Cover

Der König Erebors

 

 

Wenn Feuer den Winterwind bricht

 

 

Band 2

 

 

 

FanFiction / High Fantasy

 

 

Lisa Ausmeier

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Dies ist eine FanFiction, basierend auf dem Roman ,,Der Hobbit“ von J.J.R. Tolkien und den Filmen der ,,Der Hobbit“- Trilogie von Peter Jackson.

 

 

Es bestehen Abweichungen zum Original in der Handlung.

Die Handlung ist fiktiv und meine eigene Interpretation.

Alle Figuren, die nicht im Original auftauchen, sind fiktiv.

Diese FanFiction beinhaltet Liedtexte von ,,Faun“, die bereits bestehen und teilweise übernommen oder verändert wurden.

Die Khuzdul-Übersetzungen stammen von verschiedenen Internetseiten und wurden teilweise verändert.

Ich habe keinerlei Rechte am Original.

 

Mai 2015 – August 2015

2017 überarbeitet

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Alle guten Geschichten verdienen es, ausgeschmückt zu werden.

~

Gandalf  (Der Hobbit - Eine unerwartete Reise)

 

 

 

 

 

 

 

~

 

 

Wie eiserne Fesseln engte der Schmerz sie ein, sodass ihr das Atmen unmöglich schien. Über ihre Wangen strömten Tränen in ihre Hände, wie ein Bach im Frühling.

Langsam schaute sie auf, doch der Weg war leer. Der Nebel hatte sich aufgelöst und mit ihm, ein Teil ihres Selbst.

Zwischen den Gräsern am Wegesrand wurde eine Bewegung erkennbar. Wie von einer höheren Macht geschickt, sah sie Hilda auftauchen. Auch sie musste sie gesehen haben, denn kurz blieb sie wie angewurzelt stehen, ehe sie Rock und Schürze raffte und auf die kleine, in sich gesackte Gestalt zugeeilt kam, die alleine auf dem Feldweg hockte.

Auf ihrem Gesicht stand Entsetzen und Sorge, als Hilda zu ihr gelangte und ihr an Kopf und Hals fasste, als würde sie sie nach Verletzungen absuchen. Erleichtert stieß sie den Atem aus und ließ sich zu ihr auf die Erde sinken.

,,Sie sind fort.“

,,Ich weiß“, flüsterte Hilda genauso leise und nahm sie in den Arm. ,,Ich weiß…“

 

 

 

 

 

 

 

1

 

 

Die Hitze des Kaminfeuers fühlte sich taub auf ihrer Haut an. Als sie direkt in den Feuerkern schaute, schmerzte es in ihren Pupillen, weshalb sie sie wieder zukniff und mehrmals hintereinander blinzeln musste. Irritiert nahm sie die vielen Decken um sich herum wahr. Müdigkeit und Erschöpfung hatten wohl über ihren Körper gesiegt, noch ehe Hilda ihr den Tee bringen konnte. Dann entdeckte sie ein Blatt Pergament unter dem Krug, der neben ihr gestellt worden war. Bin im Stall. Hilda, stand mit krakeligen Buchstaben von einem Kohlestift darauf.

Hilda. Sie hatte sie zurück ins Haus gebracht, Feuer gemacht und sie in die Decken geschlungen davor gelegt.

Marie seufzte, wollte wieder die Augen schließen, doch Gerüche ließen sie innehalten, die sie unweigerlich erkannte.

Es waren die Decken der Zwerge, die sie ihnen für ihre Lager gegeben hatte, und in die sie nun eingewickelt war.

Ausgerechnet mit dem Kopf lag sie auf seiner.

Sie schluckte schwer, ließ die Fingerspitzen über die braune Wolle fahren unter der sie sich auf seinem Lager wieder nähergekommen waren. Doch Marie war zu erschöpft, um etwas zu empfinden. Sie zog die oberste Decke über ihre Schulter, schmiegte sich in seine, an der immer noch sein Geruch hing, und sah den Flammen im Kamin zu.

Bitte, nimm mich, Feuer… Lass mich verbrennen…

 

Erst als die Haustür sich öffnete, öffneten sich auch ihren Augen wieder. Jemand trat ein und Marie wusste, dass es Hilda sein musste. Ein vertrautes Klappern von Metalleimern war zu hören. Schwerfällig drehte sie sich auf den Rücken und sah, wie die blonde, rundliche Frau zwei Eimer vor die Tür der Speisekammer, die sich links neben dem Kamin, unter der Treppe befand, stellte.

Ihr Blick fiel zu dem Haufen Decken und auf Marie, die mitten darin lag. Sie schloss die Tür und kniete sich neben sie.

,,Marie, was machst du nur für Sachen…“ Wie bei einem Kind wurde ihr über den Kopf gestrichen, über die Haare, über ihre Stirn. ,,Einfach eingeschlafen bist du vorhin… Wie geht es dir?“

Hildas Anwesenheit und liebevolle Geste empfand sie als tröstend, denn sie ahnte, welch bedauernswerten Anblick sie abgeben musste. Sie spürte selbst ihre verquollenen Augen, ihr ganzes Gesicht war wahrscheinlich entweder gerötet vom Weinen oder bleich vom Ausharren in der Kälte draußen. Ihr einst kunstvoll geflochtener Zopf lag völlig zerzauste neben ihr. Von ihrer gekrümmten Schlafhaltung tat ihr der Rücken weh und so konnte sie sich nur langsam und mühsam aufsetzen.

Sie zuckte mit den Achseln. ,,Wie hast du mich gefunden?“

,,Ich war am Wäschewaschen, hab dabei Sonna getroffen. Sie erzählte, du wärst gestern in der Kupfer Stube gewesen…und nun ja…verändert. Das geht von Mund zu Mund da unten.“

Als Hilda das Wirtshaus erwähnte, schloss Marie die Augen.

,,Ich hab mir schreckliche Sorgen gemacht, hab mich gleich zu dir aufgemacht. Ein Glück! Das ist wohl das Vermächtnis deiner Mutter an mich“, fügte sie mit dem Ansatz eines versuchten Lächelns hinzu.

Eines Tages hatte Myrrte angefangen, Hilda etwas über Heilkunde zu lehren und nach deren Tod hatte Marie es fortgeführt. In der Zwischenzeit waren auch sie ebenfalls gute Freundinnen geworden. Hilda hatte sich bereits ein gutes Wissen angeeignet und konnte in Notfällen ihr zur Hand gehen. Marie glaubte, dass sie sich in irgendeiner Weise dazu verpflichtet fühlte, der Tochter ihrer besten Freundin zu helfen, und in diesem Moment war Marie froh darüber wie noch nie zuvor.

Hilda sah sie von der Seite an, offensichtlich nicht wissend, wie sie die Fragen, die ihr auf der Zunge lagen, stellen konnte. Dass sie sich natürlich fragte, was mit ihr geschehen war, wusste Marie. Sie konnte es ihr nicht verübeln.

,,Ich erzähle es dir später.“

Hilda nickte bloß. ,,Hast du denn schon etwas gegessen?“

Marie schüttelte den Kopf und sie schürzte die Lippen darüber, denn Hilda war der Ansicht, dass die Welt, wenn man erst mal etwas im Magen hatte, schon ganz anders aussah.

,,Na, komm. Ich mach dir etwas“, antwortete sie und befreite sie aus den Decken.

Als Marie aufstand, wurde ihr schummrig. Haltsuchend fasste sie nach Hildas Arm. Stützend brachte ihre Freundin sie zu einer der Bänke, auf die sie sich setzte und leise stöhnend den Kopf in die aufgestützten Hände sinken ließ. Der Schwindel hörte auf, doch ihr Schädel dröhnte, sodass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Dazu kam noch das kalte, leere Gefühl in ihr…

,,Marie?“

Der Ton in ihrer Stimme ließ schon gleich auf nichts Gutes ahnen. Marie schaute auf und sah Hilda in der Tür zur Vorratskammer stehen.

,,Deine Vorräte…“, stammelte diese nur.

Marie hievte sich hoch und schlurfte zu ihr. Ausdruckslos wanderte ihr Blick durch die Kammer, in der sich Regale und Kisten befanden – alle größtenteils leer. In einem Regal standen noch Einmachgläser mit eingekochten Pflaumen und Apfelmus und ein paar angefangene Marmeladen. In einem anderen Karotten im Bündel und Zwiebeln. Links in der Ecke lag ein einzelner Kartoffelsack. Vielleicht ein Dutzend Knollen lagen darin. Viel mehr auch nicht.

,,Wo sind denn deine Würste? Der Käse? Das kann doch nicht alles sein. Der Herbst… Du brachst doch Vorräte für den Winter.“ Hilda schaute in die erschlafften Säcke hinein, sah in die leere Brottrommel, als wollte sie dennoch alles durchsuchen. ,,Von dem hier kannst du doch noch nicht einmal eine Woche zehren.“ Noch immer unbeteiligtes Schweigen.

Die vollen Lippen aufeinander gepresst drehte sie sich um. Doch als sie Marie sah, die die Arme wie eine Rüstung um sich gelegt hatte, um den Vorwürfen und Fragen nicht mehr ausgesetzt sein zu müssen, ließ sie davon ab. ,,Wie viel Geld hast du denn?“, fragte sie eine Spur sanfter. ,,Übermorgen ist Markt, da musst du etwas kaufen. Das nötigste zumindest.“

Marie schlürfte zum Schrank, um eine der darauf stehenden Dosen herunter zu holen, die ihr als Versteck dienten. Sie streckte den Arm aus…und stockte. Noch nicht einmal an das erste Regal kam sie heran. Unendlich weit weg war die Kante, prangte höhnisch über ihr, und wieder aufs Neue wurde ihr bewusst, wie klein sie jetzt war.

,,Warte.“ Hilda kam ihr zur Hilfe, nahm für sie die Dose und schüttete den Inhalt auf dem Tisch aus. ,,Reicht für einen guten Einkauf… Wo hast du die Münzen hingelegt, die du für die kranken Zwerge bekommen hast?“

Marie senkte den Kopf und verspürte den Wunsch, sich ins Kaminfeuer zu werfen.

,,Sind sie in einer der anderen?“ Sie hörte, wie Hilda sich nach den anderen streckte, doch nur sie wusste, dass diese leer waren.

Es gab kein anderes Geld.

,,Wo ist es?“ Stille. Plötzlich packten sie zwei Hände an den Schultern, rüttelten kurz an ihr, nicht feste, doch für Marie fühlte es sich an, als wären ihre Knochen an diesem Morgen aus Glas.

,,Wo ist dein Lohn?“, wiederholte Hilda alarmiert, versuchte, Maries Blick zu fangen, doch sie wagte es nicht, ihr in die Augen zu sehen.

,,Ich habe ihn ausgeschlagen“, brach sie heiser hervor. Sie wurde losgelassen und fühlte sich plötzlich wieder einsam.

Ratlos schaute Hilda auf sie hinab. Ihr Mund ging auf und zu, wie bei einem Fisch auf dem Trockenen, als sie Marie ansah, welche sich mit einer Hand am Tisch festhielt, als würde sie jeden Moment umkippen, wenn nicht.

,,Nachher bringe ich dir etwas von uns. Und nun komm, du brauchst dringend Schlaf.“

 

Die Sonne schien bereits hell durch das Fenster, als die Frauen eingeharkt das Zimmer betraten. Der Anblick des zerwühlten Bettes, mit dem wüst verzogenen Laken und Wäsche beschwor die Erinnerungen an die vergangene Nacht herauf. Es grenzte an Folter.

Hinter ihr räusperte sich Hilda und zeigte bei sich selbst auf den Hals, woraufhin sich Marie zum Spiegel drehte. Von dort, wo sie stand, konnte sie dicke, rundliche Flecken in rot und blau auf ihrer Haut erkennen. Ungläubig drehte sie den Hals, wischte darüber, als wären sie nur aufgemalt. Deutlich konnte sie in diesem Moment seine Berührungen spüren.

Und sie wurde wütend. Auf das Schicksal, das wie ein Gegner sie trennen wollte. Wütend auf sich selbst, dass sie dachte, dieses Mal wäre es anders. Dass diesmal alles gut werden würde.

Sogar wütend auf Thorin, der nichts dafür konnte und den sie machtlos hatte gehen lassen müssen.

Mit den Nerven am Ende und einem Schrei der Verzweiflung nahe schleuderte sie das Kissen gegen die Wand, ehe sie auf das Bett niedersackte und das Gesicht in den Händen verbarg.

Unschlüssig, was sie tun sollte, ließ sich Hilda neben ihr nieder und legte ihr eine Hand auf den Rücken.

,,Wieso haben sie mich nicht mitgenommen?“ Ihre Hände begannen zu zittern, während sie nutzlos versuchte, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, die sich erbarmungslos erneut ihren Weg bahnten. ,,Als könnte ich nicht selbst auf mich aufpassen. Warum traut er mir so wenig zu?“

,,Marie. Bitte nicht weinen.“ Hilda nahm den zuckenden Körper in den Arm. ,,Von wem sprichst du?“

,,Von Thorin und den anderen. Er setzt sein Leben aufs Spiel und vielleicht sehe ich ihn nie wieder.“

Dass Hilda nicht verstand, von was sie da sprach, fiel ihr erst im nächsten Moment ein. Wie sollte sie ihr bloß alles erklären?

Ehe sie sich auch noch darüber Gedanken machen konnte, ging unten die Haustür auf. ,,Hallo?! Jemand Zuhause?“

,,Hier oben!“, antwortete Hilda, heilfroh über die nahende Unterstützung. Auf der Treppe hörte man Schritte hinauf kommen.

,,Die Tür war nicht verriegelt. Ich wollte eigentlich… Marie? Gütiger… Was ist passiert?“ Sofort setzte sich Anna zu ihr und legte die Arme um ihre völlig aufgelöste Freundin. Diese vergrub das Gesicht in ihrer Schulter, während sie von einem erneuten Weinkrampf erfasst wurde.

,,Mama, was hat Marie denn?“

,,Mel, geh runter und warte dort.“

,,Weißt du, wovon sie spricht?“

Anna zuckte nur mit den Schultern. ,,Marie, was ist passiert? Bitte, rede mit uns, damit wir dir helfen können.“

,,Ich konnte sie nicht aufhalten.“ Dicke Tränen wollten nicht weniger werden. ,,Der Drache wird sie töten. Sie haben keine Chance gegen ihn. Das kann niemand schaffen.“ Ihre Hände und Beine zitterten immer stärker. Marie kämpfte dagegen an, doch der Morgen hatte ihr ihre ganze Kraft gekostet. Sie ließ ihren Kummer freien Lauf, wurde vom Schmerz eingenommen, der allesvernichtend war. Alles von vor sechzehn Jahren kam wieder hoch.

,,Bleib bei ihr.“ Damit eilte Hilda nach unten und ließ Anna total überfordert mit der Situation zurück.

Als sie wieder kam, hatte sie etwas dabei. ,,Hier, Marie, trink das. Das wird dir gut tun.“

Sie schniefte ungeniert. ,,Was ist das?“

,,Etwas, was dir helfen wird“, sagte sie bloß und Marie nahm einen Schluck.

,,Erzähl bitte“, versuchte Anna es noch einmal. ,,Ich verstehe es noch nicht ganz. Was ist geschehen?“

,,Thorin ist gegangen. Genau wie damals…“ Mehr konnte sie nicht sagen. Mehr war auch nicht nötig.

Immer noch hielt Anna ihre Freundin im Arm, doch nun verstand sie. ,,Oh, Marie…“

 

~

 

Hart wie Metall blickten seine Augen den Weg voraus. Starr war das Grau auf die Steinchen und die Grasnarbe in der Mitte gerichtet. Ein Grau ohne Glanz, genauso kalt, wie der Nebel es gewesen war. Hilflos, allein und einsam. So stand sie auf dem Weg, als er sich umgedreht hatte und der Nebel sie verschluckte.
Noch genau so, wie sie eingeschlafen war, hatte sie am Morgen auf seiner Brust gelegen, umhüllt vom allerersten Licht, welches durch das Fenster aufs Bett gefallen war, als wäre sie in einer Decke aus feinster Seide gewickelt worden. Und sie dann so gesehen haben zu müssen; so gebrochen, so blass, mit diesen Flecken am Hals...war kaum zu ertragen gewesen.

Er hatte ihr weh getan. Schon wieder.

Er beschleunigte seine Schritte, trat härter auf, damit er mit jedem Schritt den Schmerz erdrücken konnte, der sein Herz in die Tiefe zu ziehen schien.

Thorin schwieg. Kein einziges Wort hatte er seit dem Abschied in den frühen Morgenstunden gesprochen.

Stundenlang waren die Gefährten nun schon unterwegs. Als wollte er schnellstens so viel Distanz wie nur möglich zwischen ihnen und dem einsamen Haus am Waldrand bringen, hielt ihr Anführer das Tempo hoch, ohne Pausen bisher.

Genauso lange herrschte auch unter ihnen ein bedrückendes, nervöses Schweigen. Keiner wollte ausversehen das Thema Marie oder dem Abschied anschneiden. Wie würde ihr Anführer darauf reagieren? Niemand wollte es ausprobieren.

Man hörte nur ihre Schritte auf dem Weg und das Aufsetzen von Gandalfs Stab und Bilbos Wanderstock. Es klimperte und rumpelte leise in manchen Rucksäcken. Ab und zu trat jemand gegen ein Steinchen, sodass es nach vorne geschossen wurde. Rechts und links erstreckten sich hügelige Wiesen. Dazwischen lagen immer mal wieder große Felsen, die wie Rückenwirbel eines riesigen Wesens aus dem Boden ragten, welches in einem anderen, längst vergangenem Zeitalter sein Leben ausgehaucht hatte.

Vor ihnen türmte sich eine zerklüftete, bewaldete Felskette auf. Bald würden sie sie erreichen.

 

~

 

Endlich erreichte Wärme ihren Körper, hatte ihn zurückerobert. Die riesige Decke, unter der sie begraben lag, ließ nur ihren Zopf und ihre Nasenspitze hervor schauen. Sie spürte ihre nackten Beine, die aneinander lagen. Warm war ihre Haut und dafür war Marie dankbar.

Nach einer Weile des stillen Daliegens schlug sie die Decke beiseite und merkte, dass sie nackt war. Schnell zog sie sie wieder hoch und setzte sich auf. Ihr Kleid von gestern Abend entdeckte sie ordentlich zusammengefaltet auf der offenen Schranktür liegen. Ihre Zunge klebte ekelig an ihrem Gaumen, ein bitterer Geschmack auf ihr. Der Tee, den Hilda ihr gemacht hatte, war kein gewöhnlicher gewesen. Marie fuhr sich durch die Haare und hörte jemanden sprechen.

,,…dass die Zwerge aufgebrochen sind, und wollte nach ihr sehen. Sie seien durchs Dorf nach Osten gegangen. Ein Glück, dass ich es getan habe…“

Ihr Körper fühlte sich zentnerschwer an, war wie zerschlagen.

Trotzdem versuchte Marie, aufzustehen. Sie raffte die Decke um

sich und tastete sich langsam voran. Auf dem Absatz vor ihrer Zimmertür blieb sie stehen und trat an die Ecke der Wand.

Der Schreck saß ihnen noch sichtbar in den Knochen, als Marie die beiden Frauen sah, die ein wenig blass um die Nasen unten im Wohnraum standen - eine von ihnen, denn Anna lief vor dem Kamin auf und ab.

,,Dass sie auf die Größe einer…einer Zwergin geschrumpft sein soll, hatte ich zunächst nicht geglaubt“, nahm Hilda ihren Gesprächsfaden wieder auf, ,,und ich muss gestehen, als ich sie so vorgefunden hab und beim Anblick ihres Halses…da überlief mich ein Schauer. Ich dachte, sie wäre zusammengeschlagen worden.“

Marie schaute auf ihr unwirklich großes Bett zurück. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, die ihren Körper verändert hatte.

Die folgende Zeit jedoch würde auch ihr Leben verändern.

,,Das hab ich auch gehört.“ Die jüngere der beiden stoppte ihr nervöses Umherlaufen. ,,Nur deshalb hab ich erfahren, dass die Zwerge aufgebrochen sind und bin sofort zu ihr. Ich ahnte so etwas schon...“

Erwartungsvoll und verwirrt zugleich schaute Hilda sie an. Sie war eine etwas pummelige Frau mit blondem Haar, welches sie tagtäglich zu einem Kranz geflochten hatte.

,,Ich weiß, wen sie vorhin gemeint hat“, klärte Anna auf und nickte wie zur Bestätigung. ,,Ich habe sie in der Kneipe getroffen, gestern, als ich dort ausgeholfen hatte. Übrigens, du kannst dir nicht vorstellen, wie die Leute sie angeglotzt haben. Die Augen müssten eigentlich bei manchen draußen sein…“ Ihre wütende Miene verflog allmählich wieder. ,,Jedenfalls hab ich gesehen, wie sie einen der Zwerge geküsst hat. Sie hat mir aber nichts Weiteres erzählt. Erst heute ist mit eingefallen, dass sie, als sie mir einmal etwas über ihr damaliges Heim in Dale erzählt hatte, einen Zwerg erwähnt hatte, für den sie Gefühle gehegt hat. Es scheint wohl ein und derselbe zu sein.“

,,Dann…dann hat sie sich wegen ihm…so verändert?“, fragte

Hilda leise. Marie konnte ihre Ungläubigkeit darüber deutlich hören. Verdeckt vom Treppengeländer sah sie, wie brüskiert ihre Freundin darüber war. ,,Wie kann so etwas möglich sein?“

Anna nahm ihr Hin-und-Her-Laufen wieder auf. ,,Unter den Zwergen war ein Zauberer. Gandalf der Graue hieß er, wenn ich mich recht entsinne.“

,,Das erklärt es natürlich. Aber… findest du nicht auch, dass sie diese Entscheidung ein bisschen zu voreilig getroffen hat?“

,,Sie hat es getan, weil sie ihn liebt“, sprang Anna für sie in die Bresche. ,,Du hättest sie sehen sollen, Hilda. So hab ich sie noch nie erlebt. Sie sah so glücklich aus…und sie jetzt so zu erleben…“ Annas Lächeln wandelte sich in einen zutiefst traurigen Ausdruck, der Marie schwer schlucken ließ. ,,Warum haben sie sie bloß allein gelassen?“

Mitleidsvoll sah Hilda zu ihr. ,,Vielleicht war sie doch zu naiv.“

,,Du meinst, er hat ihr bloß etwas vorgemacht?“, flüsterte Anna.

,,Ich will es nicht wagen, so etwas zu behaupten, aber… vielleicht hat sie sich in ihn getäuscht.“

Eine bedrückte Stille machte sich breit, in dem auch Marie nichts anderes konnte, als schweigen. Denn sie kannte die Wahrheit.

,,Das kann ich einfach nicht glauben“, wiedersprach Anna leise. ,,Es kann nicht so gewesen sein…“

,,Es gibt da noch etwas“, seufzte ihre Freundin. ,,Sie hat den Lohn für die kranken Zwerge ausgeschlagen.“

,,Was?“, entfuhr Anna ein wenig laut, während sie sie entsetzt anstarrte.

,,Hm…Sie hätte viel bekommen.“

,,Wieso hat sie das getan?“

Hilda konnte nur mit den Schultern zucken. ,,Ihre Vorratskammer ist auch so gut wie leer. Sie hat so gut wie nichts mehr. Wenigstens ist genug Holz für den Winter da und auch genug Heu und Stroh auf dem Boden für das Vieh - ich hab nachgesehen. Dann braucht sie wenigstens darum keine Sorgen haben. Ich hab ihr auch gesagt, sie soll in zwei Tagen zum Markt gehen und das Nötigste kaufen.“ Tröstend wurde Anna ein Arm um die Schultern gelegt. ,,Sie wird es uns erzählen…“

Diese versuchte, zu nicken, wischte sich über die Augen. ,,Ich flehe, dass es nicht so ist, wie du gesagt hast.“

,,Ja…das hoffe ich auch.“

Marie hatte genug gehört.

 

Als sie das nächste Mal aufwachte, war sie nicht mehr allein. Ein hellblondes Mädchen mit gelbem Kleid saß mit dem Rücken zu ihr auf der unteren Hälfte des Bettes. Ganz still verhielt es sich, ließ nur die Füße baumeln. ,,Mel…“

Sie fuhr herum. ,,Oh, du bist wach.“

,,Mel, wie…“, ihre Stimme war immer noch ganz heiser, hörte sich nicht wie ihre eigene an. ,,Wie lange sitzt du hier schon?“

,,Nicht lange. Mama und Hilda sind unten. Du siehst ja echt schrecklich aus“, meinte sie mit gerümpfter Stupsnase.

,,So fühle ich mich auch.“

„Willst du mit runter kommen?“

Marie schüttelte den Kopf. ,,Komm etwas näher.“

Lächelnd krabbelte sie zu ihr hoch. ,,Mir war langweilig. Ich hab mich die Treppe hoch geschlichen, Mama und Hilda haben das gar nicht gemerkt. Sie reden schon die ganze Zeit. Ich hab in dein Zimmer geguckt, aber du hast noch geschlafen, ganz tief und fest. Du sahst richtig müde aus. Wir haben Tee gemacht. Aber der schmeckt nicht.“ Angewidert streckte sie die Zunge raus.

,,Mama hat mich zu deinen Tieren geschickt. Ich hab ihnen ganz viel zu Fressen gepflückt. Schau.“ Sie hielt ihre Hände hoch, die stellenweise grünlich gefärbt waren. ,,Ich hab ihnen sogar Namen gegeben.“

Marie strich ihr mit den Handrücken über die Wange, genoss die Anwesenheit der Kleinen, die sie vor sieben Jahren auf die Welt geholt hatte.

Sie und Anna verband eine ganz besondere Freundschaft. Als sie ihr als Hebamme geholfen hatte, hatten sie sich angefreundet. Das war die erste Entbindung, die sie ganz allein betreut hatte und ihre Mutter war mehr als stolz gewesen. Als der Vater von Mel sie verlassen hatte oder als Mel als Baby krank wurde, hatte Marie mehrere Nächte bei ihr geschlafen und als ihre Eltern vor zwei Jahren starben, Anna bei ihr. Für sie war sie mehr als eine Freundin, fast schon wie eine Schwester, die sie nie hatte. Öfters passte sie auf Mel auf oder half ihnen mit Sachen aus, denn Anna bekam für ihre Arbeit als Schneiderin nur wenig Lohn, was es nicht einfach für sie und ihre Tochter machte.

Oh, Anna, meine liebe Anna. Und Hilda. Was hätte ich ohne euch gemacht?

,,Soll ich Bescheid sagen, dass du wach bist? Willst du auch einen Tee? Du kannst auch meinen haben, wenn du willst. Ich mag nämlich keinen Kräutertee.“ Marie nickte und die Kleine sprang vom Bett, lief die Treppe runter.

,,Nein, sie bekommt ihren eigenen Tee“, hörte man daraufhin von unten.

Gerade hatte Marie erneut die Kraft gefunden, sich im Bett aufzusetzen, da hüpfte Mel wieder auf ihren Platz, ehe auch Hilda und ihre Mutter ins Zimmer traten. ,,Hat sie dich geweckt?“

,,Nein. Sie war ganz leise.“ Sie lehnte sich zurück und presste die Decke über ihren Körper. Hilda reichte ihr den Tee. ,,Danke. Bitte, setzt euch auch zu uns“, murmelte sie und sah ihre Freundinnen auffordernd an, die sich auch gleich zu ihr setzten.

Ihre Nähe verdrängte ein wenig das immer noch währende, einsame Gefühl in ihr. Ihre Finger wurden durch die Krugwand hindurch warm. Die Oberfläche kräuselte sich, als sie in ihren Tee blies und heiße Luft ihr unter die Nase schlug. Sie nippte daran und spürte förmlich, wie sich seine Wärme wohltuend in ihrem Magen ausbreitete.

,,Wie geht es dir?“, fragte Anna. Ihre großen, braunen Augen besaßen ein besorgtes Glitzern.

Marie nahm noch einen Schluck, zuckte dann mit den Achseln. ,,Ein wenig besser, glaube ich.“

,,Das ist schön“, meinte Hilda, die neben Anna saß, mit einem versuchten Lächeln.

Marie blinzelte. Ihre Augen waren geschwollen, taten scheußlich weh. ,,Wie lange hab ich geschlafen?“

,,Mehrere Stunden. Es ist bereits Nachmittag.“

,,Ich hab dir ein leichtes Beruhigungsmittel geben“, sagte Hilda.

Maries Blick richtete sich auf ihren Tee. ,,Danke.“

Die zarte Stimme von Mel lenkte sie von ihren Gedanken ab. ,,Marie? Geht es dir jetzt besser?“

Sie versuchte, zu nicken, obwohl sie sich nicht sicher war.

,,Ich hatte Angst um dich“, wisperte sie, sah auf ihre unruhig spielenden Finger.

Marie sah sie an und spürte, wie ihre Brust zusammengeschnürt wurde. Sie stellte ihren Tee beiseite und streckte die Arme aus. Sofort krabbelte die Kleine übers Bett, ließ sich auf ihren Schoß nieder und wurde von ihren Armen umschlossen.

Unter gerührten Blicken küsste sie dem Mädchen auf den Kopf. ,,Es tut mir leid, meine Süße. Glaub mir, dass hätte ich niemals gewollt.“

,,Ist schon in Ordnung…“, nuschelte sie, während sie sich an sie schmiegte. ,,Du, Marie?“

,,Hm?“

,,Mama sagt, dass du traurig bist. Stimmt das?“

Leise seufzte sie. ,,Ja, es stimmt.“

,,Wieso?“

Marie sah sie nicht an, drückte das Mädchen nur ganz feste an sich, um dem Schmerz entgegenzuwirken, als sie an ihn dachte. ,,Mel, würdest du uns bitte kurz allein lassen. Ich muss etwas mit deiner Mutter und Hilda besprechen.“

Mel machte ein bedröppeltes Gesicht, fügte sich aber artig.

Als sie die Treppe hinunter war, presste Marie hervor: ,,Sie sind aufgebrochen, weil sie eine Mission haben.“ Sie nahm neuen Atem. ,,Das, was ich euch jetzt erzähle, muss unter uns bleiben. Auch ich durfte es anfangs eigentlich nicht erfahren.“

Ihre Freundinnen sahen sie mit großen Augen an. ,,Von uns erfährt niemand ein Sterbenswörtchen“, versicherte ihr Anna nach einem Seitenblick auf Hilda.

,,Gut. Also… Die Wahrheit ist, dass er mich nicht sitzen gelassen hat oder dergleichen. Er und seine Männer mussten fort.“

Sie suchte nach Worten, um es zu erklären. ,,Ich traf ihm im Wald vor wenigen Tagen nach sechzehn Jahren wieder.“

Sie erzählte ihnen alles. Von ihrer Begegnung im Wald, was damals nach Smaugs Angriff geschah und auch von der Mission der Gefährten, dass sie ihren Berg zurückerobern und den Drachen töten wollten, von dem Zwerg aus ihrer Jugend und wer er war. Wie bei einem Wasserfall sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Annas braune Augen weiteten sich immer mehr, während Hilda immer blasser wurde.

,,Verdammt.“ Das war das einzige, was ihre Freundin zunächst darüber sagen konnte. ,,König?“

Marie nickte und ihre Stimme wurde urplötzlich wieder brüchig. ,,Ich hab solche Angst um ihn, Anna. Ich weiß nicht, wie ich die nächsten Tage überleben soll.“

,,Schon gut…“

,,Ich hab Angst, dass ich ihn für immer verlieren könnte“, wisperte sie. ,,Ich hab den Drachen gesehen. Ich hab die Katastrophe miterlebt. Das können sie einfach nicht schaffen. Wenn er umkommt…“

Anna zog sie in eine Umarmung und versuchte, ihr ein wenig Sicherheit zu geben. ,,Es wird alles gut werden. Wir müssen abwarten und auf Nachrichten hoffen. Er hat dich schon einmal wiedergefunden. Er wird es wieder tun.“

 

~

 

,,Du hast Glück, dass ich heute ausnahmsweise mal nicht arbeiten muss“, sagte Anna und holte ihr einfaches Kleid mit dem hellblauen Rock und dem sandbraunen Mieder und Oberteil aus dem Schrank. ,,Wenigstens einmal kann der alte Danner großzügig sein. Komm und zieh es an, damit ich es abstecken kann“, wandte sie sich Marie zu, die immer noch schrecklich blass und eingewickelt in der Decke in ihrem Zimmer stand.

,,Wie so etwas bloß funktionieren kann…“ Ungläubig und vor der bevorstehenden Arbeit verzweifelt betrachtete sie Marie, als diese wenig später in ihrem alten, viel zu großen Kleid im Raum stand. Der Rock lag schon auf den Dielen. Ihre Ärmel waren viel zu lang, hingen ihr schlaff über den Händen, Mieder und Oberteil saßen an ihr wie ein Sack.

Anna hob an, um noch etwas zusagen, ließ es aber dann doch bleiben, als hätte sie es sich anders überlegt. Stattdessen schob sie sich Nadeln zwischen die Zähne, faltete den Rocksaum mehrmals und steckte ihn auf die richtige Länge fest. Dann fasste sie an ihrem Rücken das Oberteil und zog es zusammen, sodass vor ihrer Brut, wo man das Mieder knöpfen und schnüren musste, der Stoff wieder Spannung bekam. Nach dem Feststecken trat Anna vor sie, damit sie es im Gesamten betrachten konnte.

Marie sah an sich hinunter, zupfte am faltigen Stoff der Schulter, strich über den Rock. Noch vor zwei Tagen war sie in ihnen herumgelaufen. Nun fühlten sie sich an, wie die Sachen einer Fremden.

Bei dem zutiefst traurigen Blick ihrer Freundin strich Anna ihr über die Wange. ,,Wir kriegen das schon wieder hin.“
Ausdruckslos sah Marie zu ihr hinauf und fühlte, dass sie nicht nur das Kleid meinte.

Mit roten Wangen und etwas aus der Puste kam Hilda ins Zimmer, als Anna gerade das fertig abgesteckte Kleid auf dem Boden ausbreitete. Auf den Armen hatte sie alle möglichen brauchbaren Dinge zusammen gesammelt: Nähnadeln, Garn, Schnüre, eine Schere und sogar ein Maßband.

,,Ich denke, das wirst du brauchen.“

,,Perfekt. Danke.“ Sie kniete sich auf die Dielen vor das ausgebreitete Kleid. Hilda legte die Sachen neben ihr ab und beugte sich interessiert darüber.

Abseits von ihnen stand Marie, den Zipfel der Decke vor ihrer Brust umklammert. Tatendrang, wie die beiden, hatte sie nicht im Geringsten. Sie wollte sich die Decke über den Kopf ziehen und schlafen. Sie überlegte, ob sie wohlmöglich einen Kater hatte.

Ich vertrag‘ ja eh nicht viel. Obwohl…so viel hab ich doch gar nicht getrunken. Marie versuchte, sich daran zu erinnern, doch anstatt sich auf ihre Krüge zu konzentrieren, erschienen vor ihren Augen unvermeidlich Bilder von dem langen Abend und sie sah ihn... Der Schmerz nahm wieder zu, so hart, dass sie die Decke fest an sich drücken musste. Hör auf...hör auf, wiederholte sie im Geiste und verdrängte die schweren Erinnerungen an gestern, für die sie einfach nicht die Kraft hatte.

Mit der Gewissheit, dass sie eh nicht in der Lage war, ihnen auch nur in irgendeiner Weise eine Hilfe zu sein, wandte sie sich ab und schritt zum Fenster. Sie entdeckte Mel, die vor dem Haus auf der Wiese spielte. Ihr Kleidchen strahlte zwischen dem Gras. Marie beneidete sie. Sorglos, unschuldig, unwissend vom Schmerz den Liebe verursachen kann.

Sie hoffte, dass so etwas dem kleinen Mädchen in ihrem Leben

erspart bleiben würde. Ihr Blick fiel zu ihrem Spiegel, der links von ihr in der Ecke stand. Wie eine Schleppe schleifte die Decke über die Dielen, während sie näher trat.

Bleich war ihre Haut. Unter ihren roten, verquollenen Augen lagen dunkle, violette Schatten. Der Zopf lag völlig kaputt über eine Schulter. Blau-rot-lila zeichneten sich die Hemmatome vom rauen Küssen an ihrem Hals ab. Und so war Leiche das erste Wort, was ihr bei diesem Anblick in den Sinn kam. Marie wusste, wie diese aussahen und fand es als passender Begriff.

In ihrer Brust war eine Leere, die sich taub und kalt anfühlte.

Ein klaffendes Loch. Eine leblose Hülle.

Sie bemerkte die Schnur einer Kette um ihren Hals und holte einen rotbraunen Stein unter der Decke hervor. Als sich die Schere in den gekonnten Händen von Anna geräuschvoll ihren Weg bahnte, horchte und sah sie auf. Hinter ihr, einen Kopf höher, tauchte Hildas Gesicht mit den feinen Fältchen um die blauen Augen im Spiegel auf. Schwer legte sich ihre Hand auf ihre Schulter.

,,Ich kann versuchen, deinen Zopf neu zu machen“, sagte sie betont leise, so als wäre ihre Freundin ein Reh, welches sie nicht erschrecken wollte.
Andächtig fuhr Marie über ihr Haar, welches ihr Kili und Fili hergerichtet hatten, und fing wortlos an, die Haarbänder zu lösen. Sogleich bekam sie Hilfe. Jedes einzelne fühlte sich an, als würde ein Teil einer Kultur, die sie näher kennenlernen durfte, von ihr entfernt werden. Die dicken Strähnen wurden rausgezogen und auseinander gemacht, die dünnen, feinen Zöpfchen an den Seiten aufgeflochten. Wie von einer Zofe wurden ihr von Hilda zum Schluss die Haare gekämmt, bis sie wieder leicht gewellt um ihre Schultern fielen. ,,Sieht doch gleich viel besser aus“, meinte sie gut gemeint, doch Marie antwortete nichts.

Als Anna ihr Werk zu Ende gebracht hatte, begutachteten die Frauen sie kritisch von allen Seiten. Man sah ihr an, dass sie nicht zufrieden damit war. ,,Dass der Stoff am Bauch Falten schlägt, konnte ich leider nicht verhindern.“

,,Es fällt doch nicht auf, dass du davon so manches weg genommen hast“, argumentierte Hilda und stemmte ihrerseits zufrieden die Hände in die ausladenden Hüften. ,,Der Umhang und die Schürzen sind dir doch auch gelungen.“

,,Das ist nicht mit einem kompletten Kleid zu vergleichen.“

,,Wenn Marie es stört, kann sie ja ein Tuch drum binden oder einen Gürtel. Man muss modisch bleiben.“

Marie horchte auf. Sie ging zum Schrank, kramte darin, wobei sie neugierig von ihren Freundinnen beobachtet wurde. Schließlich fand sie das, wonach sie suchte: einen breiten Gürtel mit flachen Lederschlaufen und einer dicken, schlichten Schnalle. Erinnerungen kamen auf, als ihre Finger über das abgenutzte Leder fuhren.

 

~

 

,,Papa, was ist das?“

,,Ammenkraut“, antwortete er, zog die Sichel vom Gürtel und schnitt ein bisschen ab. Immer nur ein bisschen und nie alles von einer Pflanze, predigt er auf jedem ihrer gemeinsamen Streifzüge, sodass Marie ihm bereits nachsprechen konnte.
Fasziniert wiederholte sie leise und nahm sich fest vor, den soeben neu gelernten Pflanzennamen gut einzuprägen. Schnell eilte sie ihrem Vater durch das hohe Gras hinterher, das wie ein dichter Teppich im Tal lag. Etwas Schwarzes entdeckte sie zwischen den gelben Gräsern und hob es auf. Es war eine Rabenfeder, groß und glänzend schwarz. Sie drehte sie langsam und ein grün-blauer Schimmer wurde im Sonnenschein erkennbar. Dann sah sie zu den Berghängen hinter Dale.

,,Marie!“

Eilig lief sie zu ihrem Vater, der auf sie wartete.

,,Wo bleibst du denn?“

,,Ich hab die hier gefunden!“ Sie streckte die Feder zu ihm und Soren nahm sie aus ihrer Hand.

,,Die ist ja hübsch.“

,,Glaubst du, dass die von einem Erebor-Raben ist?“

,,Gut möglich.“ Er gab sie ihr zurück.

,,Ist es wahr, dass sie sprechen können?“

,,Man sagt es ihnen jedenfalls nach. Ich habe mich noch nie mit einem Raben unterhalten.“

,,Das wäre so toll, wenn sie mit mir sprechen würden! Wie ist es wohl, fliegen zu können? Oh, ich wünschte, ich könnte es auch.“

,,Ich fürchte, dass ist uns Menschen vergönnt“, beschwichtigte Soren sie und pflückte eine weitere Wiesenpflanze, die er in den Korb legte, den er über dem Arm trug.

,,Ich nehme die mit, damit ich sie Mama schenken kann.“

,,Sie wird sicher darüber freuen.“

Stolz grinste sie über ihren Fund. Dann fiel ihr Blick auf eine Pflanze mit roten Blüten. ,,Und was ist das?“
,,Feuerzahn. Bei der musst du vorsichtig sein. Wenn du sie angefasst hast, reibe dir nie in den Augen oder nimm nie die Finger in den Mund.“

,,Warum?“

,,Sie ist giftig. Schau dort!“ Er hockte sich neben sie. ,,Was ist das?“ Mit seiner Sichel wies er auf eine hochgewachsene, gelb blühende Pflanze.

,,Papa, das ist doch einfach! Das ist Honigschwanz.“

Er lachte. ,,Ich seh‘ schon. Du wirst mal eine ganz große Heilerin.“ Er legte seine große Hand auf ihren Scheitel und erhob sich wieder.

,,So wie du und Mama?“, fragte sie und schaute mit ihren großen, grünen Kinderaugen zu ihrem Vater empor.

Soren musste lachen. ,,Mindestens. Aber ich bin mir ganz sicher, du wirst noch besser werden. Ich denke, wir sollten jetzt zurück gehen. Deine Mutter wird sich schon fragen, wo wir bleiben.“ Damit packte der Mann das Mädchen an beiden Armen, bückte sich und hob sie hoch, sodass sie keine zwei Sekunden später glucksend auf seinen Schultern saß. ,,Festhalten.“ Soren nahm den Korb und fasste nach ihrem Fuß, damit seine Tochter nicht hinten überkippte.

Sie legte die Wange auf seine Haare und schlang ihre Hände um seinen Hals, ihre Feder dabei fest zwischen den Fingern. Zusammen gingen sie den Hügel hinunter. Vor ihnen lag der Weg nach Dale.

 

~

 

Marie legte sich den breiten Gürtel um, ließ ihre Finger darüber fahren. ,,Der hat meinem Vater gehört.“

Für einen Augenblick wurde es ganz still im Raum.

,,Weißt du, dass du ihnen unglaublich ähnlich siehst?“ Marie blickte auf und Hilda nickte. Ein sanftes Lächeln umspielte ihren Mund. ,,Sehr sogar.“

Nochmal musterte Marie sich im Spiegel, doch die Ähnlichkeit zu ihren Eltern konnte sie nicht sehen, konnte sich selbst nicht sehen. Das Spiegelbild vor ihr war ihr fremd und der Gedanke, dass es ihr Bild war, abstoßend. Sie schaute zu Boden, weil sie es nicht ertragen konnte zu sehen.

Anna trat zu ihr, legte die Arme um sie und schmiegten ihren Kopf an ihren. ,,Falls du irgendetwas brauchst, wir sind immer da. Wir lassen dich nicht alleine.“ Auch Hilda stellte sich ganz dich an ihre Seite.

Marie schaute auf und ihr Blick traf die ihrer Freundinnen. Blaue und braune Augen strahlten ihr entgegen und schenkten ihr Kraft und Geborgenheit, während die drei Frauen zusammen ihren Spiegelbildern entgegen blickten und aneinander festhielten.

 

~

 

Nachdem sie die sanften Hügel hinter sich gelassen hatten, wurde der Untergrund immer felsiger und sandiger, je näher sie an die zerklüftete Felskette kamen, die sich wie eine knorrige Wurzel eines Baumes vor ihnen aufgetürmt hatte.

Nun hatten sie sie erreicht und folgten einem Pfad zwischen Kiefern und Büschen. Beim Gehen spähte Bilbo nach vorne. An der Spitze konnte er Thorin erkennen, doch schon schob sich das breite Kreuz von Dwalin ihm in den Blick.

Er machte dicke Backen. Dieses Schweigen war nicht zum Aushalten. Auf ihrem bisherigen Weg hatten die Gefährten immer mal wieder geplaudert, manchmal sogar auf Khuzdul und dann hatte Bilbo gewusst, dass sie über ihn redeten. Gandalf konnte auch Khuzdul. Gibt es überhaupt irgendeine Sprache, die er nicht kann?, grübelte er. Hatte er das alles gelernt oder kann er das auf Anhieb, weil er nun mal ein Zauber ist?

Er war der einzige, der nur eine Sprache beherrschte – und auch noch die geläufigste. Und er war der einzige ohne Bart. Doch wenn der Hobbit so darüber nachdachte, war er insgeheim froh darüber, noch nicht einmal Flaum zu besitzen. Diese Arbeit und Hingabe, die teilweise die Zwerge in das Flechten steckten, glaubte er nicht aufbringen zu können. Außerdem würde ein langer Bart doch eh ewig stören. Beim Essen zum Beispiel.

Wenn er einen hätte, dann würde er ihn aller Wahrscheinlichkeit nach kurz tragen. Wie Thorin oder wie oder Kili. Naja, obwohl das ja eher Stoppeln sind. Er wusste, dass manche Menschenmänner sich jeden Tag rasieren konnten. Aber bei Kili hatte er bislang keine Veränderung feststellen können. Es schien als würden die Haare still stehen. Wachsen Bärte von Zwergen anders? Er nahm sich vor irgendwann mal Gandalf oder einen von ihnen darüber auszufragen.

Bilbo seufzte innerlich und zog Resümee: Also, ich bin der einzige ohne zweite Sprache… ohne Bart...und - ach ja! Ohne Schuhe. Er schaute auf seine großen, beharrten Hobbitfüße hinab und musste über seine ulkigen Gedanken schmunzeln.

Neben ihm streckte Nori die Hand in den Himmel und spreizte den Daumen ab. ,,Was machst du da?“, fragte er interessiert. Er nutze die Gelegenheit, endlich ein paar Worte zu wechseln.

Dem Zwerg schien es ähnlich zu ergehen. ,,Man kann so bestimmen, wann die Sonne untergeht. Man legte die Hand unter die Sonne, sodass der Zeigefinger ihren Rand berührt - so etwa - und zählt die Finger bis zum Horizont. Ein Finger sind fünfzehn Minuten.“

Neugierig machte er es ihm nach. Zwei Hände passten bis zum Horizont. ,,Zwei Stunden ungefähr?“

Nori nickte, rief dann laut nach vorne: ,,Wir sollten uns schon mal nach einem Nachtlager umsehen!“

Balin räusperte sich. ,,Der Felsüberhang da“, meinte er und zeigte auf diesen. ,,Der sieht mir Windgeschützt aus.“

 

Orangen schienen die Flammen auf ihren Gesichtern, als Dunkelheit und Kälte sie eingehüllt hatten. Hinter ihnen strahlte wohltuend die Wärme des Lagerfeuers vom Gestein ab. Wieder war es bedrückend still.

Sie hatten es sich ums Feuer bereits bequem gemacht und langsam legten sich nun alle nieder. Gandalf hatte seinen Hut ins Gesicht gerückt und schlummerte bereits tief und fest an einen Stein unter einer Kiefer gelehnt. Mit den Köpfen lagen die Zwerge auf ihren Rucksäcken, eingewickelt in ihre Umhänge. Die Flammen knackten und prasselten vor sich her. Irgendwo war das Rauschen eines Flusses zu hören, das aus einer Schlucht verstärkt zu ihnen hinauf kam.

Bilbo schob seinen Umhang zurecht, der ihm zusammengelegt als Kissen diente, und rollte sich in seiner Decke ein. Dann schielte er zu Thorin hinüber.

Dieser hatte seinen Mantel fest um sich geschlungen und blickte nun schon eine ganze Weile regungslos in den Himmel. Seine Augen waren halb geschlossen. Der Schein des Feuers auf seiner Gesichtshälfte, meißelte seine Gesichtszüge wie Stein.

Vorhin hatte Bofur den letzten Rest aus dem kleinen Kessel, der über dem Feuer gehangen hatte, ausgeschöpft und ihm hingehalten. Doch Thorin hatte ihn nur angesehen und den Kopf geschüttelt. ,,Wir hatten alle zwei, du nur eine“, hatte er es versucht, doch ohne ihm eine Antwort gegeben zu haben, hatte er unmissverständlich seinen Blick abgewendet, woraufhin Bofur nichts erwidert und Bombur, nach dessen hartnäckigen Betteln, die Schüssel gereicht hatte.

Nun warf der Hobbit auch einen Blick empor und sah die Sterne schwach zwischen Wolkenfetzten am Nachthimmel schimmern. Offenbar war ihre Stimmung genauso betrübt, wie die im Lager. Er seufzte innerlich und zog sich die Decke bis an die Ohren. Hoffentlich versprach der nächste Tag ein besserer zu werden…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2

 

 

Bilbo, Bilbo, wach auf!“ Jemand rüttelte an ihm und riss ihn unsanft aus dem Tiefschlaf. Zerknirscht schaute er an Bofur empor. Zwielicht im Osten kündigte gerade einmal den neuen Morgen an. ,,Bofur, es ist noch viel zu früh…“, nuschelte er und zog die Decke wieder hoch.

,,Wir müssen schleunigst hier verschwinden. Warge. Wir hörte ihr Geheul.“

Erinnerungsfetzten von der Brandschlacht in den Nebelbergen zuckten durch sein Gedächtnis und weckten ihn, wie kein Eimer kaltes Wasser es besser getan hätte. ,,Azogs Warge?“

,,Wahrscheinlich. Wir müssen sofort aufbrechen.“

,,Wie konnten sie uns finden?“ Bilbo sprang auf und Bofur zog nur die Schultern hoch. Er fing an, seine Decke aufzurollen und sein Umhang zusammenzulegen. Die Anderen packten bereits mit einer gewissen Hektik ihre Lager zusammen. Dwalin kratzte mit seiner Stiefelkante Erde und Kiefernnadeln über die erloschene Glut. Gegen den Geruchssinn der Warge jedoch war so gut wie jegliche Mühe, Spuren zu verwischen, hoffnungslos.

Mit raumgreifenden Schritten erschien Thorin im Lager. ,,Es kam von der anderen Seite der Schlucht.“ Die Gefährten blickten zu ihrem Anführer, der offenbar sein Schweigen abgelegt hatte. ,,Wir brauchen einen Späher.“

,,Äh, Bilbo, sei doch so gut“, wandte sich Gandalf an ihn.

,,Ich? Wieso ich?“

,,Hobbits sind bemerkenswert…“

,,Jaja, schon gut…“ Er stellte seinen Rucksack wieder ab und stapfte den Hügel zu ihrer Flanke hinauf. ,,Leichtfüßig und unscheinbar.“ Außer Sichtweite der anderen tastete er in die Tasche seiner roten Jacke. Es gab ihm irgendwie Sicherheit, den Ring nicht nur über seine Anwesenheit, sondern auch ihn an seiner Haut zu fühlen. Die Berührung löste wieder diesen Sog aus, den er auch verspürte, wenn er ihn angesteckt hatte - zwar nicht so intensiv, aber er war da. Es machte ihn nervös, wenn er nicht genau wusste, wo er war. Ihn am Körper mit sich zu tragen, gab ihm Sicherheit und Ruhe. Doch er würde noch etwas anderen brauchen als Ruhe: die Fähigkeit des Ringes, sollte tatsächlich er gleich auf die Wargmeute treffen. Bilbo schüttelte sich, als er an die Wolfsbären dachte, wie sie auch genannt wurden, und stapfte tapfer weiter.

Orks und Warge hatten ein Bündnis geschlossen. In manchen Clans lebten sie zusammen und profitierten voneinander. Es waren riesige, hochbeinige, aber auch intelligente Tiere mit großen Pfoten, spitzen Ohren und riesigen Zähnen, die alles fraßen – selbst ihre Verbündeten.

Zwischen Unterholz kam er auf eine Erhebung hinauf und lief geduckt die letzten Meter zu ein paar rundlichen Felsen hinüber. Über ihre Deckung hinweg spähte er auf die andere Seite.

Vor ihm lag eine Schlucht mit steil abfallenden Seiten. Auf deren Grund rauschte schäumendes Wasser im, von Kiefernästen beschatteten Flussbett entlang. Auf der Suche nach Anzeichen von den Orks sah er über die zerklüftete, durch die einsetzende Dämmerung nebelige Landschaft, doch etwas anders erregte seine Aufmerksamkeit. Ganz in seiner Nähe hörte er ein Schnauben. Bilbo drehte den Kopf und sein Blick fiel direkt auf ein riesiges, schwarzes Tier. Vor Schreck warf er sich mit dem Rücken gegen die Steine, horchte angestrengt. Das Tier schien ihn nicht bemerkt zuhaben. Er schluckte und stieß den angehaltenen Atem aus. Vorsichtig spähte er wieder hervor, um es sich genauer anzusehen. Es war ein riesiger Bär, dessen Brustkorb sich bei jedem Atemzug deutlich hob und senkte, während er in das Flussbett starrte. Bilbo folgte ihm und entdeckte sie. Azog und seine Häscher. Sie tränkten ihre Warge. Die dunklen Pelze ihrer blutrünstigen Reittiere und Fährtensucher waren gut getarnt. Nur das weiße Fell von Azogs Warg leuchtete im Schatten.

Bilbo spürte einen Eisklumpen im Magen, als er daran dachte, dass er mit gezogenem Schwert sich zwischen dieser Bestie und seinem Herrn und Thorin gestellt hatte, und wunderte sich nicht zum ersten Mal, dass er noch seinen Herzschlag spüren konnte.

Sie alle waren, nachdem sie die Bilwissstollen hinter sich gelassen hatten, von Azog und seinen Häschern eingeholt und auf einen Baum getrieben worden. Die Warge unter ihnen sprangen am Stamm hoch und zerbissen die Wurzeln. Sie konnten sie mit Feuer auf Abstand halten, doch der angeschlagene Baum kippte und drohte über eine Klippe zu fallen. Als sie alle ihrem sicheren Tod entgegenblickten, hatte Thorin sich erhoben, war seinem Feind allein entgegen getreten. Doch der Zwerg verlor diesen Kampf. Mit einem gewaltigen Schlag seiner Waffe streckte Azog ihn nieder und sein Wolf legte sein Maul um ihn. Bilbo hörte noch seinen Schrei, als Knochen ihm gebrochen wurden.

Thorin schlug mit seinem Schwert auf die Schnauze des Tieres und es schleuderte ihn durch die Luft. Er schlug auf Fels auf und blieb liegen. Schwer verletzt versuchte er an Orcrist zu kommen und Azog gab dem Befehl, ihn zu töten.

In diesem Moment hatte sich Bilbo selbstlos auf seinen Henker gestürzt, ihm sein Schwert in die Brust gerammt, während Thorin das Bewusstsein verlor. Bilbo wusste nur noch, dass er vom mächtigen Schädel zu Boden geworfen wurde, das weiße, stinkende Fell in der Nase, und dass Dwalin und die Jungs sich brüllend zwischen die restlichen Orks und Warge gestürzt hatten, ehe aus dem Dunkelblau des Nachthimmels die Adler erschienen waren.

Wie, um alles in der Welt, konnten sie uns folgen?, dachte Bilbo und sah wieder hinüber zu dem Bären, der sie ebenfalls nicht aus den Augen ließ.

Die Warge nahmen ihre Köpfe aus dem Wasser, schüttelten sich und vertrieben diejenige knurrend, die ihnen zu nahe standen. Die Orks traten wieder zu ihnen und schwangen sich auf ihre Rücken. Bilbos Augen weiteten sich. Er musste sofort die anderen warnen.

Tief geduckt löste er sich von seiner Position und rannte zurück. An der Hügelflanke traf er wieder auf die Zwerge und Gandalf, die schon ungeduldig auf ihn gewartet hatten.

,,Wie nah ist die Meute?“, fragte Thorin gleich.

,,Zu nah“, keuchte Bilbo, als er die letzten Meter hinab eilte. ,,Ein paar Wegstunden vielleicht, wenn sie über die Schlucht wollen. Mehr nicht. Und es kommt noch schlimmer.“

,,Haben die Warge uns gewittert?“, fragte Dwalin.

,,Noch nicht. Aber das werden sie. Wir haben noch ein Problem.“ Die Zwerge traten näher.

,,Wurdest du gesehen?“, fragte Gandalf hinter ihm, sodass er sich umdrehte. ,,Du wurdest gesehen.“

,,Nein, das ist es nicht.“

,,Ach, was hab ich euch gesagt?“ Ein erleichterter und auch gewisser stolzer Ausdruck legte sich über seine Züge. ,,Mucksmäuschenstill. Einem Meisterdieb angemessen.“

Manche Zwerge lachten.

,,Würdet ihr bitte mal zuhören!“, zischte Bilbo laut, sodass sie sofort verstummten. ,,Ich versuche, euch zu sagen, dass da oben“, er zeigte mit dem Finger hinauf, ,,noch etwas anderes ist.“

,,In welcher Gestalt?“, fragte Gandalf langsam, dessen Gemüt sich schlagartig geändert hatte. ,,Die eines Bären?“

,,J-ja.“ Erstaunt blinzelte Bilbo. Woher wusste er das schon wieder? Schon seit geraumer Zeit hatte er beschlossen, sich darüber nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, doch er fiel immer wieder darin zurück. Dieser Zauberer war ein einziges Geheimnis. ,,Aber größer, viel größer.“

,,Ihr wusstet von dieser Bestie?“, mischte sich Bofur ein, doch der Zauberer wandte sich ohne eine Antwort ab. ,,Ich sage, wir machen kehrt.“

,,Um von Orks geschnappt zu werden?“, fragte Thorin ungehalten.

,,Es gibt ein Haus“, sagte Gandalf. ,,Es ist nicht weit von hier und dort könnten wir Zuflucht suchen.“

,,Wessen Haus?“, fragte Thorin düster. ,,Freund oder Feind?“

,,Weder noch. Er wird uns helfen oder uns umbringen.“

,,Haben wir eine Wahl?“

In diesem Moment zerriss ganz in ihrer Nähe ein gewaltiges Brüllen die morgendliche Stille. Alle fuhren herum, blickten den Hügel hinauf. ,,Nein“, antwortete Gandalf.

 

~

 

Licht strömte durch das Fenster, flutete den Raum. Ein neuer Tag war bereits angebrochen.

Verzweifelt versuchte sie sich noch für ein paar Minuten dem Licht zu entziehen, würde sich am liebsten verstecken. Die Sonne schien direkt durch das Fenster. Ihr Schein lag auf ihrem Gesicht, weshalb sich Marie ergab und die Augen auf schlug. Arme und Beine schwer wie Sandsäcke, schleppte sie sich aus dem Bett. Im Nachthemd bekleidet ging sie die Treppe hinunter und eine tiefe, unsagbare Traurigkeit überkam sie.

Niemand wartete unten auf sie. Niemand hatte den Frühstückstisch reichlich und verschwenderisch gedeckt. Vor dem Kamin lagen keine Rucksäcke, keine Umhänge. Nur ein Stapel Decken lag zusammengelegt auf dem Boden. Auch die Bank in der Senke, unter dem breiten Fenster war leer. Kein warmer, kuscheliger Mantel lag darauf.

Die Tür zum Nebenzimmer stand auf. Die beiden Betten waren leer, die Decken sauber zusammengefaltet, so als hätte nie jemand darin gelegen und um sein Leben gebangt. Als wären sie nie da gewesen.

Man hätte meinen können, dass Marie das alles nur geträumt hatte und doch; der Boden zeugte von ihrer Anwesenheit. Hellere, große Stiefelabdrücke mit ein paar kleinen Lehmkrümeln dazwischen zeigten, dass es die Wirklichkeit gewesen war.
Wie betäubt durchquerte sie den Raum und setzte sich an den Tisch. Eine ganze Weile blieb sie einfach nur sitzen und versuchte, das Geschehene zu verarbeiten. Keine Geräusche drangen zu ihren Ohren. Stille. Absolute Stille, die schon fast gespenstisch wirkte, bei all dem, was sich in den letzten Tagen hier in ihrem Haus abgespielt hatte. Doch durch die Stille ihrer Einsamkeit hallten von allen Seiten die Erinnerungen daran. Alte und neue Gefühle.

Wie hatte sie bloß den gestrigen Tag überstanden? Bruchstücke setzten sich vor ihrem Auge zusammen. Sie stützte den Kopf in die Hände. Ihr ging es immer noch elendig, obwohl das noch untertrieben war. Sie überlegte, ob sie nicht doch einen Kater hatte. Aber so viele Runden Bier waren es nicht gewesen und sie hatte ja noch nicht einmal alle mitgetrunken, oder doch?

Der Schnaps... Marie erschauderte. Das war das schrecklichste gewesen, was sie in ihrem ganzen Leben getrunken hatte. Das Gesöff machte seinen Namen alle Ehre. Einmal und nie wieder.

Es hatte so viel Spaß gemacht, mit den Zwergen zusammen zu sitzen. Die Geschichten von ihnen waren einmalig gewesen. So viel gelacht hatte sie schon lange nicht mehr. Doch alles fröhliche, heitere war nun aus ihrem Körper gewichen.

Der gestrige Morgen holte sie ein. Sie sah die Gefährten vor ihrem Haus stehen. Alle von ihnen waren ihr sofort ans Herz gewachsen. Jeder hatte eine eigene Persönlichkeit, die sie alle sympathisch machte. Jeden einzelnen mochte und vermisste sie. Einen der Männer vermisste sie jedoch sehnlichst.

Sie sah Thorin langsam auf sich zu schreiten und ihr Herz verkrampfte sich qualvoll. Er umarmte sie, küsste sie mehrmals, versprach ihr wieder zu kommen…doch dafür gab es keine Gewissheit.

Warum hat er das nur gesagt? Er weiß es doch nicht… Wieder war Marie zum Weinen zumute, doch keine einzige Träne fand den Weg aus ihren Augen. Wie leer schienen sie zu sein, schmerzten auch, als wollten sie auf ihre Qualen aufmerksam machen. Verständlich. Wie viel Tränen hatte sie die letzten Tage gekostet?

Als sie den Kopf wieder hob, entdeckte sie ein Blatt Pergament auf der andere Seite des Tisches liegen. Marie steckte sich nach dem und zog es zu sich.

Bin im Stall. Hilda.

Komm heute Mittag zu mir. Hilda.

Innerlich seufzte sie. Eine Zeit lang saß sie noch so am Tisch, die Nachricht in den Händen. Irgendwann raffte sie sich zusammen, legte sie beiseite und ging die Treppe wieder hinauf. Auf ein Frühstück konnte sie gut und gern verzichten. Sie würde eh nichts runter bekommen und eine anständige Mahlzeit war bei der Auswahl in ihrer Kammer nicht wirklich machbar.

In ihrem Zimmer legte sie sich ihr Kleid heraus, das umgenähte von Anna. Ihr fiel auf, dass sie immer noch die Kette ihrer Mutter trug und Marie fand, dass es an der Zeit war, sie wieder abzulegen. Sie verstaute den Stein sorgfältig wieder an seinen Platz und griff dann nach ihrer Haarbürste. Eine Ewigkeit musste sie ihr langes Haar bürsten, um es zu entwirren. In das tägliche Prozedere eingetaucht, drehte sie sich ihrem Spiegel zu und die Hand, die die Bürste hielt, sank.

Ihr gegenüber stand wieder diese blasse Gestalt, sah sie mit grünen, glanzlosen Augen an. Marie erinnerte sich, dass es mal eine Zeit gab, wo es gestrahlt hatte. Sie trat näher und ließ die Fingerspitzen über ihre sündig malträtierte Haut fahren.

Die waren ihr geblieben. Die Spuren der Nacht, in der sie und Thorin sich geliebt hatten. Leidenschaftlich. Doch vergänglich.

 

~

 

Die Kiefern wechselten zu Laubbäumen, als sie die Bergkette verließen. Sie kamen in eine flache Ebene und an einen Bach, der vom Fluss gespeist wurde. Das Wasser spritzte hoch auf, als die Männer hindurch rannten.

,,Lauft!“, rief Gandalf. ,,Eilt euch!“

Die Blätter in diesem Waldstück färbten sich erst seit Kurzem. Der Boden war übersät von Sonnenflecken, die hell durch das Geäst fielen. Hinter ihnen hörte sie das näherkommende Brüllen des Bären, doch nun hatte sich neue Laute hinzugefügt.

Sie blieben stehen, fuhren herum. Das Geheul der Warge. Man hatte sie gefunden.

,,Hier entlang! Schnell!“, wies Gandalf an.

,,Lauft!“, schrie Thorin. Er sah, dass Bombur immer noch stehen blieb, sich nicht von der Stelle rührte, die kleinen, runden Augen weit aufgerissen. ,,Bombur, komm!“ Er packte ihn an seiner dicken Bartschlaufe und zog ihn mit sich.

Der Wald lichtete sich allmählich. Wiesen tauchten vor ihnen auf. Kili und Fili sprangen über Stämme und Steine, erreichten den Waldrand als Erste, Nori und Bifur dicht hinter ihnen. Dwalin packte Ori am Kragen und zog ihn mit sich über einen Stamm. Als sie vom schattigen Wald auf die Wiese kamen, blendete das ungehaltene Licht für einen Moment, doch dann erschienen mehrere Gebäude auf der anderen Seite, dazwischen und dahinter Bäume mit mächtigen Kronen, umgeben von einer Efeu bewachsenen Mauer.

,,Da, zum Haus!“, rief Gandalf, dessen Stimme noch rauer als sonst.

Dadurch, dass er Bombur mit sich ziehen musste, lief Thorin am Ende der Gruppe. Fest hielt er die Scheide von Orcrist in einer Hand. Der Rucksack über seinem Köcher schlug beim Rennen hin und her, während seine Stiefel fest und kraftvoll auftraten. Das Blut und der Wille zum Überleben rauschten von seinem schnellen, kräftigen Herzschlag in seinen Ohren, wurden durch seinen ganzen Körper gepumpt, der auf äußerste Spannung stand. Wenn sie sie auf offenem Feld einholten, hätten sie keine Chance. Entweder die Orks erwischten sie, wobei sie diesmal nicht lebend raukommen würden oder die Bestie tat es. Blieb die Frage, was der schlimmere Tod wäre.

,,Macht schon! Lauft!“, schrie er und sein Befehl verschmolz mit dem Geheul aus dem Wald. Da plötzlich nahm der dicke Zwerg vor ihm seine kurzen Beine in die Hand und überholte mit Todesangst im Gesicht alle anderen, die ihm nur ungläubig zuschauen konnten.

Zum Glück stand das Tor auf, durch das die Gefährten gerannt kamen. Es war riesig, so hoch wie drei Menschen. Gandalf stand schon dort, winkte sie hinein. ,,Los, rein mit euch!“

Ohne anzuhalten liefen sie weiter bis zum Haupthaus durch. Bombur konnte nicht so schnell bremsen und knallte ungehalten gegen die verschlossene Tür.

Auch Kili und Fili erreichten sie, hämmerten die Fäusten gegen das Holz. ,,Macht auf!“

,,Lasst uns rein! Lasst uns rein! Lasst uns rein!!“

Als Thorin Gandalf erreichte, drehte er sich um und ein riesiges, schwarzes Tier brach brüllend durch die Bäume, sodass ihre Blätter nieder regneten. Mit großen Sätzen kam es auf sie zu.

,,Öffnet die Tür!“, rief Gandalf. Die Zwerge hauten immer noch dagegen. Thorin drängte sich nach vorne durch, reckte den Arm zu dem in der Panik unbeachteten Riegel und legte ihn um. Die Tür schwang auf und die Männer hechteten hinein.

,,Rein, rein, rein!!“

,,Los!“

,,Macht die Tür zu!!“ Es gab einen Schlag. Das Holz ächzte und der massige Kopf des Bären schob sich durch die beiden Türhälften. Die Zwerge wurden über ihre Stiefelsohlen zurück geschoben. Erneut warfen sie sich dagegen, drückten lautstark aus Leibeskräften. Der Bär brüllte. Lange Eckzähne, umwoben mit Speichelfäden kamen zum Vorschein. Seine große, schwarze Nase glänzte. Vereint stemmten die Männer sich gegen das Holz, schafften es zusammen, den Balken von innen vor zu schieben. Dann war die Tür zu und langsam kehrte Ruhe ein. Jeder rang nach Atem.

,,Was ist das?“, fragte Oin zwischen zwei japsenden Atemzügen und drehte sich nach Gandalf um.

,,Das ist unser Gastgeber.“

Alle schauten ihn an, als wäre er von Sinnen.

,,Sein Name ist Beorn“, verkündete er, sah dabei durch die Runde der fassungslosen und keuchenden Männer. ,,Er ist ein Hautwechsler. Manchmal ist er ein riesiger, schwarzer Bär, manchmal ein großer, starker Mensch. Der Bär ist unberechenbar, aber dem Menschen ist mit Vernunft beizukommen. Jedoch… schätzt er Zwerge nicht übermäßig.“

Ein entferntes Brüllen drang zu ihnen.

,,Er verschwindet“, raunte Ori.

,,Komm weg von der Tür.“ Dori zog ihn zu sich. ,,Es ist nicht natürlich, nichts davon. Es ist offensichtlich. Ein dunkler Fluch liegt auf ihm.“

,,Seid nicht töricht“, tadelt Gandalf ihn. ,,Der Zauber ist ein Teil von ihm, so wie der Bart in Eurem Gesicht einer von Euch ist. Nun denn… Hier seid ihr heute Nacht sicher.“ Als die Gefährten sich bereits im Haus verteilten, um sich umzusehen, raunte er fast flüsternd: ,,Hoffe ich jedenfalls.“

Thorin sah ihm nach, seine letzten Worte wohl gehört, und atmete dann tief aus. Er sah, dass Bilbo immer noch zitternd sein kleines Schwert Stich gezückt hatte und ein amüsiertes Schnauben entfuhr ihm. ,,Ihr könnt Euer Schwert jetzt wegstecken, Meister Beutling.“ Er blinzelte und tat dies auch eilig. Thorin legte seine Sachen ab und schaute sich ebenfalls in dem Haus um, das eher einem Stall gleichkam. Links und rechts wurde es durch große Balken gestützt. Er trat näher, ließ die Finger über das tragende Holz streichen. Kunstvoll waren Tiere, Pflanzen und Menschen in das helle Holz geschnitzt worden, das sich durch sorgfältiges Schmirgeln samtig anfühlte. Wer auch immer sie gefertigt hatte, es zeugte von seinem handwerklichen Geschick. Zwischen ihnen war jeweils eine Kuh angebunden. Sie hatten zotteliges, rot-braunes Fell und lange, gebogene Hörner.

Stroh raschelte überall, lag auf dem Boden verstreut. Ein sehr großes, dunkelgraues Kaltblut stand hinter der Kuh zu seiner Linken. Ein paar Ziegen liefen zwischen ihnen umher und verschwanden in einen rechts angrenzenden Raum. Thorin reckte den Kopf und sah, dass sich dort weitere geöffnete Pferche befanden. An deren Ende stand eine kleinere Tür offen.

Am Kopf des länglichen Haupthauses führten zwei Stufen hinauf. Auf der Erhöhung war ein breiter, erkalteter Kamin aus gemauertem Stein, davor ein riesiger Tisch, bei dem manche standen und sich neugierig umsahen. Daneben stand ein riesiger Sessel, auf dessen Armlehne ein Buch und eine Pfeife lagen. Alles in überdimensionaler Größe.

Ein Tier lebt mit Tieren zusammen…, dachte er misstrauisch, ließ noch einmal seinen Blick durch das Haus schweifen.

Lautlos war Dwalin zu ihm getreten, stand neben ihm auf der anderen Seite des Balkens.

,,Was denkst du?“, fragte Thorin, verschränkte wie er die Arme vor dem Bauch.

Sein Freund gab ein unverständliches Brummen von sich. ,,Wir sollten lieber den Tag nutzen und so viel Strecke wie möglich gut machen.“

,,Dann denkst du dasselbe wie ich. Dennoch haben wir keine andere Wahl, als hierzubleiben. Azog lauert draußen auf uns.“

,,Der Bär wird uns von hier vertreiben.“

,,Wenn der Bär uns wirklich töten wollte, dann hätte er es schon längst getan.“ Thorin legte etwas den Kopf schief, wies mit einem Nicken in die Richtung. ,,Da hinten steht eine Tür auf. Wenn er sich wirklich in einen Menschen verwandelt kann, könnte er so ist Haus kommen.“

,,Dann sind wir hier nicht sicher“, murmelte er und schielte abschätzend durch den Raum.

,,Nein, sind wir nicht. Aber vielleicht wird der Bär die Orks von seinem Grund und Boden fernhalten.“

,,Und uns dulden?“

,,Wir können nichts weiter tun, als abzuwarten. Stell Nachtwachen auf.“

Dwalin nickte. ,,Was zum… Mach, dass du wegkommst!“ Eilig machte er einen Schritt zur Seite, als die Kuh hinter ihm ihre Wange an seinem Rücken rieb.

 

~

 

Marie versuchte, sich mit der täglichen Arbeit abzulenken, was ihr auch ganz gut gelang. Sie molk die Tiere und mistete den Stall aus, was wirklich mal wieder nötig war. Als Entschuldigung gab sie ihnen die letzten Äpfel und Karotten aus ihrer Vorratskammer und ließ sie extra lange auf die Wiese. Von der Kuhmilch machte sie Butter. Etwas von der Milch brachte sie regelmäßig zu einer freundlichen, alten Dame, mit der sie eng befreundet war und die diese gegen andere Lebensmittel eintauschte. Doch in den letzten Tagen hatte sie keine übrig gehabt... Sie nahm sich vor, die alte Ginja zu besuchen, die für sie fast wie eine Großmutter war. Marie mochte sie sehr.
Anschließend machte sie noch eine Inventur ihrer Kräuter, Salben und Tinkturen. Als sie an die oberen Regale des Schrankes kommen wollte, hielt sie inne. Ihr Kräuterschrank ragte riesig vor ihr in die Höhe. Die oberen Regale schienen unerreichbar zu sein.

Sie biss sich auf die Lippe. Ich hoffe, dass wirst deine Entscheidung nie bereuen wirst..., hallte plötzlich Gandalfs Stimme und dann hörte sie ihre eigene. Nein, niemals.

Und für einen Augenblick lang fragte sie sich, ob es wirklich die richtige Entscheidung gewesen war. Sie hatte es für ihn, für sie getan. Für ein Leben mit ihm. Ein Leben, das ohne durch die von den Größenunterschied verursachten Barrieren gestört sein würde. Sie hatte sich dieses Leben erhofft und ausgemalt, doch die Realität sah nun ganz anders aus. Waren es nur Traumgedanken, Traumwünsche gewesen? Wenn sie sich wiedersehen, dann würde dieses Leben beginnen. Dann, ja dann…

Doch was war, wenn nicht? Dann würde sie allein in einer Welt stehen, die viel zu groß für sie war, weil eine ganz bestimmte Person nicht mehr auf ihr weilte.

Diese Ungewissheit über die Richtigkeit ihres Wunsches durchbohrte sie in diesem Augenblick und hinterließ ein Gefühl der Reue. Marie sah zu der Bank, fasste sie, schob sie vor, raffte ihren Rock und stieg darauf. Der Schritt hob sie fort von den Gedanken und brachte sie näher an alte Blickwinkel.

In dutzenden beschrifteten Holz- und Tongefäßen lagerten die verschiedensten Zutaten. Dann gab es andere, größere Gefäße mit Deckeln, in denen schon fertige Salben aufbewahrt wurden. Auf anderen Regalen an der Wand standen beschriftete Flaschen, die verschiedene grünliche, klare oder bräunliche Flüssigkeiten enthielten. An den Balken an der Decke hingen trockene Bündel Kräuter und in kleinen Körben Knollen oder Wurzeln. An die kam Marie nur heran, wenn sie sich auf den Tisch stellte, doch das war zu ihrer Erleichterung nicht nötig. Von dort, wo sie stand, konnte sie alles einigermaßen gut sehen.

Sie sah sich ihre Vorräte an, schaute in jedes Gefäß hinein, roch und befühlte die Pflanzenteile. Wenn sie noch etwas bräuchte, musste sie in den Wald und das in den nächsten Tagen. Der Winter würde dieses Jahr früh kommen. Die letzten Nächte waren schon ungewöhnlich kalt.

Als sie alles wieder verstaut hatte, war es immer noch nicht Mittag. Die Zeit schien still zu stehen, wollte einfach nicht vergehen. Kurzerhand füllte sie den kleinen Vorrat an Scheite neben der Mauer des Kamins auf und machte diesen sauber, stapelte neues Holz und Stroh zum Anfachen in die schwarz gefärbte Kuhle. Ein wenig Asche war ihr beim Raustragen auf den Fußboden gerieselt. Sie holte einen Besen und fegte ihr Haus aus, fegte den Dreck zur offenstehenden Tür...

Mit einem hölzernen Scheppern fiel der Besen zu Boden. ,,Nein!“, entfuhr ihr fast kreischend. Die dunklen, ordentlich verarbeiteten Bretter waren wieder sauber. Unachtsam hatte sie die Fußspuren weg gefegt. Die Abdrücke der Stiefel waren verschwommen, die Erdkrümel lagen als Dreckhäufchen an der Türschwelle. Zorn über sich selbst überkam sie.

Marie packte den Besen und fegte mit einem letzten Schwung das Häufchen Dreck aus der sperrangelweiten Tür und pfefferte den Besen gleich hinterher, als wäre er an allem Schuld.

Es fühlte sich fast wie Verrat an, als sie zuschaute, wie er durch die kleine Staubwolke scheppernd auf die Erde flog, die sich im Wind auflöste und die Spuren der Zwerge und gleichzeitig all ihre gemachten Hoffnungen mit sich trug.

An den Türrahmen gelehnt ließ sie sich auf die Schwelle nieder sinken, schlang die Arme um die Knie. Das Kinn daraufgelegt sah sie den Weg entlang. Oh, Thorin… Der Schmerz in ihrem Herzen nahm wieder an Größe zu. Das war erst der erste Tag ohne ihn. Nur ein Tag von vielen, die noch kommen werden.

 

Zur Begrüßung nahm Hilda ihre Freundin fest in den Arm. ,,Wie geht es dir?“

,,Ich komme schon klar.“

Hilda presste einen Moment lang die Lippen aufeinander. ,,Na, komm erst mal rein.“ Schon viele Jahre lang waren sie und ihr Mann Freunde der Familie, die zusammen mit ihren Söhnen im nächstgelegenen Haus zum Dorf hin wohnten.

Marie folgte ihr ins Esszimmer, wo am Tisch schon ihr Mann und ihre drei Söhne saßen. Fester zurrte sie ihren Umhang um ihren Hals. Sie sollten die Flecken nicht sehen.

,,Schön dich zu sehen, Marie“, sagte Gunnar freundlich, als sie sich nach der Begrüßung setzte. Er hatte dunkles Haar und einen Vollbart, der an der Oberlippe wieder mal gekürzt werden könnte. Seine dicken Augenbrauen und die tiefe Stirn verliehen ihm ein mürrisches Aussehen, was jedoch nur Schein war.

,,Danke für die Einladung.“

,,Nichts zu danken. Hilda hat mir alles erzählt.“

Marie senkte den Blick.

,,Wenn wir dir irgendwie helfen können, dann scheue dich nicht zu fragen.“

Sie zwang sich ein Lächeln auf. ,,Danke, das weiß ich wirklich zu schätzen.“ Es wunderte sie, dass sie Gunnar mal ohne Pfeife im Mundwinkel antraf. Er hatte sie eigentlich ständig angesteckt. Doch sie entdeckte die bekannte Pfeife hinter ihm auf einem Küchenregal liegen. Wahrscheinlich musste er sie zum Essen ausmachen. Der Tabak war nicht einmal ganz verbrannt. Der Geruch lag noch etwas in der Luft. Er roch anders als der der Zwerge…

,,So, Vorsicht!“ Mit einem weiteren großen Topf, der aufgetischt wurde, kam Hilda zu ihnen. Sie setzte sich neben ihren Mann und streckte die Hand zu Marie aus. Diese gab ihr ihren Teller.

,,Danke, nochmal.“

,,Du brauchst dich nicht zu bedanken. Das mache ich doch gerne.“

Oje. Marie schaute auf ihren Teller. Kartoffeln, Soße und Fleisch, dazu Sauerkraut. Hilda hatte sich mal wieder selber übertroffen und es zu gut gemeint. Die Portion war groß und sie eine leidenschaftliche Köchin, doch Marie hatte gar keinen Hunger. Da sie sie nicht kränken wollte, schnitt sie sich vom Fleisch ein Stück ab und schob es sich in den Mund. Bedacht kaute sie darauf rum und musste sich eingestehen, dass es köstlich war. ,,Schmeckt wirklich gut.“

,,Das freut mich.“

,,Danke, dass du mir gestern noch etwas zu Essen gebracht hast.“

,,Das war selbstverständlich für mich. Konntest du denn wenigstens gut schlafen?“

,,Ja, sehr. Vielleicht lag‘s ja auch am Beruhigungsmittel. Du hast schon eine Menge von mir gelernt.“

Sie errötete ein wenig. ,,Ach übrigens, ich hab beschlossen, dich morgen zu begleiten.“

,,Das geht schon. Ich werde die Sachen alleine tragen können.“

,,Darum geht es nicht.“ Ihre Stimme änderte sich, nahm einen sorgenvollen Ton an.

,,Es schwappt eine neue Gerüchtewelle durch Kerrt“, murmelt Gared. ,,Diesmal über dich.“

,,Ich kann mir vorstellen, was dich erwarten wird, besonders von den Marktfrauen“, fuhr Hilda fort, nachdem sie ihrem ältesten einen mahnenden Blick zugeworfen hatte.

,,Diese alten Weibsen!“, schnaubte Gunnar. ,,Was anderes als tratschen können die doch nicht.“

Auch ihr Mann erntete so einen Blick. ,,Ich hab ein schlechtes Gefühl, wenn ich dich da allein hingehen lasse.“ Sie fasste nach Maries Hand und drückte sie.

,,Außerdem könnte ein gefährlicher Typ im Dorf rumlaufen“, sagte Gunnar wieder. ,,Ihr Frauen solltet in der nächsten Zeit abends nicht alleine unterwegs sein.“

Gefährlicher Typ?

,,Vorgestern wurde Gonzo Wildbacher gefunden – tot.“

Alle Farbe wich aus Maries Gesicht. Ein eiskalter Schauer lief über ihren Rücken. Sie fasste mit einer Hand nach dem Stuhl, auf dem sie saß.

,,Man hat ihn in den Morgenstunden gefunden.“

,,Verprügelt, zwei gebrochene Rippen, ne' tiefe Stichverletzung im Bein und mit aufgeschlitzter Kehle. Hab’s mit eigenen Augen geseh‘n. Sah wahrlich nicht schön aus.“

,,Gared, solche Gespräche nicht am Tisch!“

,,Ja, Mutter.“

,,Gibt es eigentlich schon was neues?“, warf Ned, der zweitälteste dazwischen.

,,Nein“, erzählte sein Vater weiter. ,,Keine Hinweise auf den Täter.“

,,Ein Jammer. Er hat seine Arbeit gut gemacht. Der Meister war immer zufrieden mit ihm.“

Er war der Dreckskerl! Nicht Thorin!, würde sie ihm am liebsten an den Kopf brüllen, doch die blutgetränkten Pflastersteine schlugen ihr wieder vor die Augen und ihr wurde schlecht.

,,Hast du etwas davon mitbekommen, Marie?“, fragte Hilda ahnungslos. ,,Marie, oh, alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

,,Nein, es... Es ist schon gut“, stammelte sie. Ihr Magen zog sich zusammen. Und auf einmal sah sie sein Gesicht steil über sich, die Lippen zu einem zynischen Lächeln verzogen. Sie hielt es nicht aus, wie sie ihn in Schutz nahmen. Er war ein Monster. Warum sehen sie denn das nicht? War sie die einzige, die sein wahres Gesicht kannte? ,,Danke für das Essen, aber ich muss jetzt nach Hause.“

Hilda schaute auf ihren nicht angerührten Teller. ,,Aber, du hast ja noch gar nichts gegessen.“

,,Bitte, ich…“ Marie wollte und konnte es nicht erklären, nur noch von hier weg.

