gefolgt war.

,,Dain ist umstellt“, berichtete dieser todernst. ,,Sie werden geschlachtet.“

,,Viele sterben im Krieg“, gab Thorin zurück. ,,Ein Leben ist wertlos. Aber ein Schatz wie dieser, lässt sich nicht in verlorenen Leben aufwiegen“, wisperte er eindringlich. ,,Er ist es wert, ist alles Blut wert, das wir vergießen.“

Trauer umgab Dwalins Züge. Er erkannte den Mann, vor dem er stand nicht mehr wieder. Es hatte weh getan, miterleben zu müssen, wie er Fili geschlagen und sich endgültig von ihnen abgewandte hatte. Und noch mehr tat es weh, ihn nun so zu sehen. ,,Was hat der Drache bloß mit dir angestellt?“

,,Er öffnete mir die Augen, nahm mir meine Schwäche und gab mir seine Stärke und Macht. Smaug schenkte mir etwas sehr Wertvolles…“

,,Nein, du hast ihm etwas verkauft. Du hast dich ihm verkauft, Thorin. Du merkst es nur nicht. Du wolltest König sein und hast dieser Schlange Erebor abgekauft, ohne zu wissen, dass sie das Gold und dich verflucht hat! Wenn du dich nur ansehen könntest… Du sitzt hier in diesen gewaltigen Hallen, trägst auf deinem Kopf eine Krone“, ein Zittern lag in seiner leisen Stimme, welches er kaum verbergen konnte, ,,doch du bist ein Geringerer, als du es je warst.“

,,Sprich nicht mit mir, als wäre ich ein unbedeutender Zwergenfürst“, raunte Thorin unbewegt. Verblasste Bilder seines alten Lebens zogen an ihm vorbei. Und plötzlich griff die Liebe den Drachen an.

Die beiden Schatten knallten in seinem Körper aufeinander, wirbelten ineinander verwoben auf. Das Licht bäumte sich auf, wehrte sich mit letzter Kraft gegen die Finsternis, die es zu ersticken drohte.

Thorin wusste nicht, wie ihm geschah. Ein heftiges Zittern durchfuhr ihn. ,,Als wäre ich immer noch… Thorin…Eichenschild“, schluchzte er, presste sich die Hand an die Kehle. Das Atmen fiel ihm schwer. Smaug tobte vor Zorn und kämpfte gegen Thorins Seelenlicht, das in seinem Sterben ein letztes Mal gewagt hatte, sich von dem Monster zu befreien. Sie wälzten sich ineinander verbissen umher. Das Licht streckte seine Finger nach Thorins Herzen aus. In dem Augenblick, als es ihn berührte, erschien jemand aus dem Nichts vor ihm.

In einem traumhaft schönen Kleid gehüllt trat sie auf ihn zu. Der reine weiße Stoff rauschte wie die Brandung eines fernen Strandes um ihre Beine, als sie die Stufen zu ihm hinauf schritt. Auf ihren langen braunen Haaren schimmerten die Spiegelungen der Flammen wie reines Gold. Thorin stockte der Atem. Smaragdgrüne Augen blickten ihn an, waren dazu in der Lage, direkt in seine kaputte Seele zu schauen, als stünde er nackt vor ihr. Er zitterte, fühlte sich schwach und verletzlich.

Güte zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie die Hand seinem Gesicht entgegen hob und seine Wange berührte. Thorin schwindelte von der Energie, die diese Berührung in ihn hinein leitete. Die Frau streckte sich ihm für einen Kuss entgegen und ihre Lippen berührten seine… Smaug brüllte, drängte gewaltsam die Schwäche zurück, wo er sie hin verbannt hatte. Die Finsternis eroberte sein Herz zurück und Thorin zog sein Schwert aus der Scheide, teilte die Luft zwischen ihnen, wo Marie einen Moment zuvor noch gestanden hatte.

,,Ich bin dein König!!“ Von den Wänden hallte seine Stimme nach. Dwalin jedoch zuckte mit keiner Wimper.

,,Du warst immer mein König!“, versuchte er ihm verständlich zu machen. Immer, fügte er unausgesprochen hinzu. Thorin fing sein Geleichgewicht wieder und starrte ihn an. ,,Und das hast du früher auch gewusst. Du siehst nicht, was aus dir geworden ist.“ Er lächelte traurig, als wäre dies ein Abschied. ,,Bilbo hatte recht. Der wahre Thorin ist verschwunden.“

Ein letztes Aufbäumen aus seinem Innersten. Das sterbende Licht versuchte aufzustehen, doch die Ketten, die der Drachen in den Klauen hielt, zwangen es nieder.

Nein…Dwalin…, flackerte es in seinen Gedanken wie die Flamme einer Kerze unter einem Windhauch. Ich bin hier. Ich bin doch immer noch ich…

,,Geh“, hauchte Thorin kaum hörbar, ehe die Krankheit wieder ihre alte Stärke erreichen konnte. Sein Freund musste von hier weg, bevor er sich nicht mehr unter Korntrolle hatte. Er wusste, dass das Schwert in seiner Hand beim zweiten Mal nicht mehr nur in die Leere schlagen würde. ,,Verschwinde“, wisperte er erneut. ,,Bevor ich dich umbringe.“

Dwalin öffnete den Mund, doch Worte wollten nicht über seine Zunge kommen. Er wollte nicht gehen, wollte ihn, seinen besten Freund nicht aufgeben.

Thorin starrte ihn an und seine Augen wurden silbern. Dwalin zögerte noch, doch dann drehte er sich um und ging, ließ seinen Freund allein mit seinen Dämonen zurück.

 

~

 

Kili öffnete die Tür des Schlafgemachs und erblickte seinen Bruder eingerollt auf dem verlassenen Bett ihrer Eltern liegen. Dass er ihn hier finden würde, hatte er gespürt.

Langsam trat er näher, stieg über die am Boden liegenden Teile seiner Rüstung und Beinschienen, die er von sich geworfen hatte. Wie er selbst und die anderen, hatte Fili dasselbe getan. Was nützte ihnen schon eine Rüstung, wenn sie hier festsaßen?

Wie Kili im Kettenhemd ihres Vaters gekleidet lag er auf den verstaubten Laken, den Blick auf die Wand gerichtet. ,,Oin hat mir etwas für dich mitgegeben.“ Er stellte die Schüssel mit dem nach Kräutern riechenden, warmen Wasser auf den Nachttisch. ,,Der alte Kauz hatte nicht locker gelassen.“ Sein Bruder reagierte nicht. Kili setzte sich zu ihm. ,,Fili...“ Immer noch starrte er auf die Wand. ,,Fili, lass mich sehen.“

Schließlich gab sein Bruder nach. Zögernd setzte er sich auf und Kili verzog das Gesicht. Neben seiner Nase, auf seiner halben Wange ausgebreitet, lag ein bereits lila verfärbtes Hämatom von extremen Ausmaßen.

Kili presste den Mund aufeinander, griff nach dem Lappen aus der Schale und wrang ihn etwas aus. Er rückte näher und betupfte damit seine Wange. ,,Tut es weh?“

,,Nicht so sehr, wie es sollte“, gab Fili düster zurück.

Kili versuchte, die Blutspuren wegzuwischen.

,,Mhhh!“

,,Tut mir leid.“ Er säuberte den Lappen im Wasser und strich danach vorsichtig über die Schwellung. Mit verquollenen Augen sah Fili an ihm vorbei ins Leere.

,,Dwalin versucht gerade mit ihm zu reden“, sagte Kili, weil er nicht schweigen wollte.

,,Dafür ist es zu spät.“

,,Sag das nicht, Fili.“

,,Sieh mich doch an!“ Kili tat es, doch Fili wandte den Blick ab, sah betreten auf seine Hände, als es in seinen Augen erneut zu schwimmen begann. ,,Hey, ist in Ordnung.“ Beschwichtigend rückte er zu ihm und umarmte ihn. Sein Bruder war näher am Wasser gebaut als er, war derjenige, der offener seine Gefühle zeigte. Doch mit aller Macht wollte er sie nun verdrängen, um seine Verletzlichkeit nicht zu zeigen.

Er suchte Halt in seiner Umarmung. ,,Ich wollte stark sein…“

,,Fili, das warst du! Und das bist du auch jetzt.“ Kili löste ihn von sich, um ihn in die Augen schauen zu können. ,,Warum zweifelst du so an dir? Hör auf, dir irgendwelche Vorwürfe zu machen. Niemand trägt die Schuld an dem, was geschehen ist - nicht du und auch kein anderer“, beschwur er ihn eindringlich, packte seine Schulter, damit sein großer Bruder ihm zuhörte. ,,Schuld allein ist Smaug.“

Fili nickte schwach und schaute erschrocken auf, als man ihm die Schnur der Lyrif-Kette über den Kopf legte.

,,Bei dir ist sie besser aufgehoben“, erklärte Kili mit einem halbherzigen Schmunzeln. ,,Ich würde sie eh nur verlieren.“

Fili berührte den Anhänger und Kili sah, wie er schluckte. ,,Er hat sie noch nie abgelegt.“

Weil er nicht wusste, was er sagen sollte, schwieg Kili.

,,Was sollen wir jetzt tun?“, fragte er nach Minuten, in denen sie auf dem Bett gehockt hatten.

Fili schüttelte den Kopf. ,,Ich weiß es nicht.“ Als wollte er so Gewicht von sich heben, seufzte er, und legte sich zurück in die Kissen. Zwischen seinen Fingern bewegte sich ruhelos die Kette, die jeher ihrem Onkel gehört hatte. Kili tat es ihm gleich. Die Köpfe nah beieinander sahen die Prinzen an die Zimmerdecke. Ihre Haare waren ineinander verwoben. Braune und blonde.

 

~

 

Du sitzt hier und trägst auf deinem Kopf eine Krone. Doch du bist ein Geringerer, als du es je warst. Du musst jetzt stark bleiben… Sie brauchen dich.

Thorin schleppte seinen Körper weiter seinen trostlosen Weg entlang. Er war auf der Flucht vor sich selbst. Vor einem Feind, der in ihm lauerte.

Ein Schatz wie dieser lässt sich nicht in verlorenen Leben aufwiegen. Dieser Schatz ist von einer Krankheit befallen…wegen eines Bergkönigs blinden Ehrgeiz… BIN ICH NICHT DER KÖNIG?!

Müde blickten seine Augen auf das hartgewordene Gold, das den Boden in der Ahnenhalle der Könige nun bildete. Er wollte schlafen, er wollte das alles nicht mehr.

Doch der Drache gab ihn nicht frei.

Die halbhohen Säulen zu seinen beiden Seiten waren besprenkelt von dem hochgeschlagenen Gold. In seinem Rücken lagen noch die Stücke eines riesigen Felsblocks, der einmal einen goldenen König formen sollte.

Augen sahen auf ihn herab: die von den Säulen getragenen Statuen vergangener Könige. Unter ihren leblosen Blicken zwang Thorin seine Beine weiter zu gehen. Seit wie vielen Tage hatte er nicht geschlafen? Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen, Luft zum Atmen gehabt?

In seinem Kopf wurden die Stimmen immer lauter, hallten wahllos durcheinander.

Ohne Sinn und Verstand.

Dieses Gold gehört uns, gehört uns… Ich werde mich von keiner einzzigen Münze trennen… Er hat nur seinen eigenen Vorteil im Sinn! Dich gehen lassen? Haha, horch in dich hinein, Eichenschild. Ich werde dich niemals frei geben. Bis in alle Ewigkeit wirst du mein Gefangener sein… Als wäre ich irgendein unbedeutender Zwergenfürst. Thorin Eichenschild... Sie hat deinen Großvater in den Wahnsinn getrieben! Eichenschild…

Er blieb stehen, starrte auf das Gold unter seinen Stiefeln, sehnte sich verzweifelt nach Ruhe, nach Erlösung, doch konnte nichts gegen die Stimmen tun. Er wollte die Ohren verschließen, die Augen zukneifen, sie aber fesselten ihn, zwangen ihn zum Zuhörer.

Genauso krank wie sein Großvater! Sie sehen Thror in dir. Ist dieser Schatz denn wirklich mehr wert als deine Ehre? Ich bin nicht mein Großvater. Das ist Thorin, Sohn von Thrain, Sohn von Thror! Ich bin nicht mein Großvater. Du bist der Erbe von Durins Thron. Du bist nicht besser als Smaug! Sie sterben…sie sterben… Erobert den Erebor zurück. Dain ist umstellt – sie sterben – ist umstellt…sie sterben. Stark zu sein bedeutet nicht, nie zu fallen. Stark zu sein bedeutet immer wieder aufzustehen… Holt euch eure Heimat zurück. Du hast dich verändert, Thorin. Ich bin nicht mein Großvater. …nicht akzeptieren, dass ich dich liebe. Vom ganzen Herzen…

Unter Qualen krampfte sich seines zusammen. Ihre Stimme war so nah, dass er dachte, sie stünde neben ihm. Doch da war nichts. Nur das Gold um ihn herum.

Ich will nicht, dass du gehst, ich will dich bei mir haben… Ich will dich nicht verlieren – nicht noch einmal. Ohne dich ist mein Leben nichts mehr wert. Man hat mir gesagt, ich solle dich loslassen, immer wieder sagte man es mir, doch ich habe es nie getan... Ich habe nie die Hoffnung aufgegeben. Befreie dein Königreich, hold dir dein Thron und dein Gold zurück und bitte, kehre dann wieder zu mir zurück. Bitte, komm zurück. Ich liebe dich!

Er wollte ihr antworten, dass er sie genauso liebte, mehr, als jemals zuvor…

Ein Donnern ließ den Felsboden unter ihm erzittern. In seinem Augenwinkel sah Thorin eine Bewegung. Ein raues Fauchen erklang, einen Hass in sich tagend, so alt wie die Welt selbst.

Grauen und Entsetzen rieselten ihm durchs Mark. ,,Smaug...“ Thorin fuhr herum und sah den Schatten einer zackenbewehrten Schwanzspitze sich im Gold unter ihm bewegen. Im nächsten Moment türmte sich eine riesige Welle über ihm auf. Das Gold engte ihn ein, drohte, über ihn herein zu brechen.

DER SCHATZ WIRD DEIN TOD SEIN!!

Thorin schrie, fiel auf die Knie. Alles drehte sich. Er verlor jegliche Orientierung.

Er starrte auf das Gold, das ihn in seinen Bann gezogen hatte, und sah sich selbst. Wind kam auf, fuhr durch seine Haare. Er sah, wie er in das, sich öffnende Loch gezogen wurde, riss den Mund auf.

Sein eigener Schrei… Voller Verzweiflung. Todesangst.

Er versuchte aufzustehen, rannte los, versuchte zu entkommen… Seine Hände krallten sich in die glatte Oberfläche. Ohne Halt. Immer tiefer rutschte er in die Finsternis. Das Gold schloss sich über ihn, verschluckte ihn, bis seine Schreie verstummten und nichts mehr von ihm übrig war.

Dann war alles vorbei.

Thorin riss sich die Krone vom Kopf. Metallisch schlug sie irgendwo auf dem erkalteten Gold auf.

Alles war still.

Der Drache war fort.

25

Mit einem Hieb zertrümmerte Dain dem am Boden liegenden Ork den Harnisch samt Brustbein. Er streckte die Hand nach einem seiner Männer aus und zog ihn auf die Beine. ,,Zurück zum Tor! Zieht euch zum Tor zurück!“, brüllte er seinen übrig gebliebenen Soldaten zu. Sie drohten zerschlagen zu werden, während die Zahl der Orks nicht abnehmen zu schien.

Sein Befehl sickerte durch; die Männer wichen zurück und sammelten sich vor dem Graben neu. Doch von dort gab es keine Möglichkeiten mehr zu weichen. Furchtlos stellten sie sich ihren Feind entgegen.

 

~

 

Zwar drangen die Geräusche der wütenden Schlacht gedämpft durch die Felsen des verbarrikadierten Tores, welches sie von dem Krieg dort draußen trennte. Gegen die grausamen Schreie, die die Luft zerrissen, konnte jedoch keine Wand dick genug sein.

Tatenlos mussten die Gefährten auf der anderen Seite des Tores dem Blutvergießen zuhören. Eine tiefe Bedrückung und Trauer lag über ihnen allen.

Ruhelos wandelte Nori an den dort hockenden Gefährten auf und ab. Als er bei seinem kleinen Bruder vorbei kam, der die Hände knetend auf den Stufen kauerte, konnte er ihm zum Trost nur die Schulter tätscheln. Auf den Trümmern vor Ori saß Kili, zog gedankenverloren die dicken Nähte seiner Handschuhe nach, als sich etwas in der Stille regte.

Kili hob den Kopf. Aus dem Zwielicht der Eingangshallen wurde eine Silhouette deutlich. Bekleidet in seiner schwarzen Rüste erschien Thorin und kam mit langen Schritten auf sie zu. Die Schneide des Schwertes in seiner Hand blitzte vor scharfer Entschlossenheit.

Während die anderen ebenfalls auf ihn aufmerksam wurden, stand Kili allarmiert auf und stellte sich schützend vor seinen Bruder. ,,Bleib hinter mir“, raunte er ihm zu, ehe er Thorin mit geballten Fäusten entgegen trat. Er würde fortsetzen, was sein Bruder begonnen hatte…

Getrieben von seiner Enttäuschung und Wut schrie er seinem Onkel die Worte entgegen. ,,Ich werde mich nicht hinter einer Wand aus Stein verstecken, während andere für uns in die Schlacht ziehen!! Das liegt nicht in meinem Blut, Thorin“, presste er hervor, schüttelte verzweifelt den Kopf, als er nichts aus dem Blick seines Onkels lesen konnte.

Voreinander blieben sie stehen, Auge in Auge und Kili war es egal, dass er eine Waffe in der Hand führte. Wenn er jetzt zum Schlug ausholen würde… Er wäre nicht überrascht bei den Ereignissen der letzten…

,,Nein, wahrlich nicht“, antwortete Thorin plötzlich mit solch sanfter Stimme, wie es Kili für nie mehr möglich gehalten hatte.

,,Wir sind Söhne Durins“, sprach Thorin. Der bewegte Ausdruck in dem Gesicht seines Neffen erinnerte ihn an seine Schwester und ein warmes Gefühl voller Zuneigung strömte durch seinen Körper. Es fühlte sich so gut an. ,,Und Durins Volk flieht vor keinem Kampf.“

Kilis Unterlippe begann zu beben, während er ihn anschaute und zuhörte. Mitgenommen von seinen Emotionen versuchte er zu nicken, zu verstehen, was mit seinem Onkel vor sich gegangen war.

Genau wie in alten Tagen hob ein Schmunzeln seinen linken Mundwinkel. Dann legte Thorin die Hand in Kilis Genick und presste in dem uralten Ritual ihres Volkes die Stirn gegen die seine. Onkel und Neffe schlossen die Augen in diesem stillen Moment des Vertrauens.

Als sie sich lösten, erhellte ein Lächeln ihre beiden Gesichter. Thorin sah an ihm vorbei und seine Züge wurden ernst und reuevoll. ,,Fili.“

Dieser stand mit unergründlichem Blick zwischen den anderen Gefährten. Thorin schluckte am plötzlichen Stein in seiner Kehle. Diese Distanz, in der sie sich zueinander befanden, war nicht länger zu ertragen.

Bevor er den ersten Schritt auf ihn zu gehen konnte, trat Fili näher, bis er eine Speerlänge vor ihm stehen blieb. Thorin wollte ihn in den Arm nehmen, traute sich jedoch noch nicht, ihn zu berühren. Zu sehen, wo seine Faust ihn getroffen hatte, brannte ihm auf das Grausamste ein Loch in die Brust.

,,Verzeih mir.“ Die Worte brachte er kaum zustande. ,,Verzeih mir alles…“

Fili überwand die Leere zwischen ihnen und warf sich in die Arme seines Onkels, die ihn auffingen und festhielten. Als Thorin einen Arm ausstreckte, kam auch Kili zu ihm. Er drückte seine Familien an sich und wurde von einer Wärme durchflutet, die er lange nicht mehr gespürt hatte.

Als er aufblickte, sah er in graue Augen, die seinen so ähnlich waren. Sanft ließ er sie los und die Jungs traten zur Seite, um ihn zu seinem besten Freund gehen zu lassen.

Die mächtigen Männer blickten einander an und ihre Augen übernahmen das Sprechen für sie. Sie fassten sich gegenseitig an die Schulter, an der sie ihr Leben lang Halt und Deckung bekommen hatten, und legten die Stirn ebenfalls gegeneinander. Der warme Atem des Anderen prallte gegen den eigenen. Sie schwiegen, um die tiefe Verbundenheit zu spüren, die zwischen ihnen ihr Band neu flocht.

,,Alles, was ich tat“, flüsterte Thorin, ,,tat ich für sie.“

Langsam hob Dwalin den Kopf, sodass sie sich abermals anschauen konnten. Mit einem Nicken gab er ihm zu verstehen, dass er verstand. ,,Wie… Wie hast du es geschafft?“

,,Ich habe mich erinnert.“

Ein wenig argwöhnisch musterte Dwalin ihn dennoch. ,,Heißt das: du bist wieder du?“

Unwillkürlich musste Thorin schmunzeln. ,,Ja“, er nickte. ,,Ich bin ich.“

Dwalin schnaufte, ,,das wurde aber auch Zeit!“, und gab ihm einen Boxschlag gegen den Oberarm. ,,Bei allen Göttern, um ein Haar wäre ich dir an die Gurgel gegangen!“

Thorin genoss die alte Vertrautheit, mit der sie seit jeher untereinander umgingen. Es war, als hätte dieser dunkle Schatten in ihm nie existiert und doch wusste er, dass er immer noch irgendwo tief in ihm war. Smaugs Geist, der ihn vergiftet hatte, war für den Moment fort und Thorin entschlossener als jemals zuvor, ihre Mission hier und heute zu Ende zu bringen.

Die Rückbesinnung zu seinem alten Leben, zu dem, wer er gewesen war und wer er sein wollte, der Anblick seines Endes, wenn er nichts änderte, aber vor allem die Gedanken an Marie, an die Frau, der sein Herz gehörte, hatten ihm die Kraft gegeben, die Drachenkrankheit zu besiegen. Denn er war nicht sein Großvater, der ein Sklave ihrer geworden war.

Er war Thorin Eichenschild, Sohn von Thrain, Sohn von Thror, zweiter seines Namens. König Erebors.

Thorin nahm einen tiefen Atemzug. ,,Ich habe kein Recht, dies von euch zu verlangen“, sprach er, als er die übrigen Meter zu seinen Männern ging, um seine letzte Bitte an sie zu richten. ,,Aber werdet ihr mir folgen? Ein letztes Mal.“

Balin erhob sich als Erster und wie auch er, taten es ihm die Gefährten gleich und griffen nach ihren ruhenden Waffen, um für ihren Anführer und König in die Schlacht zu ziehen.