Zum Glück verstand ihre Freundin sofort, dass etwas nicht stimmte. ,,Warte, ich bring dich zur Tür.“ Eilig standen sie auf. Ohne einen Blick den anderen zuzuwerfen ging Marie. Das letzte, was sie jetzt brauchen könnte, war, dass jemand Verdacht schöpfte, sie hätte etwas damit zu tun.

An der Tür nahm Hilda ihr Gesicht in beide Hände. ,,Marie, was ist mit dir? Du bist leichenblass. Bitte sag es, wenn irgendetwas ist. Sonst mache ich mir Sorgen um dich.“

,,Das werde ich. Aber es ist besser, wenn ich gehe. Ich fühle mich plötzlich nicht wohl.“

,,Natürlich. Wir sehen uns dann morgen.“

 

Schnellen Schrittes ging sie den Feldweg entlang. Ihr Gemüt war aufgewühlt. In ihrem Kopf herrschte wieder einmal Chaos. Der Schmetterlingsschwarm in ihrem Bauch verscharrte währenddessen die toten Schmetterlinge, die den gestrigen Tag nicht überlebt hatten. Wo waren sie überhaupt die ganze Zeit gewesen?

Thorin hat mich gerettet. Wäre er mich nicht suchen gegangen, hätte Gonzo mich vergewaltigt, da bin ich mir sicher, und vielleicht sogar schlimmeres. Ja, definitiv. Ihm wäre alles recht gewesen, um irgendwie an mich ran zukommen. Am liebsten würde sie laut losschreien, dass er nicht der Unschuldige war, sodass alle es hören konnten.

Schon von Kindesalter an kannte sie Gonzo, musste mit ihm auf dem Weg hier her auskommen. ,,Sei nett zu ihm“, hatte ihre Mutter häufig gesagt, ,,er hat seine Eltern verloren.“

Damals hatte sie mit ihm Mitleid gehabt, doch nun verspürte sie kein Mitleid, keine Reue für das, was Thorin getan hatte.

Eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen. Schon seit sie denken kann, hatte Gonzo seine Annäherungsversuche bei ihr getan. Wie besessen war er von ihr gewesen, hatte ihre Abweisungen nie akzeptiert. Ekel stieg in ihr auf, als sie sich seine Worte ins Gedächtnis rief und für einen Moment spürte sie sogar seine Hand zwischen ihren Beinen... Schnell verscheuchte sie die Gedanken, wickelte sich ihren Umhang fester um und fing an zu laufen. Nie wieder müsste sie sich um dieses Schwein Sorgen machen. Sein Mörder…

Mörder… Dieses Wort klang zu grausam. Thorin war ein Mörder. Diese bittere Wahrheit musste sie schlucken.

Sie sah seine wutentbrannte und zugleich angsterfüllten Augen, als er in der Kneipe zu ihr stürzte und seinen weichen Blick, als er sie anschließend in seinen Armen hielt. Die Erinnerungen an ihre intimen Momente schmerzten am meisten.

Thorin war fort und sie allein. Sie hatte nichts mehr von ihm. Außer diese verdammten Flecken, korrigierte sie sich. Allein. Schon wieder. Wann hatten wir mal eine gemeinsame Zeit, wo wir zusammen sein konnten? Ich musste immer auf unser nächstes Wiedersehen warten. Wir haben Briefe geschrieben, doch noch nicht einmal die kann ich in meinen Händen halten. Marie schloss die Augen und sah die hohen Flammen aus ihrem Haus schlagen. Einige waren mehrere Seiten lang gewesen. Doch sie sind im Drachenfeuer untergegangen... Wie so vieles.

Nach dem Sommerfest waren sie ein Paar und konnten dennoch nicht zusammen sein. Beim Wiedersehen am Fluss waren sie für einen Sonnenuntergang vereint, am nächsten Tag für Jahre getrennt. Und nun, nach sechzehn Jahren hatten sie sich wiedergefunden und waren erneut vom Schicksal getrennt worden.

Ein grausamer Gedanke durchfuhr sie. Plötzlich stand Marie vor ihrer Haustür, starrte auf das Holz. Was ist, wenn ihnen vorherbestimmt war, dass sie gar nicht zusammen sein sollten?

Er ist König und ich… Sie zog den Schlüssel aus der Tasche ihres Umhangs, ließ die Hand jedoch vor dem Schloss sinken. Was bin ich?

 

~

 

Überall raschelte das Stroh in der Dunkelheit. Das Nagen und leise Quieken von Mäusen war zu hören. Thorin hatte seinen Mantel ausgezogen, lehnte daran gegen die Boxenwand des Pferdes. Im Haus war es trotz keinem Feuer durch die Körperwärme der Tiere angenehm warm. Von seinen Gefährten, die im Stroh lagen, hörte er gleichmäßige Atemgeräusche.

Die Nachtwache hatte nun er. Bis jetzt war alles ruhig gewesen. Lauschend horchte er in die Dunkelheit und ihre schemenhaften Schatten, während er den Daumen über das warme Metall des Anhängers seiner Kette streichen ließ. Leicht und glatt fühlte es sich an. Er konnte die geschwungenen Fenster fühlen.

Wenn er den Kopf zur Seite drehen würde, könnte er an dem Fell und rauen Innenfutter seines Mantels ihren Geruch vernehmen, der nur noch schwach an ihm hing. Er bildete sich ein, dass er immer schwächer wurde, wie die verblassende Nebelgestalt, die er auf dem Weg stehen gesehen hatte. Doch in seinem Kopf war sie immer noch klar und lebendig. Die gestrige Nacht hatte er wegen ihr kein Auge zumachen können. Seine Gedanken waren immer bei Marie gewesen und die Sehnsucht nach ihr hatte sein Herz nicht freigegeben. So wie auch jetzt.

Marie…ich bin bei dir..., murmelte er in Gedanken und hoffte seine Botschaft würde sie irgendwie spüren.

Auf einmal traf sein Blick den von Bilbo. Der Hobbit war noch wach, sah ihm zu. Thorin verengte die Augen, da knarzte plötzlich eine Tür. Beorn.

Tief duckte sich Bilbo ins Stroh hinein und Thorin fasste langsam nach Orcrist, das treu an seiner Seite lag. Die Hand fest um den Griff des Schwertes gelegt, wartete er. Seine Muskeln versteiften sich, bereit für eine Verteidigung, als er die Dielen erzittern spüren konnte. Seine Atmung verebbte.

Ein riesiger Mann mit wilden Haaren und Bart erschien im schattengefüllten Raum und blieb stehen. Eine gefühlte Ewigkeit blickte er in seine Richtung, machte keine Anstalten, näher zu kommen. Thorin zweifelte, ob er sie wirklich sehen konnte, da bemerkte er ein Funkeln in seinen Augen. Beorn wusste genau, dass sie da waren. Dann aber wandte er sich ab und verschwand aus seinem Blickfeld.

Thorin hörte eine weitere Tür knarzen und seine Schritte verschwanden. Er atmete lautlos aus, wartete und horchte noch einige Minuten angestrengt.

Die Stunden verstrichen und immer wieder nickte er ein. Die gestrige schlaflose Nacht forderte ihren Tribut und so fiel er schließlich in einen unruhigen Schlaf, träumte von riesigen Hörnern, Bären und smaragdgrünen Augen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3

 

 

Kräftige, wiederkehrende Schläge, mit einem metallischen Rasseln dazwischen hallten durch die offenstehende, in den frühen Morgenstunden entdeckte dritte Tür, zu den versammelten Zwergen.

Auf einer wackeligen Kiste stand Bofur und spähte durch die Scheiben eines unklaren, unförmigen Fensters. ,,Er ist riesig… und…furchtbar groß…Und sieht nicht besonders freundlich aus…“ Der Holzklotz splitterte beim Zerschlagen wie eine reife Frucht. ,,Und schlechte Laune hat er, glaub‘ ich, auch.“

,,Warum hauen wir nicht einfach ab?“, raunte Nori. ,,Einfach durch die Hintertür und weg.“

Dwalin baute sich vor ihm auf. ,,Ich laufe vor niemanden davon, Meister Nori...“

,,Wir müssen mit ihm verhandeln und gut mit ihm auskommen“, schlichtete Gandalf die aufflammende Diskussion. ,,Ohne Beorns Hilfe schaffen wir es nicht bis zum Wald. Wir werden immer noch gejagt.“

Mit noch Stroh zwischen den Locken und sich den Schlaf aus den Augen reibend, tauchte Bilbo zwischen Fili und Thorin auf.

,,Ah, Bilbo, da bist du ja. Nun, diese Angelegenheit braucht einen klugen Kopf. Wir müssen äußert vorsichtig sein. Die letzte Person, die ihn verärgert hat, wurde in zwei Teile geteilt aufgefunden.“ Rumsend spaltete die Axt einen Holzklotz.

,,Ich werde zuerst gehen und äh, Bilbo“, er krümmte den Finger, ,,du kommst mit mir.“

Etwas überrumpelt schaute dieser durch die Runde. Fili machte eine auffordernde Geste, woraufhin Bilbo auch zu Thorin schaute, der ihm jedoch mit einer Kopfbewegung klar verständlich machte, dass er folgen sollte.

,,Ist…ist das wirklich eine gute Idee? Sollte vielleicht nicht doch lieber Thorin gehen?“

Mit einem genuscheltem ,,Lieber nicht…“ wurde seine Frage abgewimmelt und Thorin legte mit verengten Augen den Kopf schief.

,,Der Rest von euch wartet hier und kommt nicht raus, ehe ich das Zeichen gebe. Ich denke, es ist besser, wenn ihr nicht alle auf einmal erscheint. Ach, und Bombur…“ Der dicke Zwerg kaute an einer Karotte, hatte ein Tischtuch ungeniert als Latz unter seinem Kinn gesteckt. ,,Ach, schon gut. Also, verstanden?“ Mahnend hob er den Finger. ,,Wartet auf mein Zeichen.“ Dann trat er mit Bilbo aus der Tür und ins Freie.

,,Und was ist das Zeichen?“, fragte Bofur am Fenster. Alle sahen ihn an. Keiner wusste eine Antwort darauf.

Sie positionierten sich dicht am Türrahmen und lauschten gespannt. Alle verhielten sich still und Gandalf und Bilbos Stimmen waren zu verstehen, als sie sich ihrem Gastgeber näherten. Gänse schnatterten auf.

,,Du bist nervös.“ Bilbos Stimme.

,,Nervös? Ach…“ Wieder wurde Holz gespalten. Gandalf räusperte sich. ,,Guten Morgen.“ Keine Reaktion, nur ein neuer, kraftvoller Schlag. ,,Guten Morgen!“, versuchte er es nochmal, lauter und beschwingter.

Die Axt verharrte in der Luft. ,,Wer bist du?“, sagte jemand rau, selbstsicher und auch trotzig. Die Stimme von Beorn.

,,Ich bin Gandalf, Gandalf der Graue.“

,,Nie von ihm gehört.“

Auf Thorins Gesicht bildete sich unwillkürlich ein Schmunzeln.

,,Ich bin ein Zauberer. Vielleicht habt Ihr von meinem Freund, Radagast dem Braunen etwas gehört. Er lebt nördlich im Grünwald.“

,,Was willst du?“

,,Einfach nur Danke sagen für Eure Gastfreundschaft. Ihr habt

uns letzte Nacht sehr geholfen.“

,,Wer ist dieser kleine Wicht?“, zischte Beorn plötzlich.

,,Oje.“ Bofur zog den Kopf ein und drückte sich die Nase an der Scheibe platt. Bilbo musste entdeckt worden sein.

,,Ah, das ist nur Meister Beutling aus dem Auenland.“

,,Er ist kein Zwerg, ist es nicht so?“

Natürlich ist er kein Zwerg…, dachte Thorin und war versucht, mit den Augen zu rollen.

,,W-nein, nein, nein!“ Belustigung schwang in Gandalfs Ton mit, als er ihn zu besänftigen versuchte. ,,Er ist ein Hobbit, ein Freund der Familie. Aus gutem Hause.“

,,Ein Halbling und ein Zauberer... Wie seid ihr hier hergekommen?“

,,Nun, das war so: wir hatten vor ein paar Tagen eine schlechte Begegnung mit Bilwissen in den Bergen und daraufhin…“

,,Warum sucht ihr die Nähe von Bilwissen? Keine sehr schlaue Idee.“

,,Ihr habt absolut recht, aber…“ Eigentlich hatte Gandalf die Hand als Geste der Beschwichtigung gehoben, doch Bofur sah dies anders.

,,Da, das Zeichen! Los.“

Sich seiner Sache sicher, rückte Dwalin seinen Gürtel zurecht und trat aus der Tür, winkte Balin im Vorbeigehen mit sich.

Sogleich erhob Beorn seine Axt, starrte knurrend den Zwergen entgegen, die aus seinem Haus traten, die Stufen hinunter stiegen und auf dem Pfad, der an der Hausseite vorbei zu dem Hackblock und dem Haufen aus gespalteten Scheiten führte, stehen blieben.

Doch nicht nur ihr Gastgeber, sondern auch Gandalf und Bilbo, starrten die beiden an und eine leichte Panik wurde auf den aschfahl werdenden Zügen des Zauberers erkennbar.

Seine Daumen harkte der muskulöse Zwerg in seinen Gürtel ein. ,,Dwalin“ Dann zeigte er zu seinem Bruder. ,,Balin.“

Um die Situation zu retten, wandte sich Gandalf eilig wieder an Beorn. ,,Ich hab wohl vergessen zu erwähnen, dass manche von unserer Gruppe… offensichtlich Zwerge sind.“

,,Zählst du zwei als manche?“

Gandalf stammelte etwas vor sich her, begann doch tatsächlich an den Fingern abzuzählen, während Bilbo ihn anstarrte und Bofur im Haus abermals zischte: ,,Los.“

Oin und Gloin erschienen, stellten sich zu Balin und Dwalin und machten eine Verbeugung.

,,Oh, Oin und Gloin. Noch zwei von unserer friedlichen Gemeinschaft.“

,,Was seid ihr? Ein wandernder Zirkus?“, zischte der Hautwechsler, seine Axt immer noch in beiden Händen, deren Länge die eines kleineren Menschen nahe kam.

Als Gandalf eilig und viel zu aufgesetzt lachte, verdrehte Thorin vollends die Augen.

Bofur gab das nächste Zeichen, doch als Ori zögerte, schob Dori ihn aus der Tür. Abermals stieß der Hautwechsler ein Knurren aus, das keinem nachgeahmten, menschlichen Ton ähnlich klang, sondern das Knurren eines wilden Tieres war. Er starrte zu der immer mehr werdenden Gruppe hinüber und seine breiten Nasenflügel bebten.

,,Ori u-und D-dori“, stellte dieser vor. ,,Zu Euren D-Diensten.“

,,Ich will eure Dienste nicht!“

Der arme Dori verschluckte sich fast an seiner Zunge.

,,Natürlich“, schritt Gandalf schnell ein, hob eine Hand, ,,wir haben verstanden“, und Bofur gab das nächste Zeichen, sodass Fili und Kili auf den Weg traten.

,,Oh, Kili und Fili. Die hab ich glatt vergessen.“

Polternd stolperten schließlich auch Nori, Bifur, Bombur und Bofur die Stufen hinunter. Letzterer riss seinem Bruder das Lätzchen vom Wanst ab und versuchte noch schnell, ein paar Krümel ungesehen fortzuwischen. Gandalf machte sich nicht mehr die Mühe, sich umzudrehen. Er konnte nur hoffen, aus dieser Sache irgendwie noch heil rauszukommen.

,,Das war’s?“, fragte Beorn gefährlich leise. ,,Sind da noch mehr?“ In diesem Moment trat Thorin aus der Tür und lenkte den Blick des Bären auf sich.

 

,,Also du bist der, den sie Eichenschild nennen“, murmelte Beorn, während er Fili nachschenkte, der, wie alle anderen, vor einem übergroßen Krug saß, und warf dem angesprochenen Zwerg einen kurzen Blick zu.

Beorn war ein riesiger Mann, überragte Gandalf um fast zwei Haupteslängen. Er hatte eine dunkelgraue Mähne, die sich über seinen Nacken zog und erst zwischen seinen Schulterblättern endeten. Lange, strähnige Barthaare und nach oben stehende Augenbrauen verliehen ihm zudem ein wildes Äußeres. Er trug lediglich eine Hose aus einfachstem, grob gewebtem Stoff, sowie Stiefel.

,,Sag mir, warum macht Azog der Schänder jagt auf dich?“

Nach dem schwierigen Aufeinandertreffen hatte er seine Arbeit beendet und im Haus ein wenig Essen aufgetischt. Nun saßen die Gefährten an dem riesigen, mit an den Ecken geschnitzten Bärenköpfen verzierten Tisch ihres - mehr oder weniger - Gastgebers. Inzwischen hatte Gandalf aufatmen können. Seine Gesichtsfarbe sah auch wieder gesund aus. Bofur musste sich eine ziemliche Standpauke von ihm anhören, hatte nur den Kopf einziehen können. ,,Törichter Zwerg“, hatte er letztlich in seinen Bart genuschelt und war davon gestapft.

Mit verschränkten Armen stand Thorin neben dem Tisch hinter seinen Neffen, angelehnt an einen der verzierten Balken. ,,Ihr wisst von Azog. Woher?“

,,Mein Volk war das Erste, das in den Bergen lebte, bevor die Orks aus dem Norden kamen. Der Schänder hat fast meine ganze Familie umgebracht. Doch einige hielt er sich als Sklaven, nicht zum Arbeiten. Zum Zeitvertreib.“

Thorin sah auf die eisernen Manschetten um seine Handgelenke, als Beorn um den Kopf des Tisches herum schritt. Einst hingen wohl Ketten daran, denn noch jeweils zwei Ringe hingen an den Ösen. Auch die wulstigen Narben auf seinem sonnengebräunten Rücken und den Armen gaben sein Schicksal in der Vergangenheit preis.

,,Hautwechsler einzusperren und sie zu foltern, schien sie zu belustigen.“ Er schenkte auch Ori nach.

,,Gibt es noch mehr wie dich?“, fragte Bilbo.

,,Einst gab es viele.“

,,Und jetzt?“, fragte er vorsichtiger hinterher.

,,Jetzt gibt es nur noch einen.“ Er stellte den Krug beiseite und ließ sich in seinem Sessel nieder. ,,Ich weiß von eurer Unternehmung.“ Seine aufmerksamen, immer abschätzenden Augen gingen durch die Runde. Niemand fragte nach dem Woher.

,,Ihr müsst den Berg vor den letzten Herbsttagen erreichen.“

,,Ehe der Durins-Tag zu Ende geht, ja“, bestätigte Gandalf.

,,Ihr habt nicht mehr viel Zeit.“

,,Darum müssen wir durch den Grünwald.“

,,Eine Dunkelheit liegt über diesem Wald.“ Beim Sprechen erschienen seine unteren, spitzen Eckzähne. ,,Von den Menschen dort wird er nur noch Düsterwald genannt. Grausame Wesen kriechen im Dickicht umher. Die Orks von Moria und der Nekromant von Dol Guldul haben sich verbündet. Nur in größter Not würde ich mich dort hinein wagen.“

,,Die alte Festung…“, murmelte der Zauberer. ,,Was ist dieser Nekromant, von dem Ihr sprecht?“

,,Ein Mensch, der sich in Schwarzer Magie versucht. Ein Hexenmeister, voll Zorn und Hass.“

Gandalf schien in tiefe Gedanken zu versinken. Diese Nachrichten beunruhigten ihn sichtlich. ,,Wenn Ihr das sagt, dann werden wir den Elbenweg nehmen. Der müsste noch sicher sein.“

Allein dieses eine Wort reichte, um in Thorin die Abscheu aufkeimen zu lassen. Er wandte sich vom Tisch ab.

Beorn gab ein tiefes Brummen von sich. ,,Sicher? Die Waldelben des Grünwaldes sind anders. Sie sind weniger klug, dafür gefährlicher. Aber was macht das schon“, fügte er hinzu, als wäre es das Belangloseste.

Thorin drehte sich um. ,,Wie meint Ihr das?“

,,In dieser Gegend wimmelt es neuerdings von Orks. Es werden stetig mehr und ihr seid zu Fuß unterwegs. Ihr erreicht diesen Wald niemals lebend.“ Beorn erhob sich und schritt langsam auf Thorin zu. Durch seine Größe musste er auf der Erhöhung, auf der der Tisch stand, den Kopf unter den Querbalken einziehen. ,,Ich mag keine Zwerge“, knurrte er, ,,sie sind gierig…und blind“, als er sah, dass Bofur eine Maus von seinem Arm strich, ,,blind für das Leben deren, die sie für geringer halten als sich selbst“, nahm er das zerbrechliche Tier in seine Hand. Nach wenigen Schritten stand Beorn vor ihm und Thorin verharrte regungslos.

Sein Finger strich behutsam über das Köpfchen des grauen Mäuschens. ,,Doch Orks hasse ich mehr.“ Er setzte das Tierchen wieder auf dem Tisch ab, wo es davon huschte. ,,Was braucht ihr?“

,,Pferde.“

,,Und du denkst, dass ich welche besitze?“

,,Habt Ihr. Ich hörte sie.“

,,Da scheinen deine Ohren dich nicht getäuscht zu haben, Eichenschild.“

 

~

 

Von ihrem sicheren Beobachtungsposten aus konnten Marie und Hilda den Markt sehen. Auf dem mittig gelegenen Platz standen in langen Reihen die zeltähnlichen Verkaufsstände. Man hörte die lauten Stimmen der Verkäufer, welche ihre Waren anpriesen. Kinder liefen lachend durch die Menschen und verschwanden zwischen den Zeltplanen.

Marie zog die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf damit ihr Hals verdeckt war. Ein ungutes Gefühl verknotete ihr den Magen. In der Kupfer Stube hatte sie weniger Unbehaglichkeit verspürt. Die Zwerge hatten so viel Selbstsicherheit ausgestrahlt, aber das Entscheidendste war, dass Thorin bei ihr gewesen war. Ihr schwarzer Krieger.

Doch nun war sie allein, unterstützt nur von Hilda, die aber genauso angespannt war, wie sie selbst. Und wenn Marie ehrlich war, dann war ihre Freundin keine große Unterstützung. Sie war eine liebenswerte und fürsorgliche Person, hatte etwas ganz Sanftes an sich, so als könnte sie keiner Fliege etwas zu leide tun. Sie war einfach nicht aus dem Holz gemacht für jemanden, der einem Mut machen sollte, aber Marie erkannte ihre Hilfe an. Denn alles war besser, als da alleine hinzugehen.

Sie wusste nicht, was sie erwarten könnte. Wie würde man auf sie reagieren? Insgeheim aber machte sie sich mehr Gedanken um die Marktweiber. Wie viel wusste die eingeschworene, kleine Gruppe mit den größten Mundwerken von dem Vorgefallenen? Im Dorf waren sie schon berüchtigt und wussten immer als erste, wenn etwas los war. Keiner, weder Mann noch Frau noch Kind war sicher vor ihnen und ihren haarsträubenden Spekulationen.

Kurz fasste Marie an den Lederbeutel an ihrem Gürtel, um sich zu vergewissern, dass sie ihr Geld hatte. Dann nahm sie ihren Korb, tauschte einen letzten Blick mit ihrer Begleiterin, ehe die Freundinnen den Platz betraten. Es fühlte sich an, wie der Weg zu ihrer Hinrichtung.

,,Vielleicht bemerken sie dich auch gar nicht...“, versuchte es Hilda optimistisch.

Pff! Schön wär’s. Kaum waren sie am ersten Stand vorbei gegangen, ertönte schon Gemurmel.

,,Schau mal, wer da ist...“

,,Tatsächlich...“

,,Da, die Heilerin...“

,,Ich denke, es ist das Beste, wenn du nicht darauf eingehst“, raunte Hilda und ging dicht neben ihrer Freundin, als wollte sie

sie irgendwie abschirmen.

Die Leute drehten sich zu ihnen um, sahen ihnen hinterher. Manche starrten regelrecht, andere schüttelten den Kopf, während sie sich zu ihrem Nachbarn wandten.

,,Haben die das mit ihr gemacht?“

,,Ich hab gleich gesagt, dass man denen nicht trauen kann...“

Warum konnten sie ihre überflüssigen Kommentare nicht für sich behalten? Marie zog ihre Kapuze tiefer ins Gesicht, ging einfach weiter. Nicht beachten, ermahnte sie sich selbst, doch es war schwer.

Kinder starrten sie unverhohlen an, zeigten mit dem Finger auf sie. ,,Schau mal, wie klein sie ist…“

,,Was ist mit ihr passiert?“

,,Komm, Hilda“, lenkte sie ihre Freundin hinter sich her.

Auf dem kürbisähnlichen Gesicht der Gemüsehändlerin breitete sich ein falsches Lächeln aus. ,,Was darf's denn sein?“, säuselte sie ihren Satz runter.

,,Einen großen Sack Kartoffeln und ein dickes Bündel Steckrüben“, sagte Marie und konnte gerade noch verhindern, sie anzufunkeln.

Die Verkäuferin musterte sie kurz und holte die beschriebenen Sachen hervor. ,,Jaja, für eine Frau alleine braucht man keine ganzen Kisten mehr, wie?“ Ihre dürre Nachbarin streckte aufdringlich neugierig den Kopf zwischen den Tischen zu ihnen. Die beiden kannte Marie. Sie gehörten zu den Marktweibern.

Wortlos wurden ihr die Münzen über den Tisch gegeben. Marie nahm ihren Korb wieder über den Arm und packte den Sack zusammen mit Hilda an. ,,Ich brauche noch Zucker, Mehl und Stärke. Dann können wir von ihr weg.“ Den Rest würde sie bei Ginja eintauschen.

Marie fühlte sich immer unwohler. Sie kannte die Leute alle beim Namen und die Leute kannten auch sie, doch nun spürte sie Ablehnung und Skepsis aus allen Richtungen. Es waren noch nicht einmal gemeine Sachen, die sie aufschnappte. Eigentlich wollte sie es nicht an sich heranlassen, doch es wurde immer schwerer.

,,Ist sie das?“

,,Ja...Armes Ding.“

Sie schaute niemanden an, sondern sah durch die Menschen hindurch, als wären sie Luft. Einfach weiter gehen. Es ist normal, dass sie über dich reden, wiederholte sie in Gedanken, doch spürte den Atemhauch der Schlangen im Nacken, die sich um solch einen Skandal, wie um ein Kaninchen balgen würden. Marie fühlte sich wie eben jenes Beutetier, das jederzeit in Fetzen gerissen werden könnte. Wäre irgendwo ein Erdloch gewesen; sie hätte sich darin verkrochen und die Erde über ihren Kopf gescharrt.

Als sie endlich an der anderen Standreihe angekommen waren, bat sie um Mehl und Hefe zum Brotbacken. Marie versuchte, keine Blicke über ihre Schulter zu werfen. Sie bemerkte das Zittern ihrer Hände, als sie die Münzen dem Verkäufer gab, und ballte die Faust. ,,Lass uns gehen, Hilda.“ Aber dazu mussten sie erst über den gesamten Platz zurück.

Und dann kam das, worauf sie insgeheim bloß gewartet hatte. Die Schlangen hatten sie gefunden.

,,Na so was… In der Kneipe noch wild gefeiert und jetzt ganz allein? Warst du ihnen nicht gut genug?“ Diesmal stand die Marktfrau nicht hinter einem Verkaufstresen, sondern schlenderte angriffslustig an ihr vorbei. ,,Oder hast du’s dir mit ihnen nett gemacht und sie dann laufen gelassen?“ Sie zwinkerte Kürbiskopf und Bohnenstange zu und trat hinter den Verkaufstand zu der letzten Verbündeten, die wie eine minderbemittelte Kuh grinste.
Der Schmerz stach Marie tief ins Herz. Wie kann man nur so gemein sein…

,,Willst du dir das wirklich gefallen lassen?“, sagte jemand vor ihr und Marie blieb wie angewurzelt stehen. Diese Stimme würde sie unter tausenden erkennen.

Weil sie ihren Blick zu Boden gerichtet hatte, sah sie zuerst nur seine Stiefel. Dicke Stiefel aus Leder und Eisen. Langsam hob sie den Kopf und traute ihren Augen nicht. Sie musste sich wirklich zusammenreißen, um nicht laut los zu kreischen. Falls dennoch presste sie schnell eine Hand vor den Mund.

Vor ihr, wie aus dem Nichts aufgetaucht, stand Thorin, die Arme vor sich verschränkt, die Augenbrauen zornig verengt.

Jemand rüttelte ihr an der Schulter. ,,Marie, ignorier sie. Komm weiter.“

,,Ich an deiner Stelle, würde jetzt da rüber gehen und ihr das hässliche Maul stopfen.“

,,Marie, hörst du nicht? Was ist denn?“

Hilda, siehst du ihn denn nicht?, dachte Marie fassungslos, unfähig irgendetwas zu sagen, und zugleich berührt von der rauen Schönheit dieses Mannes. Er beugte sich zu ihr und ihr Herz geriet aus dem Takt. Es konnte nur eine Einbildung sein, da war Marie sich sicher, doch sie hätte schwören können seinen Atem zu spüren, als dieser ihre Haut streifte und ihr ein Schild verlieh, schwer und aus Metall. ,,Worauf wartest du?“

Zorn und Rachelust kochten in ihr, ließen sie die Fäuste ballen. Ninak, Dwalins Frau. Als sie mitbekam, dass eine Zwergin ihn beleidigte, hat sie ihr eine verpasst… Das ist ganz ihre Art. Du musst jetzt selber stark bleiben, stark wie eine Zwergin…

Thorin, dicht hinter ihr, raunte in ihr Ohr: ,,Meine Zwergin.“

Mit funkelnden Augen drehte sie den Kopf und erkannte die boshafteste Schlange von allen. Rabia hatte dünnes, schwarzes Haar, schmale, verschlagen wirkende Augen und eine große Geiernase. Thorin hatte recht. Sie war wirklich hässlich.

Noch ehe Hilda reagieren könnte, ließ Marie alles fallen, stürzte in ihre Richtung und schmiss sich halb über den Tisch des Standes. Am Kragen ihrer Schürze packte sie sie, sodass die Frau erschrocken aufschrie. ,,Wie kannst du dir das Recht nehmen, so über mich zu reden?!“ Ihre Stimme war laut und vor Wut schrill. Thorins Schild umgab sie. Plötzlich wurde sie an der Hüfte nach hinten gezogen. Die Schürze glitt aus ihren Händen. Marie wollte sich aus Hildas Griff befreien, doch wurde von ihrer Freundin mit ungeahnten Kräften festgehalten. Der Umhang lockerte sich und ihre Kapuze rutschte herunter.

Ein Atemzug zur Erholung brauchte die verschreckte Händlerin. Doch dann starrte sie auf ihren Hals, bereit zum tödlichen Biss. Ein gehässiges Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. ,,Schaut mal, ihr Hals!“, rief Rabia als Rache extra laut, damit es so viele, wie möglich, hören konnten. ,,Hab ich’s nicht gesagt? Nett hat sich’s die kleine Schlampe mit einem gemacht!“

Die Blicke durchbohrten sie. Das Getuschel schwoll erneut an.

Schnell legte Marie ihre Hände auf die Flecken, mit denen sie gebrandmarkt wurde. Augenblicklich verflog ihre Wut und hinterließ nur ein blankes Schamgefühl. Sie sah zu Thorin, doch der Zwerg drehte das Gesicht weg und war einen Wimperschlag später spurlos verschwunden. Und mit ihm brach ihr Schild. Wie Scherben zerschellte es vor ihr in winzige Splitter.

Verzweifelt wünschte sie sich, der Erdboden würde sich unter ihren Füßen auf tun, sie verschlucken und nie wieder freigeben. Doch er tat es nicht.

,,Warum nur mit einem?“, mischte sich Bohnenstange ein. ,,Genug Auswahl hatte sie ja.“ Gelächter breitete sich unter den Ausrufen der eingeschworenen Gruppe aus, die sich mit jedem Schlag gegen Marie übertrumpfen wollte.

,,Vielleicht war das ja auch ihre Belohnung für ihre Dienste…“

,,Welche Dienste?“, fragte Rabia. ,,Die als Heilerin oder als ihre Hure?“

Marie starrte Rabia an und sah nichts anderes, als Boshaftigkeit und Triumph. Ihre Umrisse verschwammen vor ihrem Blick. Sie wollte weg, so schnell wie möglich einfach nur weg.

Heiß drückten sich bittere Tränen in ihre Augen, als sie sich aus Hildas Griff losriss. Ihr wurde etwas hinterher gerufen, doch sie konnte es nicht verstehen, wollte es auch gar nicht. So schnell wie ihre Beine sie trugen, rannte sie durch die Menschen und schaute nicht zurück.

Marie ließ das Dorf hinter sich, rannte ohne ihr Tempo zu drosseln den Feldweg entlang, bis zum Fluss am Waldrand. Mattgelbe Fensterläden leuchteten ihr entgegen, als wollten sie ihr den Weg weisen. Das war der einzige Ort, wo sie jetzt in Sicherheit war. Dort war niemand, der ihr wehtun, aber auch niemand, der seine Arme um sie legen könnte.

Erst nach mehreren Versuchen gelang es ihr, die Tür aufzuschließen. Sie stürzte herein, knallte sie hinter sich zu und riss den Riegel davor. Ein paar Sekunden hielt sie inne, ehe es aus ihr brach. Völlig aufgelöst ließ sie sich an der Tür zu Boden sinken und begann hemmungslos zu weinen. Ihre Hände fingen an zu zittern, dann allmählich ihre Beine. Ihr Herz kam nicht zur Ruhe, pochte immer noch spürbar in ihr, während sich auch gleichzeitig die Leere in ihrer Brust ausweitete.

Nach einer Weile pochte es jedoch auch an ihrem Rücken.

,,Ich bin es. Bitte, mach auf.“ Ihr Schluchzen erfüllte den leeren Raum und so dauerte es einen Moment, bis Hilda wieder sprach. ,,Bitte, mach doch auf.“

Marie öffnete nicht. Hilda würde die Einsamkeit und den Schmerz nicht aus ihr nehmen können, der sie in zwei Hälften zerrissen hatte und die erst wieder heilen würden, wenn der Mann, den sie liebte, zurückkehren würde.

Wie lange würde es noch so weh tun? Wie lange würde sie es ertragen müssen…ertragen können?

Das Zittern nahm an Stärke zu, kroch wie ein Schatten ihre Beine hoch. Marie zog die Knie an, schlang ihre Arme um ihren bebenden Körper und blendete die Stimme hinter der verschlossenen Tür aus.

 

~

 

Die Gefährten packten zusammen. Thorin bückte sich, um Bogen und Köcher aufzuheben und dessen Gurt umzulegen. Dabei fiel der Anhänger seiner Kette aus seinem Kragen. Der winzige Ring, der Anhänger mit Schnur verband, klirrte wie das Flüstern des Windes, so fein, sodass kaum einer es vernehmen konnte. Beorn ging an ihm vorbei, das konnte der Zwerg an seinen Schritten hören und spüren, bis diese abrupt stoppten, als hätte er etwas gehört. Mit einem wachsamen Blick aus dem Augenwinkel richtete sich Thorin wieder auf und sah den Hautwechsel, der wie gebannt auf die Kette starrte.

,,Woher hast du die?“

Instinktiv schloss Thorin die Faust um sie. ,,Ich wüsste nicht, was Euch das zu interessieren hätte.“

Seine Nasenflügel bebten, als er ein tiefes Knurren ausstieß, das ihn wissen ließ, dass der Bär sehr nahe an der Oberfläche lauerte.

Gandalf, der die Situation beobachtet hatte, trat näher. ,,Thorin, zeig sie uns.“

Er musterte seine Gegenüber, trat jedoch vor. Sie aber ihnen zu geben oder geschwiege denn abzulegen würde er niemals tun. Stattdessen öffnete er die Hand.

Gandalf, der die Kette zum ersten Mal zu Gesicht bekam, so wie auch Beorn beugten sich vor und sahen sie sich ungläubig an. In ihrer Nähe standen Bilbo und die Zwerge, sahen aufmerksam zu.

,,Woher hast du sie?“, wiederholte Beorn seine Frage.

,,Sie war ein Geschenk“, antwortete Thorin knapp.

,,Die Lyrif-Kette...“, flüsterte der Zauberer tonlos. ,,Nach Krieg und Jahrhunderten war sie verschollen gewesen. Thorin, wo hast du sie her?“

,,Marie gab sie mir.“ Was hat das alles zu bedeuten?

,,Und woher hat diese Marie sie?“

Thorin gefiel nicht, wie Beorn ihren Namen aussprach, doch er antwortete das, was er wusste. ,,Sie hatte sie von ihrem Vater geschenkt bekommen, der sie von einer Krämerin oder so etwas gekauft hat. Was hat es mit dieser Kette auf sich?“

,,Einst, vor einigen hundert Jahren, als im Königreich Forlindon ein erbarmungsloser Krieg wütete, ließ König Lyrif sie für sein einziges Kind anfertigen“, erzählte Beorn. ,,Er beauftragte einen Schmied, einen von meinem Geschlecht und als dieser den Anhänger schmiedete, wurde sie mit einem Bann gelegt.“

,,Was für ein Bann?“

,,Wird die Kette reines und aufrichtigen Herzens an jemanden weitergeben“, fuhr Gandalf fort, ,,so wird ihr Träger vor jedem Feind beschützt. Nun ergibt das Geschehene einen Sinn. Deshalb konnte ich dich also in die Welt der Lebenden zurück holen, nachdem du gegen Azog in den Nebelbergen gekämpft hast. Du hättest tot sein müssen und doch…“, er verstummte, nickte nachdenklich in seine eigenen Spekulationen versunken.

Thorin blickte ungläubig auf den Anhänger in seiner Hand. Er erinnerte sich noch genau an die Brandschlacht, an dem er den tot geglaubten Mörder seines Großvaters das erste Mal wieder sah und ihm nichts anderes, als den Tod gewünscht hatte. Beinahe spürte er die Zähne des Warges, als sein Fang sich um ihn legte. Er hatte gespürt, wie sein Schulterblatt brach. Er dachte, er würde sterben.

Ihm kamen seine selbst gesprochenen Worte wieder in den Sinn: Ich trage sie seit dem Augenblick an, an dem du sie mir gegeben hast. Du hattest recht. Sie ist wirklich ein Glücksbringer. Bis heute hat sie mich vor dem Tode bewahrt. Ich trug sie bei Smaugs Angriff, auf dem Schlachtfeld Morias, nur so konnte ich überleben, weil sie immer bei mir war…weil du immer bei mir warst. Und dann sah er Maries Gesicht vor sich. Ihre großen, mit Berührung erfüllten Augen, als er dies zu ihr sprach, sie danach küsste. Er hatte keine Ahnung gehabt – wahrscheinlich ebenso wie sie, was für ein bedeutendes Geschenk sie ihm in jener Sommernacht überreicht hatte.

Seine Finger strichen über das matte Metall. Wie kann es sein, dass so ein unscheinbares Ding so eine große Kraft besitzt?

,,Bewahre sie gut auf“, riss ihn Beorn verheißungsvoll, fast schon bedrohlich aus seinen tiefen Gedanken.

Als Antwort schob Thorin die Kette zurück in ihren Platz und blickte zu ihm empor.

 

Beorn machte die Pferde fertig und führte sie zum Wäldchen hinterm Haus, wo die Zwerge im Schutze der Bäume aufstiegen, wobei sie sich entweder gegenseitig halfen oder Baumwurzeln zu ihrem Vorteil nutzten. Manche mussten sich ein Pferd teilen. Bofur hinter Nori hielt das große Kaltblut am Zügel, welches für Gandalf bestimmt war. Bis auf dieses waren es allesamt schwarz-weiß gescheckte Pferde mit dichten, zweifarbigen Mähnen und Behang an den Fesseln. Sie waren nicht groß, jedoch stabil gebaut.

Thorin schwang sich auf sein Pferd und nahm die Zügel auf. Er sah zu Gandalf und Beorn, die immer noch abseits von ihnen standen und miteinander sprachen. Was und worüber könnte er nicht verstehen. Macht schon. Wir sollten keine Zeit mehr verlieren. ,,Gandalf!“ Der Zauberer sah zu ihm und Thorin drängte zum Aufbruch: ,,Die Zeit schwindet.“ Krähen flogen über die Bäume hinweg, durchbrachen mit ihrem lauten Krächzen die Luft. Thorin zügelte sein Pferd, das zu tänzeln begann, schaute zu den schwarzen Schatten empor, die über die Wipfel schossen. Etwas hatte sie aufgeschreckt.

,,Geht jetzt, solange es noch hell ist“, hörte er Beorn sagen. ,,Die euch jagen sind nicht mehr weit.“

Gandalf stieg auf sein Pferd und führte die Gruppe an. Im Trab ritten sie hinaus auf ungeschützte Wiesen. Die Schrittabfolgen waren bei Pferde länger, als bei Ponys. Thorin brauchte kurz, um sich den Takt anzupassen, doch sein Pferd ließ sich einigermaßen gut sitzen. Immer wieder schaute er sich nach Orks um.

Das todesbringende Geheul ihrer tollwütigen Wölfe war nicht zu hören. Doch sie konnten sich keinesfalls in Sicherheit wiegen. Sie waren dort draußen irgendwo.

Mit den Pferden kamen sie gut voran, doch er wollte so viel Zeit wie möglich gutmachen. Kurz warf er einen prüfenden Blick auf den Boden und die vorausgehende Strecke. Dann legte er ein Bein nach hinten, trieb vermehrt mit dem anderen. Das Pferd schlug mit dem Kopf. ,,Komm schon“, knurrt er und rammte dem Tier die Wade gegen den dicken Bauch, woraufhin es doch in den Galopp fiel. Er überholte Gandalf und die anderen folgten.

Wie seine Eskorte schlossen neben ihm Kili und Fili auf. Kili sah ihn schmunzelnd an. Fili hatte den Blick entschlossen nach vorn gerichtet. Ihr Onkel in ihrer Mitte tat es ihm gleich, hob stolz das Kinn. Fest saßen sie im Sattel, die Erben Erebors, und ihre Haare wehten wie ihre Standarten. Die anderen Pferde schlossen zu ihnen auf, bis das Donnern der Hufe eins wurde.

In diesem Moment bedauerte es Thorin von ganzer Seele, dass niemand eine Flagge Erebors herausholte und in den Wind hielt. Geschlossen galoppierten sie in lockerer Formation. Eine fünfzehn Mann starke Armee.

Die morgendliche Sonne hatte sich verzogen und dichte Wolken bedeckten nun den Himmel. Sie überquerten hügelige Wiesen und ließen Beorns Haus weit hinter sich. Vor ihnen erstreckte sich schon der Düsterwald.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4



Wie ein undurchdringlicher Wall türmten sich die riesigen, dicht stehenden Bäume vor ihnen auf. Sie ließen ihre Pferde durchparieren und kamen vor dem Waldrand zum Stehen. Die dunklen Äste trugen keine Blätter und in den mächtigen Baumwipfeln hingen nur noch vertrocknete oder verfärbte.

,,Jetzt weiß ich, warum sie den neuerdings Düsterwald nennen“, murmelte Kili und zog die Nase kraus. ,,Sieht ja nicht gerade einladend aus.“

Ein paar Bäume vor ihnen waren anders als die Umliegenden. Sie waren heller und glatter, standen in einem Kreis. Ihre wenigen Äste verliefen sich in abgerundeten Spitzen. Jedoch waren es bei genauerem Hinsehen gar keine Bäume, sondern so geschnitzte und bearbeitete Stämme, die Hirschgeweihen ähnelten. Ein Weg aus großen Steinen führte durch sie hindurch und hinein in den Wald. Elben…, dachte Thorin angewidert, als er ihre Werke sah, für die er absolut kein Auge hatte.

Gandalf warf seinen grauen Umhang zur Seite, stieg ab und ging auf diese Gebilde zu, während die Zwerge und Bilbo zurück blieben. ,,Das Elbentor. Hier beginnt unser Weg durch den Wald.“

,,Keine Orks zu sehen“, sagte Dwalin und stieg ab. ,,Das Glück ist auf unserer Seite.“

Gandalf erwiderte nichts. Er sah zu einer bewachsenen Erhöhung hinauf, aus deren Richtung sie gekommen waren. Vor dem grauen Himmel erschien ein Bär. Wachsam stand er auf der Kuppe.

,,Lasst die Pferde jetzt frei! Sie sollen zu ihrem Herrn zurück-kehren.“

,,Dieser Wald scheint irgendwie krank zu sein“, meinte Bilbo und sah zu den mächtigen Baumkronen hinauf. ,,Als wäre er von einem Leiden befallen. Gibt es denn wirklich keinen Weg drum-

herum?“

,,Nur wenn wir zweihundert Meilen nordwärts gehen“, antwor-tete der Zauberer und trat in den Kreis der Stämme ein, ,,oder zweimal so weit nach Süden.“ Zum Satzende hin wurde seine Stimme plötzlich leiser. Etwas schien seine Aufmerksamkeit erregt zu haben.

,,Gandalf?“ Schon verschwand er zwischen den Bäumen.

Verunsichert sah Bilbo ihm nach.

,,Meister Beutling, macht schon“, wies Thorin ihn an. ,,Nehmt eure Sachen vom Pferd und bindet die Zügel hoch.“ Er tat es bei seinem, sah dann abermals zu dem Hobbit mit den kupferfarben-den Locken und verdrehte die Augen. Unschlüssig stand dieser vor dem Kopf seines Pferdes und wusste offensichtlich nicht, was er mit den Zügeln in seiner Hand anstellen sollte.

Nicht nur, dass er sich gerade so auf einem Pferd halten konnte, nein, es schien, als hätte er von nichts eine wirkliche Ahnung.

,,Kili, hilf ihm.“

Der junge Zwerg nahm ihm die Zügel aus der Hand. Er verdrehte sie zu einer engen Kordel, machte sie in ihrer Mitte, wo sich eine kleine Schnalle befand, auf und fädelte sie in einem der Gebissringe ein, verschloss sie wieder. Die anderen hatten in der Zwischenzeit ihre Pferde schon laufen gelassen und so gab der dunkelhaarige Zwerg ihm einen Klaps und das Tier stürmte los, folgte seiner Herde, die bereits davon galoppierte.

Gerade machte Nori Gandalfs Tasche vom Sattel ab, da kam dieser schnellen Schrittes aus dem Wald geeilt. ,,Halt, mein Pferd nicht! Ich brauche es!“

,,Was?“

,,Willst du uns etwa verlassen?“, fragte Bilbo.

,,Ich würde es nicht tun, wenn ich nicht müsste.“ Auf einmal hielt er inne, wandte sich an den Hobbit. ,,Du hast dich verändert, Bilbo Beutling“, begann er sehr ernst. ,,Du bist nicht mehr der,

der das Auenland verlassen hat.“

Dadurch, dass Thorin und die anderen etwas abseits standen und ihr Gepäck weiter vorbereiten, konnten sie das Gespräch nicht verfolgen. Ungeduldig wartete er auf das Ende ihrer Unter-haltung. Wir vergeuden hier doch nur Zeit.

Endlich ging Gandalf zu seinem Pferd. ,,Ich erwarte euch am Aussichtsposten vor den Hängen des Erebor. Bewahrt die Karte und den Schlüssel gut. Geht nicht ohne mich in den Berg hinein“, sagte er an den Zwergenkönig gewandt. Dieser nickte.

,,Dieser Wald ist nicht mehr der Grünwald von Ehedem. Selbst die Luft in diesem Wald ist voller Sinnestäuschungen. Er wird versuchen, euren Geist in die Irre zu führen“, fügte er warnend hinzu, als er aufgestiegen war.

,,Unseren Geist in die Irre führen?“, wiederholte Bilbo. ,,Was soll das bedeuten?“

,,Ihr müsst auf dem Weg bleiben. Kommt nicht von ihm ab. Wenn ihr es tut, werdet ihr ihn nie wieder finden.“ Er wendete das Kaltblut und ritt eilig los. ,,Was auch kommen mag: bleibt auf dem Weg!“, rief er noch, bevor er außer Hörweite war.

Er würde uns nicht verlassen, wenn es nicht von größter Wichtigkeit wäre. Doch um seine Probleme sollten und können wir uns nicht scheren. Wir haben eine Mission. Thorin drehte sich um und ging voran. ,,Kommt. Wir müssen den Erebor erreichen, ehe die Sonne am Durins-Tag untergeht. Nur dann können wir die geheime Tür in den Berg finden.“

Die Männer gingen zum Elbentor und überquerten den Platz des Kreises. In seiner Mitte stand ein steinerner Tisch, überwachsen von Schlingpflanzen. Wie eine Wächterin stand eine Statue neben dem Weg. Die Elbe trug ein Diadem auf dem Kopf, der durch die Kapuze eines Umhanges geschützt wurde. Auch um sie hatten sich Schlingpflanzen gewunden.

Ohne ihr weitere Beachtung zu schenken, schritten die Zwerge an

ihr vorbei. Der Waldboden war bedeckt von einer dicken Laubschicht. Ein moderiger Geruch hing schwer in der dünnen Luft. Manche Bäume, deren Rinde fast schwarz war, sahen uralt aus. Ihre dicken, wuchtigen Stämme bezeugten ihr Alter. Hier und dort wucherten schleimige Pilze in den verschiedensten Formen an Stämmen oder zwischen den dicken, schwarzen Wurzeln, die Adern gleichkamen.

An der Spitze ging Thorin und schob mit seinen Stiefeln das Laub beiseite. ,,Hier geht der Weg weiter.“

,,Wie lange wird es dauern, bis wir die andere Seite erreicht haben?“, fragte Fili.

,,Wenn wir uns ranhalten, können wir es noch bis zum Dunkeln schaffen“, antwortete sein Onkel. ,,Etwas stimmt mit diesem Wald nicht, das sieht jeder. Wir sollten deshalb so schnell wie möglich hier wieder raus sein, ohne auf diese Wesen zu stoßen, von denen Beorn sprach.“

,,Ich hoffe bloß, wir stoßen auch nicht auf einen dieser Spitzohren“, murmelte der blonde Prinz. ,,Die kann ich jetzt gar nicht gebrauchen.“

,,Da bist du nicht der einzige“, meinte Thorin nur knapp.

,,Falls wir auf Elben stoßen sollten…Was dann?“, fragte Kili.

,,Dann kann ihr König mich mal ganz gepflegt an meinem beharrten Arsch lecken“, antwortete Dwalin trocken vor ihm.

Bilbo blinzelte mehrmals hintereinander.

,,Das ist kein König“, schnaubte Fili spöttisch. ,,Das ist ein arroganter, selbstgefälliger, egoistischer Sohn einer Hündin.“

Die Zwerge lachten und der Hobbit verdrehte die Augen.

Nur gut, dass Gandalf das nicht gehört hat… Er seufzte. Hoffentlich sind wir bald raus aus diesem Wald.


~


So abgeschieden das Haus am Waldrand auch war, so sicher war es auch. Es war ihre Festung. Weit weg vom Dorf konnte ihr niemand zu nahe kommen. Gerüchte und Gerede würden sie hier

nicht erreichen.

Die Schmach über ihre misslungene Gegenwehr wog schwer.

Sie hatte doch stark sein gewollt, so wie Ninak…Wieso konnte sie das nicht? Wie konnte ich denken, dass ich mich gegen die Marktfrauen stellen kann? Sie sind zu eng verbündet. Thorin.

Er hat mir diesen Mut verliehen. Sie hatte ihn gesehen, er stand vor ihr, doch er war nicht real gewesen. Was auch immer das gewesen war, es war so täuschend echt. Doch es hatte nichts genützt. Das Gerede und die Worte von Rabia, der Wortführerin, hingen immer noch in ihrem Kopf, wie zäher Honig. Nur dass sie nicht süß waren, sondern giftig und scharf.

Hilda war noch einmal da gewesen, hatte geklopft und nach ihr gerufen, gefleht sie möge aufmachen, doch Marie hatte ihr nicht geantwortet. Sie wollte niemanden sehen, mit niemandem sprechen. Ruhe hatte sie gesucht, um ihre Wunden zu lecken, hatte sich die Decken genommen, einige vor dem Kamin gelegt und sich dann mit anderen eingewickelt. Vorher hatte sie es noch irgendwie geschafft, sich aufzuraffen und ihre gekauften Sachen, die Hilda vor ihr Tür abgestellt und stehen gelassen hatte, hinein geholt.

Nun lag sie schon eine ganze Zeit vor dem kalten Kamin, dort wo auch die Zwerge geschlafen hatten, dick in die Decken eingewickelt, die sie ihnen am ersten Abend gegeben hatte und starrte auf die Kaminrückwand. Sie erwischte sich dabei, wie sie die Nase tief in die braune Decke drückte, die ihr als Kissen diente. Seine Decke. Sie roch immer noch nach ihm, so als wäre er immer noch hier. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein, denn sie war hochgeschreckt, hatte von hässlichen, zynischen

Fratzen geträumt. Hände haben sich nach ihr ausgestreckt.

Sie war gerannt, immer schneller, doch war nicht von der Stelle gekommen. Sie hatte nach Thorin geschrien, doch ihre Rufe waren ungehört geblieben. Dann hatten die Hände sie gepackt…

Die Erinnerung an ihrem Albtraum ließ sie schaudern. Um ihr

gepeinigtes Herz zu schützen, rollte sie sich ein und zog die Decke über den Kopf.


~


Der Elbenweg führte an bodenlose, mit Nebel verhangene Schluchten vorbei, über Brücken aus riesigen, umgestürzten Bäumen oder an scharfe, verschlungene Kurven entlang. Kein Sonnenlicht schaffte es durch das braune, hoch oben gelegene Blätterdach zu dringen. Wenn wieder einmal der Laubteppich zu dicht war, klopften sie mit ihren Waffen auf den Boden, um die Steine des Weges wiederzufinden. Dicke Stränge aus Ranken hingen ab und an zu Boden, die sie beim Durchgehen beiseite drückten. Je tiefer sie in den Wald vordrangen, desto schlechter wurde die Luft.

Thorin kniff die Augen zusammen. Helle Punkte schwebten zu Boden, sahen aus wie Staubteilchen und wirbelten als solche auch zur Seite, wenn sie durch sie hindurch gingen.

Der Weg führte auf eine kleine Erhöhung hinauf zu einem Fluss. Bofur machte dicke Backen, als sie sahen, dass die darüber führende, steinerne Brücke in ihrer Mitte eingestürzt war. Ihre Reste ragten nur noch über dem Wasser, über dem Nebeldunst lag. ,,Wir können durch schwimmen“, schlug Bofur vor.

,,Hast du nicht gehört, was Gandalf sagte? Eine dunkle Macht liegt über diesem Wald. Das Wasser dieses Stroms ist verseucht. Wir müssen einen anderen Weg zum Überqueren finden.“ Thorin trat näher an das Ufer, sah auf das Wasser. Es stand still. Blätter schwammen modernd auf der Oberfläche. Hier und da blubberte es, wie in einem Hexenkessel. Niemals würde er hier einen Fuß reinsetzen.

,,Die hier sehen stark genug aus.“ Kili angelte nach einer der Ranken, welche über den Fluss hingen und wollte sich gerade an sie zu hängen.

,,Kili!“, rief ihm sein Onkel zurück. ,,Wir sollten den leichtesten vorschicken.“

Als hätten alle den gleichen Gedanken gehabt, drehten sich die Zwerge nach Bilbo um. Dieser wollte vergeblich etwas entgegen setzen, doch schloss den Mund wieder.

Und so standen die Zwerge am Ufer und schauten zu, wie Bilbo sich mühsam und unelegant über den Fluss hangelte. Die Pflanzen ächzten gefährlich.

,,Sollten wir ihm nicht irgendwie helfen?“, fragte Ori.

,,Nee…“, kam die Bemerkung im Chor.

,,Alles in Ordnung! Ich kann gar keine Probleme sehen…aäh.“ Er rutschte ab und hing einen Moment später kopfüber.

,,Oh, hier ist eins.“ Seine Beine umklammerten die Ranke, auf der er zuvor noch gestanden hatte. Als er ins Wasser knapp unter seinen Kopf sah, sah er sein Spiegelbild. Müdigkeit überkam ihn plötzlich, wie ein harmloses Gefühl. Wenn er sich einfach auf die Blätter fallen ließe…Sie sahen weich aus…wie ein Bett…und das Wasser sah auch nicht mehr so schmutzig aus… Kurz bevor er einnickte, riss er wieder die Augen auf. Was passiert mit ihm?

Er kämpfte sich aus seiner Ohnmacht heraus. ,,Alles ist…gut.“ Ächzend angelte er eine benachbarte Ranke und schwang sich darauf. Er tat einen beherzten Sprung, dann war er drüben.

Die Felsen und Wurzeln taumelten ihm entgegen…alles drehte sich…schwankte hin und her…und hin und her. Ihm wurde ganz komisch. Es war der Wald, mit dem etwas nicht stimmte.

,,Bleibt, wo ihr seid!“, rief er, doch zu spät, denn die Zwerge hingen bereits allesamt in den Ranken, kämpften sich mühsam vorwärts. Bei diesem höchst wundernswerten Anblick klopfte

sich Bilbo auf die Wangen, um wach zu bleiben.

Thorin sprang als Erster wieder auf festen Boden. Seine dicken Stiefel knallten, sodass es in seinen Ohren und im Wald wieder-hallte und in seinem Kopf es sich drehte. Er musste einen tiefen Atemzug machen, kniff die Augen zusammen, damit der Schwindel nachließ. Er hatte das Gefühl, dass die ohnehin schon dünne Luft auf dieser Seite des Flusses noch schlechter war.

Beim Umsehen entdeckte er den wertvollen Weg, der von der Brücke aus weiter führte.

Im Wald raschelte und knisterte etwas. Thorin horchte auf, drehte den Kopf wieder nach vorn. Bilbo, der vor ihm stand, hatte es scheinbar auch gehört, sah in dieselbe Richtung.

Zwischen den Bäumen tauchte lautlos ein Hirsch auf. Er besaß weißes Fell, welches in einem Sonnenstrahl, der es geschafft hatte, bis zum Boden vorzudringen, glänzte. Wachsam waren seine Augen auf die Männer gerichtet.

Auch Thorins Augen waren groß und achtsam. Ihr Grau blitzte auf, als er das Omen erkannte. Es kann nur ein Tier von Thranduil sein. Dieses Tier gehört zu ihm. Fast schon herausfordernd stand er da, starrte einfach nur zu ihnen, wartend, dass sie einen Fehler machten und sich verliefen. Das Haupt mit dem prächtigen Geweih stolz erhoben, symbolisierte er in Thorins Augen den Elbenkönig. Ich werde ihm seinen Stolz brechen…

Langsam, sehr langsam griff er nach Pfeil und Bogen und begann, die Sehne zu spannen. Das Holz ächzte etwas und Bilbo sah hinter sich. ,,Was tust du?“, raunte er leise.

Der Hirsch schnaubte. Seine glänzenden Kohleaugen ruhten schwer und undurchdringlich auf ihnen. Er spitzte die Ohren. Blitzschnell hob Thorin den Bogen und schoss. Der Pfeil schwirrte los, prallte jedoch irgendwo gegen Holz. Gleichzeitig machte der Hirsch kehrt. In großen Sätzen sprang er davon und verschwand zwischen den Bäumen, bis sein Fell vom dunklen Grau verschluckt wurde.

,,Du hättest nicht auf ihn schießen dürfen“, flüsterte Bilbo und

sah dem fliehenden Tier hinterher. ,,Das bringt Unglück.“

,,Ich glaube nicht an Glück oder Unglück“, entgegnete der Zwerg gereizt. ,,Wir müssen über unser eigenes Glück bestimmen.“ Er drehte sich um und stapfte in die Richtung des Weges, vorbei an

seinen Gefährten, die es auch endlich hinüber geschafft hatten.


,,Wir brauchen eine Pause!“

Noris Stimme ließ seine Sinne aus ihrem Schlaf erwachen.

Wie lange waren sie schon unterwegs? Stunden? Er hatte keine Ahnung. Jegliches Zeitgefühl war verloren und wenn er darüber nachzudenken versuchte, brummte ihm der Schädel, wie ein Bienenstock. Nori hatte recht. ,,Fünf Minuten.“ Kaum hatte er ausgesprochen, ließen sich die Gefährten an Ort und Stelle nieder.

Das Geräusch seines eigenen Herzschlags war angeschwollen. Er fühlte sich wie benommen von seinem eigenen Körper.

Ihr Anführer warf einen Blick durch die Runde. Nicht nur ihm erging es so. Die anderen blinzelten immerzu, konnten gerade so die Augen aufhalten, schwankten und schlurften beim Gehen. Auch ihre Stimmen hatten sich verändert, leierten und nuschelten jetzt als wären sie betrunken. Was war mit ihnen? Es schien geradezu, als würde der Wald ihre Kräfte einsaugen, je länger sie in diesem verweilten.

,,Was ist das?“, fragte Bilbo, der vor einem dichten Spinnennetz hockte, das sich zäh über Wurzeln spannte. ,,Hört ihr das? Stimmen. Stimmen! Könnt ihr sie hören?“

,,Ich höre nichts.“ Nur seine eigene war es, die die allgegen-wärtige Stille brach. Hinter jeder Wegbiegung, hinter jedem Felsen hatte er das Ende des Waldes ersehnt, doch wurde jedes Mal enttäuscht. Ihre Hoffnungen auf ungebrochenes Sonnenlicht wurden von der dünnen Luft erwürgt. ,,Keinen Wind. Keine Vögel…“ Er sah den grau, braun und schwarz gezeichneten Wald, sah nichts als kranke Bäume, die ihre ständigen Beobachter

waren. Wir müssen hier weg...Weil der… Die Zeit…, klare Gedanken zu fassen fielen ihm zusehends schwerer.

,,Das dauert zu lange. Zu lange!“, kam es ungehalten aus ihm.

Mit Wucht trat er gegen eine der Wurzeln. ,,Gibt es in diesem verfluchten Wald kein Ende?!“

Seine tiefe Stimme erzwang ein Echo, das durch die dunkle Stille hallte. Als es verklang, piepste etwas auf.

Träge drehten die Männer ihre Köpfe.

Neben Kili war ein zartes rosa Licht zwischen Wurzeln erschienen, welches ein winziges Wesen umgab. Es besaß winzige Flügel, die einer Libelle gleichkamen.

,,Bei den Göttern“, hauchte Gloin. ,,Was ist das?“

Kili bemerkte die faszinierten Blicke der anderen, drehte müde den Kopf und rutsche vor Schreck rückwärts die Wurzel hinunter. ,,Wäh! Was ist das?!“ Das kleine Wesen versteckte sich quickend für einen Augenblick, traute sich jedoch zögerlich wieder hervor.

,,Seht nur“, flüsterte Nori und zeigte langsam in eine andere Richtung, woraufhin alle ihre Köpfe drehten und Bofur dabei nach hinten kippte. Auf den Bäumen saßen hier und dort weitere dieser, von Licht umgebenden Wesen. Zart blaue, rosa, gelbe oder orangene Tupfen saßen auf den Ästen.

,,Was sind das?“

,,Nymphen“, antwortet Balin ehrfürchtig, während er blinzelte, um sich wachzuhalten.

,,Nymphen?“, wiedeholte Dori verständnislos.

,,Waldgeschöpfe. Sie leben in den Bäumen.“

,,Sie sehen irgendwie müde aus…findet ihr nicht?“, meinte Bilbo und legte den Kopf schief. Und tatsächlich konnte man leises Gähnen zwischen den Ästen hören. Manche Nymphen rieben sich sogar die Augen.

Die erste aufgetauchte Nymphe kletterte aus ihrem Versteck und flog auf, wobei sie nur schwer ihre Bahn halten konnte. Nun war sie ganz zu sehen. Feminin war sie, geradezu zerbrechlich und nicht größer als ein Zündhölzchen.

Mit einer schnellenden Bewegung fing Bifur sie in seinen

hohlen Handflächen. Die Nymphe fing an verärgert zu fiepen, wehrte sich aus Leibeskräften. Zwischen seinen Fingern leuchtete es. Der schwarzhaarige Zwerg schüttelte sie, wobei ihr Licht heller aufstrahlte und spähte dann mit einem Auge zwischen seine Hände hinein.

,,Nein, Bifur, nein! Lass sie!“ Bofur lehnte sich zu ihm, um eilig seine Handflächen zu öffnen und die Nymphe flog so schnell, wie sie konnte, davon. Die Männer verfolgten ihren wackeligen Flug.

,,Sie ist wunderschön…“, raunte Kili verträumt.

,,Es sind irgendwelche Sirenen, die versuchen, uns zu täuschen“, knurrte Thorin.

,,Das kann ich mir nicht vorstellen“, flüsterte Fili und entdeckte neben sich eine weitere Nymphe mit gelbem Licht. Vorsichtig streckte er die Hand nach ihr aus, drehte sie, sodass seine Hand-fläche nach oben zeigte. Das winzige Wesen ließ sich tatsächlich auf seiner Hand nieder. Er spürte es nicht. Es besaß kein Gewicht, so als existiert nur ihr Licht.

,,Ich wünschte, Marie könnte sie sehen.“

Marie… Thorin stellte sich vor, wie sie jetzt unter ihnen sitzen und mit funkelnden Augen die kleinen Nymphen anschauen und sicherlich auch versuchen würde, eine davon zu berühren.

Marie. Dieser Name verdrängte die Ohnmacht in seinem Kopf etwas und zu seinen Ohren drangen Geräusche. Ein Schulterblick war angesichts seines furchtbar schweren Kopfes kaum möglich.

Irgendwo im Unterholz brachen Äste.

Die Nymphe auf Fili Hand stieß ein Fiepen aus, schlug eilig mit den winzigen Flügelchen und flog davon. Auch die anderen Lichttupfen erhoben sich und schwebten höher in die Bäume hinauf.

,,Was ist los? Warum fliegen sie weg?“

,,Etwa hat sie verscheucht“, murmelte Thorin, versucht wieder, die Geräusche auszumachen, doch sie waren verstummt. ,,Kommt. Wir müssen weiter.“

Die Gefährten stöhnten und kämpften sich wieder auf die Beine.

Auf dem schmalen Weg, der sie immer tiefer in den Wald hinein führte, mussten sie hintereinander weggehen.

,,Luft“, japste Bofur. ,,Ich brauche Luft.“

,,In meinem Kopf ist es ganz schummrig“, sagte Oin.

,,Geht weiter“, wies Thorin sie zurecht. Jeden eigenen Schritt konnte er hören. Das Laub raschelte, war so unwirklich laut. Jedes einzelne Blatt konnte er hören, wie es gegen ein anderes rieb, dazu sein Herzschlag, sein eigener Atem…

Seine Sinne spielten verrückt.

Abrupt blieb Nori vor ihm stehen, sodass er gegen ihn prallte. ,,Nori, warum bleibst du stehen?“

,,Der Weg…“ Er zeigte mit dem Finger, die Augen vor Entsetzten groß. ,,Er ist verschwunden.“

Er hatte Recht. Der blanke Erdboden war vor ihnen, vom Weg keine Spur mehr.

,,Was geschieht hier?“, fragte Dwalin tonlos.

,,Wir haben den Weg verloren“, antwortete jemand.

Nein, nein das darf nicht sein… Ohne ihn waren sie verloren. ,,Sucht ihn!“, befahl Thorin eilig. ,,Los, alle zusammen suchen. Sucht den Weg!“


,,An das alles erinnere ich mich nicht.“ Kopfschüttelnd erklomm Balin einen Pfad an dicken Wurzeln entlang. Nun schon zum dritten Mal. ,,Nichts kommt mir bekannt vor.“

,,Er muss aber hier sein“, entgegnete Dori, stieg in entgegen-

gesetzte Richtung eine felsige Anhöhe hinauf, wo Dwalin und

Thorin standen.

,,Welche Stunde haben wir?“, fragte dieser. Er fühlte sich elendig erschöpft. Seine Augenlider wurden jetzt immer schwerer. Mit aller Kraft musste er den Drang zum Schlafen unterdrücken, sich darauf konzentrieren, den Weg wiederzufinden.

,,Ich weiß es nicht“, antwortete Dwalin neben ihm und ließ seine schlafwandelnden Blicke weiter durch den Wald schweifen, in den sie von ihrem erhöhten Standpunkt aus blicken konnten. ,,Ich weiß nicht mal, welchen Tag wir heute haben.“

,,Dwalin!“

Gleich beide drehten sich um, denn die Stimme gehörte zu keinem ihrer Weggefährten. ,,Dwalin!“ Sie kam von weit weg, hallte, als drang sie aus einer anderen Welt zu ihnen.

Dessen grauen Augen wurden wieder mit Leben gefüllt, weiteten sich und starrten in die Richtung. ,,Ninak?“

Dann schüttelte er den Kopf, lief jedoch mit großen Schritten los und Thorin folgte ihm. Weit kamen die beiden nicht, denn da war noch eine andere Stimme, etwas zarter, hallte jedoch gleich wie die andere und ließ beide Männer erstarren. ,,Thorin!“

Ungläubig sah Dwalin ihn an. Auch er erkannte die Stimme wieder, die seit Jahren niemand Gehör mehr gefunden hatte.

,,Dis…“






















5



Wieder rief sie seinen Namen. Sie war es. Das war die Stimme seiner Schwester. So oft hatte er sie in seinen Träumen gehört. Er würde sie überall wiedererkennen.

Auch Ninak rief abermals.

,,Wo seid ihr?!“ Dwalins Ruf hallte zwischen den Stämmen wieder. Stille folgte. Die Männer schauten sich um, drehten sich im Kreis. Antworte, so bitte antworte doch, flehte Thorin in Gedanken. Er wollte nur noch eins: seine geliebte Schwester wieder in die Arme schließen.

Endlich wurde geantwortet. ,,Ich bin hier!“

Sie änderten die Richtung, setzten ihren Weg fort, mussten sich durch dichtes Gestrüpp kämpfen. Dwalins Streitaxt zerteilte die zähen Äste. Hoffnung und Vorfreude verlieh ihnen neue Kraft, ließen ihre Schritte kräftiger werden und die Herzen beider Männer pochen. Angestrengt sogen sie die dünne Luft ein.

,,Dis! Wo bist du, Dis?“, schrie Thorin, ließ Orcrist sinken, als sie sich aus dem Unterholz befreit hatten.

,,Hier! Ich bin hier, Thorin!“ Die Stimme hallte immer noch, wurde aber lauter. ,,Thorin! Komm zu mir, Thorin!“

Sie kamen an eine kleine, von Felsen umsäumte Lichtung. Knorrige Wurzeln zogen sich schwarz über den Fels und dort stand sie. Eine Zwergin. Wie eine Mohnblume leuchteten ihre roten, lockigen Haare im dunklen Wald, die über eine Schulter-seite lagen. Auf der anderen Seite war ihr Haar sehr kurz geschnitten. Ein kurzer, dichter Bart zierte ihr Kinn.

,,Ninak“, hauchte Dwalin, stieß keuchend den Atem aus.

Auch Thorin starrte sie an. Viele Gedanken kreisten in seinem Kopf herum: wie, um alles in der Welt, sie ihnen folgen konnte

und woher sie wusste, wo sie sich befanden. Als aber sein Blick

zur anderen Seite fiel, erstarben sie alle.

Seine Gesichtszüge entglitten ihm, denn dort stand seine kleine Schwester. Ihr Anblick jedoch ließ alles in ihm erstarren.

Nein.

,,Thorin…“, schluchzte sie leise und streckte die Hand aus. ,,Komm zu mir.“

Nein. Er blinzelte, als seine Vernunft sich über sein Herz legte.

Das konnte nicht sein. ,,Du bist tot…“, brach er hervor, schluckte am Stein in seiner Kehle.

,,Du solltest doch in den Blauen Bergen bleiben, Weib!“, hörte er seinen Freund neben sich schimpfen, doch sein strenger Ton wurde von einem wehmütigen überschattet.

Entschuldigend zuckte Ninak mit den Schultern. ,,Ich hab dich vermisst.“ Sehnsüchtig waren ihre blauen Augen auf ihren Zwerg gerichtet.

,,Ich dich auch“, murmelte Dwalin und ein selten gesehenes, liebevolles Lächeln breitet sich bei ihm aus, welches nur Ninak im Stande war zu bewirken.

Was ist das hier?

,,Thorin, ich vermisse dich“, sagte nun auch Dis. ,,Komm doch zu mir.“

Das war nicht seine Schwester. Er hatte sie gesehen, ihr Blut hatte an seinen Händen geklebt. Er hatte ihren toten Körper an sich gepresst, war dabei gewesen, als er den Flammen übergeben worden war…und schüttelte nun den Kopf. ,,Du bist tot.“

Sie rührte sich nicht von der Stelle, ging nicht auf ihn ein, sondern sah ihn nur mit schönen, glitzernden Augen an und streckte beide Hände zu ihm. Er trat einen Schritt zurück und sah zu Ninak. Auch sie stand immer noch auf der Lichtung, auf der jedoch kein Sonnenlicht zu Boden drang, rührte sich nicht, so als würde sie nur auf ihn warten…ihn locken.

,,Dwalin, das sind Täuschungen! Sie sind nicht echt!“, rief er, als

es ihm vollends bewusst wurde. Seiner Warnung ungehört wollte

dieser gerade zu ihr gehen. Eilig bekam er ihn noch zu fassen. ,,Dwalin, der Wald macht das mit unseren Köpfen. Lass dich nicht reinlegen. Sie sind nur Täuschungen. Ninak ist immer noch in den Blauen Bergen.“ Verständnislos schaute er ihn an.

Thorins Blick fiel auf einen dicken, scharfkantigen Stein zwischen dem Laub und hob ihn entschlossen auf.

,,Nein, was tust du?!“, rief Dwalin entsetzt, als er ausholte, wollte ihn daran hindern, doch Thorin warf ihn direkt Ninak ent-gegen. Ungehindert prallte er knackend gegen den Felsen, rollte zurück ins Laub und augenblicklich standen sie alleine auf der Lichtung. Die schönen Zwerginnen waren spurlos verschwunden.

Dwalin sank auf die Knie, starrte dorthin, wo sie gestanden hatte. ,,Ich dachte, sie wäre es.“

Thorin sah auf seinen Freund, wusste, was Ninak für ihn bedeutete. Sie war das gleiche, wie Marie für ihn.

Er überlegte, ob er die Täuschung hinterschaut hätte, wenn Marie vor ihm gestanden hätte. Was ist, wenn sie ihnen nachgelaufen war? Sie hatte es bereits an jenem Morgen getan. Hatte sie es ein zweites Mal versucht? Inständig hofft er, dass sie dort geblieben war, wo er sie in Sicherheit wusste.

Wir müssen hier so schnell wie möglich raus oder dieser Wald bringt uns noch um den Verstand, dachte er und beäugte misstrauisch die schwarzen Bäume. ,,Wir müssen zurück.“

Er hielt ihm die Hand hin und sein Freund blickte müde zu ihm empor. Die Männer griffen sich gegenseitig an den Arm und Thorin zog ihn wieder hoch.


Ori hob etwas vom Boden auf. ,,Seht doch.“ Schon nahm es ihm sein ältester Bruder aus der Hand.

,,Ein Tabaksbeutel. Es gibt Zwerge in diesem Wald.“

Bofur schlurfte hinzu, nahm ihn ihm ebenfalls ab. ,,Zwerge aus den Blauen Bergen sogar. Der sieht genauso aus, wie meiner.“

,,Hallo?! Aufwachen!“ Bilbo schnipste ihm vorm Gesicht herum. ,,Es ist ja auch deiner! Verstehst du? Wir laufen im Kreis herum. Wir haben uns verirrt.“

,,Haben wir nicht“, erwiderte Thorin, der in diesem Moment zusammen mit Dwalin die Anhöhe hinunter kam. ,,Wir gehen weiter nach Osten.“

,,Und wo ist Osten?“, krächzte Oin.

Nori sah hoch in den Himmel, der verdeckt von den Blättern war. Er kniff die Augen zusammen, drohte dabei nach hinten zu kippen. ,,Wir haben die Sonne verloren.“

,,Ich dachte, du bist Meister auf dem Gebiet“, schnauzte ihn Dwalin an. ,,Halt die Hand in die Sonne und ich sag dir, wie spät es ist…“, äffte er.

,,Wenigstens bin ich nicht so ein tollkühner Hornochse, wie du!“

,,Ohh, nimm das zurück!“

,,Wir müssen sie finden“, raunte Bilbo und tippte sich gegen die Stirn. ,,Die Sonne…Da oben.“ Niemand achtete auf ihn.

Die Zwerge gerieten aneinander, versuchten, die zwei Fronten zu trennen, die einzelnen zu verteidigen oder davon abzuhalten, sich zu prügeln. Man hört nur noch gegenseitige Schuldzuweisungen und wüste Beschimpfungen.

,,Wir müssen über die Baumwipfel hinaus“, murmelte Bilbo neben der sich lautstark schubsenden und drückenden Menge.

Da! – wieder diese Geräusche. Diese knackenden Äste.

Doch er war nicht länger Herr über seine Sinne, die ihm wieder zu entschwinden drohten. ,,Was war das?“, wisperte Thorin.

Langsam nahm er die Stimmen und das Gerangel seiner Männer hinter sich wahr und fuhr herum. ,,Das reicht jetzt! Seid still!! Alle!!“ Bei der durchdringenden Stimme, hielten sie inne und sahen ihren Anführer an, der „wir werden beobachtet“ raunte.


Am Boden bleibend schauten die Zwerge Bilbo nach, der

mühsam den Stamm eines Baumes hinaufkletterte, bis er nicht

mehr zu sehen war.

Thorin versuchte, wach und konzentriert zu bleiben. Ihn be-schäftigten immer noch die Erscheinungen seiner toten Schwester und Ninak. Der Wald versuchte, sie zu täuschen – wie Gandalf gesagt hatte. Seine Ohren fingen Geräusche ein, diesmal waren sie jedoch näher und wurden auch lauter. Hinter ihm redeten manche. ,,Sch!“, zischte er scharf, horchte angestrengt. Doch Oin hörte ihn nicht, wofür Gloin ihm in die Seite stieß.

Der Angriff kam von oben.

Thorin hörte Holz brechen, dann legten sich auch schon Arme um ihn, noch bevor er seine Waffe ziehen konnte, und warfen ihn zu Boden. Etwas Spitzes bohrte sich in seine Schulter, die sofort zu kribbeln begann. Eine eigenartige Müdigkeit überkam ihn und lähmte schlagartig Körper und Geist. Er hörte noch einen langen, schrillen Schrei, ehe er in sich zusammen sackte.






















6



Als er allmählich wieder zu sich kam, konnte er sich nicht bewegen. Eine Schwere war in seinem Körper gefangen. Seine Gliedmaßen kribbelten, doch es war kein schönes Kribbeln, sondern wie das eingeschlafener Füße.

Um seinen Körper war eine Decke geschlungen worden. Sie lag über seinem Gesicht, doch war sie nicht wärmend, sondern kalt und klebrig. Thorin versuchte, sich zu bewegen, doch es gelang ihm nicht, seine Arme und Beine zu rühren.

Bewegte er sich? Nein, er hing kopfüber! Durin, was war das hier?

Irgendwo nahm er eine Bewegung wahr und dann kam auch schon der unerwartete und schmerzhaft harte Aufprall, der ihm fast den Atem verschlug, ihn jedoch wie ein Blitzschlag durchzuckte und seinen Körper erwachen ließ.

Er schlug die Augen auf und befreite sich von dem Kokon aus klebrigen, weißen Fasern, die er verwirrt betrachtete. Dann hörte und sah er die anderen. Sie waren alle in solche eingewickelt gewesen. Alle strampelten, ruderten mit den Armen, um sich von den Netzen zu befreien. Zeit, sich zu fragen, was passiert war, hatten sie nicht, denn schrille Schreie ertönten über ihnen, die selbst einen gestandenen Mann zusammenzucken ließen.

Thorin riss den Kopf nach oben. Durin, steh uns bei…

Riesige Spinnen kamen auf sie zu. Aus jedem dunklen Winkel der Bäume tauchten sie auf, fauchten über den Anblick ihrer sich befreienden Opfer.

,,Lauft!!“, brüllte Thorin und fasste Orcrist. Die Zwerge halfen sich gegenseitig auf und rannten los. Weit kamen sie nicht im unwegsamen Gelände. Die Spinnen holten sie ein, kamen jetzt auch von vorn und die Zwerge griffen nach ihren verbliebenden Waffen.

Dwalin holte aus und schlug einer entgegenkommenden Spinne

mit einem einzigen Schlag den Kiefer aus.

Ori wurde zu Boden geworfen, schrie wie am Spieß, während er seine Zwille spannte. Fili tat einen beherzten Bocksprung, dann saß er auf der Spinne, die über Ori gebeugt war. Er zog ein Messer, rammte es kraftvoll zwischen seinen Knien in ihren Rücken und drehte den Knauf.

Orcrist fest in den Händen stieß Thorin in den pochenden Hinterleib einer Spinne. Die Haut machte ein reißendes Geräusch und platzte auf. Stinkende Flüssigkeiten und Innereien kamen aus dem dicken Körper, der in sich zusammen fiel.

Immer mehr Spinnen stürzten sich auf ihre Beute, die ihnen aus ihrem Nest entkommen war. Ihre haarigen Beine waren überall. Die Laute, die sie ausstießen, waren so hoch, kratzend und schrill, dass man Kopfschmerzen bekommen könnte. Überall hallten das Fauchen, Schreien und Quicken der Spinnen und das trotzige Kampfgeschrei der Zwerge durch den Wald, die sich gegen die Monster wehrten.

Thorin wollte nach Pfeil und Bogen greifen, doch eine Spinne verbiss sich in seinen Köcher. Sie baumte sich auf und er wurde durch die Luft geschleudert. Orcrist fiel aus seinen Händen. Geistesgegenwärtig reckte er die Arme hoch und schlüpfte aus den Gurten. Er fiel zu Boden, rollte sich ab und griff nach seinem Schwert, drehte sich um und rammte das geschwungene Blatt bis zur Mitte in die Spinne.

Kili durchschlug mit seinem Kurzschwert eine Beinreihe, die geräuschvoll brach, doch eine andere Spinne packte ihn von hinten, hielt ihn mit ihren Beinen umklammert und zerrte ihn mit sich.

Immer und immer wieder schlug Dwalin auf die zahlreichen Augen, die bereits aus den Höhlen des Tieres herausquollen, das irgendwann verstummte. Hinter ihm wurde Bombur von einer zu Boden gerissen, hielt ihre langen, gebogenen Fangzähne mit beiden Händen fest. In ihren weit geöffneten Kiefern lagen schmale Reihen von Speichel triefenden Zähnen. Die anderen kamen ihm zu Hilfe, fassten ihr an die Beine und zogen.

Das Tier stieß noch ein letztes Quicken aus, bevor die Glied-maßen knackend vom Körper abrissen und die Spinne regungslos auf Bombur lag. Angewidert drückte er sie von sich.

Leblos lagen die riesigen Tiere um sie herum am Waldboden. Im Unterholz hörte man das Näherkommen von weiteren.

,,Lauft!“, rief Thorin und die Gefährten rannten weiter. An ihren Kleidern und Haaren hingen noch überall Spinnweben, die ihnen teilweise wie Nebelschlieren hinterher jagten.

,,Kommt schon! Lauft, lauft!“ Im Rennen drehte sich Thorin um, um nach den Spinnen Ausschau zu halten. Als er sich wieder nach vorne wandte, seilte sich vor ihm eine ab. Fauchend erhob sie Fangzähne und Vorderbeine. Der Zwerg reckte sein Schwert, da fiel sein Blick nach oben. Zwischen den Baumkronen blitzte etwas auf. Eine Person erschien im Geäst, zog im Laufen eine blitzende Klinge hinter dem Rücken hervor und fasste nach dem dicken Faden einer weiteren, sich abseilenden Spinne. Scheinbar fliegend rutsche er daran abwärts und auf diese drauf, die unter ihm auf den Boden fiel und vom Schwung durch das Laub geschleift wurde. Mit einem kurzen, gezielten Hieb in den Kopf tötete er sie, bevor er absprang und von seiner Geschwindigkeit unter die erste Spinne hindurch glitt, sie an der Unterseite entlang aufschlitzte.

Das alles geschah in wenigen Sekunden, sodass Thorin nur noch sein Schwert neu ergreifen konnte. Schon stand der Mann mit gespanntem Bogen vor ihm. Hölzer knarzten um sie herum und einen Augenblick später waren die Zwerge umzingelt von etwa zwei Dutzend Elben mit schussbereiten Bögen in den Händen.

,,Glaubst du, ich würde dich nicht töten, Zwerg?“, raunte der

hellblonde Elb vor ihm und spannte seinen Bogen noch ein Stück

mehr. ,,Es wäre mir ein Vergnügen.“

Thorin hielt seinen kristallblauen Augen stand und hob das Kinn, während sein Ausdruck eisern blieb.

Ein Schrei hallte durch das Unterwolz und Fili wirbelte herum. Seine Augen gingen suchend durch die Bäume. ,,Kili!“


~


Die Spinne hatte ihm am Fuß gepackt. Kili schrie, trat ihr mit dem anderen gegen den Kopf, versuchte, sich mit den Händen am Erdboden festzuhalten. Seine Nägel krallten sich in die Erde, doch die Spinne zog ihn hoffnungslos weiter an ihre Zähne heran.

Kili roch bereits den stinken Atem des Tieres, fühlte Speichel-tropfen auf sein Gesicht spritzen. Hinter sich vernahm er das Klirren einer Klinge und kurz darauf durchbohrte ein Pfeil den Schädel des Monsters. Verstummt sackte der riesige Körper zusammen, von dem er eilig fort robbte. Am Boden liegend wirbelte er herum und sah eine Elbe hinter sich, die sich wieder umdrehte und zu einem neuen Hieb gegen eine weitere Spinne mit ihrem Dolch ausholte.

Kili sprang auf und sah eine zweite Spinne auf sich zukommen. Er wollte zu seiner Waffe greifen, doch fasste ins Leere. ,,Werft mir einen Dolch rüber! Schnell!“, rief er, während sein Blick hin und her ging.

Sie hielt ihre lange, dünne Klinge unter den Kopf der Spinne, stemmte sich dagegen. ,,Wenn Ihr denkt, ich würde Euch so einfach eine Waffe geben, Zwerg, dann habt Ihr Euch getäuscht!“ Im letzten Wort trennte sie die Kehle des Tieres durch, fuhr herum und warf die Klinge, die geradewegs im Rachen der Spinne stecken blieb. Fauchend fiel sie nieder und war still.

Keuchend richtete sich die Elbe auf und sah zu ihm. Auch Kili sah sie an und für einen Moment lang vergaß er alles andere um sich herum. Wie jeder Elb war sie groß und dünn gewachsen,

besaß spitze Ohren und sehr lange und gepflegte Haare.

Ihre schillerten rot und waren mit einem anliegenden Zopf an der Stirn ihr aus dem Gesicht gebunden. Sie trug ein samtiges, grün-braunes Gewand, mit anliegenden Ärmeln, engem Mieder und langen, offenen Beinkleidern, die sich über eine enganliegende Hose und hohen Stiefel legten. Wie jede Elbe hatte sie ein absolut makelloses Gesicht mit heller Haut, einer zarten Nase und geschwungenen, dünne Augenbrauen. Doch etwas war anders an ihr. Und dieses andere verursachte ein komisches Gefühl in seinem Bauch.

Fragwürdig verfinsterte sich ihre Miene. Dann nahm sie Haltung ein und ging auf ihn zu und an ihm vorbei. Sie zog ihren langen Dolch aus der toten Spinne und streifte ihn an ihrem Kopf ab. Mit einer schnellen Drehung steckte sie ihn zurück in die Scheide auf ihrem Rücken. Ihre Bewegungen waren für ihn das faszinierendste an ihr: so anmutig und leicht, aber auch so tödlich.

Als sie sich jedoch wieder ihm zuwandte, packte sie ihn uner-wartet grob am Arm. ,,Mitkommen“, lautete der eiskalte Befehl von ihr. Missmutig musste Kili ihr folgen und all seine anfängliche Faszination für sie verebbte augenblicklich.


~


,,Durchsucht sie!“, wies der blonde Elb an, der ihr Anführer zu sein schien. Zu jedem Zwerg traten zwei Elben, einer mit Waffe, der andere, um sie zu durchsuchen. Dabei wurden sie von den umliegenden Bogenschützen, die ihre Bögen immer noch gespannt hielten, keine Minuten aus den Augen gelassen.

Der blonde Elb kam zu Gloin fasste ihm in den Mantel und zog eine silberne Bildschatulle hervor.

,,Gebt das zurück, das ist privat!“

,,Wer ist das? Euer Bruder?“, fragte er, nachdem er sie

aufgeklappt hatte.

,,Da ist meine Frau!“, rief er entrüstet.

,,Und was ist das für eine widerliche Kreatur? Ein Ork-Wechselbalg?“

,,Das ist mein Junge, Gimbli!“

Er kommentierte nichts weiter, zog nur eine seiner dunklen Augenbrauen hoch.

Währenddessen wurde ein Messer nach dem anderen aus Filis Mantel gezogen. Er verdrehte die Augen und gab seinem Gegen-über, um ihm ein wenig Arbeit abzunehmen und ihn damit aufzuziehen, freiwillig noch zwei, als zwischen den Bäumen eine Elbe auftauchte, die Kili mit sich schleifte.

,,Stell dich zu den anderen“, sagte sie knapp und schubste ihn an Fili Seite.

,,Alles in Ordnung?“, fragte dieser.

,,Ja“, knurrte sein Bruder und rückte mit grimmigen Blick auf sie gerichtet seinen Mantel zurecht. ,,Alles bestens.“

Mit einem herausfordernden Schmunzeln öffnete Fili seinen leeren Mantel, doch sein Gegenüber fand hinter seinem Rücken, zwischen dem Saum vom hellen Fell noch ein weiteres und sein Schmunzeln verschwand.

Der Wortführer trat zu der rothaarigen Elbe und sprach mit ihr auf ihrer Sprache. Thorin horchte, verstand aber kein einziges Wort. Unauffällig ließ er seinen Blick schweifen, versuchte, die Situation einzuschätzen. Es sind zu viele für eine Verteidigung. Wenn wir versuchen, zu fliehen, werden sie uns in die Beine oder gleich ganz erschießen. Sie nehmen uns die Waffen ab, dass heißt, sie werden uns mitnehmen. Wir haben keine andere Wahl, als ihnen zu folgen. Zorn machte sich in ihm breit, wo schon jetzt Abscheu und Hass wüteten. Er wusste, dass sie sie zu ihrem König bringen würden und allein diese Aussicht schürte seine Gefühle noch einmal an.

Seine Gedankengänge wurden je unterbrochen, als der ihm

zugeteilte Elb ihm Orcrist aus der Hand nahm. Thorin musste ihn

gewähren lassen, denn er spürte eine Klingenspitze deutlich in

seinem Rücken.

Das große Schwert wurde respektvoll dem Blonden übergeben. Er nahm es mit beiden Händen, sah sich die geschwungene, kunstvoll geschmiedete Klinge und den hölzernen Griff an, der leicht geschwungen wie ein Horn war. Dann sprach er etwas, was sich ehrfürchtig und verwundert zugleich anhörte.

Seine langfingrige Hand legte sich fest um den Griff und erhob das Schwert. ,,Woher habt Ihr das?“, fragte er mit gerümpfter Nase.

,,Es wurde mir gegeben“, antwortete Thorin wahrheitsgemäß.

Der Elb erhob das Schwert gegen den Zwerg und legte die Spitze unter sein Kinn. ,,Nicht nur ein Dieb, sondern auch ein Lügner.“

Thorin presste die Kiefer aufeinander. Du widerlicher…

Der Elb rief etwas laut in seiner Sprache, dann setzten sich die seinen in Bewegung und nahmen die Gruppe Zwerge in ihre Mitte, schubsten sie vor sich her – offenbar ein Zeichen, dass sie gehen sollten.

,,Wo ist Bilbo?“, flüsterte Bofur ihm zu, bevor er unsanft vorwärts gedrängt wurde.

Thorin fuhr herum und sah in den Wald hinein.


Missmutig stapften die Zwerge den Weg nach, den ihre Führer vorgaben. Abschätzend gingen seine scharfen Augen durch die Umgebung. Die Elben trugen alle aus braunem Leder gefertigte Brustharnische, mit grünen oder braunen Oberteilen darunter und lange, offene Beinkleider. Nur die Rothaarige und der Blonde, der Orcrist an sich genommen hatte, unterschieden sich durch ihre Kleider von den anderen. Er trug ein grauen, durch silberne Plättchen, die an Fischschuppen erinnerten, gepanzerten

Waffenrock und eine dunkle Hose. Er musste von einem viel

höheren Rang sein. Auch die rothaarige Elbe, die ganz vorne ging, war von einem anderen Rang als die übrigen.

Thorin dachte an den Dolch, der immer noch in der Außenseite

seines Stiefels steckte. Schon einmal hatte er ihm gute Dienste erwiesen. Auch den Schlüssel und die Karte, die er beides in einer ledernden Hülle gewickelt und unter sein Hemd in seinen Gürtel gesteckt hatte, trug er noch bei sich. Durin sei Dank, dass sein dämlicher Durchsucher so ungenau gewesen war. Er wagte erst gar nicht daran zu denken, wenn sie diese verlieren würden.

Dann wanderten seine Gedanken zurück zu Bilbo. Unauffällig warf er einen Blick über seine Schulter, doch nirgends konnte er den Hobbit entdecken. Das letzte Mal, dass er ihn gesehen hatte war, als er in die Baumwipfel kletterte. Das war bevor die Spinnen angegriffen hatten. Wenn er schlau gewesen war, dann hatte er dort oben verharrt, auch als die Elben sie gefangen genommen hatten.

Aber was hatte die Kokons zu Fall gebracht? Thorin rief sich die Erinnerung daran ins Gedächtnis und hört plötzlich das feine metallische Zischen eines kleinen Schwertes, das gezogen wurde.

Hatte Bilbo sie etwa losgeschnitten? Wenn ja, wo war er? Hatten die Spinnen ihn erwischt? Etwas in ihm sagte ihm jedoch, dass er entkommen konnte, denn in diesem Hobbit steckte mehr, als man auf dem ersten Blick sehen konnte.

Das hatte Thorin bereits erkannt.

Nach der Flucht aus den Bilwissstollen war er ihnen gefolgt, hatte nicht das Weite gesucht, sondern seine Treue gezeigt. In der Brandschlacht hatte er sich zwischen ihm und Azog gestellt, dadurch schon einmal großen Mut bewiesen und ihm das Leben gerettet. Und er war es, der die Idee besessen hatte, wie seine Männer ihn und Marie wieder zusammenbringen konnten.

Thorin war sich sicher, dass er auch jetzt klug genug war, ihnen im sicheren Abstand zu folgen. Und dann könnte er ihnen zur Flucht verhelfen.

Thorin versuchte, seine Gedanken und sein weiteres Vorgehen zu planen, konzentrierte sich auf das, was sie erwarten würde.

Die Luft wurde angereichert mit Frische und er bemerkte, dass sie

sich dem ersehnten Ende des Waldes näherten. Allmählich waren

die Stämme brauner und die Blätter grüner geworden. Irgendwann lag ein goldener Schein auf ihnen, so als wäre hier der Herbst gerade erst angebrochen. Das Rauschen von schnellem Wasser donnerte zwischen den Bäumen hindurch. Vor ihnen türmte sich eine moosbewachsene Felswand auf, unter der ein reißender Fluss entlang jagte. Für einen Moment öffnete sich auch das dichte Blätterwerk und gab endlich wieder den Himmel frei.

Die Abenddämmerung setzte ein. Sie hatten den ganzen Tag im Wald verbracht.

Sonnenstrahlen fielen auf die steinerne Brücke, die über den Fluss führte. Die Felswand war bearbeitet worden, zierte Einbuchtungen und säulenartige Gebilde neben einem großen, schmalen Tor. Längliche Linien auf den flankierten Säulen kamen geraden, dünnen Wurzeln gleich. Vögel flogen zwitschernd über sie hinweg, als sie die Brücke passierten. Der blonde Elb sagte etwas, blieb hinter dem Gefangenentross zurück. Das massive Tor schloss sich mit einem dumpfen Knall hinter ihnen.


















7



Das Innere des Waldlandreiches bestand aus einer scheinbar einzigen, weiten Halle. Wurzeln spannten sich an manchen Stellen ungezähmt durch die Luft. Zusammen mit brückenartigen Bögen aus braunem Stein führten sie als Wege durch die Halle, an Wurzeln und Felsen vorbei. Der Natur ließ man hier den Vorrang und lebte mit ihr, anstatt gegen sie zu arbeiten.

Thorin erkannte, dass es eine Höhle war, von ganz natürlichem Ursprung, an deren Grund ein mehrarmiger Fluss dahin floss. Zu ihrer Linken und in der Ferne waren jeweils zwei Säulen wie Bögen mit zulaufender Spitze gemeißelt worden, durch die Sonnenlicht strömte. Laternen aus Pergament strahlten ebenso Licht aus. Sie folgten einem geschwungene Weg und passierten einen der steinernen Torbögen, dessen Kuppe mit feinen Schnitzereien verziert worden war.

Thorin schaute sich um, nicht um die Bauten der Elben zu betrachten, sondern um sich ihren zurückgelegten Weg einzuprä-gen. Er verlor die Orientierung nicht, denn Zwerge hatten ein besonderes Verspür, um sich in Höhlen und in Gängen unter Tage zurechtzufinden. Wasser rauschte von dem Fluss, der über Fels stürzte. Als sie abbogen, rückten die Felswände von beiden Seiten näher. Sie passierten einen engen Gang und traten in eine schmale Schlucht ein, die von oben wie eine aufgeschlitzte Fleischwunde aussah. Links fiel ein Wasserfall hinab in die Tiefe, Stufen führten rechts nach unten. In beiden gegenüberliegenden Fels-wänden aus Sandstein waren Zellen mit massiven Gittertüren gehauen worden.

Ein Verließ, musste Thorin mit mahlenden Kiefern feststellen, während er die Stufen hinunter gehen musste, die von einer Ebene zur anderen führten. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt.

In der Hand des Elben vor ihm klimperten mehrere Schlüssel an einem Ring, auf die er kurz seinen Blick fixierte.

Es zu versuchen, war ausweglos.

Vor ihnen erschien wieder der Blonde mit den Kristallaugen und er kombinierte, dass es noch einen anderen Weg geben musste – ein weiterer Fluchtweg. Thorin warf ihm einen tödlichen Blick zu, ehe eine Tür neben ihm geöffnet und er unsanft hinein geschoben wurde. Dicht hinter ihm knallte sie wieder ins Schloss. Daraufhin konnte er mit anhören, wie die Elben seine Gefährten ebenfalls in Zellen schubsten. Überall war das Öffnen der schweren Türen und die Empörung und Verteidigung von manchen zu vernehmen.

,,Das wird dir noch leid tun!“, fauchte Dwalin zwischen den Gitterstäben hindurch ,,Wenn ich hier raus bin, dann stecke ich dir die Hand in den Arsch und dann spielen wir Kasperletheater, du spitzohriger Hundesohn!!“

Ehe auch Fili in seine Zelle verbracht wurde, hielt sein zugeteilter Elb ihn an der Schulter zurück. Mit einem fluchenden Ausruf wurde noch ein Messer aus seinem Mantel gezogen. ,,Ach“, raunte Fili genervt und wurde dann hinein gedrückt.

Kili, der dies beobachtet hatte, wandte sich an die rothaarige Elbe, die ihn persönlich gerade in seine Zelle bringen wollte. ,,Wollt Ihr mich nicht auch durchsuchen?“ Sie sah zu ihm, verzog keine Miene. ,,Ich könnte alles mögliche in der Hose haben.“

,,Oder gar nichts“, antwortete sie und schloss geräuschvoll die Tür. Bevor sie ging, ruhten einen Moment lang ihre braunen Augen auf ihm.

Kili blieb zurück und auf seinem Mund bildete sich klamm-heimlich ein Schmunzeln aus.


~

Die Dämmerung hatte eingesetzt. Letzte Sonnenstrahlen des Tages fielen durch die Fenster. Mit üblem Magenknurren zog Marie die wärmespendenden Decken von sich und stand mühsam auf. Jetzt noch etwas zu kochen, wäre unsinnig und dazu hatte sie keine Lust. Sie hatte zu nichts Lust. Genauso hätte sie auch liegen blieben können. Es gab Tage, die man am liebsten vergessen würde. Und dieser war definitiv einer davon.

Aus ihrer Kammer holte sie sich lediglich ein Glas Apfel-kompott. Mit diesem und einem Löffeln setzte sie sich an den Tisch. Das Scharnier des Deckels sprang mit einem Ploppen auf und Marie tauchte hungrig den Löffel in die gelbe Muse. Süß und lecker war der erste Bissen, der so intensiv schmeckte und sie verfluchte ihre eigene Dummheit, bei Hilda nichts gegessen zu haben. Als sie abermals den Löffel eintauchte, blickte sie ihren ihr riesig vorkommenden Tisch entlang, der ihr nie zuvor leer erschienen war, und erinnerte sich an die gemeinsamen Essen und Gespräche, die hier stattgefunden hatten.

Stimmen schwollen an. Marie blinzelte, glaube, sich zuerst verhört zu haben, doch dann zerriss ein Klopfen an ihrer Tür ihre vorher währende, sichere Stille.

,,Marie? Wir sind es.“ Es war Anna und offenbar wartete sie auf eine Antwort. Trotzig nahm Marie eine extra große Portion Apfelmuse in den Mund. Sie wollte ihr nicht antworten, auch wenn sie sich in diesem Augenblick wie ein Kind vorkam.

Hier in ihrem Haus war sie sicher.

,,Bitte mach auf.“ Das war Hildas Stimme.

Sie schluckte und bündelte ihren Atem, um ihre Festung zu verteidigen, die sie sich aufgebaut hatte. ,,Lasst mich allein!“

,,Wir wollen dir helfen“, sagte Anna. ,,Du kannst dich doch nicht für immer einsperren.“

Wenn es sein muss, dann für immer, dachte sie voll aufkeimender Verbitterung, nahm den nächsten gehäuften Löffel und machte gedanklich schon ein paar Pläne hierfür. Dann müsste sie sich wenigstens nie wieder das Gerede über sich im Dorf anhören.

,,Du bist doch die Heilerin, du wirst gebraucht…“

Pah! Das ich nicht lache. ,,Ich werde nie wieder einen Fuß in dieses Dorf setzen! Ich denke gar nicht daran, ihnen auch noch meine Hilfe anzubieten! Sollen sie doch an ihren Gebrechen sterben. Mir doch egal.“

Dies mussten die beiden draußen erst mal sacken lassen.

,,Marie, das wird vorbei gehen“, fing Anna wieder an. ,,Lass Gras über die Sache wachsen.“

,,Warum sind auf einmal alle gegen mich?“

,,Das ist doch gar nicht wahr. Die Leute reden über dich, weil sie es nicht besser wissen können. Die Marktfrauen wollten dir eins auswischen.“

,,Herzlichen Glückwunsch. Ist ihnen gelungen.“

,,Marie“, kam es anklagend von ihrer Freundin.

,,Ich kann mich da nie wieder blicken lassen, Anna. Ich wurde als Hure abgestempelt. Genau das haben sie gesagt. Ich habe ihnen nie etwas getan! Was ist, wenn sie das ganze Dorf gegen mich hetzen? Wann wird der erste Mann, dem die Lenden jucken, auf ihr Geheiß bei mir vor der Tür stehen?“

,,Marie, du siehst Gespenster. Hör auf damit und mach endlich die Tür auf.“

,,Wir müssen ihr das mit Gonzo noch sa…“

,,Pscht! Nicht jetzt…“, raunte Anna unterdrückt, doch bei Marie gingen bereits sämtliche Alarmglocken.

,,Was? Was ist mit Gonzo? Anna, sag es mir!“

,,Man ist auf der Suche nach dem Täter und davon überzeugt, dass die Gruppe Zwerge es getan hat“, erzählte Hilda durch die geschlossene Tür. ,,Einige, die an jenem Abend im Wirtshaus waren, haben ausgesagt, dass dein…nunja…“

,,Dass nach ihren Aussagen der große, schwarzhaarige Zwerg sich mit Gonzo geprügelt hätte“, erklärte Anna für sie weiter, ,,und dass wenig später erst du und dann ein paar der Zwerge verschwunden gewesen wäret. Der Bürgermeister wollte Männer zur Suche nach ihnen losschicken und zuerst dich befragen. Im Dorf glaubt man, dass du von ihnen sitzen gelassen wurdest. Ich habe ihnen gesagt, dass du deshalb nicht wüsstest, wo sie hin seien, um dich aus der Sache zu ziehen. Du hättest wegen Mittäterschaft angeklagt werden können. Zum Glück hält sich die Glaubwürdigkeit, dass du und deine Statur einen Kerl, wie Gonzo, nie so zurichten hättest können, als erwiesen. Du hast nochmal verdammtes Glück gehabt. Man hat Steckbriefe von den Zwergen erstellt und sucht nun die nähere Umgebung ab. Gonzos Tod wird aber wahrscheinlich niemals ganz aufgeklärt werden, solange die Zwerge nicht gefunden werden. Hilda hat mir erzählt, dass du ganz komisch reagiert hättest, als du von Gonzos Tod erfahren hast. Wenn jemand etwas darüber weiß, dann bist du es, Marie. Was ist in jener Nacht passiert? Rede mit uns und mach endlich die verdammte Tür auf, ehe ich sie eintrete!“

Marie presste die Lippen aufeinander, schob das Glas von sich und fuhr sich durch die Haare, tat einen tiefen Atemzug gegen die Panik, die ihr erneut die Kehle verengte.

Sie hatte damit gerechnet, früher oder später. Eigentlich sollte sie erleichtert sein, nicht als Verdächtige mehr zu gelten, doch das war sie nicht. Denn es hieß auch, dass sie die Annahme, Thorin hätte sie ausgenutzt, aufrecht erhalten musste, um sich selbst zu schützen und ihren Aufenthaltsort geheim halten zu können.

,,Es ist wahr. Thorin hat es getan.“ Sie musste schlucken. ,,Er hat es getan…“

Lange Zeit blieb das Geständnis im Raum stehen.

,,Marie… Warum?“, war das einzige Wort, was Anna noch herausbrachte. Ihre Bestürzung darüber wog schwerer, als sie angenommen hatte.

,,Ich kann noch nicht darüber reden.“

,,Das respektieren wir“, antwortete Hilda, ehe es Anna tun konnte.

,,Ich danke euch, dass ihr mich gedeckt habt.“

,,Das war selbstverständlich. Wir würden dich nie hintergehen, das weißt du doch.“

,,Ja, das weiß ich…“ Marie atmete tief aus. ,,Hilda? Könntest du für mich als Heilerin einspringen? Ich glaube, ich brauche ein paar Tage für mich.“ Ehe Hilda Einwände erheben konnte, fügte sie hinzu: ,,Du hast schon eine Menge von mir gelernt und weißt bei allem, was man tun muss. Falls du dennoch etwas brauchst, komm zu mir.“

,,In-in Ordnung.“

,,Danke. Wir sehen uns morgen“, sagte Marie als Abschieds-worte und Zuspruch. Vor der Tür blieb es einen Moment still.

,,Ich werde morgen früh da sein“, versicherte Anna ihr und Marie lächelte. ,,Gute Nacht.“

,,Gute Nacht, Marie.“

Auch als ihre Freundinnen gegangen waren, blieb sie noch eine Zeit lang am Esstisch in ihre Gedanken versunken sitzen.

Die Dämmerung war weiter voran geschritten und als es schon dunkelte, nahm sie noch ein paar Löffel zu sich und verschloss dann das halbleere Glas, ließ es auf dem Tisch stehen.

Sie nahm Thorins Decke aus dem Haufen der anderen und stieg die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer zog sie ihr Nachthemd an, vermied aber dabei einen Blick in ihren Spiegel zu werfen.

Seine Decke fest um ihren Körper gewickelt, krabbelte sie ins Bett. Marie blickte hinüber auf die andere Seite und malte sich aus, wie es wäre, wenn er in diesem Moment neben ihr, genau dort liegen würde. Er würde sie ansehen und auf seinem Gesicht würde sich dieses gewisse Schmunzeln mit diesem einen hochgezogenen Mundwinkel ausbreiten, welches sie so gerne sah.

Würde sie es je wiedersehen? Wo war er in diesem Augenblick? Dachte er genauso an sie, wie sie an ihn dachte?

Marie versuchte, den Kloß im Hals runterzuschlucken, während sie sich umdrehte. Unweigerlich ging ihr Blick zum Fenster und sie musste daran denken, dass sie zusammen dort gestanden hatten. Schau, Sternschnuppen…, hörte sie seine Stimme, die auch flüsternd noch tief und kraftvoll war. Und dann spürte sie seine Hände, wie sie sie hochhoben und so vorsichtig ins Bett sinken ließen, als wäre sie zerbrechlich, sinnlich über ihren Körper strichen. Seine Lippen waren überall zugleich gewesen und hatten eine Spur aus reinem Gefühl hinterlassen, ihre Haut zum Knistern und ihr Blut zum Pulsieren gebracht.

Wie eine Waffe stachen die Erinnerungen ihr in den Leib, lösten aber auch gleichzeitig das bekannte und vermisste Kribbeln in ihr aus. Die trauernden Schmetterlinge, die sie schon vermisst hatte, bewegten ihre Flügel. Wie konnte es sein, dass Liebe und Schmerz so nah beieinander lagen?

Sie kuschelte sich in seine Decke und versuchte, die Tränen

runterzuschlucken. Doch Marie verlor den ewigen Kampf mit ihren Gefühlen.


~


Die Zellentüren waren aus massivem Eisen geschmiedet worden und hingen fest in ihrer Verankerung. Dies zum Trotz rammte Dwalin immer wieder seine Schulter gegen die Gitter, sodass es durch die ganze Schlucht rumste. Auch die anderen Männer versuchten, die Türen gewaltsam zu öffnen, warfen sich dagegen, drückten und zerrten.

Auf seiner harten Bank, die Ellenbogen auf die Knie gelegt, die Finger ineinander verschränkt saß Thorin und hörte nicht auf die Befreiungsversuche der anderen. Ein Ausbruch war angesichts der Umstände unmöglich. Starr blickte er durch die Gitter und schmiedete seine eigenen Pläne.

,,Lasst das!“, rief schließlich Balin und als die anderen daraufhin ihr Vorhaben abbrachen, schloss Thorin dankbar die Augen. ,,Wir kommen hier nicht raus! Das hier ist kein schäbiges Ork-Verließ. Das sind die Hallen des Waldlandreiches. Niemand

kommt hier raus ohne die Einwilligung des Königs.“

Wie aufs erwartete Stichwort hin, klimperten Schlüssel und das vertraute Geräusch von rasselnden Kettenhemden sowie das Klappern von Metall verrieten das Näherkommen von Elben. Soldaten, um genau zu sein. Und dies hieß wiederrum, dass einer von ihnen aus der Zelle geholt werden sollte. Und weil er nun mal der Anführer war…

Ein Schatten legte sich über ihn. ,,Thorin Eichenschild.“

…würde die Wahl unschwer auf ihn fallen.

Er erhob sich und leise quietschend öffnete sich die Zellentür von ganz allein. Es war der, der die Aufsicht über die Schlüssel hatte. Begleitet wurde er von zwei Elben in voller Rüstung.

Der Braunhaarige musterte ihn, tauschte dann mit einem

Soldaten Schlüssel gegen ein Stück Seil. ,,Steckt die Hände aus.“

Provokant legte Thorin den Kopf schief, tat jedoch die Handgelenke aneinander. ,,Ist das wirklich nötig?“

,,Eine Vorsichtsmaßnahme“, erklärte er, während er das Seil um seine Armschützer legte und straff festzurrte. Unverkennbarer Hochmut war zwischen seinen Wörtern zu hören. Offenbar waren die Handfesseln für ihn überflüssig. Er wiegte sich in Sicherheit, dass niemand flüchten könne.

Sollte er noch eine Weile in diesen Glauben bleiben…

Der Elb trat aus der Zelle und Thorin folgte ihm. Einer in Rüstung fasste nach seiner Schulter und der Zwerg schüttelte seine Hand ab, richtete einen funkelnden Blick auf ihn.

Dieser tat keinen zweiten Versuch, sondern trat zur Seite, um ihm den Vortritt zu lassen. Seine Männer sahen zu, wie er die Stufen hinauf aus dem Verließ geführt wurde und stellten sich auf eine lange Wartezeit ein.


Schnell wurde es bei Einbruch der Nacht dunkler, doch die Laternen gaben stets genug Licht. Das monotone Rauschen des Wasserfalls erfüllte die Schlucht. Von irgendwoher konnte man

aber auch entferntes Stimmengewirr verstehen.

Kili fläzte sich auf seinen Mantel in die Ecke seiner Zellenbank, um eine bequeme Position zu finden, was aber unmöglich schien. Etwas drückte ihm ins Gesäß. Er fasste unter seinen Hintern und holte den Runen-Stein hervor. Damit in der Hand lehnte er sich gegen die Wand und schlug die Beine übereinander.

Gelangweilt warf er den glattgeschliffenen Stein in die Luft und fing ihn wieder auf, als sich leichtfüßige Schritte näherten und vor seiner Zelle stehen blieben.

Einen Augenaufschlag lang sah er zu der rothaarigen Elbe, die vor seiner Zelle stand und unterdrückte es, die Augen zu verdrehen. Die schon wieder…

,,Der Stein in Eurer Hand. Was ist das?“, fragte sie wieder in

diesem kühlen Ton, wie bei ihrem Aufeinandertreffen im Wald.

,,Ein Glücksbringer.“ Dann kam ihm eine Idee. ,,Aber das ist nicht alles. Ein mächtiger Zauber liegt darauf. Sehr mächtig. Liest ein anderer als ein Zwerg diese Runen…ist er für immer verflucht!“ Beim letzten Wort hielt er ihr den Stein wie ein Unglücksbringer entgegen und sah, dass sie tatschlich zusammen-zuckte. Mit großen Augen wollte sie sich rasch zum Gehen abwenden, doch er murmelte: ,,oder auch nicht“, und sofort blieb sie stehen, sah den Zwerg auf der Bank an.

,,Kommt darauf an, ob man an so etwas glaubt. Ist nur ein Andenken“, meinte er lachend, woraufhin sich doch tatsächlich bei der Elbin ein wenig der Mundwinkel hob. Erstaunlich.

,,Ein Runen-Stein“, erklärte Kili und strich über das dunkelgrün marmorierte Gesteinsstück. ,,Meine Mutter hat ihn mir geschenkt, damit ich an mein Versprechen denke.“

,,Welches Versprechen?“ Ihre Stimme hörte sich auf einmal viel weniger kühl an.

,,Dass ich auf mich aufpassen soll.“

Sie schlug die Augen nieder und auf ihrem makellosen Gesicht

bildete sich ein sanftes Lächeln.

,,Sie sorgte sich um mich.“ Er warf den Stein hoch und fing ihn wieder. ,,Sie hielt mich für waghalsig“, erzählte er schmunzelnd.

,,Seid Ihr es?“

,,Nah“, raunte er, warf ihn abermals hoch, doch in einem anderen Winkel zu vorher. Es gab ein klackendes Geräusch, als der Stein auf den Boden aufkam und durch die Gitterstäbe hin-durch rutschte. Schnell legte die Elbe ihren Fuß darauf, damit er nicht über den Weg hinweg in die Schlucht fallen konnte.

Kili sah auf seinen Stein und sprang auf. Die Elbe hob ihn auf und hielt ihn hoch, um ihn sich anzusehen, drehte ihn zwischen den Fingern, strich über die Zeichen der anderen Sprache.

Das Stimmengewirr wurde für einen Moment lauter.

,,Da oben scheint ja eine große Feier in Gang zu sein“, bemerkte Kili und spähte nach oben.

,,Es ist Merevingilli. Das Sternenlichtfest“, sagte sie im Umdrehen und schlenderte den Weg vor seiner Zelle entlang. Dabei wirkte sie so jung und er fragte sich, wie alt sie wohl war. Einhundert? Zweihundert Jahre?

,,Den Eldern ist alles Licht heilig. Aber am meisten lieben Waldelben das Licht der Sterne.“

Ihm kamen Wortfetzen wieder in den Sinn und er kramte tiefer in seinem Gedächtnis. Als sie in Maries Obhut waren, hatte Fili ihm etwas erzählt… Marie glaubte, Verstorbene würden in den Sternen weiterleben und meinte, dass auch ihre Eltern dort oben wären. Stimmte das wirklich? Er musste sie einfach danach fragen. ,,Ich fand immer, es war ein kaltes Licht…“ Schon bei dem ersten Satz hatte er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. ,,Unnahbar und weit entfernt. Bis mein Bruder mir etwas anderes erzählte. Eine Freundin sagte, Sterne hätten etwas mit den Verstorbenen zu tun. Was wisst Ihr darüber?“

Sie trat näher, sodass sie nur einen Schritt von ihm entfernt war, getrennt nur durch die Gitterstäbe, und sah zu ihm hinab und ihm in die Augen. ,,Kein Geschöpf auf dieser Erde weiß, was die Lichter am Firmament wirklich sind“, sprach sie voller Ehrfurcht. ,,In unseren Büchern stehen Legenden geschrieben, dass die ersten Elben nach dem Tod eines Menschen einen neuen Stern am noch schwarzen Nachthimmel erleuchten gesehen haben und mit der Zeit auch für jeden Elb…und jedem Zwerg. Manch einer sagt, es sei Zufall und vorherbestimmt, dass sie dort von Zeit zu Zeit erscheinen sollten, manch einer, dass es mit dem Geist zu tun hat, der den Körper verlässt. Manch einer glaubt daran und wieder andere nicht. Aber gewiss ist, dass sie Erinnerungen sind. Besonders kostbar und rein.“ Sie hielt ihm die geöffnete Hand entgegen, seinen Runen-Stein darin liegend. ,,Wie Euer Versprechen.“

Kili wechselte einen erstaunten Blick zwischen ihm und ihr und nahm ihn aus ihrer Hand. Er hatte schon gedacht, dass Marie im Gegensatz zu den Händen eines Zwerges zarte Finger hatte, doch nichts kam an die Zartheit von den Händen einer Elbe heran.

Sie waren dünn und so zierlich, dass er dachte, bei einem ordent-lichen Händedruck würden sie brechen, und sich fragte, wie diese Hände in der Lage waren, tödliche Hiebe auszuführen.

,,Ich bin schon einmal dort gewesen“, raunte sie ihm zu. ,,Über den Wald hinaus und hinauf in die Nacht“, erzählte sie flüsternd, sah dabei himmelwärts und sprach so, dass man ihre Leidenschaft dafür spüren und sehen konnte. ,,Ich hab gesehen, wie die Welt verschwindet und das weiße Licht der Ewigkeit die Luft erfüllt.“

Sie redet vom Erscheinen der Sterne, als wäre es etwas ganz besonderes, dachte er und war abermals fasziniert von ihrer Anmut und ihren Worten, die über ihre Lippen kamen. In diesem Moment verspürte er ein zartes Kribbeln im Bauch. Ihre langen Haare, die ihr bis zum Steiß reichten, lockten sich an ihren Spitzen und waren bedeckt von einem rotgoldenen Schimmer.

,,Ich hab mal einen Feuermond gesehen.“ Sie hatte ihm etwas erzählt, jetzt wollte er ihr etwas erzählen und in der Zwischenzeit hatte er unschwer herausgefunden, dass die Himmelskörper sie faszinierten. Und dies sah er jetzt auch, denn er hatte sofort wieder ihre Aufmerksamkeit.

,,Er ging über den Pass bei Dunland auf. Riesig. Rot und golden. Der ganze Himmel leuchtete.“ Sie setzte sich mit leuchtenden Augen auf die Treppenstufen vor seiner Zelle und jetzt, wo sie saß, waren sie sogar auf Augenhöhe.

,,Wir eskortierten eine Gruppe Kaufleute aus den Blauen Bergen“, erzählte er und legte den Kopf gegen die Gitterstäbe. ,,Sie tauschten Silber gegen Felle. Wir nahmen den Grünweg nach Süden“, beschrieb er ihr, machte eine weisende Geste mit der Hand. ,,Das Gebirge zu unserer Linken, da erschien dieser

riesige Feuermond und…“

,,Tauriel!“ Als eine männliche Stimme ganz in ihrer Nähe erklang, schreckte sie hoch. Eilig wollte sie gehen, drehte sich jedoch noch einmal zu ihm um. ,,Tauriel!“ Ohne noch etwas gesagt zu haben, lief sie die Treppen hinauf.

Kili presste den Kopf an die Gitter, um ihr nachsehen zu können, doch sie war schon verschwunden. Er lehnte sich gegen die Tür. ,,Tauriel…“, wiederholte er leise für sich selbst.

War das ihr Name? Plötzlich blinzelte er mehrmals hinterein-ander. Und was war überhaupt los mit ihm? Warum hatte er ihr das alles erzählt? Kili raufte sich die dunklen Haare, konnte nur über sich selbst schmunzeln. Oder war es doch wegen einer anderen Person?

Zufällig fiel sein Blick zur anderen Seite. Dadurch, dass die Zellen immer mit Abstand zueinander in den Fels gehauen worden waren und auch manchmal über Ecken verliefen, konnte er zur Nachbarzelle schauen. Mit vor der Brust verschränkten Armen, jedoch mit einem todernsten Gesicht, stand dort sein älterer Bruder. ,,Was war‘n das gerade?“

Kili machte ebenfalls ein ernstes Gesicht. ,,Ich hab keine Ahnung, was du meinst.“

,,Die Elbe...“

,,Ja und?“

,,Was sollte das?“

,,Reg dich ab. Ich hab sie doch nur was gefragt.“ Fili verengte die Augen und Kili musste unwillkürlich an ihren Onkel denken, der dies ständig machte. ,,Was?“

,,Du hast echt Glück gehabt, dass Thorin davon nichts mitbekommen hat.“

,,Lass das mal meine Sorge sein“, gab Kili missgelaunt zurück und ließ sich wieder in seine Ecke fallen.


~


Thorins Augen wechselten von einem Soldaten zum anderen.

Wie zu Stein geworden standen sie links und rechts von ihm und rührten sich nicht. Breite Schilde vor sich haltend und in der anderen Hand einen Speer. Die Gesichter durch die Helme nicht erkennbar, hätten es genauso Attrappen sein können. Als er die Bewegung eines Auges erkennen konnte, wandte er den Blick ab.

Er war das Warten satt.

Der Elb mit den Schlüsseln und die zwei anderen hatten ihn nicht nur durch das gefühlte ganze Waldlandreich gebracht, sondern auch fast durchweg Treppen steigen lassen.

Hier oben wurde er dann von dem unnötigen Seil befreit und stehen gelassen. Der Elb war damit verschwunden und Thorin wusste, dass seine beiden Begleiter am Fuße der langen Treppe hinter ihm standen.

In einem Königreich galt das ungeschriebene Regelwerk; je höher, desto wichtiger, weshalb Thorin anstandslos ihnen gefolgt war. Seine Vermutung über ihr Ziel hatte sich inzwischen bewahrheitet. Er stand auf einem kleinen, rundlichen Felsplateau, das mit Baumwurzeln und dünnen Bannern umsäumt wohl einem Thronsaal gleichkommen sollte.


Vor ihm war der Thron des Waldlandreiches. Dieser war aus einer

hohen und ungewöhnlich geformten Baumwurzel, zu der eine halbrunde Treppe hinauf führte. Über diesem war ein riesiges Hirschgeweih angebracht worden, dessen langen Enden sich schon krümmten. Auf dem Platz lag ein ausladender Umhang. Gräulich war seine Oberfläche, glühend orangen sein glänzendes Innenfutter.

Thorin fragte sich, wie lange er hier noch stehen sollte, als Stoff beim Gehen rauschte. Das Aufsetzten der Stiefel hörte man kaum. Hinter dem Thron, eine verborgene Treppe hinaufkommend, erschien König Thranduil und augenblicklich ballte sich die Luft, die beide umgab.

,,Thorin Eichenschild. Dass wir uns unter diesen Umständen

noch einmal sehen würden...“ Die Hände hinter den Rücken gelegt schlenderte er vor seinem Thron entlang. Er trug seine Krone, die in Thorins Augen wie ein Stück Gestrüpp aussah, mit irgendwelchen orangen Pflanzenteilen zwischen den nadelartigen Spitzen. Wie ein gebogener Ast lag sie um seinen Hinterkopf, auf seinen spitzen Ohren sitzend. Mit seinen seidig glatten, hell-blonden Haaren, die ihm bis über die Brust reichten, und dem grau schillernden Gewand, mit der silbernen Brosche war er das komplette Gegenteil von Thorin - und dieser war froh darüber. Sein blauer, verdreckter Mantel mit den hellbraunen Fellscherpen sowie seine schwarzen, ungekämmten Haare zierten Spinnen-fäden und ein paar daran hängenden Blätter. Unter seinen dicken Stiefeln hing allerlei Dreck, unter denen von Thranduil nicht ein Staubkorn.

Thorin gab sich nicht die Blöße, den Kopf zu heben, um ihn anzusehen, verfolgte auch nicht sein Herumschweifen. Er sah weiterhin geradeaus, hielt die Hände vor seinem Unterleib verschränkt und stand mit gestrafften Schultern da. Wie die Fassade dieses Königs lag der Umhang auf dem Thron, spiegelte sein wahres Ich fast schon perfekt wieder. Für andere mag er vielleicht harmlos wirken, doch innerlich war er egoistisch, überheblich und gefährlich zugleich.

,,Wie ist es Euch in den letzten Jahren ergangen?“

,,Verschont mich mit Eurem falschen Interesse“, knurrte Thorin, starrte dabei das glühenden Orange der innenliegenden Seide des Umhangs an. Die Ausstrahlung beider war gleich.

Zwei Könige, die genau wussten, was sie wollten.

,,Ihr besitzt keinerlei Recht, uns hier festzuhalten.“

Die frostige Stimme hinter ihm war klar und erhaben, erfüllte und nahm sich ihren Raum. ,,Ein König besitzt das Recht über seine Ländereien zu herrschen“, sagte Thranduil, als müsste er ihm dies lehren. ,,Er entscheidet, wer ein- und ausgehen darf und wer nicht. Das wüsstet Ihr, wenn Ihr so etwas, wie ein Reich noch

hättet.“

Es bedurfte all seine Selbstbeherrschung…

,,Eure Reise mag den Anschein eines höheren Ziels haben. Ihr wollt Eure Heimat zurück erobern…und einen Drachen töten.“

Kaum merklich tat Thorin einen Atemzug. Woher wusste dieser schmierige Heuchler davon? War ihr Vorhaben so offensichtlich?

,,Ich selbst vermute hinter Eurem Handeln eher weniger edle

Beweggründe.“

Thorin spürte, dass er näher zu ihm trat und ballte die Faust. Um ihn herum lauerte ein Sturm, doch er war der Felsen, der Berg, der unbeugsam bleiben würde.

,,Ihr plant einen Diebstahl oder etwas dergleichen.“ Lautlos erschien Thranduil neben ihm und drehte sich in sein Blickfeld herein. Es herrschte eine Eiseskälte, als der Elbenkönig sich zu ihm beugte, ihn direkt mit seinen blauen, kristallartigen Augen ansah. Thorin hielt dem Blick mit Leichtigkeit stand und dachte an den Dolch, der immer noch in seinem Stiefel steckte.

Die Vorstellung, den Boden mit edlem Königsblut zu tränken, war geradezu verlockend.

,,Ihr habt einen Weg hinein gefunden“, raunte der Elb, schritt

erneut von ihm weg. ,,Ihr sucht, was Euch das Recht verleiht zu herrschen. Das Königsjuwel. Den Arkenstein.“

Thorin atmete. Das Herz des Berges. Der sagenumwobene Edelstein, der im Gold verschollen war… Ja, er suchte nach ihm.

,,Er ist für Euch über alle Maßen wertvoll…“

Achtsam richtet der Zwerg seine Augen auf sein Gegenüber.

,,Das verstehe ich“, säuselte Thranduil mit einem falschen Grinsen, was aber zum Glück für ihn schnell wieder wich.

,,In diesem Berg gibt es Edelsteine, die auch ich begehre. Weiße Steine aus reinem Sternenlicht.“

Die Steine von Lasgal. Schon einmal hatten sie sich so nah begegnet. Doch damals stand er dem Elbenkönig nur als Prinz gegenüber. Thranduil hatte die Herausgabe der Lasgal-Steine gefordert, die vor etlichen Jahrhunderten bei einem Scharmützel in den Besitz der Zwerge Erebors gekommen waren.

Thorin erinnerte sich, wie seine Augen geleuchtet hatten, als Thror ihm die Steine in ihrer Truhe gezeigt hatte. Dieser hatte ihm jedoch letztlich die Herausgabe verwehrt.

Das war es also, was er wollte. Er musste nicht lange warten, um die Gegenleistung dafür präsentiert zu bekommen.

Scheinheilig senkte Thranduil bereits das Haupt. ,,Ich biete Euch meine Hilfe an.“

Beinahe hätte er laut gelacht. Jetzt bot er seine Hilfe an - wenn er sich eine Aussicht auf eine Belohnung ausmalte. Thorin aber zog einen Mundwinkel hoch. Dieses Spiel konnte er allemal mitspielen. ,,Hmm“, er schloss die Augen für einen Moment, richtete sie dann auf sein Gegenüber. ,,Ich bin ganz Ohr.“

,,Ich werde Euch gehen lassen, wenn Ihr mir zurückgebt, was mein ist“, sagte Thranduil, ohne eine Miene zu verziehen.

Thorin drehte ihm den Rücken zu und distanzierte sich durch ein paar Schritte von seinem verhassten Gegenüber.

,,Einen Gefallen für einen Gefallen.“ Wäre die Lage nicht so

unglaublich ernst, dann hätte er dieses Gespräch fast schon

amüsant empfunden.

,,Ich gebe Euch mein Wort. Von einem König zum anderem.“

Ungläubig legte Thorin den Kopf schief. Wie konnte dieser verlogene Bastard ihm sein Wort auf seine Krone geben?

Er sah ihn wieder vor sich. Es war das gleiche Bild von damals, das vor seinen Augen auftauchte, während er über die Treppe hinweg in die weite Halle starrte.

Mit glänzenden Rüstungen standen Reihen von Elben oben auf dem Bergkamm, während vor dem Tore Erebors Leid und Trauer einhergingen. Sie hatten tatenlos zugesehen, hatten sie in ihrer größten Not allein gelassen. Thranduil war das Schicksal von seinem Volk egal gewesen.

Während Thorin antwortete, glühten seine Augen vor lodernd, schwarzem Hass. ,,Ich glaube nicht, dass Thranduil, der große König, sein Wort hält, auch wenn uns das Ende aller Tage bevorstünde!“ Abscheu, Hass und Zorn erfüllten sein Herz pechschwarz und verliehen seiner Stimme dadurch Kraft.

Mit silbern funkelnder Iris fuhr er herum und zeigte mit dem Finger auf ihn. Seine Stimme sprengte die Luft: ,,Euch! Fehlt jegliche Ehre!“ Aggressiv ging er auf ihn zu und der Elbenkönig wirkte einen Moment lang eingeschüchtert. Eine Falte bildete sich steil zwischen seinen dunklen Augenbrauen.

,,Ich habe gesehen, wie Ihr uns behandelt habt. Einst baten wir Euch. Hungernd, heimatlos, baten um Eure Hilfe. Aber Ihr habt Euch abgewandt!“ Beim Sprechen entblößte er seine Zähne. Er war so kurz davor, etwas äußerst Unüberlegtes zu tun.

Vom Zorn geleitet brüllte Thorin ihn an. ,,Ihr hab keinerlei Anteil genommen am Leid meines Volkes und dem Inferno, das uns vernichtet hat! Ihm rît al raduzul!!

Keine Sekunde später beugte sich Thranduil bedrohlich nahe zu ihm. ,,Erzählt mir nichts vom Drachenfeuer! Ich weiß, wie wütend und tödlich es ist.“ Auf einmal änderte sich sein Gesichts-ausdruck. Er schloss die Augen, als müsste er sich konzentrieren, und seine linke Gesichtshälfte veränderte sich.

Erst breitete sich ein roter Schein aus, dann wurde seine makellose Haut vom Mundwinkel bis zur Schläfe hinauf von hässlichem Narbengewebe zerfurcht, das tief ins Fleisch reichte. Sein Auge wurde weiß unter einer Blindheit.

,,Ich kämpfte schon gegen die großen Feuerschlangen des Nordens…“ Er wich zurück und augenblicklich verschwanden die Narben, als er wieder aufrecht vor ihm stand. ,,Ich warnte Euren Großvater vor dem, was seine Gier hervorrufen würde, doch er wollte nicht hören.“ Desinteressiert wandte er sich von ihm ab und schritt die Stufen zu seinem Thron hinauf, als war er es nun, der Distanz brauchte. ,,Ihr seid genauso wie er.“ Damit machte er eine wegwerfende Handbewegung und die zwei Soldaten zu den Seiten packten Thorin.

Der Zwerg versuchte, sich zu wehren, doch sie harkten ihn so brutal ein, dass er seine Arme nicht mehr bewegen konnte.

,,Bleibt hier, wenn Ihr wollt und verfault“, zischte Thranduil von seiner erhöhten Position aus. ,,Hundert Jahre sind nur ein Wimpernschlag im Leben eines Elben. Ich habe Geduld. Ich kann warten“, hörte Thorin ihn raunen, als die Soldaten ihn bereits die Stufen hinunter zerrten.

Der Elb mit den Schlüsseln führte die Soldaten, die ihn wie einen Verbrecher zwischen sich hielten, bis in das Verließ zurück. Er wurde in seine Zelle hineingedrückt und die Tür hinter ihm ins Schloss geknallt.

,,Hat er einen Handel vorgeschlagen?“, fragte Balin sofort, nachdem sich die Wachen entfernt hatten.

,,Ja“, raunte Thorin immer noch mit vor Wut pulsierender Schlagader. ,,Doch ich hab ihm gesagt: Ish kacuey ai-dur ugnul. Auf seins und das seiner Sippschaft!“, fügte er schreiend hinzu,

damit es auch alle Elben hören konnten.

,,Tja. Das war’s dann wohl“, meinte Balin resigniert. ,,Ein Handel war unsere einzige Hoffnung.“

Thorin trat an die Gitterstäbe, schaute die Schlucht hinauf. ,,Nicht unsere einzige Hoffnung.“
































8



Ach, komm schon…, dachte Bilbo müde, doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Elben weiter zu verfolgen.

Es war seine einzige Möglichkeit.

Niemand hatte ihn bis jetzt gesehen. Niemand konnte ihn sehen, denn er trug den mysteriösen Ring, der seinen Träger unsichtbar werden ließ. Das magische Edelmetall wurde immer schwerer, je länger er ihn trug. Lange würde er es nicht mehr aushalten können. Seine Umgebung war durch dessen Kräfte in grau gehüllt, als hätte die Welt ihre Farben eingebüßt, Bewegungen waren verzerrt, als würden Umrisse ihr Eigenleben bekommen.

In seinem Inneren verspürte er diesen Sog, der von dem Ring an seinem Mittelfinger ausging, als würde ein Strom seiner Kräfte direkt durch ihn hindurch fließen. Dennoch versuchte er, so geräuschlos wie möglich aufzutreten, während er ihn verfolgte, um keinen auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen.

Nach dem Schreck mit den Spinnen war er dem Gefangenen-tross bis zum Tor des Waldlandreiches durch den Wald gefolgt. Dort hatte der blonde Elb, der Thorin Orcrist abgenommen hatte, sich in seine Richtung umgedreht, doch Bilbo war hinter ihm durchs Tor geschlüpft, ehe es geschlossen wurde. Dann war es ein Leichtes gewesen zu verfolgen, wo die Zwerge hingebracht wurden. Er hatte die Schlüssel, die einer der Elben mit sich trug, entdeckt. An die musste er kommen.

Er hatte beschlossen, vor dem Eingang des Verlieses zu warten, von dem er wusste, dass es sich dort befinden musste, weil er einen der Wächter darüber in der gemeinen Zunge reden gehört hatte, bis der Elb mit den Schlüsseln wieder herauskommen würde. Aber das hatte er vergeblich getan.

Die anderen Elben waren aus dem Gang gekommen, hatten

gelacht und Scherze über die Zwerge gemacht, doch der mit den Schlüsseln war nicht dabei gewesen. Noch eine ganze Weile hatte Bilbo gewartet, ob er nachkommen würde. Als dieser über-raschenderweise wieder auftauchte, war hinter ihm und mit gebundenen Händen Thorin gegangen, begleiten von zwei Soldaten. Ihm die Schlüssel abzunehmen stellte sich so als fast unmöglich dar. Das Risiko, vielleicht dabei entdeckt zu werden, hatte er einfach nicht eingehen gewollt und entschieden, zu bleiben, wo er war. Nur frei wäre er ihnen eine Hilfe.

Sie müssten ja eh zurückkommen und ihn in seine Zelle bringen, hatte er sich gedacht und so abermals vor dem Weg zum Verließ ausgeharrt. Plötzlich war ihm ein ganz anderer Gedanke gekommen. Was war, wenn der König des Waldlandreiches Thorin gleich zur Strecke bringen würde?

Er konnte nur hoffen, dass sich der impulsive Zwerg für ihr aller Wohl zusammenreißen würde.

Nach einer Ewigkeit war Thorin zurückgeführt worden. Der Zwerg hatte sich auf das Heftigste gewehrt, mit Flüchen um sich geworfen und dem einen Soldaten auf den Stiefel gespuckt.

Daraufhin wurde ihm der Kopf an den Haaren in den Nacken gerissen und er grob weitergezerrt.

So viel zum Thema Zusammenreißen.

Diesmal war der Hobbit ihnen in das Verließ hinein gefolgt, um zu sehen, wohin der Elb mit den Schlüsseln wohl verschwinden würde. Achtsam war er oberhalb der Treppen geblieben und hatte verfolgt, wie Thorin zurück in eine Zelle geführt worden war.

Die Soldaten waren wieder hinauf gekommen und Bilbo hatte sich in eine Felsnische zwängen müssen. Als sie vorbei gegangen waren, war er die Stufen hinunter gelaufen, vorbei an den Zellen, in denen er seine Freunde sitzen gesehen hatte, um den Elben, der tiefer die Schlucht hinab gestiegen war, nicht zu verlieren.

Aha, hier durch ist er also vorhin verschwunden, hatte Bilbo gedacht und war ihm im sicheren Abstand in einen Gang gefolgt,

der von der Schlucht wegführte.

Immer tiefer war er ihm in das Waldlandreich gefolgt, doch in einem zu großen Abstand, wie er feststellen musste, denn als sein Augenmerk um eine Ecke bog und auch sein Verfolger sie erreichte, war er verschwunden. Als Bilbo versucht hatte, ihm zu folgen, musste er jedoch falsch abgebogen sein, denn irgendwann war er in einen anders aussehenden Raum gekommen und ein großer, weißblonder Elb in einem schillernden grauen Gewand stand plötzlich vor ihm.

,,Ich weiß, du bist hier. Sag, warum wandelst du im Schatten?“, hatte er gefragt und Bilbos Herz war ihm bis in die Hose gerutscht. Jetzt ist alles aus.

Eine rothaarige Elbe trat hinter ihm hervor und antwortete. Bilbo hatte ausatmen können und sich, als sie zusammen sprachen, aus dem Staub gemacht. Kurz darauf hatte er das bekannte Klimpern der Schlüssel vernommen und glücklicherweise seinen Elb wiedergetroffen.

Seitdem hatte er den Braunhaarigen nicht mehr aus den Augen gelassen. Immer noch wartete er auf eine günstige Möglichkeit, ihm die Schlüssel abzunehmen. Irgendwann müsste er sie doch mal aus der Hand legen…

Der Elb erreicht das Ende einer Treppe und betrat einen Raum. Auf Zehenspitzen folgte ihm Bilbo.

,,Die leeren Fässer hätten schon vor Stunden zurück nach Esgaroth geschickt werden sollen“, sagte er ungeduldig an zwei andere gewandt, die gerade noch eines zu den anderen trugen, die im hinteren Teil sorgfältig in einer Reihe gestapelt worden waren. ,,Der Kahnführer wartet sicher schon.“

Der Raum sah aus wie ein Vorratslager. Überall standen Kisten, Krüge aus Ton und etliche, gefüllte Weinregale an den Wänden. Dicke Fässer standen neben der Treppe gereiht.

,,Was habt ihr hier die ganze Zeit gemacht?“

,,Och, ein bisschen vom Wein gekostet.“

,,Das muss man unserem übellaunigen König lassen: von Wein

versteht er was“, meinte der andere, begutachtete den roten Wein in einer gläsernen Karaffe und trank ungeniert einen Schluck daraus.

,,Komm, Elros, probier einen Schluck.“ Der zweite ging zum Tisch nahe der Treppe und Bilbo vorsichtshalber hinter eine Kiste in Deckung. Er holte drei Weingläser hervor, öffnete eine Flasche und schenkte jedem ordentlich ein. ,,Es ist Merevingilli. Mach

mal eine Pause und setz dich zu uns.“

,,Ich muss die Zwerge bewachen“, wimmelte Elros ab, doch der mit der Karaffe nahm ihm die Schlüssel ab und hängte sie an einen Nagel im nahen Balken. ,,Sie sind eingesperrt. Wohin sollen sie schon hingehen?“ Sie mussten lachen.

Bilbo hinter der Kiste schmunzelte in sich hinein. Jetzt musste er sich nur noch gedulden. Und darin war er ja schon geübt.


~


Die Stunden waren spürbar verstrichen, doch an Schlaf war immer noch nicht zu denken. Thorin fand keine Ruhe.

Eine weitere schlaflose Nacht stand ihm bevor. In Hemd und Hose bekleidet lag er auf der harten Bank und starrte an die Decke. Er hörte, dass seine Gefährten ebenfalls noch wach waren. Wenn er durch die Tür sah, konnte er im Schein der brennenden Lampen sehen, wie Nori in der anderen Felswand immer noch seinen Arm so weit wie‘s ging durch die Gitter geschoben hatte und mit etwas im Schloss herum hebelte. Er versuchte es schon seit Stunden.

Thorin starrte an die Decke, bis das Gestein nur noch eine verwaschene Farbe war. Seine Gedanken wanderten wieder zu Marie, woraufhin sein Herz schwer wurde. Er dachte an das einsame Haus am Waldrand, wo sie ein paar Tage in ihrer Obhut

gewesen und wo seine Gefühle durch Höhen und Tiefen

gegangen waren. Wie erging es ihr dort? Seine Entscheidung, sie zurück zu lassen, war die einzig richtige gewesen, obwohl sie mehr als schmerzhaft war. Sie war vernünftig, denn schon jetzt war ihre Reise gefährlich gewesen. Das Schlimmste würde dabei erst noch kommen. Er bekam eine Gänsehaut, wenn er sich vorstellte, wie sich eine dieser monströsen Spinnen auf sie gestürzt hätte.

Dort, wo sie jetzt war, war sie in Sicherheit und das war das, was er wollte. Trotzdem sehnte er sich danach, sie bei sich zu haben und ihre Nähe zu spüren. Als er die Augen schloss, sah er sie im weißen Nachthemd wie an jenem Abend die Treppe hinunter steigen, in der Hand die Kerze, deren Schein ihre grünen Augen leuchten gelassen hatte. Er spürte ihre Hände an seinem Gesicht, ihre Finger durch seinen Bart streifen und ihren Körper, der an seinem geschmiegt lag.

Lautlos stieß er einen Seufzer aus und sah an die Wände seiner Zelle. Ich komme hier raus, Marie. Wir werden uns wiedersehen. Ich versprach es dir.

,,Ich wette, die Sonne geht bald auf“, murmelte Bofur laut. ,,Der Tag bricht sicher gleich an.“

,,Wir werden den Berg niemals erreichen, oder?“, seufzte Ori niedergeschlagen in einer anderen Zelle.

,,Solange ihr hier drin‘ sitzt, sicher nicht“, flüsterte Bilbo um die Ecke spähend und reckte die Schlüssel in die Luft.

Bilbo…, dachte Thorin nur fassungslos, als er seine Stimme hörte. Und als er ihn dann auch noch sah, eilte er an die Gitter-stäbe. Der treue Hobbit kam zu ihm.

,,Bilbo!“, ertönte Balins kehliger Ausruf. ,,Bilbo, das ist Bilbo!“

Helle Aufregung und Freude breiteten sich in den Zellen aus.

,,Was?!“

,,Bilbo ist hier!“

,,Haha, er lebt!“

,,Pscht!!“, zischte dieser, als er dabei war, die erste Tür

aufzuschließen. ,,Hier sind doch überall Wachen!“

Thorin schob die Tür auf, sah ihm hinterher, wie er zum nächsten Zwerg eilte. Er war wirklich gekommen, um sie zu retten.

Zelle für Zelle öffnete sich quietschend. Alle nur in ihren Hemden bekleidet eilten die Zwerge hinaus.

,,Gut, gut“, murmelte Bilbo vor sich her, während er zu den nächsten Türen rannte. ,,Wir haben keine Zeit.“

Kili tat den Runen-Stein tief in seinen Stiefel hinein, ehe auch seine Zelle aufgeschlossen wurde.

Währenddessen versammelten sich die Zwerge.

,,Seid still. Beeilt euch.“ Dwalin schickte sie die Treppen hinauf. ,,Los, kommt schon. Hinauf. Ori, komm.“

Doch Bilbo eilte die Treppen hinunter. ,,Nicht da lang. Folgt mir“, zischte er im Laufen. Die Männer sahen zuerst einander an, doch folgten ihm schließlich alle. Hintereinander weggehend bogen die Gefährten rechts ab, gingen mehrere beleuchtete Treppenwege hinunter und kamen schließlich in die Vorratskammer, die Bilbo schon ausgekundschaftet hatte.

Stocksteif blieben sie stehen, als sie die Elben sahen. Schnarchend und sich in ihrer Trunkenheit regend, lagen sie auf einem Tisch, auf dem auch mehrere leere Flaschen standen.

,,Hier lang“, flüsterte Bilbo und schlich in den Raum hinein. Nur zögernd folgten ihm die Zwerge. ,,Kommt…“

,,Das gibt’s doch nicht. Wir sind im Keller!“, raunte Kili aufgebracht.

Bofur trat zu ihm. ,,Du solltest uns hier raus führen und nicht noch tiefer rein!“

,,Ich weiß, was ich tue!“, gab er zurück und wurde von Bofur angezischt. ,,Hier rüber. Hier rüber.“

Achtsam auf den Holzdielen gehend, schlichen die Zwerge an ihm vorbei und an der Längsseite der gestapelten Fässerreihe entlang.

,,Los, alle in die Fässer. Schnell“, flüsterte Bilbo.

Sich durch die anderen drängend kam Dwalin mit großen

Schritten zu ihm. ,,Bist du verrückt? Dann finden sie uns.“

Bitte, tut nur einmal, was ich euch sage! Wenn er ihr Vertrauen jetzt nicht hatte, dann war alles umsonst. ,,Nein, werden sie nicht. Ich verspreche es. Bitte. Bitte, ihr müsst mir vertrauen“, flehte er ihn an, woraufhin Dwalin sich umdrehte und eine Diskussion im Flüstern entstand. Hilfesuchend sah Bilbo zu Thorin.

,,Tut, was er sagt.“

Verwundert hielten seine Männer inne und krabbelten schließlich einer nach den anderen in die Fässer hinein, während Thorin noch einen Blick mit dem Hobbit hielt und zu sagen schien: Du hast mein Vertrauen, enttäusch mich lieber nicht, ehe er selbst zu einem Fass ging.

Manche drückte Dwalin eigenhändig hinein oder schob jene hinein, die vorwärts in die Fässer gekrabbelt waren. Einer nach dem anderen verschwand, während Bilbo das Ganze mit einem triumphierenden Ausdruck verfolgte und dann zu einem Hebel am Rand eilte.

,,Und was machen wir jetzt?“, fragte Bofur, steckte den Kopf heraus, woraufhin alle anderen es ihm gleich taten.

,,Tief Luft holen“, antwortete Bilbo, fasste den Hebel und drückte ihn runter.

,,Tief Luft holen? Was…?“ In diesem Moment senkte sich der vordere Teil des Dielenbodens und gleichzeitig hob sich das hintere in die Luft. Eine Luke öffnete sich und die Fässer rollten mit den schreienden Männern in sich los.

Alles fing an sich zudrehen. Sie versuchten, die Arme gegen das Holz zu stemmen, um nicht hin und her geworfen zu werden. Überall polterte es, bis sie am Rand angekommen waren und ein Fass nach dem anderen in die Tiefe stürzte.






9



Es klatschte, als sie die Wasseroberfläche brachen. Eine Eiseskälte schloss sich über ihren Köpfen, drang schlagartig durch ihre Kleider bis auf ihre Haut. Unterwasser knallten die Fässer gegeneinander, ehe sie vom Auftrieb empor gedrückt wurden. Prustend kam ein jeder Zwerg wieder an die Oberfläche, hustete und spuckte aus, denn natürlich hatten alle vor lauter Schreien vergessen, die Luft anzuhalten.

Die Strömung des unterirdischen Flusses trieb sie von ihrem Einschlagspunkt weg, sodass sich Thorin und die anderen am felsigen Ufer der Höhle festhalten mussten. ,,Wo ist Bilbo?“, rief er, nachdem er sich die durchnässten Strähnen aus dem Gesicht geschüttelt hatte.

Die Männer schauten in die zwischen ihnen treibenden unbemannten Fässer. Doch der Hobbit war nicht unter ihnen.

„Er ist in kein Fass gestiegen!“, kam die Antwort.

Alle schauten zu der fast fünf Meter hohen Luke empor, die sich wieder schloss. Gebanntes Schweigen legte sich über die Männer. Komm schon, Bilbo…

Die Luke öffnete sich ein zweites Mal und mit einem Schrei fiel der Hobbit rückwärts in die Tiefe. Es gab eine meterhohe Fontäne, als er hart ins Wasser einschlug. Nori am hinteren Ende der geballten Gruppe aus Fässern griff beherzt nach dem strampelnden Bündel.

,,Gut gemacht, Meister Beutling!“, rief Thorin ihm zu.

Dieser winkte ab, ehe er sich schnell wieder, wie eine zu ertrinken drohende Maus ans Fass klammerte.

,,Los jetzt!“ Mit einer ausholenden Geste wies Thorin den schmalen Flusslauf entlang und paddelte mit kräftigen Armbe-wegungen voran. Über die Frage, wie Bilbo es verdammt noch mal geschafft hatte, an die Schlüssel zu gelangen, war keine Zeit nachzudenken. Sie mussten aus dieser Höhle raus, ungesehen an Land klettern und im Wald verschwinden. Kein zweites Mal würde er von Thranduil daran gehindert werden, seinen Auftrag zu Ende zu bringen.

Die Strömung des schmalen Flusses gewann an Geschwindigkeit. Ein entferntes Rauschen war zu vernehmen. Sie trieben um eine Ecke und vor ihnen öffnete sich die Höhle. Helles Tageslicht und der graue Himmel erschienen. Das Rauschen wurde lauter und was sie dann sahen, ließ ihre Augen vor Entsetzen groß werden. Der im Sonnenlicht glitzernde Flusslauf endete vor einer empor wirbelnden Wolke aus Wasserdunst.

,,FESTHALTEN!!“, schrie Thorin. Sie rasten stromabwärts, über die Kante des Wasserfalls und tauchten in das schäumende Wasser ein. Das felsige Flussbett schrappte mit dumpfem Knirschen am Holz entlang. Das Fass schoss wieder aus dem donnernden Wasser und Thorin konnte einen kurzen Atemzug machen, ehe es erneut unterging. Die Strömung rauschte an seinem Körper entlang, wollte ihn mit sich ziehen. Er musste den Drang zum Luftholen unterdrücken, krallte sich stattdessen am Holz fest. Dann kam er zurück an die Oberfläche und seine Lungen füllten sich mit süßer Luft. Das Fass stand voll Wasser, doch es ging nicht unter.

Wie ein weißes Band rauschte der Fluss durch den Wald und durch dunkle Felsen, die beide Seiten des reißenden Stromes säumten - die Männer in den Fässern mitten in ihm.

Nur noch Gischt und Schaum waren zu sehen, kein glattes Wasser.

,,Hilfe!“

,,Ori!“, rief sein ältester Bruder machtlos.

Fili streckte die Hand zu dem Zwerg aus, der nur schwer das Gleichgewicht zwischen den Wellen halten konnte, die ihn hin und her warfen. Verzweifelt fasste Ori seine Hand und Fili zog ihn näher zu sich und hinaus aus dem Strudel.

Hinter ihnen zerriss ein Horn die morgendliche Luft. Thorin und

andere wirbelten herum. Ihre Flucht war entdeckt worden.

Vor ihnen tauchte eine Mauer mit einer Schleuse auf, auf die sie direkt zu rasten. In ihrer Mitte war ein Torbogen, durch den die Wassermassen flossen. Die Wachposten auf der Mauer regierten auf das Horn vom Waldlandreich. Die Soldaten ergriffen ihre Schilde und einer drückte einen langen Hebel, woraufhin ein doppeltüriges Tor sich schloss.

,,Nein!“ Thorin trieb unter den Brückenbogen, stemmte Hände und Oberkörper gegen das massive Tor. Die anderen Fässer schlugen geräuschvoll gegen seines und beendeten seinen erfolg-losen Versuch. Ihre Freiheit; wieder verwehrt von Eisengittern, und er musste bitterer Weise feststellen, dass ihre Chance auf eine Flucht ihnen vor der Nase zugeschlagen worden war.

Plötzlich stöhnte ein Elb über ihnen nur noch auf, ehe er kopf-über ins Wasser fiel. Ein Pfeil steckte ihm schräg in der Seite. Wegen seiner Rüstung sank er zwischen den Fässern sofort auf den Grund. Zwischen den Zinnen der Mauer erschien ein Ork und hinter diesem hörte man näherkommendes Knurren und viele Hände über die Steine wetzen. In den Fässern treibend mussten die Gefährten mit ansehen, wie weitere Orks auf der Brücke erschienen. ,,Passt auf! Da sind Orks!“

Die Soldaten wehrten sich gegen die bestialischen Angreifer, die sich auf sie stürzten. Am Flussufer jenseits der Schleuse tauchten zwischen den verfärbenden Bäumen immer mehr auf.

Thorin starrte durch das Gitter, sah den weißen Ork oder seine Wargreiter jedoch nirgendswo. Ein großer Ork mit ungeheuren breiten Schultern lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Er trug Köcher und Bogen auf dem Rücken, schwang seine eiserne Keule und rief in der Schwarzen Sprache zum Angriff auf. Zwischen seiner grauen Haut ragten aus der nackten Brust spitze Stücke einer Art Rüstung heraus. Seine kahle Schädelhälfte war nach einer Verletzung, die sein linkes Auge erblinden gelassen hatte, mit Metall abgedeckt worden.

Bolg, dachte Thorin mit verächtlichem Hass auf der Zunge und realisierte, dass sie keine Waffen mehr hatten. ,,Unter die Brücke!“

Die Schreie und gurgelnden Laute der näherkommenden, in Lumpen gekleideten Monster wurden ohrenbetäubend laut.

Der erste Ork sprang zu ihnen ins Wasser und Bilbo jagte ihm sein leuchtend blaues Schwert in den Hals. Eine Blutfontäne färbte das Wasser um ihn herum rot. Die Zwerge wehrten sich mit bloßen Fäusten.

Das Tor… Kili sah zum Hebel empor, ihrem Schlüssel zur Flucht, der sich klar vom Himmel abhob und fasste einen Entschluss. Er kletterte aus seinem Fass und balancierte über die anderen, um mit triefenden Klamotten an Land zu springen.

Orks kamen ihm entgegen, doch ehe der erste mit seiner Waffe ausholen konnte, wich er aus, packte ihn und schlug seinen Kopf gegen den Fels.

,,Kili!“ Dwalin warf ihn eine abgenommene Ork-Klinge zu.

Er wirbelte diese hinter sich und schlug sie dem zweiten Vieh rückwärts an den Kopf, drehte sich um und schwang sie ihm in die Seite, ehe er zum Tritt ausholte und den stinkenden Körper ins schäumende Wasser stieß. Dann rannte er die Stufen hinauf und Fili unter ihm warf eine Ork-Klinge gekonnt einem herannahen-den zielgenau in die Brust, während sein Bruder frei mit einem Schlag den Kopf eines entgegenkommenden abtrennte.

Triumph durchströmte seine Venen, als er am Hebel angekom-men war. Doch den nächsten Schritt konnte er nicht mehr ausführen. Wie glühender Stahl durchbohrte ein Pfeil seine Muskelstränge im Bein und ließ ihn erstarren.

,,KILI!!“

Ihr Onkel unter der Brücke, der den Schrei seines Neffen zwischen dem Kampfgetümmel gehört hatte, fuhr herum. ,,Kili…“

Die Zähne aufeinander gepresst fasste er den Hebel. Seine

Beine hielten ihn nicht mehr und er fiel vom eintretenden Schmerz zu Boden. Zitternd glitt seine Hand zu seinem steifen Oberschenkel, in dem der schwarze Pfeil mit den struppigen Federn steckte. Am Boden liegend sah er einen Ork auf sich zukommen. Einen ungünstigeren Zeitpunkt für solch ein dummes Déjà-vu hätte er sich nicht aussuchen können… Ehe der Ork sich dem Zwerg auch nur noch einen Meter nähern konnte, steckte ihm ein Pfeil im Kopf und er polterte die Stufen hinunter.

Kili wirbelte herum und sah die rothaarige Elbe über die Felsen springend. Ihre feurigen Haare umspielten ihre Schultern, als sie ihren Bogen abermals spannte. An ihrer Seite tauchte der blonde Elb auf, der den Trupp anführte, der aus dem Unterholz brach und sich in den Kampf einmischte.

Der Anblick von ihr und dem Elben fesselte ihn. Ihre Bewe-gungen waren blitzschnell und tödlich. Die beiden ergänzten sich, wurden zu einer Einheit. Einer tödlichen und vertrauten Einheit. Kam es vom Schmerz? Denn plötzlich wünschte er sich mit ihr kämpfen zu können. Er sah, dass der Blonde sie abschirmte, doch trotzdem hatte er Angst, dass sie verletzt werden könnte.

Er verspürte sogar den Drang, sie zu beschützen, doch sie und Ihresgleichen standen so nah, fast Rücken an Rücken, sodass kein Platz mehr zwischen ihnen war. Für niemandem.

Wie aus einem Tagtraum erwacht, blinzelte Kili und konnte endlich seinen Blick abwenden. Er raufte sich zusammen, sammelte seine Kräfte und stemmte sich mühsam an den Stufen hoch. Jede Bewegung im Bein wurde durch den Pfeil brutal gehindert. Seine Hände fassten zitternd den Hebel und er hing sich mit seinem ganzen Gewicht daran. Als das Holz runter kippte, fiel er abermals zu Boden. Das Tor ging auf und die Fässer wurden von der Strömung erfasst, fielen den Wasserfall hinter der Schleuse hinunter und hinein in seine brodelnde Schaumwolke.

Kili robbte mit großer Mühe zum Rand der Plattform und sah hinunter. ,,Fili!“

,,Kili.“ Sein großer Bruder trieb unter ihm im Wasser und hielt

sich am Fels fest, als die letzten Fässer drohten, durch das Tor

getrieben zu werden. ,,Spring! Du musst springen!“

Mit den Füßen zuerst ließ sich Kili in ein Fass fallen und der Pfeil splitterte durch den eisenbeschlagenden Rand ab. Sein Bein drohte zu zerrreißen. Es raubte ihm fast die Sinne, als er einen unterdrückten Schrei ausstieß.

Die Fässer trieben mit ihnen durch das Tor und plötzlich befanden sich die Männer wieder im Wildwasser. Abermals nahmen sie an Geschwindigkeit auf. Die Wellen schlugen in die Fässer und durchnässten sie immer wieder. Es schäumte gegen die Strömung zugewandten Ränder, an denen Orks auftauchten.

Thorin holte aus und schlug mit einer feindlichen Waffe dem auf sich zuspringenden in der Luft die Gedärme aus dem Bauch. Das Fass mit dem eigenen Körpergewicht in Balance zu halten war im brausenden Strom schwer, die durch das kalte Wasser verursachte Taubheit im Körper machte es fast unmöglich.

Fast fliegend sprangen Elben die Äste über ihren Köpfen entlang, schossen auf die Orks am Ufer, deren schwarzgefiederten Pfeile im Holz der Fässer stecken blieben. Sie jagten Strom-schnellen hinunter, an deren Ufer bereits Speerwerfer standen. Bifur fasste das Holz eines Speers im Vorbeisausen und ließ nicht los, sodass der Ork mit ins donnernde Wasser gerissen wurde.

Auf einem höher gelegenen Baumstamm wartete ein Ork auf Balin. Hinter seinem alten Freund warf Thorin seine Klinge, als er auf sie zusprang. Gleich Leib und Holz durchbohrte sie und nagelte den schreienden Ork am Stamm fest, der seine Waffe fallen ließ. Thorin fing sie und warf sie nach hinten zu Dwalin weiter. Dwalin warf zu Nori und dieser zu Fili. Lächelnd sah er auf die Waffe und schlug sogleich einem Ork am naheliegenden Ufer die Beine weg.

In der nächsten brodelnden Kurve sprang ein Ork dummerweise

direkt auf Dwalin. Dieser hob den schwarzen Körper in die Luft, gab ihm eine Kopfnuss gegen das Brustbein, stieß ihn von sich und fing noch schnell dessen Axt auf.

Währenddessen trieben die Gefährten weiter vorne auf einem

über den Fluss liegenden Baum zu, auf dem Orks wie Aasgeier bereits auf die Zwerge warteten.

Es gab keine Möglichkeit ihnen auszuweichen.

,,Schlagt den Baumstamm durch!“, brüllte Thorin und schlug ein Stück mit einer neu abgenommenen Waffe aus dem Stamm.

Dwalin nach ihm treibend holte ebenfalls aus. Krachend brach der Stamm hinter ihm schon beim zweiten Schlag und die Wassermassen schlugen über ihren Feinden zusammen.

,,Bombur!“ Dwalin warf die Axt dem dicken Zwerg zu, dem aufgelauert wurde. Unglücklich verkeilte sich der gegnerische Speer im Holz des Fasses, denn das Ende bohrte sich in den Leib des schreienden Angreifers und Bombur wurde samt Fass aus dem Wasser katapultiert.

Ungläubig sah Thorin über sich. Bombur samt Fass flog sich drehend von einem Flussufer zum anderen, walzte auf seinem Weg einige Orks nieder. Ruckartig wurde Thorin gegen den Fassrand geschleudert. Seine Zähne knallten aufeinander. Der Geschmack nach Eisen trat ihm auf die Zunge. Die Wucht des Aufpralls am Felsen machte seine Hände gefühlslos und schmerzte in seinen Gelenken. Geradeso konnte er verhindern, dass die wertvolle Waffe ins Wasser fiel. Sein Fass wurde unter Wasser gezogen. Es kam ihm vor, als hörte er, wie die Steine von den Wassermassen zermahlen wurden und auch nach ihm trachteten. Sein Körper füllte sich mit kaltem Wasser, ehe er auftauchte und mit brennenden Lungen nach Luft schnappte.

Wie durch ein Wunder schaffte es der dicke Zwerg, zielgenau vom Ufer zurück in ein unbemanntes Fass zu springen. Vom plötzlichen Gewicht aber wurde es unter Wasser gedrückt.

,,Zieh ihn raus!“ Dwalin fasste mit Nori das Fass und sie konnten ihn davor bewahren, zu ertrinken. Bombur tauchte wieder auf und schüttelte den Kopf, sodass seine Paustbacken wackelten.

,,Das kommt davon, wenn man so…“ Jemand sprang über das Ufer

auf sie zu und im nächsten Moment stand der blonde Elb mit den Kristallaugen mit einem Fuß auf Dwalins Kopf, mit dem anderen auf Doris, während er ein Pfeil nach dem anderen abschoss. Die Männer wurden tiefer ins Fass gedrückt, ehe er dann auf weiteren Zwergen wie auf Steinen bis ans Ufer hüpfte und sich dort zwischen Orks stürzte.

Mit einem todesbringenden Blick rappelte sich Dwalin wieder auf und schürte seine Mordgedanken. Auch Thorin entdeckte den unliebsamen Elb am Ufer und pflegte die gleichen Gedanken.

Er hob die Waffe über seinen Kopf und schleuderte sie. Das Wasser hatte seinen Körper taub gemacht und der Fluss seine Position zu schnell geändert und so traf er fälschlicherweise einen Ork, der sich von hinten an sein Ziel angeschlichen hatte.

Von der Strömung weiter getrieben konnte Thorin noch einen letzten Blick zurückwerfen und sah, dass der Elb ihm ebenfalls hinterher schaute, bevor er hinter der nächsten Kurve verschwand.


~


Es war dunkel, nachts. Sie war auf der Farnlichtung im Wald. Eine dunkle Gestalt stand auf der anderen Seite, rief ihren Namen. Es war ein Mann. ,,Thorin?“, sie kniff die Augen zusammen. Wieder rief er sie, kam ihr entgegen. Sie lachte und eilte zu ihm. Üppige Farnblätter streiften ihren Beine. Mit jedem Schritt, den er sich ihr näherte, wurde er größer, kam immer näher. Sie blieb stehen und ihr Blick erstarrt, als sie ihn wiedererkannte.

,,Was macht eine Schönheit wie du hier? Noch dazu ganz allein.“

Das Blut in ihren Adern gefror. ,,Was willst du von mir?“, hauchte sie in die Dunkelheit und er antwortete ihr:
,,Das weißt du doch ganz genau...“
Sie machte kehrt, rannte davon. Schwarz rauschten die Bäume an ihr vorbei, verschwammen zu Wänden, die sie in sich gefangen

hielten. Äste brachen. Er folgte ihr.

,,Geh weg!“ Ihre Schreie hallten als einzige durch den stillen Wald. Zweige verfingen sich in ihrem Kleid, in ihren Haaren, zerrten an ihr, doch sie rannte weiter, immer weiter.

Niemand würde ihre Hilfeschreie hören.

Gonzo blieb ihr dicht auf den Fersen und holte sie ein. Sie wurde zu Boden gerissen. ,,NEIN!! Lass mich!“ Er zog sie hoch, drückte sie gegen einen Baum und sie schrie auf, als sie seinen Hals sah, in der zwischen aufgeschlitztem Fleisch und Sehnen eine Arterie das Blut heraus pochte. Seine Klamotten waren blutgetränkt, schimmerten nass in der Dunkelheit. Gonzo zückte ein Messer. Sie schlug um sich, versuchte, ihn von sich zu schieben. Vergebens. Schon spürte sie kaltes Metall an ihrer Kehle.

,,Wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich keiner haben...“

,,Aaahh!!“ Kreischend erwachte Marie. Panisch gingen ihre Augen durch den Raum, während sie schweißgebadet nach Atem suchte. Ihr Schrank, der Spiegel, das Fenster, die Tür - ihr Zimmer. Sie war in ihrem Zimmer, in ihrem Bett.

Die Sonne war bereits aufgegangen.

Sie hatte den ganzen Morgen verschlafen.

Marie schloss die Augen und fiel zurück ins klatschnasse Laken. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, so sehr, dass sie es spüren konnte. Sie musste sich richtig zwingen, sich zu beruhigen.

Es war nur ein Traum, nur ein Traum..., wiederholte sie in Gedanken, war jetzt hellwach. Es war nur ein Traum. Er ist tot. Er kann mir nichts mehr anhaben... Nur langsam normalisierte sich ihr Herzschlag wieder, während sie an die Zimmerdecke starrte.

Noch nie hatte sie so einen Albtraum gehabt. Alles war so real gewesen. ,,Noch dazu ganz allein“, wiederholte sie seine Worte und in diesem Moment sehnte sie sich wieder nach Thorin.

Wäre er bei ihr, dann würde er sie jetzt in den Arm nehmen und ihr etwas von seiner Stärke geben.

Wie sehr wünschte sie sich jetzt, wieder jemanden bei sich zu

haben. Hilda, Anna oder Mel… Ganz egal. Nach ihnen sehnte sie

sich genauso wie nach ihrem Zwerg. Sie waren für sie da, wenn sie sie brauchte. Dies wurde ihr bewusst, als sie ins Nichts star-rend in ihrem Bett lag, Arme und Beine weit von sich gestreckt.

Eine bekannte Stimme rief ihren Namen zwischen energischem Klopfen und ließ sie ihren Kopf heben. Anna… Abrupt richtete sie sich auf. Anna! Die Decke flog zur Seite und Marie sprang aus dem Bett, eilte die Treppe hinunter. Als sie im weißen Nachthemd bekleidet die Haustür aufriss, wich Annas sauertöpfische Miene. Sofort umschlang sie ihre kleine Freundin, so als wollte sie sie nicht mehr loslassen, und Marie erwiderte die Nähe, legte ihre um ihren Rücken, presste den Kopf an sie. So standen die beiden Frauen in der offenen Tür und umklammerten sich gegenseitig.

Die Umarmung war Balsam für ihr Herz und Annas Körper schirmte den herein wehenden Wind und seine Kälte ab.