,,Das werden wir“, schwor Dwalin hinter ihm. ,,Bis in den Tod. Oder bis zum Sieg.“

,,Onkel?“ Fili trat näher, hielt etwas in den Händen. ,,Bevor wir da rausgehen, denke ich wäre es besser, wenn du das hier wieder an dich nimmst.“ Er legte ihm eine schwarze Schnur mit einem unscheinbaren Anhänger daran in seine geöffnete Hand. ,,Sie gehört dir.“

Thorins Augen wurden groß vor Wehmut. Behutsam strich er über die Schnörkel des Metalls, die er in und auswendig kannte. Ein alter Schmerz stach direkt in sein Herz. Er wickelte die Schnur um seine Hand, ballte sie zur Faust und presste sie an seine Lippen. Du hast mich vor dem Drachen gerettet, Marie. Du warst mein Leuchtfeuer in der Dunkelheit. Ich werde zu dir zurück finden, das versprach ich dir. Dankbar, ihr Geschenk ein zweites Mal zu bekommen, streifte er sich die Kette um den Hals. Nie wieder würde er sie ablegen. Nie wieder.

,,Wir haben da nur ein Problem“, meinte Kili auf einmal, sodass ihn alle ansahen. Er kratzte sich die Bartstoppeln und wies auf den aufgeschichteten Wall, der sie von der Außenwelt trennte.

Thorins Blick erhaschte die Seile und Flaschenzüge, mit denen sie die schweren Felsen in die Höhe gehievt hatten, am Boden liegen. Dann sah er in die Höhe zu den massiven Balken, wo die Glocke einst hing. Sein Mundwinkel hob sich und ein Funkeln ließ seine Augen blitzen. ,,Ich hab da eine Idee.“

 

~

 

Die Zwerge aus den Eisenbergen brachten ihre Schilde in Stellung. Das also sollte das letzte Bild sein, was sie sehen würden: Reihe um Reihe hässliche Orks, deren zum Teil entstellten Fratzen stinkende Atemwolken in die klirrend kalte Luft pafften und sie zwischen den Sehschlitzen ihrer Helme aus dummen Augen anglotzten, die spitzen, fauligen Zähne zum Knurren und Fauchen entblößt.

Gepanzerte Bergtrolle rückten vor die ersten Reihen und gruben ihre Keulen in den harten gefrorenen Boden.

,,Jetzt sitzen sie in der Falle!“ Von dem eingenommenen Turm aus konnten Azog und seine Leibwächter alles überblicken, was sich im Tal abspielte. Während Dale weiterhin in Chaos und Not versank, war die Situation vor dem Tor des Zwergenreiches, wo sich die zwei Fronten nun gegenüberstanden, ausweglos geworden.

Mit einer herrischen Geste hielt er die Orks zurück, die den Befehl über den Anzeiger den Bodentruppen vermittelte. ,,Noch nicht. Wartet…Wartet.“ Azog wollte diesen Moment voll auskosten, wollte die Angst in ihren Augen sehen, wenn die verhassten Zwerge ihrem Ende entgegenblickten, und ihre Schreie hören, wenn sie den Boden mit ihrem Blut tränkten.

Doch weder Angst noch Furcht spiegelten sich in den Augen der Männer aus den Eisenbergen wieder. Unerschütterlich standen sie da, sahen stolz und ehrfürchtig ihrem Ende entgegen.

Inzwischen hatte es zu schneien begonnen. Winzige Flocken wirbelten träge in der Landschaft herum.

Dain Eisenfuß sog den Geruch des Winters in seine Lungen und legte die Hände fest um den Stiel seines Hammers. ,,Männer, es war mir eine Ehre mit Euch kämpfen zu dürfen!“, rief er über seine verbliebenen Reihen hinweg. ,,Doch bei Durin, diese Bastarde werden mit uns noch ihr blaues Wunder erleben!“

,,Baruk Khazâd ai-mênu!“, rief jemand und die gut vierhundert Mann, die übrig waren, wiederholten.

Azog presste die spitzen Zähne aufeinander. Er hatte lange genug gewartet. ,,Tötet sie!“

Der Befehl wurde gegeben.

Mit einem riesigen, gedrehten Horn um Schultern und Leib geschlungen, erschien Bombur auf den Zinnen der Mauer. Aus dicken Backen blies er hinein, sodass es von allen Berghängen wiederschallte. Du-DOO, du-DOO, du-DOOOOOO heulte es, der letzte Ton so lang und tief, wie Donnergrollen. Die vorrückenden Trolle und Orks hielten verwundert an.

Bilbo ließ Stich sinken und horchte auf das mächtige Horn, das vom Haupttor kam. ,,Thorin…“ Auch Gandalf und Bard blickten zum Erebor hinüber.

Als der längste Klang erstarb, folgte Stille, doch die Luft war weiterhin von greifbarer Spannung erfüllt. Sie entlud sich, als die aufeinander geschichteten Steine des Walls explodierten. Sie flogen und knallten auf die Brücke und in den Graben. Als ein aus Gold gegossener Rammbock brach die Thjalfar-Glocke durch das meterdicke Gestein und schleuderte es mühelos beiseite. Und zum ersten Mal seit Jahren ertönte ihr schöner Klang.

Die tonnenschwere Glocke schwang zurück und durch aufwirbelnden Staub erschienen Dwalin, Gloin, Kili, Fili, Bofur und dahinter all die anderen. Die Gefährten rannten durch die weichenden Reihen der Soldaten hindurch, ganz vorne an ihrer Spitze Thorin, der sie anführte.

,,FÜR DEN KÖNIG!!“ zog Dains raue Stimme an ihm vorbei. ,,FÜR DEN KÖNIG!!“

Vereint rannten sie ihrem Feind entgegen. Und jegliche Zeit hörte auf zu vergehen.

Thorin hörte seinen eigenen Atem in seinen Ohren, spürte sein Herz kraftvoll gegen seine Rippen schlagen. Der Wind fuhr durch seine Haare und er spürte, dass die Götter unter ihnen waren. Er packte sein Schild fester.

Zehn Meter.

Er hatte sie gerufen und sie waren gekommen, wie Donner vom Himmel, bereit, ihr Leben für sein Königreich zu geben. Ihre Chancen waren gering, doch nun rannten sie mit ihm an vorderster Front. Seite an Seite.

Sechs…

Als Thorin dachte, diesen Kampf um sein Land alleine bestreiten zu müssen, waren sie an seiner Seite gewesen. Dreizehn Männer, die mit ihm zu dieser Reise aufgebrochen waren, seine Heimat zurückzuerobern. Sie waren die einzigen gewesen, die seinem Ruf gefolgt waren. Sie hatten um den Glauben an das Unmögliche gekämpft. Sie waren eins, ihre Schicksale eng miteinander verbunden.

Drei…

Einst gaben die Gedanken an sein Volk ihm einen Grund, es zu versuchen. Nun hatte er ihren Namen gebraucht, um sich genau dies ins Gedächtnis zu rufen. Von den Lagen seiner Rüste geschützt lag die Lyrif-Kette an seiner Brust. Ganz nah an seinem Herzen, an dem Platz, wo sie hingehörte.

In diesem Moment war Marie bei ihm und Thorin hob sein Schwert über den Kopf, schrie den alten Schlachtruf seines Hauses. Ein letztes Mal.

,,DUU BEKAAR!!“ Die Männer fielen in sein Brüllen mit ein und stürzten sich in den Kampf, um zu töten oder zu sterben.

 

 

26

Pulsierende Herzschläge später war es, als käme plötzlich die angehaltene Zeit einem brechenden Damm gleich wieder in Bewegung. Der Schrei erstarb ihm in der Kehle, als sein Schwert mit solch einer Gewalt auf den ersten Gegner niederhieb, dass er ihm den Schädel wie einen Eichenstamm spaltete und erst in der Brust stecken blieb. Durch Thorins Venen floss der ungebrochene Wille seine Heimat zu verteidigen. Vom selben Rausch erfasst stürmten sie und Dains Männer voran, metzelten jeden nieder, der ihnen in die Quere kam, und warfen sich mit allem, was sie hatten in den Kampf für Erebor. Schwerter krachten ohrenbetäubend auf Schilde, Stahl traf klirrend Stahl, Pfeile zischten über ihren Köpfen hinweg. Um sie herum tobte die Schlacht.

 

~

 

Bitte, lass es wahr sein… Bitte, lass ihn sich nicht getäuscht haben...

Ganz ähnliche Gedanken kreisten Bilbo durch den Kopf, während er die Treppen hinauf hetzte. Er kam zurück ins Tageslicht und konnte von dem höheren Gebäude über die Stadtmauer hinweg schauen. Das gewaltige Schauspiel, das sich ihm darbot, gab ihm Gewissheit und neue Hoffnung. Wie ein Pflug rollten die vereint kämpfenden Zwerge durch das dunkle Heer und trieb es auseinander.

,,Die Zwerge… Sie kämpfen“, brachte Bilbo hervor, als Gandalf hinter ihm aufgeschlossen war.

Auf dem gütigen Mund des Zauberers erschien ein Lächeln. ,,An der Seite ihres Königs.“

Die Nachricht vom Schlachtfeld verbreitete sich wie ein Laubfeuer und steckte die Menschen in Dale mit neuer Kraft und Euphorie an, nicht aufzugeben. Es war noch nicht vorbei.

Mit raumgreifenden Schritten eilte Bard durch seine versammelten Truppen bis an ihre Spitze. ,,Jeder, der bereit ist sein Letztes zu geben, folgt mir!“ Er und seine Getreuen stürmten los, rannten durch die Straßen ihrer Stadt, direkt in die feindlichen Linien hinein.

Wenn man alles Leid gesehen hat, wenn Familie, Menschen, die einem nahe gestanden hatten vor den eigenen Augen getötet worden waren, und man bereits keine Hoffnung mehr gesehen hatte, dann erkannte man das Licht, wenn es einem gegeben wird. So ein Licht strahlte in jedem an diesem Tag, der unaussprechliches miterlebt hatte und trotz allem zu den Waffen griff, um sich der hereingebrochenen Dunkelheit entgegenzustellen.

Eine Frau namens Lydia aus Seestadt nahm sich die an der Wand lehnende Fischerharpune und zog die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich. ,,Ich sage, wir standen unseren Männern im Leben zur Seite“, sie sah über die zusammengekauerten Frauen, Kinder und Alten, die irritiert zu ihr aufsahen, „nun werden wir das auch im Tod.“

Jene Frauen, die Kinder im Drachenfeuer verloren hatten, standen als Erste auf, sahen in dem Kämpfen einen neuen Sinn, und jene blieben, deren Stimmen noch gebraucht wurden. Sie beugten sich zu ihren Kindern und nahmen sie fester in den Arm. Sie waren diejenigen, die bleiben würden.

Auch Alte erhoben sich. Die Kräftigsten schnappten sich alle handlichen Gegenstände, die sie finden konnten; Kerzenständer, Besen oder abgebrochene Stuhlbeine. Sie hatten nichts mehr zu verlieren, sondern konnten nur noch gewinnen.

Es verwunderte Sigrid nicht, dass sich auch Bain mit seinem Schwert in der Hand erhob. Sie wusste, dass sie ihn nicht aufhalten konnte und ließ ihn ziehen. ,,Wehe, du kommst nicht zurück, kleiner Bruder.“

,,Werd‘ mir Mühe geben“, gab er zurück und versuchte, seine Angst so gut es ging zu überspielen.

Eine Frau tätschelte die Schulter ihrer Nachbarin. ,,Kommt mit uns.“

,,Nein, nein, nein“, kam die piepsige Antwort unter dem Kopftuch hervor. ,,Lasst mich altes Weib ruhig hier.“

,,Habt keine Furcht.“ Doch ehe die Stimme erneut antworten konnte, packte Lydia das Tuch und zog es ihr vom Kopf. Darunter zum Vorschein kam, mit Häubchen ein Mann in Kleid und falsch ausstaffiertem Busen.

,,Alfred Leckspuckel“, zischte Lydia verachtend. ,,Was für ein Feigling du doch bist.“ Gemurmel und Verwünschungen wurden in der Halle geflüstert.

,,Feige?“, entgegnete Alfred sich keiner Schuld bewusst. ,,Nicht jeder Mann ist mutig genug, ein Korsett zu tragen.“

,,Du bist kein Mann. Du bist ein Wiesel.“ Lydia drehte sich um und ging. Ihr folgten die anderen tapferen Seestädter. Alfred verschränkte die Arme und blieb dort hocken, wo er war, als die Türen hinter den Menschen verriegelt wurden.

 

~

 

Das Tal war von Gebrüll und Geschrei und dem Gestank von Blut erfüllt. Der Lärm schien ihre ganze Welt zu erfüllen, die Männer aber konnten nur das Rauschen des Blutes in ihren Ohren hören, während sie Schlag um Schlag mit ihren Schilden abfingen und mit ihren Waffen zurück schlugen.

Trotz seiner alten Tage ließ Oin seine Lanze über seinen Kopf im Kreis wirbeln und verbeulte so der Reihe nach Helme. Dwalin war von Feinden regelrecht umgeben, doch pflügte wie ein Todesbote durch Staub und Rauchschwaden, schlug rechts und links von sich alle Feinde nieder. Ein enormer Bauchumfang konnte auch positive Seiten haben. Bombur nutze diesen und warf mit seinem Wanst einen Ork in voller Rüstung zu Boden. Die Wucht war jedoch so groß, dass der dicke Zwerg selbst von den Füßen gerissen wurde. Sein Bruder und Vetter erledigten den Ork mit ihren Keilschlägen und zogen den Zwerg wieder auf die Beine.

,,Komm, Bombur, hoch mit dir.“

 ,,Bofur, Hilfe!“, schaffte es Oris Ruf durch den Krach, der große Not mit seinem doppelt so großen Gegner hatte. Mühevoll riss er sein Schild hoch, um der gegnerischen Waffe entgegenzuwirken. Die Axt durchdrang das Metall wie einen weichen Käselaib und blieb Zentimeter vor seiner Nase stecken. Es wurde ihm einfach aus den Händen gerissen und Ori blickte zu dem Untier mit den zusammengenähten, verunstaltetem Gesicht hinauf. ,,Hilfe!!“

Bofur zog eine Wurfaxt aus einem toten Ork und peilte ihn an, während Ori versuchte, den Hieben auszuweichen, die ihn in Stücke teilen wollten. ,,Ich kann nicht zielen, wenn ihr so herum hampelt!“

,,Herumhampeln?! Machst du Witze?! Werf doch einfach!“

Bofur schleuderte sie… Stattdessen blieb die Axt jedoch in Noris Gegner stecken.

Ori kreischte los, als er seinem sicheren Ende entgegen sah.

Sein Halbbruder nahm die Axt, die für ihn die Arbeit erledigt hatte, und warf sie in seine Richtung weiter. Gerade noch rechtzeitig zog Ori den Kopf ein. Diesmal traf sie ihr Ziel. Und das richtig.

Der Ork schielte noch auf die Axt, die ihm zwischen den Augen steckte, ehe er auf die Knie sank. Ori wollte sie ihm aus dem Schädel ziehen, doch sie blieb, wo sie war. Er trat von dem Leichnam weg, klopfte sich die Hände ab und ließ sie doch lieber an Ort und Stelle.

Unweit dessen schlug Gloin mit seiner Waffe den Helm aus dem schlechten, dunklen Metall wie eine Glocke. Zitternd fasste sich das Vieh an den Kopf und ging brummend zu Boden.

Filis Schwert harkte durch nacktes Fleisch. Er hieb die Klinge, die ihm als erste entgegenkam am Heft ab und zog beim Rückhieb sein Schwert einem Zweiten quer durchs Gesicht.

An seinem Rücken stand Kili. Ein fliegender Speer kam ihm von Links entgegen, bohrte sich mit metallischen Krachen in sein Schild und machte es unbrauchbar. Der Prinz warf es knurrend zu Boden. ,,Das! War! Neu!“ Der Ork kam angehumpelt und Kili drosch ihm für sein Schild Hiebe entgegen, solange bis er zu Boden ging.

,,Hey, Kili!“

Er sah zu seinem Bruder, der auf einen Bergtroll zeigte, auf dessen Schultern Bilwisse dabei waren, die Schleuder nachzuladen. Bilwisse gehörten zu den Orks, waren kleiner und wendiger, besaßen längere Gliedmaßen und wurden oft gegen Bezahlung angeheuert. In Sachen Aussehen jedoch war eine Art hässlicher als die andere.

Das Brüderpaar nickte sich grinsend zu und rannte los. ,,Gloin, Dori! Bringt uns hoch!“

Sogleich stellten sich die beiden hintereinander. Dori bückte sich, den Schild auf den Rücken gelegt, während Gloin seines vor sich hielt. ,,Auf, Jungs!“

Noch einmal beschleunigten sie, sprangen zuerst auf Dori, wurden dann von Gloin empor geworfen. Sie landeten auf der Ladefläche der Steine, wo die überraschten und unbewaffneten Bilwisse noch versuchten, die Zwerge zu überwältigen. Die jungen Männer warfen einen nach dem anderen runter. Der Troll bemerkte die Eindringlinge und drehte sich, um sie loszuwerden, wie ein Hund, der seinen Schwanz jagte, um die eigene Achse. Fili und Kili krallten sich an irgendetwas fest und versuchten, den zu ihnen langenden Armen auszuweichen. Alles flog an ihnen vorbei und ihnen wurde speiübel.

Thorin hatte Erbarmen und nahm einen feindlichen Speer vom Boden auf, der im dicken Schenkel des Trolls stecken blieb. Dieser jaulte auf, blieb stehen und seine Neffen rutschten grün im Gesicht zu Boden und ihm vor die Füße. ,,Genug gespielt?“ Sie konnten nur nicken, während sich immer noch alles drehte. Der Bergtroll indes taumelte nach hinten und fiel auf den Rücken. Die Mechanismen der gespannten Schleuder begannen zu knacken und einen Moment später wurde er selbst hoch katapultierte und blieb nach dem harten Überschlag kampfunfähig liegen.

Zur gleichen Zeit mehrere dutzend Meter von ihnen entfernt fiel auch Bofur rücklings zu Boden. Über ihm hob sein Gegner die blutverschmierte Sichel…

Wild verzottelt und Unverständliches knurrend kam Bifur angerannt und gab dem Ork eine Kopfnuss.

Bofur schüttelte den Kopf, glaubte zunächst, nicht richtig zu sehen. Doch ihre Schädel blieben aneinander verharkt. Die, in dieser Lage Gefangenen knurrten sich gegenseitig an, zogen und zerrten, um loszukommen. Er rappelt sich auf und versuchte Bifur irgendwie zurück zu ziehen. Sein Bruder Bombur kam ihm zur Hilfe, aber selbst so hatten sie keinen Erfolg. Eine andere Lösung musste her.

,,Schiebt!“, rief Bofur und die drei drückten nun nach vorn, zwangen so den Ork zum Rückwärtsgehen. Die erscheinende Kante des kleinen Hügel, auf dem sie sich bewegten, sahen sie nicht kommen und so hielten sie Bifur gerade noch rechtzeitig mit vor Schreck entsetzten Gesichtern fest, als der Ork abrupt fiel. Ihre Schädel steckten immer noch aneinander, sodass der Ork in der Luft und Bifur daran hing. Bombur umrundete sie, hing sich an den Gegner und riss ihn so endlich von Bifur los. Es gab ein Ruck und die Männer fielen zu Boden.

,,Bei Durin!“ Ungläubig starrte Bofur auf die Kerbe in der Stirn seines Vetters, die die herausgerissene Axt hinterlassen hatte. ,,Du hast deine Axt verloren!“

Ebenso ungläubig fasste sich Bifur an die Stirn, berührte ungläubig die leere Kerbe.

,,Nein, hat er nicht!“ Bombur kam den Hügel hinauf und streckte sie ihm entgegen. ,,Bitte sehr, Vetter.“ Ein wenig stolz, ihm die kleine Axt wiedergebracht zu haben, stemmte er die Hände in die Hüften.

Allerdings hatte Bifur nur noch wenig übrig für dieses Stück Ork-Metall, was ihn jahrelang begleitet und eingeschränkt hatte. ,,Steck sie dir sonst wo hin“, gab er mürrisch zurück und warf es einfach weg.

 

Thorin streckte einen Ork nieder. ,,Dain!“, konnte er nur rufen, ehe der nächste Angriff kam. Er drehte sich, schwang sein Schwert in die Seite des Angreifers. Dumme Augen glotzten ihn noch aufgerissen an, als er die Klinge aus der strömenden Wunde heraus zog und dem erstarrten Ork einen Tritt verpasste. Er hörte Dain ebenfalls nach ihm rufen, positionierte sich für den nächsten Angreifer neu, der bereits auf ihn zu kam.

,,Thorin! Halt aus. Ich komme!“ Ein wilder, roter Haarschopf in einem dreckigen Fellumhang gehüllt sprang auf den Rücken seines Gegners. Dain drückte dem Vieh den Stiel seines Hammers unter den Kehlkopf, während Thorin die Klinge ihm bis zum Heft in den Bauch graben konnte.

Der König aus den Eisenbergen kletterte von dem sterbenden Ork. ,,Hey, Vetter, was hat das so lange gedauert?“ Als ihr gemeinsam besiegter Gegner noch zuckte, schlug er ihm seine Waffe gegen den Schädel, damit er Ruhe gab. Thorin lachte, als er Dain, zu dem der treue Rabe es tatsächlich geschafft hatte die Botschaft zu bringen, in einer kurzen Umarmung auf die Schultern klopfte.

,,Es sind zu viele von diesen Dreckskerlen, Thorin. Ich hoffe, du hast einen Plan.“

Thorin richtete den Blick zu den dunstverhangenen Wachtürmen am Rabenberg. Rachegedanken fraßen sich durch seinen Körper und er spürte den Drachen, der immer noch in einem Teil von ihm existierte, gegen sein Gefängnis drücken. Er wollte freigelassen werden, lechzte tollwütig nach Blut, um die Rache zu stillen. Dort oben befand sich der Auslöser allen Leids an diesem und an vergangenen Tagen.

,,Ja“, antwortete er. ,,Wir töten ihren Anführer.“

,,Azog“, kombinierte Dain erstaunt, doch Thorin hörte ihm nicht mehr zu. Er sah einen reiterlosen Widder herumirren und griff dem Tier beherzt in die Zügel. Der Bock, scheinbar froh über eine Führung im Schlachtenlärm, ließ ihn sich auf seinen Rücken schwingen. Thorin nahm im Sattel Platz und fasste die Zügel kurz. ,,Ich werde dieses Stück Abschaum umbringen“, zischte er und errichtete gleichzeitig die Mauern um seine Seele neu und stärker auf. Er musste sich auch weiterhin seine Sinne für sein Vorhaben klar bewahren. Nur dann hätte er eine Chance es ein für alle Mal zu beenden.

,,Thorin, das solltest du nicht“, widersprach Dain. ,,Du bist der König.“

Über die dicken Hornschnecken sah dieser ihn an. ,,Und genau deswegen muss ich es tun.“

,,Und wie bitte möchtest du dich ganz allein zum Rabenberg durchschlagen?“

Ketten und Räder rasselten und quietschten beim Näherkommen. Auf Balins ,,Halt!“ kam der gekaperte Streitwagen neben Thorin zum Stehen, vor und hinter dem alten Zwerg standen Dwalin und die Jungs. Die sechs weißen und braunen Tiere schüttelten schnaubend die dicken Köpfe.

,,Das hab ich schon lange nicht mehr gemacht“, meinte Balin, die Zügel einer weiteren Herausforderung haltend.

Thorin erhob das Schwert und trieb sein Tier entschlossen an, sodass es einen Satz nach vorn machte. ,,Vorwärts! Zum Rabenberg!“

,,Festhalten, Jungs“, warnte ihr Fahrer vor, als das Gespann an zog.

,,Ihr seid mir ein paar verrückter Hunde!“ Dain musste zur Seite treten, als die mit gezackten Messern   gespickten Speichen an ihm vorbei rauschten. ,,Das gefällt mir!“ Er sah dem Wagen nach, wie er davon fuhr. ,,Möge Durin euch beschützen…“

 

Thorin ritt vorneweg, dicht gefolgt von seinen Männern im Wagen. Vor ihnen eine dunkle Legion. Glühend stoben Funken auf, als Kili sein Schwert am sich drehenden Rad schärfte. Als könne er einen Berg spalten, sahen sie Thorin, wie er ins feindliche Heer hinein ritt und sich einem ihrer Götter gleich seinen Weg hindurch bahnte. Nichts und niemand konnte ihn aufhalten.

Balin hielt direkt drauf zu. Das Sechsergespann senkte die Köpfe, zog noch einmal an. Der Aufprall kam schnell.

Ohrenbetäubend pflügten sie durch die Reihen, hinterließen eine blutgetränkte Schneise der Verwüstung. Dwalin im vordersten Teil des Wagens betätigte unablässig eine Kurbel mit der dicke Bolzen nacheinander über eine Armbrust abgeschossen wurden. Die scharfen Messer an den Rädern zerfetzten Körper und noch mehr Beine. Wie die Fliegen starben jene, die ihnen zu nahe waren oder nicht schnell genug zurücktreten konnten. Und so dauerte es keine drei Sekunden länger, bis Azog auf sie aufmerksam wurde. Das Horn gab einen Befehl, der Arm ihrer Vorrichtung bewegte sich zum Zeichen, sie aufzuhalten.

,,Vorsicht!“, rief Kili, als Trolle ihnen entgegen kamen. Durch ihr Tempo flog der Wagen über eine emporragende Felskante hinweg. Die gerade unterhalb dieser angekommenen Trolle wurden durch die drehenden Messer geköpft. Ungläubig sahen die Zwerge zurück und die in sich zusammensackenden Körper, aus deren geöffneten Hälsen das Blut heraus schoss. Dwalin lachte seinen Triumph laut heraus.

,,Augen nach vorne, Jungs!“ Auf Balins Befehl hin sahen sie einen noch größeren, gepanzerten Bergtroll die Jagt aufnehmen. Ohne Vorwarnung lenkte der alte Zwerg das Gespann in eine scharfe Rechtskurve, sodass die anderen gegen die Wagenwand gedrückt wurden. Trotz Ausweichmanöver trafen sie noch ein stämmiges Bein. Der Wagen geriet ins Schlenkern.

,,FESTHALTEN!!“, schrie Dwalin noch, doch da wich der feste Erdboden unter ihnen bereits und sie schossen über die Klippe. Einen Moment flogen sie, ehe die schweren Räder auf Eis prallten. Die Widder stolperten und fielen auf die Knie. Mit schrillem Knirschen rutschte der Wagen gegen das Ufer des zugefrorenen Flusses. Schmerzhaft knallten die Männer gegen die felsigen Ränder, würden im Wagen hin und her geworfen werden, wenn sie keinen festen Stand besessen hätten.

Die Zugtiere rannten weiter, brachten das Gefährt nach ein paar Schlenkern wieder gerade. Ihre gespalteten Hufe trommelten im Stakkato über das Eis.

,,Nachladen.“ Dwalin bekam von Kili eine neue Batterie Bolzen gereicht. ,,Gut. Weiter jetzt.“

,,Ich glaube, wir haben ihn abgehängt.“ Kaum hatte der junge Zwerg das letzte Wort beendet, sprang der Koloss mit einem wütenden Brüllen aufs Eis. Der feste Untergrund löste sich in Wasser und scharfen Eisplatten auf. Jeder hielt sich irgendwo fest. So schnell er konnte, fuhr der Wagen weiter, doch das Untier bahnte sich im Eis wühlend seinen Weg hinter ihnen her.

,,Erledige ihn!“, wies Dwalin Kili an, der nach einem im Wagen liegenden Bogen gegriffen hatte. ,,Los doch, schieß!“

 ,,Wohin?!“

,,In seine Juwelen!!“

Kili ließ den Bogen sinken. ,,So was hat der doch gar nicht!“

,,Runter!!“, schrie Fili dazwischen, als ihr Verfolger ihnen gefährlich nahegekommen war.

Kili fuhr herum und schoss. Keine Sekunde zu früh.

Der Pfeil bohrte sich wie von einer höheren Macht gelenkt geradewegs durch den Augapfel in die Stirnhöhle und der Troll fiel zurück.

,,Kili, du bist der Größte!“, jubelte sein Bruder ihm gegen den Fahrtwind und Dwalins raues Lachen zu. Kilis Grinsen löste sich in Luft auf, als er wieder nach vorn schaute. ,,Dwalin!“

Vor ihnen stand ein weiterer Troll in aufgebrochenem Wasser und hielt einen Steg über seinem Kopf, damit Orks über den Fluss kommen konnten.

,,Bin dabei!“ Ein Bolzen nach dem anderen wurde abgeschossen, durchdrang die Rüstung des Trolls nur schwer oder blieb wirkungslos in der ledrigen Haut stecken. Die Orks fielen von ihrer provisorischen Brücke, als ihr Steg sich zu dem herannahenden Wagen umdrehte.

Kili konnte die Augen nicht von dem Ungetüm abwenden, auf das sie direkt zusteuerten. ,,Äh, Dwalin…“

,,Weiter!“

Neben ihm krallte Fili sich an der Reling fest. ,,Das schaffen wir nicht! Balin, halt an!“

,,Hier hält niemand an!“, brüllte Dwalin zwischen seinen wüsten Beleidigungen. ,,Kurs halten! Balin, gib alles!“

Kili hielt es das Beste, es seinem Bruder gleichzutun, schickte noch schnell ein Stoßgebet an Durin, während Bolzen um Bolzen abgeschossen wurde.

,,Komm her, du nacktes Igelschwein, komm her!!“

Mit einem dumpfen Knacken bohrte sich schließlich ein Bolzen durch den platten Unterkiefer. Wie ein gefällter Baum kippte der Troll um und der Streitwagen konnte über den auf dem Wasser treibenden Körper hinweg fahren. Die Männer brachen in Gelächter aus. Zum Jubel war es jedoch noch gänzlich zu früh, denn kurz darauf rauchten zwei schwarzen Schemen vor ihnen auf und kamen rasend schnell näher.

,,Och, komm schon…“, stöhnte Fili. Vom Regen in die Traufe… Wie üblich.

,,Warge!!“

Nach wenigen Sätzen waren die großen Wölfe bereits an ihrem Gespann angekommen, rissen die ersten Widder aus den Geschirren. Leder riss geräuschvoll unter den zuschnappenden Kiefern. Hart kratzte die hängende Deichsel über das Eis. Für einen Moment geriet der Wagen ins Schwanken. Durch seine Haarsträhnen, die ihm der Wind vor die Augen legte, blickte Kili zurück. Während die Wölfe die blökenden Tiere mit einem Biss in die Kehle töteten, schoss ein weiterer Umriss auf sie zu. Wargreiter hatten die Verfolgung aufgenommen.

,,Da kommen noch mehr!“

,,Festhalten, Freunde!“, rief Balin. Im nächsten Moment jagten sie zugefrorene Stromschnellen hinunter, die zu unregelmäßige Treppenstufen erstarrt waren. Die vier übrigen Tiere legten sich in die Riemen, versuchten mühevoll die Kurven zu schaffen.

Ein weiterer Warg schaffte es noch einen Widder zu reißen. Spürbar wurden sie langsamer. Die großen Pfoten der Wölfsbären wetzten hinter ihnen übers Eis und verloren an Distanz. Balin ließ die Zügel knallen. Ein feindlicher Reiter trieb seinem Tier die Hacken in den Bauch. Bedrohlich schwoll dessen Knurren an, bis er sie schließlich mit weiten Sätzen eingeholt hatte.

Der in Leder- und Fellfetzen gekleidete Ork erschien neben ihrem Wagen, machte sich bereit, zu ihnen hinüber zu springen. Doch ehe er es konnte, stach ihm Kili vorgebäugt seine Schwertspitze in die Brust und warf ihn so von dem dunklen Pelz hinunter, dessen Geruch ihm schwer unter der Nase lag. Der Wagen drosch über eine Bodenwelle hinweg. Die Erschütterung nahm ihm sein Gleichgewicht. Er kippte über die Wagenwand, sah den Wolfsbären vor sich und sein Gesicht verlor jegliche Farbe.

Instinktiv packte Fili ihn am Gürtel und für einen Augenblick war Kili mit der Bestie direkt auf Augenhöhe. ,,Hat dir schon mal wer gesagt, dass wagemutig für gewöhnlich auch tot heißt?!“, schrie ihm sein Bruder wütend an den Hinterkopf.

Der Fluss machte eine letzte Biegung, der Wagen schlitterte näher zum Ufer. Kili wurde von Fili zurück in den Wagen geholt, sah noch den Warg neben ihnen herlaufen… bis er zwischen Rad und Fels zermalmt wurde. Kili musste die Augen schließen, sah dann zurück auf den zerfetzten Körper und die aufgespritzte Blutlache und sah zum Rudel, das hinter ihnen immer herjagte.

,,Wir sind viel zu schwer. So schaffen wir es nicht“, knurrte Dwalin.

Balin sah auf ihre verbliebenen drei Tiere hinunter und fällte eine Entscheidung. ,,Schneidet die Leinen durch.“ Sein Bruder starrte entgeistert zu ihm hinauf, doch Balin wusste, dass nur so er ihnen die Chance zum Entkommen geben konnte. ,,Reitet zum Rabenberg.“

,,Nein, Balin.“

Der Weißhaarige schmunzelte besonnen. ,,Meine Tage als Widderreiter sind vorbei.“

Sichtbar kämpfte sein Bruder mit sich selbst, ihn zurückzulassen. Wortlos fasste Balin nach Dwalins Arm und verabschiedete sich mit: ,,Durin sei mit euch, Bruder.“

Dann musste alles schnell gehen. Als Erster kletterte Fili auf die ruhelose Deichsel. Unter ihm flog das Eis vorüber, verschmolz zu einer weißen, rauschenden Fläche, als er sein Gewicht und das seiner Waffe in der Hand ausbalancieren musste. An seinem Körper zog erbarmungslos der Wind. Der nächste Wargreiter hatte zu ihnen aufgeholt, schloss direkt neben ihm auf. Scharf duckte sich der Prinz noch unter der Klinge hindurch, schlug seine blind gegen das verfilzte Fell. Dadurch stürzte das Tier. Sein Reiter wurde abgeworfen, blieb auf dem Eis liegen und machte Bekanntschaft mit den hinterherkommenden Rädern… Nur noch ein paar erbärmliche Meter rollte sein Kopf hinterher.

Fili sprang auf den vordersten Widder und kappte mit einem beherzten Schlag die Leinen. Kili und Dwalin kletterten auf die anderen und lösten sie von der Deichsel.

In dem Moment, wo der mächtige Zwerg die letzten Leinen und damit die Verbindung zu seinem Bruder durchtrennte, ging ein Ruck durch den Wagen. Schrill kratzte sein Boden über das Eis, hinterließ lange Kerben daran, als er sich um die eigene Achse drehte und zum Stehen kam.

Balin griff die Kurbel der Armbrust und brachte damit die herannahenden Wölfe zu Fall. ,,Ich…bin…zu alt…für…sowas…“

 

Auf der anderen Seite entdeckte Thorin seine Neffen und Dwalin den Fluss hinab kommen. Er setzte sich schwerer in den Sattel, sodass sein Widder langsamer wurde.

Auch sie entdeckten ihn, lenkten die Tiere ein flacheres Stück hinauf und vom Eis runter. Mühelos kletterten die Bergwidder den felsigen Hang hoch und trafen sich auf einem Pfad in der Mitte.

Vergeblich suchte Thorin Balin unter ihnen. Sein Freund zeigte mit einem Nicken, dass sein Zurückbleiben seine Entscheidung gewesen war. Seinem Ausdruck zufolge war Dwalin jedoch damit zutiefst unglücklich. Thorin legte sein ganzes Vertrauen in seinen langjährigen Weggefährten und hoffte, dass der alte Zwerg sich in Sicherheit bringen würde. Dann nickte er ebenfalls und trieb sein Tier wieder an. Ihm folgten die anderen.

Im holprigen Galopp wägte er seinen Plan erneut ab. Würden sie den Heerführer ausschalten, stünden die Orks im Tal ohne Führung da. Ohne seine Befehle würde Chaos unter seinen minderbemittelten Truppen ausbrechen. So war jedenfalls sein Plan in der Theorie. Doch das Vergangene hatte oft genug gezeigt, dass selten etwas so verlief, wie es von ihm durchdacht war.

Nur Dwalin und er kannten sich von ihnen am Aussichtsposten aus. Die Orks hatten in aller Heimlichkeit genug Zeit gehabt, sich zurechtzufinden. Der Überraschungsmoment und die Hoffnung auf eine kleine Leibwache standen auf ihrer Seite. Es würde schwer werden, doch das war ihre einzige Chance auf einen Sieg.

Der Pfad führte sie den Berg höher hinauf, ihrem Ziel immer näher und Thorin wusste, dass er das einzig richtige tat, um Azog aufzuhalten.

 

~

 

Bilbo hatte genau zwei Möglichkeiten.

Erstens, er stellte sich diesem Troll oder zweitens, er machte, dass er so schnell wie möglich von hier weg kam. Der riesige Fleischberg schleuderte mit seiner Keule einen Elb wie eine Puppe gegen die nächste Wand, drehte sich zu ihm um und machte ihm die Entscheidung einfach.

Bilbo nahm seine Beine in die Hand. Das nur in Lendenschurz gekleidete, kahlköpfige Untier hatte längere Beine und holte bereits nach wenigen Schritten auf. Bilbo hörte sein Grunzen, suchte hektisch nach dem nächstbesten Ort, an dem er sich verstecken konnte. Gegen einen Troll hatte er nichts entgegen zu bringen. Stich wäre für ihn nur ein mickriger Zahnstocher. Und er sein Nachtisch. Er rannte schneller, steuerte auf das große, orange Zelt zu. Glas klirrte und er blieb gar nicht erst stehen. Kaum war er auf der anderen Seite draußen, wurden die Heringe, Seile und Zeltstangen samt Inventar weg gerissen. Meterweiser Zeltstoff kam wie ein alter Lappen auf dem Platz auf, während Bilbo durch den verwilderten Garten floh. ,,Verschwinde! Hau ab!“

Nein, kein Troll, Ork oder Bilwiss würde ihn letztendlich den Gar ausmachen. Eher würde er an seinem Seitenstechen umkommen, was ihm den gefühlten halben Brustkorb zerdrückte. Er presste die Zähne aufeinander und zwang sich zum Weiterrennen.

Wie lange konnten sie dem Angriff noch standhalten? Zwar hatten die Kämpfer Esgaroths mit dem Erscheinen von Thorin und seinem Gefolge neuen Mut geschöpft, doch es war immer noch eine Zerreißprobe. Wie lange mochten sie und die verbliebenen Elben die Stadt noch halten können? Sie waren doch nur eine Handvoll Menschen! Dass sie es bis jetzt geschafft hatten, glich schon einem Wunder - dass sein eigener Kopf noch auf seinen Schultern saß erst recht.

Bilbo schwindelte. Er war sich sicher, der Ohnmacht nahe zu sein, doch ehe er sich weiter den Kopf mit Fragen über das Wie und Wann zerbrechen konnte, zischte ein Pfeil an seinem Ohr vorbei. Durch den Schmerzensschrei hinter sich wagte er es, einen Blick über die Schulter zu werfen. Zielgenau war der Pfeil in die blassgraue Brust eingedrungen. Helleres Herzblut sickerte hervor und brachte den Troll mit einem letzten Aufstöhnen zum Zusammenbruch.

Keuchend blieb der Hobbit stehen, sah sich nach dem Schützen um und war nicht allzu sehr verwundert, als er Bard entdeckte. Dieser hob die Hand und eilte bereits weiter. Bilbo erwiderte den Gruß noch, lehnte sich dann erschöpft auf die Knie, um Luft zu bekommen.

Keine fünf Sekunden später erschien Gandalf in Girions Garten und kam zu ihm geeilt. ,,Bilbo, alles in Ordnung? Der Troll…ich sah dich nur noch von hinten.“

Danke für deine Hilfe. Er winkte ab und sein Blick blieb an etwas hängen, was sich rasch über den Bergausläufer bewegte. Er kniff die Augen zusammen und konnte sie gerade noch auf die Entfernung erkennen. Schnell eilte Bilbo durch die Reste des großen Pavillons, an die halbhohe Mauer, um freien Blick zu haben. Es waren Widder, die den Westhang entlang kletterten und auf ihren Rücken Zwerge trugen. ,,Das ist Thorin.“

,,Und Fili und Kili. Und Dwalin“, ergänzte Gandalf, der wohl bessere Augen haben musste. ,,Er nimmt seine besten Krieger mit.“

,,Was haben sie vor?“

Die Züge des Zauberers verdüsterten sich. ,,Der Schlange den Kopf abschlagen.“

Sie wollen Azog direkt angreifen? Jetzt war Bilbo sich sicher, dass die Ohnmacht nicht mehr fern war. Er konnte nur dastehen und den Tieren nachsehen, wie sie von den Nebelschwaden verschluckt wurden.

Auf einmal wurde er Ruf eines Fremden zu ihnen herüber geweht. ,,Gandalf!“ Hufgeklapper wurde lauter. Gleich beide drehten sich um. Der ankommende Reiter zügelte den drahtigen Schimmel und kam zum Stehen.

,,Legolas... Legolas Grünblatt“, begrüßte ihn Gandalf, der ihn offenbar kannte, und ging ihm verwirrt und froh zugleich ihn hier zu sehen entgegen.

Der Elb half seiner Begleiterin aus dem Sattel, ehe er selbst vom Rücken seines Tieres sprang. Die Flanke des Pferdes zitterte. Schweiß schäumte vom schnellen und gehetzten Ritt auf seinem Fell.

Neugierig trat Bilbo näher und runzelte überrascht die Stirn, als er die beiden Ankömmlinge wiedererkannte. Es war der Blonde, der die Zwerge im Düsterwald gefangen genommen hatte, an seiner Seite die rothaarige Elbe, die mit unter den Soldaten gewesen war.

,,Bolg rückt mit einem zweiten Heer an“, berichtete der Elbenhauptmann sogleich.

,,Bolg?“, fragte Bilbo nach. Wer war das nun wieder?

,,Ein Spross von Azog dem Schänder“, antwortete Gandalf an seiner Stelle.

Spross?? Erstaunt riss er die Augen auf. Konnten Orks sich… Wähh!

 ,,Er hatte bereits seine Meute in die Seestadt geführt“, erzählte Legolas weiter. ,,Sie haben jemanden gesucht, doch offenkundig nicht gefunden.“

Als wüsste er wieder einmal über alles Bescheid, nickte der Zauberer und Bilbo fragte sich, ob er der einzige der hier Anwesenden war, der keinen Schimmer davon hatte, was alles vor sich gegangen war.

,,Wir begegneten ihnen schon im Wald, vor unseren Toren. Diese Orks waren anders. Sie trugen ein Zeichen, welches ich lange schon nicht mehr gesehen habe. Das Zeichen Gunderbards – der Orkfestung, hoch im Norden des Nebelgebirges. Sie kommen von dort und werden schon bald hier sein.“

,,Gunderbard“, wiederholte Gandalf. ,,Das war ihr Plan, von Anfang an. Azog greift uns an und dann stößt Bolg mit seinen Scharen aus dem Norden dazu.“

,,Norden?“ Anhalts suchend drehte Bilbo sich im Kreis. Hatten sie mit einer Orkarmee nicht schon genug Sorgen? ,,Wo ist der Norden genau?“

Der Zauberer sah über ihn hinweg. ,,Über die nördliche Ebene werden sie kommen. Am Flusslauf. Der Rabenberg.“

Nur stückweis kombinierte Bilbos Gehirn die soeben gehörten Fakten und als es das tat, wandelte sich dieser Tag immer mehr in einen Albtraum. ,,Thorin ist da oben. Und Fili und Kili, sie sind alle da oben!“

Als der Hobbit seinen Namen sagte, blendete Tauriel alles Weitere aus.

Legolas und sie hatten Bolgs Verstärkung gesehen… Es waren hunderte. Hunderte gegen vier.

Sie hatte das Gespräch über geschwiegen und schwieg auch jetzt, als sie zu diesen alten Ruinen hinauf blickte, die in Nebel gehüllt da lagen. Keiner hörte, wie sie abermals innerlich entzweigerrissen wurde.

 

~

 

Während die anderen von ihren Widdern gesprungen waren und sich zwischen die Gruppe Orks gestürzt hatten, die den Eindringlingen entgegenkam, wurden die Zügel seines Tieres gepackt. Kili konnte gerade noch die Klinge gegen die des Angreifers recken, um sie daran zu hindern, sein Bein zu treffen.

,,Stirb!“, bellte der Ork kaum verständlich. ,,Stirb, Zwerg!“ Immer wieder hackte er wütend auf ihn ein.

Kili versuchte, standzuhalten und gleichzeitig sein Tier unter Kontrolle zu halten, was im Gebiss unruhig zerrte, um fort zu kommen. Der Ork grinste…bis es dem Widder langte und er zubiss. Schnell wie eine Schlange riss er ihm die Wange auf und spuckte das Stück Fleisch gleich wieder aus.

Während der Verwundete noch schrie, grub Kili ihm sein Schwert in die Kehle. ,,Nein, du stirbst.“

Er sprang von seinem Widder, gab ihm einen Klaps auf die Hinterhand, damit er den anderen fliehenden Tieren folgen konnte.