,,Warum schließt du dich ein?“, flüsterte sie mit zitternder Stimme.

,,Weil alles so schwer ist…“ Noch enger legten sich die Arme um sie.

,,Du kannst uns doch vertrauen, mit uns über alles reden. Wir wollen dir nichts Böses.“

,,Ich weiß…Es tut mir leid.“

,,Schon in Ordnung.“ Anna löste sich von ihr, legte ihr die Hände an die Wangen, dann auf die Schultern und musste schmunzeln, als sie sie musterte. ,,Du hast bestimmt noch nichts gefrühstückt, so wie du ausschaust.“

Marie schüttelte den Kopf und musste tatsächlich schmunzeln.

,,Hast du Hunger?“

,,Hm“, machte sie und meinte es auch. ,,Großen.“

,,Zieh dich an. Ich mach dir was.“

,,Danke“, sagte sie und Anna lächelte. Marie eilte in ihr Zimmer und musste sich ihr anderes Kleid, das eigentliche gute mit dem roten Rock und dem samtigen Mieder aus Hirschleder anziehen, da sie ihr alltägliches beim Ausziehen so zusammen geknüddelt hatte, dass es nun ganz faltig war. Es bettelte geradezu danach gewaschen zu werden. Marie zog sich an und riskierte sogar einen vorsichtigen Blick in ihren Spiegel. Naja, gut war etwas anderes, doch ihr Gesicht hatte endlich wieder Farbe bekommen. Nur ihre verwuschelten Haare standen in alle Richtungen, glänzten etwas fettig. Höchste Zeit für eine anständige Wäsche, dachte sie und fing an, ihre Haare zu bürsten.

Als sie wieder herunter kam, war ihr Wohnraum bereits von einem verführerischen Duft erfüllt. Anna stand am Herd und schob mit einem Holzlöffel Bratkartoffeln mit Ei in der Pfanne hin und her. Die geschmolzene Butter darin roch köstlich. Ihre goldbraunen Haare wirbelten schwungvoll mit, als sie sich zu ihr umdrehte. ,,Jetzt siehst du wenigstens nicht mehr wie ein Gespenst aus. Setz dich. Ist schon fertig.“

,,Wie hast du das so schnell hinbekommen?“, fragte Marie verblüfft, während sie sich an den Tisch setzte, wo schon ein Teller mit Besteck stand.

,,Ich kann halt zaubern“, meinte sie bester Laune und schob gleich alles aus der Pfanne auf ihren Teller.

,,Nicht so viel!“

,,Du musst essen. Du siehst furchtbar aus“, erklärte sie knapp mit ihrer mütterlichen Strenge.

,,Dann iss aber wenigstens etwas mit, wenn du schon für mich gekocht hast.“

,,Na gut.“ Schmunzelnd, die Hände an ihrer Schürze abwischend, die über ihrem hellgrünen Rock lag, setzte sich Anna mit einer zweiten Gabel ihr gegenüber und Marie schob den Teller in ihre Mitte. ,,Hilda und Mel kommen auch gleich. Dann kümmern wir uns erst mal um dein Vieh. Das macht einen Heidenlärm im Stall.“

Oh. Marie nahm sich selber vor, es besser zu versorgen.

,,Danke“, sagte sie mit vollem Mund. Wie köstlich schiere

Bratkartoffeln doch schmecken können…

,,Obwohl deine Kammer ja nicht viel herzugeben hat, ist es schön zu sehen, dass es dir trotzdem schmeckt.“ Sie hob das Glas Apfelkompott hoch, das noch immer auf dem Tisch stand. ,,Macht wohl nicht so satt, wie?“

,,Nee“, nuschelte Marie mit vollem Mund, woraufhin Anna kopfschüttelnd grinsen musste. ,,Woher hast du die Eier genommen?“, fragte sie und spießte gleich mehrere Kartoffel-stücke mit der Gabel auf, als ihr Blick auf die Eierschalen neben dem Herd gefallen war.

,,Ginja hat sie mir für dich mitgegeben.“

Marie bemerkte, dass sie noch etwas hinzufügen wollte, es dann aber doch sein ließ. Mit hochgezogener Stirn sah sie sie an.

,,Sie hat nach dir gefragt.“

,,Und was hast du ihr gesagt?“

,,Dass es dir nicht so gut geht im Moment.“

Marie sagte dazu nichts. Es war ja auch die Wahrheit.

,,Sie hat mich geben, dich zu ihr zu schicken, wenn es dir besser geht. Wegen ihren Händen. “

Anstatt zu antworten, schob sie sich den nächsten Bissen in den Mund. Anna ging nicht weiter darauf ein. Essend saßen sich die beiden gegenüber. Dann schauderte Anna und rieb sich über die Arme. ,,Marie, in deinem Haus ist es furchtbar kalt. Hattest du gar kein Feuer an?“

Diese schüttelte den Kopf.

,,Draußen geht ein eisiger Wind. Man merkt, dass es Winter wird. Wir müssen unbedingt den Kamin anfachen, ehe wir zum Melken gehen. Falls es dich interessieren sollten. Die Beerdigung von Gonzo ist heute. Ich nehme an, du gehst dort nicht hin.“

Sie hörte auf zu kauen, musste aufpassen, sich nicht zu verschlucken. ,,Ich kann nicht. Nicht nach dem, was passiert ist.“

Anna nickte verständnisvoll und wartete, ob sie mehr erzählen würde. ,,Ich gehe auch nicht hin“, fügte sie schließlich nur noch

hinzu und schwieg. Es klopfte an der Haustür. ,,Ist offen!“

Als Hilda eintrat und die beiden zusammen am Tisch sitzen sah, breitete sich ein Lächeln auf ihrem fülligen Gesicht aus.

,,Marie!“ Mel schob sich an ihr vorbei und lief auf sie zu.

,,Hallo, mein Schatz.“

,,Dir geht es besser!“

,,Ja, ein wenig.“

Hilda schloss die Tür und kam ebenfalls zu ihr. ,,Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht!“ Fest und herzlich wurde Marie an ihren Busen gedrückt.

,,Es tut mir leid, wegen gestern…“

,,Ach, das ist schon vergessen. Hach, jetzt wird alles besser.“

Zwar sagte etwas in Marie ihr, dass dies nicht so war, doch sie ignorierte die dunklen Befürchtungen.


Die Blätter der Bäume am Waldrand waren bereits fast alle niedergefallen. Es war ein kalter Tag mit schneegrauem Himmel. Der Wind brachte weitere Kälte aus dem Norden mit.

Die Frauen saßen im Stall auf Melkschemeln, jede eine Ziege vor sich. Auf einem umgedrehten Eimer an der Boxenreihe gegenüber stand Mel und kraulte einer Kuh die Locken auf dem Kopf. Das Geräusch der spritzenden Milch in die Metalleimer wurde nur durch die ab und an rasselnden Ketten der Kühe gestört.

Marie ergriff die Situation, um etwas loszuwerden, was ihr schwer auf der Seele lag. ,,Ich möchte mich bei euch bedanken. Dass ihr euch solche Mühe gebt und euch so um mich kümmert, ist nicht selbstverständlich für mich.“

,,Dafür sind Freundinnen doch da“, sagte Anna neben ihr.

Unbewusst fuhr Hilda mit einem anderen Thema fort: ,,Marie, hast du die letzten Tage getrunken?“

,,Wie bitte?“

,,Du riechst irgendwie nach Bier.“

Bier? Ich hab kein Bier getrunken. Wann hab ich denn…? Oh.

Der lange und ereignisreiche Abend in der Kneipe holte sie

wieder einmal ein. Sie sah an sich hinunter. ,,Das ist wohl mein Kleid“, stellte sie bitter fest und presste die Lippen aufeinander.

,,Man trinkt es eigentlich, anstatt es sich auf die Klamotten zu schütten“, meinte Hilda nichtsahnend lachend. Aus dem Augenwinkel sah Marie, dass Anna sie mit dem Ellenbogen anstieß und den Kopf schüttelte, woraufhin ihr Lachen verebbte. Dann herrschte Schweigen, bis sich Hilda seufzend erhob und ihre Ziege losband. ,,Diese hier gibt fast gar keine Milch“, sagte sie kopfschüttelnd und zeigte den beiden ihre dürftige Ausbeute, die sie dann in den Eimer von Marie schüttete.

,,Die ist schon alt. Ich denke, ich werde sie bald zum Metzger bringen.“

,,Nein! Nicht Gänseblümchen!“, rief Mel entsetzt.

,,Mel, das ist nun mal so“, versuchte ihre Mutter zu vermitteln. ,,Wir halten dafür Tiere und du magst doch auch Fleisch, oder?“
,,Schon...“
,,Na, siehst du. Und außerdem hab ich dir immer gesagt,“ fügte sie strenger hinzu, ,,dass du Ziegen, Kühen, Hühnern oder Schweinen keine Namen geben sollst.“
,,Trotzdem ist das gemein“, murmelte die Kleine und verschränkte trotzig die Arme. ,,Wenn ich groß bin, dann werde ich meinen Tieren alle Namen geben und die werden dann nicht gegessen.“

,,Das werden wir sehen…“

,,Und wenn die Ziege wie ein Hund mit im Haus lebt?“

,,Denk nicht einmal daran, Fräulein.“

,,Manno.“

Hilda streichelte dem Mädchen tröstend über den Scheitel, als sie mit Eimer und Schemel in die Box trat. ,,Ich war übrigends bei den Gauners, um nach dem Baby zu sehen“, erzählte sie und fing an, das Euter der Kuh mit ihrer Schürze zu säubern. ,,Dem Kleinen geht’s gut, hat mächtig Appetit und ein lautes Organ.“

,,Oh, ein Junge? Wie schön. Darüber hat sich Elia bestimmt

gefreut.“

,,Das ist wirklich schön zu hören“, sagte auch Marie. ,,Könntest du mir noch einen Gefallen tun, Hilda?“, fragte sie, nachdem sie sich Annas Worte über Ginja nochmal ins Gedächtnis gerufen hatte. ,,Könntest du Ginja die Ziegenmilch und etwas von der Kornblumensalbe bringen?“
,,Mache ich.“ Zwar schwieg sie danach, doch man konnte spüren, dass sie etwas hinzufügen wollte, was sie dann auch tat. ,,Marie, du kannst dich nicht für immer hier verstecken“, begann sie mit einem herantastenden Ton im Schutze von zwei halbhohen Wänden. ,,Irgendwann musst du wieder ins Dorf gehen. Du wirst gebraucht. Du bist die Heilerin – nicht ich.“

,,Für das, was sie gesagt haben, sollte ich eigentlich nie wieder einen Finger an sie legen“, knurrte Marie verbittert gegen die Ziege.

,,Hilda hat mir alles erzählt, was auf dem Markt passiert ist“, mischte sich Anna ein. ,,Nicht jeder dort will dir etwas böses, Marie. Die Marktweiber haben über die Stränge geschlagen.“

,,Rabia hat mich Hure genannt. Alle haben angefangen zu lachen. Ich war das Gespött des ganzen Marktes. Du hast ihre Blicke nicht gesehen - ich dafür schon.“

,,Was ist eine Hure?“, ertönte Mels zartes Stimmchen.

Oh, Mist. Dass Mel ja noch da war, hatte Marie glatt vergessen. ,,Das ist eine Frau, Mel, die Männer in ihr Bett lässt und dafür Lohn bekommt“, antwortete sie deshalb der Kleinen selber, damit Anna davon befreit war.

,,Aber das bist du doch nicht“, sagte Mel und stand plötzlich neben ihr. Marie sah hoch in ihre großen Kinderaugen.

,,Hör nicht darauf.“

Mel, wie süß du bist.

,,Du, Marie?“

,,Ja?“

,,Meine Mama hat gesagt, dass dir dein Herz wehtut. Tut es das

immer noch?“

,,Ja, tut es. Aber wenn du bei mir bist und deine Mama und Hilda, dann schmerzt es nicht ganz so.“

,,Wirklich?“

,,Ja.“ Ja, das stimmte. Die Nähe und Hilfe ihrer Freundinnen und die Geborgenheit, die sie dadurch geschenkt bekam, legten sich über den Schmerz, wie ein Verband über eine pochende Wunde.

,,Deine Flecken am Hals haben andere Farben als letztes Mal.“

Dass ihre Freundinnen und auch Mel es nicht absichtlich tun, wusste sie, doch sie erinnerten sie unbewusst an diesem Tag immer wieder an ihn und an das Geschehene. In ihr gewann der Schmerz wieder die Oberhand, doch sie tat einen Atemzug und stellte sich ihm und ihren schweren Erinnerungen, für die sie sonst nie die Kraft hatte. ,,Sie sind wie blaue Flecke, mein Schatz. Sie verfärben sich, ehe sie verschwinden.“

So als wären sie ihr wieder eingefallen, fragte Mel schnell und etwas aufgeregt hinterher: ,,Sind das Knutschflecke?“

,,Woher kennst du die?“

,,Ich kenne einen, der hat erzählt, dass die vom Küssen kom-men“, erzählte sie, hielt sich kichern eine Hand vor dem Mund.

Sanft klopfte Marie der Ziege auf den Rücken, als keine Milch mehr kam. ,,Auch das stimmt, mein Schatz.“

Hörbar tat die Kleine einen Atemzug. ,,Es war dein Zwerg, den du besonders vermisst, oder? Er hat dich geküsst, deshalb vermisst du ihn“, plapperte sie drauflos.

,,Mel!“, griff jedoch ihre Mutter streng ein, als auch sie gerade dabei war, ihre Ziege loszubinden. ,,Du sollst doch warten, bis sie dir von sich aus etwas erzählt, hab ich dir gesagt.“

Schuldbewusst schaute ihre Tochter zu Boden.

Marie sah zu dem kleinen Mädchen, das niedergeschlagen im

Stroh stand. Die Kleine konnte ihre Neugierde einfach nicht zügeln. Sie wusste, dass sie nicht verstand, warum sie so ein Geheimnis draus machten. Als Kind war Marie genauso neugierig gewesen und erkannte sich selbst in ihr wieder.

,,Ist schon in Ordnung, Anna“, sagte sie und drehte sich zu ihrer Zuhörerin. ,,Mel, ich verspreche dir, dass ich dir alles erzählen werde.“

,,Jetzt?“

,,Nein, nicht jetzt. Bald. Und ja, Thorin und ich haben uns geküsst.“ Es wurde still im Stall, als sein Name die Luft zum ersten Mal brach.

,,Thorin? Heißt er so?“

Dieses Wort, an dem so viel hing, aus einem anderen Mund zu hören, war noch etwas ganz anderes, als nur in ihrem Kopf. ,,Ja…so heißt er.“

,,Ein schöner Name“, sagte Anna leise.

Sie konnte förmlich ihr Lächeln sehen und versuchte sich selbst an einem, doch es gelang ihr nicht. Mels Kichern riss sie aus ihren Gedanken. ,,Was ist so komisch?“

,,Ich hab auch gehört, dass Knutschflecke kommen, wenn man Liebe macht. Hast du mit Thorin Liebe gemacht?“

Stumm nickte Marie, schluckte und strich dem neugierigen Mädchen mit den großen, runden Augen über die blonden Haare.

,,Dann liebst du ihn und er dich! Das ist toll!“, rief sie, hüpfte in die Hände klatschend auf und ab und Marie wünschte sich für die Kleine nichts sehnlicheres, als dass ihre heile Welt niemals brechen würde. Sie stand auf, hob dabei den Eimer an und wollte ihn auf die Stallgasse stellen.

,,Dann bekommst du jetzt ein Baby?“

Es schepperte gewaltig. Der Eimer knallte zu Boden und die Milch wurde in den Stall geschleudert, versickerte im Stroh.

Anna sprang auf und musste Marie stützen.





10



Ist irgendetwas hinter uns?!“, rief Thorin, ruderte mit einem Ast voran, den er irgendwann aus dem Wasser gefischt hatte. Seine Lungen brannten bei jedem Atemzug.

,,So weit ich seh‘, nichts!“, antwortete Balin.

Dunkelblau und glatt war nun das Wasser, die Strömung abge-flaut. Der Fluss hatte sich wieder beruhigt. Zwar klammerte sich, wie eine Maus an einem Stück Treibholz, bewegungslos und mit riesigen Augen Bilbo an ein umgekipptes Fass, doch alle Gefährten waren aus dem Kampf an der Schleuse und in den Stromschnellen herausgekommen. Den Elben waren sie entkommen, doch nun lauerten wieder Orks hinter ihnen. Er hatte Azog nicht gesehen, dafür aber Bolg und Thorin wusste, dass dieser dem bleichen Ork hörig war. Azog jagte sie nicht länger; er ließ sie jagen.

Bofur tauchte aus seinem Fass auf und spuckte erst mal einen ganzen Schwall Wasser aus. Er sah zurück, doch musste sich zuerst seine durchnässte Mütze aus dem Gesicht schieben. ,,Ich glaube, wir haben die Orks abgehängt.“

,,Nicht für lange, ohne Strömung“, knurrte Thorin.

,,Bombur ist halb ertrunken!“, rief Dwalin neben ihm, der wie die anderen mit den bloßen Händen vorwärts ruderte.

,,Gloin? Hilf mir mal, Bruder!“, rief Oin, dessen Fass sich nur um die eigene Achse drehte.

Thorin schaute die Felswand zu ihrer Linken empor, hielt auf ihrer bewaldeten Kante wachsam Ausschau, blickte dann zur anderen Seite, wo Felsen sich ebneten. Sie mussten aus dem Wasser raus. ,,Alle zum Ufer!“, befahl er und seine Männer paddelten drauf los.


,,Komm schon, Junge, hoch mit dir.“ Dwalin musste Ori unter

die Arme fassen, um ihn aus dem Wasser und wieder auf die Beine zu bekommen. Durchgeweicht klebten ihre Kleider an ihnen, als die Männer triefend und erschöpft an Land krabbelten.

Oben angekommen fiel Kili auf die Knie. Sein Bein war schwer wie Blei, wurde bei jedem Schritt schubweise von einem glühenden Schmerz geplagt. Er nahm es nach vorn, riss von seinem Unterhemd ein Stück ab und drückte es auf die Wunde.

Als er sich von der Schleuse ins Fass fallen gelassen hatte, war die Pfeilspitze mit herausgerissen und als nun der Stoff sein Fleisch berührte, musste er die Augen schließen, den Kopf in den Nacken legen. ,,Verdammt.“ Er hatte Mühe seine Stimme zu kontrollieren. Sein Blick fiel zu Bofur, der neben ihm das Gesicht verzog und ihn besorgt ansah. Der Prinz verdunkelte seine Miene. ,,Es geht mir gut. Es ist nichts.“

Thorin warf den Ast von sich. Seine vollgelaufenen, zentner-schweren Stiefel klitschten, während er unruhig am Ufer entlang ging, bis er wie angewurzelt stehen blieb. Seine Hand griff in seinen Hosenbund und hörbar stieß er den angehaltenen Atem aus. Die lederne Hülle, in der die Karte und der Schlüssel gewickelt waren, war noch da. Er holte sie hervor, schnürte und wickelte sie auf. Wie durch ein Wunder war das alte Pergament vom Wasser geschützt geblieben. Auch der große, kantig gearbeitete Schlüssel mit der Schnur war noch da. Sorgsam und stramm wickelte er sie wieder ein und schnürte die ledernde Kordel zu. Dann sah er den Fluss hinauf.

Keine Anzeichen von ihren Verfolgern.

Sein Hemd fühlte sich mittlerweile an, als bestünde es aus reinem Eis. Wir sterben hier noch an Unterkühlung, können kein Feuer machen. Wir würden unseren Aufenthaltsort den Orks nur vor die Füße legen. Er fuhr sich durch die nassen Haare. Schon wieder waren sie ihnen auf den Fersen und nun könnten sie auch von Elben verfolgt werden. Dass er den betrunkenen Wachen nicht bei der Gelegenheit den Schädel eingeschlagen hatte, bereute er

zutiefst. Sie mussten weiter und zwar sofort. Kein zweites Mal durften sie aufgehalten werden. Der Durins-Tag war unaufhaltsam gekommen. Sie hatten keine Zeit mehr.

Thorin sah flussabwärts und vermutete, dass sie sich dicht an der Stelle befanden, wo der Fluss in den Langen See mündete. Im Osten zog eine Nebelbank auf, die schlechtes Wetter voraus-kündigte. Er sah seinen Neffen am Boden sitzen, neben ihm sein Bruder. ,,Steh auf“, befahl er ihm, als er vorbei ging.

,,Kili ist verwundet. Sein Bein muss verbunden werden“, entgegnete Fili.

,,Eine Orkmeute folgt uns. Wir müssen weiter.“

Einen ernsten Blick richtete Fili auf seinen Onkel, kümmerte sich jedoch weiter um die Säuberung der Wunde seines Bruders.

,,Und wohin?“, keuchte Balin, dessen schneeweißen Bart und Haare sich kräuselten und drückte sein Kreuz durch.

,,Na, zum Berg“, antwortete Bilbo laut. ,,Wir sind dicht dran.“

Was die anderen nicht wussten, war, dass hoch oben im braunen Blätterwerk des Düsterwaldes der wehende Wind ihm die, vom vergifteten Wald verursachte Schwere aus dem Kopf genommen hatte. In der Ferne hatte er den Einsamen Berg gesehen. Nur noch wenige Meilen waren es noch bis dorthin. Er hatte es den anderen am Waldboden zugerufen, doch keine Antwort erhalten, da sie, wie Bilbo wenig später mit Graus feststellen sollte, schon von den Spinnen verschleppt worden waren.

,,Ein See liegt zwischen uns und dem Berg. Wir haben nichts, um ihn zu überqueren.“

Achselzuckend meinte er: ,,Gehen wir doch drum herum.“

,,Dann werden uns die Orks zur Strecke bringen.“ Dwalin kam dazu, stellte sich an Thorins Seite. Seine Hosenträger spannten sich über sein grünes Hemd, das nass auf seinem Körper klebte. ,,Todsicher. Wir haben keine Waffen, um uns zu verteidigen.“

Abermals blickte Thorin den Fluss hinauf, um deren Biegung

jeden Moment ihre Jäger auftauchen könnten. ,,Verbindet sein

Bein, schnell“, wies er seine Neffen an. ,,Ihr habt zwei Minuten.“

,,Fili, lass. Es ist halb so schlimm.“

,,Sei nicht so stur.“

,,Es geht schon“, wollte er ihn abwimmeln, doch als Fili sein Bein fasste, um die Wunde noch einmal zu beäugen, konnte er geradeso den Mund zusammenpressen.

Entschlossen zog sein Bruder sein Oberteil hoch, sein Unterhemd hervor und wollte das untere Viertel abreißen, doch der nasse Stoff blieb ganz.

,,Hast du noch ein Messer?“, fragte Bofur neben den beiden, der das Ganze verfolgte.

,,Nein“, er fuhr sich durch die nassen Haare, um sie wieder nach hinten zu legen, ,,die Spitzohren haben mir einfach alles abge-nommen – sogar die an meinen Stiefeln.“

Etwas blitzte auf. Sie hoben die Köpfe.

Thorin stand vor ihnen und hielt ihm den Dolch hin, dessen vor kurzen poliertes Metall von der Nässe bunt schillerte. Fili wechselte ein Blick mit ihm, nahm ihn dann aus seiner Hand.

,,Beeilt euch“, sagte er nur, den Blick wachsam auf das andere Flussufer gerichtet.

Mit einem Ruck stieß er die Spitze von unten her durch das Hemd, das geräuschvoll vom dünnen Blatt geteilt wurde. Fili nahm den Fetzen Stoff und wickelte ihn um Kilis Oberschenkel.

Als er den Knoten festzog, zog sein Bruder die Luft durch die Zähne ein, unterdrückte es, einen Laut von sich zu geben. Geradezu sadistisch schwoll der Schmerz an, doch seine Bemühungen, ihn versteckt zu halten, scheiterten.

Mit einem durchdringenden Blick funkelte der blonde Prinz ihn an. ,,Hör auf, zu lügen!“

,,Ich lüge nicht!“, gab Kili zurück. ,,Das tut nur weh, weil es

frisch ist. Ich will dich mal erleben mit einem Pfeil im Bein. Morgen wird es schon wieder besser sein.“

Er seufzte. ,,Du solltest das echt nicht auf die leichte Schulter

nehmen, Kili.“

,,Tu ich nicht.“ Trotzig zog er die Augenbrauen zusammen.

Fili entschied sich, nachzugeben, und wischte seine Finger sauber, während die restlichen Gefährten die Pause nutzten, um neuen Atem zu schöpfen und sich gegen die Kälte zu schützen. Die Bärte und Haare von jedem waren vom Wasser zerwühlt worden und sahen demnach ziemlich wüst aus. Sie wrangen ihre Kleider oder zogen die Stiefel aus, um das Wasser aus ihnen zu schütten und sie irgendwie halbwegs trocken zu bekommen.

Am Ufer zog sich Ori ebenfalls den Stiefel aus und schüttete das Wasser aus ihm. Aus dem Augenwinkel vernahm er eine Bewegung. Er drehte den Kopf und erstarrte. Groß und dunkel hob sich die Silhouette mit dem langen Bogen vor dem Himmel ab. Auch die anderen Zwerge schauten auf und entdeckten den Bewaffneten. Zwei Sekunden später stand Dwalin mit einem dicken Ast als Knüppel vor dem jungen Zwerg und machte einen Schritt auf den Fremden zu. Knackend bohrte sich ein Pfeil in das Holz hinein. Kili hob einen Stein auf, doch zu seiner Überra-schung wurde er ihm mit einem weiteren Pfeil präzise aus der Hand geschossen.

,,Macht das noch mal“, sagte der Fremde und spannte erneut den Bogen, ,,und ihr seid tot.“

,,Fili“, flüsterte Thorin , ohne den begabten Schützen aus den Augen zu lassen, und bekam den Dolch wieder zugeschoben. Langsam nahm er ihn hinter den Rücken, legte neu und feste die Hand um den Griff.

Während die anderen achtsam verharrten, trat Balin vorsichtig näher. ,,Verzeihung, aber Ihr seid wohl aus der Seestadt, wenn ich mich nicht irre.“ Der Mann drehte sich zu dem Zwerg, der schnell die Hände hob. ,,Diesen…Kahn, den Ihr da habt…“

Der Bogenschütze sah zu dem besagten.

,,Der wäre nicht zufälligerweise zu mieten?“


~


Ein einziger Satz und alles war in sich zusammen gebrochen. Ein Satz und neue Ängste waren aufgetaucht, die sie brutal zurück warfen. Würde es jetzt immer so sein?

Ein auf und ab ihrer Zuversicht?

Eine Wunde, sorgfältig verbunden, die durch einen Schlag wieder aufgegangen war und den weißen Verband mit Blut tränkte.

Das Feuer spiegelte sich in ihren Augen wieder, der Schimmer darin als einzige Regung mit dem auf und ab ihrer Atmung. Fast regungslos saß sie am Tisch, betend, dass es nicht wahr war.

,,Ich wollte nicht, dass du wieder traurig bist, Marie.“

Anna setzte sich ihre Tochter auf den Schoß und sprach beruhigend auf sie ein.
Marie musste schwer schlucken, senkte den Kopf.

Ein Baby. Ein Kind von Thorin. Unbewusst wanderte ihre Hand zu ihrem Bauch. War es geschehen? Wächst in ihr ein Kind von ihm? ,,Was ist, wenn ich schwanger bin?“
,,Dann ist es so“, flüsterte Hilda sanft. ,,Man kann es nicht ändern.“

Als unverheiratete Frau, welche nie ernsthaft über eine Vermählung rein zum Eigennutz nachgedacht hatte, hatte sie auch nie ernsthaft mit Kindern gerechnet. Mit den Jahren hatte sie sich abgefunden, keine Kinder zu bekommen. Weil ihre Leidenschaft in jener Nacht größer als ihre Vernunft gewesen war, hatte sie keinen Trank gegen eine Empfängnis getrunken. Marie kannte ein wirksames Mittel dafür und hätte es leicht zur Hand gehabt.

Doch dafür wäre es jetzt zu spät.

Unmerklich schüttelte sie bei dem Gedanken daran den Kopf. ,,Ich will nicht, dass es ohne Vater aufwächst...“, schluchzte sie, biss sich auf die Lippe, als ihre Hände anfingen zu zittern.

Das war ihre größte Angst. Die Angst, die allgegenwärtig in den

nächsten Tagen sein würde.

Dass er starb, nie mehr zurückkehrte.

Die Befürchtung, ihre derzeitige Situation mit einem Kind durch-stehen zu müssen… Schwangerschaft, Geburt, die ersten Monate.

Ihr Zittern wurde stärker bei der Vorstellung, dass ein unschuldiges Kind ohne Vater aufwachsen würde, kroch an

ihr empor und nahm ihren schwachen Körper.

,,Ich schaff das nicht ohne ihn.“

Hilda rückte näher zu ihr. ,,Marie, beruhig dich.“ Sie umfasste sie, legte ihre Hände auf ihre Unterarme. ,,Ganz ruhig...“

,,Noch ist es doch gar nicht klar“, ergriff Anna auf der anderen Bank mitfühlend das Wort. ,,Du weißt es noch nicht. Wir müssen abwarten.“

Wann hatte sie das letzte Mal ihre Blutung gehabt? Ihr wollte es einfach nicht einfallen. Sie schaffte es nicht, klare Gedanken zu fassen. ,,Ich kann das nicht.“

,,Marie...Beruhige dich. Das tut dir nicht gut“, flüsterte Hilda und strich ihr beunruhigt über den Körper, über die unruhigen Hände.

,,Ich will bei ihm sein“, hauchte sie, wurde von ihrem Zittern richtig geschüttelt. ,,Das ist das Einzige, was ich will…“ Marie fasste sich selbst an die Hände, die schon fast auf den Tisch schlugen, führte sie zu ihrem Mund, an ihre Stirn.

Ängstlich drückte sich Mel an ihre Mutter. ,,Mama, was hat Marie?“
,,Keine Angst. Alles ist gut, mein Liebling.“
Mein Liebling… Wie ein nicht enden wollender Regen prasselten die Eindrücke und Erinnerungen auf sie ein. Und Marie drohte an ihnen zu ertrinken. Diese zwei Wörter brachten ihren neu aufgebauten Damm zum endgültigen Brechen.

Voller Verzweiflung vergrub sie schluchzend den Kopf unter den Armen, krümmte sich, als Weinkrämpfe abermals Gewalt auf ihrem Körper ausübten.

Ihre Arme wurden ihr vom Kopf gehoben. Ihre Beine bewegten

sich nicht mehr von selbst, denn eigene Kraft konnte sie nicht mehr aufbringen. Jede, die sie noch besessen hatte, war verbraucht. Ihr Brustkorb drohte zu zerreißen. Das Atmen viel ihr so schwer. Tränenblind nahm sie wahr, wie jemand sie die Treppe hinauf trug. Ihr wurden die Sachen ausgezogen und Kälte umspielte ihre Haut. Arme umschlangen sie, ließen sie ins Bett sinken.

,,Leg dich hin“, flüsterte eine Stimme.

Kraftlos sank Marie auf die Seite und bekam von Anna die Decke übergelegt, während Hilda nach unten eilte. Mit einem Ausdruck von tiefer Betroffenheit setzte sie sich zu ihr ans Bett, strich ihrer weinenden Freundin über den Kopf. Um das krankhafte Zittern irgendwie zu unterdrücken, fasste Anna nach ihren Händen, hielt sie ganz fest.
,,Er hat mich immer so genannt...“
,,Das wusste ich nicht“, entschuldigte sich Anna.
,,Anna.“
Sie selbst musste schniefen. ,,Ich bin hier.“
,,Ich vermisse ihn so. Ich vermiss' ihn so schrecklich...“

,,Ich weiß...Ich weiß, Marie“, war das Letzte, was sie hörte.


~


Das Boot lag an einem kleinen Steg an. Es hatte ein breites, aufgerolltes, längsliegendes Segel mit kurzem Mast. In der Mitte besaß es keine Reling zu beiden Seiten, über die der Mann seinen Kahn mit den Fässern belud. Großgewachsen und von Arbeit kräftig war er. Die vorderen Strähnen seiner halblangen, schwarzen Haare hatte er sich zu einem kleinen, hohen Zopf zusammen gefasst. Er trug einen schwarzen Oberlippenbart und eine winzige Fläche unter der Unterlippe bärtig.

,,Wie kommt Ihr darauf, dass ich euch helfen würde?“ Trotz der

paar grauen Strähnen, die in den Zopf mit eingebunden waren,

hörte sich seine Stimme jung an.

,,Eure Stiefel haben schon bessere Tage gesehen“, argumen-tierte Balin, dem man das Reden überlassen hatte. ,,Wie auch Euer Mantel. Und zweifellos müsst Ihr hungrige Mäuler stopfen.“ Als hätte er einen Witz gemacht, lachte er in seinen Bart hinein. ,,Wie viele Bälger?“

,,Ein Junge und zwei Mädchen“, antwortete er knapp und rollte das nächte Fass zum Boot.

,,Und Eure Frau, denke ich mir, ist eine Schönheit.“ Nachdem er den nächsten Schachzug gesetzt hatte, schaute er guter Dinge zu seinen Kameraden hinter sich. So etwas wirkte immer.

Der Fremde jedoch sah den Fluss hinab. ,,Ja. Das war sie.“

Ehrlich betroffen sagte Balin: ,,Verzeiht, das war nicht meine Absicht.“

,,Och, komm, hör schon auf“, knurrte sein jüngerer Bruder hinter ihm voller Ungeduld. ,,Schluss mit den Höflichkeiten.“

Der Mensch richtete seine dunklen, tiefgründigen Augen auf den großen Zwerg. ,,Warum so eilig?“

,,Was geht Euch das an?“

,,Ich wüsste nur gern, wer ihr seid und was euch in diese Gegend verschlägt.“ Wissbegierig lehnte er sich über ein Fass.

,,Wir sind einfache Kaufleute aus den Blauen Bergen“, log Balin mit freundlicher Stimme ihm ins Gesicht. ,,Unterwegs zu unseren Verwandten in den Eisenbergen.“

Er nahm es ihm kein Stück ab. ,,Einfache Kaufleute, sagt Ihr?“

So kommen wir nicht weiter…,,Wir brauchen Essen“, mischte sich Thorin ein, trat näher, um die Sachen klar auf den Tisch zu legen. ,,Vorräte. Waffen. Könnt Ihr uns helfen?“

Der Kahnführer strich über die gesplitterten Kerben in einem Fass, die von den eingeschlagenen Pfeilen übrig geblieben waren.

,,Ich weiß, woher diese Fässer stammen.“

Achtsam beobachtete Thorin ihn. ,,Und wenn schon.“

,,Ich weiß nicht, was ihr mit den Elben zu schaffen hattet, gut

ausgegangen ist es nicht.“ Wenn er schmunzelte, bildeten sich

tiefe Falten neben seinem breiten Mund.

Thorin entgegnete nichts.

,,Ihr braucht die Erlaubnis des Bürgermeisters, um in die

Seestadt zu kommen“, fuhr der Mann fort und wandte sich von ihm ab, um das Tau aufzurollen, das das Boot am Steg hielt. ,,Sein ganzer Reichtum stammt aus dem Handel mit dem Waldlandreich. Er legt euch eher in Ketten, als dass er den Zorn Thranduils weckt.“ Dann warf er es Balin zu, der jedoch es verpasste, zu fangen.

,,Biete ihm mehr!“, raunte Thorin, bekam jedoch von seinem alten Weggefährten verständlich gemacht, dass er nicht so drängen sollte. Mit Argusaugen stellte er fest, dass der Kahnführer seine Worte gehört hatte. Dieser drehte sich jedoch mit scheinbar tauben Ohren um und verstaute Langbogen und Köcher an Deck.

,,Ich wette, in die Stadt komm man auch ungesehen!“, startete Balin erneut einen Überredungsversuch.

,,Ja“, meinte der Mann amüsiert, ,,aber dafür bräuchtet ihr einen Schmuggler.“ Balin war sofort an seiner Seite.

,,Und dem bezahlen wir das Doppelte.“

Sich aufrichtend sah der Mann erst auf ihn, dann zu den anderen Zwergen und fuhr sich hadernd übers Kinn.


Der flache Kiel glitt lautlos übers Wasser. Der Nebel war stetig dichter geworden, je näher sie dem See gekommen waren. Nun konnte man kaum die eigene Hand vor Augen sehen. Kleine Eisschollen trieben auf der Oberfläche, die ab und an gegen den Bug klackten und wie Glas knirschten. Die Zwerge standen fröstelnd im vorderen Teil des Bootes. Die Kälte biss ihnen schmerzhaft in die Haut unter den nassen Klamotten.

Thorin sah zu ihrem Fahrer, der mit seinem trockenen, braunen Mantel aus Rehhäuten am Heckruder stand und dies mit langen Bewegungen hin und her schob.

Menschen sind ja so durchschaubar. Und besonders die aus der Seestadt. Habgierig und voller Raffsucht waren sie schon immer gewesen. Wenn die Bezahlung stimmt, machen sie einfach alles… Sie sind doch alle gleich. Seine Gedanken stoppten mittendrin.

Nein, nicht alle Menschen waren gleich.

Marie war anders. Sie als einzige.

Sie gehörte ihm.

Aus dem dichten Nebel tauchten plötzlich Säulen und Mauer-reste auf. ,,Vorsicht!“, rief Bofur, krallte sich an einem Seil vom Mast fest, doch der Kahnführer lenkte geschickt sein Boot ohne irgendwo anzustoßen durch die Ruinen der alten, längst verges-senen Bauten.

,,Was habt Ihr vor? Wollt Ihr uns ertränken?“, knurrte Thorin.

,,Ich bin an diesen Wassern geboren und aufgewachsen, Meister Zwerg. Wollt ich Euch ertränken, würde ich es nicht hier tun.“

,,Pah, dieser vorlaute Seemensch…“, raunte Dwalin leise mit aufeinander gelegten Armen auf ein Fass gelehnt. ,,Ich sage, wir werfen ihn über Bord, dann ist Ruhe.“

Genervt über seinen Argwohn stöhnte Bilbo auf. ,,Bard. Der Mann heißt Bard.“

,,Woher weißt du das?“, fragte Bofur.

,,Äh - ich hab ihn gefragt“, antwortete Bilbo trocken, die Arme gegen die Kälte verschränkt.

,,Is‘ mir egal, wie er heißt. Ich kann ihn nicht leiden.“

,,Wir müssen ihn nicht leiden können“, mischte sich Balin ein, der am Boden saß und auf einem Querbrett ein paar Münzen zu kleinen Haufen geschichtet hatte, ,,wir müssen ihn nur bezahlen können. Gloin, reich mir die Münzen, die für Marie gedacht waren.“

,,Was?“ Thorin drehte sich zu ihm. ,,Habt ihr es ihr nicht gegeben?“

,,Ich hab’s versucht“, meinte Gloin und hob die Hände unschuldig von sich, ,,aber sie wollte es nicht annehmen.“

,,Sie hat es nicht angenommen?!“ Thorin fuhr sich über den

Bart, dann über den Nacken. ,,Ich hab euch gesagt, dass ihr euch von ihr nicht abwimmeln lassen solltet. Du hättest es ihr aufdrängen müssen! Warum hast du mich nicht hinzu gerufen?“

,,Thorin, du standest völlig neben dir“, mischte sich Balin ein.

Zitternd kauerte Ori neben den Münzhäufchen. ,,Du hättest sie doch nicht zwingen können, Thorin.“

,,Oh, doch. Ich hätte es getan!“

Schnell zog Ori den Kopf zwischen die Schultern.

,,Onkel“, Fili trat zu ihm. ,,Sie hat gespürt, dass wir es noch brauchen werden.“

Er fuhr sich durch die Haare und musste sich damit abfinden. Daran etwas ändern konnte er eh nicht mehr.

Marie, was machst du für dumme Sachen? Er musste zusehen, wie Gloin das ledernde Säckchen zu Balin reichte und die Münzen zu den anderen getan wurden, die sie alle für sie gesammelt hatten.

,,Na los, Jungs, auch ihr. Krempelt eure Taschen um.“

Alle murrten auf, als sie ihren letzten Rest zusammen kratzen mussten.

,,Woher wissen wir, dass er uns nicht hintergeht?“, raunte Dwalin an Thorin gewandt.

,,Gar nicht.“

,,Es gibt, ähm, eine kleine Schwierigkeit“, begann Balin zögernd, als er noch einmal durchgezählt hatte. ,,Uns fehlen zehn Münzen.“ Abermals murrten die Männer.

,,Gloin“, sagte Thorin nur. Der Angesprochene stotterte sogleich empört vor sich her. ,,Komm schon. Gib uns, was du hast.“

,,Seht mich nicht so an! Diese Reise hat mich völlig ausbluten lassen.“

Thorin drehte die Augen zum Himmel und seine Gesichtszüge entglitten ihm. Sein Herz setzte ein paar Takte zu, den Blick in der Ferne gerichtet, ergriffen von dem Anblick, der sich ihm bot.

Dann sahen es auch die anderen und langsam erhob sich voller

Ehrfurcht jeder von ihnen.

,,Und was hab ich für meine Aufwendung bekommen? Nicht

als Kummer und Elend und…“ Schließlich bemerkte auch Gloin

es. Alle starrten schweigend in die gleiche Richtung.

Die Nebeldecke riss auf und vor dem Himmel tauchten die mächtigen Umrisse des Einsamen Berges auf, der auf einmal zum Greifen nah war. Das Ziel ihrer Reise, mehrere Meilen entfernt, aber dennoch so nah.

Erebor. Ihre Heimat.

,,Bei meinem Barte…“, brach Gloin leise die heilige Stille. Mit zittriger Hand holte er ein Säckchen hervor und reichte es Balin. ,,Nehmt es. Nehmt alles.“

Plötzlich räusperte sich Bilbo und wies zur Seite.

Mit großen Schritten kam Bard zu ihnen. ,,Das Geld, schnell. Her damit.“

Ihr Anführer blieb eisern. ,,Wir werden Euch erst bezahlen, wenn wir unsere Vorräte haben.“

,,Wenn Euch die Freiheit lieb ist, tut Ihr, was ich sage.“ Seine Augen waren groß, richteten sich jetzt nach vorne. ,,Da vorn stehen Wachen.“ Die Zwerge drehten sich danach um.

Das Boot trieb nach rechts ab und etliche Gebäude und Türme tauchten aus dem Nebel auf, davor Stege und Boote.

Esgaroth, dachte Thorin und blickte der Stadt auf dem See entgegen.











11



Schon wieder in diesem verfickten Elbenfass…, knurrte Thorin in sich hinein. Sollte er noch einmal hier hinein kriechen müssen, würde er die Krätze bekommen. Eigentlich müsste es ihm recht sein, wenn sie so ungesehen in die Stadt kamen konnten. Aber das war es nicht.

Er und seine Männer hockten nun alle wieder in den Fässern und starrten wartend auf die Bretter vor sich. Vögel flogen kreischend über sie hinweg und Thorin sah hoch in den grauen Himmel. Schon bald würde es anfangen zu schneien.

Er konnte hören, wie das Boot über das Wasser fuhr, doch die davon verursachten Geräusche flauten ab. Sie wurden langsamer. Bard verließ das Ruder. Dann stieß die linke Seite an einen Wiederstand und ein Tau schleifte kurz über das Holz.

,,Bleibt hier“, raunte ihr Schmuggler und verließ sein Boot.

Um sie herum waren Stimmen und andere Geräusche ange-schwollen. Da sie aber noch durch kein Tor gefahren oder Häuser über ihnen erschienen waren, mussten sie sich noch vor der Stadt befinden. Sie konnten nicht sehen, was vor sich ging, hatten somit keine andere Wahl, als dem fremden Menschen zu vertrauen.

,,Ich kann ihn sehen“, flüsterte ihr Hobbit auf einmal.

,,Was tut er?“, raunte Dwalin.

,,Er spricht mit jemandem“, antwortete Bilbo, der durch ein Loch im Fass spähte. ,,Jetzt zeigt er direkt auf uns!“

Thorin verharrte in einer Schreckstarre. Was hatte der Kerl vor?

,,Jetzt geben sie sich die Hand.“

,,Was?“ Das darf nicht wahr sein…

,,Verräter. Er will uns ausliefern“, raunte Dwalin wieder.

Als jedoch Schritte sich näherten, verstummten und erstarrten die

Männer. Ketten rasselten. Etwas quietschte.

Vorsichtig spähte Thorin nach oben, doch da wurde auch schon sein Körper von Nässe und Kälte durchgerüttelt. Die Gefährten wurden überschüttet mit toten, nassen Fischen.

Schleimige Schuppen schlugen ihm ins Gesicht. Er versuchte, sich an den Rand zu drücken, doch immer mehr wurden über ihn geschüttet und begruben ihn. Bis zum Rand des Fasses und darüber hinaus türmten sich die Fische über ihm. Als der Regen dann endlich aufhörte, war er gefangen vom Gewicht der stinkenden Tiere. Sich zu bewegen oder zu atmen war durch das Gewicht und den penetranten Geruch schier unmöglich. Mit brodelndem Gemüt bedankte Thorin sich bei ihrem Fahrer für seine glorreiche Idee.

,,Still jetzt!“, hörte er diesen nur schwer sagen, als einer von ihnen sich missfällig in seinem stinkenden Versteck regte.

,,Wir kommen ans Zolltor.“

Auch die Geräusche des Wassers, was unten dem Bug entlang strich, waren fast nicht zu hören, als er bemerkte, dass sie wieder fuhren. Wehe, sie kamen nicht gleich irgendwo an…

,,Halt!“, rief eine hohe, gutgelaunte Stimme. ,,Warenkontrolle! Papiere bitte! Ach, Ihr seid es, Bard.“ Offenbar kannten sie sich.

,,Morgen, Peredur.“

,,Habt Ihr was anzumelden?“

,,Nichts. Ich bin nur durchgefroren und müde.“ Das Boot kam zum Stehen und Bards markante Schritte seiner dünnen Stiefel gingen wieder über die Dielen.

,,Dann geht’s Euch wie mir.“

Eine längere Pause folgte, deren Sekunden, umgeben von einer glitschigen, kalten Masse, die einem auf dem Gesicht lag, sich wie zäher Teig dehnten.

,,Bitte sehr“, sagte der Kontrolleur endlich nach einer gefühlten Ewigkeit. ,,Alles in Ordnung.“

,,Nicht. So. Voreilig.“ Eine dritte Person mischte sich ein.

,,Lieferung von leeren Fässern aus dem Waldlandreich... Nur sind

sie nicht leer. Stimmt‘s, Bard? Wenn ich mich recht entsinne, habt Ihr eine Genehmigung als Kahnführer und nicht als Fischer.“

,,Das geht Euch nichts an.“

,,Irrtum.“ Seine doppelzüngige Stimme war scheinheilig freundlich. ,,Es geht dem Bürgermeister etwas an und somit geht es mich etwas an.“

Die rechte Hand des Bürgermeisters also. Wohl eher der Köter von diesem. Spielt sich auf, als sei er eine große Person. Ohne ihn einmal gesehen zu haben, wusste Thorin gleich, dass er ein Heuchler war.

,,Ach, kommt, Alfred, habt ein Herz. Die Menschen müssen essen!“

,,Dieser Fisch ist nicht genehmigt!“ Es platschte laut neben dem Boot. ,,Kippt die Fässer über Bord.“

,,Ihr habt’s gehört. In den Kanal damit!“, erklang auf einmal eine laute, barsche Stimme und schon kamen mehrere Männern auf‘s Deck.

,,Die Bürger der Stadt leiden Not“, hörte Thorin Bard durch das Klappern von Metall hindurch. Soldaten, kombinierte er. Sie hatten immer noch keine Waffen, um sich zu verteidigen.

,,Die Zeiten sind schwer. Nahrung ist knapp.“

,,Das ist nicht mein Problem“, antwortete Alfred träge, während ein Fass bereits neben ihm über die Dielen schrappte.

Thorin spannte sich an, überlegte fieberhaft, wie sie die Menschen überwältigen oder nur Not fliehen konnten.

,,Und wenn die Leute hören, dass der Bürgermeister Fisch in den See wirft? Wenn die Aufstände beginnen? Wird es dann Euer Problem sein?“

Neben ihm platschte es ins Wasser und er realisierte, dass es die Fische waren, die ins Wasser fielen.

Gleich würde man sie entdecken.

„Aufhören“, knurrte jedoch dieser Widerling namens Alfred. Wie befohlen wurden die Fässer wieder hingestellt und wenn er Luft hätte holen können, hätte Thorin einen tiefen Atemzug gemacht. Die Soldaten zogen sich zurück.

,,Der Befürstreiter des Volkes, he, Bard? Der Beschützer der kleinen Leute.“ Was Alfred dann sagte, konnte Thorin nicht mehr verstehen.

,,Öffnet das Tor!“, erklang stattdessen die hohe Stimme von diesem Peredur. Ketten rasselten und Metall quietschte, als man das Tor hoch zog. Langsam setzte sich das Boot wieder in Bewegung.

,,Der Bürgermeister hat ein Auge auf Euch, merkt Euch das lieber“, zischte dessen Köter. ,,Wir wissen, wo Ihr wohnt.“

,,Ist ne‘ kleine Stadt, Alfred!“, antwortete Bard. ,,Jeder weiß von jedem, wo er wohnt.“


Bard, der Beschützer der kleinen Leute, wiederholte Thorin unter dem Fisch, als sie ihren Weg fortsetzten. Der Rebell von Seestadt also. Er ist bei den Leuten beliebt, gefürchtet vom Bürgermeister. Warum sonst sollte dieser Alfred ihn so unter Bewachung stellen? Doch beim Schlagwort ,Aufstände´ hat er nachgegeben… Der Bürgermeister steht in einem schlechten Licht und fürchtet über seine Position, weil Bart die Leute auf seine Seite zieht… Wir sollten uns noch mehr in Acht vor ihm nehmen als bisher.

Das Boot hielt wieder und die dünnen Stiefelsohlen gingen über’s Deck. Dann polterte es und jemand hustete auf. Dann noch einmal. Bard musste die Fässer umgeworfen haben.

,,Nehmt ja die Hände weg“, hörte er seinen besten Freund warnen und drückte sich dann ebenfalls hoch, stieß mit den Armen durch die Fische und zog die frische Luft ein.

Was für eine Erlösung! Überall tauchten die Gefährten angewidert aus den Fischen empor und kletterten aus den Fässern. Auf Bifurs Axt blieb einer stecken.

Während die Zwerge Luft holten, sich schüttelten und ihre

Sachen abstrichen, sah Thorin, dass Bard abseits mit einem Mann

sprach. Eine Münze blitzte auf, die er ihm in die Hand drückte.

,,Du hast sie nicht gesehen. Sie waren niemals hier.“ Er wollte sich abwenden, fügte noch hinzu: ,,den Fisch kannst du umsonst haben.“ Dann kam er zurück zu ihnen. ,,Bleibt zusammen.“ Er ging durch sie hindurch bis an die Spitze. Achtsam blieb er an einer Ecke des schmalen Steges stehen, lugte um sie herum, eher er voran ging. ,,Folgt mir.“

,,Wo sind wir hier?“, fragte Bilbo leise.

,,Das, Meister Beutling, ist die Welt der Menschen“, antwortete Thorin gedämpft und überholte ihn.

Die gesamte Stadt war auf Pfählen errichtet worden. Stege und Brücken verliefen über dem Wasser und an den Häusern entlang, die auf dicken Balken standen und unter denen man teilweise hindurch gehen konnte.

Thorin kannte die Stadt auf dem See aus seiner Jugend. Er war wenige Male hier gewesen, trotzdem erkannte er sie kaum wieder. Damals hatte sie vom Reichtum, der günstigen Lage und vom Handel Erebors gelebt. Schiffe von Händlern aus ganz Mittelerde hatten an den breiten Stegen angelegt. Heute waren von diesen fast nur noch Bretter übrig. Der Untergang Erebors hatte auch hier Wellen geschlagen. Die Häuser wirkten alt, waren von Wasser und Wetter gezeichnet. Der Geruch von Tran, Teer und Fisch hing in der Luft, dort wo man vor Jahren wichtigen Handel betrieben hatte. Auch die Menschen hatten sich verändert. Ihre lumpige Kleidung zeugte von ihrem Leben, welches durch Arbeit und Entbehrung hart war. Sie lebten von der Hand in den Mund.

Hintereinander weg gingen die Männer durch die geschäftigen Winkel und Gassen. Männer trugen Kisten und Brennholz umher, luden kleine Ruderboote aus. Netzte wurden geflickt oder Wäsche aufgehängt, Fische entschuppt, entweidet und zum Trocknen aufgehängt.

,,Hey!“

Bard fuhr herum und auch die Zwerge blieben stehen. Thorin

sah durch die Gasse einen Mann auf sie zeigen. Er trug einen hohen, geschwungenen Helm mit Fellkrempe, einen einfachen

Brustharnisch und Schulterstücke, dazu eine weite rote Hose.

Bei dem Anblick des Soldaten hatte er nur einen Gedanken. ,,Lauft!“, raunte er und rannte los.

,,Im Namen des Bürgermeister von Seestadt, bleibt steh‘n!“, hörte er ihn hinterher rufen, doch da war er schon um die nächste Ecke, gefolgt von seinen Männern.

,,Stopp! Haltet sie fest!“

Die Gefährten drängelten und schoben sich durch die Leute. Thorin vorne weg schubste sich den Weg frei. Seine grauen Augen überflogen die Umgebung nach Lücken und Fluchtwege. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund musste er auf einmal an Frerin denken. Unzählige Male waren sie im Spiel als Kinder durch die Hallen oder die Berghänge entlang gerannt, haben Fangen gespielt oder waren zusammen mit dem Wind gerannt.

Einmal hatte Frerin auf dem Markt, der jeden Morgen in der Großen Markthalle stattgefunden hatte, zur Mutprobe einen Apfel geklaut und Thorin und er waren davon gelaufen.

Es war ein Spiel gewesen, was sie immer gewonnen hatten. Niemand hatte sie je kriegen können.

So manches Mal hatte sein kleiner Bruder Dreck am Stecken gehabt, aber Rennen, das hatte er gekonnt. Thorin hörte sein Lachen, so als wäre er in diesem Moment an seiner Seite, als sich ihr Spiel wieder einmal in erste Realität gewandelt hatte. In seinem schlagenden Herzen konnte er seine Anwesenheit spüren, als er durch die Gassen, zwischen Wäscheleinen und den Leuten hindurch jagte.

Sie bogen unter ein Haus, doch auf der anderen Seite erschien schon ein Soldat. Sofort blieb Thorin stehen. ,,Zurück!“ Gegenseitig schubsten sich die Männer rückwärts, doch zwei weitere Soldaten kamen hinzu. Sie waren eingekreist.

Der Erste stürzte sich auf sie. Fili hob einen dünnen Pfahl auf

und rammte diesen ihm gegen die Stirn, während die Leute in ihrer Nähe vom Tumult zur Seite sprangen. Er taumelte rückwärts und fiel über Bombur, der sich dahinter gekniet hatte. Am Boden liegend pustete Nori ihm die Lichter mit einer Bratpfanne aus. Gleichzeitig wurde einem weiteren Mann ein Bein gestellt, sodass er gegen einen Balken fiel. Balin griff nach einem Paddel, haute es ihm in den Magen und Thorin zog ihm das zweite hart über den Kopf.

Fili griff nach einem Seil, warf Kili das andere Ende zu. Grinsend duckten sich die Brüder hinter Kisten und wartete voller Vorfreude auf den Dritten, der auch schon angelaufen kam und im hohen Bogen über das straffe Seil flog. Zu guter Letzt gab Dwalin ihm einen Faustschlag und war enttäuscht, als sein Gegner schon nach dem ersten ohnmächtig war. Sie packten die überwältigten Männer und zogen sie in Deckung.

Neugierig und murmelnd schauten die Leute dem aufregenden Geschehen zu. Beeindruckend schnell löste sich die gebildete Traube auf. Jeder ging in Sekundenschnelle seiner Arbeit wieder nach, so als wäre nichts gewesen, als die Person, die für ihre flinke Reaktion verantwortlich war, erschien.

,,Bleibt, wo ihr seid! Keiner entfernt sich!“

Hinter Tischen und Kisten geduckt verharrten die Zwerge regungslos. Thorin erkannte die gebieterische Stimme wieder. Am Zolltor hatte sie die Befehle erteilte. Unter einem Tisch hockend und durch eine fleckige Decke spähend, ahnte er, dass sie es mit dem Hauptmann zu tun hatten. Dann entdeckte er Bard, der sich hinter einen Hausbalken presste.

Durch die Tischbeine tauchten direkt neben ihm ein Paar blank geputzte Stiefel auf und Thorin zuckte zurück.

Mit schnellen Schritten trat Bard vor, ging gradlinig auf ihn zu, als wäre er gerade des Weges gekommen. ,,Braga.“

Der dunkelblonde mit dem dicken Schnauzbart starrte ihn an.

,,Was machst du hier, Bard?“, fragte er mit missfälligem Unterton.

,,Ich? Nichts.“

In seiner Deckung verharrend musste Thorin mit ansehen, wie

ein Soldat wieder zur Besinnung kam, doch eine Frau, die hinter einem Tisch stand, schob mit dem Handrücken einen Pflanzen-topf hinunter, während sie mit gespitzten Ohren weiterhin zu der Unterhaltung hinüber starrte. Klirrend zerbrach der Topf auf der Stirn des Mannes, der wieder in sich zusammen sackte.

Allermiert horchte Braga auf, drückte sich unsanft an Bard vorbei. Sogleich stellten die Menschen in ihrer Nähe geschickt Körber von Wäsche vor oder kippten Kisten voll Netzen über die am Boden liegenden Soldaten und ließen sie vor dem Blick des Hauptmanns verschwinden.

Mit angehaltenem Atem konnte Thorin dem Schauspiel nur zu schauen. Sie sind auf Bards Seite.

,,Hey, Braga.“

Dieser drehte sich nach Bard um, der ein feines Mieder von einem Unterkleid hochhielt. ,,Deine Frau würde wunderschön darin aussehen.“

Für einen Augenblick starrte sein Gegenüber es an. ,,Was weißt du über meine Frau?“

Nichtahnend tuend zuckte Bard mit geschürzten Lippen die Achseln. ,,Nur das, was jeder Mann in dieser Stadt über sie weiß.“

Wutentbrannt riss es Braga ihm aus der Hand und stapfte davon.

Als er weg war, atmete Bard tief aus, drehte sich dann zu den Zwergen um, die wieder aus ihren Verstecken hervor gekommen waren. ,,Was sollte das eben?“, fuhr er Thorin an. „Ich werde nicht derjenige sein, der Euch aus dem Gefängnis raus holt. Ohne mich seid Ihr hier aufgeschmissen. Was glaubt Ihr, wer Ihr seid?“

Thorins Miene verdunkelte sich, doch er herrschte sich an zu schweigen.

Mit einem geknurrtem „macht das nicht nochmal“, ging ihr Schmuggler abermals voran.

,,Vater!“ Ein Junge mit braunen Locken kam ihnen entgegen

geeilt. ,,Unser Haus. Es wird beobachtet. Lydia klopfte eben an unserer Tür, um es uns zu sagen.“

,,Sie hat uns eben schon sehr geholfen…“ Bard drehte sich um

und seine dunklen Augen gingen nachdenklich hin und her. ,,Kommt.“ Er legte die Hand hinter den Rücken des ungefähr vierzehnjährigen Jungen und nahm ihn mit sich, bog in eine schmale Gasse ab, die vor einer offenen Wasserfläche endete. Bedacht schaute er sich nach allen Seiten um, ehe er sich hinkniete und ein Gitter vom Boden hoch nahm. ,,Ins Wasser.“

Entgeistert starrten die Zwerge abwechseln auf ihn und das Loch, in dem das dunkle Wasser auf und nieder schwappte.

,,Macht schon!“

,,Das kann unmöglich Euer Ernst sein“, murmelte Bofur geschockt.

,,Seht ihr das Haus dort?“ Er zeigte auf die andere Seite des breiten Kanals. ,,Unterm Haus ist ein Hohlraum, dort hinein. Dann wartet auf das Zeichen und taucht den dortigen Schacht hoch. So entdecken euch die Spione nicht.“

Unter den Gefährten brach Gemurmel aus…bis Thorin sich notgedrungen auf die Bretter setzte und die Beine ins Wasser tauchte. Überrascht über seine Einwilligung schauten seine Männer auf ihren Anführer.

,,Schwimmt tief“, raunte Bard zu ihm.

Thorin sah auf das dunkle, kalte Wasser, holte tief Luft und ließ sich hinein gleiten, wurde von ihm in die Tiefe gezogen. Unterwasser öffnete er die Augen. Wie schwarzes Seegras schwebten seine Haare um ihn herum, ehe er sich mit kräftigen Zügen voran schob und mit den Beinen schlug.

Sonnenlicht brach orangen das Wasser, schimmerte über ihm.

Ein Schatten schob sich dazwischen und verdunkelte es. Er schaute hoch und sah ein Boot, das über ihn hinweg fuhr. Stetig tauchten die Paddel in die Oberfläche ein. Durch die Luft in seiner Lunge drohte er nach oben gedrückt zu werden, weswegen er eilig weiter schwamm. Bald erschienen dunkle Schatten vor ihm. Er schob sich durch Balken hindurch, tauchte vorsichtig auf

und befand sich in einem Hohlraum, wie Bard gesagt hatte.

,,Ich bringe ihn um. Ich bringe ihn eigenhändig um“, knurrte Dwalin, der nach ihm an die Oberfläche kam.

,,Kannst du, wenn wir ihn nicht mehr brauchen.“ Thorin schaute sich mit den Beinen schlagend, um nicht unterzugehen, um und entdeckte den beschriebenen Schacht.

Wellen schlugen hinter ihnen auf und nach und nach kamen die anderen hinterher. Bofur und Bilbo kamen strampelnd und prustend an die Oberfläche und Ori japste nach Luft, als wäre er knapp dem Tod entronnen.

,,Sch!“, zischte Thorin scharf, als Schritte über ihren Köpfen hallten.


Vorsichtig schaute Bain durch die offene Seite ihres Hauses und klopfte feste auf das Holz in der Latrinenkammer.

Wasser rauschte und Dwalins Halbglatze tauchte aus dem Schacht auf. ,,Wenn du das irgendjemandem erzählst, reiß ich dir beide Arme aus.“ Er klappte den Holzsitz hoch, schwang die Arme über die Kante des Aborts. Der Junge streckte helfend die Hand aus, doch er schlug sie weg. ,,Finger weg.“

,,Nach oben“, wies er flüsternd an, machte eilig einen Schritt vor dem schlecht gelaunten Zwerg nach hinten, der triefend die Treppe hinauf stapfte.

Bain fasste auch nach Bilbos Jacke, half ihm und dem ein oder anderem heraus. Als Thorin jedoch auftauchte und ihn ansah, nahm er schnell die Hände weg.

Ein dunkelblondes Mädchen stand oben am Treppengeländer, verfolgte angewidert und misstrauisch das Szenario. ,,Vater, wieso kommen lauter Zwerge aus unserem Klosett?“

An ihrer Seite erschien ein jüngeres. ,,Werden sie uns Glück bringen?“

,,Sehe ich wie ein Glücksbringer aus?!“, fuhr Dwalin sie an und wurde von Fili an der Schulter zurück gehalten. Eingeschüchtert versteckte sich die Kleine hinter der Schürze ihrer großen Schwester, während der blonde Zwerg seinen Ziehonkel weiter schieben musste.

Die Männer gingen durch den Raum, hinterließen dabei eine Spur Wasser auf den Dielen. An der gegenüberliegenden Längsseite war die Haustür, ganz links eine Küchenecke. Es gab noch eine Schlafkammer, die man durch Vorhänge vom restlichen Raum trennen konnte, und eine Leiter ins Obergeschoss.

Als Thorin am Esstisch in der Mitte des Raumes entlang ging, fiel sein Blick auf die Zwiebeln und Bündel von getrockneten Kräutern darüber. Sein Herz wurde wieder schwer, als sie ihn an Marie erinnerten. Er folgte den anderen bis zum Ende des Raumes, wo sie sich auf eine Eckbank niederließen, die unter Fenstern entlang verlief. Daneben, vor einem kleinen Tisch, brannte ein kleines Feuer in einem Kamin, an dem sie sich sogleich zitternd wärmten und Bofur seine durchweichte Mütze aufhängte.

Bard und seine jüngste Tochter traten zu ihnen. ,,Sie passen vielleicht nicht ganz, aber sie halten warm“, sagte er, während er auch ein paar wenige Decken verteilte. Fleißig trug sie einen Stapel alter Klamotten auf den Armen, von dem sich die Männer nahmen.

,,Danke, habt vielen Dank“, stotterte Bilbo, als auch er sich etwas davon nahm.

Die Kleine lächelte ihn mit großen, blauen Augen an. Wie ihre Schwester hatte sie zusammengesteckte Haare, die bei ihr braun waren und strähnenweise heraushingen, so ihr herzförmiges Gesicht umrahmten.

,,Tilda“, sagte Bard sanft und sie kam brav zu ihm zurück. ,,Geh zu deiner Schwester.“ Er sah ihr nach, wie sie davon eilte, drehte sich dann nochmal zu den Zwergen, die bereits begonnen hatten sich die tropfenden Stiefel von den Füßen zu reißen und diese vor dem Kamin zu stellen, und verschwand in Richtung der Küche.

Die Gefährten machten sich daran, die trockenen Sachen anzu-

ziehen. Ihre alten Kleider waren nass und stanken nach Fisch. Manche warfen sie von sich und auf einen Haufen, unter dem sich schon eine Pfütze ausbreitete. Andere wrangen sie aus und legten sie zum Trocknen hin.

,,Brrr, ist das kalt.“

,,Nass. Schon wieder nass.“ Nori wrang seinen Bart aus, von dem nur noch die einzelnen geflochtenen Strähnen übrig waren. ,,Das war genug Wasser für einen Tag.“

Auch der von seinem älteren Bruder sah ähnlich wüst aus, der seine Hose sorgfältig auf der Fensterbank zum Trocknen ausgebreitete.

Neben ihm riss sich Dwalin die Hosenträger von den Schultern und das Hemd vom Leib. Über seine tätowierte Haut breitete sich eine Gänsehaut aus. ,,Ich frier mir noch was ab“, murrte er und zog auch seine Hose samt Unterhose aus, legte beide zum Trocknen hin.

Auch Thorin entledigte sich seiner Kleidung, die kalt an seiner Haut klebte. Er legte die lederne Hülle mit Karte und Schlüssel auf den Tisch und warf die alten Sachen auf den Haufen. Seine dunklen Haare auf den Armen und Beinen stellten sich auf, als auch er eine Gänsehaut bekam, sich zu seinen trockenen Sachen umdrehte; dem grauen Unterhemd, das rote Hemd und die schwarze Hose, und sich flinke Schritte näherten.

,,Tilda!“

Thorin fuhr herum und er und Dwalin konnten gerade noch so die Hände vor ihre Männlichkeit legen.

Ungehemmt stand das kleine Mädchen hinter ihnen im Raum. Ihre große Schwester kam hinterher geeilt, wollte sie wohl zurück holen, doch als sie die Männer sah, stand sie wie vom Donner gerührt da. Mit knallrotem Kopf schlug sie die Hände vor die Augen ihrer Schwester und kniff ihre eigenen fest zusammen. ,,Es tut mir furchtbar leid“, stammelte sie mit Schamesröte im Gesicht. ,,Sie hat gesagt, sie wollte Euch Tee machen. Ich hatte keine Ahnung…“

,,Hab das nächste Mal ein besseres Auge auf deine Schwester“, unterbrach Thorin sie. ,,Ihr solltet jetzt lieber gehen…“

Die anderen lachten in sich hinein, als sie peinlich berührt ihre Schwester am Oberarm packte und eilig davon zerrte.


,,Falls Euch meine Töchter Unannehmlichkeiten bereitet haben sollten, möchte ich mich dafür entschuldigen“, sagte Bard später mit einem Schmunzeln an einem Balken unweit der Küche gelehnt, als die Mädchen, die den Tee verteilt hatten, hinter ihm verschwanden. Die eine mit einem stolzen Lächeln, die andere mit immer noch roten Wangen. ,,Tilda hat es sich nicht nehmen lassen, Euch Tee zu machen. Sie schickt sich an, immer fleißig zu sein.“

,,Ich bin mir sicher, das Kind hat sich nichts dabei gedacht“, beschwichtigte Balin ihn schmunzelnd. Sein Bruder hingegen gab ein unverständliches Brummen von sich.

Abseits von den anderen fiel Thorins Blick durch den geöff-neten Spalt eines der, von Eisenstreben überzogenen Fenster. Der Anblick einer Geschosseinrichtung auf einem Turm ließ ihn näher treten. Rostig von den Witterungen war sie, doch er konnte erkennen, was für eine Waffe es war.

,,Eine Zwergen-Windlanze…“

,,Hast du einen Geist gesehen?“

Er blickte zu Bilbo, der mit einer Decke um die Schultern neben ihm erschienen war, in den Händen einen Becher Tee. Ohne ihm zu antworten drehte er das Gesicht wieder ab.

,,Das hat er.“

Der Hobbit schaute Balin an, der lautlos hinzugetreten war.

,,Das letzte Mal, als wir so eine Waffe sahen, stand eine Stadt in

Flammen“, begann er zu erzählen, die kleinen, dunklen Augen auf Bilbo gerichtet. ,,Es war der Tag, an dem der Drache kam, der Tag an dem Smaug Dale zerstörte. Girion, der Fürst von Dale, ließ seine Bogenschützen auf die Bestie schießen. Aber eine Drachenhaut ist dick, dicker als die stärkste Rüstung. Nur ein Schwarzer Pfeil, von einer Windlanze abgeschossen, kann die Haut des Drachen durchdringen. Und nur wenige solcher Pfeile wurden je geschmiedet. Der Vorrat ging zur Neige, als Girion den letzten Versuch unternahm.“

Als Balin erzählte, lief für Thorin der Tag, der sein Leben ändern sollte, nochmal vor seinem geistigen Auge ab.

Ihre Männer hatten keine Chance gegen die Bestie gehabt, die sich gewaltsam ihr Reich genommen und Tod und Leid über sein Volk gebracht und es heimatlos gemacht hatte. Smaug hatte sein Volk zur Flucht gezwungen und ihn von Marie getrennt.

Was er in ihren Augen gesehen hatte, wollte er nie wieder sehen. So viel Angst, Leid und Not…Zu entsetzliches. Unaussprechliches.

Frerin!! Er hörte die Schreie seiner Schwester und sah die Leiche seines Bruders in der Halle liegen, der sein Leben für das ihres im Drachenfeuer gegeben hatte. Ein Bild, was er wie vieles nie wieder vergessen würde.

Schon oft hatte er sich gefragt: warum Erebor, warum die Bestie ihren Berg heimsuchen musste, doch auf diese Frage würde er wahrscheinlich nie eine Antwort bekommen.

,,Hätte er damals sein Ziel nicht verfehlt…“, Thorin schloss für einen Moment die Augen, richtete sie dann auf seinen alten Freund, ,,wäre vieles anders gekommen.“ Holz knarzte. Die drei am Fenster drehten sich zu Bard um, der näher getreten war.

,,Klingt so, als wärt Ihr dabei gewesen.“

,,Alle Zwerge kenne die Geschichte“, antwortete Thorin ausweichlich.

,,Dann wüsstet Ihr, dass Girion den Drachen getroffen hat.“ Bain erschien hinter seinem Vater wie dessen Schatten. ,,Er löste eine Schuppe unter dem linken Flügel. Noch ein Pfeil und er hätte die Bestie getötet“, erzählte er geradezu euphorisch, doch Dwalin

hinter ihm stieß belustigt ein Lachen aus.

,,Das ist ein Kindermärchen, Kleiner. Nichts weiter.“

Thorin tat einen Atemzug, machte einen Schritt auf den Kahn-führer zu und löste sich gleichzeitig von den schweren Erin-nerungen der Vergangenheit. Ihre Mission, ihren Berg zurück-zuerobern, sollte als einziges allgegenwärtig sein.

,,Ihr habt unser Geld genommen. Wo sind die Waffen?“

Ohne zu blinzeln hielt Bard ernst seinen Blick, ehe er ,,wartet hier“ sagte und die Treppe hinunter ging.

Thorin sah ihm nach, bis er außer Sicht war und seine Neffen zu ihnen kamen.

,,Was machen wir, wenn wir die Waffen haben?“, fragte Fili mit verschränkten Armen.

,,Auf dem schnellsten Wege zum Berg.“

,,Wie viel Zeit bleibt uns noch?“, fragte Kili flüsternd, machte den Kreis, in dem sie standen, enger.

,,Morgen enden die letzten Herbst Tage“, murmelte ihr Onkel.

,,Der Durins-Tag ist schon Morgen“, stimmte ihm der alte Zwerg flüsternd zu. ,,Wir müssen den Berg vor Ende des Tages erreichen.“

,,Und wenn wir es nicht schaffen?“, raunte Kili, sah bevor er fortfuhr hinter sich, ob Bard wieder kam. ,,Was, wenn wir die Geheime Tür bis dahin nicht gefunden haben?“

,,Dann war der ganze Weg umsonst“, gab Fili die Antwort.

Schritte kündigten Bards Rückkehr an. Er durchquerte den Raum und warf ein klatschnasses Bündel auf den Esstisch. Verheißungsvoll rumpelte es in diesem, doch als er es aus-wickelte, mussten die versammelten Zwerge zweimal hinschauen.

Die sogenannten „Waffen“ bestanden – ganz offensichtlich – aus irgendwelchen zusammengesammelten Eisenstücken, manche mit Kettengliedern daran, die man auf dicke Stiele von alten Dreschflegeln, Axtstielen oder Undefinierbarem geschlagen hatte. Damit sich gegen einen feuerspeienden Drachen zu stellen war undenklich. Die Zwerge nahmen sich welche der abenteuerlich

aussehenden Waffen und inspizierten sie genauer.

Ungläubig nahm auch Thorin etwas. ,,Was soll das sein?“, presste er hervor, meinte jedoch das gesamte Bündel, für das sie ihr Geld hergegeben hatten.

,,Ein Spießhaken“, antwortete Bard trocken. ,,Aus einer alten Harpune gemacht.“

,,Und das hier?“, fragte Kili und hob einen dicken Hammer hoch.

,,Ein Krähenschnabel. Nun, so nennen wir das – aus einem Schmiedehammer. Liegt schwer in der Hand, zugegeben, aber zur Verteidigung eures Lebens ist es wahrlich besser als nichts.“

,,Wir haben Euch für Waffen bezahlt! Aus Eisen geschmiedete Schwerter und Äxte!“, ließ Gloin seinen Unmut freien Lauf.

,,Das ist ein Scherz!“, pflichtete ihm Bofur bei, warf scheppernd seine Waffe zurück auf den Haufen. Auch die anderen legten ihre zum Zeichen des Protestes zurück.

,,Man findet nichts besseres außerhalb der Waffenkammern der Stadt!“, verteidigte sich Bard. ,,Alle geschmiedeten Waffen sind dort unter Verschluss.“

Thorin sah Dwalin neben sich an. Zwei graue Augenpaare trafen sich und sofort war es geklärt. Fragen gab es keine.

Sie verstanden sich auch ohne Worte.

,,Thorin“, Balin wandte sich an ihn, ,,nehmen wir doch was da ist und gehen“, raunte er vor ihm stehend. ,,Ich bin schon mit weniger ausgekommen - und du auch. Ich sage, wir brechen auf.“

Bard schlang die Hülle wieder um das abgelehnte Bündel.

,,Ihr geht nirgendwo hin.“

Thorin glaubte, sich verhört zu haben, starrte den Menschen an.

,,Was habt Ihr gesagt?“, sprach Dwalin seine Gedanken aus.

,,Spione beobachten das Haus und wahrscheinlich jeden Steg

und Anleger der Stadt. Ihr müsst warten bis es dunkel wird.“

Abermals sahen sich die beiden Zwerge an.

Mehr Worte bedurfte es nicht mehr.


~


Auf einen Besen gestützt ließ sich Kili langsam auf die Eckbank sinken. Länger stehen konnte er nicht. Er kniff die Augen zusam-men und seine Hand wanderte vorsichtig zu seinem Oberschenkel. Er konnte richtig spüren, wie sein Bein zunehmend schwächer wurde. Der Pfeil in seinem Bauch war genauso schmerzhaft gewesen. Sein Schmerz war brutal auf einmal gekommen und hielt lange an, doch dieser war anders. Glühend war er und kam in Schüben. Mittlerweile war sein Bein taub geworden, als wäre es eingeschlafen, und das bereitete ihm die größte Sorge.

Wie lange würde er es schaffen, es versteckt zu halten?

Blut war durch den Stofffetzten gedrungen. Die geschwollen Haut pochte und drückte sich gegen den Verband, doch er war fest entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen.

Abschätzend schaute er zu den Männern. Sie waren so nah an ihrem Ziel. Er konnte die anderen jetzt nicht mit ihm belasten.

Sie würden sich nur wieder Sorgen machen...

Als sein Bruder näher trat, nah er schnell die Hand weg.

,,War ja ein echter Reinfall mit den Waffen“, murmelte Fili, als er sich neben ihn setzte.

,,Hm.“ Kili wartete nur darauf, dass er ihn wieder ansprach und lange warten musste er nicht.

,,Wie geht’s dem Bein?“

Etwas anderes als „besser“ fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.

,,Du solltest aber Oin da mal rüber schauen lassen.“

,,Mach ich“, sagte er, nur um ihn abzuwimmeln. Er brauchte keine Ratschläge, sondern eine Ablenkung. Dann kam ihm die Idee. ,,Was ist mit deiner Wunde?“

,,Was meinst du?“

,,Na, dein Arm. Die Fäden müssen doch noch gezogen werden.

Sieht so aus, als hätte unser Onkel dasselbe gedacht. Oin ist schon bei ihm.“

Fili strich über die Stelle. ,,Mmm, hast recht.“

,,Du solltest Oin da mal drüber gucken lassen“, zog er ihn auf.

Fili jedoch zog eine Grimasse. ,,Ich glaube, das mache ich lieber selbst. Manchmal hat er doch ziemlich eigentümliche Methoden.“

Kili machte ein ganz ähnliches Gesicht wie er. ,,Und dann schickst du mich dahin. Ein schöner Bruder bist du mir.“


~


Es tat nicht weh. Es zog nur ein wenig in der Haut. Er sah zu, wie das Stück Faden seine Schulter verließ. Jeder einzelne der Knoten wurde aufgeschnitten und hinausgezogen. Die mühsame und ordentliche Arbeit, die sie sich gemacht hatte… Ihre grünen Augen leuchteten ihm wie damals entgegen, in den großen Pupillen verschleierte Furcht und Nervosität, die jedoch an diesen Abend Leidenschaft und Güte gewichen waren.

Wenn er die Finger bewegte, spürte er ihr seidiges Haar in seiner Hand. Die Vorstellung verursachte in seinem Magen das schöne Kribbeln. Er schluckte schwer und schaute an Oin vorbei zu Filis Arminnenseite, die schon von den Fäden befreit worden war und nun wieder im Ärmel seines beigen Oberteils verschwand.

Er hatte Oin nicht abschütteln können. Kein Sträuben hatte geholfen. Er war ein starrköpfiger alter Kauz, der sich von einem ,,Jungspund“, wie er ihn genannt hatte, nichts sagen ließ.

Thorin schielte auf der anderen Seite des Tisches. Über eine Schale mit Wallnüssen hinweg spähend saß schon die ganze Zeit das kleine Mädchen und schaute ihnen zu. Solange sie still blieb, war es ihm recht. Er hoffte, dass ihr Vater sie sich später übers Knie legen würde, doch er rechnete nicht damit.

Fili hatte sie zu sich gerufen, als diese zusammen mit ihrer Schwester die leeren Becher eingesammelt hatte. Woher er so gut mit fremden Kindern umgehen konnte, war Thorin ein Rätsel.

Es schien, als gefiel es ihm wirklich.

,,Tilda, so hieß du doch oder?“

,,Ja“, hatte sie geantwortet.

,,Würdest du mir eine spitze Schere bringen?“

Gleich darauf war sie mit einer wiedergekommen. Doch Oin hatte sie ihm einfach aus der Hand genommen und es sich nicht nehmen lassen, seinen Beruf sachgemäß auszuführen.

,,Du hättest die Göre nicht ansprechen sollen“, raunte Thorin, wandte genervt den Blick ab. ,,Jetzt wirst du sie nicht wieder los.“

,,Ich fürchte es auch“, seufzte er, doch ein Schmunzeln lag unter seinen Bartzöpfen.

,,So.“ Oin zog den letzten Faden.

Thorin senkte das Haupt als Dank, als der kraushaarige Zwerg sich entfernte. Er blickte auf den geschlossenen Schnitt in seiner Schulter. Seine äußerliche Wunde war durch Maries Geschick verheilt, doch sie war auch imstande gewesen, seine Seele ein Stück zu heilen. Auch sein, von Kerben übersätes Herz hatte durch sie ein paar weniger, doch die Sehnsucht nach ihr, riss alte auf. Dort wo die Hautschichten wieder aneinander gewachsen waren, war ein feiner Hügel entstanden. Eine Narbe würde bleiben.

,,Denkst du oft an sie?“

Thorin hob den Kopf, sah Fili an, der ihn aus sanften, grün-grauen Augen ansah. Tief atmete er durch die Nase aus.

,,Ja…das tue ich.“

Fili sah auf die schwarze Schnur der Kette, die unter dem grauen Hemd seines Onkels hervorschaute. ,,Glaubst du daran, was Beorn über die Kette gesagt hat?“

,,Es gibt viele unerklärliche Dinge in dieser Welt…“Auf einmal

erregte Bard ihre Aufmerksamkeit. Sie sahen ihm nach, wie er

vor die Tür ging und sie hinter sich schloss.

,,Er ist schweigsam seit vorhin geblieben“, flüsterte Fili.

,,Irgendetwas beschäftigte ihn“, bekräftigte sein Onkel.

Sie beobachteten, dass Bain ihm nachging, den Kopf durch die Tür steckte. Sein Vater sagte irgendetwas zu ihm und lief die Treppe vor dem Haus hinunter. Thorin drehte den Blick zu den anderen, die am Kamin saßen und beugte sich nah zu Fili.

,,Sag den anderen, sie sollen sich noch ausruhen. Wenn die Nacht anbricht, geht es los.“


~


Kili lag in der Ecke der Bank, hatte einen Arm hinter dem Kopf verschränkt und starrte an die Balken und die etwas schrägen Dielen, als wollte er ihre Maserung lesen, dann mal wieder an den roten Vorhang des Fensters. Obwohl es still und langgestreckt lag, pochte sein Bein. Abseits von den anderen lag er, die sich die Haare entwirrten und neu flochten.

Der junge Zwerg brauchte mal einen Moment für sich.

Seine Gedanken waren zurück zu der Schleuse am Waldlandreich gewandert. Dort hatte er sie das letzte Mal im Kampfgetümmel gesehen. So wie sie mit Bogen und Dolchen umgegangen war, würde sie sich gewiss zu helfen wissen. Insgeheim hoffte er dennoch, dass sie unverletzt geblieben war. Fragen tat er sich, ob sie ihm gezielt geholfen hatte, als sie den herannahenden Orks auf der Brücke tötete, während er am Boden lag, oder ob es nicht seinetwegen gewesen war. Was mache ich mir solche Gedanken? Warum muss ich überhaupt an sie denken? Sie ist eine Elbe, dachte er immer wieder. Allmählich aber begann dieses Argument seine einstige Kraft zu verlieren. Und was für eine…, ging es ihm nun stattdessen durch den Kopf.

Solche Augen, wie sie sie besaß, hatte er noch nie gesehen. So…schön. Ja, in seinen Augen war sie schön.

Schön, klug, begabt, anmutig... Wie ihre Augen gefunkelt haben,

als sie von den Sternen erzählt hat. Dafür brennt ihre Leiden-schaft, Dinge in der Ferne, wie die Himmelskörper. Tauriel…

,,Hey, Bruderherz.“ Neben ihm warf sich Fili auf die Bank.

Kili unterdrückte es, aufzustöhnen. ,,Hey…“

Wie er drehte sich Fili auf den Rücken und legte sich bequemer hin. ,,Du liegst hier so rum“, bemerkte er, schloss entspannt die Augen.

,,Ich bin müde, bin durchgefroren. Mir hängt der Magen an den Knien.“

Fili seufzte. ,,Mir auch.“ Für einen langen Moment lagen die Brüder schweigend da, die Köpfe zusammen, sodass ihre ver-schiedenfarbigen Haare sich berührten. Das Kaminfeuer prasselte zwischen den Stimmen der anderen im Raum. Von draußen hörte man gedämpft die Geräusche der geschäftigten Stadt.