Der Kampflärm klang ab, als sie die letzten Orks überwältigt hatten. Die Männer ließen ihre blutgetränkten Waffen sinken. Unter Wolle und Leder lief ihnen der Schweiß eisig an der Brust herab. Wachsam nahmen sie ihre Umgebung genauer in Augenschein, welche durch den grauen Dunst hier oben in ein milchiges Weiß getaucht war. Sie befanden auf einem mit Bauten umschlossenen Platz unterhalb der ersten Türme, die ein paar wenige Etagen groß sich zu ihrer beiden Seiten erhoben.

Thorin trat näher zu der Stelle, wo früher eine Brücke auf die andere Seite des breiten Flusslaufs geführt hatte, der sich vor ihnen erstreckte. Gut ein Dutzend Meter weiter links endete er an der Kante des eingefrorenen Wasserfalls. Er blickte zu den Ruinen auf der anderen Seite, erkannte im Nebel geschlagene Treppen, die zu verschiedenen Ebenen führten, und eingefallenen Wände der alten Gebäude.

,,Wo ist er?“, sprach Dwalin seine Gedanken aus.

Die höchste Turmruine lag in Stille dar. Der heimlich von ihnen aufgestellte Fahnenmast stand reglos dort oben. Von Azog und seinen Handlangern fehlte jede Spur. Doch Thorin wusste, dass diese Stille trügerisch war.

,,Sieht verlassen aus“, meinte Kili. ,,Ich denke, Azog ist geflohen.“

,,Nein“, raunte Thorin leise. ,,Er ist immer noch hier irgendwo.“ Er konnte es spüren. Dieser Ork würde niemals einfach verschwinden. Nicht solange er das erreicht hatte, wonach er trachtete.

Der Hass für dieses Monster schwelte in ihm und würde nicht eher enden, bis der Mörder seines Großvaters tot war. Nur dann könnte er endlich Frieden finden.

,,Fili, nimm deinen Bruder“, wandte Thorin sich an sie. ,,Sucht die Türme ab. Lasst euch nicht sehen, bleibt in Deckung. Wenn ihr auf etwas stoßt, meldet euch. Greift nicht an“, befahl er eindringlich. Sie sollten nur die Späher sein, um sie zu decken und sie gegebenenfalls warnen zu können, während er und Dwalin tiefer in die Ruinen vordrangen und den bleichen Ork finden sollten.

Doch ehe er dies für Dwalin weitergeben konnte, sagte dieser: „Wir kriegen Besuch.“

Alle drehten sich um und sahen von ihrer linken Flanke Bilwisse über höher gelegenen Mauern klettern. ,,Söldner. Nicht mehr als fünfzig.“

,,Geht“, wies Thorin seine Neffen an, während er wie sein Freund seine Waffe griff und sich in Verteidigungsposition stellte. ,,Um die kümmern wir uns.“

Fili nickte und verschwand mit seinem Bruder das Ufer hinunter. Sie betraten den zentimeterdick gefrorenen Fluss. Hinter ihnen hörten sie ihren Onkel und Dwalin, wie sie trotzig den Bilwissen entgegen traten. Eilig huschten die Brüder geduckt in den Schutz der Brückenreste.

Die dicken Handschuhe aus Leder hielten zwar die Kälte ab, doch sie lag auf ihren ungeschützten Wangen, als würde sie vom Eis zu ihnen empor gestrahlt werden. Kili schluckte, versuchte sich selbst mehr zur Ruhe zu bringen. Sein Herz klopfe immer noch spürbar – oder schon wieder. Er sah zu seinem älteren Bruder, der mit seinen scharfen Augen zum gegenüberliegenden Ufer spähte, und versuchte, genauso kühl und ruhig zu sein, wie er es wirkte.

Als hätte Fili seine Gedanken vernommen, wechselte er mit ihm einen Blick, nickte ihm zu und gab damit das Zeichen. Vorsichtig überquerten sie das ungeschützte Eis, was unter ihren Stiefeln bei jeder Gewichtsverlagerung knirschte. Weißer Dunst strömte ihnen entgegen und verwandelte ihre Silhouetten in Nebelgestalten.

 

 

27

 

Der Ruf eines Horns erklang und weckte damit nicht nur Bilbos Aufmerksamkeit. Alle im Garten Versammelten horchten darauf. ,,Das ist Elros‘ Horn“, murmelte Legolas. ,,Was hat das zu bedeuten?“

,,Sie werden zurückgerufen“, beantwortete es ihm die Elbe. ,,Sie verlassen die Stadt.“ Beim Sprechen noch sah man, wie ihr die Bedeutung dessen bewusst wurde: das Elbenheer sollte abrücken, noch ehe der Kampf entschieden war.

Dann entdeckten sie Thranduil, gefolgt von einer Garde über den Platz eilen.

,,Mein Herr!“ Gandalf beeilte sich, zu ihm zu kommen und ihn aufzuhalten. ,,Mein Herr, Thranduil!“ Endlich brachte er ihn zum Anhalten. ,,Ihr müsst Truppen zum Rabenberg schicken. Bolg kommt mit einer zweiten Armee. Thorin muss gewarnt werden.“

Ungerührt schnaubte der Elbenkönig, wandte zur Verdeutlichung das Gesicht ab, dessen schöne Ebenmäßigkeit nicht durch den Blutspritzer, der quer über seine Wange verteilt war, getrübt werden konnte. ,,Dieser Zwerg ist mir gleichgültig.“

,,Aber, mein Herr…“

,,Seht Euch um!“ Drohend nahm er sich das Wort. ,,Ich habe für diese verfluchte Land genug Elbenblut vergossen.“ Er wandte sich von Gandalf ab und blieb nur wenige Schritte später erneut stehen. Vor ihm stand die Elbe mit den feuerroten Haaren.

,,Ihr werdet Euch nicht abwenden. Nicht dieses Mal.“

Wie vergessen standen Bilbo und die anderen in der Nähe. Der Hobbit konnte seinen Blick nicht von der Frau nehmen, die sich ihrem König in den Weg gestellt hatte. Was passierte hier gerade?

,,Ihr werdet Euch nicht wieder hinter den Toren Eures Reiches verstecken, die Augen verschließen, was in unserer Welt vor sich geht.“ Trotz der schweren Vorwürfe, die sie erhob, wirkte sie gefasst. Ihre braunen Augen waren beherrscht von Enttäuschung, die ihren Gegenüber festhielten, um ihn zum Zuhören zu zwingen. ,,Ihr denkt vielleicht, dies sei nicht unser Kampf. Doch da irrt Ihr Euch. Es ist unser Kampf. Unser aller.“

,,Was weißt du schon von der Welt?“, zischte Thranduil zurück. ,,Gar nichts! Wärst du nicht schon verbannt, Tauriel, dann täte ich es jetzt mit Sicherheit. War die Strafe für deine Verweigerung meiner Befehle nicht deutlich genug? Offensichtlich nicht, denn du stehst nun vor mir, und drohst mir.“ Das Funkeln seiner Augen war so intensiv, als könnte es durch ihren Körper dringen und sie allein dadurch töten. Es wurde spürbar kälter im sie herum.

,,Tritt beiseite“, lautete Thranduils letzte Warnung.

Bilbo schluckte an seiner trockenen Kehle, als der Elbenkönig sich vor ihr aufbaute. Doch Tauriel, wie die mutige Elbe hieß, blieb wie festgewachsen stehen. Von was wurden sie hier gerade Zeuge? Was war passiert, dass sie sich entschieden hatte, so zu reagieren und dieses Risiko auf sich zu nehmen?

Tauriel hob das Kinn, bewahrte ihre kühne Haltung, während es in ihren Augen zu glitzern begann. ,,Die Zwerge werden sterben.“

,,Ja, das werden sie“, gab Thranduil gedehnt zurück, unüberhörbar die Ignoranz, mit der er mit ihnen abschloss. ,,Heute. Morgen. Oder in Jahren. Was macht das schon? Sie sind sterblich.“

,,Denkt Ihr, Euer Leben ist mehr wert als ihres?“ Allmählich schlich sich ein Zittern in ihre Stimme, die ihre Ruhe nicht mehr halten konnte. ,,Unsere gegebenen Lebensjahre machen uns doch nicht gleich besser.“

,,Ach, nein? Dann erzähle mir wie es ist, wenn sie einem genommen werden...“ Zentimeter vor ihrer Kehle kam die Schwertspitze zum Stehen. Eine Träne fiel an ihrer Wange vorbei.

Mit einem Klirren schabte ein langer Dolche an dem Schwert entlang und drückte es beiseite. ,,Töte sie.“ Legolas stellte sich an die Klinge seines Vaters. ,,Doch dann töte auch mich.“

Während die beiden Männer sich anstarrten, versuchte Bilbo sein Mäuseherz aus seiner Hose zu bekommen und den Inhalt der letzten Minute zu verarbeiten. Die erhoffte Ohnmacht konnte nun jeden Augenblick eintreten.

Nach einer gefühlten Ewigkeit senkte Thranduil schließlich die Augen. Seine angespannten Schultern sackten nieder und seine Maske fiel.

Legolas drehte sich zu Tauriel. ,,Ich komme mit dir.“ Ohne ein weiteres Wort liefen sie zusammen davon und ließen Thranduil zurück, der mitten auf dem Platz reglos zu Boden starrte.

,,Eure Frau hat Euch nicht nur Edelsteine hinterlassen, mein Freund.“ Gandalf schreckte ihn aus seiner Trance auf. ,,Sie hinterließ Euch einen Sohn. Sagt mir, was der beiden Euch mehr wert ist.“

Verschiedenste Gefühle zeichneten sich auf seinem Gesicht ab, ehe es erneut seinen kalten, gleichgültigen und damit verschlossenen Ausdruck annahm, mit dem er sich schützte.

,,Nein…Nein, kommt mir nicht mit Eurer Moral, Zauberer! Ich habe genug von all dem.“

Machtlos mussten Gandalf und Bilbo zusehen, wie sie ihren einstigen Verbündeten endgültig verloren. Nun lag es allein an ihnen.

,,Ich gehe.“

Gandalf fuhr zu ihm herum. ,,Mach dich nicht lächerlich. Das schafft du nie.“

,,Warum?“

,,Weil sie dich kommen sehen und dich töten werden!“, erklärte er ihm, als wäre auch er nun verrückt geworden.

,,Werden sie nicht“, sagte Bilbo entschlossen. Obwohl er es seinem Freund nicht nur einmal sagen gewollt hatte, hatte er es dennoch nicht getan. Dass er etwas bei sich trug, was ihm schon einige Male auf ihrer Reise geholfen und sein Leben gerettet hatte.

Nur mit der Hilfe des Ringes würde er es alleine bis zum Rabenberg schaffen, um Thorin und die anderen noch rechtzeitig warnen zu können. Gerne hätte Bilbo es ihm erzählt, auch damit er Antworten auf die sich türmenden Fragen bekäme, die ihm über den mysteriösen Ring und seine Macht seit der Begegnung in der Grotte in den Billwissstollen im Kopf herumgeisterten.

Auf der anderen Seite hielt ihn etwas davon zurück, seinen Fund preiszugeben. Als wollte eine Kraft nicht, dass der Ring entdeckt werden sollte, die murmelnde Stimme, die er hörte, wenn er ihn ansteckte.

,,Sie werden mich nicht sehen“, erklärte er bloß. Alles Weitere war sein Geheimnis. Vielleicht würde er es ihm irgendwann erzählen. Wenn das alles hier vorbei war.

Gandalf hielt inne, als müsste er die Überlegung abwägen. ,,Das kommt nicht in Frage“, beharrte er vehement. ,,Ich erlaube es nicht.“

,,Ich frage nicht um Erlaubnis, Gandalf.“ Wortlos sahen sie einander an, nicht wie zwei Reisegefährten, sondern inzwischen wie zwei Freunde.

Als er erkannte, dass eine Diskussion zwecklos war, wurde der Ausdruck seiner grauen Augen weicher. Gandalf ließ den Hobbit gehen.

Bilbo bog in die nächste Gasse ein, lehnte sich gegen die deckungsgebende Hauswand. Von überall schallten die noch andauernden Kämpfe, als er ihn aus einer seiner inneren Manteltaschen hervor holte. Bilbo zögerte, betrachtete einen Augenblick lang den goldenen Ring in seinen Fingern. Die Berührung löste wieder diesen Sog aus, den er durch seine Hand bis in den Arm und in seinem Kopf spüren konnte. Doch es musste sein.

Mit einem tiefen Atemzug steckte er sich den Ring über den Mittelfinger. Und die Welt verschwamm um ihn herum.

 

~

 

Totenstille.

Frost knisterte.

Ihr leises Auftreten auf dem rauen Gestein war ihr ständiger Begleiter. Die Echos aus den verlassenen Gänge spielten ihren Ohren Streiche. Stetig wechselten Licht und Dunkelheit, täuschten ihre Augen mit Schemen und Schatten. Da war niemand.

Bittere Kälte herrschte in den Ruinen vor. Frost und Eis hatten versucht an den grauen Wänden empor zu klettern. Vor ihnen erschien eine weitere Weggabelung und sie zwangen ihren Atem zum Verebben. Langsam lugte Fili um diese, die Hand griffbereit am Schwert. Vor Anspannung schlug ihm das Herz bis zum Hals, als er vorsichtig um die Ecke spähte, den leeren, verwinkelten Gang entlang, der zusammen mit anderen hier unten ein Labyrinth bildete. Über einen Durchgang, der zur anderen Seite hin hinaus ins Freie führte, drangen Nebelschwaden zu ihnen hinab und wabten um ihre Beine. Schnee lag verteilt, wo die Witterungen ungehindert eindringen konnten.

Sekundenlang horchten die Brüder in die Stille hinein. Gerade als sie sich wieder bewegen wollten knackte es. Direkt über ihnen.

Als Kili sogleich seine Waffe fasste und einen Schritt zur Treppe machen wollte, hielt sein Bruder ihn zurück. ,,Bleib hier. Such du weiter unten“, flüsterte er. ,,Ich schaff das hier schon“, endete er noch leiser, sah bereits die Stufen hinauf, aus deren Richtung das Geräusch gekommen war.

Kili gehorchte, zog sich zurück und lief in die andere Richtung. Fili hörte, wie sich sein Bruder entfernte, bis nur noch kalte Stille herrschte. Dann war er allein.

Es gab ein hauchfeines Zischen, als der Prinz leise sein Schwert zog. Er ging zur Treppe, die in den Turm hinauf führen sollte, achtete auf den ausgetretenen und engen Stufen auf seinen Tritt, horchte auf jegliche Regung über sich und beschwor seinem Bruder im Geiste, nichts Unüberlegtes zu tun.

Er gelangte in einen Raum mit noch intakten Wänden, die kein Licht hinein ließen. Einen Moment gab er seinen Augen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, tastete sich dann wachsam weiter, vorbei am Treppenschacht in einen breiten Gang hinein. Schritt um Schritt schlich er über eine feine Frostschicht vorwärts, trat durch die Wolken seines Atems, die als winzige Kristalle gen Boden schwebten. Ein Luftzug steifte seine Wange. Ein Geräusch.

Fili verharrte in der Bewegung. Seine aufgerissenen Augen suchte die nähere Umgebung ab. Ein tiefes Grollen erklang und ließ ihm einen Schauer das Rückgrat hinab laufen. Zuerst konnte er es nicht einordnen, doch dann näherten sich mächtige Schritte. Aus der Dunkelheit des Ganges erschien ein Umriss, wurde immer größer je näher er kam.

Und das Grollen wurde zu einem grausamen Lachen.

Eilig stolperte Fili zurück, wollte zurück zur Treppe… Doch sie standen bereits hinter ihm.

Das Lachen erklang schrecklich nah und Fili starrte in das, aus der Dunkelheit erscheinende, bleiche Gesicht seines narbengeschmückten Besitzers.

 

~

 

Unruhig schaute Thorin durch den erneut aufziehenden Nebel auf die andere Flussseite, der sich nicht verziehen wollte. Immer noch rührte sich nichts dort drüben.

,,Wo ist dieser dreckige Ork?“ Gerade wischte sich Dwalin das Blut der am Boden verteilten Bilwisse aus dem Gesicht, was jedoch bei der Menge nicht viel brachte, als jemand nach ihnen rief. Wie vom Nichts ausgespuckt tauchte Bilbo auf, stemmte sich keuchend auf die Knie, als wäre er um sein Leben gerannt.

Ungläubig ihn hier zu sehen, starrte Thorin den Hobbit an. ,,Bilbo…“

Doch für Erklärungen war keine Zeit. ,,Ihr müsst hier weg, sofort“, brach es aus ihm heraus. ,,Azog hat ein zweites Heer, das von Norden angreift. Wenn die Wachtürme umzingelt sind, wird niemand entkommen.“

Knurrend trat Dwalin näher, hielt Daumen und Zeigefinger einen winzigen Spalt breit auseinander. ,,Wir sind so nah dran! Dieser widerliche Ork ist da drin. Holen wir ihn uns!“

Er wurde von Thorin an der Schulter gepackt. ,,Nein…genau das will er doch.“ Und plötzlich erstarb jeglicher Gedanken. Sofort füllt sich die Leere mit Angst und Schmerz, die direkt aus seinem Innersten kamen. Pur. Ohne Gnade.

Auch Dwalins Gesichtszüge entglitten, als er verstand.

,,Er will uns hinein locken…“, hauchte Thorin. ,,Das ist eine Falle.“

Das Wissen, dass seine Neffen dort waren, schnürte ihm grausam den Brustkorb zusammen. Eine nie dagewesen Angst erfüllt ihn. Was hatte er getan…

,,Wir teilen uns auf. Such Fili und Kili, ruf sie zurück!“, befahl er Dwalin.

,,Thorin, bist du dir sicher?“

,,Tu es.“ Er richtete seinen Blick zurück zur anderen Seite. Obwohl das Verlangen, diesen Ork endlich zu vernichten, so groß wie nie zuvor war, so zerrissen die Gedanken an seine Jungs ihn mittendurch. Er rang seine Rachepläne nieder, denn seine Liebe zu ihnen war stärker als der Hass.

,,Wir kämpfen an einem anderen Tag.“ Er wechselte einen kurzen Blick mit Bilbo, der zustimmend nickte, und wollte gemeinsam mit ihnen zur Treppe, die hinab zum Ufer führte, als laut und hohl ein Schlag durch den Nebel donnerte.

Scheine von Fackeln flackerten in den eingerissenen Räumen und Fenstern des Turmes im Zentrum der Ruinen auf. Weitere Schläge hallten hintereinander weg wie die langsamen Trommelschläge einer Hinrichtung.

In einem einsehbaren Teil des Turmes verharrten die Fackeln und aus den Nebelschwaden erschien Azog der Schänder. Er hatte etwas gepackt, schleifte es neben sich her.

Unbeschreibliche Qualen ließen Thorin innerlich aufschreien, als er Fili erkannte. Die große Hand in seine Haaren gegraben zog ihn der Herr von Moria bis an die Kante der Ebene, das Schwert, was durch seinen Armstumpf gejagt war, bedrohlich nahe an seinem Rücken.

Von den an den Seiten stehenden, dunklen Umrissen löste sich einer. Ein kleiner, buckliger Ork mit abstehenden Ohren stellte sich Hände reibend neben seinen Herrn, der in Schwarzer Sprache etwas rief und was der Handlanger übersetzte: ,,Zuerst stirbt er…dann der Bruder…und dann du, Eichenschild! Deine Blutlinie wird für immer ausgelöscht!“

Sich im Schutze des Durchgangs haltend, trat Kili vorsichtig ins Freie. Er war den Stimmen gefolgt und als er nun ein schmieriges Lachen hörte, sah er nach oben.

Meter über ihn stand sein Bruder. In den Händen von Azog.

Schmerzhaft hielt dieser ihn fest, hatte seine Finger unnachgiebig in seine Haare gekrallt.

Fili versuchte, sich an dem Arm des Orks festzuhalten und sich nicht zu rühren. Gefährlich nahe endete der Boden unter seinen Füßen, dahinter nichts als der freie Fall. Schweiß lief eiskalt an seiner Schläfe hinab, während er in seinem Rücken den Druck einer Klinge spürte. Doch gerade als er seinen Onkel, Dwalin und Bilbo entdeckte, die auf der anderen Seite des Eises zu ihnen hinauf sahen, packte Azog ihn erneut fester und zog ihn nach hinten. ,,Flieht!!“, schrie Fili, so laut er konnte, ehe es zu spät war. ,,LAUFT!!“

Thorin hörte ihn rufen, sah, wie er noch versuchte sich gegen Azog zu stemmen, ehe sie im Dunst verschwanden. Als er dachte, sein Herz könnte nicht zweimal hintereinander stehenbleiben, sah er am Fuße des Turmes Kili zu den Treppen rennen. Haltlos voller Zorn. Direkt in ihre Falle.

,,Nein…KILI!!“ Von blanker Angst um sie getrieben, rannte er los. ,,KILI!!“

,,Thorin!“ Nutzlos versuchte Dwalin ihn zurückzurufen, ehe auch er hinterher rannte und Bilbo im Schock zurück ließ.

 

Fili wurde von der Kante fort geschliffen. Fieberhaft versuchte er, die Zehenspitzten auf dem Boden zu behalten, sich zu stützen und dem Schmerz keine Stärke zu geben, der drohte, seinen Kopf vom Hals zu reißen. Dann aber wurde er hochgehoben. Er musste sich in die Hand in seinen Haaren krallen, um seinen Körper zu halten. Wie einen Welpen, den er ertränken wollte, hob der bleiche Ork ihn empor.

Schmerzverzerrt sah Fili in seine eisweißen Augen, dieses sadistische Lächeln… Er spuckte ihm direkt ins Gesicht. ,,Du Missgeburt.“

Azog verzog keine Miene, gab sich nicht die Blöße es wegzuwischen. Stattdessen traf etwas ihn mitten ins Gesicht. Fili wurde zu Boden geschleudert und verlor augenblicklich die Besinnung.

 

Dampfend spritzte das Blut aus der klaffende Wunde, als im gleichen Moment sein Schwert dem ersten Ork, der ihm auf der Treppe entgegen kam, den Unterarm abtrennte. Kili spießte ihn auf und katapultierte ihn mit ungeahnten Kräften über die Überreste der Außenwand in die Tiefe. Aus den Dunstschwaden tauchte ein weiterer auf, der ihn aufhalten wollte. Der Prinz jagte um die Ecke des Treppenpodestes, hieb auf das Knie über ihm ein. Stark verletzt versuchte sein Gegner noch nach ihm zu langen, doch Kili erleichterte ihm bereits das Sterben. Seinen Zorn hinaus brüllend, schlug er ihm mit einem einzigen Schlag den Kopf von den Schultern, rannte wie im Rausch die Stufen hinauf, die ihn von seinem Bruder trennten.

 

 

28

 

In den frühen Morgenstunden trat Karif aus der Tür des Gemachs, vor der sie den Abend und die ganze Nacht ausgeharrt hatten, in den Händen ein winziges Bündel, eingewickelt in den Farben ihres Landes. Er war blass um die Nase, doch seine Augen strahlten vor Vaterglück, als er sein grade erst geborenes Kind präsentierte. Darf ich euch vorstellen: mein Sohn Fili.

Ein weiteres Mal öffnete sich die geschlossene Tür. Geborgen von einer warmen Decke und seinen großen Händen hielt er ein kleines, schreiendes Bündel an seine Brust gedrückt. Mein Zweitgeborener. Kili…

Papa, da! Onel! Onel!

Na, großer Bruder, heute Abend bist du dran. Ich kann unseren Chaoten hier unmöglich mit den beiden allein…Frerin, bei Durin, pass auf sein Köpfchen auf!

Ich glaub‘, ich brauche noch mehr Übung…Ahh!! Dis! Er zieht mir schon wieder an den Haaren!

Gib ihn mir. Komm, kleiner Kämpfer - du auch Fili. Marsch ins Bett, Soldaten.

Mein Onkel ist der beste Onkel der ganzen Welt…

Sind sie alle tot? Onkel Thorin, warum weinst du? Wo ist Mama?

Erzählst du uns eine Geschichte? Die von Mama und Papa?

Aber die kennt ihr doch schon in und auswendig…

Meine Jungs…

Onkel Thorin, wo gehen wir hin?

Fort von hier.

Ich trage die Verantwortung für euch. Ich gab euch und eurem Vater ein Verspechen. Und daran halte ich mich auch.

Er rannte noch schneller, glaubte zu fliegen.

Ich hab dich lieb, Onkel Thorin… Filis helle Kinderstimme schlitzte sein Herz aus seinem Körper. Klauen griffen in die Wunde, wühlten erbarmungslos in ihr und rissen sie noch tiefer.

Blind vor Angst rannte Thorin über das Eis. Er sah nichts anderes als den Nebel, hörte nichts außer den Stimmen in seinem Kopf. Unter seinen Augen waren sie zu Männern herangewachsen. Er lehrte sie zu kämpfen, sich zu verteidigen…alles, was er wusste. Die Angst, sie nun zu verlieren…

Er konnte nicht atmen. Nicht denken. Er würde es sich nie verzeihen…

Es waren dieselben Gefühle, die ohne Gnade auf ein Neues ihr Leid in ihn hinein sandten und Grundsteine für seine Albträume bauten. Derselbe Schmerz, der ihn zerstört hatte, als er die Leiche seines Bruders in der Halle liegen sah. Derselbe Kummer, als sein Freund Karif seinen letzten Atemzug tat. Dasselbe Grauen, als er den leblosen Körper seiner Schwester an sich gedrückt hatte… Dieselben Schuldgefühle, die ihn innerlich aufgefressen hatten, als er der brennenden Stadt den Rücken kehrte und die Liebe seines Lebens zurück ließ.

Ich werde hier sein. Ich werde über euch wachen und euch beschützen. Wenn ihr fallt, werde ich euch die Hand reichen und euch mein Gehör schenken, wenn ihr danach verlangt. Und wenn ihr eines Tages gehen wollt, so werde ich auch lassen und euch Schutz und Heimat sein. Für den Rest meines Lebens.

Thorin bremste ab, schlitterte übers Eis und sprang hinauf ans andere Ufer, eilte ohne anzuhalten die frostbedeckten Treppen hinauf. Er war gerade oben angekommen, als aus dem Schatten der Ruine Azog heraussprang. Sein Brüllen todesbringend in den Ohren taumelte Thorin vor dem gespaltenen Schwert zurück und knallte mit dem Rücken gegen Fels. Schmerz jagte seine Wirbelsäule rauf. Er schwindelte, sah verschwommen eine eiserne Keule auf sich zukommen. Er wich nach unten aus, was seinem Rücken zum Pochen brachte. Azogs Hieb schwang über ihn hinweg und traf den Fels und zertrümmerte eine Fläche, die für seinen Kopf bestimmt gewesen war.

Gerade so stand Thorin wieder aufrecht, ehe die Waffe seine traf. Im Nahkampf war ihm das lange

Schwert in seinem verkrüppelten Arm hinderlich, weshalb Azog eine eiserne Keule schwang,

entschlossen ihn zu zermalmen.

Pausenlos traf Stahl auf seinesgleichen und Thorin spürte abermals, dass Azog nicht nur doppelt so groß, sondern auch stärker war als er. Kaum brachte er sein Schwert rechtzeitig hoch, schien das Metall innerlich unter der Wucht des Gegenhiebes zu explodieren. Er presste die Kiefer aufeinander, wich immer wieder aus, um danach durch seine Verteidigung zu brechen. Der Hass für diesen Ork, der seinen Großvater tötete, seinen Vater verschleppen ließ und nun auch Fili in den Fängen hatte, ließ ihn Zeit und Raum vergessen.

Thorin wirbelte um die eigene Achse, fasste dabei die Waffe mit beiden Händen, die Kraft mit in den Angriff nehmend. Die Klinge gab ein grässliches Schaben von sich, als sie über den feindlichen Stahl gezogen wurde. Durch einen geschwungenen Hieb gegen die hohe Taille konnte er den ungeschützten Oberschenkel streifen, was ihn mit einem dumpfen Schrei belohnte. Dem großen Ork knickte ein Bein ein und sofort nutze Thorin die Chance, holte erneut aus, aber die Keule machte seinen Angriff zunichte. Azog stand wieder auf, kam zu nah heran und traf seine Abblockung mit voller Wucht. Thorins Körper wurde nach hinten geschleudert. Hart prallte er auf Stein, sodass ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Bunte Lichter explodierten hinter seinen Augen… und dazwischen tauchte aus dem Nebel ein Schatten auf, bereit ihn zu vernichten.

Keuchend wälzte sich der Krieger zur Seite, um irgendwie aufzustehen. Ein Schmerz fuhr ihn durch jeden Knochen und die Welt begann zu pulsieren.

 

~

 

Unkontrolliert zitterte Bilbos Hand. Seit Minuten starrte er zu dem Turm hinauf, wo Azog erschien war, konnte sich nicht rühren. Er hatte Stich gezogen, ein paar stolpernde Schritte gemacht, doch war geblieben, wo er war.

Er wollte nichts weiter, als aufzuwachen und zu sehen, dass alles nur ein Traum gewesen war. Er wollte, dass es endlich aufhörte, dass dieser Albtraum endlich vorbei war…doch…

Aus den dichten Wolken, die das Gebirge fest in ihrer Gewalt hatten, schallten mehrere klatschende Flügelschläge. Schnell kamen sie näher und ein Kreischen erfüllte die Luft.

Es war noch lange nicht vorbei.

Bei allen Göttern dieser Welt… Über die Spitzen des Berghangs flog ein Schwarm von riesigen Fledermäusen, verdunkelte zu hunderten den Himmel. Bilbo kauerte sich am Boden zusammen, während sie kreischend über ihn hinweg zogen. Als der Wind, den ihre ledrigen Flügel aufwirbelten, abklang, sah er mit aufgerissenen Augen den Tieren nach. Dann fiel sein Blick auf Stich… Es begann zu leuchten.

In der Hocke drehte er sich um und sah die Orks, die über die Ruinen kletterten, angeführt von einem riesigen, breitschultrigen Ork mit einer Eisenplatte im Kopf. Und instinktiv wusste Bilbo, dass es Bolg sein musste.

Sie entdeckten den Hobbit, sprangen die Bauten hinunter und kamen auf ihn zu gerannt. Bilbo taumelte zurück, sah hilflos seinem sicheren Ende entgegen...

Mit einem Kampfschrei warf sich jemand vor ihm, spaltete den ersten Angreifer mit seiner Axt in der Mitte durch und stellte sich furchtlos den Monstern entgegen.

Dwalin war zurückgekehrt.

 

~

 

,,Es tut mir leid, dass du dich da einmischen musstest.“ Es waren die ersten Worte, mit denen Tauriel das lange Schweigen brach. Sie und Legolas liefen nebeneinander her, hatten bis jetzt kein Wort darüber verloren, während Tauriel versucht hatte, ihre aufgekommenen Tränen wegzublinzeln. Sie fühlte sich schwach, weil sie sie zugelassen hatte. Weil sie versagt hatte.

Als riesige Spinnen Angst und Schrecken in ihrem Reich verursachten, hatte ihr König befohlen, den Wald von ihnen zu säubern. Tauriel hatte ihm ihren Plan dargelegt, das Nest aufzusuchen, zu erforschen, woher diese Tiere stammen und sie auszurotten, ehe sie in andere Länder vordringen konnten.

,,Andere Länder sind nicht mein Belangen“, hatte Thranduil geantwortet und seine Ansichten damit klar und deutlich gezeigt. Tauriel war enttäuscht und zornig zugleich, dass er nur um sich und seinesgleichen bedacht war. Sie hingegen wollte die Welt sehen, hatte dies in den letzten Tagen schon mehr, als in ihrem ganzen Leben davor.

Legolas seufzte. ,,Das muss es nicht. Ich verstehe dich und deinen Zorn, Tauriel, doch lass nicht zu, dass er dich kontrolliert. Auch ich bin enttäuscht von meinem Vater. Er kann es nicht zeigen, doch ich weiß, dass er nur das Beste für unser Volk will. Er zieht sich zurück, um uns Schutz zu geben.“

Er war der Letzte, auf den sie wütend sein wollte. In diesem Moment aber wollte sie antworten, dass man nichts verbessern konnte, wenn man die Augen verschließt, doch ihr Mund blieb einfach offen.

Beide Elben verharrten auf der Stelle und starrten in den Himmel, als ein Schwarm von Fledermäusen über sie hinweg ins Tal hinab flog. In der Ebene gruben die Kreaturen des Bösen ihre langen Beine in die immer noch Kämpfenden, um sie zu töten.

Mit einem Blick in die Augen des anderen, den sie seit Jahrhunderten kannten, sprachen sie sich ab. Legolas reckte die Arme über den Kopf und packte ein Beinpaar über sich. Während er von dem Tier mit in die Luft genommen wurde, rannte Tauriel weiter zum Rabenberg.

 

~

 

Verzerrt nahm er die barsche Aufforderung über sich wahr. Er wusste weder, ob es Traum oder Realität war, noch was sie von ihm verlangt hatte. Heiß bohrte sich ein dumpfes Pochen immer stärker in seinen Schädel, das ihn wissen ließ, dass er noch am Leben war.

Der Geschmack von Eisen und Kupfer lag in seinem Mund, so pur, dass ihm schlecht war. Sein Gesicht fühlte sich wie ein rohes, blutiges Stück Fleisch an.

,,Ich hab gesagt, du sollst aufstehen, Zwerg! Wird’s bald?“

Er versuchte, aus der Ohnmacht herauszukommen, kämpfte gegen das Gefühl an, wieder abgetrieben zu werden. Sein Körper aber wollte nicht.

Warum ließen sie ihn nicht in Ruhe?

Er wollte sich nicht bewegen, er wollte einfach nur liegen bleiben und erneut in die Bewusstlosigkeit flüchten, wo Schmerz und Kälte ihn nicht erreichen konnten… Brutal traf ihn etwas in die Magengrube, ließ glühenden Schmerz durch seine Eingeweide jagen. Fili riss die Augen auf, versuchte wieder Luft in seinen Körper zu bekommen. Erneut wurde ihm der Fuß in den Leib gerammt. Er krümmte sich, würgte das Blut aus seinem Hals, dachte, er erstickte.

,,Mach ihn nicht kaputt. Wir brauchen ihn noch.“

Um sich irgendwie vor dem nächsten Tritt zu schützen, rollte Fili sich so klein wie möglich ein. Die Stirn an den Boden gepresst, starrte er müde und röchelnd an die graue Wand. Das Atmen durch die Nase war unmöglich. Er versuchte, das Blut runterzuschlucken und sehnte sich nach Wärme.

Warum töteten sie ihn nicht einfach?

Doch seine Peiniger hatten andere Pläne mit ihm. Sie packten ihn an den Armen und zogen ihn auf die Beine. ,,Nein…bitte“, hörte er sich selbst flüstern, ehe er es verhindern konnte. Zwischen zwei bulligen Gestalten hängend, kippte ihm der Kopf zurück, und er spürte, wie etwas Warmes ihm über die Lippen lief. Seine Beine trugen ihn nicht mehr. Umrisse verschwammen, setzten sich ruhelos neu zusammen. Immer wieder verloren seine Augen den Fokus, bis sein Unterkiefer gepackt wurde und er den mit den Fledermausohren direkt ins hässliche, warzige Gesicht blicken musste.

,,Mal sehen, was wir unserem Goldjungen hier entlocken können. Na los, ruf nach Hilfe, kleiner Prinz. Ruf nach Mama…“ Dreckig lachten sie.

Fili war es egal, was er sagte. Er drehte das Gesicht weg, hoffte einfach nur, dass es schnell vorbei sein möge.

 

~

 

Eigentlich ging alles viel zu schnell. Bilbo erinnerte sich noch, dass er herumliegende Steine gegriffen und auf die Köpfe der Orks gezielt hatte. Tatsächlich hatte er auch so ein paar zu Fall bringen können, während Dwalin wie ein Berserker zwischen ihren Feinden kämpfte.

Das Letzte was er sah, war Bolg, der um die Ecke kam…das Stielende seiner riesigen Keule...

Es donnerte an seinem Kopf. Dann war alles still. Endlich. Und Bilbo versank in sanfter Schwärze.

 

~

 

Funken stoben auf, als sein Schwert in der Enge des Kampfplatzes eine Wand streifte. Seine Handschuhe waren klebrig von Blut, weshalb er das Heft neu fassen musste. Azog kam erneut an ihn heran. Die Schneide seines Schwertes verfehlte Thorins Kopf nur um Millimeter. Er spürte, wie sie ein paar Haarspitzen erwischte und einfach abtrennte.

Es schien, als könnte der bleiche Ork nicht ermüden. Der Zwerg hingegen kämpfte gegen die Erschöpfung an, die ihn in die Knie zwingen wollte. Azogs Hiebe verfehlten ihn immer knapper. Er versuchte, konzentriert zu bleiben, doch dann konnte er nicht mehr verhindern, getroffen zu werden. Plötzlich war der feste Boden unter ihm verschwunden. Rücklings fiel er aufs unnachgiebige Eis hinab, rutschte von der Kraft des Gunderbard-Orks weiter. Ein anderes Beinpaar raste in sein Blickfeld hinein. Geistesgegenwärtig riss der Zwerg das Schwert hoch, als er unter den fremden Ork hindurch rutschte und ihm seine wichtigsten Körperteile zerfetzte. Von unten stieß er es ihm in den Bauch hinauf und warf den stinkenden Körper aus dem Weg.

Das tuckernde Pochen einer Wunde begann beim Aufstehen an seiner Stirn. Thorin hatte keine Zeit, sich zu orientieren, da rief Azog den Seinen vom Ufer aus, die plötzlich vom höher gelegenen Flusslauf zu ihnen stießen, in Schwarzer Sprache, ihn den Gar auszumachen. Thorin verstand es nicht, konnte es sich jedoch unschwer denken.

Der Zwergenkönig war mit Blut besudelt, was nicht sein eigenes war. Schweiß perlte in der Kälte an seinen Schläfen hinab. Müdigkeit und Durst schmerzten wie eine Wunde. Von dem heftigen Kampf waren seine Handgelenke taub. Mittlerweile hatte er Mühe, die Waffe einfach nur festzuhalten. Doch dann merkte er, dass sie um einiges leichter war. Verwundert sah Thorin auf sie hinab.

Sein Schwert war abgebrochen.

Getrübt richtete sich sein Blick auf die Horde Orks, die über das Eis auf ihn zu gerannt kamen. Blut lief ihm von einem Schnitt an der Stirn ins Auge. Er spannte die Schultern, bleckte die Zähne. Und die Welt färbte sich rot.

Ein Kreischen erklang direkt über ihnen. Einen Augenblick später fiel ein lebloses Tier vom Himmel und schlug mit einem Pfeil im Kopf auf dem zugefrorenen Fluss auf. Thorin hatte Zeit, sich den Gedanken, was das, bei Durin, für eine Kreatur war, zu erlauben, denn ein herannahender Ork nach dem anderen wurde mit einem ebensolchen Pfeil gezielt zu Fall gebracht. Thorin drehte sich um und sah ungläubig, von wem die Hilfe stammte.

Auf einem der Türme am Ufer stand – als wäre er ebenfalls vom Himmel gefallen - der blonden Elb aus dem Waldlandreich. Genau jener, den er verpasste in den reißenden Stromschnellen mit einem Axtwurf zu töten, schoss nun Pfeil um Pfeil seine Feinde nieder. Mit dem dolchartigen Rest seiner Waffe stellte Thorin sich der anderen Hälfte der Orks entgegen, die der Elb ihm übrig ließ.

 

~

 

Sie war allein, eilte durch fremde Gänge, ohne zu wissen, wohin sie musste. Wie wild klopfte ihr Herz in ihrer Brust, leistete ihr Beistand in ihrem Tun, dessen Grund sie selbst nicht verstand. Sie wusste lediglich, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Auch wenn dies bedeutete, nie mehr in ihrem Heim willkommen zu sein.

Tauriel folgte dem Tageslicht und trat aus den Ruinen. Links von ihr führte eine Treppe zu höheren Ebenen, während rohe Felswände auf der anderen Seite den Platz begrenzten, der vor der steil abfallenden Klippe endetet. Ihre Elbenohren fingen Geräusche eines Kampfes ein. Irgendwo dort oben im Nebel spürte sie, dass er es war. ,,Kili!“, rief sie seinen Namen und er antwortete.

,,Kili…“ Er war hier. Er lebte.

Neben ihr tauchte ein Umriss aus den Ruinen auf. Schwere Schritte kamen auf sie zu gerannt, ließen sie sich umdrehen. Im nächsten Moment wurde ihr Körper nach vorn gestoßen. Tauriel schrie auf, als die Treppenstufen sich in ihren Leib bohrten. Große Hände packten sie, schleuderten sie gegen eine Wand. Sie fiel daran hinab und stöhnte vor Schmerzen auf. Im Schnee liegend bog sie den Rücken durch und versuchte, wieder klar zu denken.

Die Welt drohte sich vor ihren Augen zu verdunkeln. Vor ihr stand Bolg.

Mit kalter Ruhe schritt dieser auf sie zu, eine Schlagwaffe in der Hand abwiegend. Tauriel versuchte, aufzustehen, ihr Körper aber war zu schwer, fühlte sich wie zertrümmert an. Schutzlos sah sie zu dem riesigen Ork hinauf, wie er sich die Lippen leckte und dachte an Kili. Gerne hätte sie ihn noch einmal gesehen…

Aus den Nebelschwaden über ihnen sprang jemand heraus und stürzte sich selbstlos auf den Ork.

Kili landete auf Bolgs breiten Schultern, drückte ihm das Schwert unter den Hals, doch der Ork packte seine Arme und warf ihn vornerüber ab. Unkontrolliert flog Kili, ehe er auf der Treppe aufkam. Die Erschütterung ging durch jeden seiner Knochen. Weiterhin hielt seine Hand die Klinge fest, als wären sie durch seinen Willen miteinander verwachsen. Von den Kettenreihen seiner Rüste vor Schlimmerem geschützt stand Kili wieder auf, sprang und vermied den Sturz, indem er sich über den Boden abrollte. Sofort riss er das Schwert hoch, blockte eine Attacke ab. Schweiß troff aus all seinen Poren. Er schüttelte sich das feuchte Haar aus den Augen und entdeckte Tauriel regungslos im Schnee liegen. Er hatte ihren Schrei gehört. Was hatte der Ork ihr angetan?

Der Halbblinde griff an. Kili duckte sich darunter hinweg, schlug im Rückhieb auf seinen Rücken ein. Unglücklich prallte die Klinge an den Teilen der bizarren Rüstung, die ihm im nackten Oberkörper steckten, ab. Erneut duckte er sich unter dem Schwung der Waffe. Bolgs muskulöses Knie schnellte hoch und traf ihn unter dem Kinn. Mit einem Knacken schnellte sein Kopf nach hinten. Augenblicklich breitete sich der Geschmack von Eisen an seiner Zunge aus. Schwankend gelang es ihm sich zur Seite zu rollen und vor der Keule in Sicherheit zu bringen, aber ihm blieb nicht genügend Zeit, um wieder aufzustehen.

Sein Gegner ließ selbstsicher seine Waffe los, packte ihn stattdessen mit beiden Händen am Kragen und hob ihn hoch. Knurrend wie ein gefangener Wolf trat Kili nach ihm und konnte ihn unter dem Lendenschurz treffen. Bolg knickte ein, gab ihm jedoch dafür einen Faustschlag und drehte ihm den Arm nach hinten. Vor Schmerz schrie Kili, hörte, wie sein Schwert unvermeidlich auf Stein auf kam. Dann wurde er gegen die Treppe gedrückt.

,,Hattest du gedacht, du könntest mich überwältigen, Bengel?“, knurrte Bolg überraschend in der Gemeinen Zunge. ,,Ich hätte dir gleich den Morgul-Pfeil ins Herz bohren sollen, damit du schneller verreckt wärst!“ Mit geballten Fäusten sah Kili zu ihm hinauf, konnte sich von seinem festen Griff keinen Zentimeter rühren.

,,Du zitterst ja. Hast du Angst?“

,,Angst zu erfrieren, ehe du Hurensohn mit dem Quatschen aufhörst.“ Er wurde fester gegen den Fels gedrückt, sodass sein Hinterkopf dagegen schlug. ,,Zwerge haben vor gar nichts Angst“, keuchte er, versuchte, den eintretenden Schmerz vor ihm zu unterdrücken, ,,und schon gar nicht vor einem hässlichen Krüppel wie dir - noch dazu einen, der nicht schießen kann. Du bist einfach nur erbärmlich.“ Er merkte, wie die dicken Hände an seinem Hals fester zupackten, freute sich innerlich, ihn zu reizen.

Bolg entblößte faule Zähne. ,,Hätte ich gewusst, dass du damals auch in dem Lager gewesen warst, hätte ich dich kleine Made vor den Augen deiner Mutter zerquetscht.“

Kili entglitten die Gesichtszüge. Riesige Hände, genau wie jene, die ihn festhielten, griffen nach seinem Herz und lähmten es.

,,Nanu…dieser Blick kommt mir bekannt vor. Ja, ich erinnere mich. Genau so sah deine Mutter mich an, kurz bevor ich sie genommen habe. Wusstest du das?“

Seine Kehle schnürte sich zu. Er konnte nichts anderes, als an diesem Ork vorbei ins Leere zu starren, wollte nicht in sein Gesicht sehen. Konnte es nicht.