,,Du, Bruder?“, begann Kili langsam, nachdem er neuen Atem und gleichzeitig auch etwas Mut geholt hatte.

,,Hm?“

,,Warum sind Zwerge und Elben so verfeindet? Ich mein, woher kommt das?“

Fili schlug die Augen auf, zog die Nase kraus. ,,Wie kommst du denn jetzt darauf?“

,,Nur so.“

,,Schon seit Jahrtausenden ist das so. Das war es schon immer und wird auch immer so sein.“ Er drehte sich auf den Bauch.

Kili sah ihn in seinem Blickfeld auftauchen. ,,Was steckt wirklich hinter deiner Frage?“

,,Nichts.“

Er musste nur die Augenbrauen hochziehen und das Kinn auf

die Brust sinken lassen. Er konnte einfach nicht lügen.

,,Naja, ich mein…“

Als wäre es das Spannendste, stützte Fili seinen Kopf in beide Hände und überschlug die Beine in der Luft.

,,Ich hab immer gelehrt bekommen, dass alle Elben schlecht

sind“, begann er flüsternd. ,,Sie seien kaltherzig, egoistisch, nur um sich bedacht…doch…ich hab das nicht so erlebt.“

,,Die Elbe?!“

,,Ja, red‘ noch lauter…“

Mit großen Augen warf Fili einen Blick über die Schulter. ,,Bist du verrückt?“, fuhr er ebenfalls im Flüsterton fort. ,,Lass das ja nicht Thorin hören.“

,,Ich wusste es, mit dir kann man darüber nicht reden.“

,,Ich hab’s nicht so gemeint“, gab Fili nach, als er seine Ernsthaftigkeit hörte. ,,Nur - du musst doch selber zugeben, dass das ziemlich schräg ist.“

,,Wieso ist das schräg? Marie ist als Mensch ja auch in Ordnung.“

,,Lass mich raten. Und du fragst dich jetzt, ob das ein Elb nicht auch sein kann.“

,,Ja“, sagte er und fühlte sich auf einmal verstanden. Er schaute seinen älteren Bruder an, der dicke Backen machte.

,,Ich muss darüber erst nachdenken… Worüber habt ihr zwei euch überhaupt unterhalten?“

,,Sie hat mich nach dem Runen-Stein gefragt, was das wäre. Ich hab ihr gesagt, dass, wenn sie ihn lesen würde, sie verflucht wäre.“

,,Und das hat die geglaubt?“ Ein Schmunzeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, welches sogar auf seinem Bruder übergriff.

,,Ihrem Gesicht nach zu urteilen schon.“

,,Und dann?“

,,Sie hat ihn sich angeschaut…erzählte, dass das Fest Merevengilli sei.“

,,Mere-was?“

,,Merevengilli. Das Sternenlichtfest“, lehrte Kili ihn und hatte dabei ihre Stimme im Ohr, als sie dieses fremde Wort ausge-sprochen hatte.

,,Sterne? Haben die auch so einen Draht dazu, wie Marie?“

,,Ja, die Waldelben schon.“

,,Waldelben? Elb ist Elb.“

Kili überhörte den Spruch. ,,Weißt du noch, was du zu mir

gesagt hast, als wir bei Marie in einem Bett lagen?“

Irritiert starrte er ihn an. ,,Du warst da wach?“

,,Keine Ahnung, ob ich wach war oder nicht. Darum geht es doch auch gar nicht. Ich erinnere mich, dass du irgendetwas von den Verstorbenen geredet hast…“

,,…dass Marie daran glaubt, dass die Verstorbenen in den Sternen verweilen. Und du hast sie danach gefragt“, kombinierte er wieder.

Mehrfach nickte Kili. ,,Sie sagte, dass es alte Legenden gibt, die davon erzählen. Sternenlicht sei Erinnerungen.“

,,Es sind doch nur Sterne, Kili“, wurde er belächelt. ,,Das, was Marie erzählt hat, sind Kindermärchen, die sie als Kind erzählt bekommen hat. Ich weiß nicht, ob man das wirklich glauben kann.“

,,Aber was ist, wenn es wirklich stimmt?“, raunte er erst, den Blick fest in die vertrauten Augen seines Bruders gerichtet. ,,Wenn unsere Eltern da oben sind?“

Filis Mund öffnete und schloss sich wieder. Stets hatte er das Thema gegenüber seinem kleinen Bruder sorgsam und bedacht angefangen. ,,Kili…“, begann er, doch dieser fuhr unbeirrt fort.

,,Ich weiß, es klingt verrückt, aber eben hat Thorin auch gesagt, dass es viele unerklärliche Dinge in der Welt gäbe. Was wäre, wenn auch dies stimmt?“

Fili wusste einfach nicht, was er dazu sagen sollte. Verzweifelt

schüttelte er schließlich den Kopf und abermals legte sich ein

Schweigen über sie.

,,Und deine Elbe ist wirklich so in Ordnung wie Marie?“

Dass sein Bruder ihn über sie fragte, gefiel ihm. ,,Sie ist… faszinierend. Wie sie sprich…wie sie sich bewegt, wie sie kämpft. Ich würde gern mehr über sie wissen - über Elben. Und…“

,,Kili, spinnst du?!“

Die Stimme von seinem Bruder ließ ihn zusammen zucken.

Fassungslos starrte dieser ihn an. ,,Hörst du dir eigentlich selber

zu? Das ist ne‘ Spitzohrin.“

Dann rutschte es ihm raus. ,,Thorin liebt doch auch Marie…“

Und auf einmal bekam Fili noch größere Augen. ,,Du magst sie“, stellte er tonlos fest. Schnell wich Kili seinem Blick aus, schaute weg. ,,Du magst sie wirklich.“

,,Und wenn schon…“

,,Kili, verrenn dich da in der Sache nicht. Abgesehen davon, dass sie ein Elb ist…Ich glaube, dass der Blonde…“

Sein jüngerer Bruder schaute ihn an.

,,Der blonde Elb… Ich glaube, dass das ihr Freund ist.“

,,Ihr Freund?“

,,Hm. Hatte den Eindruck als ob.“

Ihr Freund. Kili ließ die Worte auf sich wirken. Vor seinen Augen tauchte das Bild auf, als sie zusammen gekämpft hatten und ergab für ihn einen Sinn. War es nicht auch er gewesen, der sie in der Schlucht gerufen hatte? Schwer musste er schlucken und drehte das Gesicht weg.

,,Hey, Brüderchen…“ Fili fasste ihm an die Schulter, doch er schüttelte seine Hand ab.

,,Lass mich in Ruhe, Fili“, knurrte er und rollte sich zur anderen Seite. Bittere Tränen stiegen ihm in die Augen, die er wütend sich verkniff. Wegen dem dadurch verursachten Schmerz in seinem Bein und der Enttäuschung, die er verspürte.








12



Der Wind ließ ihre Haare wehen, als würde er mit ihnen spielen und brachte den Geruch von Tod mit.

Das Gras beugte sich unter seiner Stärke, ein Meer, welches das riesige Tal auskleidete. Die Luft war schwer von Rauch und Ruß.

Es war gespenstisch still geworden.

Damit sie allein, nur mit den Bildern in ihrem Kopf und ihren Gedanken nicht verrückt wurde, hatte ihr Körper sich eine Aufgabe gesucht. Immer wieder rupfte ihre Hand Gras heraus. Beidhändig riss sie die einzelnen Halme in kleine Stücke und ließ sie wieder fallen. Es waren routinierte, einfache Handgriffe, die sie monoton immer wieder abrief, um ihren Geist von den schrecklichen Bildern abzulenken, die sie gesehen hatte.

Vor ihr war der Abgrund, der Dale zum Teil umschloss.

Es wäre ein leichtes gewesen einfach zu springen.

Schwerelos für einen Moment.

Das Donnern des gewaltigen Wasserfalls am Rabenberg an der Westseite des Berges, der den Fluss, der an Dale und unter ihr entlang rauschte, speiste, war schwach zu hören. Ausdruckslos starrten ihre grünen Augen auf die andere Seite, über die qualmenden Ruinen hinweg und zu dem Bergsattel, über den sie gezogen waren. Vom Kiefernwald war nichts mehr übrig. Ein graues, feines Totentuch seiner Asche hatte sich über alles gelegt.

Jemand sagte ihren Namen. Eine Hand legte sich abermals auf ihre Schulter, unter der sie zusammen zuckte. ,,Bitte, steh auf.“

Die Bitte ihrer Mutter war von keiner Bedeutung. Nichts hatte Bedeutung mehr. Alles prallte an ihr ab. Ihr Geist hatte sich abge-schottet, um zu heilen. Um vergessen zu können.

Myrrte kniete sich neben sie. ,,Du musst loslassen.“

Loslassen. Wieso ging es nicht?

,,Marie…“ Sie hatte geweint, dass konnte Marie hören.

Schritte kamen näher, ließen Myrrte aufschauen.

,,Marie, steh auf“, befahl ihr Vater. Unerbittlich.

Manche der Halme rissen an ihrer Haut entlang. Sie fühlte den kurzen Schmerz, fing von vorne an.

Abwechselnd schaute Myrrte zu beiden, doch dann ruhten ihre Augen hinter ihr. ,,Soren? Soren, was hast du vor?“

Plötzlich wurde Marie am Arm gepackt, sollte gewaltsam auf die Beine gezogen werden. Myrrte sprang auf, drückte sich dazwischen. Ihre Stimme wurde auf einmal hysterisch schrill. ,,Lass sie!“

Ganz klein machte sie sich, presste die Augen fest zusammen.

,,Wenn sie nicht aufsteht, muss ich sie dazu bringen!“

,,Lass sie los! So erreichst du gar nichts!!“

Sie versuchte, sich die Ohren zuzuhalten, Augen und Mund fest zugepresst. Ihre Stimmen waren so laut, dröhnten schmerzhaft in ihren Ohren. Schließlich wurde sie losgelassen und fiel in sich zusammen.

,,Sie muss aufstehen!“

,,Sie hat einen Schock!“

Ein Schock. So fühlte man sich also in einem Schock.

Dann hörte sie das beruhigende Zischen ihrer Mutter, welches sie auch für sie als Kind gemacht hatte. Marie mochte es, öffnete die Augen. Schwer wie Stein waren ihre Knochen, als sie sich wieder hinsetzte. Während ihre Mutter mit ihm sprach, konnte sie den angestrengten Atem ihres Vaters vernehmen.

,,Es ist schwer, ich weiß…Sie kann nichts dafür…“

Die Tatsache, dass ihre Eltern wegen ihr aufgewühlt und verzweifelt waren, stimmte sie trauriger denn je.

,,Herr?“ Wie aus dem Nichts war eine andere Person aufge-taucht. ,,Man fragt nach Euch und Eurer Frau.“

Marie ignorierte sie und griff nach den Gräsern.

,,Wir kommen gleich“, antwortete ihr Vater, sprach dann leiser

weiter. ,,Nimm du das Gepäck. Ich werde sie tragen.“

,,Soren, sei nicht tollkühn. Du musst dich schonen.“

,,Du kannst sie jedenfalls nicht tragen.“

,,Ich würde sie tragen, bis meine Kräfte mich verließen.“

,,Ihr solltet Euch wirklich schonen, euer Arm sah schlimm aus. Wenn Ihr mir erlauben würdet, Eure Tochter zu tragen.“

,,Bist du nicht der Wildbacher Junge?“

,,Ja, Herr.“

,,Du bist selber verletzt.“

,,Es ist nicht zu vergleichen mit Eurem Arm.“

,,Sie wird sich nicht anfassen lassen.“

,,Lasst es mich es versuchen. Gebt mir fünf Minuten… Mein Herr, die Leute. Es hörte sich dringend an.“

Myrrte kniete sich neben sie, drückte ihr Gesicht in ihr Haar. ,,Marie, lass los…“

,,Ich hab dich im Auge“, raunte ihr Vater derweilen fast schon drohend. Dann verschwanden ihre Eltern und jemand anderes setzte sich neben sie. Er sagte nichts, begann stattdessen ebenfalls Gras wie sie herauszureißen. Viel war jedoch nicht mehr übrig.

Minuten verstrichen, in denen sie nebeneinander saßen.

Er sagte nichts, saß einfach nur neben ihr.

Marie drehte langsam das Gesicht und erblickte das Profil von Gonzo. Auch er schaute sie an. Rußflecken bedeckten seine Wange und Schläfe. Traurig blickten seine braunen Augen.

Ein lautes Krächzen zerriss über ihnen die Stille. Gonzo schaute in den Himmel und Marie folgte seinem Blick. Raben flogen über das Tal hinweg. Schweigend beobachteten die beiden ihren Flug, wie sie sich von den Winden kreisend höher treiben ließen. Sie zogen immer größere Kreise, bis sie dann dem Horizont entgegen steuerten und vom Himmel verschluckt wurden.

,,Wir sind wie die Raben…“, sprach er neben ihr und als sie eine Bewegung vernahm, wandte Marie den Blick von den Tieren ab. Er hielt ein Stück Asche in seiner Hand und zerbröselte sie zwischen den Fingern, sodass der Staub vom Wind davon getragen wurde. ,,…wie die Asche“, sagte er leise und sah ihr nach. ,,Uns hält hier nichts mehr.“ Langsam wischte er sich die Hand an seiner Hose ab und setzte sich auf, sodass er neben sie hockte. ,,Komm.“

Marie schluckte den Kloß in ihrem Hals runter, schaute ihm in die Augen. ,,Ich will hier nicht weg.“

,,Ich will hier auch nicht weg“, antwortete er genauso leise. ,,Ich kann dich verstehen.“

,,Nein“, flüsterte sie, schaute wieder in die Ferne, ,,das tut niemand.“

,,Doch. Ich verstehe dich.“ Mit tiefer Stimme sprach er mit-fühlend auf sie ein, als er näher kam. ,,Lass mich…“ Sanft schob er eine Hand unter ihre Beine. Marie wehrte sich nicht. Sie hatte nicht die Kraft, sich gegen ihn zu sträuben. Zerbrechlich fühlte sich ihr Körper an, doch er war so behutsam. ,,Lass mich…“

Er legte seinen anderen Arm hinter ihren Rücken und sie konnte spüren, wie er seine starken Arme anspannte. Und dann hob er sie hoch, weg von der Erde und in seine Arme hinein.

,,Ich bring dich fort von hier, Marie…“

Müde lauschte sie seinen Worten, ließ den Kopf gegen seine Brust sinken, fühlte seine Schritte durch ihren Körper gehend. Ihre Haare wehten um seine Schulter herum, verschmolzen mit ihr, als er sie vom Abgrund wegholte und den Weg zurück ging, den sie vor einer halben Stunde gerannt war.

Marie streckte den Arm aus und ihre Fingerspitzen streiften die weichen Spitzen der langen Gräser. Ein Lebewohl.

Zwischen den anderen Menschen, die ihnen entgegen sahen, erkannte sie ihre Eltern. Ihre Mutter eilte zu ihr, küsste ihr auf den Scheitel, Tränen in der Stimme. ,,Bitte, sei vorsichtig.“

Und so machten sich die letzten Einwohner Dales auf. Kinder lagen in den Armen ihre Eltern, müde die Köpfe abgelegte, geschockt von dem, was sie miterlebt hatten. Der Tross der gezeichneten Menschen ging den Weg durchs Tal, das vor dem felsigen Rand im Süden endete.

Vorsichtig stieg Gonzo mit ihr den steilen Pfad zwischen den Felsen empor. Marie spürte seine sich regenden Muskeln unter seinem Hemd. Ein starker Wind schlug ihnen entgegen.

Dann waren sie oben. Hinter der Kuppe würde der Pfad vom Berg runter und sie in ihre ungewisse Zukunft führen.

,,Warte, bitte“, hauchte sie und sofort blieb er stehen. Sie brauchte nichts weiter zu sagen, denn er drehte sich bereits um.

Vom peitschenden Wind umgeben sahen Marie und er ein letztes Mal in ihre Heimat.

Diesen Anblick würde sie niemals wieder vergessen.

,,Können wir weiter?“, fragte er und sie nickte.

Gonzo wandte sich zum Gehen ab und Marie schloss die Augen, drückte sich gegen seine Brust. Das sanfte Schaukeln wiegte sie schließlich in den Schlaf.


~


,,Seht ihr was?“

,,Vorsicht, da sind Wachen.“

,,Pscht! Nicht so laut.“

Vor ihnen schlenderten die speerbewaffneten Männer die Gasse entlang. Im Schutze einer Hausecke warteten die Gefährten, bis sie hinter der nächsten verschwunden waren.

Die Dämmerung war bereits vorbeigezogen und in der Stadt es ruhig geworden. Irgendwo schrie ein Baby in der kalten Nacht.

Der Sohn von Bard hatte sie doch tatsächlich daran hindern

wollen, aufzubrechen, doch der Junge hatte nichts gegen dreizehn Zwerge auszusetzen gehabt. Sie hatten den Burschen an der Tür

einfach zu Seite geschoben.

Thorin zog sich die dunkelblaue Jacke, die eigentlich ein dickes Hemd war, dichter an den Hals, an dem die Kälte biss. Darunter schaute das rote Hemd hervor, mit allem fest durch seinen Gürtel gezurrt, damit die zu großen Sachen einigermaßen aussahen. ,,Soweit wir die Waffen haben, brechen wir sofort zum Berg auf“, flüsterte er und schaute noch einmal, ob die Luft rein war.

Auf sein Zeichen hin lief Nori geduckt die Häuserreihe entlang, neben dessen gefährlich schmalen Steg Eisschollen im Wasser schwammen. Den braunhaarigen Zwerg hatte man vorgesehen, als Erster zu gehen. Inhalt seiner diebischen Ader war es nicht nur, Gegenstände ungesehen verschwinden zu lassen, sondern auch ein Geschick wie das eines Eichhörnchens irgendwo hinein oder hinaus zu gelangen - nicht zuletzt zu verdanken durch ein paar Gefängnisaufenthalte in der Vergangenheit.

Unter einem offenstehenden Fenster der zuvor sorgfältig ausgekundschafteten Waffenkammer hatten sich bereits Bifur, Bombur, Dori, Ori, Gloin, Fili und Dwalin zu einer Treppe formiert, die Nori flink erklomm. Oben am Fenster in gut drei Meter Höhe angekommen schwang er sich kopfüber hinein.

,,Der Nächste“, wies Thorin an, legte Bilbo die Hand auf die Schulter und schickte ihn vor.


Eine Kammer darüber fanden sie, wonach sie suchten: Schwerter, Keilschläge in verschiedenen Ausführungen, Dolche, Schilde, Bögen und gefüllte Köcher zu ihren beiden Seiten in Regalen gereiht. Das reinste Paradies.

,,Keine Bögen“, raunte Thorin, als Kili die Hand zu einem ausstreckte. ,,Gegen einen Drachen sind sie wirkungslos und uns nur Gepäck. Nur Schlag- und Stichwaffen.“ Er legte seinem Neffen zwei Keilschläge mit massivem, dickem Eisenbolzen auf die Arme.

Bilbo hinter ihm wollte ebenfalls so einen aus dem Gestell

nehmen, doch er bewegte sich kein Stück. Erst als er beide Hände nahm konnte er die Waffe heben.

Auch Nori legte Kili ein Schwert in die Arme. Das leise

Aufeinanderschlagen des Eisens erfüllte den Raum, in dem sich die Männer wie Schatten bewegten. Wieder legten Bofur und Thorin ihm Waffen auf. Der junge Zwerg spürte das Gewicht der Waffen mehr als normal. Mit jedem Ablegen schwoll das Glühen in seinem Oberschenkel an. Er musste sich das Bündel höher rücken, dafür sein Gewicht kurz tiefer verlagern. Die dadurch entstehende Spannung auf seine Beine brachte den Schmerz zum Brennen. Es trieb ihm kalten Schweiß auf die Stirn, doch er versuchte, keine Äußerungen zu zeigen.

Als er sich ein leises Stöhnen nicht verkneifen konnte, horchte Thorin auf. ,,Wird es gehen?“

,,Ich schaff das schon“, entgegnete er, woraufhin sein Onkel ihm noch ein Schwert gab, jedoch ihn weiterhin musternd.

,,Lasst uns schnell verschwinden.“ Bedacht darauf, nicht zu humpeln, wandte sich Kili ab. War er aufgeflogen? Hatte sein Onkel etwas bemerkt? Bei der Treppe warf er noch einmal einen Blick über die Schulter, doch plötzlich verließ sein Bein die Kraft und Kili fiel. Die Waffen fielen ihm aus den Armen und schep-perten die Stufen hinunter. Im fahlen Licht blitzten sie auf und zerrissen die Nacht. Die Zwerge in der Kammer fuhren herum und auch die anderen vor dem Haus zuckten zusammen.

Was folgte, war eine unaushaltbare Stille.

,,Kommt! Da hinten!“, schwollen ferne Stimmen an. ,,Eindringlinge!“

Erstarrt blieben die Gefährten in der Kammer stehen. Thorins Herz schlug ihm bis zum Hals, als er vor Anspannung den Atem anhielt. Auch Kili stemmte sich in der Ecke der Treppe liegend auf den Armen hoch, konnte nur auf die Stimmen und ihre Verursacher horchen.

Die Gruppe vor der Kammer löste sich als erste aus ihrer Starre.

,,Lauft!“, schrie Dori und alle stürmten den dünnen Steg zurück. An seinem Ende jedoch standen bereits die zwei Wachen, die Speere ihnen entgegen gereckt.

Die Tür im Erdgeschoss wurde aufgerissen und die Zwerge in der Kammer konnten vergeblich nur noch zu Waffen greifen.

Schon lagen kalte Klingen an ihren Hälsen.

Jemand packte Kili an der Schulter, drückte ihn gegen die Wand. Thorin erblickte das Gesicht von Braga, senkte dann den stählernen Blick zu seinem Neffen, der mit einem Schwert an der Kehle unter ihm lag, ihn ebenfalls nur mit großen, dunklen Augen anschauen konnte.


~


Menschen strömten aus ihren Häusern, aufgeschreckt von dem Lärm auf der Straße. Begleitet von den Soldaten und Fackeln wurden die Gefährten durch die Stadt getrieben.

Es hatte angefangen zu schneien. In feinen Flocken fiel der erste Schnee zu Boden. Die Menschen riefen ihnen im Stimmengewirr Sachen an den Kopf, begleiteten lautstark den Fackelzug, um zu erfahren, was geschehen war.

Thorin überflog die Massen zu beiden Seiten, richtete sein Augenmerk dann starr geradeaus. Sie erreichten den kleinen Vorplatz eines großen Hauses. Mit geschwellter Brust stellte sich Braga auf, im Halbkreis dahinter seine Männer, die die Zwerge vor sich schubsten.

Die Türen wurden aufgemacht und ein Mann stürmte heraus, warf sich noch schnell einen braunen Pelzmantel über. ,,Was ist das hier für ein Aufruhr?“

,,Wir haben sie geschnappt, als sie Waffen stehlen wollten,

Herr“, antwortete Braga. Um sie herum war es still geworden,

damit jeder das Geschehen verfolgen konnte.

Der Bürgermeister. Thorin hielt den Blick auf den rotblonden Mann gerichtet, der seine langen Strähnen von einer Seite zur anderen gelegt hatte, um seine beginnenden Glatze zu verdecken.

,,Ah! Also Hochverräter, ha?“

,,Nur ein kümmerlicher Haufen Söldner, wenn ihr mich fragt, Herr“, raunte neben ihm ein kleiner, unscheinbarer Mann ganz in schwarz gekleidet abfällig.

Dieser Alfred. Thorin erkannte seine Stimme wieder und betrachtete die beiden Gestalten oben auf den Stufen.

Zwei hässlichere Menschen hatte er selten gesehen.

,,Hütete Eure Zunge!“

Der Bürgermeister hob überrascht die langen Augenbrauen bei dem lauten Ausruf gegen ihn.

Dwalin trat vor, das breite Kreuz unbeugsam gespannt. ,,Ihr wisst nicht, mit wem Ihr es zu tun habt. Das ist nicht irgendein Halunke. Das ist Thorin, Sohn von Thrain, Sohn von Thror!“

Gemurmel brach aus, als die Namen der großen Zwerge von einst fielen und ihr Erbe hervor trat. Des Bürgermeisters Augen weiteten sich noch mehr.

Thorin legte eine Hand an die Schulter seines treuen Freundes, als er sich an dessen Seite stellte und seine Präsenz den Platz einnahm. ,,Wir sind die Zwerge Erebors... Und wir sind gekommen, um unsere Heimat zurückzufordern.“

Lauter als zuvor schwoll das Gemurmel an. Die Leute reckten die Hälse nach dem schwarzhaarigen Zwerg. Dieser traf den Blick vom Bürgermeister, der einen Moment lang überfordert wirkte und ihm auswich.

Gebadet von den Blicken und Stimmen fasste Thorin einen Entschluss. Kein weiteres Mal würde er sich so kurz vor ihrem Ziel die Weiterreise verwehren lassen. Sie hatten eine Mission, die es zu erfüllen galt. Daran hing alles; sein Leben, sein Schicksal und das seines Volkes, ja sogar sein Herz.

Sie hatten nur diesen einen Versuch, an dem seine ganze Existenz

hing, und er war bereit, alles zu setzen, um es wahrzumachen.

Na, schön. Sollten die Menschen das bekommen, was sie hören wollten.

,,Ich erinnere mich an diese Stadt in den alten Zeiten.“ Seine

dominante Stimme ließ die anderen von ganz allein verstummen. Langsam drehte er sich zu den Zuhörern, während Schneeflocken über ihm fielen. ,,Ganze Handelsflotten lagen im Hafen, beladen mit Seide und Edelsteinen. Dies war keine vergessene Stadt auf einem See.“ Er ballte die erhobene Faust. ,,Dies war der Mittel-punkt für jeglichen Handel im Norden!“ Unter den Menschen regten sich die Gemüter. Viele stimmten ihm zu.

Balin nickte, während Bilbo danebenstehend den Zwerg anstarrte, der mit ihrer Hoffnung auf den Schultern und der Würde und Entschlossenheit eines Königs sprach.

,,Ich hole diese Zeit zurück! Wir entzünden die großen Schmieden der Zwerge neu, auf dass sich Wohlstand und Reich-tum wieder ergießen, AUS DEN HALLEN DES EREBORS!“

Bei diesen Worten brach begeisterter Jubel aus, doch jemand hinter ihm ließ die angestachelten Leute verstummen: ,,Woher wissen wir, dass es nicht nur leere Versprechungen sind?“

Thorin drehte sich zu Alfred um, der dabei war, ihm alles zunichte zu machen.

,,Wir wissen nichts über ihn. Woher wissen wir, dass er sein Wort hält?“, zischte er und ließ wichtigtuerisch seine durch-gängige Augenbraun zucken. ,,Hm? Wer kann für ihn einstehen?“

Stille legte sich über den Platz.

Nervös sah Bilbo von einem zum anderen…doch nichts geschah.

,,Ich.“

Thorin wirbelte herum, gerade als Bilbo seinen Finger wieder sinken ließ.

Der Hobbit musste schlucken. ,,Ich bin weit mit diesen Zwergen gereist und…und wenn Thorin Eichenschild sagt, dass er sein Wort hält, dann wird er das auch.“

Thorin erwiderte sein Lächeln, neigte das Haupt vor dem treuen Hobbit.

,,Tod! Das werdet Ihr über uns bringen!“

Eine andere, jedoch nur allzu sehr bekannte Stimme brach

erneut die Luft und zerstört seine neu gewonnen Zuversicht.

Mit mahlenden Kiefern musste Thorin Bard entgegen blicken, der zwischen den Soldaten erschien und in den Kreis hinein trat.

,,Drachenfeuer und Verderben. Wenn ihr die Bestie weckt, werdet Ihr uns alle vernichten.“

,,Ihr könnt auf diesen Schwarzmaler hören“, begann er erneut. ,,Doch ich verspreche euch…wenn es gelingt…werden alle am Reichtum des Berges teilhaben.“ Unter den Menschen breitete sich Erstaunen aus. Aufgeregt redeten sie untereinander.

Je ruhiger seine Stimme eben war, desto lauter wurde sie jetzt. ,,Dann habt ihr genug GOLD“, er breitete seine Arme aus, ,,UM ESGAROTH ZEHN MAL NEU ZU ERBAUEN!“ Tosender Jubel brach aus und Thorin musste einen Atemzug nehmen.

Das Eis war gebrochen und er war der Eisbrecher.

,,Ihr alle, hört mir zu!“, versuchte Bard die Menge zu bremsen.

,,Ihr müsst zuhören! Habt ihr vergessen, was mit Dale geschehen ist?! Habt ihr die vergessen, die ihr Leben ließen in dem Feuersturm?!“

Die Menschen schüttelten die Köpfe, schauten tief betroffen zu Boden oder legten sich die Umhänge enger. Die Katastrophe war nach wie vor präsent in den Köpfen der Menschen.

,,Nein!“, rief irgendjemand laut in der Masse versteckt.

,,Und wofür das alles?!“ Bard drehte sich zu ihm, die dunklen Augen auf ihn gerichtet. ,,Für eines Bergkönigs blinden Ehrgeiz…“ Gefährlich langsam drehte Thorin den Kopf, starrte ihn mit einem silbernen Funkeln zu ihm empor. ,,…so zerfressen von Gier, dass er nur seinen eigenen Vorteil im Sinn hat!!“

Die Masse um sie herum brach abermals ungehalten ihr Schweigen, während sich die beiden Wortführer mit geballten Fäusten gegenüber standen.

Dwalin wollte sich auf ihren Schmuggler stürzen, ihm die Zunge rausreißen, wurde jedoch von mehreren Zwergen zurückgehalten.

,,Bitte! Bitte!“ Der etwas nasal sprechende Bürgermeister löste

sich endlich aus seiner Starre. Mahnend hielt er den Zeigefinger in die Luft. ,,Wir dürfen – und das gilt für uns alle – niemandem voreilig beschuldigen. Und vergessen wir auch nicht, es war Girion, der Fürst von Dale“, er zeigte direkt auf Bard, ,,euer Ahnherr, der die Bestie zu erlegen versäumt hat.“ Ihm entfuhr ein belustigtes, kindliches Glucksen, wobei die gezwirbelten Spitzen seines Schnurrbarts zitterten.

Fassungslos sah Thorin ihren Kahnführer an, der mit seinem Mantel aus Rehhäuten und den alten Stiefeln vor ihm stand und von edlem Blut sein soll.

Bard schaute nur ausdruckslos zu Boden. Bei Alfreds Kom-mentar jedoch richtete er seine vor Zorn glänzenden Augen die Stufen zu seinem Wiedersacher hinauf.

,,Wohl wahr, Heer! Wir alle kennen die Geschichte. Pfeil um Pfeil hat er geschossen. Jeder verfehlte sein Ziel.“

Resigniert, Gehör bei ihnen zu finden, ging er auf den Zwerg zu, schaute mit aufeinander gepresstem Mund zu ihm hinab.

,,Ihr habt kein Recht… Kein Recht diesen Berg zu betreten.“

,,Ich allein habe das Recht“, antwortete Thorin leise und mit wissender Ruhe. Er drehte Bard den Rücken zu, blickte die Stufen hinauf, denn dort oben befand sich die wichtige Person, das Zünglein an der Waage. In die richtige Ecke hatte er ihn schon getrieben. Jetzt müsste er nur noch etwas Charme spielen lassen. ,,Ich spreche zum Bürgermeister der Seestadt.“

Dieser horchte auf, aalte sich unverkennbar in seinem Titel.

,,Wollt Ihr erleben, dass sich die Prophezeiung erfüllt?“, fragte Thorin, schritt die ersten Stufen hinauf.

Wissbegierig lehnte er sich vor, als Thorin seine Stimme senkte.

,,Wollt Ihr teilhaben an dem großen Reichtum unseres Volkes?“,

fragt er fast flüsternd. Gleichzeitig legte sich die gespannte Stille über den gesamten Platz.

Des Bürgermeisters schmale Augen gingen hin und her, doch

der Zwerg bemerkte das Glitzern in ihnen, welches ihn verrät.

,,Was sagt Ihr?“

Er leckte sich die dünnen Lippen, ehe er den Finger auf ihn richtete. ,,Ich sage zu Euch…Willkommen!“ Schwungvoll breitet er die Arme aus und seine Bürger brachen sogleich in Jubel-schreie aus. ,,Willkommen! Und dreimal willkommen, König unter dem Berge!“ Seine Stimme reicherte die anderen an, während sein Köter neben ihm mit gelben Zähnen lächelte und die Menschen in ausgelassen und freudigen Jubel verfielen.

Thorin trat eine weitere Stufe hinauf, drehte sich mit gestrafften

Schultern zu seinem Werk um und hob im begeisterten Applaus

eigetaucht den Kopf.

Niemand konnte ihn nun mehr aufhalten.
























13



Der feine Geschmack von altem Schweiß lag auf ihren Lippen, ihr Gesicht an warmer Haut. Blinzelnd öffnete Marie die Augen und fand sich an einem Hals gelehnt wieder.

Ihr Erinnerungsvermögen stellte sich als ein ausgefranstes, schwarzes Loch heraus. Beim Schlucken tat ihre Kehle weh, als hatte sie sich soeben erst aus einem Schraubstock befreit. Ihre Augen brannten, ihre Hände, ihr Kopf…Einfach alles.

Erschütterungen von fremden Schritten gingen durch ihren Körper. Sie hob den Kopf, schaute in das Gesicht ihres Trägers und hoffte, dass das ein schlechter Scherz war. ,,Du?“

,,Du bist wach“, stellte er mit einem Lächeln nüchtern fest.

,,Wie…? Du?“ Orientierungslos schaute Marie sich um. Sie waren auf einer felsigen Ebene, die ihr nicht bekannt vorkam und bloß mit niedrigem Gestrüpp bewachsen war.

Der Tag ging zur Neige. Die Farben der Dämmerung verblassten bereits, doch der Himmel leuchtete noch blutrot. Mehrere hundert Meter vor ihnen brannten Fackeln. Um diese herum konnte sie dunkle Silhouetten von Personen ausmachen.

Marie schaute sich nach allen Seiten um. Sie gingen allein ganz am Ende ihres Trosses und zu allem Überfluss lag in seinen Armen und hatte auch noch wie ein schmachtendes Mädchen, das gerettet werden musste, an seinem Hals gelehnt. Marie hätte am liebsten gekotzt. Wie um alles in der Welt hatte sie zulassen gekonnt, dass ausgerechnet dieser Kerl sie anfasst, geschweige denn trägt?

Sie sammelte ihre verwirrten Sinne und wollte nur noch von ihm los. ,,Lass mich runter“, sagte sie, doch er lächelte nur.

,,Wir sind gleich da.“

Wo? ,,Gonzo, lass mich runter! Sofort!“ Sie strampelte mit den

Beinen, drückte seinen Arm weg. Mit dem sich wild wehrenden Bündel blieb er notgedrungen stehen und Marie wurde etwas unsanft runter gelassen. Ihre Beine waren wie Pudding, weswegen sie auf die Knie fiel. Verärgert richtete sie den Blick auf ihn. ,,Was fällt dir ein?“

Irritiert schaute er sie an und seine Gesichtszüge wurden ähnlich zornig wie ihre. ,,Ich habe dir gerade geholfen! Ein bisschen mehr Dank wäre angepasst.“

,,Ich hab nicht darum gebeten!“

,,Och!“, er fasste sich in die Haare. ,,Du bist so…dickköpfig!“

,,Und du ein Idiot!“

Vor ihr stehend beugte er sich über sie. ,,Glaubst du, ich hab dich meilenweit getragen, nur damit ich mir jetzt dein Rumgezicke anhören kann?! Glaubst du, du bist die einzige, die Probleme hat?!“

Weil Marie nicht wusste, was sie sagen sollte, konnte sie nur an ihrer Wut festhalten. ,,Ich brauche deine Hilfe nicht!“

,,Na schön. Sieh doch zu, wie du zurecht kommst!“ Damit drehte er sich um und stapfte davon.

Die Lippen fest aufeinander gepresst sah sie ihm nach und warf einen Blick zurück. Dunkel und düster lagen die verbrannten Bergwälder hinter ihnen, dahinter der Erebor, dessen Gipfel auch im Sommer mit Schnee bedeckt war.

In dieser Nacht würden es dort oben keine Lichter geben.

Sie waren schon weit vom Hochtal entfernt, sodass der Abschied von ihrer Heimat zur bitteren Gewissheit geworden war.

Am Boden hockend schaute sie Gonzo hinterher, der zum Licht der Feuer ging, welche nun an Felsen verharrte und einladend brannte, als es währenddessen immer dunkler um sie herum geworden war. Er hat mir wirklich geholfen…

Diese Blöße musste sie sich geben.

,,Gonzo, warte!“ Er blieb stehen, drehte sich halb zu ihr und ein leises ,,Es tut mir leid“ brach durch das Zirpen der Grillen.

Marie konnte sehen, wie seine angespannten Schultern fielen. Er drehte sich um und kam wieder zu ihr. Dummerweise musste sie zu ihm empor schauen, als er aufrecht vor ihr stand, die Arme mit den hochgekrempelten Ärmeln seines Hemdes abwartend verschränkt.

,,Ich hab dir Unrecht getan.“ Er antwortete nicht.

,,Es tut mir leid.“

Gonzo senkte den Blick zu Boden. Sein Mundwinkel zuckte triumphierend. ,,Leg die Beine nach vorne“, befahl er auf einmal mit ruhigem Ton und Marie folgte, um keinen Streit vom Zaun zu brechen. Als sie sich so hingesetzt hatte, hockte er sich neben sie, so nah, dass er über sie fallen konnte.

Ohne lang zu warten schob er den Arm unter ihre Kniekehlen. ,,Und deine Arme um meinen Hals.“

Mit der Gewissheit, dass er das nur von ihr forderte, weil er es so wollte, zögerte sie, entschied sich dann aber den Mund zu halten und schickte ihm einen bösen Blick, um ihm zu zeigen, was sie davon hielt. Marie hob die Arme und schlang sie um seinen Hals. ,,Du bist immer noch ein Idiot.“

,,Wie du meinst.“ Gonzo legte den anderen Arm um ihren Rücken, hob sie abermals hoch und trug sie bis zu den Felsen, wo ihre Gruppe dabei war, ein Lager aufzuschlagen. Er ging durch die Menschen hindurch, bis zu ihren Eltern, wo Marie runtergelassen wurde und in die Umarmung ihrer Mutter fiel.

,,Danke. Ich danke dir, Gonzo“, sagte Myrrte an den jungen Mann gewandt. Soren streckte ihm die Hand hin, die er nahm.

Myrrte nahm ihren Kopf in die Hände, taste ihre Stirn ab. ,,Alles in Ordnung? Tut dir was weh?“

Marie schüttelte den Kopf und hatte plötzlich mit dem Kloß in ihrem Hals zu kämpfen. ,,Es tut mit leid, dass ich euch Kummer bereitete habe.“

,,Ach, meine Schatz…“ Mehr sagte sie nicht.


Er hat seine Familie verloren. Das war der Satz, der ihr vom Gespräch vorhin mit ihrer Mutter bleibend im Gedächtnis hing. Marie sah auf den Stock in ihrer Hand, auf dem das gebratene Rebhühnchen gespießt worden war und seufzte.

Ich muss mich bei ihm bedanken. Das bin ich ihm einfach schuldig.

Abseits von allen anderen hatte er sich niedergelassen. Die Hosenträger von den breiten Schultern gezogen, lag er auf einem zerpflückten Stofffetzten an einen Felsen gelehnt. Im Boden vor ihm war eine kleine Fackel gesteckt worden, deren orangener Schein sich auf seinem regungslosen Gesicht bewegte.

Als er sie bemerkte, schreckte er hoch.

,,Hallo“, begann Marie leise.

,,Hallo“, antwortete er verblüfft, die braunen Augen groß und auf sie gerichtet. Offenbar wunderte er sich über ihr Erscheinen bei ihm. Marie selbst konnte es nicht glauben.

,,Ich, ähm, wollte dir etwas zu essen bringen.“ Sie gab ihm den geschwärzten Stock und ein Lächeln breitete sich auf seinem Mund aus. ,,Danke.“

,,Kann ich mich zu dich setzen?“

Abermals starrte er sie überrascht an. ,,Ja, natürlich.“ Er rückte, damit auch sie auf seiner dünnen Decke Platz hatte. Marie setzte sich neben ihm und höflich rückte er noch ein Stück. Während er begann zu essen, schaute sie ihm zu. Er drehte die kleine Keule heraus und hielt sie ihr hin.

,,Ich hatte schon, aber danke.“

,,Na, nimm sie schon.“

Maries Mundwinkel hoben sich wie von Zauberhand. Es war das erste Mal seit Stunden. Sie nahm sie und schweigend aßen die beiden für ein Weilchen.

,,Du solltest schon längst schlafen“, sagte er mit vollem Mund und legte die Reste neben sich.

,,Du auch.“ Marie reichte ihm ihren bereits blanken Knochen

der Keule.

Schmunzeln nahm er ihn ihr ab und legte ihn zu den anderen. ,,Wie geht es dir?“

Sie hätte nie gedacht, so eine ganz unbefangene Frage jemals mit ihm zu wechseln. Und noch weniger, dass sie ihm ein Teil ihrer innersten Gefühle offenbarte. ,,Ich hoffe immer noch, aufzuwachen…“, gestand sie sehr leise, ,,und zu sehen, dass das alles nur ein Traum war.“ Mit aller Macht musste sie die Gedanken an ihn und die damit einhergehenden, sich türmenden Fragen beiseite schieben, weil sie zusammen mit dem Schmerz in ihrem Herzen einfach zu grausam waren.

,,Geht mir genauso.“

Marie sah ihn an. Mit ihm zusammen zu sitzen und einfach mal zu reden fühlte sich komisch und ungewohnt an. Seit den frühen Kindertagen hatten sie nichts mehr gemeinsam unternommen. Einfach nebeneinander zu sitzen schien unwirklich zu sein, doch Not schweißte bekanntlich die entferntesten Menschen zusammen.

Sie überlegte sich etwas, um selbst ein Thema anzufangen.

,,Die Männer sagten, ihr hättet wirklich Glück gehabt mit den Rebhühnern.“

Er nickte. ,,Dass wir sie um diese Zeit noch erwischt haben. Sie saßen am Boden, hatten auf ihrer Tarnung vertraut. Haben sie für euch gereicht?“

,,Ja, schon. Wieso bist du nicht bei uns?“ Er zuckte mit den Schultern, doch Marie konnte es im Feuerschein in seinen plötz-lich schimmernden Augen sehen, als er den Rest des Rebhuhns weglegte und das Gesicht wegdrehte.

Er trauert. Sie hatte ihn noch nie so gesehen.

Marie musste schlucken, legte eine Hand auf seinen Arm. Ihr war in diesem Augenblick egal, was er in der Vergangenheit getan oder gesagt hatte. Seine Familie zu verlieren sollte niemand erleben. ,,Es tut mit leid.“

Anerkennend nickte er, sah auf ihre mitfühlende Geste.

Zufällig fiel ihr Blick auf seine Hand. Ein roter Streifen aufge-

schürfter Haut zog sich über seinen Handrücken bis zur Mitte seines Armes, in dem Zeichen von Verbrennungen zu erkennen waren. ,,Du bist verletzt.“

,,Halb so schlimm“, nuschelte er, doch Marie stand bereits auf und ließ ihn mit den Worten „warte hier“ zurück.


Suchend ging sie zwischen den gedrungenen Büschen umher, doch bei der Dunkelheit und außerhalb eines Lichtkreises war die Suche erschwert. Um sie herum zirpten Grillen mehrstimmig im Chor. Dann entdeckte sie das Semarinkraut, welches sie vorhin gesehen hatte. Sie zupfte einige Blätter ab und nahm auch etwas von den zarten weißen Blüten mit.

Im Lager hatten sich die Menschen um kleine Feuer nieder-gelassen. Leise ging Marie durch sie hindurch. Manche schliefen bereits und die, die wach waren sprachen kaum miteinander. Als Marie auf zwei Kinder sah, die wie die anderen schon schliefen, schnürte sich ihr Brustkorb zusammen. Ein Junge und ein Mädchen. Dicht gedrängt lagen sie aneinander, doch behütet im Schutze von Fremden.

Auch ihrer Eltern schliefen bereits, als sie zu ihnen kam. Marie betrachtete den Arm ihres Vaters. Vom Handgelenk bis zur Schulter war er einbandagiert. Trotz Schmerzen hatte er sie aus der brennenden Stadt geholt und erst anderen geholfen, ehe er sich um seine eigenen Verbrennungen gekümmert hatte.

Dicht an seinem Rücken schlief ihre Mutter. Sie sahen furchtbar erschöpft aus. Menschen waren am heutigen Tag unter ihren Händen gestorben. Der Drachenangriff hatte viele Verletzte, doch noch mehr Tote gefordert und für viele war die Hilfe zu spät gekommen. Freunde und Bekannte von ihr waren nicht mehr am Leben und Marie wollte gar nicht daran denken, was wäre, wenn auch sie ihre Eltern wie Gonzo oder wie viele andere in den Flammen verloren hätte.

Leise holte sie den Rucksack hervor, in dem sich alles befand,

was ihnen außer ihrer Kleidung am Leib geblieben war. Bei der Flucht hatten ihre Eltern nur noch ein paar wenige Dinge aus ihrem Haus mitnehmen können, die sie zum Überleben benötigten. Konzentriert auf ihr Vorhaben kramte Marie im Rucksack herum, bedacht dabei leise zu sein und fand einen Becher. Sie nahm sich auch das in ihrer Situation wertvolle Taschenmesser, welches ihr Vater dicht bei sich abgelegt hatte, und den noch zur Hälfte gefüllten Wasserbeutel mit. Sie hing ihn sich um, ging mit allem zurück zu Gonzo.

Dieser hatte bereits auf sie gewartet. Sie legte ihre Schürze ab, die sie noch immer trug und zog ihren Rock ein Stück hoch, bevor sie sich neben ihn kniete. Ordentlich legte sie sich alles bereit. Die Arbeit empfing sie als geeignete Ablenkung, um nicht an ihn zu denken. ,,Gib mir deine Hand.“

Er steckte sie ihr hin und Marie nahm sie, schaute sich die Verletzung genauer an. Dann ließ sie seine Hand auf ihrem Bein liegen, griff zu der Schürze und dem Messer. Sie suchte sich eine Ecke und schnitt mit dem Messer ein Stück heraus. Der Stoff ging schwer zu durchbohren und zu zerreißen. Mit einem gesunden Argwohn beobachtete Marie ihn aus dem Augenwinkel, bemerkte, dass er richtig mit sich rang, seine Hand auf ihrem Schenkel nicht zu rühren. Sie öffnete den ledernden Wasser-beutel, drückte den Stofffetzen auf die Öffnung und kippte ihn. Dann stellte sie ihn zur Seite und strich mit dem getränkten Tuch über die Wunde. Gonzo zuckte und zog die Hand zurück.

,,Halt still.“ Vorsichtig säuberte sie die Wunde so gut es ging und zerkleinerte anschließend die gesammelten Blätter und Blüten in winzige Teile, tat sie in den Becher.

,,Deine Mutter ist dir wohl eine gute Lehrerin.“

,,Ja, das ist sie.“ Sie gab einen fingerbreit Wasser hinzu und

vermischte es. ,,Das ist Semarinkraut. Es wirkt kühlend und wundheilend.“

Er hörte ihr zu, verfolgte die Bewegungen ihrer Fingerspitzen,

wie sie den Brei auf seiner Haut verteilten, und genoss es erkennbar. Es war seine verstümmelte Hand. Marie musste auf die Stelle von seinem kleinen Finger sehen, von dem nicht einmal ein Stunk übrig war. Soren hatte den Rest des Knochens auch noch entfernen müssen, da er gesplittert war.

,,Du findest es sicher abstoßend.“

,,Unsinn, nein“, antwortete sie ehrlich, griff zur Schürze und riss von den bereits geöffneten Fasern einen länglichen Streifen ab.

,,Deine Eltern haben gute Arbeit geleistet. “ Er blickte auf die alte Verletzung. ,,Ich dachte, ich würde verbluten“, raunte er hinterher. Groll schwang in seinem Ton mit.

,,Das hast du dir selber zuzuschreiben. Das weißt du genau“, erwiderte sie leise, aber bestimmt, als sie sorgfältig den Verband wickelte.

,,Hätte sich dein feiger Zwerg nicht eingemischt, dann wäre es nicht passiert.“

Seine gezischten Worte versetztem ihren Herz einen Tritt.

Ihr Zwerg. Brennende Qual zuckte durch ihren Körper.

An diesem Tag war ihr etwas aus Fleisch und Blut genommen worden und nun wühlte er in der tiefen Wunde, die einfach noch zu frisch war. Ihr Inneres schien wie durch riesige Klauen zerquetscht worden zu sein.

Schwarze Klauen, die einer Bestie gehörten.

Absichtlich zog sie den Knoten fest zu und ließ ihn dadurch zusammen zucken. ,,Danke.“

,,Nein“, sagte Marie bloß und schaute ihn nicht an, während sie begann, ihre Sachen zusammenzusammeln. ,,Du brauchst dich dafür nicht zu bedanken. Du hast mich soweit getragen. Sieh meine Schuld hiermit als beglichen an.“

Er realisierte, dass sie gehen wollte, versuchte, sie davon abzuhalten. ,,Bleib doch bitte“, raunte er, als sie sich beide gleichzeitig erhoben.

Marie ringte sich durch, ihn anzusehen, versuchte, das Flackern

in ihren Augen zu verbergen. Sie hatte eingesehen, dass er eigentlich in Ordnung war. Mit ihm konnte man gut reden.

Er hatte ein hübsches Lächeln und war ein ansehnlicher und starker Mann, doch wäre da nicht sein undurchschaubarer Charakter und seine Eifersucht, unter der sie leiden musste…

,,Gute Nacht, Gonzo.“ Marie ging ohne sich ein letztes Mal umzudrehen. Sie umklammerte die erbärmlichen Reste ihrer Schürze, ihrem alten Leben, wollte aufwachen aus diesem Albtraum, doch allmählich erkannte sie, dass es die Wirklichkeit war, dass das Geschehene wirklich passiert war und man nichts mehr daran ändern konnte, auch wenn man es sich sehnlichst wünschte.

Thorin war gegangen. Ob tot oder lebendig. Er war fort.

Mit dieser Erkenntnis im Lager angekommen legte sie die Sachen zurück an ihren Platz und sich selbst neben ihren Vater, der im Halbschlaf seinen Arm über sie legte.

Marie presste die Augen zu, rollte sich enger ein. Niemand hörte, wie sie sich in dieser Nacht leise in den Schlaf weinte.


~


Völlige Dunkelheit. Orientierungslos suchten ihre Augen in der Schwärze. Eine leichte Panik lief kribbelnd ihre Wirbelsäule hinauf. Zuerst wusste sie nicht, wo sie war, bis schemenhaft die Umrisse ihres Zimmers erkennbar wurden.

Marie lag in ihrem Bett. Verdammt. Sie fasste sich an die Stirn und musste tief durchatmen. Wie war sie überhaupt hier her gekommen?

Mit weiten Augen horchte sie eine Zeit lang in die stille Nacht

hinein, schloss sie für einen Moment und richtete ihren Blick an

die Zimmerdecke. Sie hatte von Gonzo geträumt.

Marie fuhr sich durch die Haare. Oh, Himmel, verdammt nochmal.

Warum hatte sie ausgerechnet von ihm geträumt? Und dann auch

noch so…lebendig! Nach so einem Wiedersehen mit ihm hatte sie sich herzlich wenig gesehnt.

Alles war noch einmal an ihr vorbeigezogen, so echt, so nah…

An ihren Fingerspitzen fühlte sie noch die Gräser, als sie ihre Hand danach ausgestreckt hatte.

Damals wusste sie noch nichts über die dunkle Seite von ihm, die in seinem Inneren ruhte…bis sie ans Licht getreten war.

An jenem langen Abend, als er ihr auf der Gasse gegenüber stand. Doch auch schon vorher hatte sie diese andere Seite an ihm gesehen, seine dunkle Seite und gleichzeitig seine gebrochene Seele, die er nur wenige Tage später zeigen sollte.


~


Lange Zeit gingen sie nebeneinander, bildeten die Nachhut ihres Trosses. Inzwischen waren sie von den Ausläufern des Berges runter, hatten ihn hinter sich gelassen und den Weg nach Südwest eingeschlagen, doch Maries Blick ging immer wieder den Weg zurück. Und immer wieder wurde sie enttäuscht, obwohl sie nicht genau wusste, was sie sich erhoffte zu sehen.

Sie dachte an die Raben, die ihre letzten Kreise über ihre alte Heimat gezogen hatten. Die Bergraben des Erebors. Auch sie sind geflohen. Was haben sie auf ihrem Wege alles gesehen?

In Gedanken rief Marie die pechschwarzen Vögel zurück, damit sie ihr Herz mit sich tragen und zu ihm bringen sollten.

Es fühlte sich wie ein gemeiner Raub an.

Von einer Zukunft. Von Freundschaften. Träumen.

Dem Leben. Der Liebe.

Von Smaug beraubt.

,,Schau nicht ständig nach hinten.“

Nach dem langen Schweigen hörte sich seine Stimme laut an,

obwohl sie es nicht war. Marie antwortete nicht, ging mit

schnellerem Schritt an ihm vorbei, als er langsamer wurde.

Doch er kam ihr nach, stellte sich vor sie und machte ihr mehr als verständlich, dass sie stehenbleiben sollte. ,,Du musst ihn vergessen.“ Er suchte so bestimmt ihren Blick, dass er sie zu durchbohren drohte. ,,Glaubst du, er wird dir nachlaufen? Schaust du deshalb immer wieder zurück?“

,,Vielleicht ist er ja umgekehrt und…“ Weiter kam sie nicht, denn er nahm sich ihr Wort, als seine Vermutungen sich bewahrheiteten und nun die Rede von seinem Rivalen war.

,,Marie, werd erwachsen. Er hat dich nie geliebt.“

Seine Worte waren ein Schlag direkt in die Magengegend. ,,Wieso sagst du so etwas?“

,,Weil es die Wahrheit ist.“ Gonzo machte einen Schritt auf sie zu. ,,Er hat dir nur etwas vorgemacht, dir nur Lügen erzählt.“

,,Nein. Nein, du lügst...“

,,Nehmen wir mal an, er hat überlebt. Wieso ist er dann nicht bei dir?“ Sie antwortete nicht, wusste nicht was.

,,Ich kann es dir sagen: er hat dich im Stich gelassen, weil du Ballast für ihn warst. Er wird nicht zurück kommen. Sieh es ein und vergiss ihn.“ Sie wollte den Blick abwenden, doch er fasste sanft ihr Kinn, drehte ihr Gesicht zu sich. Seine Stimme änderte sich, sein Ausdruck in den Augen ebenfalls. ,,Ich würde so etwas nie tun.“ Dunkel vor Begierde loderten sie. ,,Ich sehe wie sehr du leidest, Marie.“ Ihren Namen sprach er, als wäre er aus purer Kostbarkeit, und legte, noch ehe sie reagieren konnte, die Hände hinter ihren Rücken, um sie bei sich zu halten. ,,Vergiss ihn“, flüsterte er und kam ihr auf einmal so nah. Sein Atem prallte an ihren Mund und Marie konnte nicht anders.

Die Ohrfeige knallte so laut, dass es gleichzeitig in ihren Ohren

widerschallte. Jeder andere hätte nach dieser Ohrfeige schnellst-möglich das Weite gesucht und aufgegeben. Doch Gonzo nicht. Auf irgendeiner Art und Weise wurden sie danach sogar so etwas wie Freunde, obwohl sie noch sehr lange Zeit über seine Worte nachdenken musste, sie jedoch nie glauben konnte, weil ihr Herz allein die Wahrheit kannte.

Marie hatte es geschafft, immer eine Distanz zwischen ihnen zu wahren. Oft hatte er sie gefragt, ob sie mit ihm etwas Trinken oder spazieren gehen wollte, doch wurde jedes Mal abgewimmelt, sodass sich bereits ein neckisches Muster daraus gebildet hatte.

Als ihre Eltern gestorben waren, hatte er sich zurück gehalten und sie hatten miteinander reden können, ganz ohne Druck oder Drang von ihm. Er hatte auch anders gekonnt.

In der Dunkelheit fuhr sie über die heilenden Abschürfungen an ihren Fingerknöchel. Er hat mich geliebt, Marie musste daran schlucken. So sehr, dass ihm alles recht gewesen wäre.

Und wegen seiner Liebe zu ihr musste er auch sterben.

Auf einmal hörte sie seine Stimme, seine Worte, laut und leise, schnell und langsam: Wie soll es mir schon gehen? Er hat dir das Herz gebrochen und das wird er auch wieder tun. So oft er will… Hättest du dich für mich entschieden...Ich würde dir alles bieten, was in meiner Macht steht. Und dann sagte er in ihrem Kopf die drei verheerenden Worte: Ich liebe dich. Ich würde alles tun, um dir das klar zu machen. Warum stößt du mich immer von dir?! Bin ich dir nicht gut genug?! Einmal im Leben, nur ein einziges Mal möchte ich dich haben...und diesmal für immer.

Sie hatte seine Verzweiflung und seine Besessenheit gesehen und am eigenen Leib zu spüren bekommen. Die Begegnung auf der Gasse hatte ihr gezeigt, was er wirklich war: ein Mann, der sich durch seine gebrochenes Herz in ein Monster verwandelt hatte. Dass es falsch war, sich irgendeine Schuld daran zu geben, wusste sie, doch sie dachte darüber nach. Doch auch wenn sie sein Schicksal hätte ändern können…jetzt war es zu spät.

Durch das Fenster konnte sie den sichelförmigen Mond und die Sterne leuchten sehen und auch wenn ihr es nur so vorkam, ein Stern funkelte in dieser Nacht besonders hell und sie fragte sich, ob vielleicht nicht jeder eine dunkle Seite in sich besaß?

Nach einer Weile mit ihren Gedanken beschäftigt steckte Marie die Arme von sich und ein Schrei entfuhr ihr. Der Schreck durchzuckte sie wie ein Peitschenhieb und ließ sie bis an die Bettkante flüchten, sodass sie fast darüber fiel. Ihr Herz raste, als sie neben sich starrte. Ihre rechte Hand war auf einen nackten Rücken geklatscht. Dann spürte sie eine Bewegung auf ihrer mit feinem Stroh gestopften Matratze und erkannte eine dunkle Silhouette. Jemand regte sich neben ihr, atmete aus und stieß dabei einen leisen, entspannten Seufzer aus, der doch eher wie ein Brummen glich.

Marie schluckte den Schreck hinunter und klammerte sich an ihre Vernunft, dass hier niemand sein konnte. Sie konnte den Mut aufbringen, die Hand auszustrecken und streifte mit zitternden Fingern einen Körper, einen Arm.

Der Körper neben ihr drehte sich um und auf einmal konnte sie Thorins Gesicht erkennen. ,,Liebling,“, nuschelte er im Halbschlaf, ,,warum schläfst du nicht?“

Als Marie seine tiefe Stimme hörte, kribbelte es hefig in ihrem Bauch. Die Schmetterlinge erhoben sich aus ihrer Trauer zu einem Flug als ganzer Schwarm. Trotz der Dunkelheit konnte sie erkennen, wie er den Arm zu ihr ausstrecke und über ihren Bauch legte. Dann wurde ihr Körper mühelos an seinen gezogen.

Er kuschelte sich an sie und es wurde ganz warm. An ihrem nackten Rücken konnte sie seinen Bauch und Brust spüren.

An ihrem Hintern lagen seine Lenden, ein Bein von ihr zwischen seinen. Sie spürte die rauen Haare an ihnen. Sein heißer Atem prallte an ihren Hals, sodass sie erschauderte.

Marie konnte es nicht fassen. Es war so echt.

Das konnte kein Traum sein! Thorin!

Freudestrahlend wandte sie sich in seinem Arm, schlang ihre um ihn. Doch ehe sie noch einen Wimpernschlag machen konnte, war er verschwunden. Zwischen ihren Armen spürte sie eine Decke aus wolligem Stoff, auf die sie blinzelnd schaute. Suchend steckte sich die Hand aus, fühlte hektisch neben sich, auch auf der anderen Seite. Doch niemand war mehr da.

Das Laken war kalt.

,,Nein...komm zurück.“  Ihre Bitte blieb unerhört.

Es war nur eine Einbildung gewesen.

,,Komm zurück“, hauchte sie und drückte seine Decke an sich, an der immer noch sein Geruch hing. Ihre Zimmertür öffnete sich und Marie hob den Kopf. In einem Lichtschein erschien Anna, erblickte ihre flackernden Augen. Schnell schloss sie die Tür und eilte zu ihr, stellte nur im dünnen Unterkleid bekleidet den Teller der Kerze auf den Nachttisch.

,,Anna? Du bist hier?“

,,Natürlich bin ich hier.“ Sie setzte sich zu ihr aufs Bett. ,,Was ist passiert? Ich hab deinen Schrei gehört.“

,,Ich hab geträumt.“

,,Es war nur Albtraum, keine Sorge.“

,,Nein“, Marie fasste ihren Unterarm, ,, nein, es war kein Albtraum.“ Überrascht sah Anna sie an.

Marie musterte sie und schlug ihre dicke Decke beiseite. ,,Komm zu mir. Ich will nicht, dass du frieren musst.“

Lächelnd schlüpfte ihre Freundin zu ihr ins Bett und teilten mit ihr Kissen und Decke. Der Raum war eingehüllt vom orangen Licht der Kerze, die mittlerweile stark geschrumpft und nur noch ein Stummel war.

,,Ich hab von Thorin geträumt…dass er bei mir ist“, wisperte

Marie und sogleich legte Anna die Hand an ihre kleine Schulter, strich mit den Fingern über sie.

,,Und das war zum Schreien schön?“, fragte sie vorsichtig hinterher.

,,Ja“, antwortete Marie ebenfalls mit einem Lächeln, wenn-gleich auch ein wenig wehmütiger. ,,Vor Schreck, vor Freude und vor Enttäuschung, dass er so schnell wieder verschwunden war. Es war so echt…“

Als die Lächeln beider verblasst waren, knüpfte Anna mit besorgter Miene an einem anderen Thema an. ,,Du musst dich schonen, Marie. Du hattest einen Zusammenbruch.“

Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie so tief gefallen war. Marie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, presste stattdessen die Lippen aufeinander, um nicht an ihnen herum zu kauen.

Die Nachricht über eine mögliche Schwangerschaft hatte sie so aus der Bahn geworfen, aber wieder hatten ihre Freundinnen sie nicht allein gelassen, sondern hatten bei ihr ausgeharrt.

,,Und ihr habt über mich gewacht.“

Sanft musste ihre Wächterin lächeln und nickte.

,,Wart ihr den ganzen Tag bei mir?“

,,Hilda ist am Abend nach Hause. Mel und ich sind geblieben.“

Sie ist unten und schläft zum Glück jetzt.“

,,Was war mit ihr?“ Abweisend zuckte sie mit der Schulter, doch Marie erkannte, dass etwas nicht stimmte. ,,Anna, was ist los?“

,,Sie hat vorhin geweint. Sie denkt, es wäre ihre Schuld“, erzählte sie schließlich und ein Stich erfüllte Maries Brust.

,,Ich weiß nicht, ob sie das alles versteht und ob das nicht zu viel für sie ist. Mel ist zwar noch klein, aber sie bekommt ganz genau mit, dass ich mir Sorgen um dich mache, ebenso wie Hilda. Dieses Zittern… Du machst dich selber krank. Versprich mir, dass du dich in nächster Zeit schonst. Versprich es mir.“

,,Versprochen.“

,,Ich meine es ernst, Marie. Gerade jetzt in deinem Zustand.“

,,Du meinst, falls ich schwanger bin.“

Anna wurden ihre gesprochenen Worte bewusst, fürchtete, dass ihre Freundin dadurch wieder niedergeschlagen sein würde.

,,Wir müssen die nächste Zeit abwarten. Noch ist es nicht klar“, wiederholte sie, fasste ihr bekräftigend an den Oberarm. ,,Und falls es so sein sollte, dann kannst du dich in Sicherheit wissen, dass wir dich dabei unterstützen werden.“

Da sie wusste, dass sie recht hatte, nickte Marie mit einem

besserem Gefühl im Bauch. ,,Danke, Anna.“ Wenn sie in den nächsten Tagen ihre Blutung nicht bekommen würde, dann hatte sie die Gewissheit. Bis dahin müsste sie abwarten.

,,War er gut zu dir?“

Marie schaute in vor Neugierde funkelnden Augen. Ansätze eines vorsichtigen Lächelns bildeten sich und Annas Lächeln war so schön, dass es sogar auf sie überging und als ihre Freundin dies sah, wurde ihres noch stärker und zu einem Grinsen und so grinste Marie auch.

,,Sag schon“, drängelte sie, stupste ihr mit dem Zeigefinger neckisch in die Seite. ,,Du hast mich schon viel zu lange auf die Folter gespannt.“

,,Du fragst, ob er gut zu mir war? Oh, Anna, er war traumhaft! Du kannst es dir nicht vorstellen“, brach es aus Marie wie aus einem jungen Mädchen heraus. ,,Er war so zärtlich zu mir. Es war unbeschreiblich.“ Auf einmal bemerkte sie auf dem vertrauten und schönen Gesicht ihr gegenüber ein Staunen. Sie legte den Kopf schief. ,,Was?“

,,Du hast dein Lächeln wiedergefunden“, raunte Anna.

Sie hatte Recht. Marie strahlte, ebenso wie das Grün ihrer Augen, welches lebhaft wie Smaragde war. ,,Das ist die Marie, die ich kenne und die ich in der Kneipe gesehen habe. Du sahst aus wie ein kleines Mädchen, hast den großen, starken Zwerg ange-himmelt, wie eine verträumte Jungfer den Helden.“

Zu allem Überfluss bekam Marie auch noch rote Wangen. Das Reden über Thorin schmerzte, doch nicht so stark wie die vorherigen Tage. Denn er wurde von den Flügelschlägen der Schmetterlinge in ihr angereichert und ausgedünnt, die zwar etwas dezimiert, aber lebendig wie in vergangenen Tagen waren. Auch die Nähe von Anna schwächte den Schmerz ab.

,,Wie findest du ihn?“, fragte sie und war von ihrer Frage selbst überrascht.

,,Er sah schon ziemlich gut aus für einen Zwerg…“

,,Bloß ziemlich?“

,,Ja, gut…Er sah sehr gut aus. Und als er sich deinetwegen geprügelt hatte… Verdammt, war das ein Schlag! Gonzo müssen noch eine ganze Weile die Ohren geklingelt haben.“

Der Zeitpunkt war gekommen, an dem sie ihr auch den Rest erzählen musste. Allein bei den Erinnerungen daran spürte Marie, wie sich ein Klumpen Eis in ihren Eingeweiden einnistete.

,,Anna, da gibt es noch etwas, was ich dir erzählen muss. Das bin ich dir schuldig, obwohl es mir verdammt schwer fällt.“

Anna sah so aus, als wappnete sie sich für das Schlimmste.

,,Ich höre dir zu“, sagte sie schließlich.

,,Der Grund, warum Thorin Gonzo getötet hat, ist…“ Ihr Mut, es endlich auszusprechen, drohte, sich wieder zu verflüchtigen.

,,Es war spät. Ich bin raus aus der Kneipe, auf die Gasse“, presste sie hervor. Den Tanz mit ihm, bei dem ihr durch das Lied der bevorstehende Aufbruch klar geworden war, übersprang sie. Vielleicht würde es Anna nicht verstehen.

Abermals fasste diese ihr beruhigend an die Schulter, sodass Marie mit zitternder Stimme fortfahren konnte. ,,Ich traf ihn draußen und wir haben geredet. Ich war wütend, weil Thorin mir lange verschwiegen hatte, dass sie schon bald aufbrechen würden und bin deshalb nach draußen gegangen, um kurz für mich zu sein. Gonzo wollte mich umstimmen. Er bat mich darum, mit ihm zu kommen, Gandalf zu bitten, den Verwandlungszauber rückgängig zu machen. Ich wollte das alles nicht und dann…sagte er, dass er mich lieben würde.“

Beinahe fielen Anna die Augen aus dem Kopf.

,,Ich war mit meinen Gefühlen so durcheinander und als er mich küsste…hab ich ihn nicht aufgehalten. Ich weiß, es war der größte Fehler. Ich bereue es jetzt noch und als ich es beendete, da veränderte er sich plötzlich.“

Als Anna ahnte, was geschehen sein musste, starrte sie sie erschüttert an. ,,Was hat er dir angetan?“

,,Ich wollte zurück und er hat mich festgehalten…und gegen die Wand gedrückt, mir die Hand auf den Mund gepresst. Er war so viel stärker und größer als ich, ich hatte keine Chance gegen ihn. Er hat…dann hat er mich angefasst...“

Der letzte Satz war nur noch ein Hauchen, als sie seine Hand zwischen ihren Schenkeln fühlte… Sofort nahm Anna sie in den Arm und Marie fühlte das tiefe Mitgefühl und die Ergriffenheit ihrer Freundin, obwohl sie schweigsam war.

,,Ich hab den Mann mir gegenüber nicht mehr erkannt… Thorin, er hat mich vor Schlimmerem bewahrt. Es kam zum Kampf, an dessen Ende er ihn getötet hat.“ Sie wartete auf eine Verurteilung von Anna, doch diese sagte nichts dazu.

Der Schein der Kerze stand still und im Raum wurde es leise.

,,Oh, Marie, wenn ich das gewusst hätte…“ Langsam löste sie sich, damit sie sie anschauen konnte. ,,Danke, dass du es mir erzählt hast“, flüsterte Anna. ,,Egal, was ist, was gewesen war oder was sein wird; ich bin immer für dich da.“

Ihre Worte, mögen sie noch so einfach sein, bedeuteten Marie in diesem Moment unendlich viel. ,,Danke. Ihr habt so viel für mich getan… Aber ich will euch nicht mit meinen Problemen belasten. Du warst meinetwegen nicht zur Arbeit heute.“

,,Morgen geh ich ja wieder hin. Ich lasse mir eine Entschuldi-gung einfallen“, beschwichtigte Anna sie. ,,Und Unsinn, das tust du doch nicht. Aber auch wenn sich Hilda in der Zwischenzeit um Kranke kümmert… Du kannst nicht für immer in deinem Haus bleiben.“

,,Ich weiß“, sagte sie und zupfte an der Decke herum.

,,Du musst mal hier raus. Geh spazieren, lenk dich ab.“

Sie beschloss, es ein Stück gleich in die Tat umzusetzen. ,,Wie geht es dir im Moment? Als du mir das Essen gemacht hast, hast du so gestrahlt.“

,,Ich hab mich gefreut, dass du mir endlich die Tür aufgemacht hast. Mehr nicht.“ Doch Marie kannte Anna lange genug, um zu wissen, dass da noch mehr gewesen war und so sah sie sie vorwurfsvoll an, bis Anna mit den Augen rollte. ,,Also gut. Du hörst ja sonst nie auf. Greg ist wieder da.“

,,Aha“, machte Marie nur und schmunzelte in sich hinein.

,,Und ich hab mit ihm geredet…“

,,Na, endlich. Anna, erzähl! Was hast du zu ihm gesagt?“

,,Es war so…Er hat mich angesprochen.“ Sie wirkte verlegen.

Das war sie immer, wenn sie vom Sohn des Stoffhändlers

erzählte, für den sie heimlich schwärmte.

,,Aha.“

,,Hör auf mit deinem blöden ,aha‘. Wir haben ein bisschen miteinander gequatscht.“ Ihre Mimik wurde plötzlich düster. ,,Aber dann kam Donja dazwischen. Du hättest sie sehen sollen. Dieses Biest! Wenn Blicke töten könnten, dann wäre ich schon längst tot. Ich weiß nicht, was sie gegen mich hat. Sie ist so gehässig und falsch. Kaum zu glauben, dass die beiden Geschwister sind… Wie gesagt, ich sollte die neuen Stoffe ins Lager packen, aber Greg hat angeboten, mir zu helfen. Donja hat vor Wut geschäumt, sag ich dir.“

,,Geschieht ihr Recht. Ignorier diese Schnepfe“, sagte Marie, gleichzeitig musste sie jedoch an Rabia denken. Warum konnte sie sie nicht ignorieren? Wie das Knurren eines Bären durchzog plötzlich ein Geräusch das Zimmer. Marie legte sich die Hand auf den Leib.

,,Das kommt davon, wenn man nichts isst“, tadelte Anna. ,,Morgen früh mache ich dir erst mal ein deftiges Frühstück - falls ich noch etwas in deiner Kammer finde. Und wenn nicht, dann bringe ich dir halt etwas von mir oder sicherlich auch von Hilda mit.“ Marie wollte protestieren, doch ein Zeigefinger hob sich vor ihrer Nase. ,,Wann hast du das letze Mal etwas Ordentliches gegessen?“

,,Weiß ich nicht.“

Kopfschüttelnd stand Annaauf. ,,Ich hol dir was, bevor du mir

noch verhungerst. Möchtest du irgendetwas Bestimmtes?“

,,Alles außer Apfelmus.“































14



Opulent war die Tafel im Rathaus für sie gedeckt worden.

Es gab Brot, Käse, Trockenfleisch und einen großen, gebratenen Fisch, Pasteten und Apfelkuchen, Schalen voll Weintrauben, Nüsse, Pflaumen und Pfirsiche. Dazu Kelche voll Wein und Krüge mit Bier.

,,Trink aus, Männer!“, rief Dwalin mit vollem Mund und hob seinen Krug. Krüge und Gläser wurden aneinander gestoßen. Ein Trinkspruch reihte sich nach dem anderem, woraufhin jedes Mal schallend gelacht wurde. Ausgehungert machten sich die Gefährten über die herangetragenen Speisen her. Gleichzeitig inspizierten manche die für sie bereitgelegten Rüstungen und Umhänge, zogen sie an und musterten sich begeistert und lachend.

Kauend saß Bilbo auf einer, mit Fellen ausgelegten Bank an der reich gedeckten Tafel. Es schien, als war er der einzige, den ein schlechtes Gewissen darüber plagte. Sie aßen und tranken hier von solch guten Speisen, während die übrigen Menschen in der Stadt ärmlich waren. Woher nahm der Bürgermeister das Geld für solche Speisen?

Sein Blick wanderte zu Thorin, der alleine an der Feuerstelle stand. Er hatte sich noch nicht an dem Essen bedient.

Die Feuerstelle bestand aus einer länglichen Holzkiste mitten im Raum, deren Einschalung zudem als breite Bank diente, und über der ein Kaminschacht Qualm hinaus befördern konnte. Öllampen hingen an schmucken Säulen der Halle. Karten und Schriftrollen türmten sich in deckenhohe, verstaubte Bücherregale. Am anderen Ende des Raumes lag die große Tür, die auf den Vorplatz führte. Vögel hüpften in kleinen Käfigen auf ihren Sitzstangen nahe dem Schreibtisch des Bürgermeisters.

Auf der einen Seite spendet es Wärme und auf der anderen bringt es den Tod… Andächtig hielt Thorin den Blick auf die Glutnester gerichtet. Vor ihm auf der Bank stand eine Schale voll Tran, in derer Mitte ein Docht brannte. Auf der öligen Oberfläche erkannte er sein Spiegelbild, dunkel von der Farbe der Schale.

Die freien Stellen im Bart, seitlich unter seiner Unterlippe, waren fast verschwunden. Er fuhr darüber, unter seine Kehle und am Kinn entlang. Als seine Finger einen Zopf zusammen nehmen konnten, musste er schlucken.

Die Haare waren nachgewachsen.

Treppenstufen ächzten und ließen ihn aufhorchen. Zwischen den Regalen erschien der Bürgermeister, hinter ihm her trottend, wie sein treuer Hund; Alfred. Seine schwarzen, halblangen Haare glänzten beim Nähertreten im Feuerschein fettig. Er hatte einen leichten Buckel und besaß einen lichten Bart auf der Oberlippe, der eher an Flaum erinnerte.

,,Ist alles zu Eurer Zufriedenheit?“, fragte der Bürgermeister. ,,Wir wollen doch nicht, dass unsere Erretter etwas zu fehlen missen.“

,,Ich denke, wir sind gut versorgt“, antwortete Thorin und ließ die ausgelassenen Stimmung hinter sich als Beweis stehen. ,,Jedoch wäre ich um einen Gefallen nicht abgeneigt.“

,,Natürlich, natürlich. Scheut Euch nicht.“

,,Wenn Ihr mir etwas Rasierzeug und eine Schere bringen könntet, wäre ich Euch dankbar.“

Äußerst überrascht von der Bitte des Zwerges blinzelte der Bürgermeister von Seestadt. ,,Oh, na, wenn das so ist. Das lässt sich einrichten. Alfred, hol ihnen, was sie wollen! Unseren Rettern soll es an nichts fehlen.“

Dieser öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn

jedoch unverrichteter Dinge wieder. ,,Ja, Herr“, knurrte er und

schlich beleidigt davon.

Der Bürgermeister schmunzelte den Zwergkönig an, der es ihm

nicht erwiderte. Etwas unschlüssig standen sie sich so gegenüber, bis ihm scheinbar etwas eingefallen war. ,,Lise? Lise! Wo ist dieses dumme Ding schon wieder? LISE!“ Sofort schien ein Dienstmädchen und machte einen flüchtigen Knicks.

,,Bring die bereitgelegten Sachen. Na los!“ So schnell wie sie erschienen war, verschwand sie auch wieder und kam mit zusammengelegten Kleidern zurück. ,,Damit Ihr es während der Fahrt auch warm habt. Man unterschätzt die Kälte auf dem See.“ Er schaute dem Mädchen zu, welches die Sachen auf einen Stuhl in der Nähe der Tafel ablegte, und kratze sich mit einem wollüstigen Ausdruck am ungepflegten Kinnbart, als sie sich vorbeugte. Als er jedoch Thorins Blick bemerkte, räusperte er sich und rückte seinen Gürtel zurecht, der sich unter seinem Wanst entlang zog.

Schlurfend erschien Alfred und stellte eine Schüssel mit Wasser, ein Rasiermesser, Handtuch, Pinsel und Dose neben dem Zwerg auf der Bank ab. Als er sich umdrehte, fiel sein Blick neben sich. ,,Steh da nicht so faul rum! Zurück an die Arbeit!“, zischte er das Dienstmädchen an, das mit verschränkten Händen vor dem Schoß neben ihm gestanden hatte, so als wäre auch er ein Bediensteter. Kichernd verschwand sie um die nächste Ecke.

,,Dürfte ich Euch auf ein Glas Rum einladen?“ Schon hielt ihm der Bürgermeister zwei gläserne Kelche mit vergoldetem Rand hin. Thorin neigte das Haupt nur wegen der Etikette und nahm sich einen. Der rotblonde Mann ging hinkend zu seinem Schreibtisch, auf dem zahllose Flaschen standen. Im Vorbeigehen konnte Thorin seinen stechend-süßlichen Gestank wahrnehmen und verzog das Gesicht. Die Bücherregale zierten alle eine Staub-schicht, die Flachen jedoch waren sauber. Er nahm sich gezielt einen Rum und kam hinkend zurück. ,,Die Gicht“, entschuldigte er und schenkte dem Zwergenkönig und sich selbst großzügig ein. ,,Auf Euch.“ Nur mit einem leichten Klirren der Gläser stießen sie

an. Sein Gegenüber leerte seines in einem Zug, tupfte sich mit

seinem Halstuch Mund und Schnurrbart ab. ,,Ah, herrlich.“

Dann hickste er. ,,Schön, schön… So dann denke ich, wünsche ich Euch eine geruhsame Nacht. Es ist schon reichlich spät und Morgen ist ein großer Tag.“ Unter Verbeugungen entfernte er sich, gefolgt von Alfred, die Rumflasche mit sich nehmend.

Als sie verschwunden waren, spuckte Thorin den schlechten Rum ins Feuer und eine Stichflamme loderte auf.

,,Heuchlerische Arschkriecher…“

Bilbo hatte alles beobachtet. Noch einmal sah er die Tafel entlang und fing an, auf seinem Teller von den Speisen etwas zusammen zu sammeln.

Ihm entging dabei, dass Balin ihm lächelnd zusah.


Thorin warf einen Blick zu seinen Gefährten und suchte Kili. Etwas abseits vom Treiben saß er, kaute lustlos an einem Brot.

Als Kili ihn bemerkte, drehte er sich weg. Dass die Schmach über die Gefangennahme durch seine Schuld schwer für ihn wog, war unschwer zu vermuten. Kili konnte ihm nicht ins Gesicht sehen.

Thorin machte sich Sorgen um ihn. Seine Verletzung war doch schlimmer als angenommen, wodurch sein Onkel sich entschied, zu handeln. Als er das Näherkommen von jemandem bemerkte, drehte er sich um.

,,Ich hab mir gedacht, dass du vielleicht Hunger hast.“

Thorin sah auf den vollen Teller in Bilbos Hand und sein Mund-winkel hob sich. Er wies vor sich auf die Bank. ,,Setz dich.“

Bilbo tat wie geheißen. Angenehm warm lag die Hitze auf seiner Körperhälfte. Der großgewachsene Zwerg stellte den Rum beiseite und setzte sich auf die andere Seite der mit Tran gefüllten Schale. Erst hielt er kurz inne, griff dann an dieser vorbei und nahm sich vom Teller eine Scheibe Brot und ein Streifen Fleisch.

Ein wenig beschämt stellte Bilbo den Teller in ihre Mitte, den er

sich auf den Schoß gestellt hatte.

Thorin legte das Fleisch auf das Brot und nahm einen großen

Bissen. Dann schraubte er die Dose auf, tauchte den Pinsel aus Dachsborsten kurz ins Wasser und strich damit in der Dose herum. ,,Ich muss dir danken, Bilbo.“ Ihre Schatten wurden vom Feuer in den Raum geworfen.

,,Wofür?“

,,Du hast für mich eingestanden.“ Er schäumte den weißen Inhalt auf und beugte sich über die Schale. Mit dem Blick auf sein Spiegelbild bestrich er zunächst eine Fläche unter seinem Mund, bevor er das Rasiermesser aufklappte und vorsichtig anfing.

,,Ich musste an dein Versprechen denken“, gestand Bilbo und starrte die scharfe Klinge an. Thorin hielt in der Bewegung inne, ließ wie abwesend das Messer sinken. ,,Welches du Marie gegeben hast“, fügte er hinzu und merkte, dass er sich unbefugten Gebiet näherte. Er sah ihm in die Augen, doch konnte aus seinem Blick nichts lesen. ,,Ich weiß, dass du es nicht brechen wist. Dieses und ihres.“ Weil er fand, genug gesagt zu haben, schloss er feste den Mund. Weiter zu gehen traute er sich nicht.

Mit den Gedanken war Thorin bei seinem Mädchen, als er fort fuhr. Er spürte die Klinge, die die Haare dicht an der Haut durch-trennte und über sie schabte. Dank der guten Klinge bedurften es wenige, winzige Striche, bis er fertig war. Er schöpfte Wasser in die hohle Hand und wischte den Schaum ab, begutachtete das Ergebnis im Öl der Schale und fuhr mit der anderen Seite wie mit der ersten fort.

,,Eure Bärte wachsen anders, als die von Menschenmännern.“

,,Ja. Langsamer.“

,,Wenn ich Kilis Bart betrachte…“ Unwillkürlich muss Thorin lachen. Bilbo schluckte überrascht. Nie konnte er seine Reaktion einschätzen.

,,Auch wenn er darüber manchmal sehr beschämt ist“, er

schüttelte das Messer im Wasser aus, setzte dann für die nächsten

Striche an, ,,es kommt die Zeit, da wird auch seiner wachsen. Der Bart ist uns heilig.“

Bilbo schielte auf die Schere auf der Bank. ,,Wenn er heilig ist, warum schneidest du ihn dir?“Sein Lächeln erstarb augenblicklich und da wusste Bilbo, dass er einen Schritt zu weit gemacht hatte.

,,Hast du schon mal das verbrannte Gesicht eines Zwerges gesehen oder den Geruch von verbrannten Haar und Fleisch gerochen, sodass dir übel wurde?“

Er schüttelte den Kopf, versuchte, das flaue Gefühl im Hals runterzuschlucken.

,,Und so wie mein Volk heute gezeichnet ist, so will ich es auch sein.“ In diesem Moment spürte Thorin erneut die Hand seines Vaters, als ihn seine Ohrfeige traf. ,,Wie auch in eurem Auenland“, raunte er auf das Messer schauend. ,,Ihr lebt hinter euren Gartenzäunen und in euren Ohrensesseln. Nichts wissend von den Leben jenseits eurer heilen Welt.“ Er fuhr mit dem Daumen über die Klinge. Seine Haut gab nach und riss auf, ehe der Schmerz einsetzte und Blut hervortrat. ,,Ich habe das wahre Leben gesehen.“

Bilbo konnte nichts dagegen sagen, schaute auf den Schnitt, den er sich selbst zugefügt hatte und er realisierte, dass dies nur eine Wunde von vielen war.