,,Sie war genauso stur wie ihr Bruder es ist, hat nicht um Gnade gefleht. Kein einziges Wort kam über ihre hübschen Lippen.“ Der Ork beugte sich näher zu ihm, flüsterte voller Grausamkeit in sein Ohr: ,,Ich kann sie heut‘ noch vor Wonne keuchen hören. Du nicht auch?“

Und Kili wurde wieder zu dem kleinen Jungen, der er einst war.

Er erinnerte sich. Er hatte in der Truhe gehockt, die Arme seines Bruders um sich, die ihn in der Dunkelheit festhielten, ihn dazu bringen sollten, sich nicht zu rühren, keinen Laut von sich zu geben.

Um es zu behalten, war er noch zu klein gewesen, hatte es als Kind verdrängt, weil er es nicht verstanden hatte. Jahrelang. Doch nun spürte er genau wie damals Filis Kopf an seinem Rücken gepresst, während er wieder durch das Schlüsselloch der Truhe spähte und alles noch einmal mit ansehen musste.

Auf dem Tisch vorgebeugt liegt Mama. Hinter ihr ist ein riesiges, furchterregendes Monster. Es tut Mama weh. Sie dreht das Gesicht in meine Richtung, hält sich selbst den Mund zu. Ihre Augen sind ganz groß. Sie weint.

,,Mami…“ Ich will zu ihr, durch das Schlüsselloch winken, damit sie nicht mehr weint, doch das Monster ist so groß. Ich fürchte mich. Sie hat gesagt, wir sollen hier drin bleiben. Mama ist schlau. Sie beschützt mich und meinen Bruder vor den Monstern. Sie hat uns ganz doll lieb.

Aus ihrem Strumpfband zückt Mama ein kleines Messer, windet sich unter ihm. Das Monster brüllt und ich halte mir die Ohren zu. Es ist so laut. Das Monster lässt sie in Ruhe. Es presst sich eine Hand über das Auge, Mama will aus dem Zelt laufen, doch es kann sie packen, reißt sie an den Haaren zurück. Auf einmal hat es das Messer in der Hand.

Dann ist es plötzlich ganz still.

Das Monster verschwindet nach draußen und ich sehe Mama, wie sie auf den Boden nieder fällt und sich nicht mehr bewegt.

,,Mami…“

,,NEEIIIINN!!!“ Es war sein eigener Schrei, der ihn ins Hier und Jetzt zurück versetze.

Schreiend stemmte sich Kili gegen den riesigen Körper, gegen den Mörder seiner Mutter. Von einem inneren, ungebändigten Hass getrieben, wirbelte er herum, die Hände in seinen Gürtel gekrallt. Schon raste die Klippe in seinen Augenwinkel auf sie zu. Er sprang auf einen der Felsen, stieß sich mit all seiner Kraft in den Beinen ab und ließ los. Bolg wurde über die Klippe geworfen, von seinem eigenen Gewicht ins kalte Nichts gezogen.

 

 

29

 

Erst als der Schrei des Monsters verklungen war, fand sich Kili blinzelnd auf dem Boden sitzend wieder. Er sammelte seine Sinne zusammen, krabbelte vorsichtig näher an die Klippe und spähte über sie hinab in die Tiefe.

Meter unter sich sah er Bolg auf dem Geröllhang liegen. Doch er war nicht tot. Schwach bewegte er sich und Kili hoffte, dass er so verletzt war, dass er es nicht wieder herauf schaffen würde.

Der Prinz schloss die Augen, atmete tief ein und aus und presste die Hand gegen seine Kehle, um die Übelkeit zu unterdrücken, die sich bemerkbar machte. Dann riss er den Kopf herum, sah zu der Elbe, die ohnmächtig vor der Wand lag.

Er ließ sich neben ihr nieder, strich ihr die roten Strähnen aus dem Gesicht. ,,Tauriel.“ So behutsam wie möglich hob er ihren Oberkörper an, zog ihren Kopf in seine Armbeuge. ,,Tauriel, hörst du mich?“ Das Leder seiner Handschuhe war nicht zu vergleichen mit der Zartheit ihrer Haut, die er dadurch leider nur erahnen konnte, als er mit den Fingern über ihre Wange strich, um sie zum Erwachen zu bewegen. Da bewegten sich ihre Wimpern. Ihre Augen öffneten sich, blickten zu ihm hinauf. Auf ihren geschwungenen Lippen erschien ein Lächeln und verursachten das warme Kribbeln in seinem Bauch, welches er schon bei ihrer allerersten Begegnung verspürt hatte.

Die Härte, die jedem Krieger antrainiert wird, die er im Kampf mit und in sich trug, verflog. Auch Kili lächelte und drückte sie an sich. Das Gesicht in ihren seidigen Haaren vergraben, nahm er das erste Mal ihren Geruch wahr. Sie roch nach Wald, nach Erde und Blüten. Nach Frühling.

Kili spürte, wie sie ihre Hand über seine legte, die immer noch schützend um ihr Gesicht gebettet war. ,,Du bist so dumm. So dumm“, murmelte er, schaute direkt in ihre rehbraunen Augen, unendlich froh, dass sie wohlauf war. ,,Was tust du hier?“ Tauriel wirkte, als wäre sie nur halb bei Bewusstsein und er machte sich Sorgen, dass sie wohlmöglich verletzt war.

,,Ich wollte euch warnen. Bolg, er…“ Sie sah an ihm vorbei, überflog den leeren Platz, als fürchte sie, er wäre noch hier. Dann wurde es ihr klar. ,,Du hast ihn…“ Er nickte und sie entließ den angehaltenen Atem und legte den Kopf gegen ihn.

,,Es ist vorbei“, flüsterte er, drückte sie an sich und fühlte, wie sie seine Nähe erwiderte. ,,Er lebt noch, doch er ist da unten auf den Felsen. Ich denke nicht, dass er es schafft wieder hier hoch zu klettert, aber ich will trotzdem, dass du von hier verschwindest, hörst du? Bring dich in Sicherheit.“

,,Ich kann kämpfen.“

,,Das weiß ich“, enger umfasste er ihren schlanken Körper, ,,bei Durin, das weiß ich, aber ich könnte es nicht ertragen, wenn er dir nochmal wehtun würde.“ Tauriel schwieg und er spürte, wie sie sich in seinen Armen entspannte. Sie fühlte sich sicher bei ihm.

,,Kili?“

,,Mh?“, machte er abwesend, hatte wieder die Nase in ihrem rotem Haar.

,,Danke“, wisperte sie leise. ,,Für alles.“

 

~

 

,,Schrei.“ Ein weiteres Mal rammte der Wortführer ihm die Faust in den Magen. Von den beiden anderen festgehalten konnte Fili sich nicht krümmen, versuchte es ächzend dennoch, um verzweifelt irgendwie die Qual auszustehen. Speichel tropfte ihm von den geschwollenen, gefühllosen Lippen, dazwischen immer wieder Tropfen von Blut, was aus seiner gebrochenen Nase strömte.

,,Schrei, Zwerg!“ Azogs kleiner Handlanger verlor so langsam die Geduld.

Und da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: er sollte sie herlocken. Er war das Lockmittel.

Fili presste den Mund aufeinander, drehte das Gesicht weg. Sollten sie ihn foltern... Er würde seinen Bruder und Onkel nicht zu ihnen führen.

Man gab ihm eine Ohrfeige. Blut sprenkelte den Boden, als sein Kopf zur anderen Seite schnellte. Helle Sterne prangten vor seinen Augen. Die Orks ließen ihn los und er fiel zu Boden. Stöhnend versuchte er sich auf die Seite zu rollen, seinen Blick klar zu bekommen, doch seine Bewacher packten ihn und zogen ihm den Handschuh aus. Sein linker Arm wurde ausgestreckt. Mit letzter Kraft versuchte er sich zu wehren… Erfolglos.

Wie ein Schmetterling eines Sammlers war er wehrlos auf dem Boden ausgestreckt und musste mit ansehen, wie ein Messer gezückt wurde. Fili versuchte seine Hand zur Faust zu ballen, doch ein Vierter stellte seine Stiefelsohle auf seine Fingerkuppen. Der Kleine fasste die dreckige Klinge fester, hockte sich neben ihm.

Machtlos starrte er zu seinen Henker hinauf und wusste, dass er es nicht mehr verhindern konnte… Dann wurde ihm die Klinge in die Handfläche gerammt.

Fili öffnete die Lippen, doch kein Laut drang aus seinem Mund. Fassungslos starrte er auf den Holzgriff, der aus seiner Hand ragte, konnte es nicht realisieren. Bis der Schmerz einsetzte und alles schrecklich real wurde. Ein gleißender Strom floss seinen Arm hinauf, setzte seinen Körper in Flammen. Es brannte. Und endlich ein alles erlösender Schrei.

 

~

 

,,Tauriel!“

Kili schaute auf. ,,Legolas…“, hörte er sie in seinen Armen murmeln. Nicht der schon wieder… Augenblicklich verfinsterte sich seine Miene bei der bekannten Stimme, die sie damals vor seiner Zellentür weggeholt und einen Keil zwischen sie am Ufer des Langen Sees getrieben hatte. Wieder zerstörte dieser Kerl einen vertrauten Augenblick. Er hatte ein Händchen dafür…

Der Blonde mit den Kristallaugen tauchte auf und nahm ihm einfach seine Elbe aus den Armen. ,,Bist du verletzt?“

,,Ich denke nicht.“

,,Kannst du aufstehen?“ Er half ihr hoch und sie schlang vertraut die Arme um seinen Hals, um sich an ihm festzuhalten. Wie das fünfte Rad am Wagen stand Kili daneben.

,,Bolg ist da unten. Kili, er hat…“, versuchte sie ihm zu erklären, was geschehen war.

,,Ich kümmere mich um ihn. Bleib du hier. Und dann müssen wir hier verschwinden“, sagte der Elb zu ihr, als wäre der Zwerg gar nicht anwesend. Zu allem Überfluss strich er ihr über die Wange, über die gleiche Stelle, die soeben er noch berührt hatte. Kili sah Rot.

,,Das waren nur Söldner gewesen. Die wirkliche Armee rückt von Norden erst noch an.“

,,Schön, dass du so gut Bescheid weißt“, grätschte Kili ihm humorlos dazwischen. Die beiden Elben sahen zu ihm. ,,Bring nur meine angefangene Sache zu Ende, du Held, und dann verschwindet von hier“, knurrte er kälter, als er es beabsichtigt hatte. ,,Ich muss meinen Bruder suchen.“ Er hatte wertvolle Zeit vertrödelt, nur um sie für wenige Minuten halten zu können und nun wie abgeschoben dazustehen und zu zugucken, während sein Bruder in Lebensgefahr schwebte? Kili wollte sich am liebsten selbst ohrfeigen.

,,Kommst du klar?“, fragte er an Tauriel gewandt. Natürlich, sie ist ja jetzt bei dem. Bei ihrem ,Freund‘.

Sie wirkte verwirrt, nickte jedoch, während ihr Begleiter ihn bloß abschätzend musterte. Kili hob sein Schwert auf und lief die Treppe hinauf. Er wollte dieser Situation schnellstmöglich entfliehen, konnte jedoch einen Blick zurück nicht verhindern. In diesem Moment sah auch Tauriel zu ihm hinauf. Ihr Mund öffnete sich, so als wollte sie noch etwas sagen, was sie eben nicht getan hatte… Doch dann grellte der Schrei seines Bruders durch das Gebirge und ließ Kili laufen.

 

~

 

Der spitze Schwertrest drang wie in Butter in die Kniekehle ein. Das Vieh jaulte auf, als er ihm Sehnen und Arterien zerfetzte. Dunkles Blut schoss aus der offenen Wunde und Thorin tötete ihn schnell mit einem Schlitz in die Kehle. In diesem Moment begann Stein und Mörtel ohrenbetäubend zu knacken. Keuchend sah er mit an, wie der alte Turm plötzlich über die Klippe kippte, auf dem vor wenigen Minuten noch der Elb gestanden hatte. Wo war er hin? Der Länge nach verkeilten sich die Enden des Bauwerks in den engstehenden Felswänden vor dem gefrorenen Wasserfall, ließ das Echo des Aufpralls an ihnen hinab donnern.

Bei dem Schnauben hinter sich fuhr Thorin herum. Zu spät.

Sein Brustkorb wurde zusammengepresst, als der Knüppel ihn traf. Glühender Schmerz breitete sich an seinen Rippen aus. Thorin stöhnte auf. Der Angreifer drückte sich gegen ihn, sodass der Zwerg sein Gleichgewicht verlor und es ihn meterweit über den Boden schob. Thorin rammte die Hacken ins Eis und blieb über der Kante des Wasserfalls liegen. Neben ihm kam auch seine Waffe zum Stehen, während es unter seinem Kopf dutzende Meter senkrecht in die Tiefe ging.

Durch seinen dröhnenden Puls hörte er Kampflärm unter sich, entdeckte über die Schulter hinweg den Elb auf dem verkeilten Turm. Mit gezogenen Klingen in beiden Händen tänzelte er vor Bolg herum, wich ihm haarscharf aus und hielt den Ork in Schach.

Trotz seiner Verblüffung wurde Thorin sich der Gefahr bewusst, in der er sich befand. Eine Armlänge neben ihm lag die gesplitterte Klinge. Er wollte sich zum Schwertheft strecken und presste sich die Hand auf die Rippen. Er konnte die Bewegung nicht ausführen. Bereits bei dem wenigen Druck schwindelte er vor Schmerz. Wenn er Glück hatte, waren sie nur angebrochen.

Sein Angreifer erschien über ihm, aalte sich in seinem Erfolg, den Zwergenkönig überwältigt zu haben. Thorin versuchte unter den Schmerzen abermals an seine Waffe zu gelangen. Mit einem bedauernden ,,Huch!“ stupste der Ork sie mit dem Fuß an. Die Klinge fiel die gefrorene Klippe hinab. Er stemmte seinen Fuß gegen Thorins, drückte den Zwerg so Stückchen für Stückchen weiter über den Wasserfall. Seine Arme hingen bereits in der Luft, zogen seinen Körper näher dem Abgrund entgegen. Schutzlos lag er auf dem Rücken, starrte zornerfüllt in das vernarbte Gesicht über sich. So sollte es nun enden? Von diesem Widerling war er überwältigt worden? Eine Schande für jeden Krieger. Thorin verfluchte sich selbst dafür, verfluchte sich, weil er seinen Neffen nicht hatte helfen können. Sein Herz wurde unsagbar schwer.

,,Ein paar letzte Worte?“

Doch Durin hatte andere Pläne mit ihm.

Wie ein Nagel ins Holz kam ein Schwert geflogen, trieb sich steil von unten in die schmale Brust des Orks. Ungläubig starrte Thorin auf den kunstvollen Knauf, der zu dem Schwert gehörte, was ihm im Düsterwald abgenommen worden war. Hatte der Elb etwa…? Der leblose Körper kippte nach vorn und Thorin packte Orcrist, ehe es mit in die Tiefe fiel.

 

~

 

Zwei Stufen auf einmal nehmend raste Kili den Turm hinauf, begleitet vom leisen Rasseln seine Rüste. Ansonsten herrschte Stille vor, so als hätten die Orks den Wachposten verlassen. Wachsam überflogen seine Augen die leeren Räume, aus denen der Turm bestand, ehe er die nächste Treppe hocheilte, doch mit den Gedanken war er nur bei seinem Bruder.

Die Hoffnung, dass es noch nicht zu spät war, zerrann ihm mit den verstreichenden Minuten nach jenem schrecklichen Schrei wie Sand zwischen den Fingern. Vorwürfe mischten sich immer mehr unter seine Gedanken. Sie hätten sich niemals trennen dürfen.

Über ihm öffnete sich der Treppenschacht. An der Wand gepresst blieb Kili stehen. So laut, dass er fürchtete, auch andere könnten es hören, rauschte sein Herzschlag. Er zwang seine Atmung nieder, konzentrierte sich auf die Ebene über sich und horchte. Wieder diese Stille… Wenn alles nur wieder eine Falle war, dann würden sie sich die Zähne an ihm ausbeißen... Nur mit seinem Bruder würde er hier hinausgehen.

Zu allem bereit schlich er geduckt die letzten Stufen hinauf und spähte in den leeren Raum. Beidseitig fehlten die kompletten Wände, ließen ungehindert Nebel eindringen. Von Azog oder seinen Handlangern fehlte jede Spur. Dann fiel sein Blick auf die Gestalt, die zusammengekauert am Boden lag.

Kili rannte zu ihm, kniete sich neben seinen Bruder und drehte ihn vorsichtig auf den Rücken. ,,Fili…“ Seine Hände begannen bei seinem Anblick zu zittern, als er sein, von verfärbten Blutergüssen gezeichnetes Gesicht nahm. Fili stöhnte, weshalb er behutsam seinen Kopf wieder ablegte. Von einem Bruch war seine Nase böse geschwollen, sein Mund und Kinn blutüberströmt. Ein Auge war durch die Schwellung blau aufgedunsen.

Leise vor sich hin wimmernd hielt Fili etwas, als wäre es ein verletztes Tier, an seine Brust gedrückt. Kili sah es sich an, schob vorsichtig seine andere Hand beiseite. Seine Seele zog sich qualvoll zusammen, als traf das Messer auch ihn in diesem Moment. Es war seine eigene Hand, die er hielt. Geschwollen und blutverklebt. Die offenen Einstichstellen waren deutlich zu sehen. Man hatte ihm eine Klinge durch die Handfläche geschlagen.

,,Was haben sie dir angetan?“ Seine Stimme war nur ein Flüstern, drohte zu brechen. ,,Was haben sie dir nur angetan…“ Er strich ihm die an der Stirn klebenden Strähnen aus dem Gesicht, merkte nicht, wie Tränen über seine Wangen liefen und auf seinen Bruder fielen.

,,Kili?“

Er riss den Kopf hoch, als Fili ihn unter kaum geöffneten Lidern ansah. Eilig wischte er sich übers Gesicht. ,,Ja. Ja, ich bin hier.“ Hektisch tastete er sich nach etwas ab, womit er seine Hand verbinden konnte. ,,Blieb liegen. Ich bringe uns hier raus.“

,,Kili…was tust du hier?“ Kaum verständlich war Filis Stimme.

,,Was ich hier mache? Dich retten natürlich.“

,,Nein… Lauf, du…du darfst nicht hier sein. Lass mich zurück.“

,,Spinnst du? Ich gehe nicht ohne dich.“

,,Du musst….KILI, HINTER DIR!!“

Er fuhr herum. Reflexartig riss er die Waffe hoch, blockte die des Orks ab, der sich von hinten auf ihn hatte stürzen wollte. Es gelang ihm, ihn von sich zu stoßen und neu auszuholen. Harte Hiebe droschen sie sich entgegen, doch zwei weitere erschienen und stürzten auf den jungen Zwerg zu.

Kili brüllte, wirbelte die Klinge über seinen Kopf und zog die Spitze dem Voreiligsten quer übers Gesicht, rammte im selben Schwung den Knauf dem Ersten gegen die Schläfe. Während der eine jaulend zurückwich und der andere betäubt zu Boden ging, zog sich Fili, so weit wie er im Stande dazu war, zurück, presste sich eng an die Wand, während sein Bruder Vergeltung für ihn übte.

Unter der übriggebliebenen Waffe hindurch geduckt rammte Kili sein Schwert in den dicken Oberschenkel vor sich, gab ihm einen Wimpernschlag später den Todesstoß. In seiner Rachsucht rasend trat er dem Betäubten die Waffe aus der Hand, tötete ihn gezielt mit einem Stich in die Brust und erlöste auch den Letzten von seinem erbärmlichen Dasein.

,,Kili!“

Keuchend drehte er sich um, sah den metallischen Blitz, der auf ihn zukam. Er ließ das Schwert fallen, schlug dem Angreifer das blutbeschmutzte Messer aus der Hand und stemmte sich beidhändig gegen die Arme, die ihn erwürgen wollten. Ein abartiger Geruch schlug ihm entgegen. Der kleine Ork mit den Fledermausohren versuchte ihn zu Boden zu ringen, doch Kili packte seine lumpige Kleidung. In dem Moment, als sich feuchte Hände um seine Kehle schlossen, presste er die Zähne aufeinander und ließ seinen Schädel gegen den seines Gegners knallen. Der Henker seines Bruders blickte ihn mit einem dämlich leeren Blick an, ehe er die Augen verdrehte und wie ein gefällter Baum umkippte.

Schwer atmend nahm Kili sein Schwert und tötete ihn. Als er sich zu schnell aufrichtete, schwindelte ihm. Zitternd umklammerte er den Schwertgriff, versuchte, zu Atem zu kommen, während er die überwältigten Feinde und sein veranstaltetes Gemetzel sah. Das Gewicht der Waffe ließ ihn sich beruhigen. Als er sich nach einem ausgeharrten Moment der Stille in mehr Sicherheit wiegen konnte, lief er zu seinem Bruder hinüber, der reglos an der Wand lehnte.

Kalter Schweiß durchnässte sein blondes Haar. Er atmete flach und angestrengt unter den Schmerzen. Kili riss sich den Handschuh ab und befühlte seine Stirn. Fili fieberte, war kaum mehr bei Bewusstsein. Er murmelte etwas vor sich hin und verzog das Gesicht, als sein jüngerer Bruder seinen gesunden Arm sich um die Schultern legte und ihn auf die Beine zog.

Kili schleppte ihn die Treppe hinauf. Eine Ebene höher boten die noch intakten Wände ihnen Schutz vor dem Wind. Er ließ Fili sich an der Wand gegenüber hinsetzen, schlich dann die letzte Treppe hinauf, um ihren Rückzugsort abzusichern, und stand einen Augenblick später auf dem höchsten Punkt des Turmes. Rauch stieg überall gen Himmel. Durch den sich allmählich lichtenden Nebel konnte er hinab auf das Schlachtfeld sehen. Neben ihm ragte der verwaisten Mast, der die Bodentruppen gelenkt hatte, in die Höhe. Kurzerhand durchtrennte er die Seile der Vorrichtung und verbeulte mit einem Hieb das Mundstück des daneben, auf einem Holzgestell thronenden Horns, damit sie unbrauchbar für ihren Feind waren.

,,Wir sind allein. Hier ist niemand mehr“, sagte Kili, als er wieder runter kam. Den Treppenaufgang im Auge ließ er sich neben seinem Bruder an der Wand hinab sinken. Und erst jetzt merkte er, wie erschöpft er war. Müdigkeit machte sich mit ihrer Schwere in ihm breit und machte weitere Bewegungen schier unmöglich. So würde er es keine hundert Meter weit schaffen, wenn er zudem noch seinen Bruder stützen müsste und sie nicht wussten, ob Orks noch in der Nähe waren. Das Beste war, vorerst hierzubleiben.

Draußen tobte der Krieg weiter, doch im Turm am Rabenberg kehrte Ruhe ein.

Kili legte sich die Strähnen zurück, die aus seinem zerstörten Zopf gefallen waren, und den Kopf gegen den Fels, das Schwert auf seinem Bein abgelegt, um es jederzeit greifen zu können.

,,Das war echt eine beschissene Idee von dir, alleine weiterzugehen.“

,,Erinnere mich nicht daran“, bat Fili leise, legte den Kopf auf Kilis Schulter ab.

,,Weißt du noch, was Marie damals zu uns beim Abschied gesagt hat?“, murmelte er. ,,Sie hat gesagt, dass wir auf uns aufpassen sollen.“ Er verzog den Mund zu einem schiefen Schmunzeln. ,,Und du sagtest: machen wir.“

,,Hat doch super funktioniert“, antwortete Fili unter Anstrengungen, ehe er von einem Husten durchgeschüttelt wurde und es wieder ernst zwischen den beiden wurde.

Seine Nähe und der Anblick seiner Hand, die er umklammert im Schoß hielt, trieb Kili erneut Tränen in die Augen, die er mit aller Macht niederrang. ,,Ruh dich aus“, flüsterte er. ,,Ich passe auf, dass niemand kommt.“ Seine Atemwolken waren viel kräftiger in der kalten Luft als die seines Bruders.

,,Wir werden uns ausruhen und dann suche ich Hilfe.“ Er legte die Arme um Filis schlaffen Körper, um ihm so viel Wärme wie möglich zu geben, strich über sein Haar, über seine glühende Stirn, damit sein Bruder wusste, dass er nicht mehr allein war. ,,Irgendwie werden wir das schon schaffen“, sprach er ihm Mut zu. Er musste an Tauriel und an ihren Onkel denken, der sicherlich schon überall nach ihnen suchte. Schon bald würde Hilfe kommen…

 

 

30

 

Kalter Dunst stieg vom Eis auf, umwarb einen Dämon aus einer anderen Schattenwelt. Groß aufgerichtet stand er da und wartete auf ihn. Orcrist fest in der Hand trat Thorin seinem Erzfeind entgegen.

Eine wissende Ruhe erfüllte ihn, als er auf Azog zu schritt. Wissend, dass er sein Leben als Einsatz gab, dachte er für einen Augenblick an seine Neffen, wo sie auch waren; er würde sie finden, an seinen Großvater, der durch seine Hand starb, an seinen Vater, den er nie wieder sah.

Seine steinernen Gesichtszüge gaben nichts von den intimen Gefühlen preis, die in ihm vorgingen. Hass und Rachsucht lagen kontrolliert in ihm, brachen einzig in seinen funkelnden Augen als stählerne Kälte hervor. Das Licht, das ihn vor der Dunkelheit gerettet hatte, glomm in ihm, wies ihm den Weg, als er hinab in die Tiefen seiner Seele stieg. Er spürte seinen langsamen, entschlossenen Herzschlag in seiner Brust, als er seine Hand durch die Gitterstäbe streckte und den verbannten Drachen in seinem Gefängnis berührte. Die Bestie hob den Kopf und sah ihn direkt an. Thorin spürte, wie die Kraft des Drachen in ihn hinein floss. Er musste sie benutzen, um dieses Monster für immer zu vernichten.

Über die Hochebene schallten fern Kriegshörner. Triumphierend zog Azog einen Mundwinkel hoch. Am Horizont erschien seine zweite Legion, Thorin jedoch konnte nur seinen Feind anstarren, in diese eisweißen Augen, die den Tot brachten. In diesem Moment stürmte Azog auf ihn zu.

Durch den tiefliegenden Dunst rauschte etwas hinter ihm heran. Er hielt eine kurze Kette in der Hand, die fest in einem Stein versenkt war. Wie in unendlicher Langsamkeit sah Thorin, den Felsbrocken vom Eis abheben und wie einen Morgenstern auf sich zu schießen. Instinktiv beugte er sich nach hinten und er überflog ihn - der Luftzug wie der Atemhauch des Todes. So nah.

Erneut wich er unter dem Stein aus, den Azog mit langem Arm schwang. Thorin wehrte einen wilden Hieb auf seinen Kopf ab. Die heftige Erschütterung durchfuhr seinen Arm, als Stahl und Stein aneinander prallten. Das Geschoss bohrte sich neben ihm ins Eis, drang Zentimeter ein. Es knirschte wie gebrochenes Glas. Feine Risse breiteten sich unter ihren Stiefelsohlen aus.

Das Netz einer Spinne, das sich unter ihnen zuzog.

Achtend auf den nächsten Schritt, auf die kleinste Bewegung ihres Gegenübers, umkreisten sie einander lauernd. Das dumpfe Pulsieren an seinen Rippen merkte Thorin kaum, auch nicht das Blut, das aus dem Schnitt an seiner Stirn lief, nicht das Brechen von Steinmassen, als der verkeilte Turm an der Klippe in seinem Rücken in die Tiefe stürzte.

Dafür vernahm er das winzigste Knacken unter seinen Füßen, hörte den Atem des Gegners, der ebenso rasselnd vor Erschöpfung war, wie sein eigener. Er laß aus seinem Blick seine nächste Reaktion, spürte seine Muskeln unter seiner Körperspannung zittern und wartete. Alles, was nicht unmittelbar mit dem Stahl in seinen Händen oder mit dem Dämon vor ihm zu tun hat, blendete er aus, drängte es hinter Wänden aus Konzentration zurück, die beide Erzfeinde gefangen hielten.

Abermals wirbelte Azog seine schwerfällige Waffe und die Risse breiten sich durch die Gewichtsverlagerung sofort weiter aus. Thorin hatte Zeit um auszuweichen. Er duckte sich darunter weg, drehte sich um die eigene Achse. Schwarze Haare wirbelten ihm um den Kopf und der Gegenschlag traf Azog an der Schulter. Die große Klinge des elbischen Schwertes traf lediglich auf den Harnisch. Die Metalle ächzten und Schmerz flammte an seiner Seite bis in seinen Hals hinauf, doch für einen Augenblick konnte er Azog aus dem Gleichgewicht bringen. Plötzlich vibrierte eine heftige Erschütterung unter ihren Füßen. Dann begann sich der Untergrund zu bewegen. Eine große Eisplatte hatte sich gelöst, schwankte nun sensibel auf dem Wasser.

Der Zwerg nutzte den Überraschungsmoment. Obwohl er selbst kaum Halt hatte, schaffte Thorin es, die Klinge ein weiteres Mal an Azogs ungeschützten Oberschenkel entlang zu ziehen. Die vorherige Wunde vertiefte sich. Dunkles Blut quoll hervor, tropfte tintenschwarz zu Boden. Wasser schwappte durch den Angriff auf das ruhelose Eis. Noch den Schmerzenslaut hinter sich hörend, rutschte Thorin aus, konnte gerade so den Fall verhindern. Genau in diesem Augenblick traf ihn der Stein und riss ihn von den Füßen. Durch die Muskelkraft am anderen Ende der Kette schwang der Fels durch die Luft und auf ihn zu. Liegend wich Thorin aus, rollte sich mehrmals weg. Jedes Mal hörte er unmittelbar neben sich das Krachen auf dem Eis, spürte die Bewegungen der Platte, Wasser und Kälte überall um ihn…und den Schmerz an seinen Rippen, der ihm einen Schrei kostete. Er dachte, er müsste sich übergeben. Mühsam gelang es ihm aufzustehen, als es plötzlich vorbei war. Thorin erwartete den nächsten Hieb, doch nichts geschah. Da realisierte er, dass der Stein vor ihm im Eis feststeckte.

Der bleiche Ork zog vergeblich an der Kette und wollte mit dem Schwert nach ihm ausholen. Die Eisplatte begann zu kippen. Stünden sie beide auf ihrer Hälfte der beweglichen Fläche, würde Thorins Gewicht und das des Steins Azogs ausgleichen. Das erkannte wohl auch er, denn eilig, damit sie nicht kenterten, zog sich der Ork wieder zurück. Das aufgewühlte Wasser beruhigte sich unter ihnen.

Zähnefletschend funkelte Azog ihn an, bis sein Blick ungläubig hinter ihm verharrte.

Thorin konnte es sich nicht erklären, doch einen Moment später sah auch er die Adler aus dem Nebelgebirge über sie hinweg fliegen. Das Rauschen, wenn die riesigen, goldbraunen Schwingen die Winterluft aufwühlten, zog über sie wie eine brechende Welle hinweg. Dem Ton einer Glocke gleich erklangen ihre Rufe in der Luft. Die Vögel flogen die Ebene hinauf und gruben die mächtigen Krallen in unzählige Orks, die von den Luftzügen umgeworfen wurden, zogen Schneisen der Verwüstung und des Chaos hinter sich her. Auf dem Rücken eines Vogels erkannte Thorin die kleine Gestalt ihres verbündeten Zauberers Radagast. Eine zweite, um einiges größerer, ließ sich von einem anderen Adler fallen. Beorns Silhouette raste vor dem grauen Himmel zu Boden, verwandelte sich noch im Fall in seine Bärengestalt. Und Thorin wusste, dass die Schicksale der restlichen Feinde unter seinen Pranken entschieden waren.

Während Azog immer noch ungläubig zusah, wie seine Legion dem Erdboden gleichgemacht wurde, lenkte das Klacken der aufeinandertreffenden Eisschollen Thorin von diesem Schauspiel ab. Als Orcrist auf dem Eis aufkam, fuhr Azog herum und bekam den großen Stein zugeworfen. Reflexartig fing der Ork seine schwere Waffe. Thorin sah die Überraschung in seinem Gesicht, legte zynisch den Kopf schief und trat einen Schritt nach hinten. Über den großen Riss hinweg.

Augenblicklich kippte die Eisplatte. Azog verlor den Halt und rutschte. Wasser spritze hoch auf. Er versuchte sich noch festzuhalten, grub vor Zorn brüllend die Hände ins ungnädige Eis, das nun fast vertikal von seinem Gewicht stand.

Ungerührt stand Thorin auf festem Untergrund und sah zu, wie sein Feind zwischen Rand und Scholle kam. Wasser und Eis schlossen sich über ihm zusammen und ein weißer Schatten versank in der Tiefe des Flusses.

 

Anmutig und kraftvoll flogen die Adler über dem Tal von Dale scharfe Wendemanöver. Diese Krallen, die nun Eingeweide herausrissen, sich durch die sehnigen Leiber der geflügelten Kreaturen bohrten, hatten ihn in der Brandschlacht behutsam in die Lüfte gehoben, als er ohnmächtig und mit zertrümmerter Schulter Azogs Häschern ausgeliefert war. Auf Gandalfs Ruf hin waren sie gekommen, hatten ihn und seine Männer vor dem Sturz über die Klippe bewahrt und das Rudel Warge zerstreut.

Der Rausch, der Thorins Willen zum Überleben geschürt hatte, ebbte nun langsam ab. Sein Puls hämmerte gegen seine Kehle, wurde schwächer und schwächer.

Angespannte Schultern sackten nieder. Der Drache legte sich wieder schlafen.

Thorin stieß den angehaltenen Atem aus und schloss die Augen für einen Moment.

Dass es einfach so vorbei war… Dass es geschehen war…

Die riesigen Tiere am Himmel schlugen ihn für einen Augenblick in den Bann. Er konnte den Sieg nicht genießen, weil er nicht realisieren konnte, dass es wirklich vorbei war.

War alles, was man im Leben erfuhr, vorherbestimmt? Das Auftauchen der Vögel, die die noch im Tal verbliebenen Krieger wie ihn und seine Gefährten damals vor schlimmerem Leid retteten? Dass er Orcrist auf diese Weise zurückbekommen hatte? Dass Gandalf sie zu diesem besonderen Hobbit geladen hatte, den sie damals alle nur belächelt hatten? Dass einst ein Drache ihre Heimat angriff, obwohl es jedes Königreich hätte treffen können? Dass er, als er damals keinen Sinn im Leben mehr sah, in einer verwinkelten Gasse Amris traf? Dass er die Frau, die sein Herz nicht freigegeben hatte, auf einer einsamen Lichtung im Mondschein nach sechzehn langen Jahren wiederfindet?

Hatte alles in dieser Welt einen bestimmten Grund, dass es passieren musste? War jeder für sein eigenes Schicksal verantwortlich oder gab es tatsächlich höhere Mächte, die es in der Hand hatten?

Nicht in der Brandschlacht und auch nicht in Moria. Sollte er hier an diesem Ort Azog töten? Von Anfang an? War das wirklich sein Schicksal?

Müdigkeit und Erschöpfung lähmten weitere solcher Gedanken, machten seinen Körper schwer wie Blei. Ausgehungert und durstig seufzte Thorin und wandte den Blick vom Spektakel am Himmel ab. Er hockte sich hin, um Orcrist aufzuheben. Und erstarrte.

Ein heller Schemen trieb direkt unter ihm entlang. Er hielt den Atem an, stand langsam wieder auf. Von der fließenden Strömung unter dem Eis wurde Azogs Körper fortgetragen und Thorins müden Beine folgten ihm wie an Fäden gezogen.

Lufteinschlüsse und die dünne Schneeschicht trübten den gefangen Körper mit den ausgestreckten Armen unter ihm. Seine noch offenen Augen leuchteten geradezu, weiß mit einem hellblauen Schimmer. Thorin konnte sich nicht von dem Anblick seines Feindes abwenden.

Kleine Luftblasen stiegen von unten gegen das Eis und langsam schlossen sich Azogs Lider, ohne ihn nicht vorher noch einmal direkt angesehen zu haben. Thorin fühlte noch den durchdringenden Blick des Orks auf sich. Was dann geschah, konnte er nicht sagen. Alles ging so schnell, zu schnell, um zu begreifen, was mit ihm passierte.

Azog riss die Augen auf, rammte sein Schwertarm senkrecht durch das Eis, durch Thorins Stiefel. Sein rechter Fuß explodierte vor Schmerz. Thorin schrie, dass es seine Kehle zu zerreißen drohte. Es gab ein ekelhaftes Knirschen und er wurde nieder geworfen. Als er die Augen aufschlug, blickte er in graues Licht. Plötzlich war Azog über ihm. Eine weitere Schmerzwelle wurde durch seinen Körper gesandt, als er gerade so einen brutalen Schwertstoß mit Orcrist abblocken konnte. Der Ork holte erneut aus und Thorin riss verzweifelt Orcrists Klinge mit beiden Händen über sich. In Azogs gespalteter Klinge blieb sie stecken. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die ineinander verkeilten Schwerter, die Hand unter dem dicken Leder seines Handschuhs gegen die stumpfe Blattseite gepresst. Azogs kalter Blick strahlte triumphierend, als die Schwertspitze dicht über seiner Brust schwebend zum Stehen kam.

Thorins Arme zitterten unter dem Druck. Er konnte nur ein Bein unterstützend anwinkeln. Ächzend presste er den Hinterkopf aufs Eis, zwang alle erdenkliche Kraft und Selbstbeherrschung zusammen, um gegen ihn anzukämpfen. Doch es war sinnlos.

Tiefer sank das Schwert, trachtete nach ihm. Gegen den Muskelberg über sich konnte er nicht ankommen. Er konnte sich weiter gegen Azog stemmen, doch alles, was er erreichen würde, wäre das Unvermeidbare nur hinauszuzögern. Und so nahm Thorin sein Schicksal an.

Weil er erkannte, dass es so sein sollte.

Seine Hoffnung auf Leben erlosch und die Welt wurde für einen ewig langen Moment still. Über die Schulter des Orks hinweg sah er in den Himmel, der neuen Schnee in sich trug.

Bald würde es schneien. Bald würde sich neuer Schnee sanft über die Berghänge legen, alles Schlechte unter seinem weißen Tuch begraben, um neue Hoffnungen wachsen zu lassen. Nach dem Winter käme der Frühling. Dann werden die Wiesen blühen.

In diesem Moment sah er Azog in die Augen und wusste, dass er Marie nie mehr wiedersehen würde.

So war das also, wenn man starb. Wenn man aufgab. Er wollte es nicht, konnte jedoch nicht anders. Auch wenn es sich wie Feigheit und Ergebung anfühlte: er musste es tun. Doch wenn er sterben sollte, dann würde es dieser Dämon auch.

Thorin peilte die Brust über sich an, dort, wo das Herz saß, konzentrierte sich darauf, dass seine Gedanken zu denen wanderten, die er liebte. Haltsuchend klammerte er sich an die Gewissheit, dass Marie bei ihm war und über ihn wachte, klammerte sich an die Liebe zu ihr, die ihn vor der Drachenkrankheit gerettet hatte, und hörte auf, sich gegen Azog zu wehren.

Dann tat er etwas Überraschendes.

Entschlossen zog Thorin seine Klinge beiseite und sofort versenkte sein Feind triumphierend sein Schwert in ihm. Ein heiserer Schrei kam über seine Lippen. Grausame Kälte durchwallte seinen Körper. Sein Mund blieb offen stehen. Keine Luft. Kaltes Eisen in sich…

Beflügelt von diesem tiefreichendem, unerschütterlichem Empfinden, Liebe geschenkt wie bekommen zu haben, getröstet von den vielen schönen Erinnerungen, die er sich für immer bewahren würde, brachte der Krieger es zu Ende.

In einer einzigen Bewegung riss er Orcrist hoch und durchstieß Azogs Harnisch. Tonlos stöhnte der Ork auf, starrte fassungslos auf den Schwertknauf, der ihm in der Brust steckte. Wie Feuer jagte die Rache durch seine Venen, ließ ihn allen Schmerz vergessen. Thorin holte neue Luft, packte mit letzter Kraft ihn an der Schulter und rollte sich mit ihm herum. Einen Atemzug später saß er rittlings auf ihm, starrte in sein narbendurchzogenes Gesicht. Der Zwerg drückte mit seinem ganzen Gewicht die Klinge tiefer, trieb sie auf der anderen Seite ins Eis hinein und spaltete so Azogs Herz.

Wie gelähmt sah dieser ihn an, unbegreiflich über seine Tat, und der Zwergenkönig erwiderte seinen letzten Blick und schickte dieses Monster in die dunkelste Finsternis zurück, wo es hergekommen war. Azog gab noch einen schwachen Laut von sich, ehe sein Kopf zurück fiel und sein Atem stehenblieb.

 

Die Dunstschwaden rissen auf. Die Sonne ließ ihre Strahlen auf das Schlachtfeld unter sich fallen, während die Adler majestätisch ihre Siegeskreise zogen. Wie in Trance schritt Thorin zur Kante des Wasserfalls, ließ den toten Körper auf dem Eis hinter sich liegen. Mit angestrengten Atemzügen stand er an der Klippe und schaute auf seine Heimat hinab. Auf den Dächern der Welt ließ der Wind sacht sein Haar wehen. Die weiten, hügeligen Grasebenen unter ihm waren von Teppichen aus Blut befleckt. Die übriggebliebenen, führungslosen Orktruppen flohen in die Löcher zurück, die die Erdfresser hinterlassen hatten. Weit entfernt ertönten Jubelschreie. Es war vorbei.

Der Zwerg sah den Erebor zu seiner Linken hinauf, dessen schneebedeckten Gipfel, als wär es das erste Mal. Nie war seine Heimat schöner.

Ein dunkler Strom von Blut floss neben ihm unter der Eisdecke, wurde über die vereiste Klippe getrieben, wo es sich ausbreitete, als sollte jeder es sehen, der seinen Blick dem Wasserfall am Rabenberg zuwandte, und das Opfer ihres Königs kundgeben.

Endgültig verschwand der Rausch des Krieges und glühender Schmerz breitete sich allesvernichtend in seiner Seite aus. Nun konnte er spüren, wie das Blut seine Kleidung tränkte und über seinen Bauch lief. Der Schock ergriff ihn. Jegliches Gefühl in seinem Fuß existierte nicht mehr. Schließlich versagten ihm die Beine und Thorin brach zusammen.

 

,,Ohhrr…“ Schwerfällig blinzelte Bilbo gegen die Helligkeit an. Nur langsam klärten sich die vielen verschwommenen Umrisse am Himmel. Über ihm vertrieben riesige Vögel die Fledermäuse, hackten nach den Flüchtigen, versuchten, die Zerstreuten zu greifen. Auf ihrem Gefieder schimmerte ein goldener Schein, wenn sie in die Sonne eintauchten.

,,Die Adler…“ Seine Zunge klebte an seinem staubtrockenen Gaumen. ,,Die Adler sind gekommen…“ Vorsichtig setzte er sich auf, doch in seinem Schädel begann es wie in einem Bienenstock zu brummen. Er tastete sich an den Kopf und fühlte eine heiße Beule. Bei der einsetzenden Erinnerung an Bolgs Keule, mit der er unfreiwillig Bekanntschaft gemacht hatte, verstärkte sich ihr Pochen höhnisch. Um ihn herum war es seltsam ruhig und Bilbo bemerkte, dass er allein war.

Umständlich kam er wieder auf die Beine, musste sich an der Wand neben sich festhalten. Er versuchte gerade, sein Gedächtnis zum Arbeiten zu bewegen, da fiel sein Blick hinüber auf den sich verlaufenden Fleck am vereisten Wasserfall und auf die Person, die reglos am Ufer lag.

 

Voller Sorge kam Bilbo die Treppe hinunter geeilt, hinab bis zum Flussufer. Auf dem Eis, angelehnt an Fels, lag Thorin.

,,Bilbo…“

,,Nicht bewegen, nicht bewegen. Lieg still.“ Er klappte die Jacke von Thorins Rüste auf, sah die Wunde zwischen den, von einer Waffe aufgebrochenen Kettenreihen, die sein Hemd mit Blut durchtränkte. ,,Oh, nein…“

Thorin sah, wie er sich die Faust vor dem Mund presste, völlig überfordert von dem Bild, was sich ihm darbot. Ungeschickt tastet er, wusste nicht, was er tun sollte, um ihm zu helfen. ,,Ich bin froh, dass du hier bist“, konnte er nur antworten, versuchte unter den Schmerzen zu sprechen. Doch sie waren kaum auszuhalten. Immer wieder wallten sie durch ihn hindurch, fraßen sich durch sein Fleisch, pulsierten an seinen gebrochenen Rippen. ,,Ich möchte in Freundschaft von dir scheiden.“

,,Nein, du gehst nirgendwo hin, Thorin. Du wirst leben“, versprach Bilbo. Er versuchte, sicher und bestimmt zu sprechen. Doch Thorin wusste es besser. Neben ihm breitete sich eine Lache seines Blutes im Schnee aus. Dessen Geschmack trat ihm bereits den Hals hinauf. Für ihn würde jede Hilfe zu spät kommen.

,,Ich möchte zurück…nehmen, was ich am Tor gesagt habe“, keuchte er, konzentrierte sich noch so lange wie möglich wach zu bleiben. Er musste ihn um Verzeihung bitten für all das, was er getan und nicht getan hatte. Er musste es ihm sagen, hielt sich daran in den letzten Augenblicken fest, dankbar, dass Bilbo zu ihm gekommen war, dass er ihn auch jetzt an seiner Seite wissen konnte. Gern hätte er auch seine Jungs bei sich gehabt, um ihnen zu sagen, wie stolz er auf sie war.

Sein Mund sehnte sich danach, ein letztes Mal Maries Lippen berühren zu dürfen, sie in seinen Armen halten zu können. Er würde sie nie wiedersehen.

Bilbo sah seine blutleeren Lippen, sein dreckiges, mit Platzwunden gezeichnetes Gesicht und musste tief durchatmen. Seine Haarsträhnen waren verfilzt von der Wunde an seiner Stirn.

Vor ihm lag ein Krieger. Ein großer König. Er wollte so viel von seinen Worten wie möglich in sich aufnehmen, sie in sein Gehirn einbrennen und sie nie wieder vergessen.

,,Du hast getan, was ein wah-ahrer Freund tut.“ Zu atmen war schier unmöglich. Nur mit Mühe konnte Thorin die Worte formulieren, die seine Seele belasteten. Ihm war so schrecklich kalt. ,,Vergib mir“, wisperte er und streckte die Hand zu ihm aus. Bilbo ergriff sie. ,,Ich war zu blind, es zu sehen… Es tut mir so leid…dass ich dich in solche Gefahr gebracht habe.“ Qualvoll stöhnte er unter dem Schmerzschub, begann am ganzen Körper zu zittern. Es wurde immer kälter.

,,Nein“, Bilbo drückte seine Hand, um ihn spüren zu lassen, dass er hier an seiner Seite war, dass er es ernst meinte. ,,Nein, ich bin froh, dass ich mit dir durch die Gefahren gehen durfte, Thorin, um jede bin ich froh.“ Dieser sah ihn an. ,,Das ist viel mehr, als irgendeinen Beutling zukommt.“ Dabei gab es noch so Vieles, das er ihm sagen wollte…

Thorin merkte die Aufrichtigkeit seiner Worte, senkte den Blick und sah seine Kette auf seinem Hemd liegen. Mit zitternder Hand nahm er sie auf, spürte, dass sie auch jetzt bei ihm war. Sie war es all die Zeit gewesen. Seine Lippen konnten ihren Namen nicht formulieren.

,,Denk daran, was du Marie versprochen hast. Du wirst sie wiedersehen. Du musst durchhalten…“ Nur vage spürte er, wie seine Schulter gedrückt wurde.

Marie... Marie, vergib mir…

,,Halt durch. Hilfe kommt bestimmt gleich.“ Panisch sprang Bilbo auf, drehte sich suchend im Kreis. Als er den Flusslauf hinauf sah, schrie er nach Beorn. Seine Stimme wurde immer verzweifelter. Er sah über Thorin hinweg, irgendwo hinter ihm, den Berghang hinab. ,,Hier oben!!“, er begann zu winken, zu schreien. ,,HILFE!! Bitte!!“ Erneut ließ er sich neben ihm nieder, fasste seine Hand, die den Anhänger in sich hielt. ,,Sie gab dir diese Kette. Du kannst nicht sterben! Nicht so!“

Thorin sah seine roten Augen, die Tränen, die in ihnen lagen. Ihm war vergeben worden…

Er fühlte sich schwerelos. Frei.

Thorin lächelte zum Abschied, damit Bilbo nicht traurig sein sollte. Und auf einmal war alles Leid verschwunden. ,,Leb wohl, Meisterdieb…“

Bilbo schüttelte den Kopf. ,,Bitte…Bitte nicht.“

,,Kehr zu deinen Büchern zurück…und zu deinem Sessel. Pflanz deine Bäume…sieh zu, wie sie wachsen“, flüsterte er. ,,Gebe es nur mehr, die ein Zuhause höher achten, als Gold“, ein Lächeln erschien auf seinem blassen Gesicht, ,,…diese Welt wäre ein viel glücklicherer Ort.“

Seine Stimme war so leise gewesen, wie das Rascheln des dürren Laubes im Wind und dann war sie…einfach gegangen.

,,Nein! Nein, nein…Nein, Thorin. Wag es ja nicht…“

Über ihm war nichts als der Himmel, als er die Kälte zurückließ. Die Adler zogen ihre Kreise, während Bilbos Stimme in der anderen Welt zurückblieb.

,,Bitte… Halt durch. Halt nur noch einen Augenblick durch… Hilfe kommt. Man wird dir helfen… Thorin? Bleib wach! Hör nicht auf zu kämpfen! Thorin!!“

Doch sein Körper gab den Kampf auf.

In diesem Augenblick begann die Landschaft zu verschwimmen. Der Himmel war nicht länger hell. Dunkelheit senkte sich über ihn.

Dunkelheit.

Frieden.

 

~

 

Tage zogen ins Land, wurden zu Wochen. Neuer Schnee hatte Städte, Gehöfte und Dörfer bedeckt. Ruhe und Behaglichkeit waren in den Familien eigekehrt. Rauch stieg überall aus den Schornsteinen, während Feuer heimelige Wärme in den Häusern verbreiteten. Der Winter zeigte sich seit Tagen von seiner schönsten Seite. Wiesen und Felder glitzerten im Sonnenschein, als hatten sich über Nacht aberhunderte von winzigen Diamantsplittern auf ihre weiche Decke gelegt.

Tief sog sie die klare Luft ein und schloss die Augen. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Feine Flocken fielen auf ihr zum Himmel gerecktes Gesicht. Kaum spürbar schmolzen sie sofort auf ihrer Haut zu Wasser… ,,Tante Marie!“

Sie drehte sich zu Mel um, die von einem Bein auf das andere hüpfend auf dem Feldweg stand. ,,Tante Marie, wo bleibst du denn?“ Lächelnd raffte sie ihren Rock und ging dem ungeduldigen Mädchen entgegen. ,,Wir müssen uns doch beeilen.“ Fröhlich hopsend setzte sie ihren Weg fort.

,,Mel, nun sag mir doch, wohin wir gehen“, lachte Marie, die die gute Laune der Kleinen nicht einzuordnen wusste. ,,Du hast noch immer kein Sterbenswörtchen erzählt, was ich im Dorf soll.“ ,,Das wirst du schon sehen!“

Kopfschüttelnd seufzte sie. Unter ihren Schritten knirschte der dicke Schnee, als sie über die Brücke gingen. Leise gluckernd folgte unter ihnen der Fluss seinem stetigen Lauf.

Die Menschen in Kerrt gingen ihrer täglichen Arbeit nach. Von der Schmiede, die die beiden passierten, hörte man die Schläge des Hammers auf dem Amboss. An diesem Tag war Markt und Mel steuerte zielstrebig darauf zu.

Mehr als eine Woche war vergangen, als Marie das letzte Mal hier war. Als hätte sie ihre kurze Unsicherheit gespürt, griff Mel auf einmal ihre Hand. Sie sah ihre Ziehnichte an, die zurück lächelte, und drückte ihre Hand.

Mel schien nichts Bestimmtes vom Markt zu wollen. Vielmehr war es so, als nutzte die Kleine den mittig gelegenen Platz, nur um schneller auf dessen andere Seite zu gelangen. Die Leute, die zwischen den aufgebrauten Ständen herum schauten, die nun weniger üppige Angebote als im Sommer oder Herbst zu bieten hatten, wurden auf sie aufmerksam. Doch etwas war anders, als die Male davor…

,,Gut gemacht, Marie!“, rief unerwartet eine Stimme. Diese glaubte sich verhört zu haben, sah in die Richtung, aus der sie kam, doch konnte zwischen den zusammenstehenden Grüppchen die Quelle nicht ausmachen. Sie erschrak, als eine große Hand einen Moment später ihre Schulter berührte.

,,Der hast du’s aber ordentlich gezeigt“, brummte Gunnar durch seinen Bart, klopfte ihr noch einmal auf die Schulter und ging wieder seiner Wege, wie eh und je seine Pfeife im Windwinkel.

Perplex sah sie ihm nach. ,,Tag, Marie.“ Sie drehte sich nach dem Grüßenden um, der jedoch bereits an ihr vorbei gegangen war.

,,Hallo, Marie!“

,,Hallo“, antwortete sie zögernd und sah ungläubig, von wem der freundliche Gruß kam. Von einer der Markfrauen. Das ist doch verrückt…

,,So ist’s Recht, Mädchen! Nur nicht unterkriegen lassen“, setzte die Dicke noch einen obendrauf, die mit ihrer spargeldünnen Freundin geschützt vom Schneetreiben unter einer Zeltplane stand, als wüsste sie es am allerbesten. Daneben, mit verschränkten Armen lehnte am Tisch Rabia, strafte mit funkelndem Blick die beiden, die eingeschüchtert sich eilig in vorgetäuschte Arbeit streuten.

,,Äh, danke.“ Was ist hier bloß geschehen?, dachte sie, während sie weiter geführt wurde. Auf dem ganzen Platz herrschte ein unbeschwertes Miteinander, in das man sie miteinbezog, Sie musste im falschen Dorf sein…

,,Wurde mal Zeit, dass jemand Donja einen Denkzettel verpasst. Das hat sie sich verdient, unsere Gute“, rief Sonna gerade von der anderen Seite. ,,Schlamm soll ja gut für Falten sein, hab ich gehört.“

Bei dem Gelächter von Elia, Emilie und Pamina stemmte sie die Hände in die Hüften, warf sich ihren Zopf über die Schulter. Als das typische Meckern von der alten Sigurd kam, musste auch Marie lachen.

Die Menschen lächelten, riefen ihr ab und zu aufmunternde oder bekräftigende Worte zu. Man klopfte ihr auf den Rücken, erkundigte sich, wie es ihr ging, oder plauderte mit ihr über Kleinigkeiten oder dem Wetter. Genauso wie Wochen zuvor, wie die Monate und Jahre, die sie hier als Heilerin des Dorfes verbracht hatte. Alles war so, wie früher.

,,Mel, hast du etwas damit zu tun?“ Sie sah zu der Kleinen, die nur von einem Ohr zum anderen grinste und sie weiter führte.

,,Nein, aber schön, oder?“

In Gedanken schmunzelte Marie in sich hinein, merkte die Wärme auf ihren Wangen. ,,Ja. Du hast recht.“

Als sie den Marktplatz hinter sich gelassen hatten, ließ Mel ihre Hand los und rannte zu dem gepflegten, mehrstöckigen Haus an der Straßenecke hinüber, bei dem jemand bereits wartete.

,,Gut gemacht, mein Schatz.“ Anna nahm sie und Marie in Empfang. Diese schaute zwischen ihrer Freundin und dem über der Tür hängenden Schild mit der abgebildeten Nadel und Fadenspule, die die Schneiderei kennzeichnete, ungläubig hin und her. ,,Heißt es das, was ich denke?“

Bei Annas strahlenden Augen war keine Antwort mehr nötig.

Kreischend wie junge Mädchen fielen sie sich in ihrer Freude in die Arme, machten ausgelassene Luftsprünge. Die feinen Flocken um sie herum wurden von ihnen aufgescheucht.

,,Oh, Anna, ich freu mich so für dich!“ In einer engen Umarmung bleiben sie. ,,Ich freu mich so...“

Anna, tief über ihre Schulter gebeugte, flüsterte: ,,Danke. Das hab ich nur dir zu verdanken.“ Sie richtete sich auf, damit sie sich anschauen konnten. ,,Der Danner hat mir meine alte Stelle wiedergegeben! Alle wissen nun, was Donja getan hat. Du hast meine Ehre verteidigt. Ich bin unschuldig!“

,,Das warst du immer, Anna. Donja hat sich selbst eine Grube gegraben.“

,,Aber du…Du hast es erst möglich gemacht.“ Voller Dankbarkeit und Bewunderung sah Anna ihr in die Augen, als wäre sie etwas ganz besonderes, und Marie fühlte sich fast schon unbehaglich, gar wie eine Heldin angepriesen zu werden. Ich und eine Heldin?! Darf ich lachen? Sie hatte doch bei all dem überhaupt gar nicht nachgedacht, sondern impulsiv gehandelt.

Anna stemmte eine Hand in die schlanke Taille. ,,Und dank eurem Gekreische, was wirklich nicht zu überhören war, stand euch fast halb Kerrt als Zeugen zur Verfügung“, sagte sie, mit einem amüsierten Grinsen, was an diesem Tag keine Grenzen zu kennen schien. Und wieder sah Marie, wie schön ihrer Freundin dies stand.

,,Ich hab das eben auf dem Markt gemerkt. Hast du oder Sonna etwas damit zu tun?“

Zu ihrer Verwunderung brach Anna in ein Lachen aus. ,,Das warst du ganz alleine!“

,,Ich? Aber ich hab doch gar nichts Großartiges gemacht.“

,,Ach nein?“ Anna berührte ihr Kinn, schob es etwas zur Seite, um sie genauer betrachten zu können. ,,Deinem blauen Auge nach zu urteilen und den Kratzern auf deiner Wange, ist Nichts etwas mit langen blonden Haare und spitzen Nägeln, oder?“

Marie hatte ganz vergessen, wie sie wohl noch immer ausschauen musste, und wurde rot vor Verlegenheit, dass sie so über den ganzen Markt gelaufen war.

Ehe sie etwas erwidert konnte, öffnete sich die Tür der Schneiderei. ,,War mir doch, dass ich eure Stimmen gehört habe.“ Mit einem Bündel Stoff in der Armbeuge erschien Greg, frischrasiert ohne ungewohnten Bartschatten. ,,Na, meine kleine Wassernixe? Wieder trocken hinter den Ohren?“

Marie war verführt mit den Augen zu rollen. ,,Du und deine lockere Zunge…“

,,Hey! Wenn ich das nächste Mal wieder angeln gehen muss, sag vorher Bescheid“, konnte er sich nicht nehmen, sie aufzuziehen.

Marie spürte den fragenden Blick von ihrer Seite. ,,Erklär ich dir später.“

,,Der Spruch kommt mir bekannt vor“, warnte ihre Freundin sie drohend vor und zog Gregs Aufmerksamkeit nun ganz auf sich.

Seine Lippen zuckten nervös, als sein Lächeln noch breiter wurde. ,,Hallo, Anna.“

Höflich oder wegen seiner Anwesenheit senkte sie die Augen. ,,Greg.“

Unauffällig entfernte sich Marie ein paar Schritte, um den beiden etwas Raum zu geben. Mel stellte sich neben sie und grinste genauso verschmitzte.

,,Anna, ich… Ich wollte, nur… Ich meine…“ Wie Greg so vor ihr stand und es nicht fertig brachte, einen gescheiten Satz zu formulieren, hatte Marie Mitleid mit ihm. Ob ich mich auch damals so angestellt habe? Sie befürchtete es, konnte sich jedoch nicht erinnern, dass Thorin jemals so nervös gewesen war.

Als wäre ihm eingefallen, dass er ja etwas dabei hatte, streckte Greg es Anna entgegen. ,,Äh, hier. Für dich.“

Verwundert nahm sie den Stoffberg entgegen und schlug die oberste Lage beiseite. Zum Vorschein kam ein hübscher, dunkelblauer Stoff. ,,Das ist das Kleid, an dem ich gearbeitet habe.“ Fragend sah sie ihn an.

,,Ich hab es dem Auftraggeber abgeschwatzt. Jetzt gehört es dir.“

Anna sah so aus, als würde ihr Herz stehenbleiben. ,,Mir?? Greg, dass… Du kannst doch nicht einfach… Das kann ich unmöglich annehmen.“ Vehement streckte sie es ihm wieder entgegen, damit er es zurück nehmen sollte. ,,Dein Vater wird es sicherlich nicht gut finden, dass du ihm den Verkauf zunichte gemacht hast“, versuchte sie ihm ins Gewissen zu reden, doch Greg zuckte nur mit den Schultern und grinste wie ein Junge, der etwas ausgeheckt hatte.

,,Ich konnte dem Kunden durch mein Verkaufstalent ein anderes andrehen. Dies hier hat seiner Frau eh nicht gestanden. Machte sie viel blasser, als sie ohnehin schon war.“

,,Trotzdem. Du kannst mir doch kein Kleid schenken.“ Als seine Hände sich unvermittelt um ihre schlossen, zuckte sie zurück, doch er hielt sie sanft bei sich.

,,Bitte, Anna, nimm es an.“ Schrecklich verlegen fasste er sich in seinen blonden Haarschopf und suchte nach den Worten. Als er nach Marie linste, die daneben stand und ihnen als stumme Beobachterin beiwohnte, machte diese eine auffordernde Handbewegung. Weiter so. Du schaffst das.

Vielleicht hatte er es verstanden, denn er atmete tief durch und fand den Mut auszusprechen, was ihm auf dem Herzen lag. ,,Ich möchte mich damit entschuldigen. Ich hab gewusst, dass du die Brosche nicht genommen hast. Glaub mir, ich wollte nichts mehr auf der Welt, als zu dir stehen, doch konnte nichts gegen die Entscheidung meines Vaters tun. Bitte nimm das Kleid an. Ich weiß, wie sehr es dir gefallen hat.“

Die ganze Zeit hatte Anna mit halboffenem Mund ihn angesehen. Nun konnte sie sich dazu durchringen ihren Blick zurück auf das Kleid zu richten, was von ihren beider Händen festgehalten wurde. Marie sah die Röte auf ihren Wangen und wusste, dass Greg sie gewonnen hatte.

,,Da gibt es nichts zu entschuldigen“, flüsterte sie und schenkte ihm einen lieblichen Wimpernaufschlag.

Als sie das tat, schüttelte Greg kaum merklich den Kopf. ,,Kannst du mir noch einmal verzeihen?“, stieß er mit kehliger Stimme hervor.

,,Wofür?“

,,Nur noch dafür.“ Damit beugte sich Greg zu ihr und küsste sie.

Von der Plötzlichkeit erstarrte Anna unter seinem vorsichtigen Mund, als fragte er um Erlaubnis. Doch dann schloss sie die Augen, legte ihre Hand in seinen Nacken, um ihn enger zu sich zu ziehen.

Mels Kinnlade klappte hinunter.

Lächelnd legte Marie ihr die Hand auf die Schulter und wusste ganz genau, dass das kleine Mädchen schon bald eine richtige Familie bekommen sollte. Ein Wehmutsschimmer schlich sich dennoch bei aller Freude für das verliebte Paar ein. Die kleinen Schmetterlinge bewegten traurig die Flügel, als sie an Thorin dachte und an das Glück, das ihnen verwehrt geblieben war.

Anna schmiegte sich an seine Brust und wurde von Gregs Armen umschlungen, als wollten sie zeigen, dass sie von nun an alles Unheil von ihr halten würden. Unter Jauchzen und Klatschen sprang Mel zu ihnen und bekam ein Küsschen von ihrer strahlenden Mutter auf den Scheitel.

,,Komm mal her, kleine Prinzessin.“ Vertraut hob Greg sie hoch und das Kind schlang die Arme um seinen Hals, als hätte sie nie etwas anderes gemacht.

Plötzlich wurde wildes Hufgeklapper auf dem Kopfsteinpflaster lauter und zerstörte den schönen Moment. ,,Krieg!! Am Erebor, in der alten Stadt Dale herrschte Krieg!“ Mit wehendem Mantel preschte ein Reiter an ihnen vorbei, zügelte sein Tier mitten auf dem Marktplatz. Sofort strömten die Menschen zusammen, versammelten sich um den Ankömmling. Durcheinander redende Stimmen machten weiteres unverständlich.

Wie betäubt von seinen Worten starrte Marie zu der immer größer werdenden Menschentraube und ein einziger Name brannte sich in ihre Brust hinein. Thorin…

Marie rannte zu der Menge, drängte sie sich durch die Leiber, die ihr die Sicht versperrten. Dann endlich stand sie vor dem Reiter und seinem nervösen Braunen. Das Tier tänzelte auf der Stelle, die Augen weit aufgerissen, sodass man das Weiße sah.

,,Bist du dir sicher?“, fragte jemand an den Alten in der moosgrünen Kleidung gewandt, der in allen Gegenden bekannt war.

,,Ich sage es euch! Mit meinen eigenen Augen sah ich das Schlachtfeld!“ Der Landstreicher bohrte den Finger mit dem dreckigen Nagelrand gegen sein Augenlid. ,,Hunderte, tausende Kadaver von Orks und Trolle! Zwerge, Elben und Menschen kämpften gegen die dunklen Scharen des Bösen! Der Untergang naht!“ Obwohl man seine Warnungen bereits kannte, breiteten sich bestürzte Blicke überall in der Menge aus. Frauen legten sich die Hände vor den Mund, während der alte, verwirrte Landstreicher das Ende der Welt prophezeite. ,,Überall sprach es sich: Smaug der Drache sei tot!“ Er hatte Mühe sein Tier zu beruhigen, dessen Fell in der kalten Luft dampfte. ,,Unter den Zwerge ging es umher, ihr König, Thorin Eichenschild, sei gefallen!“

Die Menschen verfielen in aufgeregtes Gemurmel…

Doch für Marie blieb die Welt stehen. Er ist tot…

Anna erschien neben ihr, packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich, versuchte, mit ihr zu reden… Marie hörte es nicht. Stumm bewegten sich ihre Lippen. Belanglos.

Sie sah die geblähten Nüstern des Pferdes, wie es tänzelte und steigen wollte, die Furcht in seinen Augen vor dem Erlebten, die Panik vom Blutgeruch. Sie spürte nicht, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen, nicht den Schmerz und die Qual, die sich durch ihr ganzes Sein fraß. Alles, was sie spürte, waren die Flammen, die in ihr emporloderten und sie verschlangen.

Und alles, was blieb, war diese Leere.

 

 

 

Fortsetzung folgt...

Nachwort

 

Ja, ihr lest richtig: Fortsetzung folgt.

Nachdem Tolkien kein wirkliches Happy End für unsere Helden vorgesehen hatte und mir Peter Jackson im Kino gleich 3 mal das Herz brach, werde ich in meiner Fanfiction auf ein Happy End nicht verzichten können – nicht nach alldem, was Marie und Thorin durchgestanden haben.

Ich bitte euch… So herzlos bin selbst ich nicht.

Deshalb wird es einen vierten und finalen Band geben, in dem ich erneut all meine Fantasie freien Lauf lassen darf. Ich kann euch nur eins verraten: der Plot steht und es wird dramatisch!

Danke an alle, die bis hierhin den Weg von Marie und Thorin begleitet haben.

Ich hoffe, ich konnte dem Film ,,Der Hobbit – Die Schlacht der Fünf Heere“ ansatzweise gerecht werden.

Danke an Richard Armitage und den gesamten ,,Little Bastards“, die großartiges vor den Kameras geleistet haben.

Wenn euch dieses Buch gefallen hat, lasst es mich wissen. ♥

Impressum

Cover: http://the-hobbit.tumblr.com/post/110893372531/you-are-the-heir-to-the-throne-of-durin-unite
Tag der Veröffentlichung: 28.01.2018

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