Thorin klappte das Messer zu. Abermals nahm er Wasser und wischte den weißen Schaum ab, trocknete die Stelle und seine Finger mit dem Handtuch ab.

,,Du sprachst vorhin von einer Prophezeiung…“, nahm Bilbo das Gespräch wieder auf, um der Stille zu entgehen, die ihn nervös machte. ,,Was ist damit gemeint?“ Wieder sah Thorin ihn eindringlich an, ehe er sprach und Bilbo lauschte seinen Worten:

,,Der Herr der Silberquellen, der König edlen Gesteins,

der König unter dem Berge nimmt an sich was ist seins.

Froh hallt der Glockenkunde, ob des Königs Wiederkehr,

doch alles geht zu Grunde und der See wird ein Flammenmeer.

… Das erzählen sich die Menschen hier in dieser Gegend.“

,,Dann glaubst du daran?“

Er schnaubte, warf das Handtuch zurück auf die Bank und nahm

nun die Schere. Mit einem beherzten Griff fasste er sich an den Bart und konnte hören, wie ihre beiden Hälften unter seinem Kinn aneinander vorbei schabten und so die Haare durchtrennten. Sie hatten kein Gefühl in sich, doch das Gefühl, was sie nicht hatten, durchzog dafür ihn. Das abgeschnittene Büschel warf er ins Feuer.

,,Mein Großvater Tuk hat immer gesagt, dass das Leben ohne Glauben ein Funken wäre, der aus der Kohle springt und verlischt“, sagte Bilbo und wusste selbst nicht, warum ihm das gerade in den Sinn gekommen war, und noch viel weniger, warum er es laut ausgesprochen hatte. Er bemerkte den anklagen-den Blick seines Anführers und ließ die Schultern hängen.

,,Das seien angeblich die Worte einer alter, verrückten Krämerin gewesen. Man sollte so etwas kein Gehör schenken.“

,,Aber sie besagen, dass die Stadt auf dem See brennen wird. Ist…ist damit diese Stadt gemeint?“

,,Es gibt nur eine Stadt auf diesem See“, antwortete Thorin kühl, schnitt die nächste Strähne durch.

Bilbo wusste nicht, was er noch sagen sollte, hoffte bloß, dass er recht hatte, dass es nur Worte waren. Das Gespräch hatte ihn ermüdet, er fühlte sich, als hätte er gegen eine Wand geredet.

Eine Wand mit Kerben und Schnitten.

Er entschied sich zu gehen, ließ den Teller noch für ihn stehen.

Wenn der See brennt, dann hat der Herr der Silberquellen sein Eigentum wieder…dann hat er das Gold, welches ihm gehört… ,,Und wenn schon“, wisperte Thorin und in seinem Innerem ballte sich plötzlich ein dunkles Gefühl von Macht.

Der Hobbit, der seine Stimme noch gehört hatte, blieb stehen, wagte es jedoch nicht, sich umzudrehen. Und wenn schon…

Doch wenn Bilbo sich umgedreht hätte, dann wäre ihm der zarte

Schimmer in Thorins Augen nicht entgangen, der flüssigem

Silber geähnelt, aber dennoch eiskalt erstrahlt hatte.


~


Gequält von der Sehnsucht nach ihr, blieb er innerlich ruhelos. Bekanntes Schnarchen belebte den Raum, das heute Nacht sogar mehrstimmig war, blutrot der Inhalt des Kelches in seiner Hand. Resigniert diese Nacht noch Schlaf zu finden, setzte er sich ans Feuer und wie zufällig strich seine Hand an die Stelle über seinem Hemd, worunter die Kette lag. Er fasste in seinen Ausschnitt und zog den Anhänger heraus. Thorin nahm einen Schluck vom Wein, stellte ihn beiseite und widmete seine Konzentration seiner Kette.

Glaubst du daran, was Beorn über die Kette gesagt hat?

Er hatte ihm antworten gewollt, dass vieles Außergewöhnliche man erklären konnte und gleichzeitig viele unerklärliche Dinge einen wahren Grund besaßen. Doch diese Frage konnte er nicht beantworten, denn er wusste nicht, was er glauben sollte.

Handelte es sich hier wirklich um das, mit einem Bann belegte Geschenk eines Königs an sein Kind in Zeiten eines Krieges, der schon viele Jahrhunderte zurück lag? Konnte dieses Schmuck-stück tatsächlich ein Leben bewahren?

Thorin drehte den matten Anhänger, schaute ihn sich von allen Seiten an, die er in und auswendig kannte. Nie hatte er magische Fähigkeiten erlebt oder so etwas in der Art gespürt. Das intakte Eisen sah nicht wirklich alt aus, war zwar hart wie Stein, aber das einfachste, was es gab und fast ohne Wert. Auch die Schnur war einfachste schwarze Schnur.

Ganz schlicht. Ganz gewöhnlich.

Für ihre Kraft, die sie vollbringen sollte, war sie einfach zu gewöhnlich.

Kann auf ihr wirklich ein solch starker Zauber liegen? Doch warum hat man einen Hautwechsler für so etwas beauftragt? Das könnte jeder Knecht anfertigen… Das einfachste, was es gab, was jeder zur Hand hat, was jeder fertigen und weitergeben konnte…

Doch trotz allem: für Thorin war diese Kette von unschätzbarem

Wert – mit oder ohne magische Kräfte. Er hatte sie all die Jahre

getragen. So verband sie ihn mit Marie auf materielle Weise.

Plötzlich flackerte etwas Helles im Feuer vor ihm auf. Der Zwergenkönig drehte das Gesicht zum Feuer, blinzelte und sah genauer hin. Da! – schon wieder, diesmal deutlicher.

Konzentriert starrte Thorin in die Hitze. Der helle Kern einer Flamme flackerte immer wilder. Es sah so aus, als würde er sich bewegen. Fasziniert beobachtete er, wie er noch heller wurde und zu tanzen begann. Er bewegte sich, sprang aus seiner Form und wandelte sich immer mehr in ein tanzendes Wesen.

Thorin war gefesselt von diesem Anblick. So etwas hatte er noch nie gesehen. Arme und Beine wurde erkennbar. Das kleine Wesen zog fröhlich, leichtfüßig seine Kreise, wurde immer deutlicher. Und irgendwann trug es ein strahlend weißes Kleid. Auf einmal war ein losgelöstes und herzliches Lachen zu vernehmen, das aus einer anderen Zeit stammte. Einer glücklichen und sorglosen Zeit.

Ein durchgebrannter Ast brach darüber, fiel in sich zusammen und auf die tanzende Flamme. Die Stimme erstickte.

Helle Funken wurden von der Hitze empor gewirbelt. Thorin verfolgte ihren Flug. Als sie spurlos verschwunden waren, sah er wieder auf das Feuer, das, als wäre nichts gewesen, wie zuvor prasselte und knackte.

Thorin entließ seinen Atem, schloss die Augen und ließ seine Erinnerungen an eine solch sorglose Zeit zu. Er dachte an ein tanzendes Mädchen, welches in einer ungewöhnlich warmen Nacht im Sommer ein weißes Kleid getragen hatte.

Sie lag schon viele Jahre zurück, doch er erinnerte sich so klar daran, als wäre es erst gestern gewesen.









15


Stimmengewirr und Gelächter vernahm er schon, noch während er die Brücke passierte. Im Westen konnte man den leichten rosafarbenden Schein am Horizont erkennen, wobei auf der anderen Seite des Himmels bereits prächtig und klar die Sterne funkelten. Dick und prall hing der Vollmond über dem Gipfel des Erebors.

Durch das Haupttor gelangte er direkt in die Stadt. Wand an Wand waren die Häuser aus gelbem Sandstein gebaut, manche ragten wie Türme hoch in den Himmel. Dünne Obstbäume mit knorrigen, gedrehten Ästen hatten sich durch Erde und Stein einen Weg zum Wachsen gebahnt. Hier und da lagen Plätze und Statuen. Die Straßen, über denen an diesem Abend Lampen aus buntem Pergament hingen, und die verwinkelten Gassen waren menschenleer.

Thorin kannte sich aus und so ging er durch eine schmale Gasse steil bergauf als Abkürzung zum Marktplatz, von wo das Stimmengewirr kam. Dort angekommen lehnte er sich an eine Hauswand und ließ seinen Blick aufmerksam schweifen.

In dieser Nacht standen keine Verkaufsstände auf dem Pflaster, sondern überall Tafeln, wo angeregte Gespräche geführt wurden. Die Wirtshäuser hatten vor gestapelten Fässern ihre Ausschenken aufgebaut, wo man auch ein paar Hammelspieße über Feuer drehte. Weiter hinten lag die noch leere Tanzfläche. Jeder in der Stadt war auf dem Platz eingetroffen. Kinder waren noch auf, rannten und drängten sich spielend durch die Leute.

In kleinen Grüppchen standen die jungen Männer, die mit verstohlenen, lässigen Blicken den Mädchen hinterher schauten, die sich alle mächtig herausgeputzt hatten. Die mutigsten der Kerle pfiffen, wenn so eine Hübsche, gespielt desinteressiert aber

stets mit schwingenden Hüften, vorbei schritt.

Hunderte Lampen aus Pergament hingen an zweckentfremdeten Wäscheleinen über den gesamten Platz gespannt und erhellten ihn mit bunten, warmen Licht. Und dann entdeckte er sie an einem Tisch, wo sie mit ihren Eltern und anderen saß. Sein Herz übersprang sofort ein paar Takte und stolperte unregelmäßig weiter, wie ein Kind, das erst das Laufen erlernte.

Sie trug ein weißes Kleid, was gerade so lang war, dass es das Knie sittsam bedeckte, jedoch auch Wade zeigte. Sanft bedeckte Spitze den Rock und die Schulterpartie, ließ dadurch das Kleid leicht und verspielt wirken. Ihre Taille wurde durch ein geflochtenes braunes Band betont. Mit Abstand war sie für ihn das schönste Mädchen in ganz Dale und dieses neunzehnjährige Mädchen mit dem Namen Marie hatte ihm, den Prinzen Erebors, gehörig den Kopf verdreht.

Plötzlich schaute sie in seine Richtung, sodass sich ihre Blicke trafen. Überrascht stand ihr der Mund auf, ehe sie sich strahlend erhob. Die Lichtflecken der Lampen sausten über ihr Kleid, als sie auf ihn zueilte. Zwar musste Marie sich zu ihm beugen, trotzdem fiel sie dem Zwerg um den Hals. Von ihrem Schwung musste er zwei Schritte nach hinten machen, um nicht umgerissen zu werden.

,,Ich wusste, dass du herkommen würdest!“

Lachend drückte Thorin sie an sich und spürte endlich wieder das Kribbeln in seinem Körper pulsieren, wenn er sie berühren konnte. Marie musterte ihn, die Hände auf seine Oberarme gelegt. Er trug ein kurzärmeliges, dunkelblaues Oberteil, eine dunkle Hose und eine schwarze Weste, gefüttert mit dünnem Fell und goldenen Ornamenten am Saum und - wie zu jeder Jahreszeit eigentlich - dicke Stiefel. Um seine Handgelenke waren breite

Lederbänder gebunden.

Ihr Lächeln wich, je länger sie ihn betrachtete.

,,Was hast du?“

,,Nichts. Es ist nur lange her, seit ich dich das letzte Mal gesehen hab.“

,,Im Moment lerne ich, was es heißt, ein Land zu regieren, wie man weise und gerecht für das Wohl anderer handelt und wie man Soldaten befehligt, Verteidigung sowie Angriff. Der Unterricht macht mir Spaß. Manchmal aber, da wünschte ich, es wäre anders.“ Er sah, dass das Mädchen verstand, wovon er sprach.

,,Nach deinem letzten Brief wollte ich dich unbedingt sehen.“ Er musterte sie noch einmal von Kopf bis Fuß. ,,Und schon jetzt hat es sich gelohnt. Du siehst wunderschön aus.“

Ihre Smaragdaugen funkelten. ,,Danke. Du siehst aber auch wunder – äh, ich meine gut, stattlich aus“, fügte sie hastig hinzu und bekam rote Wangen.

Er verschränkte die Arme und fuhr mit einer Hand die Haare am Kinn nach. ,,Soso. Stattlich.“ Nicht nur über das Wort allein, sondern über den Anblick, wie sie mit roten Wangen vor ihm stand und die richtigen Worte zu finden versuchte, amüsierte er sich.

,,Hör auf dich über mich lustig zu machen!“ Sie boxte ihn, doch er zog bloß die Stirn kraus, schaute auf seinen Oberarm.

,,Sollte mir das wehtun?“

,,Ja!“

Dass sie dieses Spiel liebte, wusste er und fuhr fort mit: ,,An Eurem Schlag müsst Ihr noch arbeiten. Ohne eine anständige Verteidigung seid Ihr schutzlos und damit leichte Beute für jedermann.“

,,Leichte Beute?“ Sie stemmte die Hände anklagend in die Seite. ,,Mit Verlaub, Eure Hoheit, da täuscht Ihr Euch. Ich kann sehr wohl auf mich aufpassen und für jedermann leicht um den Finger zu wickeln, bin ich ganz gewiss nicht.“

,,Davon würde ich mich gerne selbst überzeugen. Was muss ein Mann tun, um in Eure Gust zu treten?“ Der Satz brachte sie beinahe aus ihrer Rolle.

,,Wenn Ihr schon mal hier seid, dann könnt Ihr gerne den Abend mit mir verbringen. Es wäre mir eine Ehre, mein Prinz.“

Es war ein kleiner Satz, der ihm aber durch ihre Tonlage ver-riet, dass er ernst gemeint war. Ja, er war ihr Prinz.

Er gehörte ihr und sie ihm. Ihm allein.

Thorin legte die Hand auf sein Herz und verbeugte sich leicht.

,,Zu Euren Diensten.“

Dafür schenkte ihm Marie ein hinreißendes Lächeln und fasste nach seiner Hand. ,,Komm mit. “ Fest hielt er ihre, während sie ihn durch die Menschen führte.

Als sich die Leute an ihrem Tisch verwundert über ihren Begleiter umdrehten, ließ sie ihn jedoch überstürzt los. Thorin gefiel ihre Reaktion nicht gerade, doch nahm es so hin und versuchte, sich zusammenzureißen. Er wollte diesen Abend nutzen, um heraus-zufinden, ob das Band, das sie vor geraumer Zeit zu flochten begonnen hatten, stark genug war, um zu erfahren, ob sie dasselbe für ihn fühlte, wie er für sie. ,,Guten Abend“, sagte er und klopfte auf den Tisch, weil er wusste, dass dies so bei Menschen Sitte war, woraufhin er auch mehrere Klopfer als Antwort zurück bekam.

,,Thorin, das ist ja eine Überraschung! Setz dich doch zu uns“, lud Myrrte ihn ein, neben die sich Marie setzte. Dass sie Mutter und Tochter waren, war wirklich nicht zu leugnen.

Als er sich neben sie setzte, strahlten Maries Augen.

,,Thorin, kann ich dir ein Bier anbieten?“, fragte ihr Vater, der auf einmal hinter ihm stand und ihm zu seiner Überraschung kumpelhaft auf den Rücken schlug.

,,Ich wäre beleidigt, wenn nicht.“

Soren lachte und reichte ihm einen Krug, setzte sich auf die andere Seite seiner Ehefrau. Groß und dünn war er, jedoch keinesfalls schmächtig. Er hatte Bartstoppeln und gelockte, lange Haare in dunkelblond, die er immer zu einem Knoten gebunden hatte. Wie Marie hatte er eine gerade Nase und von ihm hatte sie

auch die grünen Augen.

Von Anfang an hatte er ihre Eltern in Ordnung gefunden – naja, ihre Mutter konnte ziemlich überfürsorglich sein, aber das bezog sich ja zum Glück nicht auf ihn. Richtig gern haben, wie Marie, würde er jedoch nie einen Menschen haben. Er mag keine Menschen, doch Marie war anders. Wenn ihn jemand gefragt hätte, warum, wüsste er keine Erklärung dafür. Es war einfach so.

Soren hob sein Bier. ,,Auf den Sommer und die guten Ernten!“

Alle wiederholten, stießen mit ihren Krügen an und nahmen einen Schluck. Außer Thorin. Er leerte seines mit geräuschvollen Zügen und zog damit die gesamte Aufmerksam auf sich. Marie neben ihm bekam einen roten Kopf. Zum Schluss wischte er sich mit dem Arm über den Mund und fuhr den Bart um die Mundwinkel nach.

,,Marie, möchtest du uns deinen…Gast denn nicht vorstellen?“, fragte eine füllige Frau am anderen Ende leicht pikiert.

Am liebsten hätte er zusätzlich noch einen schönen Rülpser in ihre Richtung geschickt, doch er ließ es bleiben.

,,Natürlich, verzeiht. Das ist Thorin. Er ist ein guter Freund von mir.“

,,Aha“, machte die Frau nur, schaute dann zu Myrrte. Ihre Skepsis war nicht zu überhören gewesen.

Die Gespräche waren unterdessen wieder aufgenommen worden.

,,Wer sind die alle?“, raunte Thorin ihr ins Ohr.

,,Freunde und Nachbarn der Familie“, antwortete sie, als gerade jemand schräg gegenüber fragte: ,,was gibt’s neues aus Erebor?“ Ein paar Blicke richteten sich neugierig zu dem Zwerg. Dieser legte die Arme locker vor seinen Krug. Ich wüsste nicht, was Euch das anginge, wollte er am liebsten sagen, doch verkniff sich diese Bemerkung wie so einiges.

Er zuckte mit den Schultern und war verblüfft, als er mit einem einfachen „nichts besonderes“ die Frage abgewimmelt hatte. Dann lauschte er den regen Gesprächen der anderen, jedoch nur zum Schein. Sein Interesse galt allein Marie. Generell konnte er sich an ihr nicht satt sehen. Dabei ging ihm natürlich nicht, wie sie ihn genauso ansah, wenn er sich mal dazu ringen konnte, den Blick abzuwenden. Sie sah unglaublich in diesem Kleid aus. Die Lampen über ihnen ließen es in orange und lila strahlen. Dazu ihre gepflegten Haare mit diesem herrlichen braun, die reine Haut, die hübsche Nase, ihre Lippen…

,,Thorin?“

,,Hm?“

,,Ob du noch ein Bier willst.“

Er kramte eine Kupfermünze aus seiner Hosentasche und schob sie über das Holz, nickte ihm zu. Wie eben legte er seinen linken Arm wieder auf den Tisch, mit dem rechten aber tastete er neben sich. Er erreichte Maries Hand und legte seine sanft auf ihre Finger, die entgegen seinen zart wirkten. Sie schielte zu ihm und lächelte verlegen. Vorsichtig streichelte er über ihre Finger-knöchel, bis zum Handrücken und sie ließ ihn gewähren.

Dann merkte er, wie sie sich bewegte, verharrte bei ihr und sah und spürte, wie sie es ihm gleich tat, ihre Hand über seine streichen ließ, ganz zaghaft zuerst.

Im gleichen Moment tat sie, als würde sie den Gesprächen ihres Vaters aufmerksam folgen. Als er einen Schluck von seinem gebrachten Bier nahm, grinste er wie ein kleiner Junge in seinen Krug hinein.

,,Thorin, kennt man Euren Vater?“

Der Angesprochene verschluckte sich beinahe, musste sich ziemlich beherrschen, um nicht auszuspucken. Nur Marie und ihr Eltern wussten am Tisch über seine adelige Herkunft Bescheid und das sollte auch eigentlich so bleiben.

Er sah aus dem Augenwinkel, dass sie die Luft anhielt.

,,Bloß ein einfacher Mienenarbeiter.“

,,Achso.“ Dann lachte der alte Mann. ,,Jetzt hab ich Euch doch glatt mit dem Erbprinzen verwechselt, herrje.“ Und er lachte immer noch, wobei manch einer einstimmte. ,,Ist bestimmt ein geläufiger Name, was?“

Thorin riss sich zusammen, nickte einfach nur und dann war auch dieses Thema vom Tisch. Er beugte sich zu Marie. ,,Ich bin der Einzige, der so heißt!“, raunte er. ,,Wenn die wüssten, wen sie vor sich haben…“

Sie musste sich ein belustigtes Grinsen verkneifen. ,,Bildet Euch bloß nichts darauf ein, Eure Hoheit. Heute Abend sitzt Ihr mit dem einfachem Bauernvolk am Tisch.“

Er liebte es, wenn sie ihn mit diesem gespielten Hohn aufzog. Nur sie tat dies. Wieder wanderte seine Hand zu ihrer, nahm sie diesmal ganz und legte sie mit seiner auf seinen Oberschenkel. Marie krümmte die Finger, sodass ihre Hände ineinander auf seinem Bein lagen.

Ihre erste Begegnung hingegen hatte ganz anders ausgesehen. Vor vier Jahren hatte er sich für ein völlig fremdes Mädchen in eine Prügelei verwickeln lassen – für ein Menschenmädchen wohlgemerkt! Na schön, ja, er wollte diesen ehrenlosen Waschlappen eine Lektion erteilen. Dabei hatte er eine geflochtene Strähne einbüßen müssen und sich auch noch dazu hinreißen lassen, sich mit diesem Gör aus dem Staub zu machen, um sich in irgendeiner Gasse zu verstecken. Ein Zwerg, der frühzeitig von einer Prügelei abhaute. Hatte man sowas denn schon gesehen?

Da er zu diesem Zeitpunkt noch mit Sladnik zusammen gewesen war, hatte er eilig versuchen gewollt, den Vorfall mit diesem Mädchen zu vergessen. Trotz allen Bemühungen traf er sie ein zweites Mal in Dale, als er von einem geschäftlichen Besuch in Esgaroth heimkehrte.

Von da an hatte er etwas zwischen ihnen gespürt. Vielleicht war es Einbildung gewesen. Vielleicht hatte er auch einfach öfter an das fremde Mädchen gedacht, das seine Aufmerksamkeit geweckt hatte, weil er hinter Sladniks wahre Beweggründe kam und ihre

Beziehung auseinander gebrochen war.

So kam es, dass sie sich anfreundeten und begannen, Briefe zu schreiben. Dafür hatte der Prinz einen Raben ausgesucht, der den Briefverkehr zwischen dem Zwerg und dem Mädchen heimlich überbrachte. Er wusste noch ganz genau, als sie ihm erzählte, wie groß ihre Verwunderung gewesen war, als ein Rabe mit einem Brief in den Fängen an ihr Fenster geklopfte.

Mit der Zeit hatte Thorin seine Gefühle für sie erkannt.

Als Kumpel hatte es angefangen und nun war es viel, viel mehr. Bis jetzt hatte er nur Dwalin eingeweiht. Als er es seinem Freund zum ersten Mal erzählt hatte, hatte Dwalin ihn minutenlang angestarrt, sich irgendwann mit einem geraunten ,,das kann doch nicht wahr sein“ den Arm übers Gesicht gelegt und nach hinten auf sein Bett fallen gelassen.

Letztens hatte ihn Dis ausgefragt, ob es da nicht wieder jemanden gäbe und wann er ans Heiraten dachte. Ihr großer Bruder hatte nur mit den Augen gerollt und war nach ihren hartnäckigen Fragen schließlich eingeknickt. Dass sie jedoch keine Zwergin war, hatte er ihr nicht gestanden. Auch ihren Namen hatte er ihr nicht verraten, da „Marie“ nicht gerade typisch für eine Zwergin war.

Thorin war sich seiner Gefühle sicher. Er liebte dieses Mädchen, mit all ihrem Charme und ihren Facetten.

Doch empfand sie genauso wie er?

Sein Bauchgefühl war zumindest auf seiner Seite.

Auf einmal bemerkte Thorin, dass sie mit grimmiger Miene nach rechts starrte.

,,Da drüben“, antwortete sie ihm von ganz alleine.

Thorin reckte den Kopf. An einem Tisch, glücklicherweise in genügend Abstand, saßen ein paar Männer. Einer von ihnen starrte voller Missgunst zu ihnen herüber.

,,Gonzo“, knurrte Thorin mit genauso finstere Miene. ,,Der Bastard hat mir gerade noch gefehlt…“ Mit Mühe wandte er den Blick ab und nahm einen kräftigen Schluck vom Bier.

Wie sehr verabscheute er diesen…

Just in diesem Moment fingen die Musiker an, Flöten, Blas-säcken, Leiern, dünn bezogene Trommeln und Geigen ausge-lassene Töne zu entlockten. Die Menschen begrüßten den Auftakt der Musiker. Fröhlich strömten die Ersten zum Tanzen näher.

,,Mari-ie!“, rief sogleich eine schrille Stimme. Drei Mädchen in ihrem Alter winkten ihr wie verrückt zu. Marie wimmelte sie mit einem Winken ihrerseits ab. ,,Sei nicht lächerlich! In diesem Kleid musst du dich einfach den Jungs zeigen! Die fragen schon nach dir.“ Unter Protest wurde sie von der Bank gezogen. Unsicher schaute sie Thorin an.

Seufzend machte er eine Kopfbewegung in Richtung Tanzfläche und ließ sie gehen. Marie lächelte ihn an und folgte den Mädchen, die wohl Freundinnen waren.

Der Zwerg sah zu, wie sich die jungen Frauen zur Musik bewegten. Sie klatschten in die Hände, drehten sich eingeharkt umeinander. Die Stimmung unter ihnen war ausgelassen.

Er war jedoch nicht der Einzige, dem sie ins Auge gefallen war. Zu seinem Leidwesen sah er die Blicke der anwesenden Männer. Zu ihnen gesellten sich auch die der Mädchen und Frauen, jedoch waren jene Blicke von ganz anderer Natur. Diese waren eher auf das außergewöhnliche Kleid aus, als auf den Körper, der darunter steckte. Auf Maries Kleid, das alle anderen weit in den Schatten stellte, strahlten die Farben der Lampen.

Auf einmal drehte sie sich zu ihm um, ihre Haarpracht wirbelte wie eine rauschende Brandung um ihren Rücken und Marie lachte eingetaucht im Farbenspiel, woraufhin ihm der Atem wegblieb.

Bei Durin, war sie schön.

Allmählich war die Tanzfläche voller geworden und Marie verschwand aus seinem Blickfeld. Unbewusst schaute er wieder zu Gonzo hinüber und ihn durchfuhr ein Zucken.

Sein Platz war leer.

Mit aufblitzendem Grau überflogen seine Augen die Umgebung.

Seine Kiefer mahlten bei dem Gedanken, dass dieser Widerling

tatsächlich versuchen könnte, sich seinem Mädchen zu nähern. Wo steckt dieser Mistkerl? Allermiert sah er zur Tanzfläche, in der Hoffnung, Marie zu entdecken. Doch nirgends konnte er sie sehen. Thorin stellte sein Bier ab und stand auf, ging durch die Tischreihen, in die Richtung, aus der die Musik kam. Wenn dieser Kerl auch nur einen Finger an sie legen würde…

Er drängelte sich durch die Leiber, dass manche Empörung äußerten, war ihm egal. ,,Hier bist du.“ Hörbar stieß er den Atem aus, als er sie auf der anderen Seite fand, wo sie mit den Mädchen von eben zusammen stand.

Verständnislos und überrascht schaute sie ihn an. ,,Stimmt etwas nicht?“

,,Ich hab mir nur Sorgen gemacht.“ Sie rollte mit den Augen.

,,Marie, ich kann es nicht haben, wenn ich dich nicht in Sicherheit weiß.“

Alle drei Mädchen schauten sie mit großen Augen an und wurden unruhig. Scheinbar waren sie nicht unbedingt abgeneigt gegenüber dem jungen Zwerg. ,,Marie, ist das dein Freund?“, fragte eine tonlos, woraufhin die anderen kichern mussten.

Marie warf ihr einen vernichtenden Blick zu, worauf diese als Entschuldigung mit den Achseln zuckte.

Thorin hatte das alles natürlich mitbekommen und schmunzelte in sich hinein. ,,Möchtest du etwas trinken?“, fragte er mit sanfterer Stimme, den Arm um ihre Taille gelegt.

,,Gern.“


An der Ausschenke stellte sich jemand direkt neben ihn.

,,Du hast hier nichts verloren, Zwerg.“

Ohne sich umzudrehen wusste Thorin ganz genau, wer das war und wusste insgeheim Marie wenigstens für diesen Moment in Sicherheit. ,,Du hast mir gar nichts zu sagen.“

,,Denkst wohl, du wärst was besseres.“

Thorin drehte sich mit glühenden Augen zu seinem Rivalen um.

,,Besser als du alle Male.“

,,Du bewegst dich auf ganz dünnem Eis“, zischte Gonzo und baute sich vor dem Zwerg auf, als könnte er ihn durch seine Größe einschüchtern. ,,Verschwinde, du kleine Pestbeule. Krabbel unter deinen Berg zurück und lass endlich die Finger von Marie.“

,,Zu schade nur, dass sie überhaupt nichts von dir will“, knurrte er und hielt mit Leichtigkeit stand. ,,Mej gelek ka ruhks.“

Bedrohlich kam Gonzo noch näher, bis ihre Körper sich beinahe berührten, starrte mit dunklen Augen zu ihm hinunter. ,,Marie gehört mir. Ich lasse sie mir nicht von einem scheiß Zwerg wegnehmen.“ Die Spannung brodelte zwischen ihnen.

In Thorin wütete der Hass. Die Faust schon geballt, stand er so kurz davor ihm hier und jetzt eine aufs Maul zu geben, doch da mischte sich eine harsche Bassstimme ein.

,,Hey, ihr beiden! Wenn ihr euch prügeln wollt, bitteschön, aber nicht hier. Seht zu, dass ihr Land gewinnt! Ihr vergrault mir ja noch die Kundschaft.“ Die beiden Rivalen drehten sich zum Wirt, der hinter seinem Tresen stand, die buschigen Augenbraun grimmig zusammen gezogen.

Es kostete Thorin all seine Selbstbeherrschung, als er den Krug vom Tresen nahm und im Vorbeigehen zu ihm raunte: ,,Lass Marie und mich in Ruhe, sonst kann ich für nichts mehr garantieren.“ Gonzos Körper schien vor Wut zu beben, als Thorin ihn einfach stehen ließ.

Als er zurück zu Marie ging, die nun alleine am Rand stand, war sein Gemüt immer noch aufgewühlt. ,,Hier.“

,,Danke…Alles in Ordnung? Du schaust so… aufgebracht aus.“

,,Schon gut.“ Er wollte sie nicht noch mehr da mit reinziehen.

Kaum merklich atmete er durch, lehnte sich wie sie gegen die Wand und versuchte, seine finsteren Gedanken an dieses Arschloch zu verscheuchen. Dabei sah er über die Tanzfläche.

Ihre Freundinnen hatten sich bereits Tanzpartner geschnappt und

Machten ihnen auch ganz offensichtlich schöne Augen.

,,Warum amüsierst du dich nicht mit deinen Freundinnen?“

,,Weil ich auf dich gewartete habe, damit du dich uns anschließt.“ In seinem Bauch explodierte irgendetwas und verdrängte die Wut. ,,Und außerdem“, sie nahm einen Schluck von der gebrachten Erfrischung, ,,wollte ich mein Bier in Ruhe trinken können. Möchtest du auch?“

Er nahm den dargebotenen Krug, doch verzog das Gesicht bereits nach dem ersten Schluck. ,,Hab vergessen, dass das Weiberbier war.“ Er reichte es ihr wieder.

,,Weiberbier?“

,,Das leichte.“

,,Also mir schmeckt es. Ich hab übrigens gesehen, dass du uns beim Tanzen beobachtet hast.“

Er schmunzelte. ,,Man kann euer Herumgehüpfe nicht wirklich als Tanzen bezeichnen.“

,,Heute wieder hochmütig, Eure Hoheit?“

,,Ein wenig.“

,,Meine Freundinnen waren übrigens ziemlich beeindruckt.“

,,Ach ja? Von was?“

,,Von dir. Besonders als du den Arm um mich gelegt hast.“

Er wurde hellhörig. ,,Hat es dich gestört?“

Errötet fuhr sie mit dem Finger den Krugrand nach. ,,Nein. Ich…ich mag es.“

Er drehte sich, sodass er mit der Schulter an der Hauswand lehnte und sich voll und ganz ihr widmen konnte. ,,Was genau?“ Marie schaute ihn an und er sah, dass sie sich überwinden musste, ehe sie langsam eine Hand nach seinem Gesicht ausstreckte. Zaghaft legte sie sie an seine Wange und er drückte seinen Kopf dagegen, um ihre schüchterne Berührung voll und ganz auszu-kosten. Sie fuhr über die pechschwarzen Haare bis zu seinem Kinn, wo unter diesem ein geflochtenes Zöpfchen hing.

,,Ich mag es, wenn du bei mir bist.“

Das Kribbeln in ihm wurde heiß. ,,Mir geht es genauso.“

Viel zu schnell ließ sie ihre Hand wieder sinken, strich sich

lächelnd eine Strähne hinters Ohr und kaute wieder einmal auf ihrer Lippe herum. Wie gern würde ich das jetzt tun…, erwischte Thorin einen Gedanken von sich.

Beide standen für einen Moment lang schweigend nebeneinander. Marie beobachtete ihre Freundinnen und deren Partner. Unruhig gingen ihre Augen hin und her. Etwas beschäftigte sie.

,,Thorin?“, fragte sie dann.

,,Ja?“

Sie stellte ihr Bier beiseite. Auf einmal war sie schrecklich verlegen. ,,Darf ich dich, um etwas bitten?“

,,Du darfst mich um alles bitten. Was möchtest du von mir?“

,,Würdest du mit mir tanzen?“

Thorins Gedanken kamen zum Stillstand und er liebte nur noch.

Seiner Intuition folgend nahm er in einer ehrenvollen Verbeugung ihre Hand und hauchte einen Kuss auf diese, wie nur ein Prinz es tun konnte. Es war das allererste Mal, dass seine Lippen ihre Haut berührten. Er blickte zu ihr auf und konnte ein Funkeln in ihren Augen ausmachen, das ihn tief berührte.

Klammheimlich verschwanden sie Hand in Hand, ehe ihre anderweitig beschäftigten und höchst neugierigen Freundinnen oder irgendwer anderes Wind davon bekam. Diesmal führte er sie durch die Mengen. Endlich konnte er mit ihr alleine sein, ungestört von anderen.

,,Ich dachte, wir wollten tanzen…“, hörte er sie irritiert sagen, als er am Rande der großen Fläche entlang ging.

,,Nicht hier.“

,,Oh.“

Unfreiwillig kamen sie am Tisch ihrer Eltern vorbei.

,,Marie, komm doch bitte noch mal!“, rief ihre Mutter ihr nach.

Diese stoppte. Thorin wollte weiter gehen, doch sie hielt ihm

stand und entschuldigte sich mit einem stillen Blick.


~


Wehe, es ist nicht wichtig, dachte Marie, wenn sie ehrlich war, ein wenig genervt. ,,Ja?“ Ihre Mutter strich ihr mit flackernden Augen die Strähnen hinters Ohr. ,,Mama, was ist los?“ Besorgt setzte sie sich zu ihr. ,,Ist irgendetwas?“

,,Nichts, mein Schatz. Ich sehe nur wie glücklich du bist.“

Marie musste lächeln. Und wie sie das war. Dass Thorin für sie auf ein Fest der Menschen gekommen war, bedeutete ihr viel. Dass er sich mal wieder heimlich davongeschlichen hatte, wusste sie. Seine Familie würde es nicht verstehen, wenn gerade er, der eigentlich den Menschen gegenüber besonders skeptisch stand, zu einem näheren Kontakt hätte, als ein geschäftliches. Doch leider hatte er in den letzten Wochen viel zu tun gehabt, weshalb sie ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte. Umso schöner war der bisherige Abend gewesen. Im letzten Brief hatte er ihr geschrieben, dass sie ihm etwas bedeutete, doch heute Abend hatte er ihr es bereits gezeigt.

,,Jetzt weiß ich auch, warum du unbedingt dieses Kleid wolltest. Es ist für ihn, oder?“

Ihre Tochter zupfte daran herum, um ihr nicht ins Gesicht schauen zu müssen. Schon wieder hatte sie recht. Das Kleid hatte sie sich in der Schneiderei ausgesucht, ihr gesamtes Ersparnis auf den Kopf gehauen und einiges daran ändern lassen, damit sie von ihm beachtet werden sollte.

Im Nachhinein konnte sie darüber nur lachen.

Thorin hätte sie auch in einem muffigen Kartoffelsack angesehen.

,,Ich finde es ja immer noch recht kurz…“

,,Mama…“

,,…aber du siehst wunderschön darin aus“, fuhr Myrrte unbeirrt fort. Marie hob den Kopf. ,,Thorin ist ein guter Mann. Er ist um einiges reifer, als manch anderer Kerl hier. Dein Vater und ich, wir mögen ihn, obwohl er älter als du ist…“

Halbherzig verdrehte Marie die Augen. Dieses Thema hatten sie schon mehrmals gehabt. ,,Es sind doch nur ein paar Jahre...“

,,Ich sehe, wie du ihn ansiehst… Du magst ihn, hab ich nicht recht?“

Marie legte die Stirn in Falten. Ob sie ihn mochte?

Was sollte die Frage? Bis über beide Ohren hatte sie sich in den Zwergenprinzen verknallt! Naja, das glaubte sie zumindest, dass sich so verliebt sein anfühlen musste, denn sie hatte keinen Vergleich. Kein anderer Junge hatte je ihr Interesse geweckt, bis Thorin in ihr Leben gestürmt war. Und ihre Freundinnen wollte sie nicht danach fragen. Die würden nur kreischend die Hände in die Luft werfen. Mit Sicherheit würden sie sich auch über sie lustig machen. Jeden Abend lag sie auf ihrem Bett und blätterte in den Briefen. Wie sehr mochte sie ihn… Doch das konnte sie ihrer Mutter nicht gestehen und lügen brachte bei ihr nichts. Für solche Sachen hatte sie einen sechsten Sinn.

Myrrte schien wohl mit ihrem Schweigen zufrieden zu sein.

,,Und er sieht dich genauso an. Er mag dich, sehr sogar.“ Sie lächelte und doch hatte sie einen ernsten Gesichtsausdruck, als sie ihre beiden Hände nahm. ,,Egal, was heute Nacht passiert, du wirst immer mein kleines Mädchen bleiben.“

Was…? Mit halboffenem Mund starrte Marie ihre Mutter an. ,,Mama, was meinst du?“

Doch Myrrte holte zwei Schnapsgläser mit einem grünlichen Inhalt hervor. ,,Trinken wir auf diesen Abend.“ Sie drückte ihr eines in die Hand, das Marie noch etwas verwirrt von ihren Worten nahm. Als sie die Schnäpse tranken, verzog sie angewidert das Gesicht und starrte in ihr leeres Glas, in dem definitiv kein Schnaps gewesen war. ,,Bäh, was ist das?“

Ihre Mutter schmunzelte nur.

,,Mama, was war das?“, fragte Marie allarmiert. Da war keine

Spur von Alkohol. War sie unfreiwillig Testerin eines neuen Kräutertinkturen Rezeptes geworden?

,,Nichts Schlimmes. Ich erkläre es dir Morgen. Und jetzt geh. Er wartet auf dich.“

Sie schaute zu Thorin, der in diesem Moment ebenfalls zu ihr sah. Im Licht der Lampen stand er da, die Hände abwartend in den Hosentaschen. Himmel! Da stand ein Traum von einem Mann. Und er wartete allein auf sie.

Marie drehte sich um und umarmte ihre Mutter. Irgendwie war ihr danach, als müsste sie es tun. ,,Ich hab dich lieb, Mama.“

,,Ich hab dich auch lieb“, flüsterte sie. ,,Und nun geh schon, geh zu deinem Prinzen.“

Marie lächelte und drückte ihrem Vater auch noch schnell einen Kuss auf die Wange, der das Gespräch zwischen Mutter und Tochter still verfolgt hatte. ,,Ich hab Vertrauen in ihm, doch pass trotzdem auf dich auf.“

,,Mach ich.“ Noch einmal schaute sie über die Schulter zu ihren Eltern, ehe sie mit wild pochendem Herzen zu ihm eilte.

















16



Sie schlichen sich fort vom Fest und Trubel und kamen auf einen kleinen Platz, der ebenfalls mit hunderten Lampen geschmückt war. In seiner Mitte standen eine bronzene Statue eines Rehbocks und davor eine einsame Bank. Anmutig stand das Tier auf dem Sockel, das Haupt mit den kurzen Hörnern stolz erhoben, die Brust hervor gereckt. Die Musik war auch hier noch zu vernehmen, wurde über die Dächer zu ihnen getragen.

In der Mitte des Platzes drehte Thorin sie zu sich und zog sie eng an seinen Körper. ,,Jetzt tanzen wir.“

Lächelnd sah sie zu ihm hinunter, legte die Hand an seinen Oberarm, spürte feste Muskeln unter dem Stoff.

Ein neues Lied begann. Der Prinz drehte die Schulter und schon begann sie sich zur Musik zu bewegen. Thorin führte sie, was spielend leicht ging. Sie zogen Kreise, schauten einander unab-lässig in die Augen. Marie fand, dass er sehr gut tanzen konnte, keinesfalls ungeschickt oder steif, wie so manch Bauernsohn, noch dazu mit solch Stiefeln. Er ist ja auch kein Bauer, fügte Marie in ihre Gedanken ein.

Eingetaucht von der Musik tanzten sie.

,,Der Winter hielt und lange hier,

die Welt war uns verschneit.

Das Land war still,

die Nächte lang,

der Weg zu dir so weit.

Doch endlich kehrt das Leben

zurück in unser Land.

Du trafst mich heut im ersten Grün

und nahmst mich bei der Hand.


Im Winter noch da fragte ich,

wer mich im Fallen fängt.

Im Sommerwind nun fliegen wir

bis an den Rand der Welt.

Und wer dann auf den Wegen

mit uns gemeinsam zieht,

den halten keine fesseln,

wenn der Wind im Sommer weht.


Lass uns ziehn‘ mit dem Wind,

denn wohin er uns bringt,

werden Zweifel zu Rauch,

weil du hier bist.

Lass uns gehn‘ und wir sind

endlich frei wie der Wind.

Wie die Vögel ziehn‘ wir weit

über’s Meer.


Einmal folg ich ihrem Flug,

in das Land, das in der Ferne ruft.

Lieder haben’s mir erzählt.

Einmal hält mich nichts zurück,

folge mir, begleite mich ein Stück.

Komm mit mir in jene Welt…“

Thorin wollte dies tun. Sie mit in seine Welt nehmen, ihr Erebor zeigen. Marie sollte das glanzvolle und mächtige Königreich sehen, aus dem er stammt. Bald würde er sie mitnehmen, den Schritt wagen und sie seiner Familie vorzustellen. Doch dabei bekam er Bauchschmerzen. Sein Vater wollte nur das Beste für seine Kinder, hatte sich damals gegen Karif gestellt, weil er seine Tochter vor einer Enttäuschung bewahren wollte, als sich diese in einen einfachen Soldaten verliebt hatte.

Er würde es nicht verstehen, doch Thorin selbst konnte seine

Gefühle für sie nicht verstehen. Jetzt aber zählte nur dieser

Abend. Das Hier und Jetzt.

Fliegen. Hmm… Mit beiden Händen fasste er ihre Taille und hob sie hoch. Marie quickte, zog die Beine an und schlang die Arme um seinen Hals, um sich irgendwie festzuhalten, als der Zwerg sich mit ihr drehte. Die Silhouetten der Lampen sausten an ihnen vorbei – gelb, orange, lila, pink, grün, rot…

Marie jauchzte an seinem Ohr und auch für Thorin fühlte es sich wie fliegen an, obwohl er mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Nach einigen Runden setzte er sie wieder ab. Das Lied hatte inzwischen gewechselt. Eine liebliche, schnellere Melodie mit mehr Einsatz von Flöte und Trommeln.

Mit einem neckischen Schmunzeln umkreiste Marie ihn frech und leichtfüßig und Thorins Lachen erwärmte ihr Herz. Er fing sie ein und führte sie in großen Schleifen sicher über den Platz, als hätte er nie etwas anderes getan. Sie tanzten eine Ewigkeit. Mal ausgelassen, mal wild herum wirbelnd.

Mal märchenhaft langsam.

In diesen Momenten hatte Thorin das Gefühl, ganz allein mit ihr hier draußen zu sein. Er wollte diese Nacht nutzen, sie in vollen

Zügen und mit jeder Minute genießen, bevor sie im Morgen-grauen vorbei war. So eine perfekte Gelegenheit würde er so schnell nicht wieder bekommen, um ihr endlich zu gestehen, was er für sie empfand.

Sein Blick fiel auf die Bank unter der Statue und seinem Einfall folgend wirbelte Thorin herum, den Arm von sich gestreckt. Marie erkannte, was sie tun sollte und ließ sich ziemlich geduckt von ihm darunter hindurch und wieder zurück wirbeln. ,,Ich weiß, wie es einfacher geht“, murmelte er und führte sie näher heran. Der Zwerg stieg auf die Bank und streckte wieder die Hand aus, unter der sich Marie diesmal ohne Ducken um die eigene Achse drehen konnte. Ihre Haare hoben sich im Flug.

,,Besser. Sehr einfalls...“ Es waren die sturmgrauen Augen, die all ihre Gedanken zerfallen ließen. Warm und liebevoll blickten sie direkt in ihre. Thorin, der nun so groß war wie sie, zog sie sanft näher an sich und hob eine Hand.

Marie spürte seine Berührung über ihrem pochenden Puls und verlor sich in seinem Blick. Er berührte sie auch an der Wange und sein Daumen fuhr ihre Lippen nach, erkundete sie.

Sie verfolgte die Bewegung seines Kehlkopfes, als er schluckte und vorsichtig näher kam. Wie von selbst öffnete sich ihr Mund, während ihr Herz gegen ihre Rippen hämmerte.

Sie war bereit dafür.

Kurz voreinander verharrten sie so nah, dass kein Finger dazwischen gepasst hätte. Kaum wahrnehmbar öffneten und schlossen sich ihre Lippen, den Atem des anderen aufnehmend. Er nahm ihr Gesicht sanft in seine Hände und küsste sie.

Den ersten Kuss hauchte er fast schon, um ihn für alle Zeit in ihre Gedächtnisse hinein zu brennen. Wie sehr hatte er sich dies gewünscht… Marie atmete aus, als ihre Anspannung wich und fasste seine Unterarme, als würde sie weiterhin so gehalten werden wollen. Sie lauschten dem Herzschlag des anderen, während er sie küsste, diesmal stärker, doch immer noch sanft und hingebungsvoll, und schüchtern begann Marie zu erwidern. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin öffneten sie schließlich die Augen und sahen einander an.

,,Amrá lime“, sagte er leise und so nah, dass er beim Sprechen fast ihre Lippen streifte.

,,Ich…ich weiß nicht, was das bedeutet.“

,,Es heißt, ich liebe dich.“

Marie blinzelte mehrmals, ehe ein breites Lächeln sich über ihr ganzes Gesicht zog. ,,Ich hab mich auch in dich verliebt“, flüsterte sie, legte die Hände an seine Wangen und hob das Kinn seinem entgegen… In diesem Moment schoss etwas laut zischend in die Höhe und explodierte mit einem Krachen. Marie fuhr zusammen und drückte sich an Thorin. Sie drehten die Köpfe in den nächtlichen Himmel, wo ein Regen aus lila Funken nieder regnete. Mehrstimmiges Raunen und entzückte Rufe drangen vom Marktplatz her. Dann hörte man wieder dieses schrille Zischen und nur wenige Augenblicke später, explodierten die nächsten Raketen rot und blau am Himmel. Über ganz Dale explodierten runde Blumen und ergossen sich als bunte Sterne.

,,Wie schön“, murmelte sie, schmiegte ihren Kopf unter seinen Hals und er legte die Arme um sie. Genau wie über ihren Köpfen knallte es in seinem Körper vor Glücksgefühlen. Er sah ihr zu, wie sie mit leuchtenden Augen das Spektakel am Himmel beobachtete. Fast schon eine kindliche Begeisterung lag auf ihrem Gesicht. Glücklich legte Thorin seinen Kopf an ihren, vergrub die Nase in ihrem Haar. Alles war perfekt.

Als krönender Abschluss donnerte es ohrenbetäubend. Ein goldener Regen ergoss sich über der ganzen Stadt, ließ scheinbar die Funken einem Segen gleich bis auf die Dächer niederprasseln. Vom Marktplatz kamen begeisterter Applaus und Pfiffe. Der Himmel wurde schwarz und die Sterne trauten sich wieder hervor.

Thorin lockerte seinen Griff und sprang von der Bank. ,,Komm.“ Er nahm ihre Hand und wollte sie mit sich ziehen.

,,Wo führst du mich hin?“ Unsicher blieb sie, wo sie war.

,,Vertraust du mir?“, fragte er und Marie spürte ihren Herzschlag, als sie nickte. Er lächelte und lief los.

Hand in Hand rannten sie die leeren Straßen entlang. Die Stiefel von ihm machten dumpfe Geräusche, die Schuhe von Marie hingegen klatschende, während sie um die Kurven jagten. Über ihnen ballte sich grauer Qualm. Thorin führte sie zum Haupttor, wo sie den massiven Torbogen passierten und auf die Brücke rannten. Ihre Schatten flogen über die großen Quader, unter denen es in die Tiefe ging und der der Fluss entlang rauschte. Auf der anderen Seite angekommen liefen sie nach rechts, erreichten die hügeligen Wiesen der Hochebene.

Keuchend ließ Marie seine Hand los. ,,Ich kann nicht mehr!“

Er blieb stehen und sah, wie sie hinter ihm sich auf die Knie beugte und tief durchatmen musste.

,,Wahnsinn.“ Langsam richtete sie sich auf und sah auf die hell erleuchtete Stadt zurück. Darüber flogen gerade die letzten Qualmwolken der Raketen fort. Schwarz dahinter, scheinbar riesig in die Höhe ragend, lag der Berggipfel. Hinter der Brücke konnte man den Kiefernwald und das mächtige Haupttor des Zwergenreiches erkennen, bei dem ein paar Lichter flackerten. Von der Nacht verhüllt knieten die riesigen, steinerden Wächter daneben.

Thorin trat an ihre Seite. ,,Ja, Wahnsinn“, stimmte er ihr zu, doch sah nicht die Stadt an, sondern sie. Marie bemerkte seinen Blick und musste schmunzeln. Er nahm ihre Hand und zusammen schauten sie auf die erleuchtete Stadt. Hinter ihnen zirpten lautstark die Grillen in der ungewöhnlich warmen Bergluft. Man konnte schwach das monotone Donnern des Wasserfalls am Rabenberg hören.

,,Es sah so schön aus, wie du unter den Lampen gestrahlt hast“, flüsterte er. ,,Wie Edelsteine lagen die Farben auf deinem Kleid. Ich würde dich am liebsten mit ihnen behängen“, raunte er sinnlich, trat näher an sie heran.

,,Spinner“, lachte sie, als er sie an sich zog. Lächelnd sah sie zu ihm hinab, legte die Arme um seinen Hals. ,,Ich kann dich hingegen bloß mit einer Gänseblümchen-Krone schmücken.“

,,Würdest du das machen?“ Er stellte sich auf die Zehenspitzen, drückte seine Nase an ihre Wange.

,,Du siehst bestimmt niedlich aus mit ein paar Blümchen im Haar.“ Er lachte so tief, dass er Maries Inneres und ihr Herz zum Beben brachte, und hob das Kinn. ,,Komm her…“

Sie senkte den Kopf und Thorin gab ihr einen Kuss.

,,Du kannst so gut tanzen“, murmelte Marie verträumt nah an

seinem Mund. ,,Ich dachte, ich würde fliegen.“

,,Ich habe Unterricht darin genossen.“

Sie zog den Kopf zurück. ,,Tanzunterricht? Interessant, ich dachte, Ihr müsstet nur lernen wie man Steine und Münzen zählt.“

Seine Augen blitzten. ,,Na warte…“ Bevor er sie festhalten konnte, hatte sich Marie schon von ihm gelöst. Er wollte sie greifen, doch sie quickte auf und rannte vor ihm davon.

Thorin war dicht hinter ihr. Das trockene Gras rauschte an ihren Beinen vorbei. Der Vollmond, dessen starkes Licht bis auf den Erdboden reichte, ließ ihr Kleid in der Nacht strahlen. Im Nu erreichte er sie und riss sie zu Boden. Zusammen fielen sie ins hohe Gras. Lachend rollten sie herum, bis sein Schatten bedrohlich über ihr lag. ,,So etwas verbiete ich mir!“

,,Oh, Gnade…“

,,Ihr habt eine ganz schön spitze Zunge, Mensch.“

Frech streckte sie sie ihm raus. ,,Was wollt Ihr jetzt machen, Eure Hoheit?“

,,Ich bringe dich zum Schweigen…“ Ein triumphierendes Grinsen lag auf seinen Lippen, als er sich tiefer über sie beugte und sie küsste. Sie fasste ihm in die halblangen Haare, vergrub ihre Finger darin, während ihre Küsse noch ein wenig unbeholfen waren. Thorin machte den Mund etwas weiter auf und sie tat es ihm gleich. Seine Leidenschaft stieg, ließ seine Zunge langsam in ihren Mund gleiten. Regungslos verharrte Marie, wusste nicht, was sie tun sollte. Nicht nur den ersten Kuss, nein, auch diese Art von Kuss erfuhr sie an diesem Abend zum ersten Mal.

Thorin fasste ihr sanft unter die Haare ans Genick. Die Berührung trug etwas Beruhigendes in sich und sie gab sich ihm voller Vertrauen hin. Marie spürte seinen Bart, seinem warmen Atem und seine Zunge; Wärme und Zärtlichkeit, die ihren Mund und ihr Herz einnahm. Seine Küsse waren so intensiv, das Gefühl, dass durch ihr Blut schoss, so berauschend, dass ihr schwindelte.

Schließlich zog er sich wieder zurück und hielt inne.

Marie öffnete die Augen, schaute den Mann an, der solch

neuartige Gefühle in ihr auszulösen vermochte. Ihre Körper berührten sich nicht und sofort sehnte sie sich wieder nach ihm, als wären ihre Seelen bereits jetzt verbunden.

Sie legte die Hand an seine Brust, streckte den Kopf zu ihm empor und sofort kam er wieder zu ihr. Sogleich fand seine Zunge abermals den Weg zu ihrer. Zuerst nahm Marie sich noch zurück, doch langsam überwand auch sie sich. Thorin merkte ihren neu gefassten Mut. Mit der Absicht, dass sie ihm folgen würde, nahm er seine zurück und sie folgte ihm, schob ihre mutig über den Saum seiner Lippen, versuchte, es ihm nach zu machen.

Sie spürte seine Zähne, seine nasse Zunge, seine Wangeninnen-seite…unsagbare Liebe und kostete das wertvolle Vertrauen aus, das sie sich gegenseitig zum Geschenk gemacht hatten.

Als ihr Atem immer flacher wurde, lösten sie sich voneinander. Thorin seufzte schwer, strich ihr eine Strähne hinters Ohr. Völlig weich war sein Blick, wie auch seine Stimme. ,,Ich kann es gar nicht abwarten, dich wiederzusehen. Ich will gar nicht weg.“ Fragend sah sie ihn an. ,,Ich reise doch morgen in die Eisenberge.“

,,Oh…ja, stimmt. Hattest du geschrieben.“ Sie schlang die Arme um seinen Hals, als könnte sie ihn so davon abhalten. ,,Thorin, warum musst auch du mit, wenn dein Großvater und dein Vater gehen? Kannst du nicht hierbleiben? Bei mir?“

,,Alle sieben Könige und Thronfolger kommen zu dieser Versammlung.“

,,Aber du bist doch nicht direkter Thronfolger.“

,,Meinem Großvater geht es in Moment nicht so gut. Er ist… etwas wunderlich geworden. Wir machen uns ein wenig Sorgen um ihn. Es ist besser, wenn er in Erebor bleibt. Dafür muss ich mit meinem Vater mit. So sind die Gebräuche.“

Es war schlimmer in letzter Zeit mit seinem Großvater geworden. Die Wahrheit war, dass Thror sich weigerte Erebor zu verlassen. Er wollte nicht wahrhaben, dass es die Krankheit sein soll…doch immer deutlicher wurden ihre Anzeichen.

Ihre Stimme holte ihn ins Hier und Jetzt zurück. ,,Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.“

,,Nein. Mach du dir keine Sorgen“, beschwichtigte er sie, doch er verspürte ein mehr als beunruhigendes Gefühl bei den Gedanken an seinen Großvater. Als sie die Arme von ihm nahm, legte er sich neben sie ins Gras und Marie setzte sich auf. Auf einmal fasste sie sich unter die Haare. Eine schwarze Schnur kam zum Vorschein, an der ein kleiner, runder Anhänger aus einem matten Metall mit drei geschwungenen Fenstern hing. Sie streifte sich die Kette vom Kopf, hielt sie in der Hand. ,,Mein Vater hat sie mir von einer alten Krämerin mitgebracht. Sie soll angeblich ein Glücksbringer sein und seinen Träger beschützen.“ Dann sah sie Thorin an und streifte sie ihm langsam über den Kopf. ,,Ich schenke sie dir. Damit du eine sichere Reise hast.“

Er nahm den Anhänger zwischen die Finger und schaute ihn sich an. ,,Ein schönes Geschenk.“ Er setzte sich auf und küsste sie auf die Stirn. ,,Danke.“

Zusammen legten sie sich ins Gras. Thorin hob die Hand, strich die Konturen ihres Gesichts nach. Wie kann man nur so schön sein? Was für eine Kraft besitzt dieser Mensch, mich so zu faszinieren?

,,Du siehst mich so an“, bemerkte Marie.

,,Wie sehe ich dich denn an?“

,,Liebevoll“, antwortete sie leise und legte ihren Kopf noch näher zu seinem, weil sie genau die drei Worte noch einmal von ihm hören wollte. Der Verlauf der Ereignisse hätte surrealer und schöner nicht sein können.

,,Weil ich dich liebe.“ Als Thorin das Lächeln und das Funkeln ihrer Augen sah, das er ihr zauberte, schmunzelte er und legte den Arm um sie. Marie schmiegte sich an ihn und er flüsterte:

,,Mein Liebling.“

Kurz ließ sie die zwei kleinen Wörter auf sich wirken.

Mögen sie noch sie einfach sein…Tief berührten sie durch ihre

Aufrichtigkeit ihr Herz. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Enger schmiegte sie sich an ihren Zwerg, suchte seine Nähe.

Auch sein Körper füllte sich mit einer Wärme, die er so intensiv noch nie gespürt hatte. Sie liebte ihn, genauso, wie er sie liebte, bei Durin, und der erste Kuss war atemberaubend gewesen.

Das Verlangen nach ihr brach aus und ließ es zusammen mit der intimen Nähe zu ihr in seiner Hose beginnen zu drücken.

Er kämpfte um Selbstbeherrschung. Er begehrte sie, wie er noch nie eine Frau begehrt hatte. Thorin war sich sicher. Er wollte sie. Dieses Mädchen und keine andere.

,,In letzter Zeit kann ich nur noch an dich denken, Marie. “ Er legte die Hand an ihre Taille, strich sanft über den hochwertigen Stoff ihres Kleides. Ihr ganzer Körper reagierte auf seine Worte und seine Berührung, was ihm nicht entging. Thorin schloss die Augen und genoss. Unwillkürlich glitt seine Hand hinab zu ihrem Oberschenkel, fuhr tiefer und schob sich unter den Saum, an ihr Knie.

Marie dachte ihre Haut würde explodieren. Sie prickelte, war

auf einmal so empfindlich.

,,Sag mir, wenn ich aufhören soll, wenn du es nicht möchtest...“

,,Nein, hör nicht auf“, wisperte sie und legte den Kopf an seine Halskuhle, atmete seinen Geruch ein.

Er küsste ihr auf die Haare, strich zärtlich über ihr Bein. Auch Maries Hand wanderte über seinen breiten Rücken. Sein Herz pochte, als würde er immer noch mit ihr durch die nächtlichen Straßen rennen. In seiner Lendengegend wurde der Druck stärker. Ihre Nähe und ihre Berührungen ließen ihn vergessen, dass er ihr Zeit geben wollte... Thorin küsste sie leidenschaftlich und als Marie ihm abermals in die Haare greifen wollte, fasste er ihren Schenkel, drehte sich und drückte sie ins bereit plattgelegene Gras.

Doch Marie riss die Augen auf. ,,Thorin, nicht.“ Er reagierte nicht und sie musste die Hände gegen ihn stemmen. ,,Thorin!“

Erst jetzt hörte er sie und ließ von ihr ab. Sofort stieß Marie ihn

von sich und setzte sich abrupt auf, zog fieberhaft ihren Rock

zurecht. Da begriff er. Oh, Scheiße. ,,Marie, verzeih mir.“

Abweisend legte sie die Arme um ihren Körper, als müsse sie sich vor ihm schützen. ,,Verzeih mir...“, konnte er nur wiederholen.

,,Ich dachte, du wolltest es auch.“

Wie so oft, wenn sie nachdachte, knabberte Marie an ihrer Lippe herum. Auf einmal gaben die Worte ihrer Mutter einen Sinn. Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen.

Wie dumm sie doch war. Nun fühlte sie sich schlecht, ihn so ins Messer laufen gelassen zu haben. Thorin wollte sie, weil er sie liebte. Er wollte mit ihr schlafen, aber…wollte sie es auch?

Ihre Unschuld geben?

Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie am meisten Angst vor dem Schmerz. Die Geschichten, die man so als junges Mädchen zuhören bekam, schossen ihr durch den Kopf. Und einige davon waren wahre Gruselgeschichten, doch einige hörten sich auch wunderschön an. Und Marie wollte es genauso schön.

Mit ihm und mit keinem anderem.

Sekunden vergingen. Bangend wartete Thorin auf eine Reaktion von ihr. Hatte er sich getäuscht, ihre Reaktion so falsch gedeutet? Wollte er zu viel zu früh?

Natürlich! Er fuhr sich durch die Haare und fühlte sich wie ein Halbstarker, der sich von seinem Schwanz leiten gelassen hatte. Wut über sich selbst fing in ihm zu brodeln an. ,,Bitte, sag etwas.“ Ihr Schweigen war pure Qual für ihn.

,,Schon gut“, brach sie hervor. ,,Ich…ich möchte es auch, aber…Es ist so…ich…ich hab nicht, ich meine…“ Oh man, wie peinlich. Sie war heil froh, dass ihre glühenden Wangen in der Nacht nicht zu erkennen waren.

,,Marie, du kannst mit mir über alles reden. Ich nehme an, du bist noch Jungfrau.“

Sie nickte vage. ,,Und du?“

,,Nein. Bin ich nicht.“

Sie hätte damit rechnen müssen, doch konnte die Bitterkeit in

ihrer Stimme nicht unterdrücken. ,,Dann bin ich also nicht die Erste.“

,,Nein.“

Ein einfaches Nein. Ihre Enttäuschung war nicht zu leugnen. Die Vorstellung, dass er mit einer anderen genau dieselben Zärtlichkeit ausgetauscht hatte, verursachte in ihr Groll und wieder einmal sprang unkontrolliert vor ihren Augen die Tatsache herum, dass er ein Prinz war. Die Zwerginnen rissen sich sicherlich um ihn und er konnte sich nehmen, was oder wen er wollte. Sie wollte sich nicht ausmahlen, mit wie vielen er es getan hatte, doch konnte nicht anders.

,,Ich will ehrlich zu dir sein…“ Thorin stellte ein Bein auf, legte den Ellenbogen darauf. ,,Mein erstes Mal war nicht besonders erwähnenswert. Mein Bruder und ich hatten uns auf ein Fest geschlichen. Es passierte in einer dunklen Ecke und war unromantisch und schnell vorbei. Ich hatte ein wenig getrunken und sie noch mehr. Sie wusste nicht, wer ich war, so betrunken war sie.“ Darüber konnte er heut noch schmunzeln, doch Marie war nicht zum Lachen zumute.

Sie konnte ein Schnauben nicht unterdrücken. ,,Dann hat also irgendeine Dahergelaufene den Prinzen entjungfert? Welch noblen Züge.“

Seine Miene verdunkelte sich. ,,Du bist nicht fair, Marie“, sagte er mahnend.

,,Wieso erzählst du mir das dann?“

,,Weil ich dir vertraue! Und ich nicht verstehen kann, warum du wütend auf mich bist. Dazu gibt es keinen Grund. Du hättest ebenso schon Männer haben können.“

,,Hatte ich aber nicht! Und ich will auch nicht wissen, wie viele Frauen in deinem Bett lagen.“ Bei dem Gedanken stieg Eifersucht in ihr auf. Sie wollte jedoch den Abend nicht kaputt machen, der so schön angefangen hatte.

,,Was ist dein Problem, Marie?“, fragte er eine Spur sanfter,

nachdem er tief ausgeatmet hatte.

,,Wenn ich schon einen Freund gehabt hätte, wärst du genauso eifersüchtig.“

,,Für deine Eifersucht gibt es aber keinen Grund.“

,,Aber versteh doch, ich will nicht eine von vielen sein.“

Seine Gesichtszüge fielen und für ein paar Sekunden wurde es ganz still zwischen den beiden. Thorin schüttelte den Kopf.

,,Das bist du nicht“, flüsterte er und rückte näher zu ihr. ,,Du bist alles für mich, aber nicht das.“ Er nahm ihre Hand. ,,Wieso denkst du so?“

Sie konnte nur mit den Achseln zucken, sah auf ihre Finger-knöchel, über die sein Daumen stetig strich und kleine, kribbelige Wellen durch ihre Hand sandte. ,,Du bist so toll… Jede Zwergin müsste doch hinter dir her sein.“

,,Da hast du Recht. Es ist manchmal echt anstrengend sie abzuwimmeln. Ich schicke sie dann zu Frerin…“ Sein Lächeln sprang ein wenig auf sie über, ehe er wieder ernst wurde. ,,Aber mein Herz schlägt nun für dich. Nur für dich.“

Sie nickte stumm. Eines aber musste sie noch wissen. ,,Wie viele Freundinnen hattest du?“

Seufzend zog er eine Augenbraue in die Höhe. ,,Eine einzige.“

Auf ihren überraschten Blick hin nickte er. ,,Als ich herausbekam, dass sie sich mit mir nur schmücken wollte, habe ich es beendet. Ihr Vater ist irgendein Fürst aus einem alten Haus. Ihr Bruder und sie wollten durch mich aufsteigen, irgendetwas erreichen und haben mich für ihren Plan ausgenutzt.“

Plötzlich sah sie etwas in seinen Augen schimmern, was sie so noch nie bei ihm beobachten konnte. Da realisierte sie.

Es nimmt ihn immer noch mit… ,,Hast du sie geliebt?“

Er hob den Kopf, verstärkte den Druck seiner Hand. ,,Ich will es nicht leugnen. Es stimmt, ich hatte einst Gefühle für sie. Doch sie hat mich tief enttäuscht.“ Er hob ihre Hand zu seinem Mund, küsste sie. ,,Ich will dich nicht anlügen, mell nin… Wir sprachen bereits über eine Verlobung, als ich ihre wahren Absichten mit anhören musste.“

Verlobung. Marie wurde auf einmal schlecht. Trotz diesem Beweis für die Ernsthaftigkeit ihrer Beziehung verspürte sie keine Eifersucht mehr. Denn als ihr bewusst wurde und als sie sah, wie sehr sie ihn damit verletzt haben musste, waren seine Gefühle wichtiger als ihre. Obwohl Marie sie nicht kannte, hasste sie sie dafür abgrundtief. ,,Wie heißt sie?“

,,Ihr Name ist doch völlig unwichtig.“ Als könnte er ihre Gedanken lesen, fasste er nach ihrem Kinn, drehte ihr Gesicht zu sich. Der Anblick seiner Augen ließ den Zorn weichen. ,,Verschwende keine Gedanken mehr an sie. Das Einzige, was mir jetzt wichtig ist, bist du, mell nin. Sladnik ist bedeutungslos. Vergiss sie und vergiss, was ich gesagt habe. Ich werde nur mit dir schlafen, wenn du es auch willst. Ich würde dich nie zu etwas zwingen, was du nicht möchtest.“

,,Thorin…“ Er küsste sie, so als wollte er sie von ihren düsteren Gedanken reinwaschen. ,,Ich möchte es“, hauchte sie, als er kurz seine Lippen von ihren löste. Erstaunt hielt er inne und sie nickte.

,,Ich will es mit keinem anderem. Ich will dich. Weil ich dich liebe.“ Noch für einen Moment hielt er ihren Blick und sie konnte es in seinen vor Begierde und Leidenschaft funkeln sehen.

,,Ich will dich auch. “ Er gab ihr einen Kuss, schluckte dann.

,,Zieh deine Schuhe aus.“

Sie musste ebenfalls über diesen Themenwechsel schlucken. Plötzlich begann ihr Herz wieder wie wild zu pochen. Sie tat es, während er hinter sie rückte und ihre Haare zur Seite schob.

Thorin fasste die winzigen Metallhaken vom Kleid, die hinter einem kleinen, senkrechten Saum versteckt waren, und fädelte einem nach dem anderen auf. ,,Schon den ganzen Abend wollte ich dir aus diesem Kleid helfen“, flüsterte er an ihrem Ohr.

Kehlig und leise. Die Spitze wich von ihren Schultern und seine

Hände legten sich dort auf ihre Haut. ,,Die Ärmel…“, raunte er,

küsste sie unter dem Ohr.

Sein Atem auf ihrer Haut… Marie musste sich richtig konzen-trieren, als sie die Arme heraus zog. Seine Lippen waren feder-leicht, sein Bart warm und anschmiegsam. Er fuhr an ihrem Nacken fort, an ihren Schultern und hinterließ nichts als Gefühl auf ihrer Haut. Andächtig fuhr er den Rand ihres Kleides nach, sodass winzige Härchen auf ihrer Haut sich aufstellten. Marie schloss die Augen, als seine Berührungen zwischen ihren Beinen wiederhallten. Wie funktionierte es, dass sie ihn da spürte?

Thorin fasste um sie, strich über den Stoff, der ihren Bauch verhüllte, bis zu der Kordel um ihre Taille. Voller Ungeduld begannen seine Finger sie aufzuknoten, während er weiter ihre Schulter mit seinem Mund bedeckte. Schließlich kam er um sie herum, kniete sich vor sie und zog ihr das Kleid aus.

Genussvoll langsam fiel der Stoff von ihrem Busen, gab Zenti-meter für Zentimeter sie frei und glitt über ihre Schenkel und Beine. Wie ihre Unschuld wurde es ins Gras geworfen und Marie lag nur noch in einer dünnen Unterhose vor ihm. Das Mondlicht ließ ihren halbnackten Körper wie zuvor ihr Kleid strahlen.

Instinktiv wollte sie ihre Brüste verdecken, doch er fasste nach ihrer Hand. Marie sah zu ihm hinauf. Er sah in ihren Augen, die selbst jetzt in der Nacht grün strahlten, ihre Unsicherheit.

,,Du musst dich für nichts schämen. Du bist wunderschön.“

Sie musste lächeln, bis ihr Blick auf seine Hose fiel. Deutlich zeichnete sich eine Wölbung ab. Thorin bemerkte es, nahm ihre Hand und legte sie sich direkt in den Schritt.

Oh, mein… Mit angehaltenem Atem schloss sie ihre Finger um die Härte unter dem schwarzen Stoff.

Thorin beugte sich zu ihr. ,,So fühlt es sich an, wenn ein Mann eine Frau begehrt“, raunte er heiser. ,,Das ist die Wirkung, die du auf mich hast.“ Er küsste sie und Marie durchströmte das gleiche heiße Gefühl wie ihn.

Sie richtete sich auf und fasste nach seinen Klamotten, als ihre

Küsse intensiver wurden. Ihre Körper waren hellwach, brannten vor Verlangen. Sie zerrte ihm Weste und Oberteil aus und ihre Hände legten sich voller Vertrauen auf seine nackte Brust.

Wie ein Symbol, dass er nun zu ihr gehörte, trug er ihre Kette. Mit zitternden Händen knöpfte sie voller Ungeduld auch seine Hose auf.

Thorin stieß ein raues Stöhnen aus, ein wildes Feuer in den Augen. ,,Langsam, mell nin.“ Er half ihr dabei, sich seinen Sachen zu entledigen und sah, wie sie große Augen bekam, als er schließlich nackt vor ihr kniete.

Noch nie zuvor hatte Marie einen erregten Penis gesehen und so fasziniert war auch ihr Blick. Bei Thorins rauer Schönheit durchfuhr sie auch wieder die Angst, dass es wehtun könnte.

Als er näher kam, verspannte sie sich, doch wider erwarten legte er sich bloß neben sie und lud sie ein, es ihm gleichzutun.

Um jede noch so kleine Geste der Ablehnung zu erkennen, ließ Thorin sie nicht aus den Augen und ließ seine Finger von ihrer Kehle und zwischen ihren Brüsten hindurch über die Landschaft ihres Körpers wandern. Er glitt Richtung Nabel und weiter Richtung Süden, während er sie am Hals liebkoste.

Von einer kribbeligen Aufregung überschüttet fieberte Marie das Ende seiner Reise entgegen. Zielsicher verschwand seine Hand unter den Bund ihres Höschens, was ihr einen leisen Laut entlockte. Marie schloss die Augen, spürte seine Finger, wie sie über ihr zartes Fleisch strichen. Es war fremd auf diese Weise berührt zu werden… und gleichzeitig so schön…

Er ließ seinen Zeigefinger über ihrem empfindlichsten Punkt kreisen, so als wäre er zerbrechlich, und ihre Nervenenden begannen zu vibrieren. Ihr Körper bebte und sie war erfüllt von einem ihr völlig fremden Gefühl. Ihre ganze Lust konzentrierte sich auf diesen kleinen Punkt und floss wie knisternde Flies durch sie hindurch.

Thorin beobachtete jedes Zucken, jeden Atemzug, jede Regung

in ihrem Gesicht und entdeckte die Feuchte, die ihren Schoß

weitete. Er war der erste Mann, der sie berührte und dieses Wissen trieb seine Lust noch einmal um das Zehnfache an. Niemals würde er zulassen, dass ein anderer Mann sie auf diese Weise anfasste. Sie gehörte voll und ganz ihm.

Abermals vergrub er seine Zunge in ihren Mund, während Marie sich mittleiweile unter seinen schneller werdenden Bewegungen wandte. Als er erneut über ihre feuchten Lippen strich, ihr Innerstes umkreiste, mit den Fingern in sie eindrang und ihre Feuchte verteilte, öffnete sie instinktiv ihre Schenkel.

Sie wollte es. Sie wollte ihn ganz fühlen.

,,Noch nicht“, flüsterte er rau, küsste sie auf die Wange und glitt an ihrem Hals entlang.

Marie zerfloss unter ihm, verbog sich im Gras vor Lust und Scham, die in ihr tobten. ,,Bitte…“

Die enge Nässe ihres Schoßes raubte ihm den Verstand.

Sie raubte ihm den Verstand. Er konnte sich nicht länger zurück-halten. Vor Lust grollend zerriss Thorin ihr Höschen, legte sich zwischen ihre Beine und Marie hielt die Luft an, erwartungsvoll und ein wenig ängstlich.

Tief und aufmerksam sah Thorin ihr in die Augen, als würde er auf das winzigste Zeichen von ihr achten, während er mit einer Hand seinen Penis führend in sie eindrang.

Ihre Hand suchte seine, als sie ihn spürte und drückte zu.

Mühelos durch ihr Vorspiel drang er in sie ein, doch stieß schnell auf Widerstand. Er stütze sich über ihrem Körper ab und sah sie an. Ein Hauch Angst lag in ihrem, von Verlangen verschleierten Blick. ,,Mein Liebling, vertrau mir.“

Marie schlang die Arme um seinen Hals, hielt sich an ihm fest. Ihr Körper war angespannt. Sie sah die Sterne über ihnen am Nachthimmel funkeln. Es müssten Millionen gewesen sein...

Thorin spürte einen Druck, dann zerriss etwas und ein warmer,

weicher Strom umfloss ihn. Unter ihm stöhnte Marie auf, sank zurück ins Gras und er hielt die Stirn gegen ihre gepresst, verharrte regungslos.

Er schien sie komplett auszufüllen, sodass ihr allein bei dem Gedanken schwindelte. Keuchend entließ sie ihren angehaltenen Atem, unschlüssig, was für Empfindungen sie von den hunderten als erste zulassen sollte.

,,Entspann dich“, flüsterte Thorin und gab ihr einen Kuss.

Haltsuchend legte sie die Arme auf seine Schultern, spürte das Spiel seiner Muskeln, als er anfing, sich zu bewegen. Ein brennender Schmerz durchzog sie sogleich, doch Thorin zeigte ihr, dass alles gut war. Immer noch bewegte er sich langsam und vorsichtig, als könnte er sie verletzen, gab ihr Geborgenheit und Vertrauen, wo sie sie brauchte.

Der Schmerz wich, dafür spürte sie nun seidige Wärme tief in ihrem Inneren. Marie schloss die Augen und gab sich ihrer Lust hin. Thorin fasste nach ihren Händen, hob sie neben ihren Kopf und verflocht seine Finger mit ihren. In ihren angewinkelten Beinen zitterte es und Marie wimmerte unter seinen Stößen.

So etwas hatte sie noch nie zuvor verspürt. Sie war gefangen, in Besitz genommen. Sie seufzte und spürte, wie ihre ängstlichen Zurückhaltung dahin schmolz. Sie hatte ja keine Ahnung, dass es sich so anfühlen würde…so…gut.

Sie lächelte glückseelig und küsste ihn leidenschaftlich, als ihre Körper sich vereint im Mondlicht bewegten.

Ihr Stöhnen und die kleinen Geräusche aus ihrem Mund machten ihn fast wahnsinnig. Thorin stemmte sich auf den Armen hoch und wurde härter, sah, wie Marie seine Hände drückte und den Mund aufriss. Seine Stöße gingen durch ihren ganzen Körper. Mit Genuss schaute er ihren wippenden Brüsten zu.

Ein tiefes Stöhnen groll aus seiner Brust. Er dachte, sein Herz würde ihm aus dem Leib kommen. Sie war so herrlich eng…

Thorin war sich sicher, dass sie keine Angst mehr hatte, doch er

wollte ihr noch mehr Sicherheit verleihen. Und so nahm er sich wieder zusammen und glitt schließlich aus ihr.

,,Was tust du?“, fragte Marie.

Er legte sich neben sie. ,,Jetzt nimmst du mich.“

,,Was? Ich? Ich weiß nicht…“ Verständnislos sah er sie an.

,,Ich weiß nicht, wie, was ich…machen muss.“ Und wieder war sie froh, dass er ihr rotes Gesicht nicht erkennen konnte.

,,Ich helfe dir“, versprach er mit einem Schmunzeln.

Lacht er mich aus? Seine Freundin hat das bestimmt gemacht, schoss es ihr durch den Kopf und in Marie brach Ehrgeiz aus.

Sie wollte es ihm beweisen. Und dieser Sladnik oder wie sie auch hieß, dass sie genauso gut wie sie war und dass sie Thorin gar nicht verdient hatte.

Marie stieg über ihn. Als sie jedoch auf sein Glied blickte, an dem ihre Feuchte glitzerte und etwas Dunkles klebte, wurde ihr flau. Das Blut ihrer Unschuld.

,,Sch…“, zischte Thorin beruhigend ,,Alles in Ordnung. Ich bin hier, ich halte dich.“ Etwas mulmig zumute stützte Marie sich auf seiner Brust ab und Thorin brachte sich in Position. Als sie ihr Becken senkte, hatte sie denselben Schmerz erwartet, doch diesmal rutschte sie mühelos auf ihn. Seine Buchmuskeln spannten sich sichtbar an, als sie ihn tief in sich aufnahm. Keuchend ließ Thorin den Kopf zurück ins Gras fallen.

Marie richtete sich auf und Staunen lag auf ihrem Gesicht. Stolz durchströmte sie, während sie begann, sich zaghaft gegen ihn zu reiben. Er ließ sie frei gewähren und zeigte ihr, dass sie seine Lust stillte. Diese Stellung gefiel ihr.

Thorin legte die Hände an ihre Hüfte und erwiderte ihre noch unsicheren Bewegungen, lenkte sie in den Rhythmus, den er wollte. Ein erstickender Ton kam aus ihrem aufgerissenen Mund. Marie ließ ihren Kopf in den Nacken fallen, als er plötzlich noch tiefer in sie eindrang. Was für ein Gefühl…

Wie ein Wasserfall bedeckten ihre Haare ihren Rücken.

Sie keuchte, sah in wieder an. ,,Mach das nochmal.“

Sie begannen, sich wieder zu bewegen und Thorin drückte sein Becken ihres entgegen. ,,Ja! Mhhmmm…“

,,Komm, mein Schatz. Beweg dich.“

Das tat Marie. Ihre Körper wurden eins, verschmolzen zu einem Masse aus reinem Gefühl, trieben sich gegenseitig an und flogen immer höher…

Thorin setzte sich auf und Marie sah fasziniert zu, als er ihre Brustwarze in den Mund nahm. Er ließ seine Zunge um ihren Hof gleiten, zog engere Kreise bis seine Zähne ihre Knospe streiften. Er saugte daran, weckte in ihr nie gespürte Sinnlichkeit.

Mal fester, bis sie schrie. Mal weicher, um sie vor Verzückung stöhnen zu hören.

Sie drückte ihn zu sich, hielt ihn umschlungen fest.

Er hob den Kopf zu ihr und Marie verstand, beugte sich vor und küsste ihn, versank mit ihm in einem Meer aus Gefühl.

Schwitzend und feucht schmiegten sich ihre Körper aneinander, als ihre Herzen sich berührten.

Vom Rausch nach mehr getrieben, der sie beide erfasst hatte, ritt Marie ihn erneut. Thorin ließ sich zurück sinken, drückte den Hinterkopf ins Gras und schloss die Augen. Sehnen traten an seiner Kehle zum Vorschein. Lautlos, mit zurückgeworfenem Kopf und zum Zerreißen gespannten Kiefern ergoss er sich schließlich in ihr.

Sie spürte eine erneute Wärme, während auch sie mit seinen letzten Stößen bebend ihren Höhepunkt fand. Ihre innersten Muskeln zogen sich heftig zusammen. Von diesem überwältigenden Gefühl mitgerissen schrie Marie auf und sank nach vorn, wurde von starken Armen aufgefangen.

Außer Atem blieben sie liegen und die Nacht wurde wieder still. Nur ihr Atem und ihre Herzen belebten sie.

Minuten vergingen, in denen die beiden fast reglos und immer

noch vereint im Gras lagen.

Nur langsam konnte Thorin sich wieder regen und schaute als erstes nach ihr. ,,Alles in Ordnung?“

,,Hm“, brummte Marie unter einem Vorhang aus Haaren hindurch, halb auf seiner Schulter, halb im Gras liegend, noch den Nachhall und ihn genießend.

Er lächelte und küsste sie auf die Stirn, nachdem sie sich die Haare aus dem Gesicht gestrichen hatte. Sie schmiegte sich an ihn und schenkte ihm den schönsten Moment seines Lebens.

,,Was machst du bloß mit mir?“, flüsterte Thorin leise, streichelte eingebettet im hohen Gras ihren Körper, der genauso verschwitzt wie seiner war. Ganz weit entfernt war Musik zu vernehmen. Die Grillen zirpten immer noch um sie herum.

Es war windstill und ungewöhnlich warm…

,,Thorin?“

,,Hm?“

,,Thorin?... Thorin!“

Er schlug die Augen auf und sah in Noris Gesicht.

,,Man, du siehst ja richtig fertig aus, wenn man das so sagen darf.“

Der Panik nahe schreckte Thorin hoch. Zunächst wusste er nicht, wo er war, doch dann dämmerte es ihm schmerzlich.

Es war bloß die Vergangenheit gewesen, die er durchwandelt war. Alles war nur in seinem Kopf gewesen, alles was er gesehen und gefühlt hatte auf einen Schlag vorbei.

Als wäre es nicht schon schlimm genug, würde er den Tag mit einer Morgenlatte vor seinen Männern beginnen müssen.

Er fuhr sich durchs Gesicht. Sein Rücken schmerzte von der harten Bank neben der Feuerstelle, auf die er wohl die Nacht gelegen haben musste. Thorin massierte sich den hämmernden Punkt zwischen den Augen und fühlte sich von seinem eigenen Geist betrogen. ,,Ich konnte nicht schlafen…“

,,Hast du aber, und wie. Ich hab dich mehrmals gerufen.“

,,Bei Durin, da freut sich einer ja uns zu sehen“, kommentierte

Dwalin im Vorbeigehen trocken.

,,Fick dich“, bekam er als Antwort zurück geschmettert.

Lachend trollte sich Nori, ehe auch er etwas abbekam.

Von seinen Erinnerungen an den Traum getrieben fasste Thorin in sein Oberteil und zog die schwarze Schnur heraus, an der der Anhänger hing. Sehnsucht drückte wieder in sein Herz, bis es so schwer wurde, dass es scheinbar nieder zu fallen schien.

Traurig strich er mit den Fingerspitzen über das warme Metall. Durch die Fenster der Halle fiel das erste Morgenlicht.

Es war der Morgen des Durin-Tages.






















17



Ganz Esgaroth hatte sich versammelt, um den Aufbruch der Gefährten mitzuerleben. Wie geschmückt gingen die Zwerge und Bilbo angeführt von Soldaten durch die Mengen der Menschen, die ihnen grob den Weg freiräumten. Die zu großen Rüstungen prangten an ihnen, ebenso wie die Brustharnische und Brustplatten, mit dunklem Schafsfell gefütterte Kragen.

Thorin betrachtete missfällig die traditionellen Broschen von Seestadt an seinen Schultern, mit denen der rote Umhang, in dem man ihn gehüllt hatte, befestigt worden war. Nun wollen sie auch noch vom Ruhm etwas abhaben, dachte er mit immer noch brummendem Schädel von der Nacht. Als wäre ein Anteil nicht schon genug…

,,Wir sind übrigens einer zu wenig“, bemerkte Bilbo, der sogar einen Helm von ihnen trug. ,,Wo ist Bofur?“

,,Wenn er nicht hier ist, lassen wir ihn zurück“, antwortete er ihm knapp, schon in das weitere Vorhaben vertieft.

,,Das müssen wir, wenn wir die Tür vor Einbruch der Nacht finden wollen“, seufzte Balin und sprach damit Thorins Gedanken aus. ,,Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.“

Nein, das durften sie nicht.

Die aufgegangene Sonne glitzerte auf der Wasseroberfläche, als sie an den Kanal erreichten, in dem das Boot für sie bereit lag. Menschen drängten sich schwatzend an den Stegen, um einen Blick auf ihr Befreiungskommando zu bekommen. Ihre Begleiter begannen ihnen beim Beladen mit Proviant und Waffen zu helfen.

Im Umdrehen drückte Thorin den Arm gegen Kilis Schulter-panzer. ,,Du nicht.“ Wie erstarrt blieb der Junge stehen.

,,Wir müssen uns beeilen“, sagte Thorin, reichte Waffen zum

Boot durch. ,,Du würdest uns aufhalten.“

Auf seinem Gesicht lag amüsierter Ausdruck. ,,Was redest du?

Ich komme natürlich mit.“

,,Nein.“

Langsam fielen seine blassen Gesichtszüge, als Kili ihm in die Augen sah und begriff. ,,Ich werde dabei sein, wenn diese Tür aufgeht“, erwiderte er entschlossen. Zorn schwang in seiner Stimme mit. ,,Wenn wir die Hallen unserer Väter sehen, Thorin…“

,,Kili.“ Er machte einen Schritt auf ihn zu, blickte in seine braunen Augen, die ungewöhnlich für ihre Blutlinie und im Moment groß vor Unverständnis waren. Sein Onkel hatte mit keiner geringeren Reaktion gerechnet. Aber er hatte sich entschieden, seine Entscheidung sorgfältig überdacht und nach dem Wohl der Gemeinschaft bemessen. Die Verletzung hinderte ihn mehr, als er zugeben wollte und musste wahrscheinlich intensiver versorgt werden. Sie konnten sich keine Verletzten mehr leisten. Jeder Mann musste kampffähig sein, wenn sie auf Smaug trafen. Die Erfüllung ihrer Mission stand nun, so kurz vor dem Ziel, an oberster Stelle. Es war einfach besser so.

Bekräftigend fasste Thorin ihm in die Haare. ,,Bleib hier. Ruh dich aus. Komm nach, wenn du gesund bist“, flüsterte er und konnte ein kurzes Lächeln zum Trost aufbringen. Doch es wich viel zu schnell. Dass dies vielleicht das letzte Mal war, dass er ihn sah, daran wollte Thorin nicht denken. Sein Brustkorb spannte schmerzlich, als er sich dem Boot zuwandte.

Für Kili brach die Welt zusammen. Er konnte und wollte nicht ausgeschlossen werden. Tagelang hatte er sich vorgestellt, wie sie endlich diese Tür erreichen und jetzt sollte ihm das verwehrt werden, auf das sie monatelang gehofft hatten? Er konnte es nur schwer begreifen. Er wollte doch auch ein Teil davon sein.

Er wollte das Betreten des Berges miterleben und, was noch

wichtiger für ihn war; er wollte seine Wurzeln finden und endlich

den Ort sehen, an dem er geboren wurde und aufgewachsen war,

an den er keinerlei Erinnerung hatte.

Doch Kili wusste, dass er sich unter dem Wort seines Onkels fügen musste, das einer Verbannung gleichkam.

Hätte er bloß besser aufgepasst…

Niedergeschmettert ließ er sich auf einen Pfahl am Steg nieder, doch würde am liebsten dagegen treten.

,,Ich bleibe bei dem Jungen“, brummte Oin und stieg vor seinem Anführer aus dem Boot. ,,Die Verwundeten sind meine Pflicht.“ Thorin ließ den alten Zwerg gehen.

,,Onkel…“

Mit einem stillen Seufzer blickte er zu Fili, der im Boot stand und zu ihm hinauf sah. Er war der Schatten seines kleinen Bruders und ihr Onkel wusste, was folgte.

,,Wir sind mit den Geschichten über den Berg aufgewachsen. Du hast sie uns erzählt. Das kannst du ihm nicht wegnehmen!“

,,Fili…“, rief Kili ihn zurück, während er sich genervt Oin entzog.

,,Ich trage ihn, wenn es sein muss!“

Ihm war, als würde er nicht Fili, sondern in diesem Moment Karif ins Gesicht sehen. Er hatte ein starkes Herz, genau wie das seines Vaters. ,,Eines Tages wirst du König sein und verstehen“, sagte Thorin ruhig und wissend. ,,Ich kann das Schicksal dieser Unternehmung nicht für einen Zwerg aufs Spiel setzen. Auch nicht für meinen Neffen...“

,,Onkel, bitte…“

,,Ich trage die Verantwortung für euch, Fili! Ich gab euch und eurem Vater ein Versprechen. Und daran halte ich mich auch.“

Fili schluckte seinen Groll hinunter, zwang sich nieder zu blicken, ehe er noch etwas Unüberlegtes sagte.

Was sollte er jetzt tun?

Seit ich denken kann, habe ich dich beschützt und ich werde dich

auch weiterhin beschützen, dich nicht allein lassen. Ich gab dir

mein Wort, dass nur der Tod mich von dir trennen kann…

Er verengte die Augen und schaute mit aufeinander gepressten Kiefern zu seinem Bruder hinüber.

,,Kili, du musst dich ausruhen“, versuchte Oin ihn gerade zum Sitzenbleiben zu bewegen.

Aber auch ich gab ein Versprechen.

Dann stieg er aus dem Boot.

Thorin packte ihn hart am Arm. ,,Fili, sei kein Narr. Du gehörst zur Gemeinschaft.“

,,Ich gehöre zu meinem Bruder.“ Er riss sich von ihm los und kehrte seinem Onkel den Rücken.

Machtlos sah dieser ihm nach.

Trompeten ertönten. Der Bürgermister bestieg eine eigens aufgebaute Empore. Die versammelten Menschen jubelten bei seinem Erscheinen. Wie ein Fürst winkte er ihnen zu, ließ sich von ihnen feiern.


~


Er musste lachen, als sie seinen Schnurrbart verführerisch um ihren Finger rollte. Er knabberte an ihrem Ohr, woraufhin Suurin, wie der wunderschöne Name seiner Frau war, ein nypmhen-gleiches Kichern ausstieß.

Doch ihr Rendezvous wurde unliebsam gestört.

,,Bei meinem Barte…“ Langsam erwachte Bofur aus seinem, noch vom Restalkohol verursachten Dämmerschlaf und hörte die Trompeten. ,,Ist es denn schon so spät?!“ Er fuhr hoch und knallte mit der Stirn gegen den Tisch, unter dem er gelegen hatte.

Gläser klirrten. Jetzt war er hellwach! Er hangelte sich an der Tischkante auf die Beine, griff im Laufen noch schnell nach irgendeinem Glas und kippte den Inhalt, damit Beine und Geist munter wurden. Quer durch die Halle ging‘s dann, die Stufen hinunter und über den Vorplatz. ,,Wartet! Wartet auf mich!“

Die Wachen vor der Tür schauten dem Zwerg höchstverwundert

nach.


,,Möge eure Rückkehr uns allen Glück bescheren!“, rief der Bürgermeister gerade. Abermals ertönten die Trompeten und unter ihren Fanfaren legte das Boot ab. Die Menschen winkten und jubelten den Zwergen zu. Viele wünschten ihnen eine ,,gute Fahrt!“ und ,,viel Glück!“ Manche der Gefährten winkten ebenfalls. Wie Kriegshelden wurden ihnen von Kindern und Frauen winzige gebundene Sträuße zugeworfen.

So was kann auch nur mir passieren… ,,Aus dem Weg! Lasst mich durch!“ Bofur schob sich durch die Leiber, die überall waren. Als er endlich durch die Leute stolperte, war das Boot schon den Kanal runter in Richtung offenes Wasser. Als seine Hoffnungen gerade erstarben, fiel sein Blick auf bekannte Gesichter. Die Jungs und Oin saßen auf dem Steg, sahen ihn

ebenfalls an.

,,Habt ihr das Boot auch verpasst?“, fragte er erleichtert und ein wenig außer Atem.

,,Du bist doch echt ne‘ Pfeife, Bofur“, seufzte Fili.

Dass wegen ihm auch noch Fili und Oin hier geblieben waren, war Kili gar nicht recht. Verdammt nochmal, er wollte nicht bemuttert werden. Er würde schon alleine zurechtkommen. Irgendwie.

Abermals wollte Kili aufstehen. Blitzartig schoss durch seine Wunde der Schmerz. In seinem Kopf drehte es sich auf einmal. Ihm wurde speiübel.

,,Kili? Kili!“ Fili fing ihn ab, als er drohte, zur Seite zu kippen. ,,Kili, sieh mich an. Was ist mit dir?“ Blanke Sorge im Gesicht. Sein Bruder war auf einmal weiß wie Kalk.

Schwer rang er nach Luft. ,,Mein Bein… Ich spüre mein Bein nicht mehr.“


,,Wartet! Wartet!“

Der Bürgermeister und Alfred waren gerade wieder am Rathaus angekommen, als jemand hinter ihnen her rief. Verwundet drehten sie sich um. Die Vier drängten sich durch die Soldaten,

die sie durch die Stadt eskortiert hatten und nun Spalier standen.

,,Bitte, wir brauchen Eure Hilfe.“ Fili rückte den Arm seines Bruders auf seinen Schultern höher, der sich zwischen ihm und Bofur kaum auf den Beinen halten konnte. ,,Mein Bruder ist krank und…“

,,Krank?! Ist, ist das ansteckend?!“ Panisch fummelte der Bürgermeister ein Taschentuch aus seinem Ärmel, hielt es sich vor Mund und Nase, als wären sie verseucht. ,,Äh…geht zurück! Äh, Alfred, Alfred, lass sie nicht näher kommen!“

Fassungslos starrte Fili zu ihm hinauf.

,,Bitte, wir benötigen Medizin“, flehte Oin.

Alfred zog eine Grimasse. ,,Sehe ich aus wie ein Apotheker?“

Dem alten Zwerg stand der Mund auf. ,,Wir haben euch wahrlich genug gegeben. Der Bürgermeister ist ein sehr beschäftigter Mann“, sagte er und musterte sie abfällig. ,,Er hat keine Zeit sich um kranke Zwerge zu kümmern. Schert euch weg!“

,,Nein!“ Fili sah Rot. ,,Nein, das könnt Ihr nicht machen!“, brüllte er ihnen vor Wut hinterher, als sie sich von ihnen abwandten, so als wären sie nichts mehr wert. Er wollte ihnen an die Gurgel gehen, doch die Soldaten kreisten sie ein.

,,Halt dein Maul, Bengel!“, rief Braga und verpasste ihm einen schmetternden Faustschlag als Vorgeschmack.

,,Verschwindet, Dreckspack!“

,,Lass gut sein, Fili! Wir müssen hier weg!“ Bofur packte den Prinzen und eilte hinter Oin und Kili hinterher, als die Männer sie vom Platz jagten.


In einer winzigen Gasse fanden sie Zuflucht. Die Dielen lagen so niedrig, dass das Wasser des Sees an ihnen schwappte. Behutsam setzten sie Kili auf eine Kiste. Es war feucht und stank nach Urin. Ruhelos lief Fili auf und ab, presste den Mund aufeinander, bis es weh tat, raufte sich die Haare. Vor Wut und Verzweiflung trat er gegen einen löchrigen Eimer. Polternd flog dieser in einen anderen Winkel. Ratten fiepten auf.

,,Fili…“, keuchte Kili und legte den Kopf zurück an die Wand. Von Minute zu Minute war es plötzlich schlimmer geworden. Er fühlte sich wie benebelt vom erneut anschwellenden Schmerz. Sein Körper verkrampfte sich, als er den Schub zu bewältigen versuchte, von dem ihm übel wurde.

,,Warum hast du verdammt nochmal nicht auf mich gehört, Kili?!“ Wieder fasste Fili sich in die Haare.

Oin wischte seinem Bruder den kalten Schweiß von der Stirn. ,,Wir dürfen den Kopf nicht verlieren, Junge.“

Bofur stand völlig aufgelöst da. ,,Wo sollen wir denn jetzt hin?“

,,Wir müssen bei Bard unterkommen“, antwortete Fili ihm.

,,Er wird uns nicht mehr helfen.“

,,Hast du eine anderen Vorschlag?“

,,Fili“, keuchte Kili, bemüht nicht zu schreien. ,,Meine Hand.“

Alle sahen auf seine rechte Hand. Oin nahm sie, drehte sie.

Die Adern im Gelenk waren dunkel wie Blutegel. Er hatte sie zur Faust geschlossen, konnte sie nicht mehr öffnen.


Bard öffnete die Tür und als er die Zwerge sah, wurde seine Miene noch finsterer. ,,Nein. Von Zwergen hab ich genug. Verschwindet!“ Er wollte sie wieder zuknallen, doch Bofur krallte sich daran fest. ,,Nein, nein, bitte!“ Notgedrungen hielt Bard inne. ,,Niemand will uns helfen. Kili ist krank.“ Er warf einen Blick zu ihm. ,,Sehr krank.“

Bard erblickte den jungen Zwerg, der zitternd und leichenblass einem Schatten glich.


~


Die Ruder brachen die stille Wasseroberfläche und zogen große Kreise hinter sich her. Kleine Eisschollen trieben auf dem Wasser, über dem feine Nebelschwaden lagen. Fast lautlos glitt das Boot über den Langen See.

Thorin blickte dem mächtigen Berg entgegen. Wie sein Atem-hauch kamen ihm kalte Winde entgegen und fuhren durch seine Haare. Sein Blick ging über die mit Schnee besprenkelten Hügel, die immer höher anstiegen. Die weiße Bergspitze war von feinen Wolken umwoben. Im Hochland gab es ein Tal.

Dort mussten sie hin.

Der Bug schrappte geräuschvoll über den Kies am anderen Ufer. Die Männer sprangen aus dem Boot und ließen es, ohne es festzumachen, am Ufer.

,,Legt die Rüstungen ab“, kommandierte Thorin. ,,Nehmt nur

das mit, was notwendig ist.“

Die Männer entledigten sich den gegebenen Sachen.

Bilbo sah auf die Brosche, die er getragen hatte. Ungesehen verschwand sie in seiner Hosentasche.


~


,,Legt ihn dort hin.“ Bard wies auf das Bett in der Schlafkammer, nachdem sie Kili und sich die unhandlichen Rüstungen und Mäntel ausgezogen hatten. Fili stützte seinen Bruder, der sich an ihm festklammerte, um sein Bein zu entlasten.

,,Fili…mir ist schlecht“, keuchte er, kniff die Augen zusammen.

,,Wenn du dich übergeben musst, ist es in Ordnung.“

Oin wickelte währenddessen den provisorischen Stofffetzen von seinem Bein. Bard hinter ihm verfolgte es.

,,Was ist mit ihm passiert, Papa?“ fragte Tilda, die Augen groß und ängstlich. Fest hielt sie ihre Puppe im Arm.

Beruhigend strich ihr Bard über die Haare, doch dann wurde

sein Gesicht aschfahl. Wie erstarrt regte sich auch der Mediziner

vor ihm nicht mehr.

,,Oin, was ist?“, fragte Fili, schaute zur freigelegten Wunde und erschauderte. Sie war schwarz. Wie Würmer hatten sich dunkle Linien von ihr ausgebreitete. An ihren Wundrändern drang

eine dunkle, blutige Flüssigkeit heraus.

,,Morgul“, flüsterte der alte Zwerg.

,,Sigrid“, rief Bard seine Älteste. ,,Nimm deine Schwester zu dir.“

,,Fili…“ Kili krümmte und übergab sich.

Fili fing ihn auf und nahm ihm die Haare aus dem Gesicht.

Er würgte, schnappte nach Luft, so als würde er ersticken und abermals durchfraß Fili die Angst um das Leben seines Bruders.

























18



Seine Schritte waren kräftig und vorantreibend. Jeder brachte ihn näher an sein Ziel. Und das war seine immerwährende Motivation, für das zu kämpfen, was ihm am Wichtigsten war.

Seine Heimat. Das Gold seines Volkes, den Thron seiner Väter.

Der Arkenstein.

Der Aufstieg zerrte an ihren Kräften. Die kalte Luft brannte in den Atemwegen und erschwerte es, das hohe Tempo zu halten, welches ihr Anführer eingeschlagen hatte, um es bis zum Sonnenuntergang zur Geheimen Tür zu schaffen. Am Ufer und die ersten zwei Meilen bergauf hatten sie noch spärliche Büsche vorgefunden, doch jetzt gab es nichts mehr. Auch keinen befestigten Weg. Der Weg nach oben war die einzige Richtung.

Flache Hochebenen wechselten mit weitläufigen Berghängen und Gesteinsfeldern. Der Schnee lag hier schon länger und wurde mehr, als sie die höheren Hänge erreichten.

Wenn sie Geröllfelder überquert hatten, hatte Thorin bedacht den Weg vorgegeben, den Untergrund mit seinem Schwert geprüft.

,,Trete dorthin, wo auch dein Vordermann seinen Fuß gesetzt hatte“, hatte Ori zu Bilbo geraunt. ,,Wenn man auf lose Steine tritt, können diese einem den Knöchel brechen.“ Doch er musste umständlich weite Schritte machen, denn vor ihm ging Dwalin und dieser hatte nicht nur größere Schritte, sondern überragte den jungen Zwerg auch um Haupteslängen.

Sonst sprachen sie kaum miteinander. Aufregung und Enthusiasmus war genauso deutlich zu spüren, wie Erschöpfung.

Felsen ragten aus dem Boden, waren ihre einzigen Zuschauer. Nur die eisigen Winde peitschten über sie, johlten und pfiffen an ihrem rauen, zerklüfteten Gestein vorbei.

Wenn Bilbo sich nach rechts und links wandte, kam es ihm vor,

als wanderte er im Himmel. Er sah nur noch Wolken und das Himmelblau, das fast zum Greifen nah war, und fühlte sich winzig und unbedeutend auf dem gewaltigen Berg.

Als sie ein ausgedehntes Hochplateau erreichten, war jeder erschöpft. Sie hatten keine Pausen gemacht, obwohl sie seit Stunden unterwegs waren.

Erbärmlich aussehende Reste von verkrüppelten Bäumen stan-den in kleiner Zahl in der trostlosen Landschaft. Bilbo fröstelte, fasste sich ans nackte Kinn und an den Hals, wo sich die Haut schon ganz taub anfühlte. Er zog seinen, mit beigem Schafsfell gefütterten blauen Mantel höher und blieb stehen, um seinen Blick schweifen zu lassen. ,,Es ist so still.“

,,So war es nicht immer, mein Junge“, seufzte Balin, der zu ihm getreten war. ,,Einst waren diese Ebenen bedeckt mit Wäldern“, er zeigte mit seiner behandschuhten Hand über sie, ,, und die Bäume gefüllt mit Vogelgesang.“

Als er diese kahle Ebene sah, konnte Bilbo es sich nur schwer vorstellen. Auch sechzehn Jahre danach waren die Spuren des Drachenfeuers noch sichtbar. Dann entdeckte er zu seiner Verwunderung jedoch einen einsamen Vogel, der sich in seiner Nähe auf einen Felsen niederließ. Er beobachtete das Tier, das ihm ebenfalls mit braunen Knopfaugen ansah und seinen kleinen Kopf schieflegte, als fragte es sich ebenfalls, was sie hier taten.

,,Entspannt Euch, Meister Beutling“, murmelte Thorin, nach-dem er gesehen hatte, wie dieser sich vermehrt umgesehen hatte. ,,Wir haben Vorräte und Decken und wir machen guten Weg.“ Auf einmal wurden seine Schritte langsamer, bis er schließlich stehen blieb, denn die Felsen, die soeben noch den Blick voraus verborgen hatten, öffneten sich nun und gaben ihn frei.

Thorin rannte voraus und blieb erst am Rand der Kuppe stehen. Mit klopfendem Herzen schaute der Zwergenkönig in das Tal von Dale, das umschlossen von den schneebedeckten Gipfelhängen und massiven Felsgestein vor ihnen lag.

Kalte Wolken umwoben die Ruinen der Stadt, die etwas westlich lag. Er konnte die mächtige Brücke erkennen, die zur nordöst-lichen Seite führte. Von ihr fehlten Quader. Auch die Mauer, die die verlassene Stadt umgab, war an manchen Stellen gerissen, Dächer vieler Häuser und Türme eingestürzt.

,,Was ist das für ein Ort?“

Thorin hatte nicht gemerkt, dass seine Gefährten an seine Seite getreten waren. Ori hatte die Frage gestellt.

,,Einst war das die Stadt Dale“, antwortete Balin. ,,Jetzt ist es eine Ruine. Es ist nur noch Smaugs Einöde.“

,,Die Sonne erreicht bald ihren Zenit“, stellte Thorin mit wachsendem Druck im Nacken fest. Sie konnten nicht länger hier stehen bleiben und den Ausblick bestaunen. Im Moment war die Zeit ihr größter Feind. Noch.

,,Wir müssen die Geheime Tür in den Berg finden, ehe die Sonne untergeht. Hier entlang.“

,,Warte“, hielt Bilbo ihn zurück. ,,Ist das hier…der Aussichts-posten? Gandalf sagte, wir sollen uns hier treffen. Auf keinen Fall sollen wir…“

,,Siehst du ihn vielleicht?“, unterbrach Thorin ihn. ,,Wir können nicht auf den Zauberer warten. Wir sind auf uns gestellt.“ Er richtete seinen Blick über ihn hinweg und zum Ziel ihrer Reise. Sie würden es zu Ende bringen. Hier und heute.

Mit oder ohne den Zauberer.

Als Thorin seine Männer zusammen rief, zögerte Bilbo.

Wo mochte der Zauberer bloß sein? Wo wollte er hin und…was hatte ihn aufgehalten? Ihm blieb nichts anderes übrig, als den anderen zu folgen, doch er machte sich ernsthafte Sorgen, um Gandalf und um dessen Worte.

Bilbo schloss wieder zu den Zwergen auf, die einen schmalen Weg hinab in das Tal eingeschlagen hatten. Es war eher ein Pfad als ein Weg. Gelbes Gras wuchs zwischen den Felsen.

,,Die Strecke außen herum ist zu zerklüftet“, sagte Thorin, der

mit großen, sicheren Schritten den steilen Pfad hinab ging. ,,Wir müssen durch das Tal auf die Westseite des Gipfels. Dort liegt der Karte nach die Tür.“

Je tiefer sie stiegen, desto deutlicher merkte Bilbo, welche Größe das Tal besaß. Um Dale herum ersteckte sich eine riesige Ebene, die zum Tor des Zwergenreiches etwas anstieg.

Als die Gefährten den Abstieg gemeistert hatten, schlugen sie den Weg ein, der nach Dale und Erebor führte. Thorins Herz pochte spürbar in ihm, als er auf seine Heimat zuging. Es fühlte sich an, wie heimkommen. Er blickte über die sanften Hügel und belebte für einen kleinen Moment Bilder aus seinem Traum wieder. Doch vom hohen Gras, in dessen Schutze sie sich geliebt hatten, war kaum noch etwas vorhanden. Niedrig und spärlich wuchs es jetzt. An vielen Stellen war es verdorrt.

Kurz bevor sie das Haupttor erreichten, rasteten sie für eine Pause. Dickes Gestein war hinter der kleinen Brücke, die über einen Graben führte, in den Durchbruch gefallen, den der Drache einst schlug. In Thorin hallte die gewaltige Erschütterung wieder, als er den zugeschütteten Eingang betrachtete und ihm war so, als könnte er erneut die Hitze des Feuers auf seinem Gesicht spüren, als der Drache sich seinen Weg in den Berg an jenem schicksal-haften Morgen gebahnt hatte.

Bilbo holte seinen Trinkbeutel hervor und setzte sich auf einen der Steine, die den Weg säumten, um auch seinen Beinen eine kurze Pause zu gönnen. Er war überwältigt von der Größe und Erscheinung des hohen Tores und zudem vom Geschick der Zwerge. Neidvoll betrachtete er die riesigen Statuen, die den Eingang Erebors flankierten. Beide Zwerge trugen eine Rüstung und knieten mit einem aufgestellten Bein, eine Axt mit beiden Händen wachsam und warnend erhoben. Hobbits konnten so etwas nicht vollbringen. Sie verstanden nichts vom Bildhauen oder der Bearbeitung von Gestein.

,,Die Wächter von Erebor.“

Bilbo fuhr herum und sah zu Thorin hinauf, der plötzlich neben ihm auf den Knauf seines Schwertes lehnte.

,,So alt wie das Reich selbst.“

,,Sie sind wunderschön.“

Thorin musste schmunzeln, richtete dann den Blick nach Westen. Wind und strenge Kälte hatten den Wasserfall gefrieren lassen. Dies war in der Vergangenheit nur sehr selten passiert. Hier im Hochland herrschte wohl schon länger diese Kälte. Unter der Eisdecke war jedoch noch fließendes Wasser, denn der Fluss kam unter dem Eis wie seine Lebensader hervor, wenngleich auch etwas kleiner. Die Mauern und die beiden Türme des Wach-postens oben beim Wasserfall am Rabenberg waren ebenfalls beschädigt.

,,Wir müssen dort hinauf und auf der anderen Seite wieder hinab.“

Bilbo folgte seinem Blick. ,,Dort hinauf?“ Besorgt legte er die Stirn in Falten. ,,Wir werden klettern müssen.“

,,Es gibt einen Weg zum Rabenberg“, erwiderte Thorin. ,,Man sieht ihn nicht von hier. Auf! Wir gehen weiter!“, verkündete er dann.


~


Es hatte die ganze Nacht über geschneit, trotzdem war der erste Schnee an vielen Stellen im Wald schon wieder verschwunden. Zwischen den Bäumen tauchte Kerrt auf. Bei seinem Anblick ging Marie schnellen Schrittes weiter bis der Trampelpfad sie davon wieder wegführte, als würde auf dem Dorf ein Fluch liegen, der sie davon abhielt, sich ihm zu nähern.

An diesem Tag war sie noch vor der Dämmerung aufgestanden. Sie hatte Holz geholt und gleich ein neues Feuer gemacht. Dann hatte sie einen Eimer Wasser nah an den Kamin gestellt, bevor sie ihre Tiere versorgen ging, um sich damit gründlich zu waschen. Einen großen Teil der gemolkenen Milch hatte sie in die kleinen Milchkannen gefüllt, die sie Anna für die alte Ginja mitgegeben hatte, die, bevor sie zur Arbeit ging, ein wenig Proviant gebracht hatte. Marie hatte es bezahlt und seit Tagen ihr erstes Frühstück eingenommen. Sie hatte wirklich Hunger gehabt, sich deshalb mehrere Brotscheiben dick mit Marmelade bestrichen. Nach dem Waschen hatte sie sich warme Sachen rausgesucht. Es waren Klamotten von ihrem Vater, die sie in ihrem Schrank aufbewahrte. Hinterm Haus hatte sie sich mit dem Rest des Wassers und einem duftendem Kräuterwasser die Haare gewaschen, die sie sich eine gefühlte Ewigkeit trocken reiben und die Knoten auskämmen musste. Fleißig hatte sie auch ihre angefallene Wäsche gewaschen, alles anschließend in ihrem Wohnraum zum Trocknen aufgehängt. Sie konnte nicht länger rumsitzen und sich in Selbstmitleid suhlen. Davon würde es letztendlich nicht besser werden.

Mit den Steckrüben, die sie auf dem Markt an jenem Morgen gekauft hatte, ergaben ihre restlichen Kartoffeln einen Gemüse-eintopf. Er war nicht deftig, Fleisch fehlte, doch Marie würzte ihn gut, sodass sie ihn mit Hunger verzehrte. Beim Essen nahm sie sich fest vor, in den nächsten Tagen Brot zu backen und Hilda die alte Ziege mitzugeben.

Die Abwechslung durch die Arbeit tat gut und so hatte Marie die Gedanken an ihn für ein paar Stunden beiseite schieben können.

Es roch nach weiterem Schnee. Die Luft war kalt und klar und Marie saugte sie begierig ein. Wieder wurde sie von einem Schub Bauchkrämpfe geplagt. Das kommt davon, wenn man so viel in sich hineinstopft, tadelte sie sich selbst. Sie trug den Gürtel ihres Vaters, ihre Sichel in der Hoffnung in einer der Schlaufen, vielleicht noch verwertbare Pflanzen zu finden, ehe sie gänzlich erfroren. Unter der Hose trug sie lange Kniestrümpfe, dazu gehäkelte Handschuhe, die die Finger freiließen, und ihren Umhang, sodass sie nicht fror.

Still und schweigend standen die Bäume um sie. Wie ein Kind ließ Marie ihre Winterstiefel durch das Laub schlurfen. Sie hatte mehrere Socken angezogen, da sie viel zu groß waren. Sie dachte, sie trägt die Schuhe eines Riesen. Doch es waren ihre eigenen, Überbleibsel aus ihrem vorherigen Leben, bevor er eines Nachts ihr gegenüberstand.

Es waren nur wenige Tage gewesen, doch durch die Gefährten und besonders durch das Wiedersehen mit Thorin schien ihr Leben davor belanglos und unwichtig zu sein. Als die Gedanken zu ihm zurückkehrten, fasste sie wie von selbst zu ihrem Schlüsselbein und ihre Finger fuhren über einen der dünnen, geflochtenen Zöpfe. Ein trauriges Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. Sie hatte nicht anders gekonnt.

Als würde sie ein Schatz bewahren, legte Marie ihre Haare wieder darüber. Das Wiehern eines Pferdes ließ sie aufhorchen.

Marie blieb stehen und schaute sich um, konnte jedoch zwischen den Bäumen keine Bewegung erkennen. Dann hörte sie eine Stimme. Sie ging weiter und hinter einer Wegbiegung tauchten nach kurzer Zeit die Verursacher auf.

In einer Senke des Weges steckte ein kleiner, lila angestrichener Wagen im Schlamm fest. Er wurde von einem Pony gezogen. Der Fuchs zog, doch die Räder steckten fest. Eine alte Frau trieb das Tier mit guten Worten an, zog an seiner Trense.

,,So wartet!“ Marie beschleunigte ihre Schritte. ,,Lasst mich Euch helfen!“

,,Oh… Na sowas…“ Die Alte drehte sich um und beäugte sie überrascht. Sie war ziemlich alt, aber noch gut auf den Beinen. Mehrere geblümte Röcke trug sie übereinander. Um ihre langen, weißen Haare hatte sie ein Tuch gebunden. Lange, silberne Ohrringe hingen neben ihrem faltigen Hals.

Marie fühlte sich unbehaglich, weil die Frau sie so lange taxierte. Vielleicht lag das auch an ihren Augen; das rechte war strahlend blau, das linke grau wie ein Nebelschleier.

Was musste sie wohl für einen komischen Anblick abgeben. Sie trug Männerhemden und sogar eine Hose, dazu Stiefel, die eben-falls wie vieles an ihr nicht zu ihrer ungewöhnlichen Körpergröße passten. Die verschiedenfarbigen Augen starrten sie an und Marie fühlte sich, als könnten sie wie durch Glas durch sie hindurch sehen.

Gerade, als sie etwas sagen wollte, breitete sich ein unerwartet sympathisches Lächeln auf ihren Lippen aus. ,,Gut, Mädchen, gut. Schiebt Ihr nur kräftig den Wagen. Meine Jolanda wird den Rest schon schaffen.“

Marie stieg durch den Morast und legte die Hände ans Holz. Das Pony zog abermals an und sie stemmte die Beine in den glitschigen Boden. Mehrmals rutschte sie weg. Tatsächlich kamen die Räder nach ein paar wenigen Versuchen vorwärts und zusammen schafften sie es, den Wagen aus dem Schlamm zu bekommen.

Der Fuchs zog ihn noch zufrieden schnaubend ein paar Meter auf sicherem Weg, sodass seine Besitzerin ihn sogar zügeln musste. ,,Ho! Das reicht, mein Mädchen.“ Sie gab ihr einen sanften Klaps, ließ die Zügel locker auf ihrem Rücken liegen. Dann wandte sie sich an Marie, die mühsam aus dem Schlamm gestapft war und nun mit dreckverschmierten Füßen neben ihr stand. ,,Meine Jolanda ist zwar schon alt, aber immer noch ein ausgezeichnetes Pony. Sie warnt mich normalerweise vor gefährlichen und unwegsamen Stellen. Doch meine Augen scheinen auch nicht mehr das zu sein, was sie mal waren.“

Während die Alte sprach, trat Marie näher und streichelte dem Tier über den Hals. Von Pferden hatte sie keine Ahnung, hatte auch noch nie auf einem gesessen. Als Kind hatte sie Angst vor den großen Tieren gehabt, doch dieses Pony hatte genau die richtige Größe für sie. Jolanda wandte den Kopf im Geschirr und sah sie an. Auf ihrer Stirn war ein weißer Stern.

,,Sie möchte sich bei Euch bedanken“, meinte die Alte lachend.

Noch etwas vorsichtig streichelte Marie ihr zwischen den Augen. Das Pony hob den Kopf und ihre Hand legte sich so an seine

Nüstern. Sie wunderte sich, wie samtweich sie waren.

Seine Besitzerin hatte dies sehr aufmerksam beobachtet.

Als sie ihre Ohrringe klimpern hörte, ließ Marie von dem hübschen Pony ab. Flink klappte die Frau die Seitenwand auseinander. ,,Bitte, nehmt Euch zum Zeichen meiner Dankbarkeit etwas von meinen Sachen.“ Sie wies in ihren Wagen, in dem allerlei Plunder lag.

,,Das habe ich gern gemacht. Ich verlange dafür nichts.“

,,Seid nicht so bescheiden, Mädchen! Kommt und seht Euch in Ruhe um.“

Marie wollte nicht unhöflich sein und trat deshalb näher.

An Haken und an der Decke entlang gespannt hingen allerlei Schnickschnack, verbeulte Töpfe und Pfannen aus Kupfer und Eisen. Körbe von Stoffen und Tüchern und Schachteln voll bunter Steine standen am Boden. Ein paar Eichhörnchen- und Wiesel-felle hingen an der Seite.

,,Ich kann mich an jeden meiner Kunden erinnern“, erzählte die Alte neben ihr und beobachtete ganz genau die Bewegungen ihrer Augen.

Marie entdeckte Spiegel- und Scherbensplitter, die an einem runden Gebilde hingen und bunte Lichtflecken an das Holz warfen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und stupste eines davon an. Es begann sich zu drehen und die Lichtflecken flogen wie Schneeflocken in einem Sturm über das Holz.

,,Meine Sachen suchen sich die Menschen aus, nicht umgekehrt“, sagte die Stimme neben ihr und ließ Marie ihre Hand zurück ziehen. Was soll das bedeuten?

Die Alte bemerkte ihre Reaktion. ,,Ich kann Euch aber auch aus Euren Händen lesen, wenn Ihr mögt.“

Sie kannte die Trickbetrüger, die unter dem Fahrenden Volk waren. Sie führten die Leute an der Nase herum und bekamen von Gutgläubigen Geld für ihren geredeten Unsinn. ,,Ich glaube eigentlich nicht daran…“, wollte Marie sagen, doch es gab genug Zauber in dieser Welt. Und zweifellos hatte sie einen am eigenen Leib erfahren. Warum soll es nicht auch so eine Art von Magie geben? Vielleicht kann sie mir sagen, ob ich ein Kind empfange... Unbewusst fasste Marie an ihren Bauch. Als sie den Blick von der Alten und ihre gedankenverlorene Geste selber bemerkte, nahm sie eilig die Hand wieder weg, umklammerte sie stattdessen mit der anderen. Schnell schaute sie sich weiter um.

,,Ihr hattet etwas bei Euch…“, raunte sie, so leise, dass Marie es zunächst gar nicht wahrnahm. ,,Wie bitte?“

,,…von mir.“

Verwundert sah Marie sie an. Die fremde Frau flößte ihr auf

einmal einen riesen Respekt ein, wie sie sie wieder so intensiv anstarrte, und als sie fortfuhr, durchzog ein Schauer ihren ganzen Körper; ,,Euer Vater…“

,,Mein Vater?“, wiederholte sie tonlos.

Nun blinzelte die Alte. Der starre Ausdruck wich von ihr. ,,Wie gesagt, ich erinnere mich an jeden meiner Kunden. Einst kaufte er…ja, er kaufte eine Kette bei mir.“

Aber das kann doch gar nicht sein…Unmöglich.

,,Ja, ich kann mich noch genau daran erinnern. Er wusste nicht, dass er meinen wertvollsten Besitz mit nach Hause trug.“ Nachdenklich schwieg sie kurz, ehe sie plötzlich Marie streng in die geweiteten Augen sah, die immer noch unfähig neben ihr stand. ,,Gebt Eure Hand“, befahl sie mit todernstem Ausdruck. Doch Marie machte keine Anstalten sich zu bewegen.

,,Eure Hand!“ Sie wartete nicht, bis sie reagierte. Wie Klauen streckten sich ihre dürren Finger aus und griffen danach.

Als ihre langen Fingernägel des Zeige- und Mittelfingers die Linien auf ihrer Handfläche nachzogen, konnte Marie kaum ruhig stehen bleiben. Wie in einem Schraubstock wurde sie festge-halten. Sie war unfähig sie wegzuziehen, ihr Körper wie gelähmt.

,,Ein Schatten hat die Hand nach ihm ausgestreckt… Unabwendbar. Er schwebt in Gefahr…“

Ihr wurde heiß und kalt zugleich. Marie fand ihre Stimme wieder, doch mehr als ein gehauchtes ,,was?“ konnte sie nicht aufbringen.

,,Ich sehe Gold… Ich sehe einen König…“

Thorin… Als sie erkannte, dass sie über Thorin sprach, lief es ihr den Rücken hinunter. ,,Was seht Ihr?“ Unverständliches murmelte die Frau vor sich her, während sie immer wieder die Linien nachzog. ,,Bitte, sagt es mir.“

,,Die Kette…Er ist der Träger der Lyrif-Kette…“

Lyrif? Was hat das zu bedeuten?

Auf einmal durchfuhr die Alte ein Zittern. Sie ließ ihre Hand fallen und wich zurück, als fürchte sie sich vor etwas. Ihre Augen waren groß, zitterten in ihren Höhlen. ,,Doch die Kette kann ihren Träger nicht vor sich selbst beschützen.“

,,Was bedeutet das?“

Sie schütterte den Kopf. ,,Ich muss nun weiter, Mädchen.“

Sie wandte sich ab, klappte stumm die Seitenwände ihres Wagens wieder zu.

Sie konnte doch jetzt nicht gehen! ,,Nein, bitte…erzählt mir mehr.“ Die Alte saß bereits auf dem Bock. ,,Bitte! Wartet!“ Marie eilte neben den Wagen, klammerte sich daran fest. ,,Ihr habt gesehen, was passieren wird, oder?“

Lange sah die Alte sie an, beugte sich schließlich zu ihr hinab und berührte ihre Wange. ,,Du bekommst die Antwort auf eine Frage.“ Mit einem Schnalzen ging Jolanda voran.

Wie erschüttert blieb Marie stehen. Welche Frage?

In ihrem Kopf herrschte das blanke Chaos. Wie konnte sie da klare Gedanken fassen? Sie schaute dem lila Wagen hinterher, der bereits um die nächste Kurve bog. Sie musste mehr wissen. ,,Wartet!“ Marie rannte ihm hinterher, doch als sie die Kurve erreicht hatte, war der Weg leer. Wie vom Blitz geschlagen blieb sie stehen. Da war niemand mehr. Nichts und niemand.

Die Alte und ihr Pony waren vom Erdboden verschluckt.

,,Nein…“ Marie schaute sich ergebnislos um.

Nur der Wald und niemand sonst.

Was war das eben gewesen? War es wieder nur eine Einbildung? Sie schaute auf ihre Hand. Die Handfläche und ihr Gelenk waren etwas gerötet von den Nägeln und dem festen Griff der Frau. Nein, es war echt gewesen. War sie eine Hexe?

Fragen, auf die Marie keine Antwort wusste.

Wie fallen gelassen und am Boden aufgeschlagen machte sie kehrt, ihr blieb ja eh nichts anderes übrig. Nach ein paar Metern lehnte sie sich gegen einen Baum, legte den Kopf zurück an den Stamm und schaute an ihm hinauf in seine Krone.

Welche Frage? Unendlich viele schwirrten ihr im Kopf umher und die Weissagungen waren keine Hilfe dabei. Im Gegenteil.

Langsam ließ sie sich auf die Wurzeln sinken. Ihr war auf einmal kalt und so zog sie die Knie an, schlang die Arme darum, das Kinn darauf gelegt. Thorin, wo bist du? Wenn ich nur wüsste, ob es dir gut geht. Bitte… Ich versteh das alles nicht...

Wieder verspürte sie ein Ziehen im Bauch. Sie fühlte den Schmerz in ihrem Inneren, der ihr bekannt vorkam.

Du bekommst die Antwort auf eine Frage…

Maries Kopf hob sich. Sie streckte die Beine aus, hob den Gürel und schob ihre Hand in ihre Hose hinein, schloss dabei fest die Augen. Dann zog sie sie wieder hervor und öffnete sie mit angehaltenden Atem.

Dunkles Blut war an ihren Fingerspitzen.


~


Geröll und Stein. Das war alles, was sie sahen. Thorin rammte sein Schwert in den Grund. ,,Seht ihr was?!“

,,Nichts!“, brüllte Dwalin zurück.

Die Gefährten hatten sich verteilt und glichen Ameisen in der Landschaft. Sie befanden sich in einer Senke, zu deren beiden Seiten sich Felswände erhoben. Ein kleiner Wasserfall fiel rechts von ihnen an Felsen hinab und schlängelte sich davon.

Seit der kleinen Pause waren sie wieder Stunden unterwegs gewesen – noch immer ohne Anhaltspunkte auf die richtige Stelle. Thorin holte die lederne Hülle aus seinem grau-beigen, grob gewebten Mantel hervor, schnürte sie auf und betrachtete eingehend abermals das Pergament. ,,Wenn die Karte stimmt… liegt die Geheime Tür direkt über uns.“ Erwartungsvoll schaute er sich um. Doch niemand von ihnen wusste, wonach sie genau suchen sollten. Wie sollte man eine Tür finden, die durch einen Zauber verschlossen war, noch dazu, wenn sie für Unbefugte nicht zu finden sein sollte?

Weiter oben im Hang war Bilbo am Suchen. Alles sah gleich aus – Felsen, Geröll, Gräser, Moos, Geröll, Felsen, Steine, Moos, Steine… Bilbo machte dicke Backen und näherte sich unbewusste einer hervorstehenden Felswand. Als er um ihre Kante sehen konnte, erblickte er bearbeitetes Gestein. Schnell kletterte er weiter und hinter der Ecke fiel sein freier Blick zuerst auf klaren Kanten, die nach oben führten. Treppenstufen.

,,Hier oben!!“, rief er aufgeregt den Hang hinab. Erst dann hob er den Kopf und ihm fiel die Kinnlade hinunter.

Es war eine riesige Statue von einem Zwerg. Versteckt hinter Felsen führten die Stufen bis zu seinem Arm empor. Beidhändig hielt er eine Streitaxt mit doppeltem Blatt. Trotz seiner Größe, war der Zwerg perfekt im Gestein versteckt. Man konnte ihn nur sehen, wenn man im richtigen Winkel auf ihn zuging.

Hinter ihm kam Thorin den Hang hinauf gerannt. ,,Du hast scharfe Augen, Bilbo Beutling.“


Die großen Treppenstufen verliefen parallel im Zick-Zack

hinauf. Immer wenn man die Richtung ändern musste, musste man über einen kleinen Vorsprung in der Wand auf die andere Seite wechseln. So erreichten sie schnell eine schwindelerregende Höhe. Thorin ging wieder als Erster. Er konnte es nicht erwarten, endlich vor dem Ziel ihrer Reise zu stehen, spürte seine müden Beine und seinen leeren Magen nicht.

Hinter ihm befand sich Bilbo, der mit großen Augen nur über die Kunst der Steinmetze staunen konnte. Was er nicht wissen konnte war, dass es eine Staue von Thror war.

Thorin war verwundert, als er sie erblickt hatte, denn er selbst wusste nichts über ihre Existenz an diesem Ort. Entweder sein Großvater hatte es ohne Absprache in Auftrag gegeben oder nie ein Wort darüber verloren. In den letzten Monaten, die sie in Erebor gelebt hatten, hatte der Größenwahn von Thror zugenommen. Zuletzt war er dabei gewesen, eine Statue von sich aus reinem Gold errichten zu lassen.

Unter sich hörte er das Schnauben und Stöhnen von manchen. Besonders Bombur hatte zu kämpfen. Manche der Gefährten halfen sich gegenseitig die Treppe zu erklimmen.

Abermals mussten sie zur gegenüberliegenden Seite wechseln.

Thorin sah die spröde Stelle des Vorsprungs, machte einen größeren Schritt. Bilbo nicht, denn er trat auf genau diese Stelle.

Das Gestein bröckelte und fiel in die Tiefe. ,,Aah!“ Er drohte zur Seite zu kippen, fing an, mit den Armen zu rudern.

,,Bilbo!“ Thorin fuhr herum, packte den Hobbit am Mantel und zog ihn zu sich. Von seiner Kraft wurde Bilbo auf die Stufen geworfen. ,,Pass auf, wo du hintrittst.“

Auf allen Vieren kniend keuchte er und nickte bloß.

Thorin atmete durch, machte dann eine Kopfbewegung die Stufen hinauf. ,,Geht vor, Meister Beutling, damit ich Euch im Auge hab.“ Wir brauchen Euch schließlich noch…

Bilbo rappelte sich auf, strich seine Kleidung ab und ging an ihm vorbei. Thorin folgte ihm.

Als sie aus dem offenen Treppenschacht der schon sehr tief stehenden Sonne entgegen traten, wurden sie von deren langen Strahlen geblendet. Nun fanden sie sich an der linken Hand von Thror wieder. Sie überquerten den Handrücken und gingen auf der ansteigenden Fläche des Axtgriffes weiter.

Bilbo nahm sich einen Moment Zeit und ließ seinen Blick schweifen, denn wenn man unter der Erde wohnte, genoss man solch weite Ausblicke besonders. Man konnte meilenweit sehen. In der Ferne glitzerte der See, auch Esgaroth konnte er als dunklen Fleck darauf erkennen. Doch dann schaute er nach unten. ,,Oh, nein...“ Fest kniff er die Augen zu und verharrte regungslos. Er wusste nicht, wie viele Meter es zu seinen beiden Seiten abwärts ging und wollte es auch gar nicht wissen.

,,Geht weiter, Meister Beutling.“ Thorin klopfte ihm auf die Schulter.

Nicht runter schauen... Mit winzigen Trippelschritten ging er weiter. Nur nicht runter schauen…

Thorin musste ihn fast vor sich her schieben. Als der Hobbit die Axt erreichte, krallte er heilfroh die Hände in ihr Blatt, während Thorin empor schaute. Ihr Ziel war so greifbar nah. Sein ganzer Körper pochte vor Aufregung.

Sie würden es rechtzeitig schaffen.

Hinter dem Blatt, an der rechten Seite der Staue ging der Weg weiter. Steile Treppenstufen waren in den prächtigen Bart gehauen worden. Mit zitternden Knien ging Bilbo das letzte Stück vor ihm. Die Gewissheit auf das Ende des Anstiegs und das baldige Erreichen der Tür ließ alle die Anstrengungen vergessen. Thorin schaute in das gemeißelte Gesicht seines Großvaters und erkannte seine eigenen Gesichtszüge. Sein Erbe war gekommen, um sich das zu nehmen, was ihm gehörte.

Die Gefährten kamen auf einem geräumigen Felsvorsprung heraus. Vor ihnen befand sich nichts als eine Felswand. Der Weg endete hier und somit musste es hier sein. Thorin durchströmte ein Gefühl des Triumphes. Die Tür. Sie war hier. Da bestand kein Zweifel. Für einen Moment fühlte es sich an, wie ein Traum.

Ein Traum, der endlich wahr werden würde.

Vor der Wand blieb er stehen. ,,Das muss sie sein… Die Geheime Tür.“ Alle Zwerge hatten inzwischen zu ihnen aufgeschlossen, als ihr Anführer den Schlüssel hervor holte. Er war nicht nur der Schlüssel für diese Tür, sondern auch der für den Beginn ihrer Zukunft und der ihres Volkes. Thrain hatte ihn Gandalf gegeben und nun reckte sein Sohn ihn voller Stolz seinen Männern ent-gegen. ,,Sollen alle, die an uns zweifelten, diesen Tag bereuen!“ Seine Männer brachen in bekräftigendem Jubel aus.

,,Also dann…“, Dwalin warf sein Gepäckbündel zu Boden, ,,wir haben einen Schlüssel“, und begann, die Wand abzutasten. ,,Das bedeutet irgendwo…gibt es auch ein Schlüsselloch...“

Thorin schaute dem einsetzenden Sonnenuntergang entgegen. ,,Der letzte Strahl am Durins-Tag“, murmelte er die Inschriften auf der Karte und drehte sich zu Dwalin um, der die Wand absuchte, ,,wird hinab fallen auf das Schlüsselloch.“

Sie hatten es geschafft. Sie waren rechtzeitig am Durins-Tag an der Geheimen Tür angekommen. Ihre Reise würde hier ein Ende finden. Es war ein Gefühl der Erleichterung und gleichzeitig gedachte Thorin seinem Vater und Großvater.

Er würde es für sie vollbringen.

Die Sonne sank tiefer und Dwalin suchte immer noch, tastete hier und dort. ,,Nori“, raunte Thorin, schickte ihn vor.

Der Zwerg holte ein Löffel und einen eisernen Becher aus seinen Taschen, hockte sich damit vor die Wand. Mit dem Boden des Bechers am Ohr und seiner Öffnung am Fels klopfte er den Löffel gegen das Gestein. Doch die Sonne glitt unaufhaltsam immer weiter hinab und versank bereits hinter dem Bergrücken.

Ungeduldig trat Thorin von einen Fuß auf den anderen. ,,Das Licht schwindet. Macht schon.“

Nori klopfte fester und Dwalin trat mittlerweile gegen die Wand. ,,Sei still. Ich hör nichts, wenn dagegen trittst“, beschwerte er sich.

Unruhe entstand. Sie alle merkten, dass etwas nicht stimmte.

,,Ich find’s nicht“, zischte Dwalin, schlug mit den Händen

dagegen. ,,Es ist nicht hier! Es. Ist. Nicht. Hier!“

Nein… Nein, das kann nicht sein...,,SCHLAGT SIE EIN!“, brüllte Thorin aus Verzweiflung heraus.

Dwalin holte seine Waffe und auch Gloin und Bifur griffen nach ihren. Mit kraftvollen Schlägen sausten die Äxte und Keil-schläge gegen den Fels. Funken stoben zwischen Steinsplittern auf. ,,NA LOS!“, trieb Thorin sie an. ,,Sie muss aufgehen…“ Machtlos starrte er zwischen der Sonne und dem Fels hin und her.

,,Es nützt nichts!“, rief Balin. ,,Die Tür ist versiegelt! Mit Gewalt kommt man hier nicht rein. Ein mächtiger Zauber liegt darauf.“

Die Männer ließen die Waffen sinken und in diesem Moment

versank die Sonne hinter dem Bergausläufern und ihre Strahlen verblassten mehr und mehr. Stille breitete sich unter ihnen aus.

Der Wettlauf war verloren.

,,Nein… Nein!“ Thorin trat dicht an die Tür, holte die Karte hervor und starrte auf die Stelle, wo die Mondrunen sich befanden, die Schrift in Alt-Khuzdul, die bei dem Auflegen auf dem weißen Kristallstein im Mondlicht in Bruchtal erschienen worden war. ,,Ihren letzten Strahl am Durins-Tag…hinab fallen lässt auf das Schlüsselloch...“ Die Zeichnungen und Inschriften begannen vor seinen Augen zu flackern. Fassungslos stand Thorin vor seinen Männern, starrte in leere, schweigsame Gesichter. ,,So…so steht es hier.“ Die Worte blieben im fast in der Kehle stecken. ,,Was haben wir übersehen?“ Er bekam keine Antwort. ,,Was haben wir übersehen? Balin…“

Der alte Zwerg schüttelte den Kopf. ,,Das Licht ist fort. Wir können nichts mehr tun.“

Thorin schaute verzweifelt in den Himmel. Die Abenddäm-

merung verblasste und sie wurden in ein trauervolles Grau gehüllt.

,,Wir hatten nur diesen einen Versuch“, hörte er seinen alten Freund leise sagen. ,,Lasst uns gehen… Es ist vorbei.“

Als Balin langsam ging, regten sich auch die Gefährten.

,,M-Moment mal…“ Bilbo sah ihnen zu, konnte das Gesche-hene der letzten Minuten nur schwer realisieren. ,,Wo wollen sie hin?“, fragte er in Thorins Richtung, doch dieser drehte sich von ihm weg. Nein…Wir sind doch so weit gekommen. ,,Ich dürft jetzt nicht aufgeben!“

Wofür noch kämpfen? Es ist vorbei. All seine Hoffnungen auf ein freies Erebor, die er so viele Jahre lang bewahrt hatte, erstarben auf einem Schlag. Es war nur ein Traum gewesen.

Und nun musste er aufwachen.

So viele… So viele hatten es ihm gesagt…doch Thorin hatte an seinen Träumen und seinem Glauben an das Machbare festge-halten. Ausdruckslos schaute er auf den Schlüssel in seiner Hand. Die ganze Reise lang hatte er ihn bei sich getragen, nun trug er keine Bedeutung mehr, zeigte ihm nur noch, dass er versagt hatte. Die Chance auf die Erfüllung seines Erbes war ihm wie Sand durch die Finger zerronnen.

Die Kordel des Schlüssels ließ er aus seiner Hand rutschen. Das alte Metall fiel zu Boden.

,,Thorin…“

Er schlug ihm die Karte gegen die Schulter. Keine Minute länger würde er sie anschauen können.

,,Du darfst jetzt nicht…aufgeben.“ Bilbo blieb zurück, konnte sich nicht rühren. Die anderen gingen, doch er wollte es nicht.

Er wollte nicht aufgeben, sondern versuchte, sich zu erinnern, was Elrond vorgelesen hatte. ,,Stellt euch an den grauen Stein…wenn die Drossel schlägt…Der letzte Strahl…“ Er schaute in den Himmel empor. In seiner halben Völle erschien bereits der Mond hinter ziehenden Wolken. Etwas knackte neben ihm, ließ ihn sich umdrehen. Ein Vogel saß auf einem Stein und zerschlug ein Schneckenhaus am Fels. Unwirklich laut war das Knacken in der Stille. Gerade als das Haus seiner Beute zerbrach, bewegten sich helle Lichtflecken auf dem Gestein und Bilbo wurde darauf aufmerksam. Der Vogel verputze seine Beute und machte sich zwitschernd davon, die weißen Lichtflecken aber blieben und bündelten sich. Bilbo entglitten alle Gesichtszüge.

Die Lichtflecken verschmolzen zu einem. Und dieser wanderte zu einem kleinen Loch in der Wand, welches gerade so groß war, dass ein Schlüssel hineinpasste.


~


Es lag direkt vor ihnen, doch alles war umsonst gewesen, alles verloren. Der Traum war ausgeträumt. Man erwacht und die Realität kommt zurück mit all ihrer Härte und ohne Gnade.

Denn sie sah ganz anders aus.

Seine müden Beine blieben stehen und Thorin hielt sich am Fels fest, hielt an seiner Heimat fest.

Er konnte noch nicht loslassen.

,,Wo gehen wir jetzt hin?“, hörte er Ori fragen.

,,Zurück in die Blauen Berge“, antwortete Dori leise. ,,Dort, wo wir hingehören.“

,,Ihr werdet gehen.“ Sie drehten sich zu ihm um. ,,Ich werde die Jungs holen und zu Marie gehen.“ Das ist das Einzige, was mir geblieben ist…

Seine Männer nickten betreten, setzten langsam ihren Weg fort.

Thorin sah noch einmal zurück und fühlte, wie er innerlich zu brechen drohte. Mit flackernden Augen ließ er schließlich los und eine Stimme zerriss das Grau der Nacht:

,,DAS SCHLÜSSELLOCH!! KOMMT ZURÜCK! KOMMT ZURÜCK, ES IST DAS LICHT DES MONDES, DES

LETZTEN HERBSTMONDES!!“


~


Bilbo war außer sich vor Freude. Es war der Mond und nicht die Sonne! Doch dann fuhr er zusammen und besann sich wieder. ,,Wo ist der Schlüssel? Wo ist…“ Suchend drehte er sich im Kreis. ,,Er war eben noch hier…Er lag doch eben noch…“

Das konnte doch nicht wahr sein!

Er wirbelte herum und schoss in seinem Eifer den Schlüssel mit seinem Hobbitfuß über den Boden. Er konnte nur unfähig hinter-her sehen, wie der Schlüssel klirrend auf die Klippe zuschoss…

Hart schlug der Stiefel auf den Fels und hielt die Kordel fest unter seiner Sohle. Bilbo schaute auf und sah in das Gesicht von Thorin.



























19



Graue Augen ruhten lange Sekunden auf ihn, ehe Thorin mit angehaltenem Atem langsam in die Hocke ging. Er griff so vorsichtig nach dem Schlüssel unter seinem Fuß, als könnte dieser immer noch jeden Moment über die Felskante ins Bodenlose fallen. Mit diesem in der Hand erhob er sich und wie seine Schatten erschienen neben ihm seine zurückgekehrten Männer.

Thorin hörte nichts außer der Stille, die ihn umgab, als er zur Felswand schritt. Er hob die Hand zum Schlüsselloch, schob den Schlüssel hinein. Der Zwerg spürte durch das Metall hindurch, wie dieser am Gestein entlang schrappte, drehte die Hand, bis es ein dumpfes Knacken gab. Als nichts weiter geschah, stemmte Thorin sich gegen das kalte Gestein und mit einem weiteren Knacken schwang aus dem Nichts die fast einen Meter dicke Tür auf, sodass er bereits einer Einladung gleich in ihr stand und in das Innere des Berges blickte. ,,Erebor…“

,,Thorin…“ Er drehte sich um und sah Tränen in Balins Augen, die so vieles schon gesehen hatten. Bekräftigend legte Thorin ihm die Hand auf die Schulter, doch Balin war nicht imstande etwas zu sagen.

Er richtete den Blick wieder durch die Geheime Tür und wagte einen Schritt. Der rechtmäßige König betrat den Berg.

Rasch gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und Thorin betrachtete das graue Gestein mit seinem typischen grün-lichen Schimmer. ,,Ich kenne diese Mauern…“, flüsterte er mit rauer Kehle, ,,…diese Hallen…dieses Gestein.“ Er berührte die Wand. Sie war kalt, doch steckte voller Erinnerungen.

Hier gehörten sie wirklich hin. Dies war ihre Heimat.

Thorin ließ seinen Blick durch die kleine Kammer schweifen, als

wäre sie nicht real. Ein einziger Gang lief von ihr ab. Stufen

führten ihn hinunter, bogen sich zu einer Kurve, die tiefer in den Berg, in das Zwergenreich führte.

,,Erinnerst du dich, Balin?“, flüsterte er, als er die ersten Stufen hinunter trat. ,,Kammern gefüllt mit goldenem Licht…“ Thorin schloss die Augen, hörte auf den Klang seiner eigenen Stimme, auf die Worte, die tiefe Erinnerungen aus seinen Kindertagen in ihm hervorriefen.

,,Ich erinnere mich“, antwortete Balin leise und fand den Mut, nun auch durch die Tür zu treten, Wangen und Augen vor Ergriffenheit glitzernd. Nach ihm folgten schweigend auch die anderen, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft.

Als Nori die Tür durchschritt, drehte er sich um, zeigte darüber.

Alle folgten ihm.

,,Hierin liegt das Königreich Erebor, Heimat von Durins Volk“, laß Gloin leise vor. ,,Möge das Herz des Berges alle Zwerge vereinen, um diese Heimat zu verteidigen.“ Die Inschriften in Khuzdul zogen sich oben und unten an den Längsseiten der eingemeißelten Tafel entlang. In der Mitte war ein Gebilde mit klaren, geraden Flächen abgebildet.

,,Der Königsthron…“, raunte Balin Bilbo zu, der es fasziniert betrachtete. Jetzt wo er’s sagte, erkannte Bilbo es als Thron.

Er sah mächtig aus. ,,Und…was ist das darüber?“ Über dem Thron schwebte ein runder Punkt, der ihn ein wenig an ein Ei erinnerte. Von diesem gingen Strahlen über das gesamte steinerne Bild, als würde er seine Umgebung erhellen.

,,Der Arkenstein“, antwortete Balin, die Augen ernst in seine gerichtet.

,,Der Arkenstein“, wiederholte der Hobbit. ,,Und was ist das?“

,,Das ist der Grund, Meisterdieb“, Thorins tiefe Stimme erfüllte den Raum, ließ sie zu sich umdrehen, ,,warum du hier bist.“

Etwas verwirrt schaute Bilbo ihn an, dann durch die Runde und bemerkte zu seiner Beunruhigung, dass alle Blicke ausnahmslos auf ihm lagen. Abermals sah er zum Königsthron und dem Stein darüber empor, für den er also überhaupt hier war, und musste an einem unguten Gefühl schlucken. Seine Aufgabe an dieser Mission war also gelüftet. Obwohl Bilbo immer noch nicht wusste, was das für ein mysteriöser Stein war, konnte er seine Bedeutung in diesem Moment nur erahnen.


~


Der ganze Schmerz bündelte sich in seinem Oberschenkel, schoss von dort durch seinen restlichen Körper und setzte ihn in Flammen. Die pausenlose Qual konnte er nicht mehr in sich halten, sodass Kili nichts anderes konnte, als stöhnen und schreien, wenn sich sein Körper in den Wellen verkrampfte, die durch ihn hindurch rollten und ihn zu vernichten versuchten.

Bofur brachte eine Schüssel heißes Wasser ans Bett.

,,Kannst du denn gar nichts machen?“, fragte Fili Oin, blieb ununterbrochen am Kopf seines Bruders, um ihm den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen und ihn bei sich zu halten.

,,Ich brauche Kräuter, etwas um seine Krämpfe zu schwächen.“

Bard holte Säckchen und Dosen hervor. ,,Ich hab Nachtschatten. Ich hab Hundskamille…“

,,Die nützen mir nichts“, erwiderte der alte Zwerg. ,,Habt Ihr denn kein Königskraut?“

Er runzelte die Stirn. ,,Nein, das ist Unkraut. Damit füttern wir die Schweine.“

,,Schweine? Unkraut. Genau.“ Fest entschlossen wollte Bofur loslaufen, doch drehte sich noch einmal um. ,,Rühr dich nicht vom Fleck!“, befahl er Kili, lief dann zur Tür.

Fili und Oin sahen ihm nach, dann einander an. Kili schrie.


~


,,Ihr wollt, dass ich…“ Bilbo blieb an dem plötzlich aufgetauch-ten Seitengang stehen und lugte vorher um die Ecke, ehe er weiter sprach. Man konnte ja nie wissen…

,,…einen Edelstein finde?“

,,Einen großen, weißen Edelstein. Ja“, antwortete Balin, der ihm seinen Auftrag jetzt schon zum zweiten Mal erklärte.

Nachdem der alte Zwerg ihn die Stufen von der Kammer der Geheimen Tür hinunter geführt hatte, waren sie einen Gang gefolgt, der sie geradewegs tiefer in den Berg geführt hatte.

,,D-das ist alles?“, Bilbo eilte hinter ihm her, ,,Ich mein‘…es gibt doch bestimmt jede Menge da unten.“

,,Es gibt nur einen Arkenstein“, betonte Balin. Auch das hatte er ihm schon einmal gesagt. ,,Und du erkennst ihn, wenn du ihn siehst“, fügte er hinzu und bog in einen Seitengang ein, der etwas Gefälle hatte. Nur zögernd folge ihm Bilbo. Am Ende lag eine Treppe, die nach rechts hinter der Ecke in die Tiefe des Berges verschwand.

Tief betroffen seufzte der alte Zwerg und blieb dort stehen. ,,Die Wahrheit ist, Junge…“ Sofort drehte Bilbo das Gesicht zu ihm. ,,Ich weiß nicht, was du…dort unten finden wirst. Du musst nicht gehen, wenn du nicht willst“, sagte er schnell hinterher, als Bilbo schweigsam blieb. ,,Es ist nicht unehrenhaft umzukehren.“

,,Nein, Balin.“ Bilbo holte neuen Atem. Schon jetzt hatte er riesen Angst und trotzdem das Bedürfnis, seine Sache gut zu machen. ,,Ich hab versprochen, ich würde es tun. Und ich find, ich sollte es versuchen.“Auf einmal schüttelte der Zwerg lachend den Kopf. Bilbo zog die Stirn kraus, fand, dass er es schon sehr ernst gemeint hatte…

,,Es erstaunt mich immer wieder.“

,,Was?“

,,Der Mut der Hobbits.“

Trotz seiner ernsten Situation musste Bilbo schmunzeln.

,,Geh nur“, sagte der weise Zwerg und in seiner Stimme lag

etwas Herzliches. ,,Mit allem Glück, dass du aufbringen kannst.“

Sie sahen einander an, lächelten sich zur Stärkung zu.

Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, als Bilbo die ersten Schritte alleine vorwärts machte und die Treppenstufen hinunter schlich.

,,Ach, äh, Bilbo?“, rief Balin ihm noch einmal zurück. ,,Sollte tatsächlich ein, ähm…lebender Drache dort unten sein…“ Er holte Luft und wurde erneut sehr ernst. ,,Dann weck ihn nicht.“

Bilbo starrte ihn an. Es noch einmal gesagt zu bekommen, verschärfte seine Gefühlszustände noch ein wenig mehr und machte die ganze Sache nicht besser. Er nickte einfach und wandte sich ab. Etwas anderes blieb ihm jetzt nicht mehr übrig. Was ist, wenn… Er drehte sich um, doch Balin verschwand bereits um die Ecke. Bilbo rümpfte die Nase.

Nun war er also ganz auf sich allein gestellt.

Vorsichtig schlich er weiter, während alles in ihm sich dagegen sträubte, noch tiefer in den Berg vorzudringen, und er fragte sich nicht zum ersten Mal, was ihn überhaupt dazu geritten hatte, diesen Vertrag jemals zu unterschreiben.


~


,,Das wird ihm nur für eine Zeit helfen.“ Oin zerstieß in einem Mörser die Hundskamille, die ihm als einziges halbwegs nützliches Mittel zur Hand lag, gab alles in einen Becher und tat warmes Wasser hinzu. Er reichte es Fili. ,,Er soll das trinken.“

Fili sprach sein Bruder an, stützte seinen Kopf und hielt es ihm hin.

Zitternd musste ihn Kili mit links nehmen, schluckte alles in eins hinunter. Wieder bahnte sich ein Krampf an. Das Glühen breitete sich von seiner Wunde durch seine Venen in seinen ganzen Körper aus und ließ ihn krampfen, dass seine Muskeln und Sehnen unter den Schmerzen erzitterten. Der Becher fiel zu Boden. Kili wölbte den Rücken, stemmte die Beine in das Laken, als er versuchte, seinen Schrei zu unterdrücken. Bei jedem Schub fühlte es sich an, als würde sein Bein zerrissen werden. In seinem Herz lastete ein Druck, der es ihm aus der Brust pressen wollte.

Fili hielt ihn an der Schulter im Bett, musste zusehen, wie sich sein kleiner Bruder quälte, konnte jedes Mal nur auf das Ende des Schubes hoffen. Endlich erschlaffte sein Körper und Kili rang keuchend nach Atem. Fili strich ihm den Schweiß von der bleichen Stirn.

,,Es wird immer schlimmer…“ Aus seinem Mundwinkel floss Speichel.

Sein Bruder wischte es ihm weg. ,,Warum hast du nicht auf mich gehört? Warum hast du für dich behalten, dass es so schlimm ist?“ Er wollte wütend auf ihn sein, doch es gelang ihm nicht. ,,Du bist ein verdammter Dummkopf“, schluchze er unterdrückt, presste die Lippen aufeinander, um sich zu beherrschen, ihm nicht doch eine zu verpassen.

,,Ich weiß…“ Seine kurzen Atemgeräusche waren keuchend. Das Sprechen bereitete ihm große Anstrengung. ,,Aber ich wollte euch… nicht schon wieder…aufhalten. Ich wollte…das nicht… Es tut mir leid.“

,,Hör auf zu reden. Du musst dich schonen.“

Kili wollte sich nicht schonen. Er musste es seinem Bruder sagen, solange er dafür die Kraft noch hatte. ,,Es tut mir leid,…dass ich euch schon wieder aufhalte…dass ich euch wieder Sorgen bereite… Mutter hatte recht… Ich bin leichtsinnig. Wenn ich heute Nacht sterbe, dann bin ich selber schuld.“

Ungehalten schossen Fili die Tränen in die Augen. Diese Worte, von derer Erfüllung er sich fürchtete, von ihm zu hören, drohten, ihn in Stücke zu reißen. ,,Nein! Nein, du stirbt nicht, Kili!“ Er griff nach seiner Hand, ,,ich werde das nicht zulassen...“, und legte den Kopf an seinen, musste die Augen schließen.

Bofur, beeil dich…


~


Die Wände waren glatt und eben. Der Boden ebenfalls, wenngleich er sich ab und an fast unmerklich hob oder senkte. Wie man aus Stein so perfekt gerade Stufen, Gänge, Säulen und Wände fertigen konnte, war ihm ein Rätsel.

Bilbo schlich so vorsichtig und bedacht durch die Stadt unter dem Berge, dass er selbst sicher war, lautlos zu gehen. Vor jeder Ecke lugte er herum. Er wusste ja nicht, was ihn dahinter erwarten würde. Hier ist niemand. Hier kann niemand sein, sagte er sich immer wieder selbst. Naja, außer der Drache... Der war wahr-scheinlich beim Gold, doch ausgerechnet dort hin musste er.

Sein Instinkt zum Überleben schlug alle Alarmglocken im Stakkato, während er tapfer weiter Stufen hinabstieg und lieber erst gar nicht daran dachte, was wäre, wenn dieses Monster nicht dort unten war, sondern rief sich abermals Balins Worte ins Gedächtnis, die er sich hatte einprägen müssen. Würde er sie vergessen, so war er sicher, würde er sich hoffnungslos verlaufen. Immer geradeaus bis zum großen Treppenhaus. Dann ganz runter. Links. Rechts. Rechts. Treppe wieder ganz runter. Dann siehst du’s.

Es verwunderte ihn, dass er keine Fackel brauchte. Von irgendwoher kam feines Licht, das alles ausreichend erhellte.

Nun musste er rechts abbiegen und auf einmal öffnete sich die Wand neben ihm. Bilbo blieb der Mund auf.

Es war eine unvorstellbar große Halle, die sich ihm eröffnete. In ihr befanden sich gigantische Säulen von künstlerischer Schönheit und Wege, die daran entlang und offen, ganz ohne Geländer oder dergleichen, wie Brücken durch sie hindurch führten. Fasziniert lehnte er sich über die Mauer und erkannte, dass er auf einer Art Balkon stand.

Kein Windhauch streifte sein Gesicht. Es war so gespenstisch still,

doch Bilbo stellte sich vor, wie einst dieses Reich unter dem Berge erblühte und voller Leben war und für einen kleinen Moment konnte er sogar Stimmen und Geräusche der geschäftigen Stadt hören. Eine Laterne stand unweit auf der Mauer. Sie besaß eine Kartusche für das Öl, in dem der Docht steckte. Die gläsernen Wände waren verstaubt. Sie enthielt kein Öl mehr.

Vor langer Zeit war ihr Licht erloschen.

Bilbo betrachtete Erebor und seine Stadt unter dem Berge noch eine Weile und setzte schließlich seinen Weg fort.

Das zweite Mal bog er rechts ab und schon befand er sich in dem Treppenhaus. Treppe wieder ganz runter…, wiederholte er und sah Zeichen an den Wänden in Khuzdul. Die Schrift bestand aus einzelnen Buchstaben. Sie waren klar, hatten gerade Striche oder harte Kanten. In Bruchtal hatte Bilbo Inschriften auf Sinda-rin, der Sprache der Elben, gesehen. Sogar hierin waren diese beiden Völker grundlegend verschieden. Buchstaben in Sindarin waren aneinander hängend, geschwungen und geschnörkelt, manchmal mit Strichen darüber.

Bilbo fragte sich, was dort wohl neben ihm stand, und mutmaßte mit einer großen Portion Galgenhumor: Vielleicht ,,Vorsicht, Drache! Betreten auf eigene Gefahr“.

Unten angekommen schlich er durch einen langen Torbogen und vor ihm eröffnete sich abermals eine riesige Halle, in die er weit hinein schauen konnte. Überall sah er Säulen, die Decke stützen.

,,Hallo“, hauchte Bilbo leise. Mit dem Fingerknöchel klopfte er gegen den Torbogen, als sich nichts rührte. Unerwartet laut hallte ein Echo durch die Luft. Erschrocken drückte Bilbo sich an die Wand, horchte mit riesigen Augen.

Das Echo verstummte und nichts geschah.

,,Er ist nichts Zuhaus‘ “, murmelte Bilbo sich selbst Mut zu und traute sich weiter. ,,Nicht zuhause. Gut…Gut, gut.“ Vor ihm endete der Weg und was Bilbo dann sah, verschlug ihm vollends den Atem.


20



Der unvorstellbare Reichtum Erebors lag vor ihm. Die Halle war gefüllt mit glänzenden und schillernden Schätzen. Münzen, so weit das Auge reichte. Unschätzbar viele. Unermesslich das hier ruhende Vermögen.

Wahre Hänge aus Gold erstreckten sich vor ihm, meterhoch die Hügel. Manch eine Säule war eingebettet von den Münzen und Schmuckstücken. Wie eine Düne erhob sich das Gold zu seiner Linken. Bilbo drehte sich, doch auch zur anderen Seite ging es so weiter und dabei sah er das Ende der Halle noch nicht einmal.

Wie kann man nur…? Dieser Anblick überstieg seine kühnsten Vorstellungen meilenweit. So etwas hatte er noch nicht einmal zu träumen gewagt.

Mit Knien aus Pudding wagte sich Bilbo eine der Treppen hinunter, die sich neben ihm befanden. Die Stufen verschwanden unter dem Gold und er setzte seinen Fuß auf die Münzen. Es knirschte hell und laut. Gleichmäßig versuchte er, sein Gewicht zu verteilen, damit er so leise wie irgend möglich ging. Doch das war schlichtweg unmöglich, denn mit jedem Schritt klirrten oder rutschten Münzen wie in einer Schneelandschaft, bloß golden statt weiß. Fassungslos drehte er sich um die eigene Achse, um das Ausmaß dieses Schatzes besser einschätzen zu können.

Größtenteils bestand er aus Münzen, aber zwischen ihnen lagen auch Kelche, vergoldete Schilde, edelsteinbesetzte Vasen, Krüge und Schüsseln.

Bilbo bewegte sich zu einem Haufen, wo er Edelsteine liegen sah. Dort, das Gefälle hinab rutschend angekommen nahm er einen weißen, wallnussgroßen Stein zwischen die Finger. Man konnte fast durch ihn hindurch sehen, so klar war er. Dann fiel sein Blick auf einen noch viel größeren. Er fasste nach dem ungeschliffenen Amethyst, der so dick wie eine Zuckerrübe war, drehte ihn ungläubig in der Hand. Danach suchte er zwar nicht, konnte sich jedoch nicht satt sehen. Auch nahm er eine, mit Fransen aus Perlen behängte Brosche auf. Am liebsten wollte Bilbo sich alles anschauen, besann sich aber wieder auf seine Aufgabe und legte sie weg. Als Nächstes fand er einen großen, weißen Edelstein. ,,Was ist das?“, dachte er laut, hielt ihn hoch. Als er in sein Inneres spähte, konnte er keine Besonderheit feststellen. Das konnte nicht der Arkenstein sein.

Etwas enttäuscht warf er ihn weg und zuckte zusammen, als es schepperte. ,,Sch-sch-sch“, zischte er hinterher. ,,Arkenstein…Arkenstein.“ Bilbo schaute durch die Halle, sah über die Schulter zurück. ,,Großer, weißer Edelstein…Pff! Sehr hilfreich.“ Wie sollte er ihn hier bloß finden? Alles abzusuchen würde Wochen, wenn nicht gar Monate dauern. Was war das für eine unlösbare Aufgabe, die man ihm überließ?

Bilbo war am zweifeln. Weil er jedoch nicht jetzt schon aufgeben wollte, setzte er seinen unbestimmten Weg fort.

Die tragenden Säulen, durch die er wanderte, wiesen senk-rechte, eingemeißelte Linien auf. Manche besaßen auch kleine Vorsprünge. Sie wurden oben hin dicker und Bilbo bemerkte, dass er sich manchmal fast unter der Decke befand.

Er durchquerte die Halle, die in ihrer Mitte, ähnlich einem Tal, tiefer gelegen war, und immer noch war kein Ende in Sicht oder eine Aussicht auf einen besonderen Edelstein. Einige sah und hob er auf, doch sie waren es allesamt nicht.

Abermals stieg Bilbo einen Goldhügel hinauf – er hatte keine Ahnung, der wievielte es war. Von der stundenlangen Suche, die ihm inzwischen hoffnungslos erschien, war er müde. Das Voran-kommen auf den Münzen war zudem mehr als anstrengend.

Er verspürte Hunger und sehnte sich nach Ruhe und ein bisschen Schlaf. Gedankenlos zog er einen Kelch aus dem Gold. Durch sein Fehlen begannen die Münzen über ihm zu rutschen.

Stumpfe Stacheln kamen als Erstes zum Vorschein, dann inmitten von brauner, mit harten Schuppen übersäter Haut, ein großes, geschlossenes Auge. Eilig taumelte Bilbo rückwärts hinter eine nahe Säule, versuchte, sich nicht mehr zu rühren.

Das Gold hatte aufgehört zu rutschen und blieb liegen.

Gerade als Bilbo seinen Atem kontrolliert hatte, brach ein tiefes Schnauben, wie das eines riesigen Pferdes, ein Loch durch die Golddecke und ein großes Nasenloch erschien.

Bilbo schlotterten die Knie, klammerte sich am Fels fest, als könnte dieser ihm helfen. Der Puls hämmerte ihm in den Schläfen, als er sich in einem Moment der Stille davon schleichen wollte. Abermals begannen die Münzen im Goldhügel zu rutschen, diesmal am Ende des Hügels auf der anderen Seite der Säule und Bilbo realisierte, dass dort hinten ebenfalls ein Stück Drache war. Der Körper lag im Gold verborgen, doch der Hobbit erahnte die Ausmaße des Tieres mit Schaudern.

Münzen rasselten hell, als Smaug sich in seinem goldenen Bett bewegte. Bilbo blieb, wo er war, horchte hinter sich zu der schlafenden Bestie. Erst als diese wieder still lag, konnte er aus-atmen und wagte einen Schritt. Die Münzen gerieten ein weiteres Mal in Bewegung. Nicht er war der Auslöser, wie er mit Graus feststellen musste. Smaug bewegte seinen Kopf, schob ihn näher zu Bilbo und tiefer ins Gold, als schmiege er sich in ein Kissen. Bilbo hockte sich hin, bewegte sich nicht mehr. Die Angst ließ seine Beine zittern und ihn keine klaren Gedanken mehr fassen. Er drehte den Kopf zum geschlossenen Auge und spürte, wie die Panik ihm die Luft zum Atmen nahm. Über dem Drachenauge lag wie eine dicke Braue eine Knochengeschwulst, die mit kleinen, stumpfen Stacheln versehen war, welche ebenfalls die Schläfe schmückten.

Wenn seine Knie schon beim Betreten der Halle weich gewesen waren, so waren sie jetzt kaum mehr vorhanden. Bilbo erhob sich und schlich rückwärts den Hügel hinab, wagte es nicht eine

Sekunde, den Drachen aus den Augen zu lassen.

Plötzlich bewegte sich das Lid und der Hobbit machte einen beherzten Sprung, presste sich hinter einen Goldhaufen.

Der Lärm von seiner Bewegung schepperte schrecklich in seinen Ohren, während er krampfhaft versuchte, seinen lauten Atem zu unterdrücken. Ihn nicht wecken – dachte Balin ernsthaft, er hätte etwas anderes vorgehabt?!

Bilbo hörte, wie Münzen verheißungsvoll klimperten. Ihm fiel sein Ring ein und holte ihn aus seiner Manteltasche. Doch Bilbo zögerte. Etwas tief in ihm scheute sich vor seiner Benutzung, die Gewissheit aber, dass hinter ihm ein leibhaftiger Drache aufwachte, ließ ihn sich dennoch über den Finger streifen.

Wohlmöglich war das seine einzige Chance, hier irgendwie noch lebend wieder rauskommen.

Münzen rieselten aus Höhe zu den anderen und er realisierte, dass der Drache seinen Kopf gehoben haben musste.

Ein tiefes Grollen erklang, wie er es noch nie gehört hatte.

Als wäre es nicht von dieser Welt.

Mit dem Gedanken, dass er ihn nicht sehen konnte, verließ er seine einzige Deckung. Trotz seiner Sicherheit hämmerte sein Herz panisch vor Furcht, als er vorsichtig aufstand und sich umdrehte.

Smaugs Kopf hatte die Länge von drei erwachsenen Menschen und befand sich nur wenige Meter vor ihm. Er schnupperte in der Luft. Dann zischte er und zog die Lefzen seines riesigen Maules hoch, wobei Bilbo seine langen Zähne erscheinen sah.

,,Also…Dieb.“ Als der Drache zu sprechen begann, setzte sein Herz endgültig aus. Seine unglaubliche Stimme hatte solch eine Kraft in sich, dass etwas in seinen kleinen Lungen bebte und Bilbo seinen Titel ,,Meisterdieb“ in den Wind warf und sich nur noch zitternd wieder in sein Auenland zurück wünschte.

Noch einmal schnüffelte Smaug und sagte: ,,Ich kann dich riechen.“ Der riesige Kopf kam auf ihn zu und Bilbo duckte sich, machte sich ganz klein. ,,Ich kann deinen Atem hören.“ Er glitt über ihn hinweg, gefolgt von seinem langen Hals. Bilbo sah die Kehle schlucken und sich bewegen, als er sprach: ,,Ich spüre, du bist hier.“ Ein langer, beschuppter Schwanz tauchte auf, legte sich auf das Gold. Vorsichtig richtete er sich wieder auf, doch der Kopf schwenkte zurück in seine Richtung. ,,Wo bist du?“

Bilbo konnte seinen Atem nicht länger ruhig halten. Sein Brustkorb schien ihm zu klein zu werden.

,,Wo bisst du?“, raunte Smaug noch einmal, kam ihm so nah.

Bilbos Angst gewann die Oberhand und ließ ihn losrennen.

Smaug entdeckte ihn.

Das Gold sauste unter ihm hinweg, rauschte und klirrte unter seinen Füßen, so laut in seinen Ohren, in denen sein eigener Herzschlag dröhnte. Er schaute nach hinten, sah den Drachen sich zwischen Säulen hindurch winden. Wie ein Wellenbrecher zerfurchte sein massiger Kopf das Gold, schoss Münzen durch die Luft. Noch schneller rannte Bilbo den Abhang hinab, bis ein rettender Gedanke sich einen Weg durch das Wirrwarr seiner panischen anderen bahnte: Wenn ich mich nicht bewege, findet er mich nicht. Deshalb rannte er zur nächstliegenden Säule, presste sich in deren Schutz, wie ein Kind an seine Mutter.

Sein Verfolger jedoch blieb ebenfalls stehen. ,,Kommm...Nicht so schüchtern“, lockte Smaug mit scheinheilig sanfter Stimme. ,,Komm ins Liccht.“

Für einen Moment sah er ihn an und Bilbo war sich nicht mehr sicher, ob er ihn wirklich nicht sehen konnte. Dann wandte Smaug den langen Hals zurück, verschwand hinter der Säule und aus seinem Blickfeld.

,,Hmm...Da isst etwas an dir…“

Wo ist er? Bilbo wagte einen Schritt, da erschien bereits der Drache von der anderen Seite. Sein riesiges, orangenes Auge sah ihn direkt an. Er kann mich nicht sehen, er kann mich nicht sehen…, redete er sich ein, während er den Rücken gegen den

Fels presste und nicht einmal zu blinzeln wagte.

,,Etwas, was du bei dir trägst… Etwas aus Gold. Doch ist es, ein noch viel größerer Schaatzz…“

Auf einmal spürte Bilbo den Sog des Ringes so stark, wie noch nie zuvor. Plötzlich sah er in ein riesiges, flammendes Auge und ihm wurde heiß und kalt zugleich. Ein Flüstern drang zu ihm. Sein Schädel dröhnte von den Sinneseindrücken. Er wollte atmen, konnte es nicht. Das flammende Auge schnürte ihm die Luft ab…

Im nächsten Moment riss er die Augen auf, den Ring an seiner Hand. Sofort fixierte ihn das orangene Drachenauge. Nach Atem ringend starrte Bilbo auf den Ring, der in seiner Handfläche lag, und schloss sie schnell zur Faust. Er hatte ihn abgezogen.

Den verdammten Ring abgezogen! Wie konnte er das tun?!

,,Ah, da bist du, Dieb, der im Schatten wandelt“, zischte Smaug zufrieden.

Bilbo starrte in die längliche Pupille, musste sich etwas einfallen lassen. Und zwar schleunigst!

Um nicht vor dem jetzigen Herrscher Erebors einen quiekenden Ton von sich zu geben, sammelte er zuerst seine Stimme. ,,Ich hatte nicht vor dich zu bestehlen, oh Smaug, du unermesslich… reicher.“ Der Drache grummelte.

Bilbo war sich sicher, dass dieser sein Mäuseherz hören konnte. ,,Ich wollte mich nur deiner Herrlichkeit vergewissern…“ Smaug sah ihn eindringlicher an, den Blick starr auf ihn gerichtet und Bilbo hielt tapfer diesem stand. ,,Um zu sehen, ob du wirklich so groß bist wie die alten Geschichten erzählen…“, erklärte er sich weiter. Zum Schluss hin versagte ihm dann doch die Stimme. ,,Ich hatte es nicht geglaubt…“

Knurrend regte der Drache sich. Im Umdrehen stützte er sich an einer anderen Säule ab, dessen Gestein knackend nach gab und unter seinem Vorderlauf brach. Smaug drehte sich in der Halle um. Sein langer Schwanz zog sich durchs Gold, sodass Bilbo ein paar Schritte nach hinten machte. Die Augen weit aufgerissen, musste er mit ansehen, wie der Drache sich zu seiner vollen Größe aufrichtete; die Vorderläufe vor ich gestellt, die Brust hervor gereckt.

,,Und glaubst du’s jetzt?!“ Seine Stimme schoss in Echos durch den Berg und nahm sich ihren Raum ein. Die Gestalt des Drachen war so gewaltig, dass er beinahe bis an die Decke der Halle reichte.

,,Wahrlich.“ Als er ihn in seiner Gesamtheit sehen konnte, musste Bilbo schlucken. Der Herrscher des Berges war riesig. Riesiger als jedes Tier, das er je gesehen hatte. Sein Körper war gekleidet aus Schuppen und Hautplatten, in den verschiedensten Brauntönen. Seine ledrigen Flügel waren mit seinen Vorderläufen verbunden und Bilbo konnte die gewaltige Spannweite nur erahnen. Er spürte seine Kraft und auch seine Intelligenz, die von ihm ausging. ,,Alle Lieder und Sagen…bleiben weit zurück hinter deiner Ungeheuerlichkeit, oh Smaug, du Unermesslicher.“

,,Glaubst du, Schmeicheleien werden dein Leben retten?“, zischte er mit zarter Stimme.

,,Äh, nein, nein.“

,,Nein, in der Tat.“ Langsam und tief zu ihm gebeugt, um ihn genauer zu beäugen, kam er näher. ,,Meinen Namen scheinst du zu kennen, aber ich kann mich nicht entsinnen, welche wie dicch schon einmal gerochen zu haben. Wer bist du und wo kommst du her, wenn ich fragen darrf.“ Sein Kopf senkte sich, wissbegierig zu erfahren, wer da vor ihm stand.

Bilbos Unterbewusstsein schrie ihn an, dass er seinen Namen nicht verraten durfte. Fieberhaft suchte er nach Worten, da fiel sein Blick zu Boden und es verschlug ihm abermals den Atem. Doch diesmal aus einem ganz anderen Grund.

Im Gold eingebettet leichtete etwas mit hellem, weiß-blauem Licht. In seinem Kern war es orangen und wenn er genauer hinsah, bewegte sich dort etwas. Das faszinierende Leuchten strahlte auf, so als würde der Stein seine Anwesenheit und seine

guten Absichten spüren.

Der Arkenstein… Das war er. Zweifellos.

So etwas unbeschreiblich Schönes hatten seine Augen nie zuvor gesehen. Er war mit keinem anderen Edelstein vergleichbar und nun wusste Bilbo, warum die Zwerge ihm so etwas Besonderes zuschrieben.

,,Ich…Ich komme von Unterm Bühl“, begann er heiser einen Erklärungsversuch und zugleich Ablenkungsmanöver.

,,Unterm Bühl?“ Smaug legte den Kopf schief.

Eilig und mehrfach hintereinander nickte Bilbo, schielte wieder zu dem leuchtenden Stein. Er war zu weit weg, fast vier Meter. Wie sollte er dort hin gelangen, wenn er gleichzeitig einen, aus seinem Schlaf gerissenen Drachen ablenken musste, damit dieser sein Vorhaben nicht bemerkte?

,,Ja, und mein Weg hat mich auch unterm Berg und überm Berg geführt“, scherzte er und versuchte, zu lächeln, doch Smaug grummelte nur drohend. ,,Und, und durch die Lüfte auch. Ich bin der wandelnde Unsichtbare.“

,,Eindrucksvoll“, meinte Smaug kühl. ,,Was sonst behauptest du zu sein?“

Er kam noch näher, so nah, dass Bilbo seinen säuerlichen Atem roch. Seine verfärbten, dolchartigen Zähne konnte er sehen und ihm wurde ganz flau im Magen, als ihr Gestank ihm entgegen kam.

,,Glü-Glücksbringer“, stammelte er, wedelte sich vor der Nase. ,,Rätsellöser…“.

Smaugs Nasenlöcher weiteten sich, als er seinen Geruch einsog. Kaum merklich glühten seine Augen auf. ,,Allerliebst diese Titel“, meinte er scheinbar unberührt. ,,Fahr fort.“

,,Fassreiter…“

,,Fässer!“ Sein Kopf schnellte hervor und Bilbo musste einen Schritt nach hinten machen, um nicht mit seiner Schnauze zusammenzustoßen.

,,Das ist interessant“, murmelte Smaug und zog sich befriedigt

zurück. ,,Und was ist mit deinen kleinen Zzwergenfreunden? Wo

verstecken sie sicch?“

Oh, nein. Bilbo merkte, dass er einen Fehler gemacht hatte und musste sofort reagieren. ,,Zw-Zwergenfreunde?“, fragte er gespielt ahnungslos mit all seinem nichtvorhandenem Schauspieltalent. ,,Nein.“ Vehement schüttelte er den Kopf. ,,Nein, Zwerge sind hier nicht. Das hast du missverstanden.“

,,Och, das glaube ich kaum, FASSREITER!“ Seine Augen glühten plötzlich wie Flammen. Die Stacheln in seinem Nacken und auf seinem Halskamm stellen sich drohend auf. ,,Sie haben dich geschickt, um die gefährliche Arbeit dir zu überlassen, während sie draußen umherschleichen.“

,,Wahrlich, du irrst dich, oh Smaug, du ehrfürchtigste und entsetzlichste aller Katastrophen.“

,,Du hast gute Manieren für einen Dieb und einen LÜGNER!“

Bilbo rutschte das Herz endgültig in die Hose.

,,Ich kenne den Geruch und den Geschmack von Zwergen. Nichtss kenn ich BESSSER! Und du stinkst wahrlich danach!“ Smaug schüttelte sich und Bilbo schlich mit winzigen Schritten Richtung Arkenstein. ,,Glaubt ihr, ihr könntet mich so leicht täuschen? Es ist das Gold! Sie werden von Schätzen angezogen wie Fliegen von totem Fleiscch.“

Nur noch ein kleines Stückchen… Doch da stampfte ein Vorderlauf neben ihm ins Gold. Der Arkenstein schoss durch die Klauen hindurch, den Goldberg abwärts. Er durfte ihn nicht verlieren! Bilbo sah sein Leuchten und rannte instinktiv hinterher.

Smaug wurde wieder auf ihn aufmerksam. ,,Denkst du, ich wusste nicht, dass dieser Tag kommt?!“

Bilbo rannte weiter und hörte etwas Gewaltiges hinter sich knallen. Er stolperte und fiel den Münzberg hinab, die Stimme des Drachen in seinen Ohren: ,,Dass eine Meute heuchlerischer Zwerge zum Berg zurückgekrochen kommt?!“

Eine Kante tauchte auf. Bilbo raste darauf zu. Der Arkenstein

schlitterte darüber hinweg. Schmerzlich bohrte er die Fersen und

Hände ins Gold, fiel gebremst über sie. Das rutschende Gold kam hinter ihm her und überschüttete ihn. Von seinem Gewicht auf den Bauch gedrückt, blieb Bilbo darunter liegen. Eine gewaltige Erschütterung rüttelte seinen Körper durch, als die Säule fiel, die Smaug in seiner Wut umgestoßen hatte.


~


Donner durchzog den Fels unter ihren Füßen und grollte über sie hinweg in die Nacht. Die Zwerge draußen auf dem Vorsprung sprangen bei der Erschütterung auf und schauten sich nach der Ursache um. ,,War das ein Erdbeben?“, fragte Dori.

,,Das, mein Junge“, ehrfürchtig erhob sich Balin, drehte sich zu ihm um, ,,...war ein Drache.“

Thorin hielt den Atem an und schaute in den Berg hinein, dessen Inneres im Dunkeln lag.


~


Kili stöhnte durch die Zähne, als ein fernes Donnern über sie hinweg grollte. Lehm- und Holzstaub rieselten von der Decke. Alle in dem kleinen Haus in Esgaroth hoben die Köpfe.

,,Vater…“

,,Das kommt vom Berg“, sagte Bain und er und seine Schwestern schauten ihren Vater an, der horchend auf der Stelle verharrte.

Fili sah in Bards Augen große Sorge über die Bedrohung, die nicht mehr zu leugnen war. Selbst die Kinder hatten erkannt, dass so etwas nur von dem Drachen verursacht sein konnte, der allem Anschein nach erwacht war.

,,Ihr solltet verschwinden.“ Fili ging zu ihm. ,,Nehmt Eure Kinder, geht fort von hier.“

Bards tiefgründige Augen richteten sich auf den Zwerg. ,,Und wohin?“, flüsterte er, schüttelte kaum merklich den Kopf, als wäre eine erneute Katastrophe unvermeidlich. ,,Wir können nirgendwo hin.“

,,Werden wir sterben, Vater?“, wisperte Tilda plötzlich.

Er sah seine Jüngste an und zwang sich ein Lächeln auf. ,,Nein, Schatz.“ Doch sie spürte, dass ihr Vater ihretwegen log.

,,Der Drache, er wird uns alle töten…“

Lange ruhte sein Blick auf ihr. Dann hob Bard den Kopf und langte zu den Kräuterbündeln und Zwiebeln, die über dem Ess-tisch aufgehängt waren. Er fasste etwas und riss eine lange eiserne Stange aus ihrer Aufhängung heraus. Ihre, in der Mitte gespaltene und zudem leicht gedrehte Spitze, die zwischen der Gabelung der Balken versteckt gelegen hatte, kam zum Vorschein.

,,Bei den Göttern…täuschen mich meine Augen?“, murmelte Oin. Fili überhörte ihn, denn Bard hielt mit gestrafften Schultern einen über einen Meter langen Schwarzen Pfeil aus massivem Stahl in der Hand.

,,Nicht, wenn ich ihn zuerst töte“, antwortete er fest entschlos-sen, die Kraft aus dem Anblick seiner Kinder nehmend, auf deren Gesichtern Staunen lag.

,,Wo habt Ihr den her?“, fragte Fili, als er seine Stimme wieder-fand und folgte Bard zur Haustür.

,,Ein Relikt aus meinem Haus.“ Eilig nahm er seinen Mantel vom Haken, zog ihn sich an. ,,Bain, du kommst mit mir.“

Sofort war der Junge an seiner Seite.

,,Wo wollt ihr hin?“, sprach Sigrid Filis Gedanken aus.

,,Zur alten Windlanze.“

,,Tu das nicht…“, flehte sie kaum hörbar, als ihr bewusst wurde, was ihr Vater vorhatte.

Bard strich dem Mädchen über die Haare. ,,Hab acht auf deine

Schwester.“ Mit aufeinander gepressten Lippen schüttelte sie den

Kopf, doch ihr Vater wandte sich bereits ab.

Schweigend stand Fili daneben, als Bard sich noch einmal umdrehte. Und diesmal zu ihm. ,,Bleibt bei meinen Töchtern. Ich muss Euch vertrauen…“

Fili wusste, was er damit meinte. ,,Ihr habt mein Wort.“


~


,,Der König unter dem Berge ist tot“, hallte Smaugs Stimme über ihm, als Bilbo sich aus dem Gold befreite. Er brach direkt zwischen den langen Krallen des Drachen aus den Münzen, rannte sofort die Treppenstufen neben sich hinab.

,,Ich nahm seinen Thron und fraß mich satt an seinem Volk, wie ein Wolf unter Schafen.“ Smaugs Vorderläufe, die mit einem Hieb dutzende Männer auf einmal das Leben zu nehmen vermochten, folgten ihm gefährlich nahe über den beschlagenen Fels. Für ihn war es ein leichtes Spiel Bilbo zu folgen.

Bilbo sprang ins Gold und verlor den Halt. Abermals rutschte er mit unglaublicher Geschwindigkeit den Hang hinunter, direkt auf ein schmales Portal zu. Sein Schrei grellte, als er durch den Tunnel im Fels jagte. Bilbo riss die Augen wieder auf, als Fels und Gold sich abwechselten. Wie dessen Hilferuf sah er den Arkenstein wieder vor sich aufleuchten. Zusammen schlitterten sie auf eine, durch Säulen gestützte Ebene zu.

,,Ich töte, wo ich will und wann ich will!“, hörte er den Drachen hinter sich verlauten. ,,Mein Panzer ist wie Eisen!“

Bilbo rutschte unter die Ebene und kam zum Stehen. In seinem Kopf drehte sich alles und nur mühsam rappelte er sich auf. Plötzlich schlug ihm ein gewaltiger Wind ins verschwitzte Gesicht. Gleich darauf gab es eine Erschütterung und die Klauen des Drachen krallten sich in die Kante der Felsplatte über ihm.

,,Keine Klinge kann mich durchdringen!“

Bilbo saß in der Falle.


~


Seit der Erschütterung, die aus Erebor herauf gekommen war, war es still geblieben. Die Gefährten harrten auf dem Vorsprung aus und warteten auf ein Lebenszeichen ihres Hobbits.

Niemand konnte sagen, wie viel Zeit vergangen war.

Regungslos stand Thorin an der Klippe, sah über das, von der Nacht eingehüllte Land, das seines war.

Wolkenverhangen und bitterkalt lagen die Bergausläufer vor ihm.

,,Wo bleibt Bilbo?“, fragte Ori fröstelnd.

,,Wir lassen ihm noch Zeit“, antwortete er.

,,Zeit? Wozu? Um getötet zu werden?“

Thorin drehte sich zu Balin um. ,,Du fürchtet dich.“

Der alte Zwerg sah ihn für einen langen Moment missfällig überrascht über seinen Einwand an. ,,Ja! Ich fürchte mich“, sagte er und blickte ihm fest in die Augen, als er näher trat und den Finger auf ihn richtete. ,,Ich fürchte um dich… Dieser Schatz ist von einer Krankheit befallen. Sie hat deinen Großvater in den Wahnsinn getrieben.“

Es sagten alle. Er sprach wie die anderen und Thorin wollte von all dem nichts hören. Ja, sein Großvater war krank gewesen, aber das bedeutete doch noch lange nicht, dass er es auch war.

Leid, es ständig zu hören, wandte er sich von ihm ab. ,,Ich bin nicht mein Großvater.“

,,Du bist nicht du selbst. Der Thorin, den ich kenne, würd nicht zögern hineinzugehen…“

Sein Anführer nahm sich sein Wort. ,,Ich riskiere diese Unternehmung nicht für das Leben eines Diebes.“

Finster starrte Balin ihn an. ,,Bilbo. Sein Name ist Bilbo. Was wäre, wenn Marie dort drinnen wäre? Würdest du auch so tatenlos hier rumstehen?“

Thorin starrte ihn an. ,,Du vergleichst ihn…mit ihr?“

,,Ich…ich will dir doch nur klarmachen, dass er nicht nur ein

Dieb ist!“

,,Er war von Anfang an für diese Aufgabe bestimmt. Und er führt sie auch aus. Wir haben ihn schließlich nicht aus Spaß mitgenommen.“

,,Nun geht es aber um sein Leben. Du kannst ihn nicht dort unten lassen.“ Balin wartete auf eine Reaktion von ihm, doch es gab keine. Ausdruckslos schaute Thorin wieder in die Ferne.

Bilbo musste den Arkenstein holen. Wenn die Mission fehlschlug, hatten sie wenigstens das Juwel. Der Arkenstein.

Das Sinnbild der Königswürde. Das Vermächtnis seiner Väter.

Ich werde ohne den Arkenstein diesen Berg nicht verlassen, schwor Thorin sich selbst und fühlte, wie in seiner Brust sich abermals etwas ballte.

,,Marie…“

,,Lass. Marie. Daraus“, knurrte Thorin laut und klar zwischen den Zähnen hindurch, spürte eisige Wut.

Balin gab nicht auf. ,,Trotz allem gehört er immer noch zu uns, Thorin. Wir sind ihm unsere Hilfe und Unterstützung schuldig. Ohne ihn säßen wir wahrscheinlich immer noch in den Verließen des Waldlandreiches. Hast du das vergessen?“

Klare, kalte Bergluft füllte seine Lungen bei einem tiefen Atemzug. Thorin schloss die Augen und erinnerte sich an die Treue und den Mut des Hobbits.


~


,,Es ist Eiccchenschild, der dreckige Zwerg und Thronräuber!“, fauchte Smaug hasserfüllt, als wäre es ihm klar, dass nur dieser ihn seine alleinigen Herrschaft streitig machen könnte.

Doch Bilbo dachte nicht darüber nach, woher Smaug sein Wissen bezog. Er dachte an den Arkenstein und ans Überleben. Die Ebene war zu eng, als dass Smaug zu ihm gelangen könnte.

Bilbo schlich in ihrem Schutz entlang, suchend nach dem

Edelstein. Dann entdeckte er ihn. Er lag vor der Ebene, auf freier Fläche, nur wenige Meter entfernt.

,,Er hat dich vorgeschickt. Er will den Arkenstein. Nicht wahr?“

,,Nein, nein! Ich weiß nicht, wovon du sprichst!“, wimmelte

Bilbo ab, hielt an seinem Lügengeflecht fest, während er zur

nächsten Säule schlich, näher an den Stein heran.

,,Bemüh dich nicht, es abzustreiten! Ich habe seine üble Absicht schon vor langem erahnt!“ Lange Klauen würgten die letzte Ecksäule vor ihm und Bilbo presste sich hinter seine. Smaug näherte sich ihm. ,,Doch es ist bedeutungslos. Eicchenschilds Unternehmung wird sccheitern. Die Dunkelheit bricht herein... Sie dringt in jeden Winkel des Landess...“

Bilbo keuchte. Inzwischen stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Er legte sie gegen den Fels und genoss seine Kälte. Wie eine Maus im Mäuseloch fühlte er sich, der Arkenstein wie auf dem Präsentierteller als Lockmittel davor. Wie sollte er es nur schaffen, hier wieder rauszukommen?

,,Du wirst benutzt, Dieb, der im Schatten wandelt.“ Das zähnebereihte Maul war direkt an seiner Seite. ,,Du bist nichts weiter als ein Mittel zum Zweck. Der Feigling Eicchenschild hat den Wert deines Lebens abgewogen und es als wertlos eracchtet.“

Bilbo schüttelte den Kopf. Das sind nur Worte. Er wusste, dass es anders war. ,,Nein. Nein, du lügst!“

,,Was hat er dir versprochen?“, fragte Smaug belustigt. ,,Einen Anteil am Schatz? Als würde er ihm gehören… Ich werde mich von keiner einzzigen Münze trennen!“ Er hob den Kopf, entfernte sich von ihm und Bilbo nutze die Chance und rannte los.

,,Keinem einzigen Stück davon!“

Bilbo kam aus der Deckung hervor und tappte in die Falle.

Smaugs verborgene Schwanzspitze schnellte aus dem Gold unter seinen Füßen empor und schleuderte ihn durch die Luft. Er stieß mit dem Kopf gegen Stein. Seine Zähne schlugen ihm in die Lippe und ließen ihn Blut schmecken. Verschwommen musste er


mit ansehen, wie der Drache auf ihn zu kam.

,,Meine Zähne sind Schwerter! Meine Klauen sind Speere! Mein Flügelschlag ist ein Wirbelsturm!“

Die unheilvollen und selbstverliebten Drohungen in den Ohren

kämpfe sich Bilbo auf die Beine und stand schutzlos vor Smaug. Mit vor Angst rasendem Herzen starrte er auf seine schuppen-bedeckte Brust, als ihm plötzlich ein Makel auffiel. Eine Schuppe fehlte und hinterließ unter seinem linken Flügel ein Loch.

,,Es ist also wahr“, flüsterte er, starrte auf seine verwundbare Stelle. ,,Der Schwarze Pfeil hat sein Ziel gefunden…“

,,Was hast du gesagt?“, zischte Smaug und senkte den Kopf zu ihm.

Schnell riss sich Bilbo von seinen Gedanken an Bains und Balins Erzählungen los. ,,Äh, ich sagte nur, dass dein Ruf dir vorauseilt, oh Smaug, du tyrannischer! Niemand kommt dir gleich in dieser Welt.“ Und dann entdeckte er den Arkenstein. Er lag neben ihm, strahlte wie eine unversiegbare Quelle von Licht. Doch auch Smaug sah ihn.

,,Es lockt mich, ihn dir beinahe zu lassen… Und sei es nur, um zu sehen, wie Eicchenschild leidet.“ Für den Zwerg einstehen hielt Bilbo tapfer dem Blick der Bestie stand.

,,Zu sehen wie’s ihn zerstört…Zu sehen wie’s ihm sein Herz verseucht und ihn in den Wahhnsinn treibt.“

Bei diesen Worten horchte Bilbo verwirrt auf.

,,Aber lieber nicht“, meinte Smaug gelangweilt und stellte bei der Aussicht auf seinen Jagderfolg die Stacheln im Nacken auf. ,,Unser kleines Spielchen endet hier.“

Nein…

,,Sag mir also, Dieb,“ zwischen seinen Schuppen in der Brust fing es zu glühen an, als würde dahinter bereits das Feuer lodern, ,,was wünscht du dir für einen Tod?!“ Weit aufgerissen kam das

Maul auf ihn zu. Glühend hell der Rachen.

Zeit zum Sterben.

Im letzten Moment streckte Bilbo sich den Ring an. Die Kiefer klappten aufeinander, als Smaug sein Verschwinden bemerkte. Als stünde die Zeit still, holte der Drache Luft, um ihn zu vernichten und in diesen wenigen Sekunden nahm Bilbo seinen ganzen Mut zusammen. Das raue, todesbringende Geräusch war schrecklich nah. Er hörte das Feuer, das ihm das Fleisch von den Knochen brennen würde, während sein Blick sich mit aller Gewalt an dem Arkenstein und seinem Leuchten festklammerte…

Smaug reckte seinen Kopf nach vorne und gleißend helle Flammen schlugen hervor. Bilbo spürte ihre unvorstellbare Hitze, doch er rannte bereits und erreichte heil einen Gang. Keuchend lehnte er sich gegen die Wand, zog den schweren Ring ab.

Das Brüllen des Drachen ließ ihn um sein Leben rennen.

Smaug tobte vor Zorn, zerschmetterte knackend Gestein.

Bilbo aber rannte weiter, drehte sich nicht mehr um.





















21



Seine Schritte waren als einzige auf den Bohlen der nächtlichen Stadt zu hören. Bofur eilte durch die Gassen, zerpflückte jede Pflanze, die er sah, steckte die Nase in jeden Blumenkasten. Bislang ohne jegliche Anhaltspunkte auf das Richtige. Dann endlich entdeckte er einen Pferch mit einem dicken, kleinen Schwein darin. Genüsslich knabberte es an einem Pflanzenbüschel. Bofur eilte dorthin und riss es aus seiner Schnauze. Das Tier grunzte empört, doch er hatte nur Augen für das Kraut. Es hatte winzige Blätter sowie winzige weiße Blüten. Er konnte nicht länger suchen. Bofur hatte keine andere Wahl und machte sofort kehrt. Hoffentlich war es noch nicht zu spät.


~


Kili rollte sich zusammen und schrie qualvoll auf.

,,Ruhig. Ganz, ruhig“, versuchte sein Bruder ihn zu beruhigen. ,,Bofur wird bald hier sein.“ Seit vorhin hatte Kili kein Wort mehr gesprochen. Die Krämpfe erfolgten in immer kürzeren Abständen. Ihm ging es von Minute zu Minute schlechter.

Oin suchte in den Schränke im Haus nach brauchbaren Zutaten, die er für ihn anreichern konnte, als es an der Tür pochte. Hoffnungsvoll blickte Fili auf, doch es war nicht Bofur, der um Einlass bat: ,,Macht auf. Ich bin’s.“

Sigrid öffnete sie und Bain kam herein. ,,Wo ist Vater?“

,,Es gab Probleme.“ Schnell schloss er sie wieder, als wäre jemand dicht hinter ihm. ,,Braga hat uns erwischt. Wir haben uns aufgeteilt. Ich sollte den Pfeil verstecken.“

,,Ist Vater ihnen entkommen?“, fragte Tilda.

,,Natürlich. Er hat Braga direkt auf die dicke Nase geschlagen“, erzählte er ihr. ,,Dann ist er davon gelaufen, schnell wie der Wind.“

,,Wirklich?“

,,Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen.“

,,Und wo hast du den Pfeil versteckt?“

,,Bei der alten Statue vom Bürgermeister.“

,,Das war dumm von ihm.“ Sigrid verschränkte die Arme unter der Brust und wirkte noch genauso nervös, wie seit ihrem Aufbruch. ,,Er wird verhaftet werden.“

,,Die kriegen ihn nicht. Er kennt jeden Winkel der Stadt.“

,,Dummkopf. Dann eben morgen oder an einem anderen Tag. Er hätte nicht weglaufen sollen. So hat er alles nur noch schlimmer gemacht.“

Bain erwiderte nichts mehr, schaute sie nur finster an.

,,Ist dir jemand gefolgt?“, mischte sich Fili ein.

,,Nein.“

Der Zwerg nickte. ,,Bleibt ab jetzt im Haus. Niemand verlässt es mehr.“

Sigrid zog eine Augenbraue in die Höhe, antwortete ihm schroff: ,,Ihr seid ein Fremder. Ihr habt nicht über uns zu bestimmen.“

,,Eurer Vater gab mir die Verantwortung über euch…“

,,Wenn mein Vater nicht da ist, habe ich das Sagen.“

,,…und die führe ich auch aus, solange er nicht zurück ist“, fuhr er unbeeindruckt von dem jungen Gör fort. ,,Ihr tut, was ich sage und bleibt im Haus.“ Das Mädchen machte erneut den Mund auf, doch Fili brachte sie zum Schweigen: ,,Keine Wiederrede.“

Abermals krümmte sich Kili, sodass er sich wieder um ihn kümmern musste. Fili fasste solange nach ihnen, bis der Krampf abklang. Dann lag sein kleiner Bruder einfach nur noch da. Sein Brustkorb, der sich angestrengt hob und senkte, war das Einzige, was sich von ihm rührte.

Fili gab ihm zu Trinken und befeuchtete sein Gesicht, als die

schiefen Balken auf einmal über ihnen knarzten. Oin hatte seinen Trichter nicht zu Hand und so war er zunächst der Einzige, der

das Getrappel auf den Holzschindeln hörte.

Etwas war auf dem Dach.

Sofort ging sein Blick durch den Raum. Er sah zu dem kleinen Mädchen, das auf der Bank unter dem Fenster stand und nach draußen starrte. ,,Tilda. Tilda, geh vom Fester weg“, raunte er lauter, als sie nicht reagierte.

,,Aber ich will sehen, ob Papa wiederkommt.“

Geduckt lief er zu ihr, fasste sie und hob sie davon weg, presste sich mit ihr auf dem Arm hinter den Vorhang und zog ihn zu. Überrascht schaute sie ihn an und merkte, dass etwas nicht stimmte. Schnell trug Fili sie zu ihrem bereits alarmierten Bruder. ,,Seid leise.“ Wieder ertönte das Getrappel über ihnen.

Diesmal bemerkten es auch die Kinder.

,,Wo ist eure Schwester?“ Doch dann hörte Fili sie selbst.

,,Vater?! Bist du es, Vater?“ Allen Anweisungen zum Trotz stand sie vor der Haustür und spähte auf die Gassen hinunter.

,,Sigrid, komm rein.“ Sie drehte sich zu ihm um, sah ihn bloß trotzig an. ,,Verdammt nochmal, komm her!“

Es war zu spät.

Sigrid kreischte los, als ein raues Fauchen über ihr ertönte. Ihre Geschwister sprangen erschrocken auf. Sie hechtete zurück ins Haus, zog die Tür hinter sich zu. Ein dunkler Arm streckte dazwischen und hinderte sie daran. Die Hand streckte sich nach dem Mädchen aus und sie ließ den Kauf los, wurde nach hinten geworfen.

Der Fäulnisgestank der Orks schlug ihm entgegen, als Fili den Ork von dem Mädchen wegzog und an die Wand drückte.

,,Unter den Tisch!!“, brüllte er, drückte gegen den Waffenarm, eine Klinge klapp über seinen Kopf. Sigrid tat, wie befohlen.

Bain wollte Tilda zu ihr drücken, als geräuschvoll Holz

splitterte. Durch das Dach brach ein weiterer Ork und gelangte zu

ihnen in den Wohnraum. Oin schmiss das, was er in der Hand hatte, diesem entgegen. Kreischend machte Tilda es ihm

nach, schmiss einen Teller vom Tisch. Sie traf ihn am Kopf, woraufhin der Ork sie anbrüllte und mit seinem dreckigen Dolch ausholte.

,,Tilda, runter!“ Sigrid zog sie schluchzend zu sich.

Bain trat die Bank gegen die Beine des Orks, riss dann deren Ende hoch und schlug sie dem Monster entgegen.

Fili, noch mit dem ersten Ork ringend, schlug diesem den Ellenbogen in die Rippen, dann die Faust gegen den Kehlkopf. Röchelnd ließ er den Dolch locker, sodass Fili ihn ihm durch seine lumpige Kleidung in die Brust bohren konnte.

Im Bett liegend konnte Kili nur zuschauen, wie zwei weitere Orks durch das Dach brachen und fauchend in einer Staubwolke im Raum standen.


~


Auch Bofur hörte etwas über sich und drehte sich danach um. Er konnte seinen Augen kaum trauen, als von einem Dach ein Ork sprang. Vor Schreck stolperte er über seine eigenen Füße.

Die Heilpflanze! Er versuchte noch, zu dem Kraut, das er fallen gelassen hatte, hinüber zu krabbeln, doch der Ork packte ihn. Bofur wurde durch die Luft geschleudert und prallte mit dem Rücken gegen das nächste Haus. Er kippte seitlich weg, fiel in einen Haufen Fischernetze. Mit dem nächsten unmenschlichen Jaulen des Monsters verlor er die Besinnung.


~


Die Mädchen schrien unter dem Tisch, der hochgehoben und

umgekippt wurde. Sigrid hielt Tilda im Arm, starrte zu dem Ungetüm hinauf.

Fili verzichtete auf den soeben abgenommenen Dolch und warf ihn. Allein seiner jahrelangen Übung zu verdankend, traf er den Ork am Hals. Dunkles Blut quoll hervor und ließ ihn vor den entsetzten Mädchen nieder sinken.

Angelockt vom Kampf tauchte aus der Nacht eine leuchtende Flamme in der offenen Tür auf, tötete gleich zwei Orks auf dem Weg ins Haus. Tauriel… Ungläubig starrte Kili sie an, wusste nicht, ob er fantasierte. Die Elbe wirbelte herum, schlitze den Eindringlingen die Kehlen auf. Durch eines der Löcher in der Decke glitt ebenfalls der blonde Elb mit den Kristallaugen. Kurz überflog er das Getümmel und stürzte sich dazwischen.

Kili war gefesselt von dem Anblick der tödlich-schönen Elbe, deren langen Haare im Licht der Lampen wie ein Panzer schillerten, bis ein Ork jedoch auf ihn selbst aufmerksam wurde. Er kam zum Bett und bekam ihm am Bein zu fassen. Vor purem Schmerz schrie Kili, versuchte, sich irgendwie von ihm zu befreien. Der Angreifer holt mit seiner Waffe aus und bekam eine lange, elbische Klinge in die Brust geschleudert. Erschlafft ließ er ihn los. Kili rückte von ihm fort, fiel dabei über die Bettkante.

Er starrte zu den Elben, die scheinbar ohne hinzusehen ihre blitzenden Waffen an den Hälsen der weiteren Orks, die ins Haus drangen, entlang rammten, sie so schnell und effektiv töteten.

Der Lärm im Raum war ohrenbetäubend; Klingen wetzten aneinander, das Gebrüll und Gejaule der Orks, das Schreien der Mädchen hatten bestimmt schon die halbe Nachbarschaft auf den Plan gerufen.

Bain kam zwischen die Fronten. ,,Runter! Runter!“ Fili drückt ihn zu seinen Schwestern unter die Ofenbank.

Tauriel hielt mit einem Verteidigungshieb einem Ork mit ihrer

Klinge den Schwertarm hoch. Dieser hatte ein weiteres Messer im

Gürtel stecken. Sie sah nicht, dass er langsam danach griff.

Kili tat es. Er dachte nicht darüber nach, als er zum toten Ork vor dem Bett kroch und ihm die Klinge aus dem Leib zog. Taub vor Schmerz, doch mit pochendem Herz konnte Kili ein letztes Mal die Kraft aufbringen, aufzustehen.

In diesem Moment zog der Ork das Messer und stach nach der Elbe. Bevor die Spitze ihren Bauch erreichen konnte, stieß Kili ihm den dünnen Stahl von hinten zwischen die Rippen.

Tot fiel er nach vorne über und riss Kili mit zu Boden, vor Tauriels Füße. Der wieder eintretende Schmerz raubte ihm endgültig die Sinne. Dann war es auf einmal still.

Langsam richtete sich Bain auf, starrte mit großen Augen auf die toten Orks, die in Blutlachen in ihrem verwüsteten Haus lagen. ,,Ihr habt alle getötet…“

,,Es kommen noch mehr“, erklang die Stimme des Elben, der mit langen Schritten den Raum durchquerte. ,,Tauriel, komm.“

Oin ließ sich zu Kili nieder. Speichel floss ihm ungehindert aus dem Mund, während er um Atem kämpfte. ,,Er hält nicht mehr lange durch!“

Fili eilte zu ihm, bettete seinen Kopf im Schoß.

Tauriel sah auf den sterbenden Zwerg, dann zu ihrem Gefährten. ,,Tauriel…“, drängte der Blonde und ging. Sie wollte ihm folgen, doch als der junge Zwerg schrie, zögerte sie. An der Tür sah sie zwischen ihm und ihrem davon eilenden Gefährten hin und her und ihre Augen gaben ihre innere Zerrissenheit preis.


Benommen schüttelte Bofur den Kopf und sah den Ork tot auf der Gasse liegen, das dämliche Gesicht ins Leere starrend. Ein weißgefiederter Pfeil hatte ihm zielsicher das Herz durchbohrt.

Das Kraut vor sich liegend sehen, rappelte Bofur sich auf und stürmte damit die nahe Treppe des Hauses hoch. Er erschrak, als er eine Elbe vor sich stehen sah.

Diese wollte reflexartig nach ihren Waffen greifen, doch sie

entdeckte die Pflanze in seiner Hand und ihre braunen Augen wurden groß. ,,Artvelas.“ Sie nahm es ihm aus der Hand. ,,Atvelas…“

,,Was habt Ihr vor?“

Die Heilpflanze in den Händen, sah sie ihn ruhig und mit glänzenden Augen an. ,,Ich bewahre ihn vor dem Tod.“


~


Helles Licht und heiße Luft schossen ihm entgegen, als er eine Ecke erreichte und ließen nichts Gutes erahnen. Thorin reckte die Hand gegen die Hitze und rannte weiter, als es verlosch, sein Schwert fest in der Hand. Er rannte schnell, schlitterte manchmal über den glatten Felsboden, wenn er eine Ecke zu schnell nahm.

Den Weg kannte er und so öffnete sich schon bald die Schatzhalle vor ihm. Auch den Anblick des Goldes kannte er. Nach all den Jahren hatte er es jedoch nicht so atemberaubend in Erinnerung gehabt. Wind blies ihm entgegen, ließ seine Haare wehen und Thorin sog außer Atem die Luft ein. Überwältigt von seinem Ausblick fiel seinen Blick hinab in die ausgedehnte Halle.

Es war immer noch hier, immer noch an diesem Ort. Das Gold seines Volkes, in seiner gesamten Schönheit und Pracht…

Schritte und ein keuchender Atem näherten sich. Thorin fuhr herum. Über einen der Treppenwege kam Bilbo hinaufgerannt.

,,Du lebst?“

,,Nicht mehr sehr lange!“

,,Hast du den Arkenstein?“

,,Der Drache kommt!“

,,Den Arkenstein!“

Erst als sie am Torbogen gegenüber standen, fand Bilbo die Zeit, ihn anzusehen. Er wollte ihm schon antworten, dass sie ganz andere Probleme hätten, da fiel ihm etwas Ungewöhnliches bei dem sonst so kraftstrotzenden Zwerg auf. In Thorins grauen Augen war fast schon ein Flehen nach einer Bestätigung zu sehen.

,,Hast du ihn gefunden?“, fragte er geradezu hoffend.

Immer noch starrte Bilbo zu dem großen Zwerg hinauf, doch

etwas ließ ihn zögern. ,,Na“, keuchte er schnell, ,, wir müssen raus hier“ und wandte sich zum Gehen ab. Nur weg von hier…

Es war wie ein Reflex.

Geräuschvoll schlug der Stahl des Schwertes vor den Torbogen und Bilbo vor die Brust. Der Hobbit schaute zu Thorin empor, dessen Blick starr und unerbittlich auf ihn gerichtet war.

,,Thorin…“ Der Druck auf seiner Brust zwang ihn dazu, rückwärts zu gehen. Wieder schlug ihm sein Herz bis zum Hals und ließ ihn den strahlenden, silbernen Schimmer in den Augen des Zwerges übersehen. Was war denn in ihn gefahren?

Thorin sah, wie der Hobbit es mit der Angst zu tun bekam.

Gut. Dann würde ihm wenigstens klar werden, dass er versagt hatte. Er richtete die Schwertspitze auf ihn, ging auf ihn zu und trieb ihn wieder in die Halle zurück. Wir müssen alle unseren Teil dazu betragen und er…er hat stattdessen den Drachen geweckt…, nahmen seine Gedanken ihren eigenen, düsteren Weg.

,,Thorin.“ Noch immer sah Bilbo den Zwerg an und dieser starrte ihn an. Er war wie in Trance. Was hatte er mit ihm vor?

Plötzlich fiel Bilbos Blick nach rechts und dort blieb er.

Thorin legte den Kopf schief und bemerkte erst jetzt den ungewöhnlichen Wind unter dem Berge. Der silberne Schimmer wich aus seinen Augen und sein Geist vertrieb den Schatten aus Zorn, den er gespürt hatte. Er drehte sich in die Richtung, in die Bilbo starrte und erblickte den Drachen.










22



Smaug näherte sich über einen Goldhügel, witterte in der Luft und als er den bekannten Geruch des Zwerges vernahm, glühten seine Augen todessüchtig auf.

Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gesammelt, doch er

verspürte keinerlei Angst vor der Bestie. Nur Hass.

Mit einem ganz ähnlichen Blick nahm Thorin sein Schwert in Stellung. Smaug bleckte die Zähne. Aus dem sich öffnenden Maul tropft bereits heißer Geifer. Die schwarzen Klauen gruben sich in das Gold unter seinen Füßen, als er seinen Körper spannte.

Wie ein Himmelfahrtskommando stießen lautstark die restlichen Gefährten zu ihnen, erblickten ebenfalls den Drachen und reckten ihre Waffen gegen ihren Feind. In diesem Moment ging der Drache auf sie los. ,,Ihr werdet BRENNEN!!“ Sein glühender Brustkorb kam schnell näher. Die Männer schrien Unverständliches, sprangen das Treppenpodest hinab und hinein in das Gold. Drachenfeuer jagte rauschend über sie hinweg. Sie fielen abwärts und retteten sich durch ein Portal in einen anderen Gang hinein.

Haltlos spie Smaug hinter ihnen sein Feuer in seiner Tobsucht. Thorin als Letzter schlugen die Flammen in den Rücken. Er schrie auf und wölbte den Rücken, um ihnen zu entkommen, spürte die Hitze, die sengend über seine Haut kroch, bis tief in seinem Körper zu dringen schien. Wie ein Sog zerrten sie an ihm.

Sein Mantel fing Feuer. Blind vom hellen Licht kam er aus der Schatzhalle gestolpert, rollte sich zu seinen Männern in den Raum hinab. Jemand riss ihm den alten Mantel von den Schultern und Thorin stand wieder auf. ,,Los, weiter.“


~


,,Bereit?“ Die drei Zwerge hoben Kili hoch, legten ihn auf dem wieder aufgestellten Tisch. Tauriel wusch das Königskraut in einem Topf, den Tilda ihr hielt. Kili lag nicht still, wand sich unter den Griffen. Sein Bruder sprach ihn an, versuchte ihn zu beruhigen, doch er reagierte nicht mehr auf ihn, als ein nicht enden wollender Krampf seinen Körper beherrschte. Fili kletterte auf den Stuhl, legte sich mit dem Oberkörper neben ihn.

,,Haltet ihn fest“, wies Tauriel kühl an, fasste sein Bein und sah die schwarze Wunde. Bei ihrer Berührung stöhnte Kili auf, versuchte sich zu wehren, doch Fili hielt ihn an den Schultern unten. Die Elbe begann in ihrer Sprache zu sprechen, zerrieb das Königskraut zwischen den Händen. Dann presste sie es auf die Wunde und Kili schrie.

Sigrid kam den Zwergen zu Hilfe, hielt ihn mit auf dem Tisch. ,,Tilda!“ Die Kleine ließ ihre Puppe los und kam zu ihr.

Tauriel sprach ohne Pause weiter, konzentrierte sich voll und ganz auf die vergiftete Wunde.

Fili sie zu ihr empor. Er verstand kein einziges Wort. Für ihn war die Sprache völlig fremd, doch er merkte, dass die Wörter einem Spruch gleich sich wiederholten. Kili vor ihm stöhnte, atmete laut und angestrengt, die glasigen Augen ins Leere starrend… Und allmählich wurden seine Bewegungen schwächer. Sein Bruder sah, dass sie es tat, dass sie ihn heilte, und schaute voller Ehrfurcht zu der Elbe empor.

Kili stieg höher, fort von dem dunklen, bodenlosen Abgrund, über dem er lag. Sein Körper wurde befreit und die Schwärze verschwand. Er öffnete die Augen und erblickte Tauriel neben sich stehen. Und auf einmal erstrahlte sie in hellem Licht. Es war fein, als würde ein neuer Morgen anbrechen und er direkt in die Sonne schauen. Ihre schönen Rehaugen sahen von oben auf ihn herab und er lauschte ihrer Stimme, sah ihren geschwungenen Lippen und ihrer Zungenspitze, wie sie fremde Wörter formten.

Sie sah so rein aus, so zart und stark zugleich.

Langsam entfernte sich ihre Stimme von ihm, doch ihr Strahlen blieb noch für einen Moment.


~


,,Sch…“ Thorin hob die Hand. Sie kamen aus einem getragenen Gang an einen Weg, der ohne Deckung vor ihnen lag. Er lugte um die Ecke, sah sich nach allen Seiten um. Nichts rührte sich.

Rechts führten ebenfalls Wege von verschiedenen Ebenen hinüber auf die andere Seite. Links lag eine Felswand mit in den Fels gehauenen Gebäuden mit kleinen Fenstern; die Rückseite einer Wohnhalle.

,,Wir haben ihn wohl abgeschüttelt“, flüsterte Dori.

,,Nein“, wiedersprach Dwalin, ,,dafür ist er zu gerissen.“

,,Und wohin jetzt?“, hauchte Bilbo.

,,In die westliche Wachkammer“, antwortete Thorin. ,,Dort ist vielleicht ein Ausgang.“

,,Die liegt zu hoch“, wiedersprach Balin. ,,Das schaffen wir nicht.“

,,Es ist die einzige Möglichkeit. Wir müssen es versuchen.“ Mahnend hob ihr Anführer den Zeigefinger, dass alle achtsam und leise vorwärts gehen sollten. Nur langsam folgten sie ihm über den offenen Weg. ,,Kommt“, flüsterte er und fuhr zusammen.

Eine Münze fiel zu Boden und unterbrach unbekümmert die Stille. Ihr schrecklich heller Ton zerriss die Luft.

Alle sahen zuerst Nori an. Dieser verengte empört die Augen, während Bilbo sich abtastete. Woher kam die Münze? Von o…

Langsam richteten sich alle Blicke nach oben und die Männer hörten auf zu atmen.

Über die Querträger der Bauten bewegte sich der Drache über sie hinweg. Zwischen seinen Schuppen am Bauch glitzerten Münzen, die dort zwischen steckten. Manche fielen hinab, klirrten, wenn sie irgendwo in der Tiefe aufschlugen.

Thorin machte eine Geste, dass sie alle weiter gehen sollten.

Die Männer setzten sich in Bewegung, während Smaug sich über sie hinweg bewegte und nach ihnen suchte.


~


Mit routinierten Griffen und einem sauberen Stoff verband Tauriel sein Bein, als Kili wieder zu sich kam. Sie schenkte ihm einen kurzen Blick, richtete ihn jedoch zurück auf den Verband.

,,Ich habe schon von den Wundern der elbischen Arznei gehört“, raunte Oin Fili zu. Die beiden standen in der Küche.

,,Es war eine große Ehre das mit anzusehen.“

,,Aha“, brummte Fili müde und weniger fasziniert.

Entkräftet lag Kili auf dem Tisch, den Kopf auf eine Schüssel mit Wallnüssen gelegt, die als Kissen diente. Nur schwer konnten seine Augen ihren Fokus halten, der immer wieder wie sein Geist abdrifteten. Er konnte sich nicht bewegen, selbst Blinzeln schien zu diesem Zeitpunkt unmöglich zu sein.

Doch er war am Leben. Dank ihr.

,,Tauriel“, flüsterte er das einzige Wort, was ihm einfiel.

Sie drehte sich zu ihm und ein sanftes Lächeln umspielte ihren Mund. ,,Ruht Euch aus.“ Doch allzu schnell verschwand es wieder und sie wandte das Gesicht ab.

Es war also doch ihr Name. Der Schmerz war aus seinem Körper verschwunden und die zurückgebliebene Schwäche, so wusste er, würde vergehen. Sie hatte es möglich gemacht.

Wieso war sie nicht bei Ihresgleichen? Was war überhaupt geschehen? Das zarte Kribbeln in seinem Bauch verspürte er wieder. Kili sah ein, dass diese Gefühle für sie wie auf gebrochenem Glas errichtet worden waren, als wären sie haltlos. So, wie er sich seine Gefühle zu ihr einstand, so sah er auch, dass sie einfach zu verschieden waren. Sie schwebt leuchtend über ihm und er stand am Boden und schaut zu ihr hinauf. Egal, was er sich

erhofft hatte, es hätte nicht funktionieren können.

,,Ihr könnt es nicht sein…“ Seine Stimme war bloß ein Hauch, wie das Flüstern eines leisen Windes, der sie innehalten ließ. ,,Sie ist weit entfernt…sie…sie ist weit, weit entfernt von mir. Sie wandelt in einer anderen Welt, zwischen Mond und Sternen…

Es war nur ein Traum.“ Seine Hand hob sich zu ihrer. Er wollte sie berühren. Einen Stern am Himmel.

Seine Finger streiften ihre Haut, so wie das erste Mal, als sie ihm den Runen-Stein zurück gab. Langsam schob er seine Finger zwischen ihre, spürte ihre Zartheit und zaghaft erwiderte die Elbin seine Berührung. ,,Denkt Ihr, sie hätte mich lieben können?“ Tauriel antwortete nicht und Kili schloss die Augen. ,,Ich hab sie gesehen… doch sie ist zu weit entfernt.“

,,Nein…ist sie nicht“, erklang ihre leise Antwort, doch er konnte nur mühevoll seine Augen öffnen. Die Erschöpfung legte ihr Tuch über ihn und so sah er sie nur schemenhaft, hörte dafür ihre Stimme, spürte ihre Hand, die seine nun ganz nahm, und ihre andere, wie sie sich darüber legte, als wollte sie etwas in ihnen wahren. ,,Sie hat es gewagt zwischen den Welten umher zu wandern… Weil er ihr ein Licht gab. Sie möchte fremde Sterne sehen und sehnt sich nach einem Feuermond…“


~


,,Bleibt zusammen“, raunte jemand im Rennen. Sie flüchteten einen langen und breiten Korridor entlang, kamen in einem großen Raum…und blieben stehen, tief ergriffen von dem Anblick und der Kälte, die sie empfing.

Vor ihnen lagen farblose Körper am Boden. Spinnenweben hatten den Zwergen seidene Schleier als Totentücher verliehen.

,,Hier endet es“, sagte Dwalin niederschmetternd. ,,Es gibt kein

Weg hieraus.“ Auf der anderen Seite des ehemaligen Saals gab es

einen Torbogen, doch dicke Felsen versperrten den Weg.

Der Gang war eingestürzt. Diese Zwerge mussten noch im Berg gewesen sein, als das Haupttor zugeschüttet wurde.

Andächtige Stille herrschte unter den Männern. Thorin schaute in die puppenhaften, leeren Gesichter der Männer, Frauen und Kinder. Die Augenhöhlen waren leer, die Lippen vertrocknet.

Er blickte auf ein Baby, das in den Armen seiner Mutter lag.

,,Die letzten unserer Sippe“, flüsterte Balin. ,,Sie müssen hergekommen sein, weil sie noch Hoffnung hatten, wo es keine mehr gab.“ Nach einer langen Stille schlug er vor: ,,Wir könnten versuchen die Mienen zu erreichen. Dann bleiben uns vielleicht noch ein paar Tage.“

,,Nein“, hauchte Thorin, ,,so werde ich nicht sterben.“ Langsam schritt er tiefer in den Raum hinein, stand nun inmitten der Toten. ,,Kauernd…nach Atem ringend.“

Ihr Reich war in Flammen untergegangen, ihr Volk in die Winde zerstreut, ruhte hier vor ihren Füßen im Staub. Ihre Gemeinschaft hatte einander geschworen, für ihr Land und dessen Freiheit zu kämpfen. Sie hatten nicht diese Reise und all ihre Gefahren auf sich genommen, um nun ebenfalls im Staub vergessen zu werden.

Mein Großvater Tuk hat immer gesagt, dass das Leben ohne Glauben ein Funken wäre, der aus der Kohle springt und verlischt.

Thorin hatte den Glauben, die Hoffnung vom freien Erebor nicht erloschen lassen. Er hatte es die Jahre über nicht getan und jetzt würde er es auch nicht tun. Sie hatten es gewagt, aus der Kohle zu springen und werden nicht der Funken sein, der verlischt.

Und wenn es doch so kommen sollte, dann würden sie ausbren-nen, damit jeder sich an sie erinnern würde. Kampflos würden sie ihren Glauben an ein freies Erebor nicht verlieren.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke und Thorin fühlte, wie der

reifende Plan durch seinen Körper drang und ihm neue Kraft

verlieh. Er drehte sich zu seinen Männern um. ,,Wir gehen zu den Schmieden.“

,,Er wird uns sehen“, meinte Dwalin. ,,Todsicher.“

,,Nicht, wenn wir uns aufteilen.“

,,Thorin…“ Balin schüttelte den Kopf. ,,Das schaffen wir nie.“

,,Ein paar von uns vielleicht doch. Lockt Smaug zu den Schmieden. Wir töten den Drachen“, sagte er und sein Herz schlug kraftvoll vor Leidenschaft. ,,Wenn es schon im Feuer endet, dann werden wir gemeinsam darin untergehen.“
























23

 

 

Hier entlang!“, rief Thorin, Balin und Bilbo folgten ihm.

Sie durchquerten eine Halle auf einem der charakteristischen, durch die Luft führenden Wege, die es in Erebor haufenweise gab, und liefen auf Gebäudekomplexe zu. Auf der anderen Seite der Halle hingegen war das Gestein noch roh und zerklüftet. Schräg links von ihnen führte ein weiterer Weg von einer unteren Ebene davon. Rechts lag ein anderer, der zu den Wohnstuben führte. Und ein weiterer weiter unten.

Keine Minute zu früh erreichten sie die günstige Stelle für ein Ablenkungsmanöver, denn die Stimme des Drachen erklang aus der Dunkelheit.

,,Flieht…Flieht… Lauft um eurer Leben… Ihr könnt euch nicht verstecken.“ Die drei blieben auf der Stelle stehen. Aus dem Schatten des zerklüfteten Gesteins kam Smaug hervor, kroch über die Felsen, das Gewicht auf die Vorhand verlagert, um zu ihnen springen zu können. Doch eine andere Stimme stoppte ihn:

,,Hinter dir!“ Smaug wandte den Kopf zu Dori, Ori und Bombur, die auf dem Weg links näher kamen.

,,Komm, hier drüben!“

Er stieß sich ab und sprang mit einem unvorhergesehenen mächtigen Satz auf ihren Weg, der unter ihm erzitterte.

Die drei begannen zu rennen.

,,HEY, DU!!“, schrie Dwalin von dem rechten Weg aus. ,,Hier, du Termite!“ Grummelnd wandte sich Smaug sofort ihm zu. Dwalin schlug Nori gegen den Arm, dann rannten auch sie los.

Der Drache wollte ihnen nachgehen, doch Gloin und Bifur auf

dem untersten Weg erregten seine Aufmerksamkeit. Sie liefen zu einer Felsnische hinüber, die wie eine lange Kerbe das Gestein zerfurchte.

Machtlos mussten die Gefährten von oben zusehen, wie Smaug zu ihnen hinab sprang und seine Flammen hinter ihnen her sandte. Rauschend türmten sie sich auf, erhellten das Gestein, das zu einer rotglühenden Falle wurde. ,,Bifur, Gloin…“, flüsterte Bilbo, als er die dicht aufschlagenden Flammen sah.

Thorin schüttelte den Kopf. ,,Wir müssen weiter.“

Balin legte Bilbo die Hand auf die Schulter, der immer noch zu der Felsspalte blickte. ,,Dort ist ein Eingang zu den Mienen. Sie könnten es vielleicht geschafft haben. Komm, mein Junge.“

Sie liefen vorbei an den Gebäuden, die einen Eingang zu einer Wohnhalle bildeten, dann ein Treppenhaus hinab.

Thorin konzentrierte sich allein auf die nächsten Schritte, kramte in seinen Erinnerungen und ging in Gedanken alles noch einmal durch. Sollte sein Plan scheitern, so war er sich sicher, wären sie tot.

Sie rannten in einen breiten Gang hinein. An einem Torbogen in der dicken Wand blieb Balin stehen. ,,Hier entlang!“, rief er, doch Thorin lief in seine Gedanken vertieft weiter. ,,Wir müssen hier entlang! Kommt schon!“, schrie er nun.

Bilbo blieb stehen. ,,Thorin!“

Erst jetzt reagierte er. Gerade als er zurückgehen wollte, tauchte Smaug am Ende des Ganges auf, starrte zu ihnen hinüber. Seine Begleiter drehten sich ebenfalls zu dem Drachen um.

Smaug wusste genau, wer er war, wusste, dass Thorin gekom-men war, um sein Gold und sein Land wieder an sich zu nehmen. Und das erkannte auch der Zwergenkönig. Er will mich.

,,Geh mit Balin!“, rief er, ohne den Drachen aus den Augen zu lassen.

Bilbo zog sich zurück, sah ihn flehend an. ,,Thorin…“

,,Komm her!!“ Der Weißhaarige packte ihn an den Schultern,

als eine Welle aus Flammen die Wand entlang auf sie zuraste.

Thorin fuhr herum, setzte kraftvolle Schritte und spürte die Hitze in seinem Rücken. Dann war der Erdboden unter ihm zu Ende.

Er sprang ab, stieß einen Schrei nach Leben aus. Sein Schwert fiel ihm aus den Händen und er hatte das Gefühl, minutenlang durch die Luft zu fliegen, aber doch keine Zeit zu haben, Atem zu holen. Seine Hände packten eine Kette und die Zeit, die stillgestanden hatte, kam wieder in Bewegung. Er hing sich an die Stollenwinde, die Füße auf den Sitz stellend, und sie sauste mit ihm in die Tiefe.

Kopfüber stürzte sich Smaug in den Schacht, setzte brüllend ihm nach, zerstörte unhaltbar alles auf seinem Weg.

Die Luft zischte an Thorin entlang, bis ein gewaltiger Ruck durch die Kette und schmerzhaft durch seinen Körper ging, sodass er fast losgelassen hätte. Im nächsten Moment jagte er wieder nach oben. Harte Hautplatten rissen ihm fast das Bein auf, als er am Kopf des Drachen vorbei glitt, nahm den Gestank seines Maules wahr, ehe er in die Höhe schoss.

Smaug gelang es, sich im Schacht zu winden. Die mächtigen Kiefer schnappten zu und bekamen die Fußbügel des Sitzes zu fassen. Thorin krallte sich fest, schaute auf Smaug. Er hörte das Krachen des Getriebes, das aus seiner Verankerung gerissen wurde, fiel erneut und fühlte einen Wimpernschlag später unnachgiebige Haut unter seinen Stiefeln. Schwankend richtete sich der Zwerg auf und stand auf Smaugs Oberkiefer. Das Maul öffnete sich und er sah tief in den Rachen der Bestie hinab. Glühend hell stach der Tod in seine Augen.

Smaug wollte hochschnellen, doch Thorin sprang geistesgegen-wärtig von ihm ab und erreichte mit Not eine andere Winde. Im allerletzten Moment, denn von oben knallte wenige Sekunden später das fallende Getriebe auf den Drachen.

Abermals ging ein Ruck durch seinen Körper und wieder schoss er in die Höhe. Die Zahnräder der Winde jaulten hoch über ihm. Keuchend klammerte Thorin sich am Sitz fest, versuchte, sich höher zu drücken. Ein furchtsames Geräusch erklang unter ihm. Wie seine Jäger folgten ihm Flammen, lechzten danach, ihm bei lebendigem Leibe aufzufressen.

Das Ende des Schachtes raste auf ihn zu, die Räder des Getriebes ratterten immer näher und Thorin sah zwei Gestalten über den Rand gebeugt stehen. Oben angekommen griff er nach ihnen und einen Moment später fasste seine Arme die von Nori und Dwalin.

Kaum hatte er sicheren Boden unter den Füßen, schrie er:

,,Los! Los!!“ Hinter ihm schoss das Drachenfeuer empor und die Männer brachten sich in Sicherheit.

 

Durch den Torbogen kommend erreichten sie die Schmieden, genauer die Schmelzerei. Alle hatten sich beim vereinbarten Treffpunkt eingefunden, doch Gloin und Bifur waren nicht unter ihnen. Doch sie hatten keine Zeit Sorgen um sie zuzulassen.

Rechts neben dem Durchgang trennten dicke, verbolzte Stahl-gitter die Halle ab. Fünf massive und hohe Öfen standen in einer Reihe vor ihnen und hinter diesen befanden sich hohe Statuen, die Wasserräder in sich hielten. Hoch über ihnen waren zwei gekreuzte Ketten durch die Halle gespannt, an denen Bergbau-Hunten hingen. Sie befanden sich am Anfang der Schmelzerei, die sich nach rechts weiterzog und Thorin sah, dass es der Hallenabschnitt war, den er brauchte. Diesen hatte Thror nämlich umbauen lassen, da er näher an der ausgewählten Halle lag. Demnach müssten sich in den Öfen noch jenes Gold befinden…

,,Unser Plan geht nicht auf“, bemerkte Dwalin missmutig. ,,Diese Öfen sind eiskalt.“

,,Er hat recht“, stimmte sein Bruder ihm zu. ,,Wir haben kein Feuer, das heiß genug ist, sie zu entfachen.“

Sie nicht, aber… Von irgendwo kam ein echogefolgtes Fauchen, abgrundtiefe Verachtung in sich. Schweißgebadet drehte sich Thorin um. ,,Vielleicht doch.“ Viele hatten ihm gesagt, dass diese Mission verrückt und Selbstmord wäre und ein paar solcher

Gedanken kreisten ihm nun tatsächlich durch den Kopf.

Mit großen Schritten ging er zum Gitter hinüber und rief

hindurch: ,,Ich hätte nicht gedacht, dass du so leicht zu überlisten

bist!“

Was tut er denn?, dachte Bilbo entsetzt. Genau das dachten alle anderen auch, denn lange Vorderläufe kamen aus dem Stollen-schacht heraus, der sich direkt auf der anderen Seite befand.

,,Du bist langsam geworden! Und fett!“, fuhr Thorin mit seinem Hohn fort, während der Drache aus dem Schacht kletterte. ,,Du bist altersschwach.“ Smaug sah ihn an und in seinem Blick bündelte sich der pure Hass. ,,Du Schnecke.“ Thorin drehte sich um und raunte: ,,In Deckung“, mit dem Anflug eines Schmunzelns, presste sich dann hinter eine Gitterstrebe.

Seine Männer kamen auf ihn zugerannt, warfen sich ebenfalls hinter das dicke Metall, hörten den rauen Atem des Drachen, der so furchtbar nah war. Der Stahl erzitterte unter dem einsetzenden Feuer, das wie ein Orkan dagegen drückte. Die Männer kniffen die Augen zusammen, pressten sich an die Streben und versuchten, sich so schmal wie möglich zu machen. Bedrohlich lag die Hitze an ihnen, nahm ihnen die Luft. Drachenfeuer schoss zwischen ihnen hindurch und in die Schmelzerei hinein. Es prallte auf die Öfen und löste sich in feurigen Wirbeln auf. Mit einem lauten Paffen schossen rußige Stichflammen unter dem ersten Ofen empor. Was folgte, war eine Kettenreaktion.

Ein Ofen nach dem anderen wurde entzündet. Doch die aufkeimende Euphorie der Zwerge wurde bei der ersten Erschütterung jäh gestört. Ihre Körper wurden durchgerüttelt, als Smaug begann, sich gegen das Gitter zu drücken.

Die Männer eilten von den Streben weg.

,,Bombur, bring die Blasebälge in Gang. Geh!“, wies Thorin ihn nach seinem Zögern an. Der dicke Zwerg rannte los.

Bombur hing sich an seine Kette, die beim mittleren Ofen hing und verschwand im Boden. Bläuliche Flammen schossen darauf-hin unter den Öfen empor, als der Blasebalg dem Feuer Luft zum Wachsen gab. In der Halle entwickelte sich schnell Hitze, sodass ihnen allen, wie den Schmelzern, die hier einst gearbeitet hatten,

der Schweiß ausbrach.

Was hat er bloß vor?, fragte sich Bilbo, als er die brennenden Öfen sah.

Die massiven Gitter ächzten und quietschten qualvoll, als Smaug sich dagegen drückte. Die ersten Streben wurden verbogen.

Thorin rief den Hobbit zu sich, legte ihm die Hand auf die Schulter. ,,Da rauf! Auf mein Zeichen ziehst du den Hebel runter.“ Er sah ihm nach, wie er zu den Wasserrädern eilte.

In diesem Moment drückte Smaug den Stahl aus seiner Verankerung. Die Zwerge zogen sich hinter die Öfen zurück.

,,Balin, gelingt dir noch eine Stichflamme?“, fragte Thorin.

,,Ja, dauert nur einen Augenblick. Kommt!“ Mit ihm eilten die drei Brüder davon.

,,Wir haben keinen Augenblick“, raunte Dwalin.

Quietschend gaben die Streben endgültig nach und der Drache brach zu ihnen in die Halle.

 

~

 

,,Wo ist der Schwefel?!“ Balin und Gefolge hatten sich in der Kammer oberhalb der Wasserräder zurückgezogen, wo Stoffe zum Anreichern und Veredeln des geschmolzenen Edelmetalls gelagert waren, und holten alle möglichen Zutaten aus den verstaubten Regalen hervor. Sie füllten kleinere Tongefäße, schütteten das, was sie fanden, hinein. Als würde er etwas Spaßiges zusammenbasteln, schmunzelte Balin in sich hinein.

,,Weißt du überhaupt, was du da tust?“, fragte Dori, als er sah, dass der Alte eine ganze Handvoll von dem schwarzen Pulver nahm.

,,Ja, ja! Mehr davon!“, rief er Ori zu.

Eine Prise mehr gab er hinzu, doch Nori drückte den Finger auf

den Krug, sodass der gesamte Inhalt hinein rutschte.

 

~

 

Bilbo lief die Treppen hinauf und stand schließlich auf einem Podest, vor ihm ein riesiger Hebel. Zu seinen beiden Seiten standen Statuen von Zwergenköpfen, mit Helmen und Visier.

Er drehte sich um und entdeckte Thorin und Dwalin, die noch immer dort unten standen, während der Drache vorwärts schlich und nach ihnen Ausschau hielt. Was hatte er nur vor?

Smaug kam zwischen der Ofenreihe hindurch und entdeckte sie. Der riesige Kopf drehte sich in ihre Richtung, schaute Thorin todessüchtig an.

,,JETZT!!“

Smaug kam auf ihn zu und Bilbo hing sich an den Hebel, der langsam nieder sank. Donnernd schossen Wassermassen durch die Münder der steinernen Zwerge und trafen den Drachen.

Von der Kraft des Wassers wurde sein Körper gegen die Öfen gedrückt. Heißer Wasserdampf schoss Thorin und Dwalin in die Gesichter. Schützend reckten sie die Arme vor die Augen.

Um dem kalten Wasser von den Bergseen zu entkommen, schlug Smaug mit den Flügeln. Der Wasserdruck sank und nun floss es auf die Wasserräder in den Mündern der steinernen Zwerge und brachte diese in Bewegung. Zahnräder und Winden begannen zu rattern. Von ihnen angetrieben bewegten sich die

gespannten Ketten über ihren Köpfen.

Thorin schaute zu den mit Gold gefüllten Öfen empor, die immer wieder von Bombur angefacht wurden.

Doch Smaug näherte sich wieder. Und nun war er richtig wütend.

Mit bläulichem Rauch explodierte etwas an seiner Flanke.

Von der höher gelegenen Kammer aus wurden die gebauten

Bomben auf Smaug geworfen. Diese hatten jedoch keinerlei Wirkung auf einen rasenden Drachen. Plötzlich fielen die Hunten über ihm von den Kettengliedern. Die mit rohen Goldbrocken gefüllten Kästen knallten ihm auf das Rückgrat und Smaug brach mit einem Schrei unter ihnen zusammen.

Thorin und Dwalin sahen nach oben und entdeckten Gloin und Bifur, die in Hunten an der zweiten Leine saßen. Jubelnd reckte Dwalin die Faust. Thorin rannte zu einem Ofen und zog an einer Kette. Quietschend ging die Luke auf. ,,Dwalin, die Luken!“

Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da rannte sein Freund schon los.

Das flüssige Gold floss die Rinne hinab und in Fugen, die in den Boden gehauen worden waren. Die hatte Thror extra veran-lasst hineinzuschlagen, denn dieser Hallenabschnitt war von ihm in den letzten Wochen, die sie in Erebor verweilten, umgebaut worden, damit sie das Gold sofort in eine andere, nahegelegene Halle leiten konnten, um dort ein Meisterwerk zu seinen Ehren schaffen zu können.

All das hatte Thorin von Anfang an bedacht.

Smaug verfing sich in den Ketten. Bei seinem Versuch, sie loszuwerden, wirbelte er herum, riss den Kopf empor und riss so auch die zweite Leine nieder. Gloin und Bifur in den leeren Hunten wurden zu Boden geschleudert.

Unterdessen wurde eine Luke nach der anderen von Dwalin geöffnet, sodass mehre tausende Liter flüssiges Gold hinaus flossen. Adern glühten im Boden der Halle auf, durch die der goldene Lebenssaft des Berges floss.

In seiner Tobsucht wirbelte Smaug herum, schlug so die Leinen mit den massiven Hunten an die Statuen. Bilbo warf sich auf den Boden, ehe sie über ihn hinweg schmetterten und das Gesicht des steinernen Zwerges zerschlugen.

Balin und die Brüder stießen wieder zu Thorin, doch dieser verfolgte weiter seinen Plan. ,,Lockt ihn in die Ahnenhalle der Könige!“ Er holte eine Schubkarre, rannte mit ihr zwischen seinen Gefährten hindurch, geradewegs auf den Drachen zu.

Um ihn herum brauste ein Sturm, als er durch seine Beine und

unter ihm hinweg rannte. Gesteinsbrocken flogen an ihm vorbei. Er schlug Haken, um den, über den Boden schlitterten Ketten und den herumtänzelnden Läufen auszuweichen. Neben ihn floss als sein Verbündeter der Fluss aus purem Gold.

Smaugs Schwanz schlug gegen das Gestein. Durch Bilbo fuhr die Erschütterung, die ihm fast die Beine wegzog.

Die breite Rinne, in der sich alles Gold bündelte, verlief unter dem Mittelteil der Wasserräder hindurch. Thorin warf die Schubkarre auf den goldenen Strom und sich hinterher.

Smaug entdeckte ihn, über dem verhassten Zwerg bröckelte jedoch bereits das angeschlagene Gestein. Teile der Statuen brachen zusammen. Der Erdboden raste auf Bilbo zu, während er Gestein um sich herum brechen hörte. Er überschlug sich fallende Felsstücke hinab, wurde zu Boden geschleudert. Der Aufprall verschlug ihm die Luft. Mit schmerzenden Rippen suchte er nach Atem. Glühend richteten sich Smaugs Augen auf ihn.

Thorin drehte sich um, sah den Hobbit am Boden liegen, dahinter den Drachen. ,,Weiter, Bilbo! LAUF!“

Der Anblick des Drachen und Thorins Stimme ließ ihn sich erheben. Er rappelte sich auf, rannte an den Wasserrädern vorbei, in die Richtung, in der Thorin verschwunden war. Smaug setzte ihm nach, doch hinter den Zwergen aus Stein gab es keine Treppe und Bilbo fand sich an einer abfallenden Kante wieder.

Hinter ihm sperrte Smaug das weite Maul auf und Bilbo tat das einzig Richtige und sprang. Ungebremst rutschte er eine lange Schräge hinab. Ohrenbetäubend wurden Gestein und Stahl zermalmt, als Smaug ihm nachjagte.

 

Unter seinem Körper wurde es so warm, bis es fast nicht mehr zum Aushalten war. Seine Handflächen brannten. Thorin sah nach vorne, balancierte sich auf dem Gold aus und schoss so durch den unterirdischen Gang. Er nahm an Fahrt auf. Die Rinne endete in der Luft und er erblickte Ketten von oben herab hängen. Schließlich öffnete sich der Gang. Kraftvoll stieß Thorin sich ab und flog abermals für einen Moment durch die Luft, bevor er eine Kette erreichte, sich daran hing. Das Gold floss samt der Schub-karre in ein Loch in einem Gesteinsblock.

Der König sollte sein Gold bekommen.

 

~

 

Obwohl seine Lungen brannten, sein Herz schmerzlich gegen seine Rippen schlug, rannte Bilbo weiter. Er konnte nicht mehr, wusste nicht mehr wohin.

Das Glühen der Öfen hatte er hinter sich gelassen und durchquerte einen von mehreren Torbögen, die zu einer riesig hohen Wand gehörten. Er fand sich in einer Halle wieder, die ganz anders aussah, als die, die er schon gesehen hatte. Meterlange Banner aus Stoff hingen über ihm und schmückten die Wände. Dicke, gedrungene Säulen befanden sich an der Längsseite unter Emporen.

Kopflos rannte er weiter und dachte schon beinahe, den Drachen abgehängt zu haben, bis die Wand hinter ihm in sich zusammenbrach. Stein knallte auf den glatten Boden, als Smaug brüllend in der Halle erschien. Die Banner flogen zu Boden. Es verdunkelte sich über Bilbo. Die riesige Stange knallte wenige Meter vor ihm scheppernd zu Boden und der schwere Stoff riss ihn nieder.

,,Glaubst du, du könntest mich täuschen, Fassreiter?“

Langsam hob Bilbo den Saum des Stoffes und lugte darunter hervor.

Sein Brustkorb hob und senkte sich unruhig, während Smaug sich schwer atmend zu ihm umdrehte. ,,Du kommst doch aus der Seestadt…“ Abschätzend legte er seinen Kopf schief. ,,Das ist… Das ist irgendein dummer Streich von diesen dreckigen Zwergen und den elenden Fassverhökerern vom See. Diese jämmerlichen Feiglinge mit ihren Langbögen und Schwarrzen Pfeilen!“ Beim Gedanken an die Menschen zog er die Lefzen hoch. ,,Vielleicht wird es Zeit, dass ich ihnen Besuch abstatte…“, sagte er fast schon zu sich selbst und wollte die lange Halle hinab.

,,Oh, nein.“ Bilbo ahnte, was er vorhatte, kroch selbstlos aus seinem Versteck hervor. ,,Warte! Du darfst nicht zur Seestadt!“

Grummelnd blieb Smaug stehen. ,,Dir liegt etwas an ihnen, nicht wahr?“, raunte er, sich seiner Macht und Stärke bewusst. Bilbo riss die Augen auf, als Smaug sich zu ihm drehte, den Kopf zu ihm hinab senkte. Einzig und allein, weil er die Angst und den Schrecken auf dem Gesicht des Diebes sehen wollte, die seine Worte auslösten. ,,Gut. Dann seh‘ zu, wie sie sterben!“

,,HIER! Du einfältiger Wurm!“

Der Drache horchte auf die bekannte Stimme, stieß ein tiefes, verächtliches Fauchen aus. Er drehte sich nach rechts, wo eine kleinere Halle anschloss. ,,Du…“

An ihrem Ende befand sich ein gigantischer Felsblock, umschlungen mit Gürteln aus Metall. Auf diesem stand Thorin und bot dem Drachen die Stirn. ,,Ich hole mir zurück, was du gestohlen hast!“

Smaug ging auf ihn zu und Bilbo brachte sich in den Schutz der am Rand gelegenen Säulen.

,,DU wirst mir gar nichts nehmen, Zwwerg. ICH habe eure Krieger einst niedergestreckt. ICH habe die Völker in Angst und Schrecken versetzt. ICH tötete deinen erbärmlichen Bruder.

ICH bin KÖNIG unter dem Berge…“ Er stellte sich auf die Hinterbeine, reckte den Kopf zu Thorin empor, der auf dem Felsblock stehend es locker mit der vollen Größe der Bestie aufnehmen konnte.

,,Dies ist nicht dein Königreich. Dies ist Zwergenland. Dies ist Zwergengold“, sprach er klar und voller Hass, war jetzt mit Smaug auf Augenhöhe. Langsam fasste er nach einem herab-

hängenden Seil und gedachte seines Volkes.

,,Und wir bekommen unsere Rache… Igrithu suh!“ Er riss am Seil und hinter ihm knackte es dumpf auf. Auf dem Gerüst verteilt zogen seine Männer hinter dem Felsblock an Ketten. Die Bolzen sprangen heraus und die Eisenbögen, die um das Gestein gebogen waren, brachen auseinander.

Smaug wich knurrend zurück, als das Metall und die einzelnen

Gesteinsteile, die die Form gebildet hatten, fielen. Thorin hing sich an die Kette, stieß sich vom fallenden Gestein ab.

Und dann stand Thror vor Smaug.

Als prächtige Statuen aus reinem Gold gefertigt. Der einstige König mit seiner mächtigen Krone auf dem Haupt und einer vor sich stehenden, doppelten Axt.

Smaugs Blick blieb gefesselt daran hängen, die Augen groß und starr auf das Gold gerichtet, das ihn in seinen Bann schlug.

Doch Thorin wartete nur darauf, dass…

Aus Thrors Auge platzte eine Blase von flüssigem Gold. Der flüssige Kern brach durch die bereits, ein wenig gehärtete Außenschicht. Der Drache wich fauchend zurück, doch das Gold floss bereits um seine Beine, als Thror in sich zusammen und über dem Mörder seines Volkes hereinbrach.

Von der Wucht der Masse wurde er nach hinten gerissen. Seine Krallen rutschten über das Gestein der Hallenwand, hinterließen in ihrem Kampf lange Furchen. Sein Kopf ging unter und sein Rachen füllte sich mit der dicken, heißen Masse.

Der Schrei der Bestie verstummte.

Das Gold schwappte hoch auf, schlug gegen Säulen und Wände und breitete sich unter Thorins triumphierenden Blick aus.

Allmählich glättete es sich, bis…

Brüllend stieß Smaug durch seine Oberfläche. Tropfen wurden an die Wände geschleudert, besprenkelten sie mit der Erkenntnis der Niederlage und zerbrochenen Siegeshoffnungen.

Noch lauter und zorniger donnerte die Stimme des Drachen von

den Wänden wieder. ,,RRACHE?! RACHE?! ICH ZEIGE EUCH, WAS RACHE IST!!“

Bilbo schreckte zurück, als Smaug mit weiten Sätzen an ihm vorbei jagte. Fassungslos sah auch Thorin zu, wie ein goldener Drache die Halle hinab in die westliche Eingangshalle rannte und verschwand. Es gab eine gewaltige Erschütterung, deren Nachbeben nur langsam verebbte.

Thorin sah die Silhouette von Bilbo, wie dieser hinterher rannte.

,,Smaug, er ist aus dem Berg!“, erklang die Stimme von einem von ihnen. Er hatte ihn eigenhändig töten gewollt…doch nun vertrieben. Die Erkenntnis darüber erreichte nur langsam sein Bewusstsein. Sein Versuch, ihn zu töten, war fehlgeschlagen… und doch hatten sie gesiegt.

Wie in Trance kletterte Thorin die Kette hinab. Das letzte Stück musste er sich fallen lassen. Hart schlugen seine Stiefel auf dem Boden auf und er musste den Fall mit den Händen abstützen.

Und da realisierte er es.

Dieser Boden, auf dem er stand, das Gestein, das er fühlte, gehörte wieder seinem Volk. Thorin sah auf das Gold vor sich, das allmählich zu ihm vordrang. Er konnte die Wärme, die von der Masse ausging, an seinen Händen fühlen.

Es gehörte nicht länger seinem Besetzer.

Es gehörte nun ihm.

Auch die Zwerge fanden sich bei ihm am Rande zusammen, um nicht ins warme Gold hineinzutreten oder wohlmöglich stecken zu bleiben. Alle sahen die Halle hinab, konnten sich nicht rühren, nicht begreifen, dass ihr Land endlich frei war.

Alles, was sie erreichen wollten, war in der heutigen Nacht in

Erfüllung gegangen. Sie waren am Ende und gleichzeitig an ihrem Neuanfang angelangt.

Smaug ist aus dem Berg, wiederholte Thorin die Worte für sich selbst. Etwas ballte sich in seiner Brust und ließ ihn einen tiefen Atemzug nehmen. Es fühlte sich mächtig und gut an.

Er öffnete die Augen und richtete sich auf. Thorin hörte seinen Namen, doch er drehte sich um und ging, bog hinter dem Gerüst in einen Gang ab.

Die Gefährten sahen ihm verwundert hinterher und einander an.

Dwalin war der Erste, der ihm folgte.

Seine Schritte wurden kräftiger, schneller, immer schneller, bis er schließlich rannte. Mit jedem Schritt spürte er das machtvolle in sich aufkeimen. Vor ihm eröffnete sich Gabod-dûm, eine der unvorstellbar weiten und tiefen Hallen, in denen die Wege teilweise an gigantischen Säulen entlang verliefen, sich darum windeten. Das machtvolle und triumphierende Gefühl trieb ihn an. Er verspürte keine Erschöpfung, keinen Durst, folgte einem prachtvoll gebauten Weg, der mitten durch die Halle führte.

Und schließlich betrat er durch einen langen Torbogen eine Halle, die oft eine Rolle in seinen Träumen gespielt hatte.

Zu beiden Seiten standen steinerne Zwerge in voller Rüstung, die stolz Äxte und Schwerter vor sich hielten, standen ihm Spalier, als hätten sie bereits auf ihn gewartet. Lautlos beschritt er den Weg, der durch sie hindurch führte.

Vor ihm lag der Thron Erebors.

Hinter sich hörte er die anderen nachkommen, doch Thorin drehte sich nicht um, sondern schritt die Stufen hinauf, die Augen groß und schimmernd. Sein Mund öffnete sich ohne einen Ton, als er den Thron berührte. Sein Erbe legte eine Hand auf die kalte Armlehne, schaute ihn sich an, als wäre es das erste Mal.

Auf diesem Platz saßen all ihre großen Könige und nun gehörte er ihm. Endlich würde er das bekommen, was ihm verwehrt geblieben war und niemals wieder würde man ihn ihm nehmen können.

Thorin drehte sich zu seinen Männern um, die näher getreten waren, und nun vor ihm standen.

Der Herr der Silberquellender König edlen Gesteins…

Er legte die Hände auf die Armlehnen, spürte den Königsthron an

seinen Fersen.

Der König unter dem Berge…

Von diesem Gedanken erfüllt setzte sich Thorin Eichenschild und seine Männer erwiesen ihm die Ehre und neigten den Kopf, knieten vor ihm nieder.

nimmt an sich, was ist seins.

 

 

 

 

Fortsetzung folgt...

 

 

 

 

Nachwort

 

 

Nachdem der erste Band sich an rein gar nichts halten musste, war es eine ganz neue Herausforderung, die Handlung nun nach dem Film zu richten. Die FanFiction hat dadurch eine ganz andere Dynamik bekommen.

Es hat mir großen Spaß gemacht, meine Interpretationen von den verborgenen Gedanken der Charaktere im Film auf Papier zu bringen.

Ich danke meiner Schwester, die meinen Wahnsinn ertragen muss und meine Ergebnisse kritisch beäugt.

Abermals gilt mein Dank Richard Armitage, der Thorin Eichenschild auf der Leinwand verkörpert hat.

 

Wenn euch meine Fanfiction gefallen hat, lasst es mich wissen ;)

 

 

 

Impressum

Cover: https://www.flickr.com/photos/98033075@N03/10725984194/
Tag der Veröffentlichung: 20.09.2017

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /