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Der König Erebors

 

Wenn wir uns wiedersehen

 

 

 

Band 1

 

 

FanFiction / High Fantasy

 

 

Lisa Ausmeier

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Diese FanFiction basiert auf dem Roman ,,Der Hobbit“ von J.J.R. Tolkien und den Filmen der ,,Der Hobbit“- Trilogie von Peter Jackson.

 

 Es bestehen Abweichungen zum Original in der Filmhandlung.

Zeitperioden und -abstände Tolkiens wurden verändert.

Die Handlung ist fiktiv und meine eigene Interpretation.

Alle Figuren, die nicht im Original auftauchen, sind fiktiv.

Diese FanFiction beinhaltet Lyrics von ,,Santiano“ und ,,Faun“, die bereits bestehen und teilweise übernommen oder verändert wurden, sowie die deutsche Übersetzung von ,,Misty Mountains“ aus ,,Der Hobbit – Eine unerwartete Reise“.

Die Khuzdul-Übersetzungen stammen von verschiedenen Internetseiten und wurden teilweise verändert.

 

 Originalfassung Januar 2015 – Mai 2015

2017 überarbeitet

 

 

 

 

 

 

 

 Alle guten Geschichten verdienen es, ausgeschmückt zu werden.

~

Gandalf (Der Hobbit – Eine unerwartete Reise)

 

 

 

~

 

Frostweiße Augen. Auf der Suche nach dem Königssohn.

Glühender Hass. Greifend nach einem Thron.

Um ihn zu vernichten.

Bis sein Blut von dieser Welt verschwunden war.

Die Dämonen werden ihn finden, das Schwert fest in der Hand.

Die Geister trugen ihre Gesichter. Schicksal zog an seinen Fäden.

Er konnte nicht vergeben.

Nicht vergessen.

Denn ihre Toten hatten keine Gräber.

 

 

Prolog

 

 

Einen Pfeil angelegt schlich er durch die Dunkelheit. Unter seinen Stiefeln knisterte leise das Laub, als er bedacht einen Fuß vor den anderen setzte. Seine scharfen Augen durchsuchten wachsam das graue, vom Mondlicht erhellte Unterholz.

Der Zwerg ging in die Hocke, strich mit der flachen Hand über den Boden und nahm Erde zwischen die Finger, roch daran.

Kein Wildgeruch.

Erst als er sicher war, keine Bewegung in seiner Umgebung zu erkennen, erhob er sich wieder. Wind fuhr durch die Bäume, sodass die Äste gegeneinander schlugen. Hoch über ihm knarzte das Holz. Stocksteif blieb er stehen, horchte auf.

Da war ein anderes Geräusch.

Es war leise, fast wie ein Windhauch, aber dennoch nicht vom Wind verursacht. Das Gewicht tief verlagert drehte er sich um, den Federschaft des Pfeils fest in den Fingern, den Bogen zum Schuss bereit gespannt. Den Blick starr zwischen die Bäume gerichtet.

Abermals kam Wind auf, wehte ihm entgegen und er nahm die Spannung von der Sehne, als er verblüfft realisierte, dass dort lediglich jemand sang.

Mürrisch über den ausgebliebenden Jagderfolg steckte er den Pfeil zurück in den Köcher, den Bogen an den Gurt und entschied vorsichtshalber, zum Lager zurück zu kehren. Er wandte sich mit der ernüchternden Aussicht ab, die restliche Nacht wieder einmal damit zu verbringen, den anderen beim Schlafen zuzuhören, als der Wind plötzlich nochmals aufwehte und ihm ein paar dieser Worte überbrachte…

Der Zwerg blieb stehen. Und die Gesichtszüge entglitten ihm.

 

~

 

Die Bäume um ihn herum wandelten sich in schwarze, belanglose Schatten. All seine Sinne waren auf die Stimme und das Lied konzentriert, während er mit großen Schritten in die Richtung eilte, aus der sie kamen.

Etwas zerrte an seinen Mantel. Mit einem gezielten Tritt befreite er sich von dem Ast, horchte dann in die Dunkelheit.

Das Lied war verstummt.

Suchend drehte er sich im Kreis, doch sah nur den dunklen Wald. Was wäre, wenn er sich täuschte? Wenn das, was er zu hoffen wagte, sich gleich in Luft auflösen würde? Diese neue Hoffnung, die ihn hart und so unerwartet erfasst hatte, schmerzte fast schon bei der Furcht, dass sie zu Staub zerfallen könnte.

An das Wenn, wollte er nicht denken.

Als er schon dachte, er hätte sie verpasst, sang sie endlich weiter und er folgte dem Klang, wie eine Motte, die dem Licht in Finsternis entgegen flog. Die Farne, durch die er lief, bildeten wie von selbst einen Pfad, der ihm den Weg vorgab. Die langen Blätter streiften seine Beine, als wollten sie ihm Geleit geben.

Immer deutlicher wurde die Stimme.

Immer vertrauter das Lied.

Er konnte sein Herz in seiner Brust schlagen spüren. Konnte es wirklich sein? Oder spielte ihm sein Verstand Streiche?

Nein, es war keine Einbildung, auch kein Traum.

Vor ihm lichtete sich der Wald. Klar tauchte der Nachthimmel zwischen den Baumkronen auf. Der Boden auf der Lichtung war mit Farnen und würzig duftenden Kräutern überwuchert. Der prallrunde, tiefstehende Vollmond tauchte alles in sein silbriges Licht und gebadet in diesem sah er die Frau, die mit sanfter Stimme ein Lied sang:

,,Durin, kubin amrád,

ugmal sallu rahman bejor…“

Bewegungslos verharrte er dort, wo er war, sah wie gebannt den Menschen an, unfähig seinen Blick abzuwenden. Ihre langen Haare fielen über ihre Schultern. Sie trug ein braunes Kleid mit blauem Rock, soweit er das im Mondschein erkennen konnte, darüber eine Schürze und einen Umhang mit einer etwas fellbesetzten, zurückgeschlagenen Kapuze. Neben ihr stand ein mit Pflanzenbündeln gefüllter Korb.

,,Uzba Kazad-dûm…“ Leise ließ sie den letzten Ton verklingen, legte die abgeschnittenen Kräuter zu den anderen und richtete sich wieder auf. Sie strich sich die Haare zurück hinters Ohr…und fuhr beim Anblick der dunklen Gestalt zusammen.

,,Kommt mir nicht zu nah!“ Reflexartig zückte sie ihre Sichel, stolperte dabei ein paar Schritte vor dem Fremden zurück, der im Schatten der Bäume stand. ,,Wer seid Ihr und was sucht Ihr hier? Bleibt, wo Ihr seid!“, zischte sie, als er näher trat, die Sichel wie ein Schwert vor sich haltend, deren abgenutzter Klinge für den Zwerg eher einem rostigen Zahnstocher gleichkam.

Ihre Warnung ignorierend schritt er weiter auf sie zu. ,,Woher kennst du dieses Lied?“

Seine Frage verwirrte sie nur noch mehr. Sie biss sich auf die Lippen, antwortete nicht. Warum interessiert es ihn?

Seit Jahren kam sie in Nächten wie dieser hier her, niemals von irgendwem gestört. Das Auftauchen dieses Fremden auf ihrer Lichtung nun fühlte sich wie eine tiefe Erschütterung ihres Vertrauens in diesen Ort an.

Was will er von mir? Sie kam zu dem Entschluss, dass er sie damit nur ablenken wollte. Das war ganz gewiss eine Falle.

,,Bleibt sofort stehen!“, schrie sie, doch der fremde Mann reagierte nicht, starrte sie nur weiter an. Angst stieg in ihr auf, als sie sich ausmalte, was er von ihr wollte. Sie schaute sich um, um zu erkennen, ob er allein war, doch rechnete im selben Moment schon damit, von einem Händepaar aus dem Hinterhalt zu Boden gerissen zu werden.

Hilda sollte wohl mit ihrer ständigen Mahnung rechtbehalten...

Noch nie hatte sie jemanden ernsthaft verletzt, geschweige denn getötet. Dennoch legte sie die zitternden Hände fest entschlossen enger um den Griff, hielt die einzige Waffe zwischen sich und diesem Mann, die sie zur Verteidigung ihres Lebens zur Hand hatte.

,,Woher kennst du dieses Lied?“, fragte er abermals eindringlich, als wäre ihre Antwort von größter Wichtigkeit.

,,Warum?“

,,Weil es ein Lied meines Volkes ist.“

Sie musterte den Mann, der nun aus dem Schatten trat. Von seiner Größe her musste er ein Zwerg sein. Er trug einen langen, ärmellosen Mantel mit Fell, ledernde Armschützer, eine dunkle Hose mit massivem Gürtel und dicken Stiefeln. Ein breiter Gurt von einem Köcher lag quer über seiner Brust. Schwarze Haare fielen über breite Schultern. Mittlerweile war er nur noch einige wenige Meter von ihr entfernt, sodass sie sein Gesicht erkennen konnte.

Und plötzlich veränderte sich etwas.

Seine markanten, vom Mondlicht beschienenden Gesichtszüge schlugen sie für einen Atemzug in ihrem Bann und weckten etwas in ihr, was sie eigentlich vor langer Zeit begraben hatte.

,,Das ist unmöglich…“

,,Antworte mir!“, befahl er ungeduldig, sodass sie unweigerlich zusammenzuckte.

,,Ein Freund hat es mir gelehrt“, presste die Frau hervor und er blieb stehen. Mehr Beweise brauchte er nicht. Der größte stand in diesem Augenblick ihm gegenüber.

Es konnte einfach nicht sein… Doch sein Kopf teilte ihm die Wahrheit mit, welche sein Herz schon längst wusste.

Der Schmerz drückte tief in sein Fleisch hinein, drang vor bis in seine Seele. ,,Marie.“

Das war alles, was er sagte, und die Erkenntnis traf sie wie ein Donnerschlag. Die Sichel rutschte aus ihren Händen und verschwand zwischen dem Farn.

,,Thorin.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1

 

 

Der Wald war vollkommen still, der Wind abgeflaut. Wolkenloser Nachthimmel hing über ihnen. Der weiße Mond und die Sterne waren die einzigen Zuschauer einer besonderen Begegnung.

Beide standen sich gegenüber, starrten einander an. Marie löste sich aus ihrer Starre als Erste. Zögerlich machte sie einen Schritt auf ihn zu, sah ihn immer noch mit riesigen Augen an, aus Angst, dass diese Illusion wieder verschwinden könnte. Doch es war nicht so.

,,Thorin…bist du es wirklich?“ Ihre Stimme musste kaum zu verstehen sein, doch er nickte. Dann ergriff die Realität mit aller Macht auch sie. Hörbar atmete sie ein und bahnte sich einen Weg zu ihm. Nur einen Moment später schlossen sich seine Arme um sie und Marie legte ihren Kopf auf seine Schulter, sah zu den Sternen empor und schloss voller Dankbarkeit die Augen, um den Augenblick zu genießen, von dem sie so oft geträumt hatte.

Den Wunsch nach einem Wiedersehen und die Vorstellung, wie sie auf ihn reagieren würde, hatte er schon lange verdrängt. Damals war es unmöglich, eine Suche hoffnungslos gewesen. Nun, sechzehn Jahre später stand sie wieder in seinen Armen, dicht an ihm gepresst.

Die empfundenen Gefühle waren nicht in Worte zu vermessen.

,,Ich bin so froh dich wiederzusehen... Zu sehen, dass du wohl auf bist“, raunte er und suchte ihre Nähe. Fühlte sie.

,,Was… was um alles in der Welt tust du hier?“, hauchte Marie verwirrt von dem Gefühl, seine tiefe Stimme in sich zu spüren.

Als er antwortete, klang diese heiser: ,,Das gleiche könnte ich dich fragen.“

,,Ich wohne hier. Mein Haus steht am Fluss, nicht weit von…“ Sie stockte. Langsam richtete sie sich auf, die Augen an ihm vorbei starrend. ,,Hörst du das?“

Thorin drehte den Kopf, horchte in den bereits dämmernden Wald hinein und wurde auf die Geräusche aufmerksam. Metallisches Klirren, brechende Äste, aufwirbelndes Laub… Dazwischen hallten unmenschliche Schreie, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen.

,,Thorin, was ist das?“, flüsterte sie an seiner Seite.

,,Orks.“

,,Orks?“

,,Lauf nach Hause. Jetzt. Sofort.“

,,Thorin…“

,,Lauf!“ Seine Stimme ließ keinen Widerstand zu.

Hastig sammelte sie ihre Sachen zusammen und raffte ihre Röcke. Thorin kam nicht darum herum, stehen zu bleiben und ihr hinterher zusehen. Wie einem flüchtenden Reh gleich lief sie durch den Farn davon und mit ihrem Verschwinden rannte auch er los. In die Richtung, aus der er gekommen war.

 

~

 

Mit einer Hand klammerte Bilbo sich verzweifelt an dem Ast fest, während er mit der anderen sein Schwert dem Ork entgegen reckte, der ihn auf den Baum gejagt hatte. Das blaue Leuchten der Klinge, das ihn vorhin aufgeweckt hatte, hatte sie wohlmöglich alle gerettet. Doch diese Eigenschaft war nun überflüssig. Selbst ein Blinder würde die Orks sehen können. Aber vor allem waren sie zu riechen…

Überall im Lager tobte der Kampf. Die Zwerge wehrten sich aus Leibeskräften, um gegen die Überzahl anzukommen. Trotzige Schreie warf man sich entgegen, ehe es mit Eisen ausgehandelt wurde. Immer wenn einer fiel, kümmerten die Männer sich um den nächsten oder kamen ihren Gefährten zur Hilfe. Sie hielten stand, doch für wie lange noch?

Warum musste Gandalf auch ausgerechnet jetzt verschwinden? Und wo, um alles in der Welt, war Thorin?

Gerade hatten die Zwerge sich neu gesammelt und verharrten auf Dwalins Befehl, auf das feindliche Näherkommen zu warten, als mit einem Kampfschrei und gezücktem Dolch ihr Anführer oberhalb vom Lager durch die Büsche stürzte und diesem dem ersten Ork im Flug tödlich zwischen Hals und Schlüsselbein stieß. Gestärkt mit neuer Zuversicht folgten ihm seine Männer und warfen sich erneut furchtlos den Monstern entgegen.

Bilbo hatte alles mit offenem Mund verfolgt und sah nun auch, wie man Thorin Orcrist zuwarf, der das Schwert sofort in einem Leib versenkte, als das Holz von einem mächtigen Schlag erzitterte. Fast den Halt verlierend zog Bilbo die Beine an, krallte sich in die Rinde, als die Klinge nutzlos in den Stamm hackte. Das hässliche Vieh stand wütend schnaubend unter ihm, fuchtelte mit seiner Waffe nach seinen Füßen, als Dwalin um den Stamm gebogen kam. Der Krieger holte mit seiner Streitaxt aus und durchschlug dem Ork das Rückgrat. Schreiend ging dieser in die Knie, ehe er ein zweites Mal zuschlug und es beendete.

,,Ich glaub‘, ich spinne. Was machst du da oben?!“, brüllte er Bilbo vom Waldboden aus an den Kopf.

 

Auf der anderen Seite des Lagers zog Fili ein Messer und holte aus. Dunkles, faulig stinkendes Blut strömte an der feststeckenden Klinge vorbei aus einem Orkhals. Suchend drehte er sich um und fand über ihr erloschenes Feuer hinweg seinen Bruder, der gerade seinem Gegner den Todesstoß versetzte. In seinem Augenwinkel links spannte ein Ork einen Bogen und noch ehe er ein weiteres Messer werfen konnte, flog der Pfeil los.

,,Kili, pass auf!!“ Doch es war zu spät. Er musste mit ansehen, wie er geradewegs auf seinem Bruder zuschoss und die Spitze sich in ihn bohrte. Ungläubig darüber, getroffen worden zu sein, fasste Kili zu seinem Bauch, doch sank bereits auf die Knie.

Alles Geschehen um ihn herum war bedeutungslos, während Fili von absoluter Stille umgeben zu seinem Bruder rannte. Dunkles Blut spritzte ihm nach, befleckte sein Gesicht, als er sich an den kämpfenden Paaren vorbei presste. Er sprang über einen toten Körper, flog einen stillen Moment vom Zwielicht begleitet, ehe er einen anderen aus dem Weg stieß. Etwas durchzog seine rechte Seite, doch er konnte seine Augen nicht von seinem Bruder abwenden.

Auf dem Boden liegend fasste Kili an den Pfeil, spürte ihn in seinem Fleisch zucken. Vom Schmerz schwindelte ihm sofort. ,,Scheiße…“ Etwas Warmes floss an seiner Taille entlang. Jemand rief seinen Namen und das blutbeschmierte Gesicht seines Bruders tauchte nahe an seinem auf, Augen und Mund weit aufgerissen.

Seine Bartzöpfe schwingten heftig, als Fili sich neben ihm nieder ließ. ,,Ganz ruhig. Bleib…einfach ganz ruhig liegen.“

,,Fili“, keuchte er, ,,Du…deine Seite…“

Er sah an sich hinab. Durch einen Riss färbte Blut seine Kleider, drang sogar durch den Stoff. Es musste unwahrscheinlich geschmerzt haben, doch er spürte es nicht. Wieder sah er seinen jüngeren Bruder an, griff ihm in die dunkelbraunen Haare. ,,Alles wird gut“, er musste schlucken, ,,gleich kommt Hilfe. Du…du wirst sehen…“

Doch dann versagte ihm die Stimme und er brach zusammen.

Nebeneinander lagen die Brüder auf dem Waldboden. Es tat gut, einfach liegenbleiben zu dürfen. Die Erde an seiner Schläfe lag kalt und feucht an seiner erhitzten Haut. Fili roch den modrigen Geruch der Blätter und spürte nun doch den brutalen, eintretenden Schmerz, der sich immer mehr durch seinen Körper fraß.

Gemeinsam lauschten sie den Kampfgeräuschen, die langsam verstummten.

 

,,Verdammt noch eins, wo kamen die denn her?“ Gloin schmetterte seine Axt in den Boden und wischte sich über die Stirn. Blut und Morgennebel klebten auf jedem von ihnen.

,,Keine Ahnung“, antwortete Nori und tastete seinen Arm ab. ,,Jedenfalls haben’s wir überlebt.“

,,Ist jemand verletzt?“, ging der Ruf über alle hinweg.

,,Nori, wie mir scheint!“

,,Halb so schlimm“, wehrte dieser ab.

Plötzlich drängte sich Thorin an den Männern vorbei. Außer Atem ließ er Orcrist fallen und sich neben den abseits liegenden Jungs auf die Knie. Er legte die Hände an ihre Wangen. Schwach, mit zitternden Lidern öffneten sie ihre Augen.

,,Onkel.“

,,Still. Ganz still.“

Oin, ihr Mediziner, drängte sich durch den versammelten Pulk von Männern zu ihnen durch und versuchte, Tücher auf die Wunden zu pressen, um die Blutungen zu stoppen. Als er den Pfeil streifte, stöhnte Kili laut zwischen aufeinander gepressten Zähnen. ,,Das sieht nicht gut aus“, murmelte der alte Zwerg sorgenvoll.

,,Was steht ihr da so rum? Macht ein Feuer, schnell!“, herrschte Dwalin die anderen an.

,,Dafür haben wir keine Zeit.“ Mit ernster Miene hockte Oin neben Kili. Der Stoff in seinen Händen färbte sich immer schneller blutig.

Thorin sah seine Gefährten, die alle durcheinander diskutierten, und dann seine Neffen an, die sich kaum mehr rühren konnten. Die Zeit rann ihnen durch die Finger, wie ihr Blut auf den Erdboden. Verzweifel sprang er auf, fuhr sich beidhändig durch die Haare. Ein Schrei aus Wut drückte ihm die Kehle zu, als er auf einmal zwischen den Bäumen das Rauschen von Wasser vernahm. Vielleicht war das ihre einzige Chance…

,,Helft ihnen hoch. Wir brechen auf. Eilt euch!“

,,Wohin?“

,,Tut es einfach!“

Man vertraute auf die Entscheidung ihres Anführers. In Windeseile schulterten die Männer Rucksäcke und Waffen. In der Zeit verknotete Oin notdürftig die Tücher fest um die Wunden. Dori und Gloin hoben Kili auf, legten seine Arme um ihre Schultern, um ihn zwischen sich zu tragen. Er stöhnte. Sein Kinn sank auf die Brust. Stehen konnte er nicht.

,,Halt durch , mein Junge“, sprach Balin leise zu ihm.

,,Ich versuch‘s…“

Zusammen mit Bombur nahm Thorin seinen Bruder. ,,Dort entlang. Zum Fluss.“

 

Durch die Bäume schienen die ersten Sonnenstrahlen und erhellten allmählich den dunstverhangenen Wald. Mit dem zusätzlichen Gepäck der Jungs stolperten Ori und Bilbo hinter der Gruppe her, die von Thorin bis zum Fluss geführt wurde. Auf der anderen Seite des rauschenden Wassers erschienen Wiesen. Rechts tauchten ein Haus und ein weiteres Gebäude im Nebel auf.

,,Dahin!“, rief Thorin und fasste seinen Neffen fester, der immer schwerer wurde. ,,Fili, halt die Augen auf, verdammt.“

,,Wie kommen wir da rüber?“ Balin beäugte die Strömung des breiten Flusses, der ein unüberwindbares Hindernis darstellte.

Sie muss doch diesen Weg gegangen sein… ,,Irgendwo muss eine Brücke sein.“

,,Da vorne!“ Bofur zeigte flussabwärts.

Es polterte, als ihre Stiefel über die Bohlen stampften. Von der Brücke führte ein Pfad durch die Wiese und mündete in einen Feldweg, der bis zum Haus führte.

,,MARIE!!“, brüllte Thorin aus vollem Hals.

Aus dem hohen Gras flatterten Vögel auf. Die Tür wurde aufgerissen. Eine Frau stand im Türrahmen, hielt die Hand gegen die aufgehende Sonne.

Er hatte sie gefunden.

 

~

 

Sofort sah Marie die Verletzten, die leblos zwischen den Trägern hingen. ,,Schnell, die beiden ins Nebenzimmer. Alle anderen bleiben vor der Tür!“ Sie zeigte in die Richtung, während sie sich eine neue Schürze umband und man nebenan die Jungs in die Betten legte. ,,Jemand, der nicht verletzt ist, muss zum nächsten Haus laufen. Holt Hilda, sagt, es sei ein Notfall.“

Der Zwerg, der eine Mütze trug, machte auf dem Absatz kehrt und rannte los.

,,Schneidet ihnen die Sachen auf und die Stiefel ausziehen“, rief sie bewusst mit klarer, fester Stimme, damit die Männer keinen Zweifel daran hatten, wer jetzt das Sagen hatte, und band ihre Haare in einen Knoten zusammen, ehe sie sich die Hände in einem Eimer Wasser wusch.

Zum Glück taten sie sofort wie von ihr befohlen. Sie hatte schon ganz andere Situationen erlebt, in denen ihr Wort als unverheiratete Frau für nicht voll genommen wurde. Rasch machte sie sich einen Überblick über den Zustand der Verletzten, wusste mit etlichen Nebengedanken sofort, was sie zuerst und zuletzt tun musste. Dann schmiss sie den vierten, dicken Zwerg aus dem Haus, legte ihr Operationsbesteck in das Kaminfeuer im Wohnraum und kam mit ihrem Nähzeug und etlichen Tüchern zurück.

,,Presst sie auf seine Wunden“, wies sie mit einem Nicken zu dem Blonden mit dem Schnitt in der Taille an, um den es etwas besser gestellt war, und präparierte Nadeln und Garn. Trotz ihres hämmernden Pulses und der einschießenden Hitze in ihrem Kopf waren ihre Finger ruhig. Sie hatte keine Angst vor dem, was sie tun musste. Doch sie würde nur schwer beide auf einmal versorgen können. Sie brauchte Hildas Hilfe.

,,Beiß drauf, Kili. Fest zubeißen.“ Der andere große Zwerg neben Thorin steckte dem Jungen seinen Gürtel zwischen die Zähne, der mit geweiteten Augen die Balken hinauf starrte.

,,Es geht los. Haltet ihn runter gedrückt.“ Marie presste eine Hand auf seine nackte Brust, packte beherzt den Pfeil mit der anderen und zog ihn in einem einzigen, geraden Zug heraus. Der Junge namens Kili schrie auf und wand sich unter den Händen, die ihn in die Unterlage drückten. Blut strömte aus der Wunde, lief hinab auf das Laken, doch es spritzte nicht und so wusste sie, dass keine großen Blutgefäße verletzt waren.

Als Marie die bloße Hand fest auf die Wunde presste, tauchte Hilda im Raum auf. ,,Kümmere dich um den anderen! Thorin, hol mir ein Messer aus dem Feuer.“ Doch dieser reagierte nicht. Er starrte nur auf Kili und auf das laufende Blut.

,,Thorin!“

Ihre Stimme erreichte ihn nicht. Er hörte sie nicht einmal.

Blut beschmutze ihr Kleid, verschandelte ihre zarthelle Haut. Viel Blut. Seine Hände pressten ihren Körper an sich. Nutzlos. Er strich ihr durchs dunkle Haar, sah auf ihre geschlossenen Augen. Nie wieder würden sie sich öffnen…

Zwei kräftige Hände packten ihn und er wurde raus gezerrt, raus aus dem Zimmer und raus aus seiner Trance.

Marie bekam davon weniger mit. Ihre ganze Konzentration war darauf aus, diesem Jungen das Leben zu retten. Der übriggebliebene Grauhaarige reichte ihr ein Messer, welches sie danken entgegen nahm.

,,Ich bin Mediziner.“

,,Gut, bleibt hier. Ich werde Eure Hilfe brauchen. Versucht ihn festzuhalten.“ Es zischte, als sie das glühende Metall tief in die Wunde einführte, die sie mit den Fingern weit auseinander drückte. Der unangenehme Geruch nach verschmortem Fleisch stieg auf und Kilis Schrei verstummte.

 

~

 

Die Tür flog auf und Thorin wurde von einem äußert grimmigen Dwalin aus dem Haus gezerrt und ins taunasse Gras befördert, wo sich die anderen niedergelassen hatten.

Bilbo schaute sich um, während langsam endlich wieder Ruhe einkehrte. Manche saßen auf dem Boden, andere standen, die Hände auf die Knie gestützt, um wieder zu Atem zu kommen.

Bifur lag wie tot auf dem Rücken, Nori hielt sich einen Arm und Dwalin seine Schulter, die auf den zweiten Blick in einem ungesunden Winkel stand. Immer noch saß Thorin am Boden, starrte bleich auf die Grashalme. Er sah aus, als müsste er sich jeden Moment übergeben.

,,Thorin, du bist verwundet“, sprach Bilbo ihn an, als er beim ersten Mal nicht reagierte und zeigte mit dem Finger darauf.

Geistesgegenwärtig schob Thorin seine Haare und den Mantel beiseite. An seiner linken Schulter war zwischen den kleinen, gepanzerten Rauten seines Oberteils der Stoff zerteilt und dunkel gefärbt. Dwalin kam zu ihm und schob einen Leinenfetzten, den er immer noch in der Hand hatte, darunter.

Nur vage bekam er das mit. Die Wunde war ihm gleichgültig. Ihn beschäftigten seine Erinnerungen, die vor seinen Augen aufgetauchten Bilder, als er auf das Blut geschaut hatte.

Maries Hände waren rot gewesen, ihre Schürze, das Laken… Marie

Er hörte noch seinen Namen, doch dann prallte der Erdboden auf ihn zu und er war weg.

 

 

 

 

2

 

 

Ein stechender Geruch erreichte seine Nase. Nicht mehr allzu stark war er, trotzdem erkannte er ihn gleich. Alkohol.

Seine Hand tastete. Es war sein Mantel, auf dem er lag. Gedämpfte Stimmen erreichten sein linkes Ohr, verschmolzen zu einer unverständlichen Masse aus Gemurmel und Wörtern. Erst jetzt öffneten sich seine Augen und nahmen die Umgebung war.

Vor ihm führte eine Treppe nach oben. Unter ihr loderte ein Feuer in einem gemauerten Kamin, davor unklare Schemen, die immer wieder ihre Konturen verloren. Das helle Licht des Feuers war wie Nadelstiche in seinen Pupillen, die bis in sein Hirn hinauf zogen. Links von ihm, am anderen Ende des großen Raumes war die Haustür. Gegenüber vom Kamin, sodass er den Kopf verdrehen musste, waren etliche Regale und Schränke in einer Küchenecke und anschließend eine weitere Tür.

Dass er sich umgeschaut hatte, bereute er, denn sein Kopf fühlte sich mittlerweile an, als wäre er ein Klumpen umher wabernde Masse. Der Geruch nach Hochprozentigem machte es für ihn nicht besser. Dann entdeckte er seinen Freund, der nur im Unterhemd auf einer Bank saß, die zu einem großen Tisch in der Nähe der Kochecke gehörte. Hinter ihm stand Marie.

,,…ass alles …ocker…“ Sonderbar dröhnte ihre Stimme, Wortfetzen flogen davon. ,,…ersuche nicht mit zu…oder…gegen zu...“ Sie fuhr an seiner Schulter entlang, fasste sie.

,,Hmm!“ Dwalin zuckte unter dem Ruck zusammen.

Sie holte ein Tuch hervor, band etwas daraus. „…deine Schulter ruhig halten.“ Irgendwie verzerrt kam sie auf ihn zu, bis ihre Umrisse immer klarer wurden. ,,…geht es dir?“

Thorin sah zu ihr hinauf, spürte, wie sich ihre Hand irgendwo an seinen Kopf legte. ,,Ich will zu ihnen.“

Traurig sah sie ihn an. ,,Ruh dich erst aus.“

,,Nein, ich muss zu ihnen…“ Er versuchte sich aufzusetzen, doch alles fing sich an zu drehen. Ein Druck lastete auf seiner Brust. Sanft aber bestimmt hielt sie ihn unten.

,,Geh da nicht hinein. Thorin? Annst du mich hören? Annst… mich hören?“ Ihre Worte hörten sich ganz weit weg an, hallten, entfernten sich immer weiter von ihm. Er wollte die Hand nach ihr ausstrecken, sie festhalten, damit sie nicht ging.

Sie durfte nicht gehen…

,,Ich bin hier, Thorin…“ Sie verschwamm vor seinen Augen, als die Ohnmacht erneut ihre Gewalt auf seinem Körper ausübte.

 

Die braune, wollige Decke nahm er als erstes wieder wahr. Mehrmals hintereinander blinzelnd kam Thorin wieder zu sich und versuchte, ruhig liegen zu bleiben. Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln.

Die anderen saßen am Tisch, vor ihnen dampfende Becher. Als die Erinnerungen über die Geschehnisse wieder da waren, atmete er tief durch und drehte den Kopf zur anderen Seite. Über ihm war ein breites, mit runden Bleiverstrebungen im Fensterglas. Er selbst lag auf einer Art eingelassenen Bank in der hölzernen Wandverkleidung, eine Decke über ihn gelegt. Neben sich entdeckte er seine Sachen liegen: sein Oberteil, seine Stiefel, sein Schwert, und einen Hocker, auf dem eine Flasche mit klarer Flüssigkeit stand und zudem ein Schälchen, Blut beschmutze Leinenfetzen, eine kleine, filigrane Nadel und eine Fadenspule lagen. Er blickte zu seiner Wunde. Als er den dunkelblauen Stoff seines Hemdes hob, sah er eine frische Naht, die schräg von seinem Schlüsselbein zur Schulter verlief. Die rötlich angelaufene Haut war geschwollen und fühlte sich heiß an.

Vorsichtig setzte er sich auf, wobei es trotzdem unter der Naht zu pochen begann. Während seine Füße auf den dunklen Dielenboden auftraten, spürte er, wie seine Kraft zurückkehrte. Wie bei einem Wasserfall rauschte es beim Aufstehen in seinen Ohren. Kurz kniff er die Augen zusammen, damit der Raum aufhörte, sich zu drehen. Langsam ging er in Richtung seiner Männer, tastete sich dabei ein wenig an der Wand entlang, als sich die Tür vor ihm öffnete und Marie aus dem Nebenzimmer trat.

Unwillkürlich schlug sein Herz bei ihrem Anblick noch schneller, als es ohnehin schon sollte. Doch als er sah, was sie in ihren Armen trug, kam das Schwindelgefühl zurück.

Er musste sich gegen die Wand lehnen, als er den Haufen aus blutgetränkten Tüchern und den Pfeil mit den dreckigen, struppigen Federn sah. Als Marie ihn bemerkte, ging sie eilig zum Kamin und warf das Bündel ins Feuer. Er sah den Flammen zu, die sich braun verfärbten und ihn entmachteten.

 

Mit Schritten schwer wie Blei näherte er sich den Betten, stand wie betäubt zwischen ihnen. Kreidebleich, fast leblos lag Kili vor ihm. Über Brustkorb und Bauch war ein breiter Verband gewickelt worden. Dass er noch am Leben war, zeigten allein die flachen Atemzüge.

Er wirkte einfach zu jung…fast noch ein Kind. Er hätte ihn nicht mitnehmen dürfen, hätte es verbieten müssen...

Marie erschien, nahm die Decke und zog sie Kili bis an den Hals. Thorin wendete sich ab, sah zu Fili, der neben seinem Bruder lag. Auch er hatte Verbände um seinen Bauch und um einen Oberarm. Sein blasses Gesicht wirkte kraftlos, die Haare verwuschelt, die Zöpfe zerzaust.

Als wäre all ihre Kraft aus ihnen genommen worden, lagen sie in den weißen Bezügen. Wirkten verloren in ihnen. So etwas hätte nicht passieren dürfen.

,,Wie steht es um sie?“, fragte er leise.

,,Beide sind sehr geschwächt. Sie haben viel Blut verloren. Ihre Körper brauchen jetzt Ruhe und Wärme.“

,,Werden sie es überleben?“

Stille folgte.

Er hörte, wie sie zögerte, drehte sich um, damit sie ihm ins Gesicht sehen musste. ,,Sag mir die Wahrheit.“

Er wollte nicht geschont werden, wollte kein Mitleid. Das hatte er nicht verdient.

,,Wenn sie…“ Sie brach ab und sah zu Boden, als könnte sie seinen Blick nicht länger ertragen. Da ahnte er die Antwort bereits.

,,Wenn sie die Nacht überleben, haben sie bessere Chancen.“

Thorin fuhr sich über Mund und Kinn, versuchte aufsteigende Tränen weg zu blinzeln.

,,Er hat Fieber bekommen.“ Er folgte ihrem Blick zu Kili. ,,Ich konnte ihm ein Gegenmittel geben, aber…es ist ungewiss, ob es anschlägt.“ Marie sah ihn aufrichtig an. ,,Es tut mir so leid. Mehr kann ich nicht für sie tun.“

,,Onkel…“, hauchte plötzlich eine schwache Stimme.

Dieser fuhr herum, setzte sich zu Fili auf die Bettkante. ,,Ich bin hier.“ Seine Stimme war brüchig vor Trauer. Ein Stein lag schmerzhaft in seiner Kehle und gleichzeitig in seinem Herzen. Wenngleich es nicht seine Söhne waren; er fühlte den Schmerz eines Vaters, so als wären sie aus seinem eigenen Fleisch und Blut.

Mit glasigen Augen sah Fili zu ihm hinauf. Seine Lippen bewegten sich, doch kein Ton kam über sie, so als würde ihm das Sprechen große Anstrengung kosten. ,,Kili…“, keuchte er fast unhörbar. ,,Was ist mit ihm?“

Beschwichtigend strich sein Onkel ihm über die Stirn, legte eine blonde Strähne zurück an ihren Platz. ,,Er schläft. Du musst dich jetzt auch ausruhen.“ Von seinem Flüstern begleitet schlossen sich seine Augen.

Ein letztes Mal strich Thorin über seine Stirn, ehe er sich erhob. Über seine Wange lief eine verstohlene Träne, die er nicht länger halten konnte und eilig mit dem Handrücken wegwischte. Der Anblick ließ Maries Inneres zerbrechen. Sie konnte nicht länger danebenstehen und zusehen, wie er litt. Vorsichtig trat sie näher, legte eine Hand an seine Schulter. Als er auf die Berührung hin sie ansah, lag so viel Trauer und Sorge in seinen grauen Augen, dass sie nicht anders konnte. Sanft umarmte sie ihn.

Thorin schlang die Arme um ihren Rücken, legte den Kopf an ihre Brust und sie ihren auf seinen. In ihrem Schutz konnte er endlich seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Ohne einen einzigen Laut von sich gebend, flossen still und unaufhaltsam lang angestaute Tränen über seine Wangen. Mit jeder fiel etwas von ihm ab. Alle hatten Gewicht. Viel zu lange schon hatte er es mit sich herum getragen.

In ihm war es leer, wie bei einem Gefäß, wo durch einen Schlag der Inhalt durch einen Riss ausgelaufen war. Man dufte sie ihm nicht nehmen... Nicht auch noch sie. Er wollte sie nicht sterben sehen.

Die Tränen flossen neben seiner Nase entlang, verschwanden lautlos in seinen schwarzen Bart. Die Angst um seine Jungs drohte, die Überhand zu gewinnen, doch um sich herum spürte er Maries Körper, der ihm das gab, was er jetzt brauchte. Sie stand ganz still, hielt ihn einfach nur fest, wenn er von einem stillen Schluchzer zitterte. Es schien, als würde sie ihn halten und wenn sie los ließe, würde er fallen.

,,Solange noch Sterne Licht haben, ist nichts verloren“, flüsterte Marie. ,,Wahre die Hoffnung. Glaub an sie.“

Er spürte, wie sie ihren Kopf drehte, ihre andere Wange auf sein Haar legte und hörte dem Geräusch ihres ruhigen, gleichmäßigen Herzschlags zu.

 

~

 

Am großen Tisch im Wohnraum saßen die Gefährten und blickten auf ihre zusammengefalteten Hände, die auf dem Holz ruhten oder ihre Krüge umklammerten. Trister hätte die Stimmung unter ihnen nicht sein können.

Nachdem sie auf die Anweisung der fremden Frau zum Fluss gehen mussten, um sich und ihre Klamotten von Blut, Erde und Schweiß zu befreien, hatte sie ihnen Tee zum Aufwärmen gemacht. Keiner sagte etwas, bis Ori das betrübte Schweigen brach: ,,Sie sind da jetzt schon eine ganze Weile drinnen.“

,,Hm“, machten manche.

,,Hört ihr das?“, fragte Nori. Alle horchten.

,,Also ich höre nichts“, brummte Oin, seinen blechernen Trichter dabei hoch erhoben.

,,Das ist es ja. Es ist so still. Ich frage mich, was sie wohl machen.“

Empört drehte sich sein Bruder Dori zu ihm um. ,,Erstens geht uns das gar nichts an. Und zweitens: was soll das heißen?“

Ori verdrehte die Augen. Er saß auch noch ausgerechnet zwischen seinen beiden älteren Halbbrüdern, die nicht gut aufeinander zusprechen waren. Während er und Dori daheim geblieben waren, hatte sich Nori über die Jahre als Landstreicher durch die Wildnis geschlagen. Als er dann wegen Diebstähle und Betrug ins Gefängnis gekommen war, hatte sein ältester Bruder Dori mit knirschenden Zähnen Kautionen für ihn vorgelegt.

Ori drückte sich die Fingerspitzen in die Ohren und äffte im Geiste die Stimmen nach. Du Taugenichts… Genau wie dein Vater… Du hast doch Mutter krank vor Kummer gemacht... Es war immer dasselbe und Ori fand, dass sie sich mit ihrem ständigen Gezanke wie Kinder benahmen.

Unbeeindruckt zuckte Nori mit den Achseln. ,,Ist doch berechtigt.“

,,Nein, ist es…“

,,Wenn ihr zwei jetzt nicht auf der Stelle Ruhe gebt, komm‘ ich rüber und zeige euch, wozu ich berechtigt bin“, drohte Dwalin auf der gegenüberliegenden Bank und setzte dem ein Ende. Missmutig verstummten sie.

,,Woher kannte Thorin diese Frau?“, fragte Gloin.

Fragwürdiges Schulterzucken folgte.

,,Er hat mir mal von einer Marie erzählt“, meinte Dwalin und hielt sich die eingerenkte Schulter. ,,Scheint wohl diese zu sein.“

Als die Tür neben ihnen knarzte, hoben sie die Köpfe. Marie betrat den Raum und wischte sich noch schnell über das sandbraune Mieder, wo an machen Stellen der Stoff dunkler gefärbt war.

,,Wie geht es den Jungs?“, fragte der alte Zwerg mit den schneeweißen Haaren und dem langen Bart. Er konnte das Zittern in seiner markanten und kehligen Stimme nicht verbergen.

Sie ging an den Herd, rückte die nächste Kanne Tee zurecht, die schon leise pfiff. ,,Sie sind beide sehr geschwächt.“

,,Sagt, werden sie es überleben?“

Sie spürte, wie alle Augen auf sie gerichtet waren. Langsam drehte sie sich um. ,,Ich weiß es nicht.“

Anteilnehmend senkten sich die Blicke.

,,Und Thorin…wie geht es ihm?“ Sie schaute ihm in die Augen, schüttelte den Kopf. Geschockt und den Tränen nahe ließ er den Kopf sinken, legte eine Hand an die Stirn, berührte die alte Narbe auf ihr.

Mitfühlend trat sie näher und schenkte ihm Tee nach. ,,Bitte, Herr Zwerg, verzagt nicht. Es gibt immer noch Hoffnung. Sie sind jung, haben starke Körper.“

Ein junger Zwerg mit spärlichem braunem Bart auf der anderen Bank schniefte, wischte sich verlegen über die Nase und bedankte sich höflich mit heller Stimme, als sie auch ihm nachschenkte.

,,Sie hat recht, Ori“, versuchte der Ältere neben ihm ihn zu trösten, mit dem er etwas Ähnlichkeit besaß. ,,Kili und Fili sind aus der selben Esse wie Thorin. Und wenn sie auch nur halb so viel Mumm haben wie er, dann werden sie das schaffen.“

Scheinbar hatte dieses Argument so viel Kraft, dass der Junge schniefte und tapfer nickte.

Marie hielt inne. Diese Namen… Ihr Brustkorb schnürte sich zusammen und ließ ihr Herz verkrampfen. Sie erinnerte sich. Die jungen Männer waren seine Neffen, die Söhne seiner Schwester, die er so oft erwähnt hatte. Oh, Thorin…Nun verstehe ich.

,,Danke, dass Ihr uns so freundlich aufgenommen habt“, riss sie der grauhaarige Zwerg mit dem aufwendig zusammengesteckten und geflochtenen Haupthaar und Bart von eben aus den Gedanken.

,,Bitte, seid nicht so förmlich. Nennt mich einfach Marie.“ Sie schenkte ihm ebenfalls nach. ,,Für mich ist das selbstverständlich. Außerdem ist es meine Pflicht, Verwundete zu pflegen.“ Besonders bei den beiden. Dann warf sie einen Blick in den Kessel, der auf dem Herd stand. Quietschend öffnete sie mit ihrer Schürze die Klappe darunter und legte dünne Holzscheite nach.

Der Mediziner räusperte sich. ,,Ich sehe die vielen verschiedenen Tinkturen in den Regalen stehen und die getrockneten Wurzeln und Kräuter an der Decke. Woher hast du dieses umfangreiche Wissen, wenn ich fragen dürfte?“ Der scheinbar Schwerhörige rückte seinen Trichter zurecht, mit dem er besser hören konnte.

,,Ich habe das alles von meinen Eltern gelehrt bekommen - schon von klein auf“, erzählte sie, während sie ein paar frische Kräuter für die Suppe schnitt. ,,Sie wussten eine Menge über Heilkunde. Unser Wissen wird bereits von Generationen weitergegeben.“

,,Interessant. Könnte ich vielleicht ein paar Rezepte bekommen? Ich bin auch ein Heiler, jedoch gewiss kein Bedeutender.“

,,Nur nicht so bescheiden. Ihr habt mir vorhin sehr geholfen. Keineswegs könnt Ihr unbedeutend sein. Ich bin mir sicher, Ihr wisst Dinge, die mir unbekannt sind. Gern teile ich mit Euch. Zum Glück hat meine Familie ihr gesamtes Wissen in einem Buch nieder geschrieben.“

,,Oh, ein kostbares Gut. Deine Eltern können stolz darauf sein. Es sind bestimmt edle Leute.“

,,Ja. Ja, das waren sie.“

,,Oh, das…das tut mir leid.“ Wieder wurde es unangenehm still im Raum.

Marie drehte sich zu ihm, nickte anerkennend zum Zeichen seines Mitgefühls und schob mit dem Messer das frisch Geschnittene vom Brett in den Kessel. Danach holte sie ein Stapel Holzschüsseln aus dem Geschirrschrank, stellte sie auf die Arbeitsplatte und war einmal mehr froh, so viele im Haus zu haben. ,,Es ist zwar nicht viel, doch es wird schon für jeden reichen.“

,,Gerade deshalb ist es großzügig von dir“, sagte der alte, weißhaarige Zwerg.

Sie lächelte und widmete sich wieder dem Essen.

,,Was glaubst du, wie lange wir hier bleiben werden?“, fragte Dwalin an seinen älteren Bruder gewandt.

,,Ein paar Tage. Bis die Jungs wieder gesund sind oder bis…“ Balin konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.

Bekräftigend legte Dwalin ihm eine Hand auf die Schulter, hatte jedoch den gleichen Schimmer in den Augen.

,,Wir werden viel Stecke aufholen müssen, wenn wir es bis zum Durins-Tag schaffen wollen“, seufzte Gloin währenddessen. ,,Das ist noch ein gutes Stück.“

,,Und Gandalf wird uns bestimmt schon suchen“, fügte Nori hinzu.

,,Gandalf?“ Neugierig und verwundert zugleich drehte sich Marie um. ,,Gandalf der Graue? Der Zauberer?“

,,Höchstpersönlich“, antwortete derjenige, der vorhin Hilda geholt hatte. Er trug einen kurzen Kinnbart und einen langen, gebogenen Schnurrbart, der an seinen Wangen hinunter hing. Unter den seitlich, geschwungenen Zipfel seiner Mütze aus braunem Lammfell schaute jeweils ein brauner Zopf hervor. Seine wachen, braunen Augen wirkten lebhaft.

,,Er wollte vorausgehen, einen Blick auf den Weg werfen. Wir trennten uns Gestern.“

,,Verstehe“, murmelte sie, fing an ein Laib Brot zu schneiden. Doch viele Fragen schwirrten ihr im Kopf herum, weshalb sie den Drang zum Nachfragen einfach nicht ignorieren konnte. ,,Verzeiht mir meine Neugierde und vielleicht geht mich das auch nichts an, aber…was machen dreizehn Zwerge, ein Hobbit und ein Zauberer hier in dieser Gegend, fernab der großen Städte? Ich nehme an, eurem Gepäck nach zu urteilen seid ihr auf Wanderschaft.“ Oder auf einen Feldzug, so bewaffnet wie sie sind, fügte sie gedanklich hinzu, als sie sich das Sammelsurium an unterschiedlichsten Waffen erinnerte, welche die Männer mit sich trugen.

Zögernd sahen sich die Zwerge an. Dwalin pfiff durch die Schneidezähne und machte eine Geste, woraufhin sich alle in die Tischmitte beugten. ,,Unser Vorhaben beruht auf Heimlichkeit. Schon vergessen?“

,,Er hat recht. Es geht sie nichts an.“

,,Was spricht dagegen? Sie scheint nett zu sein.“

,,Du, Bombur, würdest auch einen Ork nett finden, wenn er dir Essen anbieten würde.“

,,Hört auf damit.“

,,Genau. Ich finde sie nämlich auch nett.“

,,Pff! Das heißt doch gar nichts.“

,,Dwalin, bitte…“

Marie hörte unverständliches Gemurmel und spürte, dass tatsächlich weit mehr dahinter stecken musste als eine bloße Wanderschaft. Im Geiste verfluchte sie ihre Neugierde, die durch die Geheimniskrämerei der Männer nur noch verstärkt wurde.

,,Können wir ihr denn überhaupt vertrauen?“

,,Thorin hat uns zu ihr geführt. Er scheint es jedenfalls zu tun.“

,,Da hat er recht. Wenn Thorin schon einem Menschen vertraut...“

,,Ist n‘ Argument.“

,,Na, also gut. Aber auf eure Verantwortung!“

Das Gemurmel hinter ihrem Rücken verstummte und das Holz der Bänke knackte dumpf, als die Männer sich wieder setzten. Balin erhob das Wort. ,,Wir sind auf dem Weg nach Erebor.“

Und augenblicklich kam irgendetwas in ihr zum Stillstand. Maries Augen weiteten sich, starrten ausdruckslos das kleine Fenster vor sich an. ,,Erebor“, widerholte sie leise den Namen dieses Ortes. Wie lange hatte sie diesen schon nicht mehr gehört?

,,Wir sind die Gemeinschaft von Thorin Eichenschild, dem rechtmäßigen König Erebors. Wir haben uns geschworen, unser Land von Smaugs Herrschaft zu befreien. Wir werden den Drachen töten und unsere Heimat zurückerobern.“ Laut und selbstbewusst stimmten ihm die anderen zu.

Mit einem Klappern fiel das Messer auf das Brett. Marie fuhr herum. All ihre Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. ,,Den Drachen töten? Aber, das… Das ist unmöglich. Er ist einfach zu mächtig. Und ihr, verzeiht, seid nur fünfzehn… Ihr werdet eine ganze Armee brauchen, um es mit diesem Monster aufnehmen zu können. Wie wollt ihr abgesehen davon in den Berg gelangen? Ich hörte davon, dass das Haupttor verschlossen sei.“

,,Es gibt einen anderen Weg“, platzte es dem mit Mütze heraus.

Strafend richteten sich die Blicke auf ihn. Jemand gab ihm unterm Tisch einen Tritt.

Einen anderen Weg? Marie spürte ihr Herz aufgeregt gegen ihre Rippen schlagen, als sie ahnte, was das zu bedeuten hatte.

Ihr Wortführer, der Weißhaarige, seufzte und fuhr notgedrungen fort. ,,Wir besitzen den Schlüssel für eine geheime Tür, welche sich nur alle hundert Jahre am Durins-Tag öffnen lässt; dem Tag an dem die letzte Herbstsonne und der erste Wintermond zusammen am Himmel stehen. Deswegen müssen wir es bis dahin schaffen. Wir haben nur diese eine Chance, von der alles abhängt.“

Marie war sprachlos. In ihrem Kopf überschlugen sich ihre Gedanken. Thorin…Eichenschild ist jetzt König? Aber was ist mit Thror und Thrain? Sie wollen sich ihren Berg zurückholen, schön und gut, aber das ist doch Wahnsinn! Das ist glatter Selbstmord! Was werden denn fünfzehn Männer gegen den Drachen ausrichten können? Ich hab ihn doch damals gesehen. Das können sie nicht schaffen. Doch…wenn sie es tatsächlich irgendwie schaffen könnten – es müsste schon ein Wunder geschehen - dann könnten die Zwerge Erebors endlich wieder in ihre Heimat zurückkehren. 

Konnte man an so etwas Unmögliches überhaupt denken, so hoffnungsvolle Gedanken ermutigen? Ihr Vorhaben war geradezu zum Scheitern verdammt.

Unglücklich ließ sie ihren Blick über die Tafel schweifen. Welch Bürde auf ihren und auf Thorins Schultern lasten musste, konnte sie nur ahnen. Auf Anhieb fielen Marie hunderte Gegenargumente ein, doch die vor Stolz trotzenden und vor Entschlossenheit gezeichneten Gesichter der Zwerge zu sehen, machten jegliche Warnungen nutzlos. Was sollte sie jetzt noch erwidern?

Sie umzustimmen wäre zwecklos und so schüttelte Marie nur den Kopf. ,,Ihr seid wahrhaftig die mutigsten und ehrenvollsten Männer, die ich je kennenlernen durfte“, sagte sie leise und voller Achtung. ,,Ich wünsche euch alles Glück dieser Welt“, und stellte dann das Brot in die Mitte.

Schüssel für Schüssel wurde gefüllt und durchgereicht. Ein paar Minuten später hörte man nur das Klappern der Holzlöffel, die gierig eingetaucht wurden.

,,Das schmeckt echt gut“, schmatzte der Braunhaarige mit der Mütze und schob sich sogleich den nächsten Löffel in den Mund. Die anderen stimmten ihm ebenfalls mit vollen Mündern zu.

,,Das freut mich“, sagte Marie geschmeichelt, die noch einen Platz an der vollen Tafel bekommen hatte und sie mit einem Schmunzeln beobachtete, wie sie die heiße Suppe hinunter schlangen.

,,Ein hübsches Haus, was du hast. Wohnst du allein hier?“, fragte der einzige Hobbit unter ihnen, dessen Tischmanieren im Gegensatz zu den anderen sittlicherer Natur waren.

,,Ja. Als meine Eltern und ich hier her kamen, war es fast eine Ruine. Ich bin stolz auf das, was wir daraus gemacht haben und ich heute mein Eigen nennen darf.“

Was für grüne Augen…, dachte Bilbo fasziniert, als er der schönen, großgewachsenen Frau zuhörte, die er von Anfang an sympathisch fand.

,,Herr Zwerg, könntet Ihr mir das Brot reichen?“, fragte sie gerade und sah Bofur an.

,,Klar, aber nennt mich ruhig Bofur“, meinte er und rechte es ihr.

,,Nun denn: Danke, Bofur.“

Beim Erwidern ihres Lächelns erschienen tiefe Grübchen hinter seinem Schnurrbart. ,,Wo wir gerade dabei sind. Ich finde, es ist ne‘ gute Gelegenheit, um uns alle vorzustellen, da, so wie es aussieht, wir noch ein Weilchen miteinander zutun haben werden.“ Ehe die anderen Einwände erheben konnten, zeigte er neben sich. ,,Wenn ich mir dann also die Freiheit nehmen dürfte: die Gebrüder Nori, Ori, Dori. Dann hätten wir dort meinen Bruder Bombur und unseren Vetter Bifur…“ Jeder Zwerg verbeugte sich leicht, soweit der Tisch es zuließ.

,,…den verheerten Herrn Balin und dessen Bruder Dwalin – keine Angst, wenn man sich an ihn gewöhnt hat, erscheint er einem doch ganz sympathisch. Und dort sind noch Gloin und Oin. Ach ja, und nicht zu vergessen, unseren Meisterdieb Bilbo Beutling.“

,,Wieso Meisterdieb?“

Der Hobbit mit den kupferbraunen Locken winkte ab. ,,Ist eine komplizierte Geschichte.“

Marie zog die Stirn kraus, schaute in die bunte Runde und legte dann ihren Löffel beiseite. ,,Also, wie war das noch gleich“, begann sie und versuchte sich daran, die Namen jedes einzelnen zu wiederholen und sich die unterschiedlichen Gesichter dazu zu merken. Zuerst klangen die Namen in ihren Ohren etwas ulkig, aber tatsächlich schaffte sie es fehlerfrei, sodass die Mienen der Männer sich aufhellten. Von Bofur gab es sogar Applaus. ,,Es ist mir eine Ehre euch alle kennen zu lernen.“

Die ersten Lächeln kamen zurück.

,,Sag mal, woher kennt Thorin und du euch nun eigentlich?“, wollte Gloin, ein großer Zwerg mit einem mächtigem roten Bart, wissen.

,,Wir haben unsere Jugend zusammen verbracht. Damals, als ich noch in Dale wohnte.“

Das Holzgeklapper verstummte schlagartig. Die Zwerge sahen einander an, schienen interessiert und verblüfft zugleich zu sein.

,,In Dale, sagtest du?“

,,Ja, meine Eltern waren dort Heiler.“

,,Und du und Thorin kanntet euch?“, fragte Nori, der mittlere des Brüdertrios nochmal nach, so als hätte sie von einem blauen Hund erzählt.

,,Ja, wir…wir waren Freunde.“ Dieser Satz versetzte ihrem Herz einen Stich. Lügnerin, schien es höhnisch zu rufen.

,,Wie war Thorin denn als Kind? Kann ich mir nur schwer vorstellen“, meinte Bilbo mit einem schiefen Schmunzeln. Die Vorstellung war für ihn einfach absurd.

,,Naja, ich lernte ihn mit fünfzehn kennen. Da er ein paar Jahre älter ist als ich, war er schon ein erwachsener Mann. Wir stießen eines Tages aufeinander…“ Ein wehmütiges Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie an ihre erste Begegnung zurück dachte.

,,Es gab - oder besser - gibt einen Typen namens Gonzo, ein herrischer Kerl, damals der Anführer der Jungs und heimlicher Schwarm aller Mädchen. Zu allem Überfluss war er ausgerechnet in mich verguckt. Eines Tages, als wir Halbstarke uns trafen, war er wieder einmal besonders aufdringlich, was ich ihm bei jeder Gelegenheit klarmachte. Und plötzlich war da dieser junge Zwerg mit dem rabenschwarzen Haar. Er rief Gonzo zu, er solle mich in Ruhe lassen, bekam aber nur Spott und Hohn zu hören. Nach einem heftigen Wortwechsel kam es zur Schlägerei. Zwei Kumpanen von Gonzo packten ihn und er zückte ein Taschenmesser, schnitt ihm einen seiner Zöpfe ab.“

Empörung brach unter den Zwergen aus.

,,Er schlug wie wild um sich“, erzählte sie weiter und sah dabei das wütende Knäul aus Haaren, Armen und Beinen wieder vor sich. ,,Dabei, ich weiß nicht mehr wie, bekam er das Messer zu fassen und schlug seinem Peiniger den kleinen Finger ab. Gonzo ließ von ihm und ich packte eilig den Fremden, um ihn vor dessen Rache zu schützen, und rannte mit ihm in die Stadt. Nach zwei Jahren traf ich ihn in Dale wieder und im Laufe der nächsten zwei wurden wir allmählich Freunde. Wir haben uns gegenseitig Briefe geschrieben.“ Sie bekam rote Wangen und legte verlegen den Kopf schief.

,,Diese sorglose Zeit nahm leider ein schnelles Ende, als er viel Unterricht bekam und die Pflichten eines Thronfolgers für ihn immer deutlicher wurden. Wir sahen uns wieder auf einem Fest im Sommer und…“ Sie verstummte. Ihre grünen Augen senkten sich.

Die Gefährten sahen sich an. ,,Was ist auf dem Fest passiert?“, fragte Bilbo und sprach damit aus, was alle sich fragten.

,,Wir trafen uns nach langer Zeit wieder. Er stand einfach da…“ Marie starrte an ihrem Gegenüber vorbei und schweifte mit ihren Gedanken in die Vergangenheit ab. Sie sah Thorin, wie er lässig an einer Hauswand lehnte, die Arme vor sich verschränkt, und sich selbst, wie sie sich durch die Leute drängte und auf ihn zu eilte. Überall waren bunte Lichter, ließen ihr weißes Kleid leuchten. Sie waren glücklich… In einem gefühlten anderen Leben.

Schnell blinzelte sie die Erinnerungen beiseite und musste daran schlucken. ,,Ich fiel ihm vor Freude um den Hals“, fuhr sie mit einem bemühten Lächeln fort. ,,Es war ein unglaublich schöner Abend. Wir tanzten eine Ewigkeit und, naja…küssten uns…“

Balin bekam einen heftigen Hustenanfall. Fast gleichzeitig spuckten Bofur und Nori ihre Suppen über den halben Tisch. Oin schaute in seinen Trichter, ob dieser kaputt wäre. Bifur schielte leicht. Bombur verschluckte sich an seinem Brot, woraufhin Dori ihm auf den Rücken schlug und Ori und Gloin saßen einfach nur da mit offenen Mündern.

Oh, Himmel, warum konnte ich nicht einfach meinen Mund halten? Sichtlich verlegen errötete sie.

Bombur hustete. Ein Klumpen Brot mit Spucke flog über die Länge des Tisches und klatschte irgendwo auf den Dielen auf.

,,Ach ehrlich?“ Bilbo war ein wenig fassungslos. Sich den mürrischen, impulsiven Zwerg mit ihr vorzustellen, war fast unmöglich für ihn.

,,Das hat er nie erzählt!“ Heftiges Gemurmel brach aus.

,,Euch nicht.“

Alle Augen richteten sich auf Dwalin.

,,Es ist wahr, was sie sagte“, sprach der große, muskulöse Krieger. ,,Nicht nur einmal musste ich mir in den nächsten Tagen die Geschichte von ihm anhören.“ Er rollte mit den Augen, als erinnerte er sich noch ganz genau daran. ,,Auf eine Bank habe er sich gestellt, ihr in die Augen geschaut und sie geküsst.“

Wachsam beäugte Marie den Zwerg mit der tätowierten Glatze, den übrigen schwarzen, langen Haaren im Nacken und dem halblangen, rauen Bart. Eine feine Narbe verlief schräg über seine rechte Gesichtshälfte. Seine Ohren trugen breite Metallstücke als Schmuck, sein rechtes hatte eine Kerbe. Das muss der Dwalin sein, von dem Thorin damals erzählt hatte. Worüber weiß er noch Bescheid? Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe und flehte inständig, er möge nicht vor den Männern weiter erzählen. Sein Blick traf ihren und Maries Wangen fingen Feuer, als hätte er ihre Gedanken ertappt. Für einen Moment hielt er ihren Blick, doch sie konnte nichts aus seinen Augen lesen, die die Härte von Stein besaßen.

Mit schief gelegtem Kopf starrte Bofur ihn an. „Warum, in Durins Namen, hast du nie davon erzählt?“

Er drehte sich zu ihm, gab etwas harsch zurück: ,,Weil andere das nichts angeht.“

Balin, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte, kicherte in seinen Bart hinein, und schüttelte den Kopf. ,,In Thorin stecken mehr Geheimnisse, als wir ahnen können.“

Die Stimmung im Raum entspannte sich und Marie konnte vorerst aufatmen. Sie wurde jedoch das Gefühl nicht los, dass die Männer sie ständig musterten, so als könnten sie nicht glauben, dass etwas zwischen ihrem Anführer und ihr einmal gewesen war.

Das restliche Essen über blieb Marie still, denn die Erinnerungen an die Sommernacht holten sie wieder ein und brachten den bekannten Schmerz zurück.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3

 

 

Nachdem die Zwerge und Bilbo im Handumdrehen den Kessel Suppe geleert hatten, hatten sie vor und neben dem Kamin ihre Mäntel und Decken für ihre Schlaflager ausgebreitet. Leider hatte Marie ihnen keinen bequemeren Platz außer im Heu in der Scheune anbieten können, doch die Männer schienen hier vor dem Feuer ganz zufrieden zu sein. Marie räumte ein wenig auf und brachte ihnen noch Decken, ehe sie die letzte, übrig gebliebene und gut behütete Schüssel Suppe nahm und damit ins Nebenzimmer ging. Sie schloss die Tür hinter sich und blieb erstarrt im Rahmen stehen.

Auf dem Fußboden saß an Kilis Bett gelehnt eine dunkle, regungslose Gestalt, die Arme um die angezogenen Knie gelegt. Schwarze Haare verdeckten das gesenkte Gesicht. Wie gebrochen saß Thorin im Schatten der glühenden Abenddämmerung.

Marie atmete tief ein und rang sich dazu durch, die Klinke loszulassen. Vorsichtig trat sie näher, wollte ihn in seiner Abgeschiedenheit nicht stören. Thorin schaute nicht auf, als sie die Schüssel auf das kleine Tischchen zwischen den Betten stellte, auch nicht, als sie bei beiden nach den Verbänden schaute und Kilis Stirn befühlte.

,,Fängt das Gegenmittel an zu wirken?“, fragte er mit erschreckend heiserer Stimme.

,,Nein, noch nicht.“ Unsicher schaute sie sich um. Ich kann ihn sich nicht selbst überlassen, dachte sie. Er sollte nicht allein sein. Nicht in dieser Nacht. Anstatt zu gehen setzte sie sich ans andere Bett, nahm die Suppe und hielt sie ihm hin. ,,Bitte, iss etwas. Es wird dich wärmen.“ Langsam hob er den Kopf und Marie fuhr innerlich zusammen. Aschgrau war er, hatte gerötete Augen. Thorin selbst glich dem Schatten, in dem er saß.

,,Bitte.“

Er sah sie an, sah die Besorgnis in ihren Augen, die er sich genau so in seinen Erinnerungen bewahrt hatte. Sie waren grün, doch nicht nur irgendein Grün, wie auch andere es hatten. Ihre Augen waren wie Smaragde.

Eigentlich wollte er allein sein, mit niemanden reden. Doch sie wieder wegschicken, konnte er auch nicht. Damit sie ihn nicht länger so anschaute, strecke er die Beine aus, um sich bequemer hinzusetzen, nahm die Schüssel mit dem Löffel und aß für sie, obwohl er keinen wirklichen Hunger verspürte.

Der warme Dampf stieg nach oben, während Marie ihm beim Essen zusah. Immer noch trug er nur sein Hemd, unter dem man seinen starken Körper vermuten konnte. Er aß langsam, kaute bedächtig und lange herrschte Schweigen.

Der Pfeil hat zwar wie durch ein Wunder keine Organe beschädigt, doch die Wunden könnten sich bei beiden von den Orkklingen entzünden, dachte sie, als sie einen Blick zu Kili hinauf warf. Bange Stunden würden vergehen, bis sie beide sicher über den Berg wusste.

Orks hatte sie noch nie mit eigenen Augen gesehen, doch sie erinnerte sich, dass sie ihre Rufe schon einmal gehört hatte, als ihre Familie nach der Katastrophe von Dale auf den Weg hier her gewesen war. Ein eiskalter Schauer kroch ihr über Rücken und Arme, als sie wieder die Schreie durch die Nacht hallen hörte.

Marie stellte sich die Wesen vor, die einst aus dem tiefsten Osten kamen und nichts anderes außer dem Töten verstanden. Sie besaßen eine eigene Sprache, die Schwarze Sprache, doch waren mehr Tier als von irgendeiner anderen Herkunft, ein Zweig, dem auch die Bilwisse und Trolle einst entsprungen waren. Es waren widerliche Kreaturen mit meist grauer, ledriger Haut, abstoßendem Aussehen und abartigem Geruch. Sie lebten in Clans zusammen, zurückgezogen in den Bergen oder tiefsten Wäldern. Oft bewohnten sie dabei verlassene Stollen oder Ruinen. Mit der Dunkelheit der Nacht verbündet überfielen sie Wanderer und Reisende in der Wildnis und waren in ganz Mittelerde für ihre Blutgier und Grausamkeit gefürchtet.

Das dumpfe Klacken beim Abstellen der leeren Schale, ließ Marie aufschauen. Wegen der fortschreitenden Dämmerung wurde Thorin ihr gegenüber immer mehr in Schatten gehüllt. Er saß regungslos da, als wache er einsam über seine Neffen, horchte auf ihre nächsten Atemzüge. Sie suchte nach Worten, um dem Schweigen zu entgehen, um ihn irgendwie zu trösten, doch er kam ihr zuvor.

,,Wenn sie sterben, würde ich mir das nie verzeihen.“

,,Soweit darfst du nicht denken. Es gibt Hoffnung. Sie sind jung und stark. Sie schaffen es…“

,,Und was ist, wenn nicht?“, schnitt er ihr ins Wort, hatte ruckartig den Blick in ihren gehoben. ,,Sie sind die einzigen, die ich noch habe.“

,,Was?“ Die einzigen? Aber das bedeute ja, dass…

,,Ja“, sagte er, so als hätte er ihre Gedanken gelesen, ,,wir sind die letzten Erben des Thrones meiner Väter.“

Die letzten. Nur schwer sackten diese zwei Wörter in ihr Bewusstsein. Unverständnis und Schwermut blieben zurück. Was hat er bloß erlebt? Was ist ihm und seiner Familie widerfahren in den letzten Jahren?

,,Erzähl mir, was passiert ist.“ Wieder sah er sie an, so eindringlich, dass Marie eine Gänsehaut bekam und ihre forschen Worte bereute. Warum kam dieser Satz über ihre Lippen? Wollte sie das wirklich wissen? Es zurückzunehmen, traute sie sich dennoch nicht.

Schließlich wendete Thorin den Blick ab und nahm neuen Atem. Ein wenig fürchtete sich Marie davor, was nun folgen würde. Doch sie biss sich auf ihre Lippe, legte wie er vorhin die Arme um die Knie und schwor sich, egal was sie nun hören würde, keine Fragen zu stellen und ihn ausreden zu lassen.

,,Unser Vater und Großvater zogen uns groß“, begann er, starrte auf seine Stiefel, als würden dort die Worte stehen, an die er sich festhalten konnte. ,,Wir Enkel saßen abends oft an seinem Kamin und er erzählte uns die uralten Geschichten unseres Volkes. Wie haben wir diese Geschichten geliebt…“

Diesen Teil seiner Geschichte kannte sie bereits und Marie fragte sich, warum er ihr dies erzählte, doch sie sagte nichts, nickte nur, um ihn zum Weiterreden zu ermutigen.

Gedankenverloren drehte Thorin beim Sprechen den mit schwarzen Gravuren versehenen, breiten Ring an seinem Daumen hin und her. ,,Mein Vater hatte Frerin nie vollkommen akzeptiert. Unsere Mutter starb bei seiner Geburt. Vater hatte ihren Verlust nie verarbeitet. Er hat es nie offen ausgesprochen, doch wir glaubten, er machte meinen Bruder verantwortlich für ihren Tod. Frerin war der wilde, ungestüme von uns dreien. Oft übten wir beide stundenlang das Kämpfen in den Berghängen oder am Zarâm-sijrevas. Meine kleine Schwester hielt sich aus unseren Übungskämpfen raus, steckte die Nase lieber in Bücher. Sie war die sanfte, verträumte von uns… verliebte sich in einen Soldaten. Unser Vater war anfangs gegen ihn, doch Karif bekam schließlich seinen Segen und wurde in unserer Familie aufgenommen. Dis liebte ihn von ganzen Herzen… Er war ein starker, edler, gewissenhafter Zwerg…wurde ein würdiger Hauptmann.“

Er machte eine Pause, schluckte, doch es war nutzlos, denn beim nächsten Satz wurde seine Stimme noch leiser. ,,Ich war der große Bruder, ihr Beschützer…doch das konnte ich nicht immer.“

Oft hatte er sich gefragt, was gewesen wäre, wenn er besser ihren Schutz veranlasst hätte oder gar an diesem Morgen bei ihr geblieben wäre. Sich irgendeine Mitschuld daran zu geben, war dumm, doch tief in seinem Inneren existierte diese Frage.

,,Als der Drache angriff…“ Er brach ab und begann von Neuem. ,,Beim Angriff war sie allein. Und als sie zum Haupttor durch einer der Hallen lief, war er direkt vor ihr.“ Thorin schüttelte den Kopf, presste den Mund aufeinander, die Lippen ein dünner Strich. Den Blick auf seine Stiefel geheftet gingen seine Augen ruhelos hin und her. Und Marie war es, als sähe sie allein in ihnen seinen Schmerz.

,,Sie erzählte mir, sie hätte sich vor Angst nicht mehr bewegen können. Eine…Feuerwolke soll durch die Halle auf sie zu gekommen sein… Und dann war da auf einmal Frerin… Er stieß sie zur Seite, sodass er an ihrer Stelle verbrannte.“ Ein Zittern durchfuhr seinen Körper. Hörbar holte er Luft. ,,Ich hab sie gesehen“, flüsterte er und sah Marie an, die regungslos ihm gegenüber saß. Fest umklammerte sie ihre Knie, wagte nicht zu atmen, nicht zu blinzeln.

,,Sie lag vor einer Säule, hatte die Hand nach ihm ausgesteckt, wollte zu ihm… Ein Soldat riss sie hoch und trug sie davon. Sie wehrte sich, wollte bei ihm bleiben…bei unserem kleinen Bruder…“ In Thorin hallten ihre Schreie mit ihrem grauenvollen Echos. Immer wieder rief sie seinen Namen, als könnte sie ihn dadurch zurückholen.

Marie beobachtetet, wie sich seine Hände anspannten, er die Augen fest zugekniffen hatte. Dass er sich so damit quälte, hatte sie nicht gewollt. Er sollte aufhören. Ihre Bitte jedoch blieb ungehört.

Erst nach einigen Augenblicken konnte er weiter reden. ,,Mein Volk fand Schutz in den Blauen Bergen bei König Baryn. Mein Großvater hatte sich in der Zeit dort verändert. Verbittert und schnell gealtert war er geworden. Um seine Ehre wieder zurückzuerlangen, wollte er das alte Zwergenreich Moria zurück erobern, das seit Jahren von Orks besetzt war. Mein Vater und Großvater waren guter Dinge und nachdem sie König Baryns Heer mit auf ihre Seite geholt hatten siegessicher.“ Wieder schüttelte er den Kopf über ihren Starrsinn. Diese Entscheidung konnte er bis heute nicht wahrhaben. Wieso waren sie so blind gewesen?

,,So zogen unsere verbliebenen Krieger und die der Blauen Berge nach Moria. Es war ein langer Marsch. Manch Frauen und Kinder kamen mit, um später für die Versorgung der Verwundeten zu sorgen. So auch Dis und die Jungs, die sie nicht zurück lassen wollte. Wir errichteten unser Lager in einiger Entfernung und wir Männer zogen noch vor dem ersten Licht am Morgen raus. Mit so vielen Orks hatte jedoch niemand gerechnet.“ Seine Stimme wurde schneidend kalt. In seinen Augen sah Marie Hass funkeln.

,,Immer mehr kamen aus ihren Löchern“, zischte er zwischen angespannten Kiefern hindurch. ,,Wir erlitten große Verluste.“ Erneut schlossen sich seine Hände zu Fäusten, als wollte er sich gegen die Erinnerungen wehren, als sie zu übermächtig wurden. ,,Ihr Anführer, Azog, der Schänder, enthauptete meinen Großvater.“

Vor seinen Augen reckte der riesige, bleiche Ork den Kopf mit den verdrehten Augen in ihren Höhlen an den Haaren empor und stieß einen Siegesschrei aus, der durch Mark und Bein ging. Dann warf er ihn. Der abgetrennte Kopf schlug auf dem Felsboden auf, rollte den Hügel zu ihm hinab und blieb in Dreck und Blut liegen. Thorin hörte sich selbst schreien. Er schrie, bis seine Kehle brannte, bis er keine Luft mehr bekam. Voller Schmerz ging er auf ihn los, doch Thrain schob sich zwischen ihm. ,,Vater…“

,,Bleib zurück!“

,,Nein! Tritt beiseite!“

,,Azog will uns alle töten! Einem nach dem anderen! Er will die Blutlinie Durins auslöschen. Doch bei meinem Leben, er wird mir nicht auch noch meinen Sohn nehmen!“

,,Mein Vater verschwand und kehrte nicht zurück“, sprach er erst nach langer Zeit im Hier und Jetzt weiter. ,,Ob gefangen genommen oder getötet, weiß niemand. … Ich war auf dem Schlachtfeld gewesen. Mein Vater war nicht unter den Toten. Er verschwand spurlos.“ Thorin hörte sich selbst nach ihm rufen, als sein Vater zwischen dem Schlachtgeschehen verschwand. Es war das letzte Mal gewesen, dass er ihn sah.

,,Ich trag Azog entgegen und konnte ihm im Kampf einen halben Arm abschlagen, ehe er von den seinen davon geschleppt wurde. Ich sammelte unsere Truppen neu und wir konnten die Orks zurückdrängen. Doch die Schlacht war verloren. Ich sah viele Zwerge, die ihr Leben ließen…so auch Karif.“ Thorin sah erneut wie der Speer seinen Brustkorb durchbohrte, hörte das Geräusch, als die Spitze die Ketten seiner Rüste durchschlug. ,,Ihr Vater wurde tödlich verwundet. ,Pass auf meine Söhne auf´, das waren seine letzten Worte.“ Damals musste er ihm versprechen, dass er acht auf sie geben würde. Bis zum Ende blieb Thorin bei ihm und schloss seine Augen, als das Leben aus ihm gewichen war.

Heiser und rau war seine Stimme, als er fort fuhr: ,,Als sei dieser Tag nicht schon genug von Kummer geprägt worden, sollte mit einer Botschaft noch mehr folgen.“

,,Was für eine Botschaft?“

Seine grauen Augen richteten sich auf sie. ,,Dass das Lager entdeckt worden sei.“

,,Nein…“ Schnell legte Marie sich eine Hand vor den Mund.

,,Als wir dort ankamen, war es zu spät. Wir fanden ein Blutbad vor. Durch die Entfernung, so dachten wir, sei es sicher… Orks kennen keine Gnade, kannten an diesem Tag keine. Sie schändeten unsere Frauen und Mädchen. Nur die wenigsten konnten sich retten. Dis befand sich in einem der Zelte mit den Kindern. Sie hatte ihnen befohlen in eine Truhe zu klettern, so erzählte es mir Fili später. Dann kamen die Orks…und…“ Thorin biss sich auf die Lippen, starrte verloren vor sich hin.

,,Ich fand sie im Zelt…nahm sie in den Arm, drückte sie an mich… Überall war ihr Blut.“ Das war das Bild, das in seinen Albträumen auftauchte: Dis am Boden liegend, mit hochgeschobenen Röcken und einem dicken Schnitt im Hals, der ihre Haut wie ein zweiter, roter Mund brach. ,,Auch tot, mit offener Kehle war sie noch wunderschön.“

Marie wurde schlecht.

,,Deswegen konnte ich mich vorhin nicht bewegen.“ Er hob den Kopf, sah sie reumütig an. ,,Ich hab statt Kili sie gesehen.“

Unbewusst nickte sie, schluckte, um das flaue Gefühl im Hals los zu werden. ,,Es ist in Ordnung…“, sagte sie, damit er wusste, dass sie es verstand. Thorin nickte unglücklich. ,,Du brauchst nicht weiterzuerzählen, wenn du nicht willst. Du musst das nicht länger“, wisperte sie, doch er schüttele abermals den Kopf. Und Marie ließ ihn. Doch. Er musste es.

,,Wir suchten überall nach den Jungs und befürchteten das Schlimmste. Dwalin ging noch einmal zurück in ihr Zelt. Ihm fiel auf, dass der Inhalt der Truhe in einer Ecke lag… Und darin fand er sie. Als er mir zwischen den verwüsteten Zelten mit den Jungs auf dem Arm entgegen kam…und sie nach ihren Eltern gefragt haben… Da zerriss es mich. Ich habe ihnen geschworen, dass ich nun für immer für sie da sein und auf sie aufpassen werde.“

Marie sah, dass der Ausdruck seiner Augen sich veränderte. Das Grau nahm einen harten Glanz an.

,,So kehrten die Überlebenden in die Blauen Berge zurück. Baryn selbst und seine Söhne waren nur leicht verletzt geblieben, doch wir aus Erebor brachten Tod und Kummer über sein Volk, weil mein Großvater ihn in seinem Wahn mit hinein gerissen habe.“ Er schnaubte durch die Nase. ,,Ich wurde abfällig als der letzte König Erebors bezeichnet, soll angeblich genauso krank wie mein Großvater sein. Die darauffolgende Zeit wurde für mich trostlos und unerträglich. Wie lange dieses Kapitel meines Lebens andauerte, weiß ich nicht mehr. Dwalin riss mich schließlich aus diesem Loch heraus und ich fasste einen Entschluss. Ich musste weg. Wohin wusste ich nicht. Einfach nur weg, alles hinter mir lassen. Ich packte das Nötigste zusammen, nahm die Jungs und ging mit ihnen fort. In den Dörfern der Menschen fand ich Arbeit. Neun Jahre zogen wir von einer Schmiede zur nächsten und ich lehrte ihnen alles, was ich weiß.“

Er legte den Kopf zurück, lehnte sich gegen die mit feinem Stroh gefütterte Matratze. ,,Kili erinnert mich immer an Frerin“, sagte er, den Blick an die Deckenbalken gerichtet. ,,Vom Aussehen her kommt er ganz nach Dis. Er hing ihr oft am Rockzipfel. Fili dagegen ist Karifs Sohn. Er sieht ihm wie aus dem Gesicht geschnitten aus: die blonden Haare, der ähnliche Bart… Ein Abbild seines Vaters.“ Ein Zittern verlief erneut durch seinen Körper, als er an seinen gefallenen Freund dachte. ,,Ich habe ihn enttäuscht.“

Draußen war die Nacht bereits angebrochen. Im Raum wurde es jetzt mit jeder Minute dunkler. Marie fühlte sich erschlagen von dem, was Thorin ihr gerade erzählt hatte, brauchte einen Moment, um das eben Gehörte zu verarbeiten.

Der letzte König Erebors. Wie konnte es soweit nur kommen? Warum musste seine Familie sterben? So viel Schreckliches ist ihm wiederfahren, so viel Leid hat er gesehen… Er ist ein König ohne Thron, ohne Krone und ohne Königreich. Er hat alles verloren, was man verlieren kann. Und wenn er jetzt noch seine Neffen verlieren würde… dann hat er nichts mehr. Wie er so dasitzt, als ob er sich, als ob er alles aufgegeben hätte.

Sie ertrug es nicht länger, ihn so zu sehen. ,,Thorin.“ Doch er reagierte nicht. Marie spürte die Tränen aufsteigen, die sie die ganze Zeit unterdrückt hatte. Sie rückte zu ihm hinüber, setzte sich neben ihn. ,,Thorin.“ Zaghaft legte sie ihre Hand auf sein und erschrak, so sehr, dass sie sie zurück zog. Eiskalt war seine Haut.

,,Thorin…bitte, sieh mich an“, flüsterte sie, doch er reagierte immer noch nicht. Müde von ihren Emotionen legte sie ihren Arm auf das Bett und ihren schweren Kopf darauf, kämpfte gegen das Gefühl der Trauer an, die Thorin lähmte. Mit der anderen Hand fasste sie wieder nach seiner, nahm sie ganz und drückte sie. Sie wollte ihm Trost und Halt schenken. Er sollte spüren, dass er nicht alleine war.

,,Ich bin mir sicher, dass Dis und Karif dir zusehen werden, wo auch immer sie jetzt sind“, flüsterte sie und musste an dem Kloß in ihrem Hals schlucken. ,,Ich bin mir ganz sicher. Sie werden ganz bestimmt stolz auf dich und auf ihre Söhne sein. Du hast sie großgezogen, sie gelehrt… Einen besseren Onkel hätten sie nicht bekommen können. Aber du musst jetzt stark bleiben für sie, sie brauchen dich. Was würden sie sagen, wenn sie dich hier so am Boden sehen würden? Was würden deine Gefährten sagen? Sie würden dich nicht erkennen, denn den Mann, den sie kennen - ihren Onkel, ihren Helden - der war immer stark gewesen. Der Drache hat über dein Volk Schmerz und Leid gebracht und nun erhebt sich eine kleine Gemeinschaft von tapferen Männern unter deiner Führung gegen ihn, sind auf den Weg, dein Land zurück zu holen. Du hast gegen die Orks gekämpft und deine Familie verloren und doch bist du mit deinen Neffen an der Hand weiter gegangen. Du hast alles getan, was du konntest für die beiden, Thorin, und sie würden auch wollen, dass du nicht aufhörst zu kämpfen und weiterhin stark bleibst, egal, was passieren könnte.“

Ausdruckslos sah er auf ihre Hand, die auf seiner geradezu zart wirkte. Er spürte die Wärme, die von ihr ausging und plötzlich war da etwas an ihr, eine Art Vertrautheit, die er lange nicht mehr gespürt hatte. Er war jedoch zu erschöpft, um darüber nachzudenken.

,,Stark zu sein bedeutet nicht, nie zu fallen. Stark zu sein bedeutet, immer wieder aufzustehen“, flüsterte sie, während sie mit dem Daumen über seine rauen, kalten Fingerknöchel strich. So lange, bis Thorin eingeschlafen war und keine Dämonen mehr an ihn herankommen konnten. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4

 

 

Die am Rahmen beschlagenen Fensterscheiben färbten sich rosa und ließen in den kleinen Raum erstes Morgenlicht. Als Thorin erwachte, fühlte er sich erschöpft und immer noch müde. Noch im Halbschlaf sah er zu, wie sich gegenüber die Bettdecke hob und senkte. Die verwuschelten, blonden Haare von Fili schauten hervor. Ruhig und tief schlief er.

Seine Augen schmerzten ein wenig. Er hob die Hand, um sie sich zu reiben und eine andere Hand, die er gar nicht wahrgenommen hatte, rutschte auf seinen Oberschenkel. Irritiert folgte er dem Arm, drehte seinen Kopf nach links und blickte in das Gesicht von Marie.

Noch tief und fest schlief sie, den Kopf auf ihrem anderen Arm gelegt, der durch ihre Körpergröße auf der Matratze lag. Ganz dicht saß sie neben ihm, ihre Beine unter ihren Hintern angewinkelt.

Der gestrige Abend holte ihn wieder ein. Das Reden hatte sich gut angefühlt, hatte fast schon etwas Befreiendes an sich gehabt, doch die Erinnerungen hatten auch an den alten Narben gekratzt. Und die ganze Zeit war sie bei ihm geblieben.

Ihre Worte, ihre Berührung, sie so nah bei ihm. Wie auch jetzt. Und wie auch am Abend zuvor bebte in ihm wieder dieses kleine, warme Kribbeln auf, welches von der Wärme, die von ihr und ihrer Nähe aus ging, gespeist wurde.

Eine Weile beobachtete er sie beim Schlafen und realisierte dabei erst jetzt so richtig, dass sie es wirklich war. Dass er sie wirklich wiedergefunden hatte. Sechzehn Jahre. So lange war es her, dass er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sechzehn Jahre lebte er mit der Ungewissheit, was aus ihr geworden war.

Er betrachtete ihre dunklen Wimpern, ihre reine Haut, die einen Mann zu einer Berührung verleiteten. Ihr Mund stand ein wenig auf, ihre rechte Wange, die auf ihrem Arm lag, war etwas nach oben geballt, was er irgendwie süß fand. Ihr langes, braunes Haar, deren Strähnen durch die sicherlich unbequeme Nacht durcheinander geraten waren, rahmten ihre Konturen ein und beschworen seine Erinnerungen an die Sommernacht herauf. Für einen Moment spürte Thorin ihre Hände an seiner Brust, wie sie über sein Gesicht strichen, über seine Schultern fuhren und ihren verschwitzten, nackten Körper unter den seinem.

,,Wie konnte ich dich nur aus den Augen verlieren?“ Ganz in seine Gedanken und in das warme, wohltuende Gefühl eingetaucht, streckte er die Hand zu ihr aus. Kurz bevor er sie berühren konnte, zügelte ihn die Vernunft. Was tat er hier? Es würde doch nie wieder so wie früher sein. Sie konnten nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen. Er hatte sie verlassen und das konnte er nie wieder rückgängig machen.

Alles in ihm sehnte sich danach, sie berühren zu dürfen, sie wieder zu besitzen. Seine Gedanken schlugen eine gefährliche Richtung ein. Sein Blut begann sich in seiner Körpermitte zu sammeln, doch er verbot es sich. Thorin presste die Zähne aufeinander. Wenn dieser Drache nicht gewesen wär‘, dann wäre das alles nicht passiert, dann hätte ich bei dir bleiben können. Er allein ist an allem schuld.

Voller Gram dachte er an den Tag zurück, an dem er Marie zurück ließ. An den Tag, an dem sich sein ganzes Leben änderte. Es war der Tag, an dem Smaug gekommen war.

 

~

 

In den Eingangshallen fand schon am Morgen reges Treiben statt. Sonnenstrahlen drangen durch die Architektur des oberen Haupttores, fielen wie natürliche Schleier schräg aus der Höhe und lösten sich auf halbem Wege auf.

Jeder, der seinen Weg kreuzte, senkte respektvoll das Haupt vor dem Prinzen und Thorin nickte jedem zu.

,,Zu Euren Diensten, Eure Hoheit.“

,,Undur“, begrüßte er den Stallmeister, der seinen kleinen Sohn Vundur an der Hand hatte.

,,Ein herrlicher Tag zum Ausreiten. Soll ich Euch ein Pony vormerken, Eurer Gnaden?“

,,Nein, danke. Ich bin heute außer Haus.“ Er strubbelte dem Jungen durch die dunklen Haare und setzte seinen Weg fort. Vorfreude erfüllte ihn, denn heute würde er sich wieder… Die hellen Wachhörner vom Haupttor rissen ihn aus seinen Gedanken. Für ein paar Sekunden horchte er auf die schnell hintereinander folgenden Töne, lief dann alarmiert zu einer der beidseitigen Treppen und hetzte sie hinauf. Er hatte die letzten Stufen noch nicht geschafft, da schlug ihm schon ein heftiger Wind entgegen, der seine schwarzen Haare wehen ließ.

,,Mein Prinz, seht!“, empfing ihn ein Wachsoldat oben auf dem Wehrgang knapp.

Thorin lehnte sich durch die breiten Zinnen, an denen hellblaue Fahnen mit dem Wappen ihres Landes hingen. Lautstark schlug das goldene, Rücken an Rücken stehende Rabenpaar im Wind hin und her. Ein paar brachen sogar ab. Ein mehr als ungutes Gefühl in seiner Magengegend verdunkelte sein Gemüt. Nein, hier stimmte etwas ganz und gar nicht.

Der älteste Sohn des obersten Ratsmitgliedes kam über den oberen Gang hinzu und tat es ihm gleich. Die Kiefern am Berghang ächzten im Wind, der ungewöhnlich schnell zugenommen hatte und nun einem Orkan glich. Die ersten Bäume wurden krachend entwurzelt. Äste flogen umher.

In seinem Blickfeld erschien eine dunkle Silhouette. Thorin riss den Kopf in den Himmel, doch so schnell wie sie erschienen war, war sie auch wieder verschwunden. Doch das täuschte. Es war nichts anderes als eine Einschüchterung, die das erreichte, was sie sollte. Durin... Hoffentlich hatten die Soldaten gut gefrühstückt.

,,Balin, schlag Alarm.“

,,Thorin, was ist das?“

,,Ein Drache.“ Dann fuhr er herum, hetzte zur anderen Seite und lehnte sich über die innere Mauer. ,,DRACHE!!!“ Sein Schrei hallte nach unten, wo die erste Panik ausbrach.

Als er sich wieder zu seinem Freund umdrehte, wurde ein brennender Baum durch die Luft geschleudert und etwas Großes, Dunkles kam durch die Wolkendecke auf sie zu. Er packte Balin, riss ihn herum und zog ihn gerade noch hinter eine der Säulen, ehe gewaltige Flammen an ihnen vorbei schlugen. Mit einem beherzten Sprung brachte der Soldat sich über die Mauer außer Reichweite, griff dabei das Seil der Glocke, deren mächtigen Schläge Sekunden später zusammen mit den tiefen, lauten Tönen der Hörner, durch alle Hallen Erebors gingen.

 

~

 

Dis schaute auf. Ein fernes Dröhnen war zu vernehmen.

,,Mama, was ist das?“, fragte Fili, der neben seinem Brüderchen auf dem Teppich vor dem Kaminfeuer saß und mit seinen Holzfiguren spielte.

Aus dem Schlafgemach hörte man es rumpeln, dann einen unterdrückten Fluch. Ein blonder Zwerg mit offenem Haar, in das ein paar wenige dünne Zöpfe geflochten waren, hetzte hinaus, zog sich im Laufen seine Hose samt Kettenrüste an. Er hatte einen relativ kurzen Vollbart mit einem dicken Zopf unter dem Kinn und zweien, die von seiner Oberlippe an den Mundwinkeln hinunter hingen.

,,Karif, was geht da vor sich?“

,,Ich weiß es nicht. Bleibt hier.“ Schon rumste die Tür ins Schloss.

,,Wo läuft Papa denn so eilig hin, Mama?“ Mit großen Augen stand Fili neben dem Sessel.

,,Er kommt bestimmt bald wieder, mein Schatz. Spiel schön weiter.“ Sie strich ihm über die blonden Locken, schaute jedoch besorgt ihrem Mann nach.

 

Karif hetzte die Stufen hinunter, Treppe für Treppe, ohne sein Tempo zu drosseln, während er sich gleichzeitig die Schnallen seiner Rüste und die seines Gürtels festzurrte, sich ledernde Handschuhe anzog. Bald gelangte er zu der oberen Waffenkammer, in der sich schon Soldaten eingefunden hatten und sich routiniert ihre Rüstungen anlegten. ,,Zum Haupttor!!“, brüllte er in den Saal hinein und rannte weiter die Ebenen abwärts.

 

Dis konnte sich nicht mehr auf ihr Buch konzentrieren, so sehr sie die Geschichte auch mochte. Immer wieder suchten die braunen Sprenkel ihrer grauen Iris die Tür, in der Hoffnung, dass Karif wiederkommen würde. Dabei war es nur wenige Minuten her, dass er gegangen war. Sie seufzte. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen.

,,Schau mal, Kili. Das sind die Ponys.“

Sie schaute zum Kamin, vor dessen prasselnden Feuer ihre Söhne saßen, und ihr Mundwinkel hob sich. Manchmal da glaubte sie, dass die beiden zaubern konnten.

Der kleine Kili gluckste. ,,Pony! Pony!“

,,Ja, genau. Papa hat mir versprochen, dass er mir bald das Reiten beibringt und wenn du dann etwas älter bist, bringe ich es dir bei. Nein, Kili, nicht so! Die Ponys müssen auf ihren Beinen stehen. Mamaa! Kili schmeißt die ganze Zeit die Figuren um!“

,,Lass ihn, mein Schatz. Er ist noch klein.“ Wieder versuchte sie sich auf ihr Buch zu konzentrieren, doch als sie den gleichen Satz schon zum vierten Mal laß, legte sie es beiseite und ging hinüber zum Fenster. Gedankenversunken sah sie durch die Glasstücke, die in Rauten über die Fenster angeordnet waren, über die Landschaft. Auch im Sommer lag auf dem Gipfel des Berges Schnee, doch das war nicht der Grund, weshalb sie fröstelte.

,,Mylady, möchtet Ihr noch einen Tee?“ Neben ihr war ihr Zimmermädchen erschienen, fürsorglich wie immer. Sie trug ein weinrotes, hochgeschlossenes Kleid mit weißen Ärmeln und Schürze. Um den Kragen lag ein weißes Tuch, das vorne akkurat in die Schnürungen vom Mieder gesteckt worden war.

,,Spürt Ihr es auch, Piljar?“

Das Porzellan wurde wieder auf das Tablett gestellt. ,,Ja, Mylady“, gestand die Zwergin leise, aber mit fester Stimme. ,,Vielleicht ist es ja auch nur eine Übung.“

,,Wenn es so wäre, hätte Karif sicherlich davon gewusst.“

,,Prinzessin.“ Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und Dis fühlte die gleichen Sorgen, welche Piljar, die für sie schon so oft wie eine Tante war, besser verdecken konnte. ,,Ihr beunruhigt die Kinder. Macht Euch keinen Kopf. Wir werden es noch früh genug erfahren.“

Die Worte der Älteren ließen sie wehmütig lächeln. ,,Als ich noch ein Kind war, hast du und Thelma das auch immer gesagt. Heute weiß ich, das du mich damit nur beschwichtigen willst.“

,,Ihr habt recht. Oft vergesse ich, wie erwachsen Ihr jetzt seid.“ Diesmal lächelte sie nicht. Die beiden Frauen warfen sich einen langen Blick zu, ehe Piljar mit dem Tee verschwand.

Dis jedoch wurde mit jeder verstreichenden Minute mehr und mehr von dieser inneren Unruhe erfasst. ,,Nein“, murmelte sie ihre Gedanken, als sie am lautesten waren, ,,da stimmt etwas nicht.“ Entschlossen drehte sie sich um und lief zur Tür.

,,Mama, warte!“ Fili eilte hinter ihr her. Dicht hinter ihm tapste Kili, seine hellblaue Kuscheldecke mitschleifend. ,,Wo gehst du hin? Papa hat doch gesagt, wir sollen hier bleiben.“

Gerührt musste sie schmunzeln, zog ihren Rock ein Stück hoch, um vor ihren Söhnen in die Hocke zu gehen. ,,Ja, das stimmt, mein Schatz. Aber ich komme gleich wieder. Ich gehe nur schnell zu Großvater, ihn etwas fragen. Bleib hier bei deinem Bruder und sei ganz artig.“

,,Mami, hier bleiben“, wiederholte Kili und zupfte an ihrem dunkelblauen, mit goldenen Efeuranken besticktem Kleid.

,,Ich bin doch gleich wieder da, mein Hase.“ Sie strich ihm über die vielen dunklen Haare und erhob sich zum Gehen. In der geöffneten Tür drehte sie sich nochmal um. ,,Piljar, bleibt bitte bei ihnen.“

,,Ihr könnt Euch auf mich verlassen“, sagte ihr Zimmermädchen mit ihrer typisch gefassten Art und trat hinter Fili, legte ihm die Hände auf die Schultern. ,,Seid vorsichtig, Prinzessin.“

Dis nickte ihr zu, verließ ihr Gemach und trat auf den Flur der königlichen Gemächer. Diese lagen alle auf einer Ebene, mit Ausnahme der Königsräume, welche sich eine darüber befanden. Die Räume, die sie mit Karif und den Kindern bewohnte, lagen an einem Ende des Flures, der einem rechteckigen Hufeisen glich.

Sie erreichte die breite Treppe, die nach unten und nach oben, zu den Räumen ihres Großvaters führte. Auf den grauen Stufen lag ein dunkelgrüner Teppich, der sich auch über den gesamten Flur zog. Kleine Laternen erhellten ihn mit warmem Schein, ließen an den Stellen die leicht grünliche Färbung des Gesteins schimmern. Der feine Duft vom Lampenöl hing in der Luft. Ihre Schuhe machten auf dem Teppich keine Geräusche. Auch sonst war es still - nichts ungewöhnliches, da es hier oben generell ruhig ablief. Doch bei dem ungutem Gefühl in ihrem Bauch und der Unwissenheit über den Alarm, bekam diese Stille eine unheimliche Wirkung.

Dis überlegte, ob sie zu ihrem Großvater hinauf gehen sollte, doch dieser war zu dieser Tageszeit vermutlich nicht in seinen Gemächern. Auch wenn, er würde es ihr nicht sagen können, ob eine Übung für diesen Tag vorgesehen war. Falls er ihr überhaupt zuhören würde…

So ging sie vorbei an der Treppe, vorbei am Speisesaal, zu einer massiven Holztür mit dicken, schwarzen Metallscharnieren und Griff, wie sie jedes Gemach besaß, und klopfte. ,,Vater?...Vater, bist du da?“ Keine Reaktion.

Sie ging weiter, vorbei an dem Gemach ihres älteren Bruders, von dem sie ganz genau, dass er nicht da war. Er hätte heute irgendetwas vor, hatte er beim Frühstück erzählt. Schließlich erreichte sie die letzten Räume am anderen Ende und klopfte abermals. ,,Frerin?“ Wieder nichts. ,,Frerin!“, versuchte sie es nochmal lauter, doch bekam auch hier keine Antwort. Sie gab auf und wollte gerade zurück gehen, da fiel ihr Blick auf eine unscheinbare Tür ganz am Ende des Flures. Dass sie offen stand, wunderte sie. Dis vergewisserte sich, dass niemand zu sehen war, ehe sie zu dieser ging. Solche Gänge waren eigentlich nur für Dienstboten und Personal - und schon gar nicht für eine Prinzessin gedacht, doch diese hier war steiler, demnach führte sie schneller nach unten und sie wäre auch schneller wieder zurück.

Abermals schaute sie den Flur entlang, stieg dann die ersten Stufen hinunter und schloss die Tür hinter sich. Der Dienstbotengang schraubte sich eng abwärts und war mit kleinen Lampen, die in Nischen im Fels standen, schummrig beleuchtet. Dis atmete tief durch und erinnerte sich, wie sie mit ihren Brüdern als Kinder verbotenerweise solche Gänge beim Fangen- und Versteckenspielen benutzt hatten, was meistens die Ideen von Frerin gewesen waren. Dass ihr diese Abkürzungen damals schon etwas Angst gemacht hatten, hatte sie den beiden natürlich nicht sagen können. Die hätten sie nur mit „Angsthase, Pfeffernase“ ausgelacht.

Dis straffte die Schultern, raffte ihren Rock zusammen und stieg achtsam die Stufen hinab.

 

~

 

Thorin traf seinen Vater in der Waffenkammer. Wortlos nickten sie sich zu, eilten dann im Laufschritt mit den anderen in die Südhalle. Immer mehr voll berüstete Soldaten fanden sich am Haupttor ein. Das rhythmische Klappern der Rüstungen wurde von dem Donnern hinter dem zentimeterdicken Metall überschattet. Hinter dem Tor glühte es bereits regelrecht. Flammen schlugen immer wieder zwischen dem Spalt hindurch. Der riesige Riegel ächzte qualvoll unter dem Gewicht, was von der anderen Seite dagegen drückte. Er hielt das Metall zusammen, das unter den Krallen schrie und zitterte, die daran entlang wetzten.

,,Der Hauptmann!“, kündigte jemand an.

,,Soldaten Erebors!!“ Karif erschien und eilte durch die Reihen seiner Männer. „Söhne Durins!!“ Er stellte sich in die vorderste Reihe an Thorins Seite und drehte sich zu seinen Männern um. Wie immer, wenn er im Dienst war, hatte er seine Haare zu einem hohen Zopf gebunden. ,,Beschützt unseren Berg…unser Volk…und alles, was euch heilig ist, mit eurem Mut im Herzen! Tan matu shirmad ayu flakjar! Baruk Khazâd ai-mênu! Verteidigt. Unsere. HEIMAAAT!!“

Fast gleichzeitig brachte Thorin sein Schwert in Stellung und rief den Schlachtruf seines Hauses: ,,Du bekar!

Wieder donnerte es ohrenbetäubend, einmal, zweimal. Dann knallte und krachte es und der Riegel brach. Das riesige Tor wurde eingedrückt und aus den Angeln gerissen. Feuer drückte sich in die Halle. Die Männer rissen ihre Schilde hoch und die Flammen rauschten über sie hinweg. Massiver Felsen wurde aufgesprengt, als Smaug sich seinen Weg in den Berg bahnte.

 

Die Erschütterung war so heftig, dass die Stufen bebten. Ihre Knie wurden weich, ihre Füße hatten plötzlich keinen Halt mehr. Die Welt geriet aus den Fugen. Dis fiel, überschlug sich und blieb irgendwann reglos auf den Stufen liegen.

 

Die Männer wurden durch die Luft geschleudert, mühelos, als wären sie Spielzeug. Der Drache brüllte. Dieses Geräusch, tief aus seinem Inneren, ließ Erebor erzittern.

Mit seinem Vorderlauf schob er einen riesigen Felsbrocken aus dem Weg. Von diesem wurden Soldaten zu Boden geworfen und einfach mitgeschoben. Pfeile wurden von oben auf das Tier geschossen. Wie mickrige Stöcker prallten sie ab oder brachen beim Aufprall einfach durch. Smaug wurde auf die Schützen aufmerksam. An seinem Brustkorb zwischen den großen Schuppen fing es an zu glühen. Er hob den Kopf und im nächsten Augenblick peitschte sein Feuer über die erste Empore, wo die Schützen gestanden hatten.

Einige Soldaten nahmen Anlauf, warfen Speere gezielt auf Brustkorb und Hals, doch wie die Pfeile prallten die Lanzen völlig nutzlos ab. Wieder holte er mit seinen langen Klauen aus, schleuderte die Zwerge tödlich an die Wände. Als er den Fuß absetzte, warf sich Thorin in letzter Sekunde zur Seite. Direkt neben ihm schlugen die schwarze Krallen auf dem Fußboden auf.

Abermals wurden Speere geworfen. ,,Sein Panzer ist zu hart! Die Lanzen haben keine Chance!“, rief er Karif zu.

Sein Schwager schaute kurz zu ihm, rief dann: ,,Rückzug! Rückzug! Neu formieren!“

Die Risse, die Smaug oberhalb des Tores hinterlassen hatte, breiteten sich knackend aus. Die schweren, angeschlagenen Balken, die die Thjalfar-Glocke hielten, brachen. ,,Vorsicht!!“ Die Soldaten darunter sprangen auseinander. Der goldene Körper raste zu Boden und schlug auf. Wie eine Welle breitete sich der Schall in den Hallen aus, schien die Ohren eines jeden zu sprengen.

In den verklingenden Schrei der gefallenen Sonne eingetaucht, musste Thorin mit ansehen, wie Smaug seinen riesigen Kopf senkte und mit glühenden Augen und weit aufgerissenem Maul in die Reihen ihrer Männer schlug. Es knackte dumpf, als seine Zähne mühelos durch Rüstungen und Schilde drangen und ihre Schreie verstummen ließen. Wir sind verloren... 

,,Evakuiert den Berg“, hörte er sich selbst laut sagen.

Der Soldat neben ihm sah ihn an, als hätte er nicht verstanden. ,,Eure Hoheit?“

,,Evakuiert den Berg! Bringt alle hier raus!“, schrie Thorin ihn an.

 

 

 

5

 

 

Erebor wird angegriffen!“, ertönte eine hohe Stimme vom Flur. Piljar riss die Tür auf. Eine Zwergin in einem ebenfalls weinroten Kleid rannte an ihr vorbei. ,,Ein Drache greift Erebor an! Alle raus aus dem Berg!“

,,Ein Drache? Wahnsinn!“ Plötzlich stand Fili neben ihr. ,,Den muss ich unbedingt sehen!“ Er wollte schon los laufen, wurde jedoch schneller als ihm lieb war von Piljar am Kragen gepackt.

,,Sofort wieder rein!“ Sie knallte die Tür vor seiner Nase zu und zog ihn mit sich.

,,Warte, mein Schwert!“ Er riss in ihrem Griff, wollte zu seinem Holzschwert eilen, dass auf dem Teppich neben den Holzponys lag.

,,Zieht Euch an, mein Prinz.“

,,Aber... mein Schwert! Ich muss doch Erebor verteidigen.“

,,Nichts da!“ Sie ließ ihn erst wieder los, um in sein Zimmer zu stürzen. Keine drei Sekunden später hielt sie ihm seine Weste und Stiefel hin. ,,Anziehen. Eilt Euch.“

Schmollend über den Verzicht seines geliebten Schwertes zog er sich an. Ihn verwunderte es, wie schnell ihr Zimmermädchen plötzlich laufen konnte. Kaum war sie durch die Flügeltüren am anderen Ende des Wohnraumes in das Schlafgemach seiner Eltern verschwunden, kam sie auch schon mit Sachen für Kili wieder und zog diese ihm an. Ob sein Bruder sich fürchtete? Er jedenfalls nicht, denn Fili mahlte sich aus, wie sein Vater gerade furchtlos gegen den Drachen kämpfte, genau so, wie in Mamas Büchern. Sein ganzer Körper kribbelte vor Aufregung, endlich einen Drachen zu sehen.

Piljar kam wieder zu ihm und knöpfte hastig seine Weste zu. ,,Fili.“ Auf einmal wurde sie ganz ernst. Das bemerkte auch er. Noch nie hatte sie ihn einfach nur mit seinen Namen angesprochen.

Mit klopfendem Herzen fasste sie ihm an die noch zarten Schultern. ,,Du musst jetzt ganz tapfer und ganz brav sein und auf das hören, was ich sage.“ Sie verbot sich, ihrer Furcht vor dem, was sie erwartete Stärke zu geben, sondern hielt sich an dem fest, was ihr aufgetragen wurde. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Die Kinder brauchten sie jetzt. ,,Hast du verstanden?“

Er nickte, die Augen dabei weit aufgerissen. ,,Du, Piljar, ist da unten wirklich ein Drache?“

,,Ja, ich denke schon. Ihr braucht aber keine Angst zu haben.“

,,Ich hab keine Angst!“, protestierte er. ,,Zwerge haben vor gar nichts Angst.“

Sie belächelte bloß den kleinen, blonden Prinzen, der noch völlig unwissend von der Welt da draußen war.

Als sie sich wieder erheben wollte, zupfte er ihr am Ärmel. ,,Du, Piljar?“

,,Ja, Eure Hoheit?“

,,Du kannst mich ruhig öfters Fili nennen, wenn du magst. Mir macht das nichts aus.“

Wieder musste sie lächeln, strich ihm über die Wange, die unter den Ohren schon hauchfeine, blonde Härchen zierte. Eines Tages, dass wusste sie, würde er ein gerechter und gütiger Prinz sein. ,,Komm, mein Junge.“ Sie nahm sein Brüderchen auf den Arm und brachte die beiden zur Tür.

,,Piljar!“ Auf dem Flur kam ihnen die Zwergin von eben entgegen. ,,Wir sind die einzigen hier oben“, erzählte Fali außer Atem.

,,Hast du Prinzessin Dis gesehen?“

Die andere stockte sichtlich. ,,Wieso? Ist sie nicht bei dir?“

Piljar schluckte den derben Fluch auf ihrer Zunge runter. Sie hätte sie niemals gehen lassen dürfen. ,,Sie wollte fragen, warum Alarm geschlagen wurde und ist bis jetzt noch nicht wiedergekehrt.“

,,Oh, nein…“ Die Jüngere wurde noch nervöser. ,,Was sollen wir denn jetzt tun?“, schluchzte sie der Panik nahe.

Kurzerhand packte Piljar mit der freien Hand ihre Schulter und schüttelte sie kurz und heftig. ,,Reiß dich zusammen! Nicht vor den Kindern.“ Es wirkte offenbar. Fali hielt den Mund, schaute sie aus großen, flackernden Augen an. ,,Wir können nicht auf sie warten. Sie weiß, dass die Kinder bei mir in Sicherheit sind und wird sich auch in Sicherheit bringen. Lass uns gehen. Hier.“ Piljar übergab ihr den daumennuckelnden Kili und streckte die Hand zu Fili aus, der diese sofort ergriff.

 

~

 

,,Thorin!“ Die raue Stimme von seinem Vater erhob sich unter den vielen anderen. Einen Moment später stieß Thrain durch eine Rauchwolke zu ihm. Gesteinstaub und Rauch machten eine freie Sicht unmöglich. ,,Hol deinen Großvater! Ich sah, wie er zur Schatzhalle lief. Los, geh! Du musst vor dem Drachen dort sein. Wir werden versuchen, ihn so lange wie möglich in Schach zu halten! Igrithu suh!“, rief er dann schon an die Soldaten gewandt.

,,Auf den Kopf!!“, brüllte Karif in diesem Moment von Staub und Schutt umgeben und warf seinen Speer. Weitere folgten.

Smaug schüttelte sich unbeeindruckt und drehte sich zu ihnen um. Sein langer Schwanz wirbelte herum, schleuderte Männer leblos beiseite. Er fletschte die Zähne, als der Goldgeruch ihm in die Nase wehte.

,,GEH!!“

Thorin rannte los. Hinter ihm glühte Drachenfeuer.

 

Die Eingangshallen bestanden aus vier Hallen, die ineinander übergingen: die große Nord-, West,- Ost-, und Südhalle. Obwohl alles in ihm danach schrie, umzukehren und den Männern zur Seite zu stehen, rannte er die Nordhalle hinab und gelangte zu einer der, für Fremde unvorstellbar weiten und tiefen Hallen, wo Gänge und Brücken aus den verschiedenen Ebenen durchführten. Rufe hallten überall um ihn herum. Der Prinz drängte sich durch laufenden Zwerge hindurch, hastete die grau-grünen Stufen der beleuchteten Wege hinunter, die teilweise an den gigantischen Säulen entlang verliefen und das Gewicht des Berges hielten.

So stark ihr Stolz und ihre Kämpferherzen auch groß sein mögen; es war nur noch eine Frage der Zeit, wie viele Soldaten noch ihr Leben lassen mussten. Ihre Waffen waren gegenüber einer Drachenhaut wirkungslos. Über die steinernen Geländer blickte Thorin nach unten, wo man einen leichten, goldenen Schein ausmachen könnte. Und wie lange ein bluthungriger Drache brauchen würde, um zu seinem eigentlichen Ziel vorzudringen, war unschwer zu erahnen...

Unten angekommen rannte er durch den langen Torbogen und stand plötzlich vor dem unschätzbaren Reichtum seines Volkes. Von seinem Standpunkt aus konnte er in die weite Schatzhalle blicken und entdeckte seinen Großvater, der zwischen den, von Fackeln erleuchteten Goldbergen herum irrte. Ein Bild, welches er viel zu oft in letzter Zeit sah.

,,Großvater!“

Thror hatte ihn nicht kommen gehört, erschrak, als sein Enkel ihn am Arm fasste. ,,Großvater, wir müssen hier weg.“

,,Oh, mein Junge, gut, dass du da bist. Komm, wir müssen so viel wie möglich in Sicherheit bringen.“ Thror tätschelte seine Schulter und fing an, Münzen und Schmuckstücke in seinen Armen zu stapeln. ,,Der Drache darf das nicht bekommen, er darf es einfach nicht bekommen. Eintausend Jahre waren wir von ihnen verschont und jetzt das. Hilf mir, das Gold muss in Sicherheit gebracht werden, ehe er es findet.“

Er hat es schon längst gefunden, wollte Thorin ihm am liebsten antworten, sagte stattdessen: ,,Nein, lass es hier.“

Der König fuhr so heftig herum, dass ein Teil der Münzen zu Boden schepperte. Entgeistert starrte er ihn an. ,,Bist du von Sinnen? Wir können das alles doch nicht zurück lassen.“ Wieder von neuem begann er Münzen aufzusammeln.

Stoisch. Blind. Seiner Krankheit ungeschützt ausgeliefert. 

Thorin fasste ihm an beide Arme, versuchte seinen Blick zu fangen. ,,Großvater, hör mir zu. Du musst mir zuhören!“ Erst jetzt sah der alte, grauhaarige Mann ihm in die Augen. ,,Es geht nicht anders. Unsere Soldaten haben keine Chance gegen den Drachen. Sie werden da oben niedergestreckt, einer nach dem anderen. Wenn uns unser Leben lieb ist, müssen wir gehen. Es. Geht. Nicht. Anders“, wiederholte er mit Nachdruck, hoffte, dass er es verstehen würde, dass er zu ihm durchdringen konnte. Doch Thror legte bloß den Kopf schief, blinzelte mehrmals hintereinander. Die Fackeln warfen einen goldenen Schimmer auf seine Krone. Das Grau in seinen Augen war wie flüssiges Silber. Ihr eiskaltes Strahlen sandte ihm Schauer über das Rückgrat.

Auf einmal schüttelte er den Kopf, riss sich mit ungeahnter Kraft von ihm los, das Gold fest an sich gedrückt. ,,Ich werde den Schatz unseres Landes nicht zurück lassen“, knurrte Thror und urplötzlich schwang etwas Kraftvolles und Dunkles in seiner Stimme mit, sodass Thorin vor ihm zurück wich. ,,Es ist unser Gold, unseres allein. Und du willst es kampflos dem Drachen überlassen.“ Wie einen Fremden musterte Thror ihn, den Blick argwöhnisch auf ihn geheftet. ,,Was bist du nur für ein Zwerg, dass du so ehrlos denken kannst.

Mit offenem Mund starrte Thorin in züngelnde, silberne Flammen und musste entsetzt feststellen, dass der Mann, den er kannte und liebte, nicht länger existierte.

Thror wollte sich von ihm abwenden und sein Enkel sah die einzige Möglichkeit und packte ihn am Ärmel seines Mantels. ,,Nein, was tust du?!“ Der König wollte sich von ihm befreien und ließ dabei das Gold fallen, das geräuschvoll zu Boden fiel. Er stieß ihn vor die Brust, doch Thorin ließ nicht los, sondern zerrte ihn mit aller Kraft mit sich. ,,Du Narr! Ich gehe nicht ohne das Gold. Niemals!“

Von einem weiteren Stoß schlitterte er über den Boden, der Stoff zwischen seinen Händen hinderte ihn daran, zu fallen. Thror schlug nach ihm, verfehlte ihn nur knapp. Die Stirn von Schweiß bedeckt versuchte Thorin gegen die Gewalt seines Großvaters anzukommen und ihn festzuhalten. Es war ein Ringen auf Leben und Tod. Allein, dass er ausdauernder war als der alte Zwerg, war seine Rettung. Trotz Gegenwehr schaffe er es schließlich, ihn mit sich die Stufen hoch zu zerren.

Wenige Schritte trennten ihn vom Eingang, als eine gewaltige Erschütterung ihn fast von den Beinen riss. Brüllend stieß der Leib des Drachen durch einen der Goldberge. Tonnenweise Münzen wurden durch die Luft geschleudert, schlugen um seine Beine wie Wellen übereinander.

Im Regen aus Münzen stolperte Thror und fiel hin. ,,Nein!“ Sie mussten mit ansehen, wie ein leuchtender, runder Edelstein aus seinem Mantel rutschte, die Stufen hinunter hüpfte und in den Wellen aus Münzen verschwand, die der Drache in seinem Rausch aufwühlte. Thror wollte hinterher kriechen, doch Thorin packte seinen Großvater, zog ihn hinter das gezückte Schwert und mit sich durch den Torbogen.

 

~

 

,,Wo ist Mama?“ Fili hatte Mühe die Stufen in dem Tempo runter zu laufen wie seine Aufpasserin. ,,Sie hat doch gesagt, sie kommt gleich wieder. Wo ist sie?“
,,Mami!“ Dicke Tränen rollten über Kilis Wangen. Fali presste den kleinen Prinzen an sich, während sie versuchte, eine Melodie zu summen und sie die imposante Treppe von den königlichen Gemächern hinunter eilten.

,,Macht Euch keine Sorgen, mein Prinz“, sagte Piljar. ,,Sie ist sicherlich auch schon auf dem Weg.“

Der dunkelgrüne Teppich wurde von einem roten abgelöst, als sie in einen Saal kamen, wo rechts und links kostbare Wandteppiche hingen und jeweils ein breiter Gang abführte. Fili erkannte Zimmermädchen mit ihren weinroten Kleidern, dazwischen Bedienstete aus der Küche. Alle liefen schnellen Schrittes geradeaus, die nächste Treppe runter. Er schaute sich um. Nirgends konnte er seine Mutter entdecken. ,,Ich kann Mama nicht sehen. Sie ist nicht hier.“

,,Mami!“

,,Sie ist bestimmt schon auf den Weg. Bitte, mein Prinz, kommt weiter.“

,,Mami!“, schrie Kili wieder, weinte bitterlich. ,,Mami! Maamii!“

 

Der Schrei verhallte in ihrem Schädel, hinterließ ein langes, klagendes Echo und weckte ihre Instinkte. Dis konnte sich nicht bewegen, wusste nicht wie. Eine harte Kante drückte sich kalt und schmerzhaft an ihren Kopf, an ihre Brust ebenfalls - nein, an ihrem ganzen Körper, schienen sie erdrücken zu wollen. Sie öffnete die Augen und konnte nichts sehen. Ihre langen, dunklen Haare nahmen ihr komplett die Sicht. Sie versuchte den Kopf zu heben. Unmöglich.

Schwindel überfiel sie sofort, nahm ihr abermals die Besinnung.

 

~

 

In der Nordhalle kamen ihm eine Gruppe Soldaten entgegen. Als Thorin Karif unter ihnen erkannte, stieß er erleichtert den Atem aus. ,,Bringt ihn sicher raus und bleibt bei ihm.“ Er übergab ihnen Thror und verfolgte, wie dieser schwach auf den Beinen fort geführt wurde. Verwirrt stotterte er etwas, die mächtige Krone schief auf dem Kopf. So hatte er seinen Großvater noch nie erlebt. Die Begegnung in der Schatzhalle hatte einen wunden Punkt in ihm getroffen, der ihm schon seit geraumer Zeit Gedanken bereitet hatte.

Der Schatten, der sich über seine Seele gelegt hatte, war zu seiner vollen Größe gewachsen. Als wäre es die Krankheit gewesen, die den Drachen zu sich gerufen hatte…

,,Wir konnten unsere Linien nicht halten“, berichtete Karif außer Atem. ,,Der Dreckskerl hat uns einfach überrannt.“

,,Wie viele Männer haben wir noch?“

,,Zu wenige. Und wenn wir hunderte hätten, nichts würde nützen. Sein Panzer ist einfach zu hart.“ Vor Zorn und Anstrengung war sein Gesicht gerötet. Er sah aus, als würde er irgendwo gegentreten, wenn er könnte. Karif strich sich die Haare aus seinem zerstörten Zopf zurück und blickte für einen Moment starr zu Boden, um seine Gedanken zu ordnen.

Thorin nickte nur. ,,Und der Befehl zur Evakuierung?“

,,Ist durchgegeben.“

,,Bruder!“

Er fuhr herum und sah zwei Männer auf sie zu eilen. Der jüngere hatte halblange, braune Haare und einen noch lichten Bart, welcher ums Kinn und an der Oberlippe schon etwas dichter war. Er trug ein einfaches Kettenhemd, darüber eine Weste aus rohem, hellbraunem Wolfsfell. Der andere war breitschultrig und groß gewachsen, hatte einen mittellangen, ungebändigten Bart und einen Irokesen, wobei seine Haare im Nacken zu einem Zopf gefasst waren. Er trug eine matt-grüne Kettenrüste mit schwarzen Stoffplatten an den Schultern und einen breiten, massiven Gürtel. Frerin und Dwalin

Die Prinzen fassten sich gegenseitig ins Genick und legten kurz die Stirn gegeneinander. ,,Bist du in Ordnung?“

,,Mir fehlt nichts“, wimmelte Frerin ab. Einen Augenblick später standen die vier Männer im Kreis zusammen.

,,Smaug ist in der Schatzhalle“, erzählte Thorin.

,,Fragt sich nur wie lange noch“, murmelte Dwalin und blickte finster durch die Runde.

,,Er wird nur so lange bleiben, bis er seinen ersten Rausch gestillt hat“, fuhr Thorin fort. ,,Uns bleibt wenig Zeit. Solange er noch dort ist, müssen wir alle so schnell wie möglich aus dem Berg bringen. Karif, teile deine Männer in Gruppen auf. Geleitet alle sicher hinaus, helft denjenigen, die Hilfe benötigen. Dwalin, du kommst mit mir.“ Alle nickten.

Der Hauptmann fasste Frerin an die Schulter und beugte sich zu ihm. ,,Hol Dis und die Jungs. Sie müssten noch im Gemach sein. Hol sie und bring sie sicher hier raus.“

Frerin tat es ihm gleich; legte seine Hand auf dessen Schulter, und sah ihm in die vor Sorge schimmernden Augen. ,,Du hast mein Wort.“ 

Karif nickte und wendete sich den abseitsstehenden Soldaten zu. ,,Ihr hab’s gehört! Fyn, du bleibst in meiner Nähe.“ Dann sah er zu Thorin. Er und der ältere Prinz nickten sich zu und die Männer eilten in verschiedene Richtungen davon.

 

Der Geschmack von Blut ließ das Schwindelgefühl in ihrem Kopf weichen. Was ist passiert?, war ihr erster klarer Gedanke. Dis sammelte all ihre zerstreuten Kräfte und schaffte es, sich auf den Stufen hoch zu stemmen. Dabei kratzen die kleinen Schmuckplättchen, die in ihren lose gedrehten Zöpfen eingearbeitet waren, über den Fels. Ihr wurde schwindelig, als ihre ebenholzfarbenden Haare sich teilten. Oh, Durin.

Bäuchlings, mit dem Kopf nach unten hatte sie auf den Stufen gelegen und blickte nun steil die Treppe hinunter. Sie verlagerte ihr Gewicht auf die Arme, flehte, nicht ihr Gleichgewicht zu verlieren. Die Stofflagen ihres Rocks glitten rauschend über den Fels, als sie versuchte, ihre Beine zu sortieren.

Wie sie es geschafft hatte, wusste sie nicht mehr, aber irgendwann saß sie sicher auf den Stufen, den dröhnenden Kopf in die aufgestützten Hände gelegt. Die eine Hälfte ihres Mundes fühlte sich taub an. Sie tastete mit der Zunge und schmeckte Blut. Ihre Unterlippe war dort böse geschwollen. Als sie den Kopf wieder hob, fuhr sie zusammen. Ihre linke Hand war voller Blut. Sie fasste an ihre Stirn, wo es unter dem Haaransatz schmerzte. Blut lief ihr bereits an der Schläfe entlang, bis in ihre feinen, dunklen Barthaare, die von ihren Ohren bis zum Kinn, wo sie ein wenig dichter wurden, verliefen.

Die Erkenntnis, dass sie gestürzt sein musste, legte sich allmählich über ihre anderen Gedanken. Sie hätte sich alle Knochen brechen können. War sie wirklich so tollpatschig, dass sie eine Treppe hinunter fällt? War sie gestolpert? Über ihren Rock vielleicht? Nein, sie hatte ihn doch extra hoch genommen. Dann erinnerte sie sich an das Donnern, das sie noch gespürt hatte, ehe ihr schwarz vor Augen wurde. Was, um Durins Willen, war das gewesen?

Halbherzig wischte sie sich übers Gesicht und ihre Hand an ihrem Rock ab. Dann wandte sie den Kopf, um die Treppe hinauf zu schauen. Das Knacken in ihrem Rücken ließ sie vermuten, dass sie ein ganzes Stück gefallen war. Die Treppe führte zur Küche. Von da aus kam man schnell in größere Gänge und auch wieder zurück. Plötzlich dachte sie an Kili und Fili. Wie lange war sie schon weg?

Schwankend kam Dis wieder auf die Beine und raffte die dunkelblauen und beigen Lagen ihres Kleides zusammen, verfluchte sich, dass sie ausgerechnet heute so etwas angezogen hatte, und tastete sich ganz langsam weiter. Nach wenigen Metern erschien bereits das Ende der Treppe. Erleichtert atmete sie auf, während sie auf einen breiten Gang trat. Rechts in der dicken Wand war ein Durchbruch, zu dem sie ging.

Eigentlich ging es in der Küche immer geschäftig zu, doch niemand war in dem Saal. Auf den Arbeitsplatten in der Mitte des Raumes lag noch alles Mögliche, so als wäre alles stehen und liegen gelassen worden. Nur noch die Glut brannte einsam in dem riesigen Kamin.

Dis wich vor dem ausgestorbenen Saal zurück. Eine kalte Hand schloss sich um ihren Hals. Hier stimmt etwas nicht, dachte sie abermals und ging schnellen Schrittes den Gang entlang, bog um die Ecke und erreichte daraufhin den Vorsaal zu den königlichen Gemächern, an dessen Wänden Wandteppiche hingen. ,,Hallo? Ist hier jemand?“ Schritte kamen näher. Dis wirbelte herum. Eine ältere, beleibte Zwergin stand plötzlich ihr gegenüber, die Augen weit aufgerissen.

Thelma war die langjährige Betreuerin und Verwalterin des Personals und einst die Amme von Frerin gewesen und jene starrte Dis in diesem Moment wie einen Geist an. ,,Prinzessin?! In Durins Namen, warum seid Ihr noch hier?“ Sie eilte auf sie zu. ,,Herrje, Ihr blutet ja!“ Fürsorglich schob sie ihr die Strähnen beiseite, zückte sofort ein Taschentuch und tupfte ihr die Wange sauber.

,,Thelma, was ist...?“

,,Ein Drache hat Erebor angegriffen und es geschafft, durch das Tor zu brechen“, erklärte die ergraute Frau mit zitternder Stimme. ,,Der Berg wird evakuiert.“

Reflexartig ging Dis einen Schritt nach hinten, schlug die Hand an ihre Kehle. ,,Ein Drache?“ Auf einmal hatte alles einen Sinn. Kaltes Grauen erfasste sie. ,,Karif...“ Tränen schossen ihr unvermittelt in die Augen. ,,Er ist da unten und mein Vater und meine Brüder wahrscheinlich auch. Ich…ich muss zu meinen Kindern.“ Es schmerzte wie ein Messerstich direkt ins Herz. Nie hätte sie sie allein lassen dürfen…

,,Seid unbesorgt.“ Thelma fasste nach ihren Händen. ,,Ich habe sie gesehen. Piljar und Fali waren bei ihnen. Man wird sich um sie kümmern.“

Oh, bitte, bitte, beschützt meine Jungs... Dis zwang sich ruhiger zu atmen. Die vertrauten Hände der Amme halfen jedoch nicht gegen die eigenen Vorwürfe, eine schlechte Mutter gewesen zu sein. Dis schniefte ungeniert. ,,Und warum seid Ihr noch hier oben, Thelma?“

,,Ihr wisst doch, wie ich alte Glucke bin“, meinte sie, während sie wieder ihr das Gesicht sauber tupfte und auch ein paar Tränen dabei fortwischte. In der Gegenwart der Prinzessin versuchte sie, souverän und sicher zu klingen, doch ihre Stimme und ihre zitternden Finger, die Dis an ihrer Haut spüren konnte, verrieten auch ihre Angst. ,,Ich musste einfach nach meinen Mädchen schauen, ob sie auch wirklich alle auf dem Weg sind. Nun kommt, Eure Hoheit. Es wird Zeit, dass wir auch gehen.“

 

,,Geht auf den kürzesten Weg zum Haupttor! Eilt euch!“, rief Karif über den Strom von Zwergen hinweg, der sich aus einer Halle drängte. Viele hatten ein wenig Gepäck dabei. Kinder wurden getragen, damit sie im Gemenge nicht verloren gingen.

,,Die westlichen und nördlichen Wohnhallen sind evakuiert“, meldete ein Soldat bei ihm.

,,Gut. Geh nun mit diesen. Hol dir Bisnok hinzu und geleitet alle hinaus. Durin sei mit euch.“

,,Verstanden.“ Damit entfernte er sich und schloss sich den aufbrechenden Zwergen an.

Fyn und die zwei andere Soldaten blieben noch mit ihm, bis auch die letzten hinaus waren. Ununterbrochen waren Karifs Gedanken bei seiner Familie und er betete, dass sie schon draußen auf der Ebene waren und dort auf ihn warten würden.

,,Seht!“ Auf einmal zeigte der junge Fyn in eine Richtung.

Die Männer eilten zu der Wohnstube hinauf, von wo aus eine Frau winkte. Sie hatte ein Kind auf dem Arm, was zum Tragen eigentlich schon zu groß war. Verzweifelt wies sie auf einen Greis. ,,Mein Vater will nicht gehen.“

Trotz seines beträchtlichen Alters stand der Alte trotzig im Türrahmen. Abfällig musterte er die Soldaten und spuckte aus. ,,Schande! Schande über euch! Wie könnt ihr nur unseren Berg aufgeben?“

,,Unsere Verteidigung ist nutzlos. Wenn Ihr das Feuer gesehen hättet, dann wüstet Ihr, wovon ich spreche. Glaubt mir, wir haben keine andere Wahl. Seid kein Narr und geht leichtsinnig mit Eurem Leben und das Eurer Familie um.“ Karif streckte die Hand zu dem Alten, doch der rüstige Zwerg schlug ihm mit seinem Krückstock gegen den Arm.

,,Ich bin in diesem Berg geboren. Ich werde in diesem Berg auch sterben.“

,,Vater, bitte, so tu doch, was sie sagen. Wir müssen gehen.“

Karif warf Kron einen Blick zu und sein Freund verstand. Er packte sich den Greis und warf ihn sich einfach über die Schulter.

,,Was fällt Euch ein?! Was fällt Euch ein?!“, zeterte dieser. ,,Ich verlasse Erebor nur über meine Leiche!“

,,Das können wir ganz schnell ändern, wenn Ihr nicht den Rand haltet!“, knurrte Kron und stieg die Treppen mit ihm hinab.

,,Danke“, stammelte die Frau, rückte ihr Kind auf dem Arm zurecht. Ihre Augen schwammen vor Tränen. ,,Hauptmann, habt Ihr meinen Mann gesehen? Er ist Soldat. Vain ist sein Name. Sagt mir, wo ich ihn finden kann.“

Karif warf einen kurzen Blick dem Kind zu, senkte dann den Kopf. Gegen Drachenzähne war jedes Metall wirkungslos. ,,Es tut mir leid.“

Die Frau starrte ihn an, während die Tränen über ihr Gesicht liefen. Schweigend drückte sie ihre Tochter an sich und begann, sie zu wiegen.

Mitfühlend musterte Karif sie. ,,Nimm das Kind und geh mit ihnen“, befahl er dem zweiten Soldaten.

,,Nein, das wird schon gehen.“

,,Ihr seid nicht kräftig genug, sie den ganzen Weg zu tragen, noch dazu mit Eurem Rucksack. Bitte, vertraut in meine Männer.“

Der Soldat trat näher, steckte die berüsteten Arme nach dem Mädchen aus, das sich jedoch ängstlich um den Hals ihrer Mutter drückte. ,,Kommst du zu mir?“, fragte er leise durch den Gesichtsschutz seines Helms hindurch, doch sie schüttelte den Kopf. ,,Hab keine Angst.“

,,Alles ist gut, mein Schatz, alles ist gut...“, versuchte sie sie zu überreden. Das Mädchen lockerte ihren Griff und wurde gerade dem Mann übergeben, als ein ferner Schrei tief aus dem Inneren des Berges drang. Das Signal für den Aufbruch zur Jagd.

Alle wirbelten herum.

Der Drache war hungrig.

,,Lauft“, raunte Karif, ,,lauft, so schnell ihr könnt.“

 

Die Stufen sausten nur so unter ihm entlang. Zwerge kamen ihm entgegen, doch nur er lief in die entgegengesetzte Richtung, raste die verwaisten Gänge entlang. Ein roter Teppich dämpfte sie etwas, dann ein grüner. Ich sollte echt weniger rauchen... ,,Dis!“, schrie er heiser, noch während er keuchend die imposante Treppe hinauf hastete. Endlich kam er in die königlichen Gemächer.

Frerin drückte sich am Geländer ab, schleppte sich um die Ecke und rannte den Flur entlang. ,,Dis!“ Erst in ihrem Gemach kam er zum Stehen. ,,Dis? Fili, Kili!“ Seine Augen durchkämmten den großen Wohnraum. Doch er war verlassen, seine Schwester und seine Neffen längst fort.

Frerin raufte sich die Haare. Karif würde ihm den Kopf abreißen… ,,Ach, Scheiße, Scheiße, Scheiße!“

 

~

 

Fili wusste nicht mehr, wo sie waren. Schon lange lief er neben seiner Aufpasserin her, klammerte sich an Piljars Hand und versuchte, Schritt zu halten. Immer noch hatte er die Hoffnung, irgendwo seine Mutter zu entdecken, weshalb er aufmerksam die Augen aufhielt.

Je tiefer sie kamen, desto voller wurde es, laut und durcheinander. Überall liefen Zwerge, andere Familien, die sich nicht verlieren wollten. Alle wollten scheinbar in dieselbe Richtung. Und dann entdeckte er seinen Onkel Thorin. ,,Da ist mein Onkel!“, rief er Piljar zu, doch es war zu laut. Sie hörte ihn anscheinend nicht, sondern eilte mit ihm weiter.

Auf einmal lagen vor ihnen riesige, langgezogene Hallen, umsäumt mit Emporen, die weit in die Höhe gingen. Überall lag gebrochenes Geröll. Seine Augen brannten von der komischen Luft hier. Interessiert sah Fili viele Männer in rußigen, Bergarbeiterklamotten, die noch von der Arbeit dreckige Wangen und Arme hatten. Ein richtiger Strom kam von ihnen aus einer angrenzenden Halle.

Piljar schaute zu ihm hinunter. ,,Da vorne ist das Haupttor, mein Prinz. Wir haben es gleich geschafft. Ihr wart ganz tapfer.“

Die rußgeschwärzten Wände und dicken Säulen erregten seine Aufmerksamkeit. Er überlegte, wo wohl der Drache war. Er hatte ihn noch gar nicht gesehen und war darüber schon ein bisschen enttäuscht. Dann sah er das große Tor, das völlig kaputt war. Vor Staunen öffnete er den Mund. Oberhalb davon prangten dicke Risse bedrohlich im übrigen Gestein. Zwerge erreichten das Tor als flackernde Schatten, die im hellen Tageslicht verschwanden, als sein Blick auf die schwarzen Gestalten fiel und ihm ganz mulmig wurde. Rechts und links lagen sie zu dutzenden am Boden. Was sind das?, fragte Fili sich gerade, als jemand gegen sie rempelte und seine Hand aus Piljars rutschte. Er stolperte und landete auf den Bauch. Plötzlich war Piljar nicht mehr da und er alleine. Er hob den Kopf, suchte nach ihr und sah, wie sie versuchte, sich mit den Ellenbogen durch die Massen zu drängen.

Fili wollte aufstehen, doch der Boden unter seinen Körper begann zu beben. Irritiert sah er auf die kleinen Steinchen neben seinen Händen, die auf und ab hüpften. Als ein ohrendbetäubendes Donnern über sie hereinbrach, schlug er die Hände über seinen Kopf und machte sich ganz klein. Gesteinsbrocken flogen aus der Wand, knallten Meter neben ihm auf dem glatten Fußboden auf. Mit schreckgeweiteten Augen riss Fili den Kopf hoch und musste mit ansehen, wie der Drache durch den Nebel aus Staub kommend sich einen Weg in die Nordhalle bahnte. Panik brach aus, Schreie. Zwerge rannten an ihm vorbei, ließen ihn liegen. Schutzlos am Boden hockend starrte Fili den Drachen an. Die Entfernung zwischen ihnen hatte keinerlei Bedeutung mehr, denn er war riesig, riesiger als alles, was er je gesehen hatte. Das Brüllen dieser furchteinflößenden Bestie hallte in seinem Brustkorb und in seinen Ohren wieder. Fili fing an zu weinen. Er wollte ihn nicht mehr sehen. Er wollte nicht mehr hier sein.

,,Fili, komm her!“ Plötzlich hob Piljar ihn in ihre Arme. ,,Oh, Fili...“, flüsterte sie keuchend, als er ihren Hals umklammerte, legte eine Hand schützend hinter seinen Kopf, machte auf dem Absatz kehrt und rannte los. ,,Lauf!! Lauf!!“, schrie sie Fali an, die mit dem Kleinen im Arm stehen geblieben war.

Über ihre Schulter blickte Fili nach hinten. Aus einem seitlichen Treppenhaus der Nordhalle kamen weitere Zwerge… Und liefen dem Drachen direkt vor die Füße.

,,Sieh nicht hin! Sieh nicht hin!“, hörte er Piljar und kniff die Augen zusammen, als sie in helles Sonnenlicht eintauchten.

 

~

 

,,Nein! Stopp!“, rief Thorin, doch es war zu spät. Sie hörten das raue, kraftvolle Geräusch aus der Kehle des Drachen und einen Atemzug später blendeten gleißende Flammen ihren Blick. Er und Dwalin rissen die Arme vor die Augen und gingen rückwärts, drängten so ihre Gruppe zurück in das Treppenhaus, wo sie vor dem tödlichen Drachenfeuer sicher waren. Die Hitze folgte ihnen bis hierhin und brachte einen abartiger Gestank mit sich.

,,Nein!!“ Eine junge Zwergin drängte sich an ihm vorbei. Blind in ihrem Entsetzen wollte sie in die Halle rennen. Thorin ließ sein Schwert fallen, hechtete ihr nach und bekam sie noch an den Schultern zu fassen. Eilig presste er eine Hand auf ihren Mund und zog sie mit sich rückwärts in eine Einbuchtung. Gerade noch rechtzeitig, denn vor ihnen tauchten Zähne bereite Kiefer auf.

Mit den Fersen an die Wand gedrückt, einen Arm fest um ihren Körper gelegte, eine Hand auf ihren Mund gepresst, stand Thorin nur fünf Schritte entfernt, versuchte seinen Atem und sein hämmerndes Herz zu kontrollieren. Mit zittrigen Fingern umklammerte das Mädchen die Hand des Prinzen, machte Anstalten sich zu wehren, doch als ein tiefes Grollen zu ihnen drang, erstarrte auch sie.

Der Drache stand direkt neben ihnen. 

6

 

 

Smaugs Schnauze schob sich so weit, wie sie konnte in den Gang hinein. Die Nüstern des Tieres erschienen neben ihnen und schnupperten in der Luft. Die Lefzen hoben sich und entblößten Reihen von dolchartigen Zähnen.

,,Sch…“, zischte er dem Mädchen kaum hörbar ins Ohr, dessen Knie zwischen seinen haltlos bebten. Jede einzelne, bronzeschimmernde Schuppe konnte er erkennen, wie sie übergingen in weichere Haut. Sein, zum Schädel hin breiter werdender Kopf passte nicht hinein. Er konnte sie nicht sehen. Nur riechen.

Wie ein großes Pferd schnaubte Smaug, sodass ihre Haare aufwehten. Bei dem frischen Blutgeruch mussten sie die Gesichter wegdrehen. Thorin spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte. Würde sie jetzt in ihrer Angst einen Schritt nach vorne machen oder würden die anderen, die sich den Gang entlang hinter den Ecken befanden, sich nicht leise verhalten, würde der Drache sie entdecken und sein Feuer in die Gänge jagen lassen. Und dann gäbe es keine Rettung.

 

Aus einem anderen Gang in der Westhalle hoben sich blonde Haare vom grau-grünen Gestein der Ecke ab, um die sie vorsichtig hervor spähten. Von seinem Standpunkt aus beobachtete Karif den Drachen. Die langen Vorderläufe weit von sich abgewinkelt stand er mit dem Rücken zu ihm an der Längsseite der Nordhalle. Freudig erregt vom Lauerspiel zuckte seine Schwanzspitze hin und her.

Wie eine Katze vor dem Mäuseloch, musste er bitter und mit einem Schaudern feststellen. Er brauchte einen Plan. Und zwar schnell.

Sein Blick ging an der Wand entlang und fiel auf die verbrannte Leiche eines Soldaten. In dessen Schoß entdeckte er eine Armbrust, den Pfeil nicht mehr geschafft einzulegen. Noch einmal sah er zur anderen Halle, ehe er voran schlich und sie sich holte. Damit trat er wieder zurück in den Gang, wo Fyn auf ihn gewartet hatte.

,,Er wird nicht mehr lange die Geduld aufbringen können, ihnen aufzulauern.“ Er legte den massiven Schaft auf seinen angewinkelten Oberschenkel und spannte den Pfeil ein. Bei dem vertrauten Geräusch von einem Schwert, das behutsam aus der Scheide gezogen wird, presste Karif die Hand auf Fyns Harnisch. ,,Was wird das, wenn es fertig ist?“

,,Lasst mich gehen“, raunte der braunhaarige Zwerg mit den widerspenstigen Locken sogleich, die Augen starr und erwartungsvoll auf seinen Befehlshaber gerichtet. ,,Ich schleiche mich an und dann…“

,,Ach ja? Und dann? Willst du ihm dein Schwert ins Herz stoßen?“

,,Ja, oder…“

,,Bist du irre, Junge? Es gibt kein Oder. Du würdest noch nicht einmal zum Streich ausholen, da wärst du schon in zwei Teile gerissen.“

Fyn machte ein böses Gesicht. ,,Sollen wir stattdessen einfach nur zusehen?“

Karif drehte ihm den Rücken zu und lädt die Armbrust zu Ende. ,,Ich will, dass du zum Haupttor läufst, Fyn“, erklärte er ihm kühl. ,,Geh aus dem Berg und komm nicht wieder.“

Fassungslos über seine Antwort starrte dieser ihn an. ,,Das könnt Ihr nicht von mir verlangen. Ich habe Erebor meine Treue geschworen.“

Karif fuhr herum, drückte die Hand stärker auf die graue mit Gold verzierte Rüstung, sodass er gegen die Wand gedrückt wurde. ,,Auch ich schwor diesen Eid, Fyn“, raunte er warnend. In seinem Blick jedoch lag nichts Bedrohliches, sonder vielmehr etwas Sorgenvolles. ,,Doch ich habe noch einen zweiten geschworen, der mich, verdammt nochmal, verantwortlich für das Schicksal meiner Männer macht. Ihr steht unter meinen Anweisungen. Und jetzt bring dich in Sicherheit. Nutz die Deckung von den Felsbrocken.“ Karif trat von ihm weg und zog sich mit den Zähnen die Handschuhe aus, steckte sie sich in den Gürtel. Der junge Soldat zögerte. ,,Das war ein Befehl, Fyn.“

Mit aufeinander gepresstem Mund ging er schließlich an ihm vorbei. Am Übergang in die Halle blieb er jedoch stehen und drehte sich noch einmal um. ,,Eure Hoheit…“

Obwohl er nicht das Recht besaß, so angesprochen zu werden, taten das die Jungen jedes Mal in ihrem allerersten Unterricht bei ihm, weil sie nicht wussten, wie sie den Ehemann der Prinzessin ansprechen sollten, und dann erklärte es Karif amüsiert jedem Jahrgang aufs neue. Früher hatten das seine Kumpels immer aus Spaß gemacht, um ihn aufzuziehen, doch in Fyns Stimme war kein Hohn zu hören, sondern Achtung und Respekt.

,,…seid vorsichtig.“

Karif zog einen Mundwinkel hoch. ,,Los, Junge, tu einmal, was man dir sagt. Beweg endlich deinen Arsch von hier weg.“ Fyn musste schmunzeln, schlich um die Ecke und war verschwunden. Nun alleine lehnte sich Karif gegen die Wand und ließ einen kleinen Bolzen knackend einrasten. Neu und fest legten sich seine Finger um das glatt geschliffene Holz. Er nahm einen letzten tiefen Atemzug und trat mit der scharfgestellten Armbrust in einer Hand aus seiner Deckung hervor.

Obwohl seine Stiefel lautlos auftraten, dröhnte sein Herzschlag unwirklich laut zu seinen Ohren. Ob er das richtige tat? Er hatte keinen blassen Schimmer. Schritt um Schritt verringerte er die Distanz zwischen ihm und seinem Ziel und gleichzeitig auch das Risiko vorbei zu schießen. Die Chance, dass er wirklich traf, war schwindend gering. Jeder Meter brachte ihn näher an die Gefahr heran, es nicht mehr zurück bis in den schützenden Gang zu schaffen. Wenn der Drache jedoch sein Feuer im richtigen Winkel zu ihm speien würde, hätte der Gang auch nichts Schützendes mehr an sich… So oder so, er würde den anderen wenigstens eine Chance geben, entkommen zu können.

Als er fast in der Nordhalle stand, führte Karif zwei Finger zum Mund und einen Augenblick später schallten laute, provozierende Pfiffe. Wie ein abgerichteter Hund reagierte Smaug sofort und wandte den langen Hals zu ihm. Den Schaft feste an die Schulter gedrückt erhob der Hauptmann Erebors die Waffe, zielte und schoss. Mit einem kurzen Aufblitzen schwirrte der Pfeil durch die Luft und traf direkt in den Augapfel des Tieres. Der Drache presste die Augen zu, schüttelte vor Schmerz und Zorn den Kopf. Die Armbrust fiel zu Boden und Karif nahm die Beine in die Hand. Sofort setzt Smaug ihm nach. ,,Du wirst BRENNEN!“

 

Die unglaublich tiefe und kraftvolle Stimme des Drachen ließ Thorins Lungen beben und ihn fassungslos aus der Nische hervor spähen. Er hatte die Pfiffe von Karif und dessen Ablenkungsmanöver erkannt. Nur er konnte so pfeifen.

Als er die Schritte des Tieres spürte, wie es sich weg bewegte, nahm er seine Hand von ihrem Mund und schob das wimmernde Mädchen vor sich her. Zurück bei den anderen wurde sie von einer anderen Zwergin in die Arme geschlossen.

Thorin nickte Dwalin zu und sein Freund ging voraus. ,,Lauft zum Tor. Bleibt nicht stehen, ehe ihr draußen seid“, wies er an und die Gruppe setzte sich unter ihrer Führung erneut in Bewegung.

 

Gerade als die Ketten am Rücken seiner Rüste gegen das Gestein schlugen, jagte auch schon das Drachenfeuer vorbei. Die Hitze verschlug ihm den Atem, lag schmerzhaft an seiner Wange, trachtend nach seinem Fleisch. Ein Druck lastete auf seinen Ohren, schien ihm den Schädel eindrücken zu wollen. Wie eine Art Sog wollte es ihn aus dem Gang in das tödliche Feuer zerren. Karif kniff die Augen zusammen, wölbte den Rücken und kämpfte dagegen an. Mit aller ihm verbleibender Kraft schaffte er es, sich umzudrehen. Nach Atem ringend tastete er sich blind vom grellen Licht an der Wand entlang.

 

,,Da unten ist die Westhalle. Wir haben es gleich geschafft, Prinzessin.“ Sie liefen durch einen Brückengang, der durch eine kleine Halle führte und mit Glasfenstern gesäumt war.

Dis entdeckte durch die Fenster rechts einen orangen Schimmer, der immer mehr aufzuglühen schien. ,,Thelma, warte!“ Abrupt stoppte sie, doch die alte Zwergin rannte weiter und bog schon um die Ecke. Es gab eine Art Welle, die durch die Luft pflügte. Die Scheiben zerbersteten. Ein Regen aus glitzernden Glassplittern rieselte auf sie nieder. Instinktiv schlug Dis die Arme schützend über sich, warf sich auf die Knie. Rauschend jagten rote Flammen durch den Gang, in den eben noch Thelma eingebogen war, lösten sich knackend in kleinen Wirbeln auf.

,,Thelma!“, rief sie nach der ersten Schrecksekunde, starrte mit geweiteten Augen in die vor Hitze flimmernde Luft. ,,Thelma...“ Sie bekam keine Antwort. Ungeweinte Tränen schnürten ihr die Kehle zu. ,,Nein. Nein, bitte, bitte nicht...“ Glassplitter knackten unter ihren Schuhen, als sie aufstand und zurück stolperte, um den Anblick nicht zu sehen, den sich ihr im Gang boten würde. 

Tränenblind lief sie davon. Winzige Splitter rieselten aus ihren dunklen Haaren. Orientierungslos lief Dis durch ihre zerstörte Welt, stolperte über ihren Rock, den sie nicht hoch genug genommen hatte, rappelte sich erneut auf und lief weiter.

Oh, Thelma, meine liebe Thelma, es tut mir so leid. Das alles wäre nicht passiert, wenn ich im Gemach geblieben wäre. Warum bringe ich mich immer in Gefahr und reiße andere mit? Wäre ich doch nur bei meinen Kindern geblieben. Meine Babys… Der Gedanke an ihre Kinder bohrte sich zusammen mit der Schuld qualvoll in ihr hinein.

Dann sah sie eine Treppe, rannte kopflos die Stufen hinunter. Unten angekommen war die Längsseite einer der Eingangshallen. Links lag eine riesig hohe Wand, die zu ihren Füßen durch mehrere Torbögen gebrochen wurde. Die Osthalle.

Dis raffte ihren Rock und rannte los, vorbei an massiven Säulen. Die Luft war beißend vor Rauch. Sie war allein in der Halle, sodass ihre Schritte hallten. Von irgendwo vernahm sie jedoch Stimmen und Rufe. Doch dann blieb sie stehen und starrte vor blankem Entsetzen die Halle hinab. Am anderen Ende bewegte sich etwas, was sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Der Drache.

Smaug drehte den Kopf zu ihr und als er sie sah, glühten seine Augen auf, als loderte sein Feuer selbst darin. Dis wandte sich innerlich unter diesem Blick, als stünde sie entblößt vor ihm. Seine Mimik war so klar, dass sie sich fragte, ob er wirklich nur ein Tier war.

Ein Grummeln ertönte, ein Geräusch tief aus seiner Kehle. ,,Ohh... Prinzessin.“ Jede einzelne Silbe auf grausamer Weise zart betont.

,,Woher weiß du, wer ich bin?“ Ihre Stimme war so dünn, dass er sie unmöglich gehört haben konnte. Doch Smaug antwortete:

,,Wenn man so alt ist wie ich, weiß man, was der Wind einem verrät.“ Er machte einen Schritt auf sie zu und das Blut in ihren Adern stockte.

,,Nein. Komm nicht näher.“ Sie fühlte sich so unglaublich dumm dabei. Allein durch Worte würde er sich nicht davon abbringen lassen, das zu tun, was er mit ihr wollte.

,,Ach, nein? Jetzt wird es doch gerade erst interessant, findet Ihr nicht, Prinzessin?“ Todesangst versteinerte ihren Körper, als der Drache den Kopf senkte und sich die Lippen leckte.

 

Zufällig ging Frerins Blick nach unten und fiel just auf seine Schwester. Dort unten stand sie, stocksteif, rührte sich nicht. Endlich hatte er sie gefunden.

,,Dis!“ Er lehnte sich über die Mauer der Empore, doch seine große Schwester regierte nicht. Fragend drehte er den Kopf nach rechts, in die Richtung, in die sie starrte. Zum Übergang in die Südhalle stand der Drache.

,,Scheiße... Dis! Dis, geh da weg!!“, schrie er noch lauter, doch noch immer regierte sie nicht. Wie hypnotisiert sah sie den Drachen an. ,,Verdammt, Dis, hau ab! Hörst du nicht, was ich sage?! Dis!!“

 

Thorin blieb stehen, horchte auf. Das war die Stimme seines Bruders. Er spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Fieberhaft drehte er sich im Kreis, versuchte, ihn zu orten. Dann sah er seiner Gruppe nach, die bereits beim Tor war, machte kehrt und lief zurück.

 

Dis hörte ihn, konnte jedoch ihre Augen nicht von der riesigen Bestie abwenden. Ihre Beine gehorchten ihr nicht, so sehr sie es versuchte. Sie war gefesselt von ihrer Angst, die sich durch jede ihrer Venen fraß und Besitz von ihrem gesamten Körper nahm. Zitternd krallten sich ihre Finger in die Stofflagen ihres Rockes, den sie immer noch hielt.

Smaug stieß ein hämisches Lachen aus. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem selbstgefälligem Lächeln. ,,Ihr wärt ein kleines Juwel in meiner Sammlung. Doch leider, ich bedaure, bin ich nicht aufgelegt für derartige Spielchen.“ Seine Augen wanderten fast schon lustvoll über ihren Körper. ,,So wunderschön und so allein… Ein Jammer, dass Ihr so jung gestorben seid.“

 

Vor Verzweiflung schlug Frerin mit der Faust auf die Mauer, wirbelte herum und rannte zur nächsten Treppe. Seine Füße berührten kaum den Fels, als er sie hinunter hetzte. Dann war er in der Halle und genau in diesem Augenblick warf der Drache seinen glühenden Kopf nach vorne. Jegliche Zeit hörte auf zu existieren.

Mit großen Schritten rannte er zu seiner Schwester, sah wie die Flammen auf sie zu kamen. Wie sie sich ballten, sich gegenseitig jagten. Sein Herzschlag war das einzige, was er hörte, die Sorge um seine Schwester das einzige, was er spürte.

Er verschwendete keine Gedanken an die Gefahr, weil es nichts nützte. Er verspürte keine Angst. Allein die Angst um sie erfüllte ihn. Ihr Leben oder seines.

Einst nahm er ihnen die Mutter. Jetzt sollten Fili und Kili nicht dasselbe wiederfahren und sein Bruder, sein Vater nicht auch noch sie verlieren.

Er streckte die Hände aus und erreichte ihren Körper. Die angehaltene Zeit kam wieder in Bewegung und gleißend helles Licht raste auf ihn zu. Frerin schrie, reckte die Arme empor und die Welt um ihn herum wurde weiß und einen Moment später schwarz und still.

7

 

 

Von einer brachialen Gewalt zur Seite gestoßen, schlug Dis am Boden auf. Der Aufprall raubte ihr den Atem. Helle Flecken tanzten vor ihren Augen. Mit offenem Mund wandte sie sich vor Schmerz am Boden, sah alles nur noch verschwommen. Angestrengt sog sie Luft in ihre Lungen, hustete. Auf der Seite liegend sah sie benommen, wie sich der Flammensturm in seine einzelnen Wirbel auflöste und den Körper ihres Bruders freigab. ,,Frerin…“

 

Auf die Rufe seines Bruders war Thorin vom Treppenhaus an der Nordhalle in seine Richtung gerannt, stand nun schwer atmend auf der ersten Empore, und sah, was geschehen sein musste. Ein nie zuvor empfundener Schmerz bohrte sich in seinen Brustkorb.

Sein Bruder hatte sein Leben für das seiner Schwester gegeben.

Ein Soldat erschien zwischen den Säulen, eilte auf die Prinzessin zu und wollte ihr hochhelfen. Als er sie anfasste, fing sie an, sich zu wehren. ,,Nein. Nein, lass mich los. Ich will bei ihm bleiben! Nein, NEIN!! Frerin!“ Verzweifelt streckte Dis die Hände zu den sterblichen Resten ihres Bruders aus.

Oben auf der anderen Seite setzte sich Thorin in Bewegung. ,,Bring sie raus! Bring sie raus!“, rief er zu ihm hinunter.

Trotz ihrer panischen Gegenwehr schwang der Soldat sie über die Schulter, den Arm fest um sie gelegt. ,,Mein Bruder, hilf meinem Bruder, nimm ihn mit! Lass ihn nicht hier!!“ Sie hämmerte auf seinen Rücken, steckte die Hände zu ihm aus. ,,NEIN, FRERIN!!“

Wie er zurückgegangen und die Treppen hinab gestiegen war, wusste Thorin nicht mehr. Er vernahm nur die Schreie seiner kleinen Schwester, spürte den grausamen Schmerz in sich wüten. Auch er hätte gerne geweint, doch das konnte er in diesem Moment nicht.

Plötzlich stand er wieder in den Eingangshallen. In seinem Augenwinkel vernahm er die Bewegung, wie die Schwanzspitze des Drachen in dem Durchbruch der Nordhalle verschwand. Er erblickte Dis, wie sie durch das Haupttor getragen wurde. Auf einmal schrie jemand ihm ins Ohr. ,,Eure Hoheit, Euer Vater!“

Thorin drehte sich um und sah seinen Vater, begleitet von einem Soldaten, verletzt auf sich zu humpeln. Stützend geleitete der junge Prinz Thrain über die Grabenbrücke. Mit ihnen kamen weitere Zwerge aus dem Berg gelaufen. Das helle Sonnenlicht blendete ihn. Tief sog er die Luft ein, die an diesem Morgen klarer als jemals zuvor schien.

 

~

 

Thorin atmete tief durch und wischte sich mit beiden Handflächen übers Gesicht, als könnte er allein so die Erinnerungen fortwischen. Für gewöhnlich ließ er sie in seinem Innersten ruhen, ließ sie nur selten zu. So heftig waren sie allerdings noch nie gewesen.

Er versuchte, sich von den Bildern in seinem Kopf endgültig fort zu reißen, doch es gelang ihm nicht, denn Unaussprechliches hatte er gesehen, so viel Trauer, Leid und Schmerz...

Der Wind, der durch die Berghänge gefahren war, hatte ihre Stimmen mit sich genommen, sodass die rußig, schwere Luft erfüllt gewesen war mit den Schreien, dem Klagen und Weinen seines Volkes, welches eingebettet vom gelben Berggras sich vor dem Tore versammelt hatte. Und er war mitten unter ihnen gewesen, war wie betäubt zwischen ihnen hindurch geschritten. Überall hatten Zwerge nach ihren Angehörigen gerufen, Mütter ihre Kinder an sich gedrückt. Er hatte Zwerge mit versengten Bärten gesehen, die durch die Schmerzen ihre Hände über die verbrannte Haut gelegt hatten, weinende Männer, halb tote Soldaten, Kinder, die nach ihren Eltern gerufen hatten und von Fremden in die Arme geschlossen wurden, wenn ihre Rufe unbeantwortet geblieben waren.

Schließlich hatte er auch seine Schwester entdeckt, die tränenüberströmt an der Schulter ihres Vaters gepresst war, der zusammen mit ihr auf der Erde saß. ,,Er ist tot“, hatte sie immer wieder in ihrem Schock geflüstert. „Er ist tot.“

Thrain hatte ihr nur über den Kopf gestrichen, nichts sagen gekonnt. Dann kam Fili durch die Mengen auf seine Mutter zugelaufen, hinter ihm Karif, auf seinem Arm den kleinen Kili. Ganz fest an sich gedrückt hatte Dis ihre Söhne, ihnen auf die Haare geküsst und noch lauter geschluchzt, als auch Karif sich zu ihnen gesetzt und seine Familie schützend umschlossen hatte.

Vor seinem Auge sah er noch einmal das Gestein brechen, hörte das tonnenschwere Aufschlagen. Der Fels über dem Haupttor war zu beschädigt gewesen. Dicke Gesteinsbrocken hatten sich gelöst und waren in den Durchbruch als unüberwindbares Hindernis gefallen. Für Zwerge, die sich zu diesem Zeitpunkt noch im Erebor befanden hatten, gab es keine Rettung.

Hasserfüllt starrte Thorin auf die dunklen Dielen, als die Abscheu in ihm wütete und er an die Elben dachte, die angelockt vom aufsteigenden Rauch oben auf dem westlichen Bergkamm als dunkle Silhouetten erschienen waren. Ihre Rüstungen hatten in der Sonne geglänzt, während sie tatenlos dort oben gestanden haben. Er hatte gewunken, gerufen, sie sollen ihnen helfen.

Er war sich sicher gewesen, dass sie ihn hören konnten. Bis zum heutigen Tage an war sich Thorin sich, dass Thranduil ihn gehört hatte, doch der Elbenkönig aus dem Grünwald hatte sein Reittier, einen großen Hirsch, gewendet und ihnen den Rücken gekehrt. Die Reihen von Elben waren abgezogen, hatten kein Anteil an dem Leid seines Volkes genommen, weder an diesem Tag, noch an einem anderen. Die Zwerge Erebors wurden in ihrer größten Not allein gelassen.

Er erinnerte sich, wie er sich umgedreht und durch das Tal nach Dale geschaut hatte. Doch Dale, wie er es kannte, hatte nicht mehr existiert. Auch diese Stadt war Opfer von Smaugs Zorn geworden. Überall hatte es gebrannt und in diesem Augenblick waren die Gedanken an Marie in seinem Kopf wiederbelebt worden. Doch gerade, als er realisierte, dass sie dort sein musste, war sein Vater zu ihm getreten.

Tief atmete er, schloss die Augen und drehte das Gesicht zu Marie, die immer noch neben ihm schlief und zum Glück nichts von dem mitbekam, was ihn beschäftigte. Er sah ihr beim Schlafen zu, während er die raue Stimme seines Vater in sein Gedächtnis rief: ,,Thorin, sie brauchen einen Anführer. Du musst sie in die Blauen Berge führen. Führe sie über den Westpass. Führe sie, mein Sohn.

Er hatte auf sein Volk geblickt und in ihren Augen ihre Angst und Verzweiflung gesehen. Sein Vater war verletzt, sein Großvater nicht imstande gewesen, Befehle zu geben. Er hatte keine andere Wahl gehabt. Seine Pflichten in der Thronfolge hatten es verlangt. Er musste den Platz seines Großvaters einnehmen, auch wenn dies bedeutet hatte, dass er Marie verlassen musste.

Voller Wehmut betrachtete er sie. Wenn es irgendwie einen Weg gäbe die Vergangenheit zu ändern…glaub mir Marie, ich würde alles daran setzten, das Geschehende zu verhindern.

Und so war der junge Prinz begleitet von hoffnungsvollen Blicken voran gegangen und hatte sein Volk bis in die Blauen Berge geführt, wo er ihnen ein neues Leben ermöglicht hatte.

Das einst so mächtige und stolze Zwergenkönigreich Erebor existierte heute nur noch auf Karten. Der Thron Erebors war unerreichbar, solange der Berg unter der Herrschaft des Drachen stand. Die Krone seines Großvaters war auf dem Schlachtfeld von Moria verschollen gegangen und der Arkenstein, das Königsjuwel, unter Goldmassen begraben.

Bevor Thorin ins Auenland reiste, hatte er eine Versammlung aller Zwergenreiche einberufen. Abgesandte aller sieben Königreiche kamen, doch als er sein Vorhaben preisgab, erklärte sich niemand bereit, ihn und seine Gefährten zu unterstützen. Denn mit dem Untergang Erebors war das ganze Volk der Zwerge zersplittert. Alte Bündnisse wurden ignoriert und die Legenden aus alter Zeit waren in Vergessenheit geraten.

Abermals legte er den Kopf zurück, sah an die Zimmerdecke. Einst waren wir Herrscher, Könige, Fürsten... Heute sind wir nichts mehr davon…

Neben ihm durchschnitt ein Stöhnen die Stille. Er spähte über die Bettkante und sah, dass Kili seinen mit Schweißperlen übersäten Kopf drehte. ,,Marie. Marie wach auf.“

,,Hm - was?“ Träge regte sie sich. Doch dann hörte auch sie Kili und war sofort hellwach. Sie setzte sich auf die Knie und befühlte seine fiebrige Stirn.

Hoffnungsvoll nahm Thorin die Hand seines Neffen. Sie war kochendheiß. ,,Kili, hörst du mich?“

Marie hatte das Zimmer verlassen und kam bereits eilig mit einer Schüssel Wasser und einer weiteren Decke wieder. Sie schlang die Decke über ihn, setzte sich neben den jungen Zwerg und betupfte mit einem Lappen dessen Stirn.

Schwach drehte Kili den Kopf zu ihm. Seine glasigen, roten Augen sahen ihn kraftlos an. ,,Onkel...“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Keuchen. ,,Mir ist so heiß...“

,,Sch...“, er strich ihm eine dunkle Strähne zurück. ,,Ich bin hier. Alles wird gut.“

Dann schlossen sich seine Augen und Kili dämmerte dahin.

 

 

 

 

8

 

 

Die Münzen klimperten, als Marie sie aus der Dose in ihren Beutel tat, den sie an der Hüfte trug, und diese wieder an ihren Platz auf den Kräuterschrank zwischen zwei anderen stellte. Dass dies nicht das beste Versteck war, wusste sie, doch die alten, verstaubten Holzdosen hatten bis jetzt immer gut gedient.

,,Schaut bitte ab und zu nach den Jungs“, sagte sie, während sie die Schließe ihres braunen Umhangs befestigte. ,,Versucht Kili immer wieder Flüssigkeit einzuflößen und falls er anfängt zu halluzinieren, müsst ihr ihn unbedingt wegen seiner Wunde ruhig halten. Ihr könnt ihm die Stirn, Lippen und Hals befeuchten. Eine Schüssel mit Wasser hab ich neben’s Bett gestellt.“

,,Ist recht.“

,,Ich versuche, so bald wie möglich wieder zurück zu sein.“ An der Tür drehte sie sich noch einmal zu den Zwergen um. Sie verspürte kein schlechtes Gefühl, wenn sie sie alleine in ihrem Haus lassen würde, nein, irgendwie hatte sie schon jetzt Vertrauen zu ihnen gefasst.

,,Mach dir keine Sorgen, Mädchen“, antwortete Balin wieder. ,,Wir stellen schon nichts an. Dafür sorge ich.“

Über seine Anrede musste sie einfach lächeln, ,,das hoffe ich doch“ und verabschiedete sich mit einem: ,,Bin bald wieder da.“

 

Der Himmel war zwar grau an diesem Herbstmorgen, doch die Sonne schenkte warme Sonnenstrahlen und verringerte die gebliebene Kälte der Nacht. Hinter ihrem Haus erstreckte sich der Wald und über diesem thronte im Westen das stets mit Wolken verhangene Nebelgebirge in der Ferne. Der Feldweg führte sie den Hügel hinunter und dann in Richtung des Dorfes, welches zwischen sanft hügeligen Wiesen und Feldern lag.

Nach dem Gespräch von gestern Abend hatte sie schon eine Veränderung gemerkt, doch heute Morgen war diese noch deutlicher zu spüren gewesen. Nachdem sie Kilis Zustand überprüft hatte, hatte sie ihre morgendliche Wäsche am Fluss erledigt und sich gleich danach in Arbeit gestürzt. Vieles war vom Vortag liegen geblieben. Ihr Operationsbesteck musste gesäubert und ausgekocht werden, zudem ihre Schürze und jene Leinentücher, die noch verwertbar waren. Sie hantierte bereits am Herd herum, als die Männer sich noch den Schlaf aus den Augen rieben oder sich ein zweites Mal umdrehten. Damit sie sich ungestört fertig machen konnten, fütterte und tränkte sie die Tiere im Stall und spannte die ausgekochten Stoffe draußen auf die Leine. Allmählich waren auch die Zwerge aufgestanden und gingen zum Fluss oder zum Örtchen hinterm Haus. Unwillkürlich schmunzelte Marie in sich hinein, als sie die Männer teilweise nur in Unterhemden und langen Unterhosen schlaftrunken über die Wiese stapfen sah.

Jeder, der sie bemerkte, wünschte ihr einen guten Morgen, was sie verwunderte, denn sie wusste, dass Zwerge Redensarten wie ,,Guten Morgen - Tag“ oder ,,Guten Abend“ in ihrer Sprache gar nicht hatten. Und als sie wieder ins Haus trat, waren bereits zurückgekehrte Zwerge dabei, ihre Decken, die wild verstreut über die Lager verteilt lagen, ordentlich zusammenzulegen.

Es war, als würden ihr die Männer Respekt entgegenbringen, der nicht nur für die Unterkunft her rührte. Es musste noch etwas anders dahinterliegen, dass sie ihre Hilfe bei Dingen anboten, die eigentlich ihre Arbeit waren. Nur schwer konnte Marie sie davon abbringen. Sie war eh ein Morgenmensch und die Arbeit gewöhnt, sie machte ihr nichts aus. Bei Oin konnte sie sich erweichen, als er ihr beim Verarbeiten der Kräuter zur Hand gehen wollte. Es musste noch vor dem Frühstück sein, damit die frischen Pflanzen ihre Wirkungen nicht noch mehr verloren. Zusammen schnitten, kochten oder hingen sie die Pflanzen an den Balken zum Trocknen auf, die sie die Nacht gepflückt hatte.

Dabei bewunderte sie heimlich den Bart des kraushaarigen Zwerges, der sein stahlgraues Haupthaar offen trug, den Bart jedoch, wie sie fand, fasziniert gebändigt hatte. Der obere Teil hing als Schnurrbart ähnlich Bofurs herab, doch der Kinnbart war zu zwei Zöpfen geflochten und gedreht worden, die stark an die Hauer eines Wildscheines erinnerten. Auch bei Dori und Nori konnte sie solch eine Flechtkunst sehen. Neidisch betrachtete sie Letzteren, der sein braunes Haar mit dem rötlichen Stich etwas hochtoupiert und mit kleinen Zöpfen am Hinterkopf trug und seinen Bart zusammengeflochtenen und in drei flachen Spitzen eingeteilt hatte, die mit verzierten Metallkappen jeweils an den Enden zusammen gehalten wurden. Sie konnte gerade einmal einen einfachen Zopf flechten…

Marie war fasziniert, was die Männer aus ihren Haaren und Bärten machen konnten. So verschieden, wie sie aussahen, so verschieden schienen auch ihre Charaktere. Dori, der älteste, Weißhaarige des Brüder-Trios, zum Beispiel griff sich hilfsbereit ebenfalls ein Messer und schien immerzu ein Auge auf seinen jüngsten Bruder Ori zu haben, egal was er tat.

Dieser war der sanfteste Zwerg, den sie je erlebt hatte. Er passte so gar nicht zu den mutigen Männern, die sich in den Kopf gesetzt hatten, einen Drachen den Gar aus zumachen. Während sie die Kräuter verarbeiteten, hatte er sich ein Buch aus seiner Umhängetasche geholt und zum Schreiben an den Kamin gesetzt. Neben ihm lag Nori und döste auf seinem Lager.

Dori war wohl auch ein kleines Lästermaul, denn er erzählte ihr heimlich, dass Nori auf ihrer bisherigen Reise nicht nur einmal etwas mitgehen lassen hatte und dass er wohl von Dwalin vorhin zu Recht gewiesen wurde, ehe er das Gedachte zu Ende gebracht haben konnte. Den Grund weshalb, fand sie schnell heraus; seine Augen blitzten immerzu, wie die einer Elster. Sollte er es tatsächlich wagen, ihre Sachen anzurühren, würde er sein blaues Wunder mit ihr erleben.

Dass es jedoch Dwalin gewesen war, der sie in Schutz genommen hatte, überraschte Marie. Der verschlossene Krieger wirkte durch sein wildes Aussehen unnahbar und einschüchternd und war eher der Typ, der misstrauisch Fremden gegenüber war – also eigentlich auch ihr.

Mit Abstand war Bifur der Wunderlichste von allen, Bombur, der dickste, rothaarige Zwerg, ein sanfter Riese und Balin der Weise, der die Gruppe zusammenhielt. Bei Bofur konnte man meinen, ihm hing stets ein Schmunzeln im Mundwinkel.

Gloin war es, der ihr ungefragt die Arbeit für den Kamin abgenommen hatte. Er war sehr geschickt mit den Feuersteinen gewesen, nur ein Schlag hatte bei ihm ausgereicht, um den Zunder glimmen zu lassen. Nun saß er auf seinem Lager und säuberte und schärfte mit Hingabe seine Waffe, eine beeindruckende Axt, die zu seiner Erscheinung passte und Ori freiwillig ein ganzes Stück zur Seite rücken ließ.

Auch als es Zeit fürs Frühstück wurde, ließ Thorin sich nicht blicken. Die anderen beschwichtigten sie damit, dass es besser war, ihn allein zu lassen, wenn er es will. Trotzdem. Die Gedanken über ihn blieben. Öfters erwischte Marie sich dabei, wie sie zur Tür blickte, in der Hoffnung, er würde sich zu ihnen setzen. Sie hoffte vergeblich.

Beim Frühstück wurde Marie erstmals Zeuge, von einem Drunter und Drüber ganz nach Zwergen-Manier. Ein Glück, dass sie von vornerein reichlich gedeckt hatte… Jeder nahm sich scheinbar von allem gleichzeitig, die Teller waren stets voll. Man griff übereinander weg und drunter durch. Milch schwappte auf das vollgekrümelte Holz. Auch redeten sie mit vollem Mund oder wischten sich mit den Ärmeln die Mundwinkel ab, auch wenn diese noch voller Marmelade waren. Hilfesuchend warf Marie Bilbo einen Blick zu, der nur mit den Schultern zuckte und die Augen verdrehte, als wäre er an dies schon gewöhnte.

Schmunzelnd schüttelte Marie den Kopf, als sie so über den unerwarteten Morgen nachdachte. Was hatte sie sich da bloß ins Haus geholt?

Unter der steinernen Brücke, die hinüber nach Kerrt führte, rauschte der Fluss, schlängelte sich hinter den äußersten Häusern weiter und verschwand in der Ferne vor bewaldeten Gebirgszügen im Osten. Als ihr ein Pferdekarren entgegen kam, lüftete der Mann auf dem Bock seinen Hut vor der Frau, die ihm mit einem Lächeln antwortete. Marie bog von der Hauptstraße in eine Nebengasse ab, vorbei an der Schmiede, wo man fleißige Hammerschläge vernehmen konnte. Ihr Ziel war ein kleines Haus am Ende der Gasse. Es war schief, als hätte der Wind selbst versuchen wollen, es um zudrücken. Ein Fensterladen hing nur noch an einem Scharnier, ein paar Dachschindeln fehlten.

Eine Frau fegte vor der Tür und strahlte, als sie sie kommen sah. Marie ging zu ihr und umarmte sie.

 

,,Wie geht‘s dir?“, fragte Marie, als sie sich an den Tisch setzten, die Wärme des Ofens im Rücken, der dauerhaft brannte, um es im Haus warm werden zu lassen.

,,Soweit ganz gut, aber du siehst es sicherlich schon...“ Mit einer Grimasse hob sie ihre Hand, wo um drei Finger und ums Handgelenk ein Verband gewickelt worden war.

,,Lass mal sehen.“ Vorsichtig begann Marie den Verband abzuwickeln.

,,Beim Holzhacken ist mir so ein dämlicher Klotz gegen die Finger geflogen. Hat sich angehört, als würde man eine Karotte durchbrechen.“

,,Autsch.“ Sie begutachtete die Hand, tastete alles behutsam ab. Der Mittelfinger war bis zum oberen Gelenk blau, die Schwellung schon fortgeschritten, die Knochen jedoch noch intakt. ,,Wann ist das passiert?“

Anna schaute auf den Tisch. ,,Vor drei Tagen.“

,,Warum bist du nicht gleich zu mir gekommen?“ Statt einer Antwort schürzte sie nur beschämt die Lippen. ,,Es ist der Lohn, stimmt‘s?“

Unter ihrem bohrenden Blick entzog Anna ihr ihre Hand, strich sich eine dunkelblonde Strähne ihrer hochgesteckten Haare zurück hinters Ohr. ,,Es reicht gerade mal so, dass wir über die Runden kommen und erst recht nicht für das hier.“

,,Du machst deine Arbeit doch immer gut. Hast du schon mal um eine Lohnerhöhung gefragt?“

Abfällig schnaubte sie. ,,Dafür ist der alte Danner zu geizig. Der gibt mir nicht mehr, da kann ich noch so auf den Knien betteln.“

Seufzend winkte Marie ab. ,,Du kannst immer zu mir kommen, das weißt du doch.“

Trotz ihrer misslichen Lage musste sie lächeln. ,,Natürlich.“

Die Tür ging auf und ein kleines, spindeldürres Mädchen stürmte herein. Sie war ungefähr sieben Jahre alt, hatte schlohblonde Haare und trug ein gelbes Kleidchen. Von ihren Armen umschlungen hing eine schwarz-weiße Katze vor ihrem Bauch. ,,Mama, Mama, guck mal!“

,,Woher hast du die?“

,,Die hab ich auf der Straße gefunden.“

,,Mau“, kam es von der Katze, die auf halb acht hing.

Ihre Mutter hatte eindeutig weniger Erbarmen mit dem Tier. ,,Und da wirst du sie auch augenblicklich wieder hinbringen.“

,,Aber…“

,,Keine Widerrede. Du weißt, was ich davon halte.“

Als Mel Marie entdeckte, verflog ihre enttäuschte Miene. Freudestrahlend lief sie zu ihr, die Katze wie ein hängender Fellbeutel schlackerte seelenruhig hin und her. ,,Guck mal, Marie, ist die nicht hübsch?“ Sie streckte ihr die Katze entgegen, ehe sie sie wieder an sich drückte und schmuste.

,,Du hast recht“, Marie kraulte dieser hinter einem Ohr, woraufhin sie sofort zu schnurren begann, ,,aber deine Mama auch. Es ist besser, wenn du sie zurückbringst, Mel. Vielleicht wird sie schon vermisst. Ganz sicher, so brav wie sie ist.“

Die Kleine zog einen herzzerreißenden Schmollmund. Mit hängendem Kopf trottete sie fügsam zurück zur Haustür, vor der sie die Katze absetzte. ,,Ich kann dich nicht behalten. Meine Mama will keine Tiere im Haus.“

,,Sie wünscht sich wohl immer noch ein Haustier.“

Anna ihr gegenüber hatte sich ebenfalls zu ihrer Tochter gedreht, um mit Argusaugen zu beobachten, ob Mel die Katze nicht doch wieder hinein schmuggelte. ,,Leider.“

,,Vielleicht erweicht sich ja eines Tages dein Rabenmutterherz.“

,,Fängst du jetzt auch damit an? Fall mir bloß nicht in den Rücken.“

,,Sie würde lernen, Verantwortung zu übernehmen.“

,,Und ich überall die Haare haben. Nein, so ein Flohteppich kommt nicht in dieses Haus.“

Nachdem Mel die Tür geschlossen hatte, kam sie wieder zu ihnen. Niedergeschlagen denn je. ,,Felicitas wird draußen frieren, Mama.“

,,Felicitas weiß sich ganz sicher zu helfen.“Als Mel fast in Tränen ausbrach, strich ihr ihre Mutter milder gestimmt über den Kopf. ,,Tut mir leid, mein Schatz. … Hast du eigentlich schon Marie erzählt, dass dein Zahn draußen ist?“

Auf andere Gedanken gebracht lächelte sie breit und stupste voller Stolz in eine Zahnlücke, um ihr diese zu zeigen.

,,Oh, na endlich! Ich hätte ihn dir aber auch gezogen…“

,,Mit der großen Zange?“

,,Genau mit der.“

,,Nein!“, quickte die Kleine und brachte sich eilig in Sicherheit, als könnte sie es immer noch versuchen wollen. Lachend sahen die Frauen ihr hinterher.

,,Diese Monster-Zange, von der sie mir berichtet hat, gibt es gar nicht, hab ich recht?“, fragte Anna, als sie ihr die Hand wieder gab.

,,Doch, die gibt es. Nur wäre sie völlig nutzlos bei diesen kleinen Zähnchen. Kannst du die Finger bewegen?“

,,Es tut verdammt weh…“

,,Nein, lass es lieber.“

Eine Nase schob sich über die Tischkante, gefolgt von rosigen Wangen und blauen Augen. ,,Mama, du hast geflucht.“

,,Tut mir leid. Ich ärgere mich nur über mich selbst.“

,,Sind sie gebrochen?“

,,Nein,“, antwortete Marie, ,,deine Mama hatte Glück und ist mit einer satten Verstauchung davon gekommen. Vielleicht ist das Gelenk noch kaputt, aber das wird wieder.“ Sie öffnete ihren Beutel und nahm eine hölzerne Tiegeldose heraus.

,,Bist du jetzt auch noch Hellseherin?“

,,Unsinn, ich hatte nur vergessen, dass ich sie noch vom letzten Hausbesuch dabei hatte. Halte den Finger ruhiggestellt und benutze die Salbe täglich, am besten mehrmals. Wenn sie alle ist, komm vorbei oder ich sage dir die Rezeptur. Die ist ganz einfach zu machen.“ Es für sie aufschreiben konnte Marie nicht, denn Anna konnte nicht lesen. Im Gegensatz zu ihr hatte sie das große Privileg genossen, lesen und schreiben von ihren Eltern gelehrt zu bekommen.

,,Ich kenne jemanden, der hat mal erzählt, dass, wenn man sich die Finger bricht, sie abgehackt werden müssen“, erzählte Mel.

Marie schmunzelte, während sie großzügig die Salbe auf dem verstauchten Finger verteilt. ,,Nein, eigentlich nicht.“

,,Und ich kenne jemanden, der kennt einen, der nur noch vier Finger an einer Hand hat.“

,,Denkst du auch an den gleichen Kerl wie ich?“

Ihre Freundin suchte ihren Blick, während sie ihre Hand wieder verband. ,,Ja“, knurrte Marie, ,,kenn‘ ich nur zu gut.“

,,Wann kapiert der Typ es endlich?“

,,Pff! Nicht in einhundert Jahren.“

,,Obwohl…hässlich ist er nun ja nicht. Und er gibt sich Mühe.“

,,Anna!“

,,Was denn?“

,,Der Kerl ist der Letzte! Ja, in Ordnung, es stimmt ja, was du sagst. Er hat auch seine Tage, wo er echt angenehm ist, aber er ist und bleibt die Klette, die ich einfach nicht los werde.“

,,Das stimmt allerdings.“

,,Siehst du? Also können wir bitte aufhören, über Gonzo zu reden? Jetzt erzähl mal, was mit Greg nun ist.“

Wie auf Kommando wandelte sich bei seinem Namen ihre Gesichtsfarbe. ,,Da ist nichts“, säuselte sie und zupfte am Verband herum.

,,Aha, und warum wirst du so rot wie eine Tomate?“

Verlegen strich sich Anna wieder die Strähnen hinters Ohr. ,,Er ist der Sohn vom Danner…“

,,Na und? Er ist unglaublich sympathisch, nett, klug, humorvoll nicht überheblich. Soll ich weiter machen?“

Auf ihrem Gesicht bildete sich ein verträumtes Lächeln. Ihre Augen funkelten.

,,Sprich ihn an.“

,,Und was soll ich sagen?“

,,Sei einfach du selbst. Du bist so eine hübsche Frau. Er wird dir sicherlich nicht die kalte Schulter zeigen.“

,,Was ist, wenn doch? Warum sollte er sich für mich interessieren? Ich bin arm, schlag mich alleine mit einem Kind durch. Ich wäre alles andere als eine gute Partie.“

Marie rollte mit den Augen. ,,Hör auf mit der alten Leier. Greg ist anders als die anderen Männer.“

,,Stimmt“, flüsterte Anna und durch ihr Lächeln wirkte sie noch jünger. ,,Ich hab mich schon öfters gefragt, was du eigentlich dazu sagst…“, fuhr sie mit ersterem Ton fort.

,,Wie meinst du das?“

,,Naja…“, wieder spielte sie am Verband herum. ,,Du und Greg… Damals.“

Maries Miene verdunkelte sich. Sie hob abwehrend die Hände. ,,Anna, zwischen uns ist absolut nichts mehr.“

,,Ich weiß, ich glaub dir. Nur… Marie, er hatte dir einen Antrag gemacht.“

Vor vier Jahren waren sie und Gregor sich näher gekommen. Ihr war der Sohn des Stoffhändlers von Anfang an sympathisch gewesen. Greg hatte sich in sie verliebt und auch sie hatte ihn gemocht, sehr sogar. Wahre Liebe war es dennoch nicht gewesen, obwohl sie zweimal miteinander geschlafen hatten. Er war eher wie ein großer Bruder für sie.

Als er ihr den Antrag machte, vor ihr niederkniete, hatte Marie tief in sich hinein gehorcht und ihr Herz befragt. Wenn sie jetzt ja gesagt hätte, dann hätte sie ihn und sich selbst belogen und etwas vorgemach und so hatte sie ihn unter Tränen abgelehnt. Greg war sehr niedergeschlagen darüber gewesen, hatte Zeit gebraucht, um ihre Ablehnung zu verarbeiten, doch hatte ihre Entscheidung akzeptiert, sodass sie noch heute in gutem Kontakt standen.

Besorgt über ihr Schweigen nahm Anna ihre Hand. ,,Wenn du nicht darüber reden willst, dann…“

Marie sah ihr in die Augen und erwiderte ihre Geste. ,,Es ist alles in Ordnung. Du musst dir keine Gedanken machen. Heute sind wir beide Freunde, worüber ich sehr froh bin. Du hast also freie Bahn.“

Ihr entfuhr ein genervtes Geräusch. ,,Du hast wohl seine Schwester, dieses Biest namens Donja vergessen. Die liebt ihren großen Bruder abgöttisch.“

,,Diese Schnepfe hat dich nicht zu interessieren. Trau dich. Sprich ihn gleich morgen mal an.“

,,Er ist im Auftrag seines Vaters nach Rohan, neue Stoffe einkaufen.“

,,Ohh, ich hoffe, du überlebst das.“

,,Marie!“ Sie bekam einen Schlag auf den Arm. ,,Also echt, manchmal bist du unmöglich!“

Neckisch streckte sie ihr die Zunge raus und erhob sich.

„Wie viel bekommst du?“

,,Doch nicht dafür!“

Energisch schüttelte Anna den Kopf. ,,Nein, das geht nicht. Du brauchst doch auch dein Lohn.“

Doch bevor sie noch irgendetwas hinzufügen konnte, umarmte Marie sie und flüsterte: ,,Bitte, das ist alles in Ordnung. Das machen beste Freundinnen so.“

 

~

 

Es war Markttag und auf dem Marktplatz war einiges los. Es schien, als wäre das ganze Dorf hier. Der Platz glich einem Labyrinth aus engen Gassen zwischen den zeltähnlichen Verkaufsständen, wo die ortsansässigen Verkäufer oder angereiste Händler ihre Waren in ohrenbetäubender Lautstärke anpriesen. Es gab etliche Stände mit allen erdenklichen Waren, die an einem anderen Stand immer besser wären, wenn man den Marktschreiern Glauben schenkte.

Marie kaufte ein Säckchen Salz, drehte sich dann suchend nach einem Gemüsestand um. Es war schon Mittag und für einen Einkauf war sie spät dran, sodass sie sogar ein wenig suchen musste, bis sie noch gutaussehende Kartoffeln und Rüben fand. Zusammen mit dem fetten, geräucherten Bauchfleisch in ihrer Kammer, verfeinert mit frischen Kräutern würde das einen schönen Eintopf heute Abend als Entschädigung für das ausgefallene Mittagessen geben.

Nachdem Marie weg war, beugte sich die dicke Händlerin zu ihrer Nachbarin, die im Vergleich zu ihr wie ein Stock aussah. ,,Hast du gesehen, was unsere Heilerin gekauft hat? Zwei ganze Kisten. Und mich dann auch noch so runterzuhandeln!“

,,Die hat doch eine Horde Zwerge bei sich im Haus“, krächzte die Dürre. ,,Der Wiesengrund soll sie gesehen haben, in aller Früh. Wahrlich, ich sag es dir, blutüberströmt, mit wilden Bärten. Hat man denn sowas schon gesehen?“

,,Hab ich auch schon gehört.“ Eifrig nickte sie, sodass ihr Doppelkinn wackelte und kümmerte sich dann um ihren nächsten Kunden.

 

Mit den schweren Holzkisten und dem Salz auf den Armen, bahnte sich Marie ihren Weg durch die Menschen, wünschte diesem und jenem einen guten Morgen. Sie ging über den mittig gelegenen Platz und bog als Abkürzung in eine Nebengasse ein. Ein Schwarm Spatzen suchte dort hüpfend nach Krümeln und flog auf, als sie näher kam.

,,Wen erblicken denn da meine Augen?“

Marie blieb stehen und verdrehte ihre zum Himmel. ,,Solltest du nicht lieber bei der Arbeit sein, anstatt zu dieser Tageszeit in die Kneipe zu gehen und unschuldigen Frauen aufzulauern?“, fragte sie und drehte sich mit hochgezogener Augenbraue um.

Im Türrahmen der Kupfer Stube lehnte ein Mann mit kurzen, schwarzen Haaren und Bartstoppeln neben seinem groben Kinn. Gonzo senkte lächelnd den Blick. Er hatte ein hübsches Lächeln, doch hinter diesem, so wusste Marie, lag sein undurchschaubarer Charakter.

Mit Daumen und Zeigefinger strich er sich übers Kinn, musterte sie. ,,Würdest du mir so etwas zutrauen?“

,,Ehrlich gesagt schon.“

,,Da könntest du recht haben. Jedoch kaufe ich dir das mit deiner Unschuld nicht ganz ab.“ Er drückte sich von der Wand ab und pirschte sich wie ein Wolf näher an sie heran. ,,Aber ich kann dich dennoch beruhigen. Ich hab lediglich mein Anschreiben bezahlt.“

,,Ich wusste gar nicht, dass du Anstand besitzt“, warf sie spöttisch ihrem Freund entgegen.

Dieser stellte sich vor sie, steckte die Hände in die Hosentaschen, während er versuchte, sich sein Schmunzeln darüber zu verkneifen. ,,Nicht viel, aber ein bisschen. Und soviel genug, dass ich dir am liebsten sofort diese Kisten abnehmen würde.“

,,Danke, nett von dir, aber das kann ich ruhig alleine tragen, ist nicht schwer“, log sie. Ihre schmerzenden Oberarme dankten es ihr.

,,Was willst du denn mit so viel Gemüse?“

,,Ich hatte an’s Essen gedacht.“

Er grinste, wobei jede andere Frau entzückt gewesen wäre, und verschränkte die Arme vor der Brust. ,,Bei der Menge ist es dann wohl wahr, dass du ‘ne Horde Zwerge bei dir im Haus hast.“

Was zum...? Völlig überrascht starrte sie ihn an.

Gespielt desinteressiert zuckte er bloß mit den Schultern, ,,erzählt man sich“, und trat näher. ,,Marie, sei vorsichtig mit diesen Vagabunden. Du weißt nie, wer das ist.“

Sie sah, wie er eine Hand nach ihrer Schulter aussteckte und trat augenblicklich einen Schritt von ihm weg. ,,Das sind keine Vagabunden, klar? Und das kannst du auch ruhig den Leuten sagen, die sich darüber schon ihr Maul zerreißen.“

Bei ihrer lauten Stimme wurde sein Blick weicher. ,,Verzeih. Ich mache mir halt Sorgen um dich. Eine Frau wie du sollte nicht alleine dort draußen leben.“

Sie seufzte und stieß gleichzeitig dabei ein wenig Ärger mit dem Atemzug aus. ,,Ach, Gonzo, das ist lieb von dir, aber das brauchst du wirklich nicht zu tun. Ich kann ganz gut auf mich selber aufpassen.“

,,Wie könnte ich das vergessen...“ Bei der Erinnerung strich er sich über die Wange, lächelte, doch sein Lächeln erreichte seine Augen nicht. ,,Also ist es war, das mit den Zwergen?“

Soll ich ihm von Thorin erzählen? Dass sein überalles verhasster Rivale in meinem Haus ist? Nein, Himmel! Er würde vor Wut platzen. Herausfordernd schürzte sie die Lippen. ,,Vielleicht.“

Amüsiert schüttelte er den Kopf. Doch im nächsten Moment wurden seine braunen Augen dunkel. ,,Du hattest schon immer eine Schwäche für Zwerge“, sagte er leise, sein Missfallen daran laut und deutlich zu verstehen.

Als er Thorin ansprach, verspürte Marie plötzlich wieder den Schmerz des Verlassens, gleichzeitig jedoch ein Kribbeln in sich, welches ihr seltsam vertraut vorkam, ihren Körper durchströmte. Sie stutzte, als sie daran dachte, dass sie nebeneinander aufgewacht waren, dass das Erste, was sie heute Morgen sah, sein Gesicht gewesen war.

Ich hab ihn wiedergefunden. Nach all der Zeit. In diese Gewissheit eingehüllt fühlte es sich an, als hätte sie jemand auf Wolken ausgesetzt…nur um Sekunden später im feien Fall dem Erdboden zu zurasen. Doch es ist nicht wie damals. Und es wird auch nie wieder so sein...

Auf einmal merkte sie eine Hand an ihrer Wange. ,,Marie, alles in Ordnung? Du schaust so traurig.“

,,Nein, nichts.“ Sie sah auf und konnte in seinem Blick seine lüsterne Begierde sehen. Diese drängende Begierde nach ihr. ,,Nicht.“ Doch er achtete nicht darauf, streichelte ihr fortwährend über die Wange, bis sie sich seiner Berührung entzog. ,,Gonzo, was soll das? Du kennst meine Antwort darauf.“

Er presste die Lippen aufeinander, ballte die Hand zur Faust und nahm sie zurück. ,,Ja, leider. Doch ich weiß, dass sie sich eines Tages ändern wird.“

,,Wird sie nicht. Bitte, akzeptiere das endlich. Schönen Tag noch.“ Mit schweren Armen wandte sie sich von ihm ab und setzte ihren Weg fort. Noch lange konnte sie seinen Blick in ihrem Rücken spüren.

 

~

 

Die Tür knarzte, als jemand den Kopf in den Raum steckte. Sie hatten lange durchgehalten. Er hatte sich schon gefragt, wann sie jemand vorschicken würden.

Thorin saß auf Kilis Bett und strich unbeirrt mit dem Lappen über sein schrecklich blasses Gesicht. Wartend auf sein Erwachen.

Seit dem vorherigen Tag war er seinen Neffen nicht von der Seite gewichen. Es war gespenstisch, sie so ohnmächtig daliegen zu sehen. Er wollte bleiben, bis sie wachten, wollte wenigstens jetzt da sein, wenn sie ihn brauchten.

Bedächtig trat der Auserwählte näher. ,,Komm mit zu uns.“ Bofur legte eine Hand auf die Schulter seines Anführers, doch Thorin drehte den Kopf zur anderen Seite. ,,Marie hat vorhin Honigmilch gemacht. Schmeckt echt gut. Ist sogar noch etwas übrig.“ Er machte eine Pause, wohl um die Reaktion von ihm zu sehen. ,,Komm schon, nur kurz“, setzte er seine Überredung weiter. ,,Ein wenig Ablenkung wird dir gut tun. Du wirst sehen.“

 

Sein Lager lag am Rand der anderen, selbst am Rand des Kamins, vor und um den sie ihre Sachen ausgebreitet hatten, um seine Wärme zu nutzen. Deshalb war er für einen Augenblick lang unbeobachtet. Niemand sah, dass ein goldener Ring sich zwischen seinen Fingern drehte.

Er hatte fast vergessen, dass dieser noch da war, immer noch in seiner Tasche. Als er ihn dort mit dem Finger streifte, hatte die Berührung ihn zusammenfahren lassen. Dieser Ring war kein gewöhnlicher. Bei weitem nicht.

Bilbo hatte herausgefunden, dass er seinen Träger unsichtbar werden lässt und als er ihn nun betrachtete, spürte er es plötzlich wieder. Zuerst war es bloß ein Rauschen in seinen Ohren, dann griff es auf seinen Kopf über. Ein fernes, unverständliches Geflüster in einer anderen Sprache drang zu ihm. Alt und voller Geheimnisse.

Der Hobbit starrte auf den Ring, spürte eine Art Kraft mit seinem bloßen Anblick, ganz so wie dieses reißende Gefühl, welches er in den Stollen der Bilwisse im Nebelgebirge verspürte hatte, als er bei der Flucht vor seinem Vorbesitzer durch einen merkwürdigen Zufall auf seinen Finger rutschte. Doch gerade, als die Stimme an Distanz verlor, erschien Bofur zusammen mit Thorin im Raum. Reflexartig schloss er die Faust. Die beiden setzten sich zu den beisammensitzenden Männern und Bilbo starrte auf seine Hand, als könnte er durch seine Finger hindurch blicken. Eilig griff er zu seinem Rucksack, fuhr mit der Faust bis ganz nach unten und warf förmlich den Ring von seiner Haut. Der Sog erstarb sofort. Er atmete tief durch, versuchte sich von dem unangenehmen Gefühl zu lösen, das übrig geblieben war. Dort würde man ihn nicht finden.

 

Damit eins klar war: diese Quasselstrippe von Zwerg hatte ihn nur hierher gekriegt, damit er aufhörte, auf ihn einzureden. Thorin wusste selbst, dass das Warten irrsinnig war, wenn sie sich nur eine Tür weiter von ihm befanden. Es waren die Selbstvorwürfe, die ihn am Bett ausharren gelassen hatten, die Sorgen, um sie und um ihre ganze Mission. Solange es den beiden so schlecht ging, saßen sie hier fest und die Aussicht auf ihr Ziel rückte damit stündlich in immer weitere Ferne.

Als er sich zu den anderen ans Feuer setzte, bekam er einen Krug gereicht. ,,Wo ist Marie?“

,,Im Dorf“, antwortete Dwalin. ,,Wie geht’s dir? Du sahst echt nicht gut aus, als du ohnmächtig auf der Bank gelegen hast. Dich hat’s ja wirklich umgehauen.“

,,War alles ein wenig viel gestern.“

,,Was ist mit deiner Schulter?“

,,Geht“, murmelte er und nahm einen Schluck. Die Milch war wirklich gut, frisch, der Geschmack vom Honig süß und nicht allzu stark. ,,Was ist mit euren Verletzungen? Wie schwer sind sie?“

,,Noris Arm hat einen Katzer abbekommen und mich hat se‘ wieder eingerenkt“, brummte Dwalin mit einer Kopfbewegung zu seinem Arm, der in einer Schlaufe lag.

,,Sie hat sich wirklich gut um uns gekümmert“, meinte Dori.

Dwalin lehnte sich zu Thorin, raunte ihm ans Ohr: ,,Besonders um dich…“, und bekam von diesem einen funkelnden Blick.

Mit ruckartigen Bewegungen sah Bifur durch die Runde und tippte auf seine kleine Axt, die ihm seitlich zwischen seinen schwarz-grauen Haaren fest in der Stirn steckte. Es war in Moria passiert. Ein Ork hatte ihm die Axt in den Schädel geschlagen. Alle dachten, er wäre tot, doch Bifur überlebte wie durch ein Wunder. Seitdem konnte er nur noch in Khuzdul, die Sprache ihres Volkes, sprechen. Er redet nicht besonders viel und benahm sich manchmal schon sehr wunderlich.

,,Baruk nafuz“, sagte er mit seiner rauen, nuschligen Stimme, woraufhin die Zwerge lachen mussten und Bilbo unschlüssig in die Runde schauen ließen.

Lachend wandte sich Bofur Thorin zu, der ähnlich dreinschaute. ,,Als Marie Bifur gesehen hat, dachten wir alle, sie kippt uns aus den Schuhen. Dann wurde sie total panisch, hat ihn angeschrien, er solle sich hinlegen. Es hat eine ganze Zeit gedauert, bis wir sie beruhigen und ihr es erklären konnten. Du hättest ihr Gesicht sehen sollen!“ Er versuchte ihren geschockten Blick mit all seinem theatralischen Können nachzuahmen und haute sich vor Lachen aufs Knie.

Das allgemeine Gelächter verebbte gezwungenermaßen, als sie bemerkten, dass Thorin nur ausdruckslos in seinen Krug blickte. Nach einer kleinen Weile, die nur mit bedrücktem Schweigen gefüllt wurde, seufzte Balin schwer. ,,Nun ja, wir können nur von Glück reden, dass Bilbo uns rechtzeitig geweckt hat. Es wäre sonst weitaus schlimmer ausgegangen - für uns alle.“ Murmelnd mussten ihm die Männer Zustimmung geben.

,,Es waren keine Wargreiter von Azog“, überlegte Gloin laut, und fuhr seinen roten Bart nach, der an den Wangen in kurze Stummel-Zöpfe gebändigt war. Zwei gekreuzte Narben waren auf seiner Stirn zu erkennen.

,,Eine kleine Gruppe. Könnte ein Spähertrupp gewesen sein“, murmelte Nori.

,,Und was sollten sie, deiner Meinung nach, ausspähen?“, fragte Dori.

Sein Bruder bekam es natürlich in den falschen Hals. ,,Ach, jetzt, wo du’s sagst! Ich hab ganz vergessen, sie danach zu fragen.“

Dori schnaufte nur und grummelte Unverständliches.

,,Wo warst du eigentlich?“, fragte Dwalin dann an Thorin gewandt. ,,Als wir aufwachten, war dein Lager leer.“

,,Im Wald.“ Er fuhr sich durch den Bart und über den Nacken, der, wie seine restlichen Gliedmaßen, steif von der unbequemen Nacht war. ,,Ich konnte nicht schlafen, hatte mir gedacht, ich versuche etwas zum Frühstück oder damit wir unser Proviant aufstocken können zu jagen. Aber statt einem Hirsch fand ich Marie.“

,,Du bist ihr im Wald begegnet?“

Er nickte und rief sich die Erinnerungen daran zurück. ,,Sie hatte Kräuter gesammelt. Wir konnten kurz miteinander sprechen, ehe wir die Orks hörten und ich zurück bin. Deshalb wusste ich auch, wo sie wohnt. Ich kenne ihre Eltern und wusste, dass sie uns helfen kann.“

,,Sie hat uns erzählt, dass ihre Eltern tot sind“, erzählte Ori mit gedämpfter Stimme.

Schweigend blickte Thorin wieder in seinen Krug hinein, als ihm bewusst wurde, wie wenig er doch über ihr neues Leben wusste. Im Grunde genommen waren sie Fremde.

Nori zog die Nase kraus. ,,Warum sammelt man denn nachts Kräuter?“

Und Oin räusperte sich. ,,Bestimmte Pflanzen entfalten nur ihre gesamte Wirkung, wenn sie bei Dunkelheit gepflückt werden“, erklärte der alte Zwerg.

,,Jaja, hab schon verstanden“, bremste Nori ihn desinteressiert.

„Wieder andere wirken besonders, wenn sie bei Vollmond und wieder andere…“

,,Ja-ha! Hab schon ver-stan-den!“, rief er lauter, denn bei Oin war es so, dass man manchmal auch etwas lauter reden musste, wenn er seinen Trichter zur Hand hatte. Funktionierte dieses Ding überhaupt?

,,Schon irgendwie komisch“, meinte Bilbo daraufhin halblaut.

,,Hm?“

,,Na, wäre Thorin nicht in den Wald gegangen und hätte Marie keine Kräuter gepflückt, dann wären sie sich wohlmöglich gar nicht begegnet. Irgendwie… schicksalshaft.“

Thorin sah den Hobbit an. Dann ist es wohl auch Schicksal gewesen, dass meine Neffen nun um ihr Leben kämpfen? Das Schicksal war noch nie auf meiner Seite. Hätte ich das Lager nicht verlassen, hätte ich es vielleicht verhindern können. Ohne dies jedoch zu erwidern, wendete er den Blick ab, kippte seinen Krug und nahm noch einen Schluck. Und auf einmal schmeckte der Honig bitter.

 

~

 

Das Erste, was Fili sah, waren die Querbalken über ihm. Sein Körper fühlte sich unsagbar schwer an, lag auf etwas Weichem. Sein Rücken war warm, seine Füße kalt. Er tastete über ein raues Laken, über seine lange Unterhose, die er noch trug. Wenn er mit den Zehen wackelte, konnte er an seinen Füßen seine Wollsocken spüren. Arme, Beine, alles noch dran.

Er war in einem Haus, lag in einem Bett, die Decke ganz hoch gezogen. So weit, so gut.

Dann überflogen seine Augen die Umgebung. Vor dem Bettende war eine geschlossene Tür, links neben ihm direkt die Wand. Ein schmaler Tisch stand neben der Tür, worauf ein Haufen Klamotten lag, unter diesem Waffen; einige Messer und Dolche, zwei Kurzschwerter und einen Bogen mit Köcher, daneben standen Stiefel. Er erkannte seine, mit den kleinen Wurf-Winkel-Äxten zwischen den Riemen an der Außenseite. Doch es waren zwei Paare. Auch zwei Rucksäcke standen dort.

Fili schloss die Augen wieder, versuchte alles Neue mit seinen letzten Erinnerungen zu verarbeiten, die erst verschwommen, dann deutlicher zu ihm zurückkehrten. Er atmete tief durch und zuckte vor Schmerz zusammen. Etwas drückte sich gegen seine Rippen, verursachte in seiner rechten Seite einen ziehenden Schmerz. Das Gesicht verzogen stieß er schnell den Atem wieder aus und legte eine Hand darüber, in der schwachen Hoffnung, es würde helfen, und bemerkte einen breiten Verband, der straff um seinen Leib gewickelt worden war. Offenbar war er doch nicht so glimpflich davongekommen.

Diese blonde, rundliche Menschenfrau mit diesem verfluchten, brennenden Zeug. Zum Glück war er ohnmächtig geworden, noch ehe sie ihn mit dem Operationsbesteck zuleibe rücken konnte. Wer waren die Frauen und wo war er? Bilder des Geschehenen schossen durch seinen Kopf, wie von einem reißenden Fluss erfasst. Zu allem Überfluss bekam er hämmernde Kopfschmerzen.

In seinem rechten Augenwinkel vernahm er eine Bewegung und Fili erblickte seinen Bruder, der in einem zweiten Bett unter einem Fenster lag. In den Sonnenstrahlen schwebte Staub umher, wurde aufgewirbelt, als Kili sich schweißgebadete drehte und keuchte. Die Decken hatte er bereits halb weg gestrampelt, gaben seinen nackten, vor Schweiß glänzenden Oberkörper frei. Um seinen kompletten Bauch und um eine Schulter war sorgfältig ein Verband geschlungen worden.

Fili versuchte, sich aufzusetzen, wusste jedoch nicht wie. Sein ganzer Körper fühlte sich taub und schwer an. Er schaffte es, sich auf den Ellenbogen hochzustemmen, bemerkte dabei an seinem rechten Oberarm einen zweiten Verband.

In seinen Ohren rauschte das Blut. Sein dröhnender Kopf wurde zu schwer und ihm schlecht. Er kniff die Augen zusammen und ließ sich wieder ins Kissen sinken, um Kraft zu schöpfen. Neben ihm war es still geworden. Kili hatte eine Hand ausgesteckt, so als wollte er irgendetwas berühren. Doch seine Finger griffen ins Leere.

,,Kili“, wollte er rufen, doch aus seinem trockenen Hals kam kein einziger Ton. Entschlossen stemmte er sich abermals hoch, biss die Zähne zusammen und schwang erst das eine und dann das andere Bein über die Bettkante. In seiner Wunde begann es zu pochen, als würde ein zweites Herz darin schlagen.

Während er aufstand, zitterten seine Beine und klappten einfach weg. Hart fiel er auf die Knie, wobei es sonderbar rumste. ,,Kili“, keuchte er heiser, kroch zu seinem Bruder und stützte sich auf dessen Bettkasten ab. ,,Hörst du mich?“ Er fasste nach seinem Arm und bekam einen Schreck. Seine Haut glich Glut.

Plötzlich fuhr Kili zusammen, starrte ihn aus wilden Augen an. ,,Vater.“

Mehrere Male blinzelte er, ehe er etwas sagen konnte. ,,Kili, erkennst du mich nicht? Ich bin es. Fili.“ Was war mit ihm los?

Doch seiner Worte ungehört, setzte sich Kili scheinbar mühelos auf. ,,Vater… Sie, eben, da war sie, da. Hast du sie gesehen? Sie ist wieder gekommen“, flüsterte er aufgeregt. Auf seinem Gesicht lag sogar ein Lächeln.

Fili verstand nicht. ,,Wer?“

,,Mutter. Sie ist wieder da. Hast du sie nicht gesehen, Vater?“

,,Kili, was redest du da? Unsere Mutter ist tot. Weißt du das denn nicht mehr?“ Verständnislos, mit glasigen, roten Augen sah sein Bruder ihn an. Die Erkenntnis, dass er ihm Fiebertraum zu ihm sprach, war keinesfalls beruhigender. Fili fasste ihm an die Arme, um ihn irgendwie wieder zu erden, wieder zu sich zurück zu bekommen. ,,Ich bin nicht Karif. Er ist tot, wie auch unsere Mutter. Sie sind tot“, wiederholte er langsam und deutlich, damit sein Bruder ihn verstand, wieder zur Besinnung käme.

Doch Kili entglitten alle Gesichtszüge, als die Worte ihre Wirkung auf ihn taten. Auf einmal schlug er um sich, wollte sich wie von einem Feind von ihm befreien.

,,Kili, ich bin es!“ Er versuchte, ihn festzuhalten, doch Kili stieß ihn mit solch ungeahnter Kraft nach hinten, dass er rückwärts zu Boden fiel und es ihm vor Schmerz den Atem verschlug.

Keinen Moment später stürmte Thorin gefolgte von Dwalin und Oin ins Zimmer. ,,Fili, was ist passiert?“ Schmerzverzerrt lag dieser auf den Dielenboden, unfähig zu antworten. Sofort half Dwalin ihm hoch. Währenddessen warf Kili seinen Kopf im Wahn hin und her, bäumte sich im Traum auf. Thorin setzte sich zu ihm, hielt ihn runter gedrückt. ,,Kili!“

,,Lass mich!“, schrei er, wandte sich unter ihm.

,,Kili, beruhige dich. Sieh mich an.“

,,Nein! Sie will mich holen!“, schrie er noch lauter. ,,Mutter!“

Thorin fasste ihn, richtete ihn auf und umarmte mit einem Arm feste seinen nassen Rücken, legte die andere Hand an seinen Hinterkopf und presste ihn an sich. Mit aller Kraft wollte sich Kili befreien, doch Thorin hielt ihn fest.

,,Warum lasst ihr mich nicht zu ihr?“, schluchzte er fast schon verzweifelt. ,,Ich will doch nur… Sie ist da.“

,,Kili, beruhige dich. Ich bin hier“, sprach sein Onkel auf ihn ein und merkte, wie mehr und mehr die Gegenwehrt weniger wurde. Schließlich fielen seine Arme erschlafft nach unten. Sein ganzer Körper schien leblos an seiner Schulter zu liegen. Allein die schweren Atemgeräusche bewiesen das Gegenteil. Langsam lockerte er seinen Griff, legte seinen Neffen behutsam zurück in das schweißnasse Kissen.

Oin hob die Decken vom Boden auf und legte sie wieder über ihn.

,,Lasst uns allein.“

Der Grauhaarige nickte und schloss hinter Dwalin, sich und den anderen die Tür, die machtlos in ihr gestanden hatten.

Thorin nahm den Lappen aus der Schüssel vom Tischchen und wrang ihn etwas aus. Als er ihn auflegte, war Kilis Stirn glühend heiß. Man hätte denken können, er war eben um sein Leben gerannt, so keuchte er. Seine Lippen fingen an, sich zu bewegen. ,,Mutter hat uns allein gelassen. Sie will uns holen…wenn alles…vorbei ist.“

Thorin musste die Augen schließen. ,,Es ist vorbei.“ Kili stöhnte. ,,Sch. Still. Es ist vorbei. Ich bin jetzt für euch da.“ Daraufhin drehte sich sein Kopf zur Seite und lag ruhig. Liebevoll legte sein Onkel die Decken zurecht, strich über den wolligen Stoff, bevor er sich erhob und zu Fili umdrehte, der auf seinem Bett saß und mit leeren Augen zu ihnen gestarrt hatte, nun den Blick zu ihm hob.

,,Er hat mich nicht erkannt.“ Seine Stimme war ungewöhnlich leise. Langsam setzte Thorin sich neben ihn. ,,Er hat gedacht, ich wäre Vater.“

,,Er hat hohes Fieber. Er kann dafür nichts.“ Für einen Moment schwiegen beide, ein jeder in seine Gedanken vertieft. ,,Du siehst deinem Vater sehr ähnlich“, sagte Thorin dann. ,,Nicht nur vom Äußeren, auch vom Inneren. Genauso stark.“ Er legte die Hand in Filis Genick. Der blonde Zwerg sah ihn an und sie pressten die Stirn gegeneinander. Ein Ritual ihres Volkes. Onkel und Neffe schlossen die Augen.

,,Ich bin froh, dass du wach bist“, flüsterte Thorin, als sie sich lösten. ,,Wie geht es dir?“

,,Meine Wunde schmerzt.“

,,Wenn Marie zurück ist, wird sie dir etwas geben, was hilft.“

,,Marie? Die Marie aus Dale?“

Thorin nickte vage. ,,Sie hat euch das Leben gerettet.“

,,Dann…Heißt dass, dass er wieder gesund wird?“, fragte er leise, schaute seinem Onkel in die grauen Augen.

Doch Thorin wusste es selbst nicht. Ihn plagten dieselben dunklen Befürchtungen. Und so wusste Fili durch sein Schweigen, wie ernst es um seinen Bruder gestellt war.

 

 

 

9

 

 

Sie wäre beinahe mit Thorin zusammengestoßen, der aus dem Nebenzimmer trat. ,,Die anderen sagten mir, dass er wach sei. Wie geht es ihm?“

,,Soweit gut“, antwortete er und ließ den Blick kurz über die anwesenden Plappermäuler schweifen, die ihnen an den Lippen klebten. Erleichterung breitete sich bei seiner Nachricht aus. ,,Er sagt, er habe Schmerzen.“

,,Ich kann ihm etwas dagegen anreichern. Stimmte es, dass Kili geträumt hat?“, fügte sie beunruhigt hinzu und sah ihm an, dass es auch ihn beschäftigte. Er nickte.

,,Hast du auch ein Mittel für ihn? Das Fieber setzt ihm zu.“

,,Ich werde tun, was ich machen kann.“ Nur widerstrebend konnte Marie den aufkommenden Drang unterdrücken, ihm die Hand auf die Schulter zu legen, um seinen Sorgen entgegenzuwirken, die sie in seinen Augen lesen konnte. Abermals spürte sie die Mauer, die sich über die Jahre zwischen ihnen aufgebaut hatte.

Indes entdeckte Thorin die Kisten Gemüse auf dem Boden hinter ihr und kommandierte augenblicklich: ,,Bombur, Dori, Ori; wascht das für sie und helft ihr beim Schneiden.“

Sichtlich verwundert über seine Anweisung sahen die Männer einander an, taten jedoch dann wie befohlen.

,,Danke, aber das…“, wollte Marie sagen, doch schon klemmte sich Bombur mühelos die beiden Kisten unter die Arme und Dori nahm die Wanne, die unter der Arbeitsplatte stand, mit hinaus, in der sie die Rüben und Kartoffeln waschen wollten.

,,Das ist schon in Ordnung, Marie“, ertönte eine helle Stimme neben ihr. Sie drehte sich um und schaute auf Ori hinab. Ein- zwei geflochtene Zöpfe schauten zwischen seinen braunen Haaren hervor. Man hätte denken können, dass ihm jemand einen Topf auf den Kopf gesetzt und dann die überschüssigen Haare abgeschnitten hätte.

,,Wir können dir ruhig helfen, wenn du das schon für uns gekauft hast“, fuhr der junge Zwerg mit dem spärlichen Kinnbart fort, ehe Dori ihn an seinem Schal packte und mit sich hinaus zog.

Lächelnd über die netten Worte des kleinen Zwerges, sah sie ihnen nach. Als sie jedoch zu Thorin blickte, der sich in der Zwischenzeit von ihr abgewandt hatte, verschwand ihr Lächeln. Gerade hob er sein Oberteil, das mit rautenförmigen Platten aus Metall gepanzert war und immer noch neben seinem Lager lag, auf und zog es sich an. Warum hatte er diese Frauenarbeit seinen Männern befohlen? Wollte er ihr helfen? Sich dadurch erkenntlich zeigen? Marie konnte es nur vermuten.

Sie nahm eine Schale und zwei Becher aus dem Geschirr- und einige Zutaten aus dem Kräuterschrank, um die Tränke zuzubereiten. Der Versuchung, öfters den Kopf nach links zu drehen, um dem König zuzuschauen, konnte sie dennoch nicht wiederstehen, der nun auch seine Armschützer aufhob.

Heimlich sah sie ihm zu, wie er sie sich mit kühler Würde anlegte. Er streckte den Arm aus, legte mit dem anderen das harte, braune Leder, was an der Außenseite mit einem Muster verziert war, darum, dann den Unterarm auf das angewinkelte Knie und zurrte die Schnallen auf der Innenseite mit der anderen Hand fest.

Thorin war nicht mehr der Prinz von einst. Er war nun König und an diesen Gedanken musste sie sich erst noch Gewöhnen. Nachdenklich betrachtete sie den Mann, der nicht mehr der war, den sie kennengelernt hatte. Zeit veränderte jeden.

Wenn ich nur könnte, würde ich dir die Last von den Schultern nehmen, sprach sie im Stillen zu ihm und wandte sich endgültig ab.

 

~

 

,,Hier. Du musst etwas essen.“

Mit gequälter Miene schaute Fili auf den Teller vor seiner Nase. ,,Ich bekomme wirklich nichts runter.“

Seufzend stellte Marie ihn beiseite. ,,Aber das hier.“

Er nahm den Becher entgegen und warf skeptisch einen Blick auf die grüne Brühe. ,,Was ist das?“

,,Sauerampfer, viel Mohnsamen, Wurzeln von der Feldstrunke, Gründiestelsaft, viel Ammenkraut…“

,,Wenn es so schmeckt, wie es sich anhört…“

,,Es lindert deine Schmerzen und es wird getrunken - und damit meine ich alles.“

Er roch in den Becher hinein, von dem ein übler Gestank aufstieg, und verzog angewidert das Gesicht, während Marie ihm den Rücken zugekehrt hatte.

Sie setzte sich zu Kili aufs Bett, stützte seinen Kopf und legte den zweiten Becher an seine Lippen, flößte ihm vorsichtig den Trank gegen das Fieber ein. Nach jedem winzigen Schluck setzte sie wieder ab, damit er sich nicht verschluckte. Dabei betrachtete sie den jungen Zwerg. Er besaß noch keinen wirklichen Bart, sondern nur dunkle Stoppeln, die sich von seiner blassen Haut abhoben. Er und sein Bruder hatten keine große Ähnlichkeit. Fili hatte eine viel gröbere Nase als Kili. Dessen Haare waren glatt, mit einem kräftigen braun, Filis dagegen, die ein paar geflochtene Zöpfe zierten, blond und gewellt. Er besaß schon einen kurzen Vollbart, den er wohl auf dieser Länge hielt, denn sein Bart auf der Oberlippe war in kleine, geflochtene Zöpfe eingeteilt, die an seinen Mundwinkeln hinab hingen und deren Enden mit verzierten Metallstiften verschlossen wurden.

Als sie ihn betrachtete, musste sie an Dis denken und an das, was ihr Thorin erzählt hatte. Zwei Prinzen, geprägt vom Schicksal ihres Volkes. Wehmütig ließ sie ihre Fingerrücken über seine Wange streifen. Unterschiedlich und doch so gleich.

Den leeren Becher stellte sie neben die Wasserschüssel, erhob sich und sah zu Fili, der immer noch äußert widerstrebend seine Medizin beäugte. ,,Hinunter damit“, wies sie tadelnd an. Bei diesen Dingen kannte sie kein Erbarmen, denn sie wusste, dass nur so es helfen würde. Und so fügte er sich und wirkte es runter. Er musste sich wahrlich zusammenreißen, damit er es nicht wieder ausspuckte. Marie verdrehte die Augen.

Als er es endlich unten hatte, rumorte es in seinem Bauch. Man sah eine Bewegung seines Brustkorbes und schon musste er aufstoßen.

,,Ich will mir noch deine Wunden anschauen“, erklärte sie, kniete sich vor ihm hin und fing an, seinen Verband abzuwickeln, während er auf dem Bett sitzen blieb. Fili hatte nicht die breitesten Schultern, doch auch sein Körper war kräftig. Braune Haare hatte er auf den muskulösen Armen und der Brust. Ein Streifen davon verlief über seinen Bauch.

Behutsam tastete sie den ausgebrannten Schnitt an seiner Taille ab, um den die Haut rot-blau unterlaufen war. ,,Tut es weh?“

,,Besonders wenn ich tief einatme.“

,,Das ist normal an der Stelle. Die Medizin wird helfen.“ Danach begutachtete sie seinen Arm, wo sie die Wunde genäht hatte. ,,Beides sieht gut aus“, meinte sie erleichtert. Nicht selten eiterten Wunden von Orkklingen. Dann nahm sie das ebenfalls mitgebrachte Schälchen, gefüllt mit einer gelben Salbe, die sie über die Verletzung am Bauch verteilte. ,,Die hab ich deinem Bruder auch gegeben. Sie ist aus Sonnengerben und Kornblumen gemacht. Es unterstütz die Wundheilung und lindert die größten Schmerzen.“

Fili hielt still und verfolgte ihre Finger, wie sie die dicke Salbe über seine Haut strichen. Er, sein Bruder und Dwalin waren die einzigen, die von ihr und Thorin wussten, dass sein Onkel einst eine Beziehung zu einem Menschen gehabt hatte. Nur wenige Mal hatte er von ihr erzählt, weswegen er über sie Bescheid wusste. Weil Fili wusste, wie sehr es ihn traurig stimmte, wollte er sie nicht darauf ansprechen.

Marie wischte sich die Finger an ihrer Schürze ab, wickelte die Verbände wieder sorgfältig um und ging danach zum Tisch, auf dem die Klamotten der beiden lagen. ,,Welches ist dein Hemd?“

,,Das hellere braune.“ Sie reichte es ihm. Vorsichtig, um jegliche schmerzhafte Bewegung zu vermeiden, zog er sich an. Er entdeckte den genähten Riss an seiner Seite und sah, wie enorm er doch war. Um diesen war der Stoff von seinem Blut großflächig dunkel gefärbt.

,,Ich hab euch eure Kleider genäht.“

,,Hm? –äh, ja, danke.“

,,Du solltest versuchen, jetzt zu schlafen.“

Fili dachte erst gar nicht daran, sich zu sträuben. Es ging ihm immer noch hundeelend. Er legte sich hin, warf sich die Decke über und sah zu dem Haarschopf hinüber, der als einziges von seinem Bruder unter den Decken und zwischen dem dicken Kissen zu sehen war. ,,Wie geht es ihm?“

,,Die erste Nacht ist immer entscheidend. Sein Körper ist sehr geschwächt durch das Fieber. Aber der Schaden, den der Pfeil angerichtet hat, hält sich in Grenzen. Wenn das Fieber vorbei ist, ist er auf einem guten Weg.“

Neben ihnen drehte Kili seinen Kopf, murmelte Unverständliches.

,,Es ist schlimm, ihn so zu sehen“, sagte Fili leise, ,,wenn er im Traum spricht und schreit…von unsere Mutter träumt. Unsere Eltern sind schon einige Jahre nicht mehr am Leben“, fügte er hinzu, als müsste er es in irgendeiner Weise erklären.

,,Ich weiß.“ Mitfühlend setzte sie sich zu ihm. ,,Thorin hat mir alles erzählt.“

,,Er hat dir davon erzählt?“ Fili schien darüber ziemlich überrascht zu sein. Sie nickte. ,,Er…er redet darüber eigentlich nicht.“

Sie wollte etwas sagen, doch entschied sich, zu schweigen.

,,Wenn wir als Kinder darum baten, erzählte er uns manchmal alte Geschichten“, fuhr er fort und Marie konnte ein schwaches Lächeln erkennen. ,,Am liebsten hörten wir die Geschichte von unseren Eltern, wie sie sich kennenlernten.“

,,Die Prinzessin und der Soldat.“

Daraufhin wurde sein Lächeln noch stärker. ,,Du kennst die Geschichte?“

Nun lächelte auch Marie, als sie sah, dass seine grün-grauen Augen strahlten. Ein Grau, welches auch Thorins Augen besaßen. ,,Ja, Teile davon. Es ist eine wirklich schöne Geschichte. Damals, ich noch in Dale gewohnt habe, waren ich und Thorin Freunde. Er hat immer von euch erzählt, sprach nur in Stolz von euch.“

Fili schmunzelte über ihre kleine Lüge und verschränkte einen Arm hinter dem Kopf. Dunkle Achselhaare erschienen am Rand der Bettdecke. ,,Was hat er denn so über uns erzählt?“

,,Angeblich wolltest du keinen Bruder, sondern ein Pony haben.“

Lachend zog er die Stirn kraus. ,,Diese alte Kamelle hat er dir erzählt?“

,,Hm. Aber dann sollst du der stolzeste große Bruder in ganz Erebor gewesen sein. Wenn du dein kleines Brüderchen einmal im Arm gehabt hast, wolltest du ihn gar nicht mehr her geben.“

,,Vom kleinen Brüderchen kann man heute nicht mehr sprechen. Kili ist sogar etwas größer als ich“, meinte er, woraufhin beide lachen mussten, so leise, dass sie Kili nicht störten. ,,Als wir noch klein waren, hat unser Onkel uns vorm Einschlafen manchmal von den Legenden aus alter Zeit oder von unseren Eltern erzählt. Ich kann mich noch ein wenig an sie erinnern, aber Kili…er hat fast keine Erinnerungen an unsere Mutter, an unseren Vater noch weniger. Er war einfach noch zu klein gewesen.“ Sein Blick richtete sich an die Zimmerdecke und verharrte dort. ,,Eine der wenigen davon ist das letzte Mal, wo wir mit ihr sprachen. Davon hat er auch vorhin geträumt...“

Seine Stimme wurde leise und voller Ehrfurcht. Genau wie bei Thorin ließ Marie nun auch ihn in Ruhe sprechen und hörte schweigend zu.

,,Hätten wir uns nicht in dieser Truhe versteckt, dann wären wir jetzt auch tot.“ Er holte neuen Atem. „Sie sagte uns, wir sollen da hinein klettern, keinen Mucks machen, warten bis sie uns holen würde. Sie sagte, dass sie uns liebe und schloss den Deckel. Wir warteten, doch niemand holte uns.“

Die Vorstellung von einem kleinen Jungen, der mit seinem Brüderchen in einer dunklen, engen Truhe sitzt und sich gegenseitig umklammern, die Kinderaugen weit aufgerissen, während unheimliche Geräusche zu ihren Ohren drangen, verursachte einen eiskalten Schauer auf ihrem Rücken.

,,Als endlich über unseren Köpfen der Deckel aufgerissen wurde, schrien wir vor Schreck los und schauten in Dwalins vor Kummer gezeichnete Gesicht. Seine rechte Gesichtshälfte war blutüberströmt. Im Zelt legte er uns die Hände vor die Augen, trug uns fort. Durch das verwüstete Lager. Er brachte uns zu unserem Onkel, der uns sofort aus seinen Armen nahm und sich mit uns zu Boden sinken ließ. Das war das erste und einzige Mal, dass ich ihn weinen gesehen habe.“

Maries Herz krampfte sich zusammen. Sie musste an gestern denken, als Thorin sich an sie gepresst hatte, still seine Ängste um seine Neffen und seinen Gefühlen freien Lauf gelassen hatte… „Daran kannst du dich erinnern?“

,,Nicht an alles, aber an manches. Banale Dinge. Dass der Boden matschig war zum Beispiel. Es sind zwar nur Bruchstücke, aber sie schließen ineinander. Manche Dinge haben sich auch tief in meinem Kopf festgesetzt, die ich auch nie wieder vergessen werde.“

Marie wusste, was er meinte. ,,Wisst ihr, was mit euren Eltern geschehen ist?“

,,Als wir als genug waren, erzählte uns Thorin, wie sie starben. Er meinte, wir hätten ein Recht darauf.“

,,War er euch ein guter Onkel?“

,,Ja. Er hat alles für uns getan, hat uns großgezogen, als wären wir seine eigenen Kinder. Er ist für uns wie ein Vater“, gestand er schulterzuckend. ,,Und Dwalin wie ein Onkel. Wäre er nicht gewesen, wären wir heute wahrscheinlich nicht hier. Schon gar nicht Thorin.“

,,Wie meinst du das?“

,,Nach der Rückkehr in die Blauen Berge hat er angefangen zu trinken.“

,,Er hat getrunken?“ Die Worte blieben ihr fast in der Kehle stecken.

Fili nickte. ,,War es ein schlechter Tag, dann nicht allzu knapp. Es vergingen manche Tage, an denen wir nur bei Ninak und Dwalin oder bei Wilar, Balins Frau, waren. Es war keine schöne Zeit. Es ging ihm wirklich schlecht. Durch den Schnaps hatte er versucht, die Trauer zu verdrängen.“

Bei der Vorstellung, Thorin volltrunken zu sehen, drehte sich Marie der Magen um.

Die darauffolgende Zeit wurde für mich trostlos und unerträglich. Wie lange dieses Kapitel meines Lebens andauerte, weiß ich nicht mehr. Dwalin riss mich schließlich aus diesem Loch heraus… Abermals lief ihr ein eiskalter Schauer über die Haut. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf, als Reaktion auf die Gänsehaut. Sie wurde schon zu Familien ins Dorf gerufen, bei denen betrunkene Männer ihre Frauen oder Kinder geschlagen hatten. Sie musste an Kotter, den hitzblütigen Metzger, denken…

Wenn nun auch er… Schnell blinzelte sie, um die Gedanken zu verdrängen. Sich dies bei Fili oder Kili vorzustellen, war einfach grausam.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fügte Fili hinzu. ,,Doch trotz allem hat er nie gegen uns die Hand erhoben oder uns schlecht behandelt. Dafür hätte Ninak ihn auch ordentlich zusammengefaltet.“

Unmerklich atmete Marie auf und die düsteren Gedanken verschwanden. ,,Ninak?“

,,Dwalins Frau. Sie hat sich rührend um uns gekümmert, uns auch so manches Mal die Ohren lang gezogen.“ Sein ansteckendes Schmunzeln kehrte zurück. ,,Das ist ganz ihre Art. Zu der Zeit, als es ihm schlecht ging, wurde über ihn geredet. Als sie mitbekam, dass eine Zwergin ihn beleidigte, hat sie ihr eine verpasst. In aller Öffentlichkeit. Und nebenbei ‘ne Prügelei angezettelt…“

Nun konnte Marie auch wieder lachen. Zu gern würde sie mehr über die Zwergin erfahren, die einen Krieger wie Dwalin als Mann hatte und diesem anscheinend in nichts nachstand.

,,Ich hoffe, ich werde sie wiedersehen“, sagte Fili und versuchte, sein Lächeln zu halten, was ihm jedoch nicht gelang.

,,Ganz bestimmt werdet ihr sie wiedersehen“, versprach Marie ihm. ,,Ihr beide.“

Er nickte langsam, doch sein besorgter Gesichtsausdruck blieb.

,,Er kann sich glücklich schätzten, solch einen Bruder wie dich zu haben“, fügte Marie hinzu und ließ ihn ganz verlegen werden. ,,Erzähl mir, wie es mit euch weiterging“, bat sie.

,,Thorin ging mit uns fort aus den Blauen Bergen und wir zogen durchs Land. In den Dörfern und Städten der Menschen hat er hart gearbeitet und uns dennoch in das Kämpfen eingelehrt, uns diese Sprache sprechen und unsere zu lesen und zu schreiben beigebracht.“

,,Das heißt, dass ihr nur Khuzdul lesen und schreiben könnt?“

,,Fast alle Zwerge können sich in der Gemeinen Zunge verständigen. Sie lesen oder zu schreiben die wenigsten.“ Er zuckte mit den Schultern. ,,Warum auch? Das müssen nur die Händler oder Gelehrten.“

,,Ich wollte Oin Rezepte aufschreiben…“

,,Nein, schreib nur. Er kann es lesen.“

,,Oh, gut. Sonst hätte ich es dir oder jemand anderem wohl diktieren müssen. Mein Khuzdul Wortschatz ist mehr als bescheiden. Das meiste hab ich eh vergessen, was mir Thorin einst erzählt hat.“ Gerade als die alten Erinnerungen und der damit einhergehende Schmerz in ihrer Brust aufflammen wollten, schob sie sie weit von sich.

,,Alae?“, sagte auf einmal Fili und holte sie in die Gegenwart zurück.

,,Ähm…“

,,Das heißt so etwas wie ,Hallo‘. Und Mae?“

,,Äh…,ja‘?“

,,Hm. Und Ma?“

Marie musste raten. ,,Nein?“

Doch er hatte sie ertappt. ,,Belan naros?“

Sie zog die Schultern hoch. ,,Tut mir leid…“

,,Du antwortest darauf: Nin nara Marie.“

Sie kombinierte und auf einmal fiel ihr das kleine Wörtchen und ein. Na wenigstens etwas. Mit diesem schwachen Trost behalf sie sich in ihrem lächerlichen Wortschatz, um nicht ganz unfähig dazustehen. ,,Nin nara Marie. A belan naros?“

,,Nin nara Fili utkhagam Karif. Tan matu selek lanun naman.“ Fragwürdig zog sie die Stirn kraus und er schmunzelte nur noch. ,,Schon gut. Ist nichts Schlimmes gewesen...“

,,Und was bedeutet es?“

,, ,Möge Eure Esse hell brennen.‘ Ein Gruß.“

,,Er hört sich sehr ehrenvoll an.“

,,Das ist es.“

Sie schlug lächelnd die Augen nieder bei dem Kompliment.

,,Ich kam mit dem Schreiben ganz gut klar“, erzählte Fili weiter, ,,dafür war Kili im Rechnen immer besser als ich… Wir haben so einiges angestellt und unsere Kindheit genossen. Dass keiner wusste, dass wir adelig waren, war nur zu unserem Vorteil. So wuchsen wir als ganz normale Kinder auf. Ich weiß noch, als Kili bei unseren menschlichen Spielgefährten herumerzählt hat, wir wären echte Prinzen. Die haben uns nur ausgelacht. Unser Onkel allerdings fand das weniger witzig. Wir haben ihn so manches Mal zur Weißglut gebracht. Ein Glück, dass unsere Eltern das nicht gesehen haben.“

,,Da wäre ich mir nicht so sicher.“ Fragend sah er sie an und Marie erklärte sich. ,,Weißt du… Manche glauben daran, dass die Verstorbenen in den Sternen weiterleben.“

Er senkte das Kinn auf die Brust und zog eine Augenbraue hoch. ,,Sterne?“

Lächelnd zuckte sie mit den Achseln. ,,Meine Mutter hat daran geglaubt. Als ich ein kleines Mädchen war, saßen wir oft an Sommerabende auf unserem Balkon und warteten auf das Erscheinen des ersten Sternes. Als meine Eltern gestorben sind…da hab ich zu ihnen gesprochen. Sterne kann man nicht immer sehen und doch sind sie immer da oben, strahlen ihr Licht auf uns und schauen auf uns herab. Man kann ihnen seine Sorgen erzählen und sie hören zu. Ich bin mir sicher, dass eure Eltern euch sehen, von dort oben auf ihre Söhne schauen und stolz sein werden. Und sie sind hier drin…“ Sie legte eine Hand auf seine Brust. ,,Sie sind immer bei euch, in euren Körpern, in euren Seelen, tief im Herzen eingeschlossen und leben in euren Erinnerungen weiter. Sie werden für alle Zeit ein Teil von euch sein.“ Für einen stillen Moment sah er ihr in die Augen und gab die Berührung durch ihre Worte preis.

,,Es ist so hart“, keuchte auf einmal Kili. Besorgt drehten beide die Köpfe und Marie stand auf. ,,Bitte, gib mir ein Kissen.“

Sie fasste ihm ans Kissen, das von seinem Schweiß schon dunkel gefärbt war. ,,Du hast ein weiches, Kili.“

,,Es ist so heiß…“

Marie nahm den Becher und tauchte ihn in die Schüssel Wasser. Sie setzte sich zu ihm und stützte abermals seinen Kopf. ,,Trink. Du musst viel Trinken.“ Er nahm einen kleinen Schluck, huste jedoch auf und rollte sich zur Seite. Sie stellte den Becher weg und fasste nach ihm, damit er sich nicht zu sehr bewegte. Wieder stöhnte er. Sein Atem war schnell und angestrengt. ,,Wo bist du?…“

,,Kili, alles ist gut. Du träumst nur.“ Beruhigend strich sie ihm über die glühende Stirn. Und Kilis Augen öffneten sich.

,,Mama?“

Im ersten Moment wusste Marie nicht, wie sie reagieren sollte. Doch sein flehender, suchender Blick, mit dem er zu ihr hinauf sah, nahm ihr jegliche Entscheidungen ab. ,,Ja. Ich bin hier, Kili.“ Trotz seiner Verletzung stemmte der junge Mann sich hoch und presste sich an sie. An ihrem Körper rollte er sich zusammen und Marie begann, ihn vorsichtig zu wiegen. Ein Griff an seinen Hals zeigte ihr, dass sein Puls viel zu schnell ging. Sein Geist war auf einer ruhelosen Suche.

Sie überlegte und setzte schließlich den Gedanken fort, der ihr als erster einfiel. Entschlossen schluckte sie und fing dann an, für ihn zu singen:

,,Durin, kubin amrád,

ugmal sallu rahman bejor…“

 

~

 

Die Gefährten im Wohnraum horchten auf. Es war Marie, die da sang.

Am Fenster stand ihr Anführer, blickte auf die Wiese hinterm Haus. Die langen Gräser schwangen im Wind, wurden eine ganze Masse und glichen Wellen eines Ozeans, die vor dem bunten Waldrand auf und nieder gingen. Es war das gleiche Lied, welches ihn im Wald zu ihr geführt hatte.

 

~

 

,,Ku bakan te aznán undu or

Ku ganagh turr ganâd abnul

Ku baraka aznan

ran carckan atha meljor…“

Fili beobachtete Marie, wie sie seinen Bruder im Arm hielt. Sie sprach die Wörter nicht ganz richtig aus, aber er verstand es trotzdem und bemerkte, dass sein Bruder nun flach und ruhig atmete. Geborgen von der Frau, die ihnen das Leben gerettet hatte.

Auch ihn überkam eine Müdigkeit. Ob die scheußliche Medizin zu wirken begann? War es die schöne Stimme oder das bekannte Lied? Oder alles zusammen? Noch während er darüber nachdachte, fielen ihm die Augen zu. Im Halbschlaf sah er anstelle Marie die Person, die ihnen genau dieses Lied manchmal beim Einschlafen vorgesungen hatte. Er hörte das süße Klirren der dünnen Schmuckplättchen in ihrem Haar, hörte das Prasseln des Kaminfeuers durch die angelehnte Tür, das einen schmalen Lichtspalt in sein Zimmer warf, und lauschte den gedämpften Stimmen seiner Eltern im Wohnraum.

 

~

 

,,Durin, kubin amrád

Uzbab Kazad-dûmu“, endete Marie den letzten Vers und schaute auf Kili herab, der in ihren Armen schlief.

Eine Bewegung erhaschte ihr Augenwinkel. Sie drehte den Kopf und sah gerade noch, wie sich der Türspalt schloss. Jemand hatte sie beobachtet.

 

 

 

 

 

10

 

 

Leise schloss sie die Tür hinter sich und blieb noch für einen Moment dort stehen, wo sie war, um durchzuatmen. Immer noch fühlte sie die krankhafte Hitze, die Kilis Körper ausgestrahlt hatte, an sich, den Ausdruck in seinen Augen…

,,Wie geht es ihnen?“, ließ Thorin sie zusammen fahren. Direkt neben ihr lehnte der schwarzhaarige König an der Wand, den Blick durchdringenden auf sie gerichtet.

,,Beide schlafen“, fand Marie ihre Stimme wieder. ,,Fili geht es besser, schon viel besser kann man...“

,,Und Kili?“, schnitt er ihr ins Wort.

Sie schluckte die restlichen Worte herunter. ,,Unverändert.“

Einen Augenblick lang sah er sie noch an, ehe er sich von ihr abwandte, hinüber zum Fenster schritt und nach draußen starrte, ihr den Rücken zugekehrt. Marie wusste nicht, wie sie auf seine Kälte reagieren sollte. Es war so gegensätzlich zu dem aufgeschlossenen Gespräch von eben. Dass Thorin es gewesen war, der sie beobachtet hatte, bezweifelte sie nicht länger und so fragte sie sich, ob sie das Falsche in seinen Augen getan hatte.

Unsicher, wie sie auf diese Stimmungsschwankung reagieren sollte, ging sie zum Esstisch hinüber, an dem Dori, Ori, Bombur und auch Bilbo schon das frisch gewaschene Gemüse schälten und schnitten. Aus der noch offenstehenden Schublade holte sie ein weiteres Messer für sich und nahm sich ebenfalls eine Kartoffel aus der Wanne. ,,Danke, dass ihr das für mich erledigt habt. Das ist nett von euch, aber das hättet ihr wirklich nicht zu tun brauchen.“

„Das hat schon alles seine Richtigkeit“, wehrte Dori mit einem Schmunzeln ab. ,,Ist das für’s Abendessen?“

,,Ja, ich hatte einen Gemüseeintopf geplant, sozusagen für das ausgefallene Mittagessen.“

,,Mit Speckstückchen?“, fragte Bombur, der dickste Zwerg unter ihnen, dessen rote Haare einer beginnender Glatze wichen. Sein Bart hatte die Form einer geflochtenen Schlaufe, die so voluminös war, dass sie bis über seine Brust hing.

,,Auch die.“

,,Oh, wunderbar.“

,,Woher kennst du dieses alte Lied?“, fragte Ori, der Mühe hatte seine Rübe zu zerteilen und dazu beide Hände nahm.

Die Antwort trug einen bitteren Nachgeschmack mit sich. ,,Ich bekam es von Thorin gelehrt.“

,,Worüber handelt es?“, fragte Bilbo ganz unbefangen.

,,Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.“

,,Warum singst du es dann, wenn du nicht weißt, worüber du da sprichst?“

Trotz Feuer im Kamin wurde es plötzlich so frostig im Raum, dass jeden Moment der Schneefall einsetzen könnte. Die Gefährten verharrten bei ihren Tätigkeiten. Keiner richtete den Blick zu der dunklen Silhouette am Fenster. Alle außer Marie.

Sich beschuldigt fühlend, irgendetwas Unbefugtes getan zu haben, warf sie das Messer zurück aufs Holz. Balin schüttelte den Kopf, doch das konnte sie nicht aufhalten. ,,Was ist dein Problem, Thorin?“

,,Ich habe kein ,Problem‘ “, erwiderte er ohne sich umzudrehen. ,,Sag mir einfach, wann sie wieder kräftig sein werden, um die restliche Strecke zu bewältigen.“

,,In ihrem jetzigen Zustand werden sie keine dreißig Meter gehen können! Wenn du sie vorantreibst, wirst du sie umbringen. Ist dir deine Mission so wichtig, dass du die Leben deiner Neffen aufs Spiel setzt?“ Sie hatte den Satz noch nicht beendet, da fuhr er zornerfasst herum und ging auf sie zu.

,,Misch dich nicht in unsere Angelegenheiten ein!“ Erst kurz vor ihr blieb er stehen, doch Marie hielt seinem Zorn stand, verschränkte abwehrend die Arme unter der Brust.

,,Warum? Weil ich nicht zu euch gehöre?“

Jeder hielt den Atem an und Marie keine Antwort von ihm. Irgendwann drehte sich Thorin knurrend ab und Marie hackte verbittert die nächste Kartoffel in zwei. ,,Wie kann man nur so stur sein?“

Das unangenehme Schweigen wurde nur vom Schneiden und Schälen am Tisch belebt. Unauffällig schob sich Bombur ein Stück Gemüse als Nervennahrung in den Mund.

Um die zu kippende Stimmung zu retten, wechselte Balin das Thema. ,,Wir haben vorhin dein Vieh blöken gehört.“

,,So ein Mist, ich muss es noch auf die Wiese treiben. Das hatte ich ganz vergessen.“ Sie legte alles aus der Hand und wollte zur Tür stürmen – nur raus hier – doch Balin stellte sich ihr in den Weg. ,,Ach nein, Mädchen. Das übernehmen wir.“

,,Lieb von euch, aber ihr seid meine Gäste.“

,,Papperlapapp. Wir können nicht die ganze Zeit faul rumsitzen. Du gehst zurück, na los, husch! Dwalin, kümmere du dich bitte darum. Ach, und nimm doch Thorin mit. Ich denke, frische Luft und Sonnenschein täten ganz gut…“, schlug er vor, wobei seine kleinen, dunklen Augen eine deutlich längere Zeit auf ihn ruhten als auf seinen Bruder.

Währenddessen schob sich Bombur noch ein Stück zwischen die Zähne, hielt aber abrupt inne, als er in Doris streng zusammengekniffene Augen sah.

Dwalin wechselte einen Blick mit Thorin, der genötigt wurde, seinen Mantel zu nehmen und ihm nach draußen zu folgen. Auf dem Weg zur Tür warf er Balin eine eindeutige Warnung zu, während er wortlos vorbei ging.

Als Thorin das Feld räumen musste, ertappte sich Marie dabei, wie ein leicht süffisantes Schmunzeln sich auf ihren Lippen ausbreitete. Diese Runde ging an sie.

 

~

 

,,Das ist sie also, deine Marie.“ Dwalin lehnte sich neben ihm an ein altes, schiefes Zaunstück. Bedrohlich ächzte das Holz unter ihrem Gewicht.

,,Sie ist nicht ,meine Marie‘.“

,,War sie aber mal.“

,,Wir haben heute beide unser eigenes Leben.“

Als schien es belanglos zu sein, zuckte Dwalin mit den Achseln. ,,Damals war es mehr als nur Freundschaft…“

,,Was soll das? Worauf willst du hinaus?“

,,Ich sag es doch nur.“

,,Dann lass es und geh mir nicht auf den Sack.“

Zusammen blickten sie auf eine kleine Ziegenschar und zwei Kühe, die friedlich vor ihnen auf der Wiese grasten. Dwalin zupfte den Stoff seiner Armschlaufe zu Recht und fragte so ganz nebenbei: ,,Hast du eigentlich noch Gefühle für sie?“

Thorin drehte die Augen zum Himmel, richtete sie dann funkelnd auf ihn. Er dachte erst gar nicht darin, ihm zu antworten. Stattdessen ließ er ihn stehen, um nicht noch länger diesem Verhör ausgesetzt zu sein, und setzte sich in einiger Entfernung ins hohe Gras, ehe er sich einfach nach hinten sinken ließ.

Er rupfte ein Grashalm, steckte ihn sich in den Mund und hoffte für seinen Freund, dass dieser sein Schweigen akzeptieren würde. Nachdenklich verfolgte Thorin die gelben und grünen Halme, die sich in seinem Blickfeld in den grauen Herbsthimmel streckten. Mehr als Freundschaft…, wiederholte er in Gedanken. Damals. Absolut. Aber genau das ist es: damals. Es ist viel Zeit vergangen, zu viel, um alles geschehen einfach zu vergessen. Nach sechzehn Jahre kann man nicht einfach von vorn anfangen. Wenn man die Hoffnung auf ein Wiedersehen aufgegeben hat und es nun so unerwartet geschehen ist...

Die Gräser knisterten leise im Wind, während er in den Himmel schaute. Wie gut es sich angefühlt hat, aber auch… fremd, anders. Ich dachte, dass, wenn wir uns jemals wiedersehen würden, sie mich nicht sehen will - wozu sie auch allen Grund gehabt hätte. Nun bei ihr zu sein ist natürlich schön, aber warum ist es auch so schwer? Hab ich noch Gefühle für sie? Natürlich. Aber Gefühle so wie damals? Er rief sich das Bild zurück ins Gedächtnis, wie sie eben zusammen mit Kili auf der Decke gesessen und ihm das Lied von Durin vorgesungen hatte.

Ein derber Fluch kam ihm über die Lippen. Er hatte überreagiert. Wie zur Mahnung begann seine frisch vernähte Wunde zu pochen. Ihre harten Worte steckten noch in ihm und kratzten an alten Narben. Sogleich leuchteten ihm jedoch ihre smaragdgrünen Augen entgegen, als wollten sie ihn beschwichtigen und ließen unbeabsichtigt das kribbelnde Gefühl in seinem Körper wieder aufleben. Doch ehe er sich auch noch darüber Gedanken machen konnte, riss ihn die raue Stimme von Dwalin heraus: ,,HEY!!“ Wenige Sekunden später donnerten seine Schritte an ihm vorbei.

Thorin fuhr hoch und sah noch seine übrigen Haare, die wie eine Fahne hinter ihm her wehten, während er einer Kuh nacheilte, die sich von der nicht eingezäunten Wiese aus dem Staub machen wollte. Amüsiert schaute er zu, wie er sie am Halfter packte und zurück bringen wollte. Doch das große Tier war stur.

,,Komm schon, du Rindvieh!“ Dwalin zog, doch die Kuh war zäh, stemmte sich muhend gegen den Zwerg und bewegte sich kein Stück. Um sich das Spektakel bequemer anschauen zu können, stütze sich Thorin in sich hinein grinsend auf den Unteramen ab.

,,Wirst du wohl…“ Dwalin nahm den anderen Arm hinzu und Thorin schenkte dem Tier Hochachtung, als es seinem Freund standhielt, der inzwischen wie ein Rohrspatz schimpfte.

,,Aus dir mach ich noch Rouladen!“ In diesem Moment riss die Kuh ihren Kopf herum und lief im Galopp zurück zu ihren Stallgenossen. Vom Ruck am Strick wurde Dwalin durch die Luft geschleudert und landete, sich kugelnd auf der Wiese. Vor Schadenfreude prustete Thorin los.

,,Hör auf zu lachen, du Hund!!“, kam es brüllend aus dem Gras heraus.

 

~

 

Als die Männer wieder ins Haus kamen, köchelte bereits der Eintopf auf dem Herd. ,,Ist was passiert?“ Marie kam ihnen sogleich entgegen, als sie sah, dass Dwalin gebeugt vor Schmerzen ging. Das fehlte jetzt auch noch…

,,Eine deiner Kühe hat mich umgerammt“, presste er zwischen den Zähnen hindurch, während Thorin ihn vorwärts schob und die Tür schloss.

,,Wirklich?“ Sie musste sich ihr Lachen verkneifen. Im Raum hörte man ebenfalls Gekicher.

,,Wie witzig…“ Dwalin schnitt eine Grimasse. ,,Mein Rücken schmerzt abartig, falls es irgendjemanden interessiert.“

Angesichts der Umstände wurde Marie wieder ernst. ,,Wo?“

,,In der Mitte - ach irgendwo, verdammt.“

,,Mach dich frei. Ich seh‘ mir das lieber mal an.“

Mit empor gezogener Stirn bemaß er sie eines äußerst skeptischen Blickes. Doch nach erstem Zögern tat er wie befohlen und befreite sich als allererstes von der Armschlaufe. Als er sich seine Weste mit den groben Fellstücken ausziehen wollte, kniff er die Augen zusammen und verharrte.

,,Warte.“ Marie wollte ihm helfen, doch er wehrte ab.

,,Nicht nötig.“ Trotz der Schmerzen, die die Bewegung hervor rief, zog er sie sich aus. Als er jedoch den Stoff seines Hemdes hoch krempelte und über den Kopf ziehen wollte, verharrt er wieder und schaffte es nicht, die Bewegung über die Schmerzen hinweg auszuführen.

Über die Sturheit der Zwerge konnte Marie an diesem Tag nur den Kopf schütteln. ,,So lass dir helfen.“ Langsam, damit er sah, was sie vor hatte, streckte sie die Hände nach ihm aus und fasste den grünen Stoff, wobei er jede ihrer Bewegungen misstrauisch beäugte. ,,Deine Frau wird dich schon nicht dafür rügen, dass eine Fremde ihren Mann ausgezogen hat, um ihn wieder einzurenken.“

,,Da kennst du sie schlecht“, gab er trocken zurück.

Vorsichtig zog sie ihm das Oberteil über den Kopf, fasste danach auch gleich nach seinen Hosenträgern, ehe Gegenwehr aufkam, und zog sie ihm von den breiten Schultern. Dabei beobachtete er sie abschätzend, doch Marie bemerkte, dass sein Blick auch an ihr vorbei ging und sich auf die Person richtete, die hinter ihr unter dem Fenster saß. Das alles passierte in wenigen Sekunden, in denen sie realisierte, dass er zu Thorin geschielt haben musste. Ob ich ihn wohl ein wenig eifersüchtig machen kann? Was, nein! Hör auf!, ermahnte sie sich innerlich, war jedoch über die Wirkung, die sie damit wohlmöglich erzielte, neugierig. Und sie war nun einmal neugierig... Eigentlich hätte er es mehr als verdient. Irgendwie hatte das alles einen gewissen Reiz, der ihr Herz schneller schlagen und ihre Haut prickeln ließ.

Ohne sich irgendetwas davon anmerken zu lassen, fing sie auch an, sein letztes Hemd aufzuknöpfen. Ihr Plan geriet jedoch gehörig ins Wanken. Himmel…

Von seinen Haaren auf der Brust verlief ein Streifen über seinen Unterleib und verschwand ahnungsvoll in seiner Hose. Man konnte deutlich wohldefinierte Bauch- und Brustmuskeln sehen. Unterarme, Hände und Finger waren von Tätowierungen geziert. Wie alt bist du? Fünfzehn? Reiß dich zusammen. ,,Leg dich auf den Bauch“, sagte sie, wies auf sein Lager und wunderte sich über ihre helle Stimme.

Mit einem unterdrückten Laut legte der Zwerg sich hin. Seine muskelbepackten Schultern waren mit traditionellen Mustern und

Schriften ebenfalls tätowiert. Auf der Wirbelsäule verlief senkrecht ein Schriftzug mit dicken Runen in Khuzdul, die Sprache des Zwergenvolkes.

Marie zog ihren hellblauen Rock ein Stück hoch, ehe sie neben ihm auf die Knie ging. Nur Mut! Mit diesen Gedanken legte sie die Hände auf seine warme Haut. Als Dwalin die Arme unter den Hals legte, spürte sie, wie sich die Muskelstränge bewegten. Marie schluckte an ihrem trockenen Gaumen und fing an, behutsam die Wirbelsäule abzutasten und fand auch sofort die Stelle, unter der es verhärtet war. ,,Wahrscheinlich ein verklemmter Nerv.“

,,Scheiß Kuh.“

,,Wusste gar nicht, dass du dich von einer Kuh umhauen lässt“, stichelte Balin. ,,Fängst du schon an zu schwächeln?“ Die Zwerge lachten.

,,Ja, ja… Macht euch man alle witzig über mich.“

Mit sanften Druck und einem Schmunzeln zog sie mit Daumen und Zeigefinger quer über die schmerzende Stelle und drückte ruckartig mit dem Handballen auf die Wirbel.

,,Oahr!“

,,Das war’s schon.“ Im vollen Bewusstsein, dass Thorin ihr zuschauen würde, fing sie mit klopfendem Herzen an, um die Stelle herum zu massieren, breitete dann langsam ihre Bewegungen über den ganzen Rücken aus. Zuerst arbeitete sie sich tiefer, machte mit den Daumen kreisende Bewegungen neben der Wirbelsäule entlang bis zu seinen Lendenwirbeln. Genussvoll bog er den Rücken durch und schloss die Augen.

Ob Thorin auch tätowiert ist?, schoss es ihr durch die Gedanken und die Röte auf die Wangen. Während tiefe Entspannung sich über den Zwerg senkte, entdeckte sie etliche Narben von vergangenen Kämpfen. Sie arbeitete sich wieder höher zu den Schultern, erhöhte den Druck ihrer Hände zunehmend, die mit fließenden Bewegungen über die tätowierte Haut fuhren. Dwalin entfuhr ein Stöhnen, sodass Marie die Vibrationen durch seinen Rücken hindurch spüren konnte. Nur allzu gern hätte sie den Kopf gewandt, um zu sehen, wie Thorin regieren würde, doch das wäre ziemlich auffällig gewesen und dazu konnte sie dann doch keinen Mut aufbringen. Ich sollte lieber nicht mit dem Feuer spielen.

Er saß in ihrem Rücken und so konnte sie nicht sehen, dass die Wirkung, die sie erzielen wollte, tatsächlich eintrat. In seinem Blut kribbelte es wie verrückt, als er ihren Händen zusah, wie sie über den Körper seines Freundes strichen, der die Augen geschlossen hatte, als könnte er kein Wässerchen trügen. Dieses durchtriebene… Das machte sie doch mit Absicht!

Marie sah so zart aus, wie sie neben dem mächtigen Krieger kniete…und sich ganz um ihn allein kümmerte. Oh, ja. Er war eifersüchtig. Welcher Mann wäre es nicht? Unfähig den Blick abzuwenden lehnte Thorin sich zurück und musste sich wohl oder übel mit Zuschauen begnügen. Vorerst... Es schien, als ging auch diese Runde an sie.

Doch bei allem konnte er ihr in keinster Weise böse sein. Sie hatte sich bloß um Kili gekümmert. Er war es, der vorhin überreagiert und ungerecht geurteilt hatte. An ihrem Vorwurf hatte er immer noch schwer zu nagen. Es wurde Zeit, dass er mit ihr redete.

,,Taten die Tätowierungen nicht furchtbar weh?“, fragte sie gerade.

,,Nö...mhh.“

,,Was steht dort?“ Sie strich über die fremden Buchstaben.

,,Willenskraft.“

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie je. Marie sprang auf, wischte sich noch schnell ihre Hände an der Schürze ab.

Dwalin stützte sich auf den Unterarmen auf und sah ihr sehnsüchtig nach. Und sein Blick traf den von Thorin. Dieser verengte die glimmenden Augen und zog eine Augenbraue in die Höhe, woraufhin sein Freund nur mit den Achseln zuckte und lautlos mit den Lippen „Was?“ formte.

Währenddessen öffnete Marie die Tür. ,,Guten Tag, Mistress.“ Außer Atem stand Herman Gauner vor ihr, riss sich noch schnell die Mütze vom Kopf.

,,Tag, Herman. Ist es soweit?“

,,Ja, aber wir fürchten, wir brauchen Ihre Hilfe“, stotterte er und knetete mit blassem Gesicht die Mütze in seinen Händen.

,,Keine Sorge.“ Sie fasste ihm an die Schulter. ,,Alles wird gut.“

,,Danke. Habt vielen Dank.“

Aus dem Kräuterschrank suchte sie etwas heraus, nahm aus den Regalen zwei Fläschchen und tat alles in ihren Korb. ,,Wann kamen die ersten Wehen?“, fragte sie beim Überwerfen ihres Umhangs.

,,Bereits vor Stunden.“

Zwischen Tür und Angel drehte sie sich nochmal um. ,,Ich weiß nicht, wann ich wiederkommen werde. Falls ich bis zum Abendessen nicht wieder da bin, fangt ohne mich an. Ihr wisst, wo alles zu finden ist.“ Dann folgte sie dem Mann ins Dorf.

Doch nicht nur Marie hatte nochmal zu den Gefährten geschaut. Neugierig hatte auch Herman in ihren Wohnraum gesehen, um einen Blick auf die Zwerge zu erhaschen, von denen er schon gehört hatte. Als dieser dann Dwalin entdeckt hatte, der mit nacktem Oberkörper da lag, war er noch blasser geworden.

 

~

 

Draußen war es bereits stockdunkel, doch das Haus am Waldrand war durch den Schein des Kaminfeuers mit warmem Licht heimelig erleuchtet. Ein Leuchtfeuer in der Nacht.

Seine Stiefel machten dumpfe Geräusche, als er langsam zu ihr schritt. Allein saß sie am großen Tisch, den Kopf auf die Arme gelegt, ihre langen Haare, wie ein Fächer ausgebreitet, ergossen sich auf dem abgenutzten Holz. Eigentlich wollte sie das Geschirr wegräumen, doch vor Erschöpfung war sie einfach eingeschlafen. Schon beim Essen konnte sie gerade so die Augen aufhalten. An der Tischkante stapelten sich noch die leeren Schüsseln und Löffel. Der gesamte Kessel des deftigen Eintopfs war bei der besten Mahlzeit leer geworden, welche sie auf ihrer Reise bisher hatten.

Der Schein des Feuers flackerte tänzerisch auf dem kräftigen Braun ihrer Haare, auf ihren geschlossenen Augenlidern und ihrer Wange, verlieh ihr einen goldenen Schimmer. Ließ sie von innen heraus leuchten.

Wehmütig betrachtete er sie. So wunderschön und wertvoll. Von ihr ging immer noch dieses gewisse Etwas aus, das etwas tief in seinem Inneren berührte. Wie kann ein Mensch nur so schön sein, mich so anziehen?

Er spähte über die Schulter zu seinem Lager, das unter dem schwarzen Glas der Nacht lag. Dann rückte er ihre Bank vorsichtig ein winziges Stück nach hinten, bedacht darauf die Frau nicht zu wecken, die heute ein neues Leben auf die Welt geholt hatte. Er schob seinen Arm unter ihre Kniekehle, fasste um ihren Rücken und hob sie behutsam hoch.

Ungläubig stieß Nori Gloin in die Seite.

,,He…“, brummte dieser, verstummte und tippte mit Augen so groß wie Teller seinen Nachbarn an.

Der Hobbit runzelte die Stirn, wollte gerade etwas sagen, doch dann sah auch er ihren Anführer und machte den Mund vor Verblüffung schnell wieder zu.

In Thorins kräftigen Armen lag scheinbar schwerelos Marie, den Kopf gegen ihn gelehnt, tief schlafend. Langsam ging er zum Fenster hinüber, den Blick auf sie gerichtete. Ganz vorsichtig legte der Zwerg sie auf seinen ausgebreiteten Mantel, winkelte ihre Beine an, damit sie bequem auf der Sitzbank lag, zog ihr die Schuhe aus und legte seine Decke über sie. Eine ganze Weile stand er neben ihr und sah einfach nur zu ihr hinunter, beobachtete, wie sie friedlich schlief. Der Versuchung, sie nicht zu berühren, konnte er nicht mehr widerstehen. Thorin strich über ihre Wange, die sich pfirsich-weich anfühlte. Bei seiner Berührung schmiegte sie den Kopf in seinen Mantel, atmete tief aus. Er legte eine seidige Haarsträhne zurück an ihren Platz und sie war vollkommen.

Höchst verwundert über diese Gesten sahen ihm seine Männer vom Kamin aus zu, drehten sich jedoch schnell wieder um, um sich nicht beim Gaffen erwischen zu lassen, als Thorin daraufhin zu ihnen kam und sich wieder zu ihnen setzte. Lange schauten sie schweigend in die flackernden Flammen, die den Wohnraum mit unruhigen Schatten füllten.

Wie liebevoll er zu ihr gewesen war, dachte Bilbo betrübt. Man merkt, dass sie ihm viel bedeutet hatte. Und er muss ihr auch etwas bedeutet haben, so wie sie vom Sommerfest erzählt hat. Waren sie ein Paar? Was ist damals vorgefallen?

,,Was ist eigentlich damals nach dem Sommerfest passiert?“, rutschte ihm schneller raus als ihm eigentlich lieb war.

Manch einer schielte unauffällig zu Thorin, um seine Reaktion zu sehen. Wortlos nahm dieser den Schürhaken vom Boden neben sich auf und hielt die Spitze ins Feuer. Der Hobbit zog eine Grimasse. Was hab ich nur gesagt?! Gleich zieht er mir den dafür durch‘s Gesicht, dachte Bilbo mit einem Schaudern und beäugte den schwarzhaarigen Zwerg, wie dieser mit der Spitze in der Glut herum stocherte.

Sie hat ihnen davon erzählt. Sie hat es nicht vergessen. Sie hat mich nicht vergessen... Natürlich nicht. Was für Kummer hab ich ihr wohl bereitet? Dieser verfluchte Drache ist an allem schuld. Warum musste Smaug Erebor angreifen? Alles wäre anders verlaufen… und ich hätte bei Marie bleiben können. Ich muss ihr das Herz gebrochen haben. Der Gedanke daran, ihr Schmerz zugefügt zu haben, zerriss sein Innerstes abermals wie sechzehn Jahre und dutzende Male zuvor.

Er nahm das glühende Eisen aus dem Feuer. Jetzt brät er ihn mir über…, dachte Bilbo und machte vorsichtshalber schon mal die Augen zu, sich darauf wappnend, das Metall zu spüren. Er sah sich schon mit einem Brandzeichen durch Mittelerde laufen... Seine Stimme ließ ihn jedoch aufhorchen.

,,Direkt am Tag nach dem Fest musste ich mit meinem Vater zu einer Versammlung in die Eisenberge reisen. Ich sah sie am Abend nach unserer Rückkehr das letzte Mal…Und genau am darauffolgenden Tag griff Smaug an.“ Das vorletzte Wort zischte er verächtig, hob den Haken, sodass das glühende Ende vor seinem Gesicht schwebte, die Hitze an seiner Haut spürend. ,,Wir mussten fliehen…konnten nicht bleiben.“ Durch halb geschlossene Augen beobachtete er, wie das orange Glühen nach und nach verschwand. ,,Wir mussten fliehen…“ Fest umklammerte er das Eisen, so sehr dass es weh tat. Seine Fingerknochen wurden weiß, seine Hand fing an zu zittern.

Mit metallischem Scheppern flog der Schürhaken in den Kamin, prallte gegen die Hinterwand. Funken wirbelten auf, spiegelten sich in seinen Augen wieder. Die Kiefer aufeinander gepresste starrte er in die emporschlagenden Flammen, welche die Erinnerungen an den Grund wieder einmal lebendig gemacht hatte, wegen wem sie ihre Heimat aufgeben mussten. Zwischen den Flammen die Schreie seines Volkes.

Bilbo schaute zum Fenster, doch außerhalb des aufgeschreckten Scheines war keine Reaktion unter der Decke zu erkennen.

,,Was muss sie von mir gedacht haben?!“, zischte Thorin, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. ,,Ich hab mich noch nicht einmal von ihr verabschiedet.“

,,Du hast sie geliebt.“

Irgendwo im Raum fiel eine Nadel zu Boden.

Tief sog Thorin die Luft durch die Nase ein, als er Bilbo antwortete: ,,Mehr als alles andere auf dieser Welt.“ Auf dieses Eingeständnis hin folgte erstauntes und respektvolles Schweigen. Auf einmal fasste er in sein Oberteil und holte eine einfache, schwarze Schnur heraus. An ihr hing ein grauer, runder Anhänger mit drei geschwungenen Fenstern. In seine Gedanken versunken hielt er sie hoch, sodass der Anhänger sich vor den Flammen langsam hin und her drehte. Es war ein glanzloses, einfaches Schmuckstück, doch für Thorin war diese unscheinbare Kette von unendlicher Kostbarkeit.

,,Einst schenkte sie mir ihre Kette. Sie soll ein Talisman sein, sollte mich beschützen. Ich hab sie immer bei mir getragen, hab an sie gedacht, immer, jeden Tag…“ Seine Hand schloss sich, den Anhänger fest darin, der so eine lange Zeit bereits bei ihm war, dass er schon ein Teil von ihm war. ,,Wie konnte ich sie nur allein lassen?“

,,Wir mussten fort, Thorin“, sprach Balin ihm ins Gewissen. ,,Ich bin mir sicher, sie verstand, dass du für dein Volk da sein musstest.“

Thorin starrte in die Flammen, auf den Schürhaken, der darin glühte, und hoffte, dass Balin sich nicht täuschte.

 

~

 

Das Licht des schwindenden Mondes schien durch das Fenster, ließ die Bettdecken ein wenig silbern strahlen. Fili blinzelte und fasste sich an die Stirn. Es fühlte sich an, als hätte er Stunden geschlafen. Die ekelhafte Medizin hatte offenbar und glücklicherweise ihren Zweck erfüllt; die Schmerzen waren schon um Einiges erträglicher. Er horchte in die Stille. Außer den angestrengten Atemgeräuschen neben sich hörte er nichts.

Muss wohl mitten in der Nacht sein, überlegte Fili gerade, als er seinen Namen hörte. Er schreckte hoch, sah mit seinen scharfen Augen wie Kili den Kopf zu ihm drehte. Besorgt stand der auf und trat zum anderen Bett. Ein wenig erleichter war er dennoch, weil Kili sich an ihn erinnert hat, ihn nicht mit Karif angesprochen hatte.

,,Mir ist kalt“, keuchte er leise, beinahe nicht zu verstehen.

Ohne zu zögern schlug Fili die Decken beiseite und legte sich zu seinem Bruder. Damals als Kinder mussten sie oft in einem Bett schlafen, als sie mit Thorin umherzogen. Nun kam es ihm keinesfalls kindisch vor. Sein Bruder brauchte ihn. Nur das zählte.

Sorgfältig legte er die Decken wieder nieder. ,,Komm her. Ich wärm dich.“

Kili robbte sich näher zu ihm. ,,Warum ist es denn so kalt?“ Er fing sogar an zu zittern.

Fili ließ eine Hand über seinen komplett nassen Rücken streichen. Der Verband und das Kissen waren klatschnass. Richtige Wellen überrollten seinen schwachen Körper. Dicht bei ihm, die Arme absurd wärmend um den glühenden Körper gelegt, lag sein älterer Bruder.

Der junge Prinz wusste nicht, wie er ihm helfen konnte. Er wollte ihn einfach nur festhalten, ihm vergewissern, dass er bei ihm war. Fili sah aus dem Fenster. Prächtig funkelten die Sterne am schwarzen Firmament. ,,Schau, die Sterne.“ Und tatsächlich, Kili drehte sein Kopf dorthin. ,,Wie schön sie heute Nacht sind. Marie glaubt, dass die Verstorbenen in ihnen weiter leben. Sie glaubt fest daran, dass auch unsere Eltern da oben sind. Ich weiß allerdings nicht so recht, ob ich das glauben soll.“ Er machte eine Pause, wartete auf eine Antwort, doch Kili atmete weiterhin schwer. Der heiße, zitternde Körper seines Bruders lag so nah an ihm, schien fast schon zu brennen, so fühlte es sich für Fili an. Ihm wurde es immer wärmer.

,,Der Runenstein…“, keuchte Kili auf einmal.

,,Was?“

,,In meiner Mantel…Tasche.“

Sanft schob er seinen Bruder von sich und stand auf. Trotz des wenigen Lichts konnte er ohne irgendwo anzustoßen zum Tisch

gehen. Die kalte Luft, die seinen Körper für einen Moment umhüllte, war für ihn wie ein ersehnter Verbündeter. Er kramte zwischen ihren Sachen und fühlte etwas Glattes, Hartes zwischen Stofflagen. Er holte den Stein hervor und legte sich wieder zu seinem Bruder, der sich sogleich zurück auf seine Brust legte. Fili hielt den Stein, der in der Dunkelheit pechschwarz war, vor sich hoch. ,,Du hast ihn mitgenommen?“

,,Hmm.“

Mit dem Daumen fuhr er über die Runen in Khuzdul, welche auf einer Seite eingraviert waren.

,,Mutter hat ihn mir gegeben.“

,,Ja“, antwortete Fili, wusste dabei nicht, ob sein Bruder wachte oder nur im Traum sprach.

,,Er funktioniert nicht.“

,,Hm?“

,,Mich hat’s erwischt.“

Unwillkürlich musste Fili schmunzeln. ,,Er soll dich ja auch nur an dein Versprechen erinnern.“

,,Hm?“

,,Du musstest Mutter damals versprechen immer auf dich aufzupassen. Sie hat damals schon gesehen, dass du ein wagemutiger und verwegener Dickkopf wirst.“ Es hörte sich fast so an, als musste Kili lachen, doch seine angestrengten Atemzüge verschluckten es. Fili legte die Arme fester um ihn.

,,Sie hat uns das Leben gerettet. Sie ist…für uns gestorben.“

Fili musste schlucken. ,,Ich weiß…“

,,Ich hab von ihr geträumt.“

,,Beschreib sie mir“, flüsterte er ihm zu, als wäre es ein Geheimnis, das nur sie teilten.

,,Sie saß an meinem Bett. Alles war so hell. Sie saß…im Licht. Sie war ganz nah…ich konnte sie fast berühren. Es war so…so echt. Aber es war nur ein Traum.“

,,Du hast mich auch für Vater gehalten.“

,,Wirklich?“

,,Ja.“

,,Ich kann mich nicht an ihn erinnern…“

Filis Herz wurde schwer. Manchmal wünschte er sich, mit seinem Bruder tauschen zu können. Schon oft hatte er ihm alles erzählt, woran er sich erinnern konnte, jede Kleinigkeit, doch dann könnte Kili nämlich durch seine Erinnerungen sie sehen und Fili könnte die Bilder in seinem Gedächtnis mit ihm teilen. Denn sie besaßen keine Bilder von ihnen. Kili konnte das Aussehen ihrer Eltern nur erahnen.

Fili legte den Stein, ihren ganz persönlichen Schatz, ihm unter die Hand und schloss sie mit seiner eigenen. Seufzend schmiegte er sich trotz der Fieberhitze an seinen Bruder.

,,Ich hätte sie gern kennengelernt...“, wisperte Kili.

,,Ich auch“, antwortete Fili und bemerkte, dass sein Bruder nun ruhig neben ihm lag und eingeschlafen war. ,,Du musste wieder gesund werden“, flüsterte er tonlos. ,,Seit ich denken kann, habe ich dich beschütz und ich werde dich auch weiterhin beschützen, dich nicht allein lassen. Ich gab dir mein Wort, dass nur der Tod mich von dir trennen kann. Aber ich brauche dich, Kili. Du musste wieder gesund werden…“

 

 

11

 

 

Etwas Flauschiges kitzelte ihre Wange. Marie stieß einen entspannten Seufzer aus und schmiegte ihren Kopf in die weiche Unterlage. Warm, weich, kuschelig… Ihre Finger durchfuhren dichtes Fell. Blinzelnd öffnete sie die Augen und sah direkt auf ihre Hand, die auf einem hellbraunen Fell lag. Der Mantel von Thorin.

Ach, du Sch…! Sie fuhr hoch, schaute sich um. Zusammengerollt hatte sie auf der Bank unter dem Fenster gelegen – auf dem Lager des Königs! Wie um alles in der Welt war sie hierher gekommen?!

Unter ihr war die ausgebreitete Mantelinnenseite, über ihr die braune Decke, die sie ihm gegeben hatte. Wild lagen die Decken der Gefährten vor und neben dem erkalteten Kamin verstreut. Sie war alleine im Raum, hörte von draußen aber Stimmen. Der würzige Geruch von Tabak war zu vernehmen. Marie drehte sich, sah aus dem Fenster über sich. Grau und schummrig war der frühmorgendliche Himmel.

Ihr Blick fiel wieder auf den ausgebreiteten Mantel, auf dem sie wohl die Nacht verbracht haben musste und ihre Finger strichen über das kurze Innenfutter. Es war rau und ganz warm von ihrer Körperwärme. Dann strich sie über die breite Schärpe aus Fell, welche beiden unknöpfbaren Seiten säumte, ließ ihren Fantasien freien Lauf und stellte sich vor, wie sein Körper den Mantel unter ihr ausfüllen würde und wie sie auf seiner Brust läge, die Hand auf dem Fell, welches seine breiten Schultern bedecken würde. Auf seinem Herzen.

Mit einem verträumten Lächeln legte sie sich wieder hin und verspürte sofort ein Gefühl der Geborgenheit. Der Mantel roch nach Erde und Leder und irgendwie auch nach Metall, aber da war noch ein anderer, viel besserer und betörender Geruch, der ihrer Nase tief ins Fell wandern ließ. Es roch…männlich. Es roch nach ihm. Thorin…

Er war es. Der Prinz aus Erebor. Ihre große Liebe.

Ihr war, als konnte sie für einen Moment lang das Feuerwerk hören, welches in einer warmen Sommernacht Dale erleuchtet hatte. Und abermals sah sie ihre Hände, wie sie seinen Bart berührten, das Zöpfchen unter dem Kinn streiften und auf seiner verschwitzten Haut zum Liegen kamen, auf seinen Armen, seinen Schultern, seinem Rücken. Er war es, der in dieser Nacht ihre Unschuld genommen hatte.

In ihren Erinnerungen versunken zupfte sie an den Fellspitzen herum, sog seinen Geruch in sich auf und erlaubte sich noch ein wenig, hier liegen zu bleiben und in ihnen weiter zu schwelgen.

Vom roten und goldenen Licht des Sonnenunterganges und vom Rauschen des eiskalten Gebirgswassers umgeben hatten sie eng zusammen auf einem der Felsbrocken gesessen, sie zwischen seinen Beinen, den Kopf in seine Halskuhle gelegt. Die ganze Zeit hatten sie seine Rückkehr aus den Eisenbergen und ihre Zweisamkeit genossen.

Plötzlich durchschnitt der Schmerz die schönen Erinnerungen wie eine Metallklinge, die sich in ihren Brustkorb bohrte.

Doch er hat mich zurück gelassen…Und wie einst begannen Dales Hörner über ihr, das Unheil anzukündigen.

 

~

 

Marie blieb stehen und schaute zum Südturm hinauf. Alle anderen auf der Straße drehten sich ebenfalls dorthin. Dann stimmten der Ostturm und fast gleichzeitig der Westturm mit ein. Der Wind frischte ungewöhnlich schnell auf, peitschte bereits regelrecht über die rot geziegelten Dächer der Stadt. Nur das durchgehende Rufen der Hörner war einen gespenstisch langen Moment zu hören.

Ohne Vorwarnung tauchte er auf.

Der erste Schrei kündigte seine Anwesenheit an, der Marie bis heute noch das Blut in den Adern stocken ließ: ,,DRACHE!!“

Haltlose Panik brach aus. Die Menschen rannten los, ließen alles stehen und liegen. Marie starrte in den Himmel. Mit Angst und Entsetzen verfolgte sie die Flugbahn des riesigen Ungetüms. Es knallte ohrenbetäubend, dann eine Erschütterung, die den Boden beben und ihre Beine erzittern ließ. Der Ostturm krachte in großen Steinbrocken nieder, als eine Feuerwolke darauf prallte und die Hinterbeine des Drachen die Spitze zerschlugen.

Soldaten liefen an ihr vorbei, rissen sie fast um und aus ihrer Starre. Von ihren Instinkten getrieben rannte Marie mit den Menschen los, die durch die Gassen flohen. Es herrschte Chaos und Panik. Kinder schrien. Über ihren Köpfen zerbersteten Ziegelsteine, rieselten auf sie nieder. Die Luft geriet in Aufruhr, rauschte über die Dächer, als der bronzefarbene Leib des Drachen über die Stadt hinweg seine Kreise zog.

Marie versuchte ihren Kopf vor hinunterfallenden Steinen zu schützen. Plötzlich machten die Leute vor ihr kehrt. Eine Welle aus Flammen kam hinter ihnen her, verschluckte die ersten und jagte hungrig zwischen den engen Häuserwänden auf sie zu. Rückwärts drängte sich Marie in eine Türnische und zog geistesgegenwärtig am Türknauf. Während die Menschen an ihr vorbei liefen, hechtete die Neunzehnjährige mit einem rettenden Sprung ins Gebäude und knallte die Tür zu.

Zwei Sekunden später rauschte das Feuer vorbei. Es knackte, als die Hitze am Sandstein vorbei zog. Leuchtend rote Risse folgten ihr. Erschrocken über diesen Anblick stolperte sie ein paar Schritte von der Wand weg. Dachbalken fielen auf die Gasse, gleichzeitig drang Feuer durch ein kleines, rundes Fenster oben am Giebel hinein, setzte mit Leichtigkeit den Heuboden in Brand.

Marie wollte den Knauf fassen und zuckte vor Schmerz zurück, als ihre Haut das heiße Metall berührte. Schon breiteten sich erste Anzeichen von Verbrennungen in ihrer Handfläche aus. Sie wickelte ihre Schürze um ihre Hand und griff noch einmal zu, doch die Tür bewegte sich kein Stück. Fassungslos starrte sie das Holz an, drückte abermals dagegen. Es dauerte ein paar Sekunden bis sie es begriff. Die Tür ging nicht mehr auf.

Marie wirbelte herum, suchte nach einem anderen Ausweg. Nein, es gab nur diese eine Tür. Sie befand sich in einer Art Scheune. Und im hinteren Teil lagerte Stroh. Mit geweiteten Augen musste sie hilflos mit ansehen, wie Funken von oben zu Boden fielen und mühelos das Stroh entfachten. Sie saß in der Falle.

,,Nein!“ Mit den Fäusten hämmerte sie gegen die Tür. Qualm entwickelte sich schnell. Die ersten Rauschschwaden zogen schon verführerisch um ihre Beine. Über und hinter ihr knackte und prasselte es. ,,Hilfe! Hört mich jemand?! Ich bin hier eingesperrt!“ Hinter der Tür drangen Schreie zu ihr durch. ,,Hilfe!!“ Marie warf sich dagegen, knallte die Handflächen auf das Holz, doch niemand nahm sie in der Panik wahr.

Unter einem Hustenanfall krümmte sie sich, blickte verzweifelt nach oben. Über ihr glühte es schon regelrecht. Im Gebäude entwickelte sich schnell eine unaushaltbare Hitze. Wieder drehte sie sich um, überflog wie ein gehetztes Tier alle Gegenstände und Ecken und entdeckte ganz hinten eine Leiter. Einen Arm über ihr Gesicht gepresst eilte sie auf das brennende Stroh zu. Die Flammen kamen ihr gefährlich nahe, während sie die Sprossen hinauf kletterte und so auf den Boden gelangte. Die linke Seite brannte schon lichterloh. Die Hitze lag erdrückend auf ihrer Körperhälfte, als wollte sie sie niederzwingen. Doch auch hier oben kam sie nicht weiter. Es gab kein Fenster.

Die Flammen des Dachstuhls fraßen sich zu ihr durch. Es wurde immer heißer, die Luft immer knapper. Qualm vom Stroh, welches zwischen den Dielen unter ihr leuchtete, stieg auf und ließ ihre Augen schmerzen. Ihr Husten wurde immer heftiger. Verzweifelt krallten sich ihre Finger unter die Dachziegel. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, rüttelte sie daran und bekam schließlich einen los, dann noch einen. Ziegel für Ziegel riss sie sich einen Weg frei und kletterte hinaus.

Marie schwang sich über die halbhohe Mauer des Nebengebäudes und ließ sich halb blind vom grellen Licht und von ihren tränenden Augen auf der anderen Seite daran runter sinken.

Die frische Luft ließ sie neue Hoffnung schöpfen. Der starke Wind klebte kühl auf ihren nassen Wangen, ließ ihre Haare um ihren Kopf peitschen, dass sie kaum noch etwas sah. Ihre Beine, ihre Hände, unter deren Nägeln es blutete, zitterten unkontrolliert. Marie versuchte, sich selbst zu beruhigen, zwang sich, ruhiger zu atmen, als etwas Großes über sie hinweg sauste, so schnell und so kraftvoll, dass sie nach vorn gezogen wurde und auf die Knie fiel. Im nächsten Moment sah sie den Bauch des Drachen über sich hinweg gleiten, der den Himmel mit seiner Spannweite zu verdunkeln schien. Vom großen Nordturm wurde auf ihn geschossen. Er flog einen Bogen, schlug das Geschoss mit seinen Pranken beiseite. Sein Brustkorb glühte auf und Flammen drangen wie aus einer unversiegbaren Quelle aus seinem weit aufgerissenen Maul.

Mutter, Vater… Beim Gedanken an ihre Eltern bekamen ihre Beine die Kraft zurück. Sie musste zurück nach Hause, sie finden. Mit diesem neuen Plan zog sie sich an der Mauer hoch und schaute sich um. Flammen schlugen aus dem Dach, unter dem sie noch vor kurzer Zeit gewesen war. Überall grellten Schreie aus der Stadt. Dutzende Häuser brannten. Rechts unter ihr auf der Straße befand sich ein kleiner Platz. Ihn prägte eine bronzene Statue eines Rehbocks in seiner Mitte. Diesen Ort würde sie überall wiedererkennen…

Entschlossen kletterte sie auf den Dachfirst, raffte ihren Rock und rannte los. Er war schmal, doch ihr Wille, hier irgendwie lebendig rauszukommen, und die Sorge um ihre Eltern hielten sie im Gleichgewicht. Vor ihr tauchte ein Spalt zwischen den Dächern auf. Noch einmal zog sie das Tempo an, sprang ab und landete sicher auf dem anderen Dach. Wie eine Siegesfahne wehten ihre Haare hinter ihr her. Sie konnte es schaffen!

Ihrem Ziel nahe erlosch jedoch jeglicher Hoffnungsschimmer. Das Feuer war schneller gewesen.

Durch die Fenster ihres Hauses auf der anderen Straßenseite schlugen schon die Flammen. Der kleine Balkon, wo sie so manche Kräuter angepflanzt hatten, brannte lichterloh mit dickem Qualm. ,,Mutter!! Vater!!“, schrie sie mit Tränen in den Augen und suchte nach ihnen zwischen den fliehenden Menschen. Nirgends konnte sie sie entdecken.

Rechts vernahm sie eine verschwommene Bewegung. Ein riesiger, lederner Flügel erschien neben ihr. Ehe sie reagieren konnte, wurde sie vom Windstoß nieder geworfen, schlitterte über die Ziegel, das Dach hinab bis zur Kante. Ihre Ellenbogen pressten sich schmerzhaft auf die letzten Ziegel, ihre Arme hielten sie fest, während ihre Beine in der Luft hingen. Sie versuchte, sich wieder aufs Dach zu ziehen, doch scheiterte.

Als Schreie ganz in ihrer Nähe hallten, riss Marie den Kopf herum. Eine Feuerwelle rollte durch die Gasse, verschluckte alles und jeden auf ihrem Weg. Marie versuchte, an der Wand hoch zu klettern, doch ihre Schuhe fanden nirgends Halt. Verzweifelt schluchzte sie auf. Sie wollte nicht sterben! Sie wollte es einfach nicht. Nicht hier. Nicht so.

Das Feuer kam immer näher. Ihre Zeit war um.

Mit letzter Kraft drückte Marie sich auf den Armen hoch, ihren Körper zurück aufs Dach. Gerade noch rechtzeitig schwang sie ihre Beine hoch, bevor das tödliche Feuer bei ihr angekommen war. Unsagbare Hitze stieg neben ihr auf. Wolken aus Feuer wirbelten wütend zu ihr empor. Sie hielt die Luft an, kniff die Augen zusammen, fürchtete, doch zu verbrennen.

Als die Hitze abgeflaut war, öffnete sie sie keuchend wieder und kletterte auf allen vieren auf den First zurück. Auf dessen andere Seite lag ein hohes Haus, an dem eine Treppe hinunter führte. Ihr Fluchtweg.

Das Letzte, was sie wahrnahm, war die Erschütterung. Etwas explodierte. Steine bersteten. Marie schlug auf der Straße auf und Schwärze umgab sie.

 

Der hohe Pfeifton, der sich schrill und erbarmungslos in ihre Ohren drückte, was das Schlimmste, was sie je gespürt hatte. An ihrer Schläfe und Wange spürte sie die Pflastersteine, die wie der Herzschlag der Stadt im Todeskampf erzitterten.

Nur schwer konnte sie die Augen öffnen. Rauchschwaden lagen auf der Straße. Menschen rannten in Stille getaucht an ihr vorbei, über sie hinweg. Einer stolperte über sie. Sein Fuß stieß in ihren Rücken, sandte weiteren Schmerz durch ihren gepeinigten Körper. Sie glaubte, sich jeden Moment übergeben zu müssen.

Wie eine Nebengestalt tauchte jemand aus dem Rauch auf, rannte mit großen Schritten auf sie zu und ließ sich zu ihr nieder. Ihr Vater? Sie musste träumen. Sein Mund war aufgerissen. Er musste schreien, doch alles, was Marie hörte, war der penetrante Pfeifton.

Soren drehte sie auf den Rücken, rüttelte an ihr. ,,Arie, omm! …raus aus der Stadt!“ Der Himmel war nicht länger blau. Die Sonne war verschwunden. Rauch. Nur Asche und Rauch. ,,Arie, du usst aufstehen. Ich… nicht tragen! Omm!“

Seine Stimme erreichte sie nur gedämpft. Trotzdem versuchte sie, sich zu bewegen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Soren legte ihren Arm um seinen Nacken, schob seine unter sie. Teilnahmslos sah Marie das schmerzverzerrte Gesicht ihrs Vaters, als er sie hochhob. Dann lief er los. Die Erschütterungen seiner Schritte spürte sie durch ihren schlaffen Körper gehen. Immer wieder drohte sie, das Bewusstsein zu verlieren. Still glitten die beigen, teils schwarzen Wände an ihr vorbei.

Nach kurzer Zeit jedoch blieb Soren abrupt stehen. Vor ihnen war die Gasse durch Schutt von einem eingestürzten Haus versperrt. Marie verlor immer wieder den Fokus. Doch als sie die menschlichen Überreste mit verzerrten, entstellten Gesichtszügen und freigelegten Knochen sah, die Münder weit aufgerissen, stürzte die Welt mit aller Macht wieder auf sie ein.

Marie schrie, krallte ihre Arme um seinen Hals, doch konnte ihre eigene Stimme nicht hören. Grausame Schreie und das Brüllen der Feuer hüllen die ganze Stadt ein. Es war so laut.

Er sagte etwas zu ihr, was sie jedoch nicht verstehen konnte, während er umkehrte und in eine andere, schmalere Gasse einbog, die steil nach unten führte. Dann waren sie auf einmal am Tor angekommen, gelangten mit vielen anderen durch das mächtige Torhaus, dessen Kuppe für einen Moment den Himmel verdeckte und seinen Schatten auf Maries Gesicht warf. Sie waren am Leben. Sie waren… Ihre Gedanken trieben sie fort in seltsame Schwerelosigkeit.

Nach der Brücke trug ihr Vater sie durch die grasbedeckten Hügel. Er steuerte auf die Menschen zu, die dort versammelt waren. Die Leute hatten Vieh gerettet, klammerten sich an ihrem letzten Hab und Gut und an ihren Liebsten fest. Soren blieb stehen und ließ sie schwer atmend runter. Ihre Beine trugen sie nicht. Ehe sie fiel, wurde sie von ihm aufgefangen.

Schwach lehnte Marie an ihm, drehte den Kopf und sah zurück nach Dale. Die Stadt stand in Flammen. Dicke Rauchwolken flogen darüber fort wie ihr Glaube, an eine gute Welt. Die Stadt, die sie kannte, alles, was sie hatten… Ihr Zuhause…

Marie spürte noch die Hände ihrer Mutter an ihren Wangen, bevor sie endgültig das Bewusstsein verlor.

 

 

 

12

 

 

Das Gras knisterte leise, die Halme waren trocken und geradezu weich. Als ihr Verstand allmählich klarer wurde, blickte sie bereits seit Ewigkeiten in den Himmel. Grau war er. Rußgrau. Und so roch auch die Luft.

Der Wind spielte mit den winzigen Ären und ihren Strähnen, die sich darin verfingen. Der schrille Pfeifton war verschwunden und Stimmen wurden zu ihr geweht. Schwach drehte sie ihr Gesicht in die Richtung, was ein Pochen in ihrer Stirn verursachte, und blickte durch die gelben Gräser hindurch. Ihre halb geschlossenen Augen gingen müde und ausdruckslos durch die Menschen. Langsam, damit die Kopfschmerzen nicht noch stärker wurden, schaute sie sich um, entdeckte ihre Eltern, die als wenige standen.

Gerade streckte eine Frau die Hand nach ihrer Mutter aus, die einen Mann wie ein Kind in den Armen hielt. Myrrte fasste ihm an den Hals, schüttelte den Kopf. Die Frau schrie los, presste den Kopf auf seine schwarze Brust. Marie musste wegschauen.

,,Marie, mein Schatz...“ Eine vertraute Stimme sprach nahe bei ihr. Sie öffnete die Augen wieder und schaute in das Gesicht ihres Vaters. ,,Papa“, war das einzige Wort, was sie zusammen brachte.

Erschöpft blickten seine grünen Augen. Ein paar seiner dunkelblonden Strähnen hatten sich aus dem Knoten am Hinterkopf gelöst. Seine linken Wange und Halsseite waren bedeckt von Rußflecken. Maries Blick wanderte weiten an der Schulter hinab und löste bei ihr Entsetzen aus. Der Ärmel war vollständig mit großen Löchern übersät, unter denen sich die verbrannte Haut abgelöst hatte und hell schimmerte. Aus den Wunden drang eine Flüssigkeit, die die verschmorten Stoffränder verklebte.

Ihre Lippen bewegten sich und leise, heisere Worte kamen über ihnen: ,,Papa… dein Arm.“

Soren folgte ihrem erschrockenen Blick, sah dann wieder zu seiner Tochter. ,,Es ist nichts.“ Seine Augen gaben jedoch etwas ganz anderes preis. Beschwichtigend küsste er sie auf die Stirn, wobei seine hellen Bartstoppeln vertraut an ihrer Haut kratzten.

In diesem Moment tauchte ihre Mutter auf ihrer anderen Seite in ihrem Blickfeld auf. Sie sprach kurz mit ihrem Mann, wohl so leise, damit Marie es nicht verstehen sollte. Soren strich ihr übers Haar, dann stand er auf und entfernte sich. ,,Oh, Marie.“ Ihre Mutter kniete sich neben ihr hin. In ihrem Gesicht lag großer Kummer, aber auch Erleichterung. ,,Wir dachten, wir hätten dich verloren, haben überall nach dir gesucht...“

,,Mama…“

,,Keine Angst, keine Angst mehr. Es ist vorbei. Wir sind jetzt in Sicherheit. Komm und trink etwas.“ Mit größter Vorsicht setzte sie sie auf, legte den Arm um ihre Schultern, damit sie nicht wankte. Nun konnte Marie die Stadt sehen, die immer noch brannte und auch noch Tage später ausbrennen würde. Ihre Mutter drückte ihr einen Wasserbeutel in die Hand. ,,Trink langsam. Nimm kleine Schlucke.“

Zitternd umschlossen ihre Hände das Leder. Das kalte Wasser tat so gut, war eine echte Wohltat. Müde lehnte sie sich gegen ihre Mutter, die ihr in der Zwischenzeit den Puls am Handgelenk und ihre Stirn befühlte. Als sie bemerkte, dass es jetzt viel ruhiger war, sah sie erneut zu den versammelten Menschen.

Es waren weniger als vorhin und sie fragte sich, ob ihre Freunde und jene überlebt hatten, die ihr in den Jahren ans Herz gewachsen waren. Noch zu ergriffen vom Geschehenen konnte sie keine Trauer zulassen.

Sie trank noch ein wenig, drehte dann den Kopf zur anderen Seite. Rechts lag der Gipfel des Erebors, der über das Tal regierte. Vom Haupttor stiegen Rauchschwaden gen Himmel. Der Kiefernwald brannte genau wie Dale noch. Irritiert entdeckte sie dunkle Punkte, die sich langsam über den westlichen Bergsattel bewegten und auf dessen anderen Seite verschwanden. ,,Erebor…“

,,Ja, der Drache hat auch Erebor angegriffen.“ Unsicher machte Myrrte eine Pause. ,,Marie, mein Schatz, du musst jetzt genauso stark sein, wie du es vorhin warst… Die Zwerge sind geflohen. Da gehen die letzten.“

In ihrem Kopf fing es an zu arbeiten. ,,Geflohen?“ Ihre Stimme war nichts weiter als ein dünnes Flüstern.

,,Ja, sie gehen fort von hier und wir brechen auch gleich auf. Wir sind die Letzten, die noch hier sind.“ Myrrte schien auf eine Reaktion von ihr zu warten, doch Marie sah immer noch zum Berg hinüber. Sie seufzte. ,,Ich muss mich jetzt um deinen Vater kümmern. Bleib hier sitzen. Ruh dich noch so lange aus. Wenn dir schlecht wird oder du Kopfschmerzen bekommst, ruf bitte sofort.“

Vage hörte Marie, wie ihre Mutter sich von ihr entfernte. Ihre Augen senkten sich. Erebor…Vorhin…ich…ich war... Ich wollte mich mit Thorin treffen. So hatten wir es doch gestern abgemacht…doch die Hörner… Der Drache, der Drache kam. Er hat also nicht nur Dale angegriffen, sondern auch Erebor. Warum? Die Schwere in ihrem Kopf wich und sie wusste, was das dort für Punkte waren. Schlagartig war Marie hellwach. Aber das…das geht nicht. Wo ist Thorin? Er kann nicht unter ihnen sein. Wieso fort? Wohin? In der Hoffnung, ihn irgendwo stehen zu sehen, schaute sie sich um, bei ihren Eltern, hinter ihr. Doch er war nicht da.

Das alles schien wie ein schlechter Traum zu sein, den sie nicht verstehen konnte. Das konnte nicht die Wirklichkeit sein. Nein, das konnte es einfach nicht sein. In diesen Moment war alles zu viel für sie. Marie hatte keine Kontrolle mehr über sich.

Sie drehte sich um, stütze sich mit den Händen auf der Erde ab und wollte aufstehen. Auf einmal wurde ihr schlecht, richtig schlecht. Galle stieg ihr hoch und sie musste spucken. Nur mit Müh und Not konnte sie sich zusammen nehmen, um nicht ganz zu erbrechen, schaffte es trotzdem, aufzustehen. Sie machte einen Schritt, dann noch einen und noch einen. Mit jedem fühlte sie sich sicherer. Sicherer das zu tun, was ihr Körper tat.

Ihre Beine begannen zu laufen, zu rennen. Das Gras teilte sich, rauschte an ihrem Rock entlang, als ihr Herz unter Qualen ihr den Weg wies. Etwas umklammerte ihre Brust mit solcher Gewalt, dass es ihr den Atem raubte. Mehrfach stolperte sie, gelangte schließlich auf den Weg und rannte vorbei an der Brücke. Knapp hinter dieser, als der Weg einen Bogen um den Abgrund schlug, den der Fluss gemeißelt hatte, blieb sie stehen.

,,THORIN!!“ Ihr Ruf erfüllte das Tal, hallte von den Berghängen wieder, doch verlor sich in seiner Größe und im Wind. ,,KOMM ZURÜCK!!“ Doch kein Zwerg in der Ferne reagierte.

Hinter ihr donnerten Schritte. Jemand fasste nach ihrem Arm. Ihr Vater.

,,Lass mich los!“

,,Marie, wir können nichts mehr tun.“

,,Aber, Thorin…“

,,Er ist fort, bitte versteh doch!“

,,Er kann doch nicht einfach gehen! Er kann mich doch nicht zurücklassen!“

,,Marie, er ist der Prinz. Er muss mit seinem Volk mit, jetzt für die seinen da sein.“

,,Was?“ Als hätte sie es zum ersten Mal gehört, starrte sie ihn an. ,,Aber… nein, nein! Er kann nicht einfach gehen! Und wir können auch nicht gehen! Wir müssen auf ihn warten. Er wird kommen und mich holen. Er wird es. Er würde mich nie…“

Soren schüttelte einfach nur den Kopf. ,,Er wird nicht zurück kommen. Sie sind fort. Wir können nichts mehr tun.“

Seine grünen Augen brachten ihr die Erkenntnis, als diese über sie hinweg sahen. Marie drehte sich um. Die letzten Zwerge zogen über den Bergsattel… und waren verschwunden.

Es war als würde mit einem Ruck nicht nur ihre Beine weggerissen werden, sondern auch etwas aus Fleisch und Blut von ihr selbst. Herausgerissen von dunklen Klauen.

,,Nein, THORIN!!“ Sie wollte weiter laufen, doch Soren packte sie und hielt sie fest. Die Rufe drückten sich aus ihrer Kehle bis sie zu einem unverständlichen Schreien wurden. Wie ein Fluss strömten die Tränen über ihr Gesicht. Mit aller Gewalt versuchte sie sich loszureißen, doch Soren drehte sie um und presste sie an sich. Hemmungslos schrie und weinte sie an ihren Vaters gepresst, der sich mit ihr zu Boden sinken ließ, so als wollte er seine Tochter für immer festhalten.

 

~

 

Marie schloss die Augen. Eine einzelne Träne rollte über ihren Nasenrücken und verschwand im Fell seines Mantels. Die Nähte ihres Herzens, die über Jahre gehalten hatten, platzten auf. Eine nach der anderen.

Sie sah zur Haustür. Sehnsucht drückte in ihrer Brust. Sehnsucht, die seinen Namen trug.

 

~

 

Mit den Fingerspitzen fuhr er über die Pinselstriche des Einsamen Berges, über die Markierung an seiner Westseite. Ein knorriger Finger am linken Kartenrand zeigte auf das kleine X. Dort lag die Geheime Tür, ihr Weg in den Berg. Der Schlüssel für diese lag in seinem Schoß. Gandalf hatte sie ihm beim Treffen in Beutelsfeld gegeben, wo sie alle hatten zusammenkommen sollen. Und dort lernten sie auch Bilbo Beutling kennen, in dessen Esszimmer und Wohnstube sie gesessen hatten.

Die Gespräche von jenem Abend brachen zwischen dem Rauschen des Flusses hervor, während er auf die alten Farben blickte, die leuchtend klar auf dem leicht vergilbten Pergament wirkten, als könnte ihnen die Zeit nichts anhaben. Mit diesen Dingen waren sie ihrem Ziel schon greifend nah. Zusammen bildeten Karte und Schlüssel eine Einheit, die ihre Mission symbolisierte, doch wirkten jämmerlich klein beim Gedanken an den jetzigen Herrn des Berges. Über dem Erebor war er abgebildet. Seine rote Farbe strahlte verheißungsvoll, die Flügel erhoben, das Maul weit geöffnet, eine Flamme daraus strömend.

Nun hielt er die Zukunft seines Volkes in den Händen, trug die Bürde auf seinen Schultern, das Vermächtnis in seinem Blut. Thorin faltete die Karte wieder zusammen, den dicken Schlüssel in ihr Inneres gelegt. Sorgfältig wickelte er wieder die lederne Hülle darum, schnürte die Kordel zu und schob sich das dünne Paket zurück in sein Oberteil. Dann schloss er die Hand um einige Steinchen, die auf dem dunklen Fels lagen, holte aus und warf eines davon in die Fluten. Er würde alles daran setzen, den Traum seines Großvaters zu erfüllen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht für ihn.

Er hatte nichts mehr zu verlieren.

 

~

 

Auf der anderen Seite des Flusses lag direkt der Waldrand. Blätter segelten von den naheliegenden Ästen in die Strömung, wurden davon getrieben. Sorglos leicht sind sie gefallen, ganz das Gegenteil von Maries Innerem. Durcheinander waren ihre Gedanken, als wenn sich etwas in ihrem Kopf verändert hätte, als wäre ihr eine Augenbinde herunter gerutscht und nun den Blick auf jemanden frei gab, nach dem sie sich eine schrecklich lange Zeit gesehnt hatte.

Bilbo hatte ihr gesagt, er wäre in Richtung des Flusses gegangen und dort fand sie ihn auch. Auf einem der Felsen saß er, den Blick auf die Strudel gerichtet, die zwischen ihnen glitzerten. Gerade nahm er ein Steinchen aus der Hand und warf es in die Strömung.

,,Thorin?“

Er drehte sich um, sah Marie am Ufer stehen.

,,Verzeih, ich…ich wollte dich nicht erschrecken. Stör ich, wenn ich dir ein wenig Gesellschaft leiste?“ Schweigend rückte er zur Seite und wies einladend neben sich. Maries Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie ihren Rock zusammen nahm und zum Sprung ansetzte. Äußerst unelegant schwankend ließ sie sich neben dem Zwerg nieder. Als sie sah, dass sich auf seinem Gesicht ein Schmunzeln ausbreitete, konnte sie nicht widerstehen. ,,Eure Hoheit, lacht Ihr mich etwa aus?“

Er verkniff sich das Lächeln, doch auch gleichzeitig schmerzte es. Niemand außer ihr hatte ihn je mit solchen Neckereien aufgezogen. ,,Das würde ich doch nie tun, Mistress. Es ist nur amüsant, wenn ich mir vorstelle, Ihr würdet jetzt mit den Fischen schwimmen oder wie ein Stein auf den Grund gesunken sein.“

,,Ein Fisch und ein Stein, ja?“ Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken beugte sie sich zur Seite, tauchte die Handflächen ins kalte Wasser und schleuderte es in seine Richtung. Der König bekam es direkt ins Gesicht. Tropfnass presste er die Lippen zu einem dünnen Strich aufeinander und Marie neben ihm riss panisch die Augen auf. War sie denn lebensmüde geworden?!

Gefährlich langsam drehte Thorin das Gesicht halb zu ihr und Marie konnte es in seinen Augen blitzen sehen. Und genauso langsam beugte er sich tief zur anderen Seite, holte aus und schlug schräg auf die Wasseroberfläche.

Wie ein kleines Kind quiekte Marie, als eine richtige Welle sie traf. Sie spuckte einen Schwall wieder aus und hob die Hände. Lange Strähnen hingen ihr durchnässt vor dem Gesicht, die sie sich wie bei einem Vorhang zur Seite schob und mit großen Augen zu ihm spähte. ,,Wie wär’s mit einem Unentschieden?“

,,Normalerweise gebe ich für solch ein Vergehen keine Gnade.“ Wie lange hatte er dieses Spiel nicht mehr gespielt?

Marie erkannte, dass er ihr zum Glück nicht böse war. Sie senkte das Kinn auf die Brust und lächelte ein wenig unbeholfen, während sie begann, ihren Rock auszuwringen. Thorin wischte sich über den nassen Bart und schüttelte seine Haare, sodass die beiden dünnen Zöpfe, die unter den Haaren hervor kamen und sonst auf seinen Schlüsselbeinen ruhten, flogen. Dann saßen sie nebeneinander, lauschten dem gleichmäßigen Rauschen des Flusses, der am bunten Waldrand entlang floss und irgendwann in Richtung des Dorfes zwischen den Bäumen verschwand. Über den Wiesen lag der Morgennebel und hüllte alles in sein graues Gewand.

Unter ihren Sachen, die ordentlich nass geworden waren, fühlte sich ihre Haut kalt an, fing an zu prickeln. Oder lag es doch an seiner Anwesenheit? Um sich irgendwie zu wärmen, schlang Marie die Arme um sich selbst. An ihrem Umhang hatte sie nicht gedacht. Auch Thorin hatte keinen um. Sein Mantel lag noch auf seinem Lager, doch er trug mehr am Leib als sie.

Sie spürte, dass sie diese Kluft, die zwischen ihnen herrschte, mit ihrem Streit von gestern nur vergrößert hatten. Sie hatten sich wieder gefunden und gehen dennoch wie Fremde miteinander um. Doch warum? Er war doch immer noch der Thorin, den sie kannte. Oder nicht? Hatte er sich von ihr abgewandt? Hatte er sie genauso vermisst, wie sie ihn?

Aus den Augenwinkeln schielte sie zu dem Zwerg und fürchtete, dass er ihren wild pochenden Herzschlag hören könnte. Seine Augen waren halb geschlossen, blickten den Fluss hinab. Seine langen, ungekämmten Haare fielen ihm um die breiten Schultern. Feine graue Strähnen zierten sie vom Stirnansatz aus, sahen aus wie Silberfäden. Er ließ ein paare Steine in der Hand hin und her rollen und Marie betrachtete den länglichen Ring an seinem linken Daumen. Dunklere Muster waren auf dem dünnen Metall, das für sie eher wie ein schiefes, zusammengerolltes Quadrat statt einem richtigen Ring vorkam. Unter seiner Unterlippe, seitlich über dem Kinn war jeweils eine kleine Fläche im schwarzen Vollbart haarlos. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er kein dünnes Zöpfchen mehr unter dem Kinn wie damals trug.

Wahnsinn. Er sieht immer noch so gut aus, ertappte sie ihre Gedanken, als sie an ihrer Unterlippe kaute und seine markanten Gesichtszüge, sowie den Rest seines starken Körpers heimlich betrachtete. Warum schweigen wir uns so an? Dabei gäbe es vieles worüber man sprechen könnte, vielleicht auch sprechen müsste.

„Ich hab sehr gut geschlafen“, sagte sie schließlich, um endlich ein Gespräch anzufangen.

,,Das freut mich.“

,,Nur, wie bin ich auf deinen Platz gekommen?“

,,Du bist am Tisch eingeschlafen. Ich hab dich dort hin getragen.“

,,Ich bin doch viel zu schwer!“

Ihm entfuhr ein amüsiertes Schnauben. Mit einem spöttisch hochgezogenen Mundwinkel warf er einen Stein so ins Wasser, dass dieser springen sollte, doch die Wasseroberfläche war zu unruhig und der Stein sank. ,,Ich hätte dich auch in dein eigenes Bett tragen können.“

Ihre Wangen erröteten. ,,Danke“, stammelte sie. Ihr Herz schlug noch schneller, als ihr bewusst wurde, dass sie in seinen Armen gelegen haben wusste. ,,Wo hast du geschlafen?“

,,Bei den anderen.“

Vage nickte sie. Um das drohende unbeholfene Schweigen zu entgegen, schlug sie eine neue Richtung ein. ,,Du hast deinen Zopf abgeschnitten.“

,,Hm.“

,,Wieso hast du das getan?“ Doch schon bereute sie die Frage.

Er senkte seinen Blick auf seine Stiefel aus schwarzem Leder, die mit umbundenen Lederriemen und Metallkappen an der Spitze und am Hacken gefertigt worden waren. ,,Nach Smaugs Angriff sah ich die versengten Bärte meines Volkes. Ein grässlicher Anblick. Ich hörte ihr schmerzerfülltes Wimmern, ihr Klagen. Viele sind mit hässlichen Narben entstellt, werden es ihr Leben lang bleiben. Ich habe daher für mich beschlossen, das Leid meines Volkes zu teilen. Und so nahm ich ein Messer und schnitt ihn ab.“

,,Es tut mir leid.“ Marie sah, dass er die Handfläche etwas geöffnet hielt, als läge dort etwas von großem Wert darin. ,,Das war sehr selbstlos, was du getan hast.“

Doch er schnaubte, schüttelte den Kopf. ,,Als mein Vater mich sah, hat er mich nur fassungslos angestarrt. Ich hab versucht, es

mit ähnlichen Worten wie eben zu erklären, doch er hatte mir vor Schock und Entrüstung nicht mal zugehört. Ich als erwachsener Zwerg bekam eine ordentliche Ohrfeige.“

Maries Augen weiteten sich.

,,Heute schneide ich mir meinen restlichen, mickrigen Bart regelmäßig damit er kurz bleibt.“

,,Er ist nicht mickrig.“

,,Für uns schon.“ Wieder warf er einen Stein in die Strömung, noch kraftvoller als die vorherigen.

,,Ich finde ihn schön.“

Er sah sie an und Thorin verlor sich in dem Grün ihrer Augen, was ihn an tiefe Wälder im Sommer erinnerte. Etwas von dem warmen Gefühl war bei diesem Anblick und ihren schlichten Worten aufgeflammt, wie eine Stichflamme, und breitete Wärme in ihm aus.

Marie spürte auch eine Wärme, jedoch war es bei ihr die Schamesröte, die ihr ins Gesicht drückte. Das hab ich jetzt nicht wirklich gesagt?! Am liebsten würde sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn schlagen. Beschämt wandte sie ihren Blick ab.

Alles war so unwirklich. So viel war passiert, so viel Zeit vergangen. Und nun saß er mit ihr hier, wie zwei ganz normale Personen. Es fühlte sich fremd und vertraut zugleich an. Ihre Verlegenheit, ihre Neckereien…typisch Marie. Er fühlte sich, wie in eine andere Zeit zurück versetzt. In ihre gemeinsame Vergangenheit nämlich.

Sein Blick blieb an ihr hängen. Egal wie sehr er sich dagegen stemmte: sie war immer noch seine Marie…genauso schön wie damals. Thorin bemerkte die nassen Stellen auf ihrem Kleid. Ihre Beine zitterten sogar ein wenig. Immer noch schaute sie von ihm abgewandt in die Ferne. Ein Verlangen brach in ihm aus.

Es war wieder das Verlangen, sie zu berühren. Er wollte sie wärmen, sie vor allem und jeden beschützen, wieder ihre Nähe spüren. Diese Distanz, in der sie sich zueinander befanden, ertrug er nicht länger und so warf er die restlichen Steine fort. ,,Komm her.“ Langsam drehte sie den Kopf, starrte ihn an, als verstehe sie nicht. Er streckte die Hand aus. ,,Komm.“

Bei dieser Geste konnte Marie nicht länger sitzen bleiben. Sie rückte zu ihm und seine starken Arme umschlossen sie, legten sich feste um ihren frierenden Körper. Den Kopf auf seine Schulter gelegt, lehnte sie sich an ihn und schloss die Augen.

Er legte seinen Kopf gegen ihren, sog den betörenden Geruch ihres Haars ein. Bis auf das leise Gurgeln des Flusses, welcher beide umfloss, war es still. Manchmal spritzten Tropfen auf den dunkelgrauen Felsen. Es war als säßen sie auf einer Insel, die aus einem Meer aus Nebel lag, weit abgeschieden vom Rest der Welt.

,,Ich war dir nicht fair gegenüber.“

Marie hob den Kopf, damit sie ihm ins Gesicht schauen konnte.

,,Ich habe dich beobachtet, als du Kili dieses Lied vorgesungen hast.“

Sie nickte. ,,Ich weiß.“

,,Ich habe nicht gerecht über dich geurteilt, Marie. Als ich dich da sitzen sah, da… Du sahst Dis in diesem Moment so ähnlich und ich wurde wütend, weil ich sie nicht beschützen konnte.“

,,Oh, Thorin“, Marie schmiegte sich wieder an seine Schulter, ,,du musst aufhören, dir irgendwelche Schuld daran zu geben. Bitte. Mir tut es ebenfalls leid, dass ich dir so etwas vorgeworfen habe, obwohl ich weiß, wie viel dir deine Neffen und deine Mission bedeutet.“ Statt einer Antwort wurde sie fester umarmt und beide verfielen in Schweigen.

Auf einmal verschwand die tröstliche Stille und ein Lied erklang so nah bei ihr, dass sie die Vibrationen der unvorstellbar tiefen Worte in sich spürte…

,,Über die Nebelberge weit,

zu Höhlen tief, aus alter Zeit.

Da zieh‘n wir hin,

da lockt Gewinn,

durch Wind und Wälder, Not und Leid“, sang Thorin leise vor sich hin. Vertraut legte sie die Arme um seinen Bauch und lauschte seiner Stimme. In ihr kribbelte es wie verrückt und zwischen diesem wohligem Kribbeln spürte sie es: das gleiche Gefühl, welches schon einmal in ihr herrschte und sie wieder erkannte. In diesen Moment wusste Marie, dass sie den Flügelschlag desselben Schmetterlings von einst in sich fühlen konnte.

,,Und dort wo knisternd im Gehölz erwacht,

ein Brand von Winde angefacht.

Zum Himmel rot, die Flamme loht,

der Wald befackelt

hell die Nacht.“

Er endete und schmiegte sich seufzend an sie, als würde sie etwas an sich tragen, was er brauchte. Die Sehnsucht drückte in ihrer Kehle. ,,Wie sehr hast du mir gefehlt…“ Ihre Stimme zitterte stark, drohte zu ersticken. ,,Ich hab dich so schrecklich vermisst.“

,,Ich hab dich auch vermisst, Marie“, flüsterte er und wandte den Kopf. Sie reagierte darauf und schaute ihn an. In diesem Moment beugte sich Thorin langsam zu ihr. Und die Luft zwischen ihnen begann zu brennen. Maries Hand glitt über seine Brust, hinauf zu seinem Hals. Eine einzige Bitte in den Augen.

Doch kurz bevor seine Lippen ihre berührten, zog er sich zurück. ,,Es war ein Fehler.“

Marie öffnete die Augen und starrte ihn an.

,,Es tut mir leid.“ Fluchtartig befreite er sich von ihr, stand auf und war mit einem Satz am Ufer. Oben auf der Wiese zögerte er und drehte sich zu ihr um.

,,Thorin!“ Da wurde ein Ruf zwischen Haus und Stall lauter. ,,Verdammt, wo steckst du denn?“ Dwalin erschien, winkte ihn zu sich. ,,Komm endlich! Kili ist wach!“

Der Zwerg sah ein letztes Mal zurück zu ihr und lief dann zum Haus. Marie blieb sitzen, wo sie war, und sah den Fluss entlang.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

13

 

 

Als er in das Zimmer stürmte, saß Fili auf dem Bett seines Bruders und drehte sich mit einem Lächeln zu ihm um. Mit zwei Schritten war Thorin bei ihnen, beugte sich über Kili, legte die Stirn an seine und griff ihm in die Haare, um seinen Kopf in beiden Händen zu halten. Kili tat es ihm gleich und für einen Moment verharrten sie so in der intensiven, rituellen Nähe des anderen. Schließlich legten sich seine Hände an seine Wangen, die schon nicht mehr so erschreckend blass waren und Thorin überflog jeden Punkt in seinem Gesicht. ,,Wie fühlst du dich?“

,,Als hätte mich eine ganze Armee niedergestreckt.“

,,Das ist sie“, raunte Fili, sodass sich Kilis Augenmerk nun auf jemanden hinter Thorin richtete.

Dieser drehte sich um und sah Marie in der Tür stehen. Augenblicklich schnürte es ihm die Kehle zu. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er so schnell mit ihr und mit seinem Handeln konfrontiert werden würde. Schon wieder hatte er das Falsche gesagt und die Kluft zwischen ihnen zu einem Zeitpunkt erneut gerissen, als sie wieder begannen, so etwas wie Vertrauen und Zuneigung zueinander und füreinander aufzubauen. Er fühlte sich wie der größte Vollidiot Mittelerdes. Wie sollte er ihr nur erklären, was in diesem intimen Moment in ihm vorgegangen war?

,,Wie geht es dir?“ Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ging sie an ihm vorbei, auf die andere Bettseite.

Der junge Zwerg schaute misstrauisch zu der Menschenfrau hinauf, die er zum ersten Mal richtig wahrnahm und Fili sagte: ,,Das ist Marie. Sie ist Heilerin und war diejenige, die uns wieder zusammengeflickt hat.“

Auch sein Onkel schaute zu der Angesprochenen. Unsagbare Dankbarkeit fühlte er zwischen dem Meer aus Gefühlen in sich. Die Wahrheit war, dass seine Gefühle eben am Fluss ihn zu sehr übermannt hatten. Bei Durin, das einzige, was er wollte, war, sie zu küssen, doch die Folgen waren ihm so deutlich vor Augen gewesen wie der Blick, mit dem sie ihn förmlich angefleht hatte. Wie ihre Hand, die sich über seine Brust bewegt hatte. Er konnte nicht so tun, als wäre nichts gewesen, ehe er die Vergangenheit ihr nicht erklärt hatte. Und sie nicht um Verzeihung gebeten hatte. Marie aber zeigte ihm jetzt die kalte Schulter, – was er nur allzu gut nachvollziehen konnte. Thorin fühlte sich in seiner eigenen Haut nicht mehr wohl und wandte das Gesicht von ihr ab, als sie das Wort an Kili richtete.

,,Du hattest hohes Fieber.“ Sie hob die Hand, um seine Stirn zu befühlen. ,,Hast du Schmerzen? Ist dir schlecht?“

Er schluckte, musterte die Marie aus Dale immer noch ein wenig, von der ihm Fili anscheinend schon erzählt hatte, und antwortete mit heiserer Stimme: ,,Schlecht ist mir nicht. Mir tut nur alles weh.“

,,Keine Sorge. Auch das vergeht.“

Abermals schluckte er. ,,Fili hat mir erzählt, was passiert ist“, sagte er und wandte sich wieder seinem Onkel zu. ,,Es ist meine Schuld. Ich hätte besser aufpassen müssen…“

,,Nein, Kili“, kopfschüttelnd legte er ihm die Hand auf die Schulter. ,,Es ist passiert. So etwas kann man nicht vorhersehen. Es hätte jeden von uns treffen können.“ Die andere legte er auf Filis. ,,Doch ihr seid echte Kämpfer, Söhne Durins. Wenn ich euch anschaue, blicke ich in die Augen eurer Mutter und sehe die Stärke eures Vaters“, sprach er voller Stolz und sah auf seine Neffen, die ihre Blicke gerührt senkten. ,,Kommt mal her…“ Lächelnd, jedoch mit größter Anstrengung setzte sich Kili auf und presste sich zusammen mit Fili gegen die Schultern ihrs Onkels. ,,Ich hatte Angst um euch. Sehr große Angst...“

Als Marie sich erhob und ungesehen davon schleichen wollte, hob er den Kopf. ,,Marie.“ Flüchtig sah sie zu ihm, doch verließ den Raum ohne ein weiteres Wort. Diesmal war es Thorin, der zurück blieb und ihr hinterher sah. Er seufzte. Er hatte alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte. Er musste mit ihr reden. Und zwar sofort.

Auf einmal verzog Kili das Gesicht. ,,Onkel, könntest du uns jetzt wieder loslassen? Und gibt es hier irgendetwas zu essen? Ich hab solch ein Kohldampf, das könnt ihr euch nicht vorstellen.“

Fili lachte und Thorin ließ sie los. Sie befreiten ihn aus den Decken und legten seine Arme unterstützend um ihre Schultern, damit er aufstehen konnte. Beim ersten Schritt jedoch klappten seine Beine weg.

,,Alles in Ordnung?“

,,Fühlt sich an als wäre ich gelähmt.“

,,Langsam. Geh langsam weiter“, wies sein Onkel an. Zusammen gingen die drei in den Wohnraum und setzten Kili auf eine der Bänke am Tisch. Thorin sah sich um, doch Marie war wie vom Erdboden verschluckt.

,,Schön zu sehen, dass du noch unter den Lebenden weilst“, sagte Gloin und klopfte Kili grob auf die Schulter. Im Nu hatten sich alle Gefährten am Tisch versammelt. Manche klopften ihm ebenfalls kameradschaftlich auf die Schulter. Bei jedem Schlag jedoch verzog er das Gesicht.

,,Gut, dass ihr wieder auf den Beinen seid. Sah ja ganz schön übel aus“, meinte Nori und Balin pflichtete ihm bei:

,,Wahrlich echte Khazâd-felaks.“

,,Ja, echte Kämpfer! Das haben sie alles von mir gelernt“, rief Dwalin und wuschelte ihnen wie bei Kindern in den ohnehin schon verwuschelten Haaren, wobei beide missfällig die Köpfe einzogen. Alle lachten.

Im Pulk der Männer erschien Marie und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. ,,Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?! Ihr könnt sie doch nicht halbnackt hier sitzen lassen!“ Die Jungs schauten an sich hinunter. Sie trugen nur ihre Hosen und Socken, Fili noch sein Unterhemd. ,,Kommt sofort wieder ins Bett!“

,,Ach, komm schon, Marie…“, versuchte Fili, der sich neben seinen Bruder gesetzt hatte, sie zu beschwichtigen.

,,Ihr müsst euch schonen. Ab ins Bett.“

,,Bitte…“ Die Brüder setzten ihren besten Hunde-Blick auf. ,,Außerdem knurrt uns der Magen.“

Sie seufzte und erweichte sich etwas. ,,Also gut. So kann ich wenigstens eure Betten neu machen. Es ist eh Zeit für`s Frühstück. Tischt schon mal auf. Aber hier“, sie ging zurück ins Zimmer, warf ihnen ihre Hemden zu und stellte die Schüssel Wasser und den Lappen auf den Tisch. ,,Anziehen und waschen. Sonst holt ihr euch doch noch den Tod.“

Kaum hatte sie ausgesprochen, drängte sich auch schon Bombur mit einem Teller voll mit allerlei Essbarem an den Tisch. ,,Müsst ja wieder zu Kräften kommen. Ihr seht schon ganz kläglich aus.“

,,Oh, lecker! Danke.“ Gierig, als wären sie halb verhungert, stopften sie sich, während sie sich gleichzeitig versuchten, anzuziehen, das Essen in den Mund.

,,Das haben sie offenbar auch von dir“, raunte Balin halblaut seinem Bruder zu. Alle gaben ihm lachend Zustimmung und machten sich daran, den Tisch herzurichten.

Thorin sah Marie, die sich gerade mit neuem Bettzeug unterm Arm ins Nebenzimmer zurückzog, und wollte sie aufhalten. ,,Marie, hör mir zu.“ Härter als beabsichtigt war seine Stimme, als er sie zu fassen bekam, doch sie entriss sich ihm sofort.

,,Weißt du was? Du hattest recht“, fauchte sie ihm entgegen, ,,es war ein Fehler“, und knallte ihm die Tür vor der Nase zu.

Er blieb ausgesperrt und wagte es nicht, diese, von ihr gesetzte Grenze zu überschreiten.

 

~

 

Schwach nahm sie wahr, wie Thorin sich auf der anderen Seite entfernte und atmete tief durch. Dann straffte sie die Schultern, stieß sich von der Tür ab, an der sie gelehnt hatte, und ging zum Fenster hinüber, um es zu öffnen. Einsames Vogelgezwitscher und eine kalte, frische Brise erfüllten den Raum. Sie fing an, die alten Bezüge aufzuknöpfen und wollte an nichts mehr denken.

Doch Gedanken konnte man nicht zügeln, waren sie einmal in Bewegung. Sie merkte, wie ihre Hände zitterten und versuchte, es zu unterdrücken, indem sie schneller mit dem Laken hantierte.

Währenddessen drangen die Stimmen aus dem Wohnraum zu ihr. ,,Kili, du stinkst!“ Schon hörte sie das Geräusch von Wasser, das auf den Boden klatschte, übertönt von johlendem Gelächter. Marie verdrehte die Augen zur Decke. Die haben jetzt nicht etwa… Sie entschied sich, lieber nicht nachzusehen, was geschehen war. Ahnen konnte sie es ja schon. Außerdem war ihr in diesem Moment so einiges lieber, als mit einem ganz gewissen Zwerg in einem Raum zu sein.

Die Erleichterung der anderen, dass Kili und Fili über den Berg zu sein schienen, konnte nicht wirklich zu ihr durchdringen. Zu sehr beschäftigte sie der Vorfall am Fluss. Zwar schien von Thorin durch die Genesung seiner Neffen eine Last von vielen abgefallen zu sein - sie hatte den Glanz in seinen Augen und sein Lächeln gesehen - doch auch ihn ließ es sichtbar keine Ruhe.

Das völlig verschwitzte Bettzeug von Kili warf sie auf den Boden. Sollte er doch schmoren. Dann konnte er mal darüber nachdenken.

Eigentlich wollte sie vorhin mit ihm reden, das hatten sie zwar auch, aber es war nicht das Gespräch gewesen, was sie sich erhofft hatte.

Wie von Fäden gezogen widmete sie sich dem anderen Bett. Es war ein Fehler.

Seine Worte hingen wie Blei in ihrem Kopf fest. Warum hatte er diesen schönen Moment zerstört? Marie zerkaute sich die Unterlippe. Er hatte sie umarmt, sie war ihm so nahe… Und dann der Beinahe-Kuss.

Verträumt presste sie das Kissen an sich, drehte sich damit hin und her. Das Unmögliche war eingetroffen: sie hatte ihn wiedergefunden – ihren Thorin. Bei dem nächsten Gedanken jedoch hielt sie inne. Nachdenklich strichen ihre Finger über die weiße Stoffnaht. Was ist, wenn er gar nichts mehr von mir will? Ob er jetzt mit einer anderen zusammen ist? Das jedenfalls würde seine Reaktion erklären… Im Grunde genommen wusste sie gar nichts über ihn. Als sie an den Ring an seinem Finger dachte, kam ihr ein ganz neuer Gedanke, der alles über den Haufen warf. Was ist, wenn er verheiratet, wenn er längst schon vergeben ist? Gab es irgendwo eine Zwergenprinzessin, die auf ihn wartete? Kraftvoll zog sie den Bezug vom Kissen, schleuderte ihn zu Boden. Natürlich, bei so einem Mann, noch dazu einem König. Ihr wurde bewusst, wie attraktiv er war und welche Macht er immer noch über sie ausübte.

Doch er ist nicht mehr Prinz, korrigierte Marie sich selbst, ehe sie in irgendwelche Schwärmereien abdriften konnte, die sie später bereuen würde. Er ist König und…Und ich bin nur die Tochter eines Heilers, irgendwo in einem Dorf, mehr auch nicht. Ich sollte mir keine voreiligen Hoffnungen machen. Vielleicht war ich mal seine Jugendliebe, doch das ist Vergangenheit.

Die unterschiedlichen Welten aus denen sie kamen, schienen heute noch entfernter voneinander zu sein, als damals schon. Es waren nicht nur ihre verschiedenen Völker; es war das Schicksal ihrer Geburt: er als Sohn einer Königsdynastie, sie die menschliche Tochter einer gewöhnlichen bürgerlichen Familie.

Aber genau das war es: sie wollte mehr. Es sollte alles wieder so wie früher sein, doch dieser Wunsch schien weit weg zu sein. So lange hatte sie hinter ihm her getrauert, wie nach einem Verstorbenen, nächtelang wachgelegen, sich gefragt, wo er war, wie es zu all dem kam… Und jetzt war er vor zwei Tagen wieder aufgetaucht, stand einfach mitten auf der Farnlichtung.

Und nun soll alles wieder so wie früher sein? Was soll ich denn erwarten? Sollte er mich durch die Luft wirbeln, mich küssen, mich noch zwischen den Farnen nehmen? Der Stoff fiel bei die-sem Gedanken zu Boden und sie sank auf die Bettkante, fuhr sich durch die Haare. Das Wissen, dass ein vorwitziger Schmetterling, der auch nur bei dem Hauch eines Gedanken an ihn mit seinen Flügelchen flatterte, machte den Versuch, Ordnung in ihre Gefühle zu bringen, noch schwerer als es ohnehin schon war.

 

~

 

Als sie aus dem Zimmer mit einem Berg aus Bettbezügen in den Armen trat, saßen alle am reich und verschwenderisch gedeckten Tisch versammelt. Die Männer stachen mit ihren Messern und Gabeln in die Kolben und die Schüssel mit Mais war leer. Am Tisch herrschte reges Durcheinander.

,,Reicht mal den Käse runter!“ Das Brett wurde durchgereicht.

,,Hey, ich hatte noch nicht!“ Und es wanderte wieder zurück.

,,Gib mal den Schinken her!“ Die Schüssel mit den schmackhaft geräucherten Streifen wurde über den halben Tisch gereicht. ,,Bombur, lass welche übrig! Du hattest schon acht!“

,,Stimmt doch gar nicht!“

,,Die Milch - nee, die andere.“

,,Wo?“

,,Bist du blind? Mach die Augen auf, da vor dir.“

So wie es aussah hatten die Männer ihre halbe Vorratskammer geplündert. Doch bei dem Anblick der losgelösten Stimmung war sie ihnen darüber nicht böse. Und wie sie es schon geahnt hatte, lag um Kilis Platz herum eine Pfütze. Sein nassen Sachen bezeugten es: sie hatten ihm die Schüssel einfach über den Kopf gekippt. Über ihre Dreistigkeit seufzend holte sie einen Weidenkorb hervor, packte alles hinein und stellte ihn neben die Tür. Sie würde die Sachen später waschen müssen.

,,Marie, setz dich zu uns!“ Bofur klopfte stolz auf den freien Platz neben sich, den er ihr wohl extra freigehalten hatte.

,,Danke, esst ihr ruhig“, winkte sie ab und nahm sich eine Schürze vom Haken. ,,Ich muss das Mittagessen vorbereiten.“

,,Oh, na gut“, hörte sie seine Enttäuschung im Rücken und zurrte die Schnüre der Schürze enger. Marie entfachte das Feuer unter der Herdplatte, holte sämtliche Utensilien und Zutaten hervor, die sie brauchte. Es sollte Kartoffeln geben, dazu mit Fleisch gefüllte Paprikas. Keine Minute später war auf der Anrichte kein Plätzchen mehr frei und sie in gewohnter Arbeit geflüchtet. Einen Blick über die Schulter konnte sie dennoch nicht verhindern und sah, wie von einem schlechten Omen geleitet, direkt in Thorins sturmgraue Augen, die auf ihr lagen und jede ihrer Bewegungen verfolgten. Marie reckte das Kinn und kämpfte mit sich, seinem Blick standzuhalten, mit dem er sie verschlang. Wut ballte sich in ihr. Der verräterische Schmetterling aber machte zu allem Überfluss einen Salto. Als sie sich ein kleines Insekt vorstellte, das Kreise flog, wandte sie sich schnaubend ab. Weit schob sie diesen Gefühlszustand von sich. Hör auf ihn so anzuhimmeln!, funkelte sie das lästige Insekt an. Mach dir keine Hoffnungen.

Sie überlegte gerade, wie sie die nächsten Tage aushalten sollte, als sich jemand für einen Trinkspruch erhob. Verwundert drehte sich Marie zu Kili. Schnell brachte Oin seinen Trichter in Stellung, ehe der junge Prinz das Wort erhob.

,,Leute, hört zu! Ich will nur ganz kurz was loswerden, also seid mal still! Da wir ja jetzt wieder alle an einem Tisch sind, wollte ich mich bei unserer Heilerin und Wirtin bedanken, ohne die ich vielleicht nicht mehr hier wäre. Danke für alles, was du für uns getan hast, Marie, besonders für meinen Bruder und mich.“ Er sah seine Retterin an, die gerührt an der Küchenzeile stand. Diese hatte keine Zeit zu antworten, denn schon reckte Kili seinen Krug in die Höhe. ,,Für einen Menschen bist du echt in Ordnung und deshalb… lasst uns auf Marie trinken, Männer!“

,,Aber sie hat ja gar nichts!“, beschwerte sich jemand.

Eilig schenkte Bifur Wein in einen Krug, bis dieser fast überlief, und brachte ihr diesen noch, nicht ohne fast die Hälfte zu verschütten.

,,Auf Marie! Prost!“ Lautstark wurde von allen wiederholt und die Krüge zu ihr gereckt, um sie danach auch in der wiedervereinten Gemeinschaft gegeneinander zu stoßen. Milch und Wein ergossen sich über der Tischmitte.

Ein Zwerg trank nicht mit den anderen. Thorin wartete, bis er Maries Aufmerksamkeit für sich allein hatte, hob dann den Krug und senkte leicht sein Haupt vor der Frau. Doch wider Erwarten reagierte sie nicht auf seine Geste, die sie milder stimmen sollte. Marie hob ihren Krug nur beiläufig und trank von ihm abgewandt.

,,Was hast du mit dem Mädchen getan?“ Balin lehnte sich mit strengem Ausdruck zu ihm.

,,Nichts“, antwortete er und spürte einen tiefen Stich in sich. ,,Und genau das ist es…“

Bofur nahm sich von den roten Trauben, warf eine hoch, hielt seine Mütze fest und fing sie mit Leichtigkeit mit dem Mund.

,,Iss doch nicht alle alleine. Wirf mal was rüber!“, rief Bombur vom andern Ende der Tafel.

,,Zu weit. Schafft er nie“, meinte Fili.

,,Pff! Klar, ein Leichtes. Bombur, fang!“ Eine pralle Traube flog über den kompletten Tisch, direkt in den weit aufgerissenen Mund des dicksten Zwerges. Begeisterter Jubel brach aus.

Auf Oris Wink hin flog auch eine Traube zu ihm, die er mit den hohlen Händen fang. Bilbo amte das Handzeichen nach, doch die geworfenen Traube prallte plump an seiner Stupsnase ab und kullerte zu Boden. Sofort schallte lautes Gelächter.

Marie verdrehte lächelnd die Augen und kümmerte sich wieder um die Paprikas, als jemand sie rief: ,,Marie, jetzt du!“ Sie drehte sich um und sah Nori bereits zum Teller greifen. ,,Ich kann das nicht.“ Als sie sich erneut abwandte, bekam sie eine der Früchte gegen die Schulter geworfen. ,,Hört auf mit dem Kinderkram!“ Schlagartig verstummten die Stimmen. Ein Dutzend Augenpaare sahen sie an.

,,Tut mir leid.“ Sie atmete tief durch und trank einen großen Schluck Wein aus ihrem Krug. ,,Ach, was soll’s.“ Gestärkt mit etwas Alkohol nahm sie die Traube von einem grinsenden Bofur entgegen und auf die Anweisungen, dass es doch so viel zu einfach wäre, ging sie zwei Schritte zurück, peilte Nori an und warf. Doch zu hoch. Er musste sich weit nach hinten lehnen, seine Finger rutschten von der Tischkante ab und er kippte polternd von der Bank. Während Marie um den Tisch eilte, um nach ihm zu sehen, amüsierten sich seine Kameraden auf das Köstlichste über seine Flugeinlage. Ihr dröhnendes Gelächter wurde von den Fäusten übertönt, die sie in ihren Lachanfällen auf das Holz hauten.

Nori rappelte sich auf, griff zum Teller und warf eine Traube mit ordentlicher Kraft. Dwalin, der mit am lautesten lachte, bekam seine Rache ins Auge. ,,Du elendiger Hund!“ Auch er warf eine Traube, welche aber Kili abbekam.

,,Au! Na warte!“, und er pfefferte eine zurück.

Wie auf’s Zeichen hin griffen alle nach den restlichen Trauben und sofort war eine wilde Wurf-Schlacht im Gange. Marie konnte gar nicht so schnell reagieren, wie die prächtige Rebe auseinander gerissen wurde. Sie zog den Kopf ein und krabbelte unter den Tisch, wo sich auch schon Bilbo vor den Geschossen in Sicherheit gebracht hatte. Als ihre Blicke sich trafen, mussten beide lachen.

Währenddessen flogen über dem Tisch rötliche Blitze zwischen zwei Fronten hin und her. Becher und Krüge wurden umgeworfen, rollten über den getränkten Boden. ,,Mal sehen, wie dir das schmeckt!“ Jeder angelte nach den umher rollenden Früchten um sie dann jemanden an den Kopf zu pfeffern. Und so war es nicht verwunderlich, dass der Teller rasch leer war. Langsam verebbte das Gelächter und die beiden unter dem Tisch trauten sich wieder hervor. Kreuz und quer lagen die Trauben im Wohnraum verstreut. An den Schränken und Wänden klebten zahlreiche zermatschte Kleckse.

,,So...und jetzt?“, fragte Nori außer Atem.

Marie stemmte die Hände in die Taille. ,,Jetzt, mein verehrter Herr Zwerg, würde ich vorschlagen, dass ihr hier aufräumt.“ Ein mehrstimmiges Raunen ging durch den Raum.

 

~

 

Unter Maries Anordnung und scharfer Beobachtung mussten die Männer alle Früchte wieder aufsammeln - manche krochen sogar auf allen Vieren über die Dielen. Auch die Trauben aus den hintersten Ecken und die zermatschten waren verschwunden. Marie stand an der Küchenzeile gelehnte, ihren Wein in der Hand und ein kleines, schadenfrohes Grinsen im Mundwinkel.

Die gelöste Stimmung hielt auch bis zum Mittagessen an, das in einem etwas kontrollierterem Durcheinander stattgefunden hatte. Alle Schüsseln, Töpfe und Pfannen waren bis auf den letzten Klecks und Krümel leer geworden. So ein Mahl hatte Marie schon lange nicht mehr gekocht und solch ein Lob dafür ebenso lang nicht bekommen.

Nochmals sah sie zum Tisch und wunderte sich, dass sie alles wieder sauber bekommen hatten. Eines musste man den Zwergen hoch anrechnen: was sie in Chaos anfingen, endete stets aufgeräumt.

Gerade wollte sie die letzten Teller des immensen Geschirrberges in den Waschbottich packen. Einen Eimer Wasser hatte sie schon geholt, obwohl dieser allein nicht reichen würde. Die Seife stand auch schon auf dem Brett, als plötzlich Thorin neben ihr stand. ,,Dori, Ori, Bombur. Wascht das für sie“, wies er kühl an, nahm ihr die Teller einfach aus der Hand und übergab sie Dori, der folgsam zu ihm getreten war. ,,Was musst du noch machen?“, fragte er dann in der gleichen Tonlage.

,,Das Vieh muss noch auf die Wiese“, antwortete sie nach Zögern, in dem sie überlegte hatte, ihm einfach nicht zu antworten.

,,Gloin, Bifur.“

Dankbar nickte sie den beiden zu und ging dann zum Wäschekorb, um nicht noch länger so nah bei ihm stehen zu müssen. Den ganzen restlichen Vormittag über hatte er sich im Hintergrund gehalten und jetzt begann diese Misere von neuem. Gerade als sie die Bettwäsche anhob, trat jemand neben ihr. Sie konnte seine Anwesenheit spüren, ehe sie ihn sehen oder hören konnte.

,,Ich helfe dir.“ Thorin wollte ihr den schweren Korb abnehmen, doch sie drückte ihn an sich.

,,Das ist meine Aufgabe.“

,,Denkst du, Frauenarbeit schreckt mich ab?“ Er sah ihr in die Augen und zog die Stirn kraus, was die Spannung zwischen ihnen

ein wenig nahm.

,,Nein, aber…Thorin, du musst das nicht tun - du und deine Gefährten. Ihr macht schon mehr als ihr solltet.“

,,Ich hab es ihnen gesagt.“

,,Befohlen.“

,,So kannst du es auch nennen.“

,,Machen sie immer das, was du von ihnen verlangst?“

Er schien sehr verblüfft über ihre Frage zu sein, antwortete aber mit fester Stimme: ,,Normalerweise schon, ja.“

,,Du sprachst ganz schön herrisch zu ihnen.“

,,Du verwehrst meine Hilfe, lässt sie aber von den anderen annehmen.“

,,Du hast das Thema gewechselt.“

Allmählich verlor er die Bemühung, ruhig zu bleiben. ,,Weißt du eigentlich, dass du unglaublich dickköpfig bist?“

,,Da hab ich mir wohl etwas von dir abgeguckt. Würdest du mich nun entschuldigen? Ich habe zu tun.“ Abermals wollte er ihr den Korb abnehmen und sie wusste keinen anderen Ausweg, als zurückzuweichen. ,,Nein.“ Thorin hielt erstarrte inne. Seine Lippen hauchten ihren Namen und Marie umklammerte den Korb, um nicht den Boden unter ihren Füßen zu verlieren. ,,Lass mich bitte einfach in Frieden.“ Als sie den verletzten Ausdruck in seinen Augen sah und seine niedergeschlagene Stimme hörte, riss er die alte Wunde auf, aus der seit seinem Auftauchen Blut sickerte.

,,Wenn dies dein Wunsch ist...“ Er trat von ihr zurück und sah sie nicht mehr an.

Als Marie sich gefasst hatte und ins Freie treten wollte, durchzuckte seine Stimme sie in der Tür wie ein Richterbeil: ,,Bofur! Du gehst mit ihr.“

Der überrumpelte Zwerg, der es sich gerade mit frisch gestopfter Pfeife vor dem Haus gemütlich machen wollte, nickte gehorsam und Marie spürte, dass sie lieber nicht wiedersprechen sollte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

14

 

 

Wenig später standen die beiden von Wäsche geschützt an der gespannten Leine mit Blick auf das Nebelgebirge. Maries Heim war groß und gepflegt und galt als Privileg. Die unteren Mauern waren aus Sandstein, das Obergeschoss, das nur einen Raum, ihr Zimmer, beinhaltete, aus dunklem Fachwerk. Auf den Holzschindeln, mit denen das Dach gedeckt war, spross hier und da Moos. Die Fensterläden leuchteten mattgelb in der Herbstsonne.

,,Danke“, nuschelte sie, als Bofur ihr eine Wäscheklammer aus dem Körbchen reichte. ,,Du, Bofur…“

,,Hm?“

,,Hat Thorin eigentlich eine…Frau?“ Noch ehe sie die Frage gestellt hatte, färbten sich ihre Wangen.

Der Zwerg schaute sie schief an, schüttelte dann aber den Kopf. ,,Thorin Eichenschild?“ Er stieß ein amüsiertes Grunzen aus.

,,Was ist?“

,,Das mit den Frauen ist so ‘ne Sache bei ihm. Ich hab ihn noch nie mit einer Partnerin gesehen. Da musst du wohl Dwalin oder einen der Jungs fragen. Wieso fragst du?“

,,Ich dachte…eine Prinzessin oder so…“

,,Du meist, ob er jemanden versprochen ist? Nein, nicht das ich wüsste.“

Abwesend nickte sie und hoffte, dass er ihre tiefroten Wangen nicht allzu sehr bemerkte. Also hatte seine Reaktion am Fluss eine andere Bedeutung gehabt. Vielleicht war der Fehler ja doch sie selbst…

,,Und was hat es mit seinem Zweitnamen auf sich?“, fragte sie, ehe sie noch mehr darüber nachdenken konnte.

,,Du meinst ,Eichenschild‘? Den hat er nach der Schlacht von Moria bekommen. Er kämpfte gegen Azog den Schänder, einem riesigen Gunderbard-Ork“, erzählte er voller Elan und riss die Arme in die Höhe, um dessen Größe zu demonstrieren. ,,Furchtlos stellte er sich ihm entgegen, mit zerfetzter Rüstung, nichts außer einem Eichenast als Schild in den Händen. Im Kampf konnte er ihm den Arm abschlagen. Seitdem trägt er diesen Titel. Jeder kennt seine Tat.“

,,Hmm.“

,,Kann ich dich mal was fragen?“

,,Hm? Ja, klar.“

Er gab ihr noch eine Klammer. ,,Ich verstehe nicht, warum so eine hübsche, kluge Frau in so einem guten Haus ganz alleine lebt. Eure Menschenmänner müssten sich doch eigentlich um dich prügeln.“

Sie schwang das nächste Laken über die Leine und verschwieg ihm, dass ihre Abweisungen jeglicher Männer Kerrts jedes Mal hitzig diskutiert wurden. Vor allem von den Marktfrauen. ,,Schon… Sie interessieren mich aber nicht.“

Er stieß einen grübelnden Laut aus, als er ihr eine weitere Klammer reichte. ,,Schade, dass du und Thorin nicht zusammen bleiben konntet.“ Nichtsahnend zuckte er mit den Achseln. ,,Er hat dich wirklich sehr geliebt.“

Plötzlich schmerzte es in ihr, so sehr und unerwartet, dass sie die Faust ballen musste, um dagegenhalten zu können. Sie starrte auf das Laken vor sich und sah dennoch nichts.

,,Marie?“ Eine Hand fasste an ihren Arm. Sie fuhr herum und blickte zu Bofurs besorgtem Gesicht hinab. ,,Was ist mit dir?“

,,Nichts, alles gut.“

,,Hab ich etwas Falsches gesagt?“

,,Nein, ich…ach, ist schon gut.“

Bofur schüttelte den Kopf, ließ sich ins Gras nieder und klopfte auffordernd neben sich. ,,Glaub mir, du kannst mir nichts vormachen“, sagte er, nachdem sie sich neben ihn gesetzt hatte, und holte etwas aus seinem Mantel hervor. Es war eine hölzerne Bildschatulle. Feine Wurzeln eines Baumes waren kunstvoll in die Außenseite geschnitzt. Er klappte sie auf und hielt sie ihr hin. ,,Mein ganzer Stolz.“

Marie schaute auf die blonden Mädchen, die auf dem Bild eng beieinander standen. Es waren Zwillinge. Vor ihnen, in ihrer Mitte, stand ein jüngeres mit dunkleren Haaren. Sie entdeckte Bofurs lebendiges Funkeln in ihren Augen wieder. ,,Hübsch.“

,,Als Vater weiß man, wenn etwas nicht stimmt“, sagte er und steckte die Schatulle wieder ein. ,,Nun erzähl, was ging dir eben durch die Gedanken?“

,,Erinnerungen“, gestand sie leise. Eine Hand legte sich auf ihren Rücken.

,,Erinnerungen an ihn?“

Marie nickte, spielte unruhig mit der Klammer in ihren Fingern.

,,Was ist damals passiert?“

,,Hat er euch erzählt, dass er weg musste nach dem Sommerfest?“ Sein Schnurrbart wackelte, als er nickte. Marie sah in den grauen Himmel, schwieg eine Zeit. ,,Ich konnte es nicht erwarten, ihn wiederzusehen“, begann sie, spürte seine Hand auf ihrem Rücken, die ihr Mut fürs Erzählen gab. ,,Eines Abends hieß es dann: Thrain sei mit seinem Sohn wieder in Erebor. Es knackte an meinem Fenster. Ich öffnete es und er stand mit kleinen Steinchen in der Hand auf der Straße, hatte nicht bis zum nächsten Tag abwarten gekonnt…wollte mich überraschen. Wir gingen zum Fluss und verfolgten den Sonnen-untergang. Als die Nacht anbrach, musste er gehen. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag…“ Ihre Unterlippe begann zu zittern. ,,Und dann kam dieser verfluchte Drache.“ Marie schaute zu Boden. ,,Dale ging in den Flammen unter. Die Zwerge flohen…und Thorin… verschwand aus meinem Leben.“ Eine Träne rollte aus ihrem Augenwinkel. Die Wäscheklammer, die sie noch in der Hand hatte, wurde ins Gras geschleudert. Sie schluchzte auf, schlug die Hände vors Gesicht, doch Bofur fasste nach ihnen, nahm sie weg.

,,Hey…“

Sie schniefte, versuchte vergeblich die Tränen zurückzuhalten, mit denen sie rang.

,,Ist schon gut.“ Er rückte ganz dich zu ihr, legte einen Arm um sie. ,,Nicht weinen…schon gut.“

,,Es tat so weh…es tat so weh ohne ihn zu sein. Ich wollte, dass er bei mir bleibt. Ich wollte nicht, dass er geht.“ Tröstend strich er ihr über’s Haar, sodass sie ihren Kopf auf seine Schulter niedersacken ließ. ,,Wie sehr hab ich ihn geliebt…“

Daraufhin spürte sie eine Hand an ihrer Wange. Bofur wischte ihr vorsichtig die Tränen fort und legte die Strähnen zurück hinter ihr Ohr. ,,Soll ich dir mal was erzählen? Thorin hat dich nie vergessen. Er hat uns gesagt, dass er dich über alles geliebt und es sich nicht verziehen hat, dich zurück lassen zu müssen. Er macht sich große Vorwürfe.“

Marie presste die Augen zu. Weitere Tränen fielen.

,,Du konntest ihn also auch nicht vergessen.“ Auf einmal ging ein Ruck durch ihn hindurch. Er bekam große Augen. ,,Ja…er. Bei Durin, ja, das ist es! Du hast die ganze Zeit auf ihn gewartet!“

Sie antwortete nicht, sah betreten zu Boden, schwieg, unfähig auszusprechen, wie sehr er recht hatte. In diesem Moment wurde ihr klar, warum sie Greg nicht heiraten konnte. Ihr Herz hatte immer noch dem Zwergenprinzen gehört. Sie hatte loslassen gesollt. Doch hatte es nie getan.

,,Marie, du musst ihn dir zurück holen!“

,,Bofur, bitte... Er ist jetzt König.“

,,Ja, aber…“

,,Und ich bin nur eine Bauerntochter.“

,,Aber… Marie“, er fasste ihr an die Schulter, doch sie erhob sich, nahm ihre Arbeit wieder auf und sagte nichts mehr.

 

~

 

Am Abend waren alle um den Kamin eingekehrt. Manche Zwerge hatten ihre Haare neu eingeflochten. Überall zwischen ihren Lagern lagen noch Kämme in den verschiedensten Formen und kunstvoll filigran gefertigte Verschlüsse für Zöpfe. Kili und Fili hatten sich bereits zurückgezogen und so saßen die restlichen Männer in der Wärme des Feuers, um den Tag ausklingen zu lassen.

Die ganze Zeit hatten Bofurs wachsame Augen sie beobachtet, ständig zwischen ihr und Thorin hin und her gewechselt. Dieser saß zwischen den Gefährten, hatte mit versteinertem Blick seine Haare verlesen. Seit Stunden hatte er wieder einmal kein einziges Wort gesprochen. Marie hatte vorhin ihre Kräuter verarbeitet und war danach ins Dorf verschwunden. Den ganzen restlichen Nachmittag war sie fort gewesen. Sie war aus dem Haus geflüchtet. Das wusste Bofur. Nun saß sie am Tisch, abseits von ihnen, und schrieb irgendetwas auf. Ihr nachdenklicher, fast schon trauriger Blick entging ihm nicht und er zerbrach sich den Kopf darüber, was in ihr wohl vorgingen würde.

Marie beendete ihre Arbeit, stand auf und legte alles beiseite. ,,Ich bin bei den Jungs.“ Sie ging ins Nebenzimmer, schloss die Tür hinter sich und auf einmal stand auch Thorin auf und ging wortlos nach draußen. Als die Haustür ins Schloss fiel, konnte Bofur nicht mehr still sitzen bleiben. Voller Tatendrang sprang er auf. ,,Ich kann da nicht mehr tatenlos zusehen, wie die beiden miteinander umgehen, als wären sie Fremde.“ Überrascht von der plötzlichen Wendung des Abends schauten die Männer auf.

,,Thorin hat uns erzählt, dass er sie nicht vergessen konnte. Ihr habt es alle gehört! Und vorhin beim Wäscheaufhängen hab ich erfahren, dass sie es auch nicht konnte.“

Heftiges Gemurmel brach aus. ,,Bist du dir sicher?“

,,Was hat sie gesagt? Erzähl schon.“

Der braunhaarige Zwerg kratzte sich am Hinterkopf. ,,Naja, sie hat es jetzt nicht von sich aus gesagt…“

Skepsis breitete sich unter den Zwergen aus.

,,Mann, natürlich hat sie noch Gefühle für ihn.“

Alle drehten sich zu Bilbo um.

,,Bist du jetzt der Frauenversteher, oder was?“, brummte Dwalin höhnisch an der Kaminmauer gelehnt.

Bilbo machte ein finsteres Gesicht. ,,Nein, aber habt ihr denn nicht gesehen, wie traurig sie eben aussah?“

,,Stimmungsschwankungen. Bei Frauen weiß man nie“, murrte Nori.

,,Nein, nein, nein! Glaubt mir. Ich weiß es“, beharrte Bofur, ,,da verwett‘ ich meinen Bart für.“ Dies gab den Männern zu bedenken.

Oin, der vor ihm saß, hingegen holte mit seinem Trichter aus und schlug ihm diesen gegens Knie.

,,Auh!“

,,Red‘ gefälligst mal lauter!“

Mindestens drei Leute machten: ,,Pscht!“

,,Sie kann uns doch hören, du Narr.“

,,Sie sieht bestimmt nur nach den Wunden. Kommt, wir haben nur wenig Zeit, um es endlich klarzumachen“, mischte sich Gloin ein.

Bofur rieb sich das Bein und warf der Haustür einen Blick zu. ,,Und Thorin müsste auch gleich zurückkommen.“

,,Gut. Freunde, wir müssen jetzt aktiv werden.“ Gloin schlug mit der Faust in seine Handfläche, doch Nori bremste ihn.

,,Warte-warte. Was ist, wenn Bofur sich täuscht und alles geht nach hinten los?“

Balin spitze die Ohren, zog seine Hakennase kraus. ,,Was habt ihr vor?“

,,Och, Leute…“ Frustriert zog Bofur an den Zipfeln seiner geliebten Mütze. ,,Ich war doch dabei. Marie hat geweint, geradezu bitterlich, nachdem sie mir die Geschichte erzählt hat. Ich sag euch, das liegt so klar wie Kloßbrühe auf der Hand!“

,,Hmm, Klöße…“, kam es aus Bomburs Richtung.

,,Na, wenn das so ist, dann ist es doch beschlossene Sache“, verkündetet Gloin und verschränkte zufrieden die Arme.

Dwalin auf der anderen Seite des Kamins machte es ihm nach. ,,Und was ist mit Thorin?“, brummte er und verzog keine Miene dabei. Sofort verebbte die anfängliche Begeisterung.

,,Er hat recht“, nuschelte Bombur zwischen den Pausbacken, ,,‘ne harte Nuss.“

,,Kann mir vielleicht mal jemand verraten, was hier vor sich geht?“, fragte Balin in die Runde, wurde jedoch von jedem überhört.

,,Wir müssen ihn dazu bringen, endlich mit ihr zu reden“, überlegte Dori laut. ,,Er muss das sagen, was er uns gestern Abend erzählt hat.“

,,Stimmt. Das war gut“, pflichtete ihm Bofur bei.

,,Also wie stellen wir’s an? Kommt, Männer, macht mal Vorschläge“, rief Dori mit aufmunternden Gesten in die Runde.

,,Pscht! Nicht so laut“, zischte Bofur ihn an. ,,Marie kann uns doch hören.“

,,In Durins Namen! Was habt ihr vor?!“, wiederholte Balin wütend und wurde daraufhin von allen angezischt. Empört blinzelte er.

,,Wir bringen Marie und Thorin wieder zusammen“, flüsterte Ori und grinste von einem Segelohr zum anderen.

Der alte Zwerg schaute verdutzt. ,,Findet ihr das wirklich eine gute Idee?“

,,Bruderherz, was soll die bescheuerte Frage?“, knurrte Dwalin.

,,Ori hat völlig recht“, meinte Dori. ,,Wie Bilbo schon sagte, ihr Wiedersehen war bestimmt kein Zufall. Sie gehören einfach zusammen.“

,,Und deshalb“, Bofur schlug Dwalin neben sich auf die Schulter, ,,müssen wir jetzt die Sache selbst in die Hand nehmen.“

,,Tse. Und wie wollt ihr das anstellen?“

,,Ähm, ja. Wir…hmm.“ Es wurde still. Ratlos schauten sie einander an.

Bifur unterbrach seine Schnitzarbeit und formte mit seinen Fingerspitzen zwei Münder, stellte sie gegenüber und drückte sie etwas stürmisch gegeneinander.

Die Männer nickten. ,,Du hast vollkommen recht, Bifur. Aber wie stellen wir das an?“

Bilbo, der still und aufmerksam zugehört hatte, legte die Hand ans Kinn. Dann stand er auf, ging grübelnd im Raum auf und ab, um besser denken zu können. Sein Blick wanderte zu der Bank unter dem Fenster, auf der Thorins Mantel lag.

,,Könnt ihr euch erinnern, als Thorin ohnmächtig war?“

Mehrere zögerliche „Jas“ bekam er als Antwort.

,,Marie hat ihn vernäht, saß dabei…ganz nah bei ihm“, fügte er mehr zu sich selbst hinzu, sah dann zu Dwalin und Bofur, zu Bifur, dessen eine Hand die andere schon fast vergewaltigte, und zurück zu Dwalin, diesmal auf seine Hände. ,,Ich glaube, das könnte klappen…“

,,Hast du ‘ne Idee?“

,,Los, spuck’s schon aus.“

,,Raus damit, Meister Beutling!“

Der Hobbit verdrehte die Augen. ,,Würd ich ja gerne, wenn ihr mich zu Worte kommen lassen würdet.“

 

~

 

Das Licht des Mondes fiel auf die dunkle Gestalt auf der Wiese, einige Meter vom erleuchteten Haus entfernt. Zwei weitere Gestalten näherten sich ihr. Als Thorin das Gras rauschen hörte, drehte er sich um. Vorbei war es mit seiner Ruhe.

,,Wir müssen mit dir reden“, begann Bofur sogleich. Dwalin neben ihm blieb vorerst schweigsam. Deutlich waren ihre Atemwolken in der kalten Nachtluft zu sehen. ,,Es geht um Marie.“

Mit zusammengekniffenen Augen sah Thorin sie distanziert an.

,,Uns ist allen aufgefallen, dass sie mehr für dich ist als eine alte Freundin“, fuhr er fort. ,,Du sagtest, du hättest sie geliebt.“

Thorin senkte den Blick auf seine Stiefel, die bei der Dunkelheit kaum noch zu erkennen waren. ,,Seid ihr gekommen, um mir das vorzuhalten?“

Bofur schaute zu Dwalin. Unmerklich nickte dieser. Dann holte er neuen Atem. ,,Sie hat vorhin geweint, Thorin.“

Sofort hob er den Blick. ,,Was?“ Seine Stimme war klar und schneidend und die beiden merkten, dass sie nun seine volle Aufmerksamkeit hatten. Nun war es Zeit, alles auf eine Karte zu setzen.

,,Thorin, du hast sie wiedergefunden und jetzt darfst du sie nicht wieder loslassen“, sprach Bofur eindringlich zu ihm. ,,Du musst mit ihr reden, ihr sagen, was du empfindest, weil…weil du sie doch immer noch liebst.“ Der Angesprochene reagiert nicht, sondern sah an seinen Gegenübern vorbei in die dunkle Nacht.

,,Verdammt, du darfst sie nicht einfach loslassen! Hör auf dein Herz. Es muss dir doch das gleiche sagen!“

Thorin schloss die Augen für einen Moment und blickte hoch in den Himmel. Wolken zogen am Mond vorbei, der schwindend am schwarzen, sternenlosen Himmelszelt stand. Die Gefühle konnte er nicht mehr ignorieren. Zu stark waren sie geworden. Er dachte an ihr Lächeln, das absolut schönste in ganz Mittelerde. Dann erinnerte er sich, wie sie neben Kilis Bett saßen, nebeneinander aufgewacht waren, wie sie Dwalin massiert hatte, wie er sie auf sein Lager trug, mit ihr zusammen am Fluss saß, sie in seinen Armen, an den Kuss, den er ihr geben wollte… Die Bilder schossen durch seine Gedanken wie Hagelkörner und immer das schöne, warme Kribbeln dabei in seinem Bauch, welches sich auch jetzt wieder meldete. Seine Marie. Sie war immer noch seine große Liebe.

Solch intensive Gefühle, die sie in ihm hervorrief, hatte er nie zuvor und nie wieder verspürt. Das Wiedersehen mit ihr hatte einen Funken ausgelöste, der auf das Feuer gesprungen war, das er all die Jahre zurückgehalten und verschlossen hatte und welches nun allmählich zu erloschen gedroht hatte.

Seine Atemwolken verblassten grau in der Dunkelheit, als er tief ausatmete und Gewissheit gefunden hatte. ,,Ihr habt recht“, seufzte er resigniert. ,,Ich liebe sie noch immer.“

,,Haha! Also doch!“ Stürmisch umarmte ihn Bofur, machte ein paar ausgelassene Freudenhüpfer dabei. ,,Wir wussten es, wir wussten es!“

,,Schon gut! Schon gut!“ Thorin befreite sich von ihm.

Dwalin zog Bofur am Kragen nach hinten und ergriff nun auch das Wort. ,,Und deshalb“, verkündete er und rieb sich die Hände, ,,wollen wir dir einen kleinen Anstoß geben.“

Misstrauisch sah Thorin seinen Freund an. Einen Wimpernschlag später traf seine geballte Faust auf seine Wunde.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

15

 

 

Bofur und Dwalin brachten ihren schmerzverzerrten Anführer zurück ins Haus. ,,Thorins Wunde ist aufgegangen.“

,,Von wegen…Ahrr.“ Thorin bekam einen Stoß in die Rippen.

,,Legt ihn hin und macht seine Schulter frei“, wies Marie an und eilte an die Schränke, um die nötigen Sachen zusammenzusammeln. Dwalin brachte indes seinen Freund auf dessen Lager. Mit einem Stöhnen legte Thorin sich auf seinen, von Bofur ausgebreiteten Mantel. Das gepanzerte Oberteil wurden ihm ausgezogen undThorin packte Dwalins Arm. ,,Ich schwöre, das zahl ich dir heim.“

Mit blitzenden Augen schaute Bofur um sein breites Kreuz herum. ,,Hehe, du wirst uns noch dafür danken.“

Voll bepackt mit allerlei Dingen eilte Marie herbei, schob den Hocker mit der Fußspitze neben die Sitzbank und stellte ihre Sachen darauf ab. ,,Was habt ihr denn da draußen gemacht?“ Sie zog ihm den linken Arm aus dem Ärmel, wobei er das Gesicht verzog, nahm ein Tuch und wischte das Blut weg, das durch den heftigen Schlag aus der aufgeplatzten Naht gedrungen war.

,,Och, nichts“, log Bofur beschwichtigend und zwinkerte Bilbo zu, während er zusammen mit Dwalin wieder hinüber zu den anderen ging.

,,Egal, was ihr gemacht habt: hört damit in der nächsten Zeit auf! Sonst heilt die Wunde nie“, sagte sie und funkelte die beiden an. ,,Habt ihr mich verstanden?“

Bilbo schürzte die Lippen über ihren strengen Ton.

,,Ich wette auf Marie“, raunte jemand neben ihm, als sie sich abgewandt hatte.

,,Ich steig mit ein.“

,,Ich setz dagegen.“ Leise klimperten Münzen.

Bilbo legte den Kopf schief. ,,Worauf schließt ihr Wetten ab?“

,,Na, wer den anderen zuerst küsst“, raunte Nori ihm zu, als wäre dies das Natürlichste der Welt und reichte seine Münzen weiter.

Der Hobbit runzelte die Stirn, doch konnte ihrem Übereifer nichts entgegensetzen. Falls sie überhaupt miteinander reden…

Leise und ungesehen gaben die Zwerge ihre Wetteinsätze Balin und beobachteten danach gespannt Marie und Thorin. Dieser rückte gerade ein Stück damit sie sich neben ihn setzen konnte. Ihr Brustkorb war wie zusammengeschnürt. Den Tag über hatte sie sich mit dem Besuch bei den Gauners, dort, wo sie als Hebamme geholfen hatte, von ihren Gefühlen ablenken gekonnt. Nun so nah bei ihm sein zu müssen, war fast schon unerträglich, doch ihr Dienst als Heilerin verlangte es.

Mit einer Schere schnitt sie an der alten Naht und zog schließlich die Fäden. ,,Lass deinen Arm locker.“ Sie legte ihn sich auf ihren Oberschenkel und war erstaunt, wie schwer er sich anfühlte. Dann griff sie nach den Leinenfetzen, tunkte sie in ein Schälchen mit klarer Flüssigkeit. Als sie damit über die Wunde strich, krallte sich seine rechte Hand ins Fensterbrett.

Es fühlte sich an, als hätte sie ihm ein heißes Stück Eisen in die Schulter gejagt. ,,Was ist das für ein Zeug?“, presste er zwischen den Zähnen hindurch.

,,Korn.“ Sie nahm Nadel und Garn vom Hocker, fädelte den feinen Faden ein und fing an, konzentriert zu nähen.

Thorin schaute ihren Händen zu. Der ehrlich gesagt vertraute Geruch des hochprozentigen Schnapses konnte er riechen. Die Stelle um und in der Wunde fühlte sich heiß und taub an. Das Durchstechen der Haut merkte er dadurch nicht sonderlich. Immer wieder musste sie jedoch stoppen, weil ihre offenen Haare ihr ins Gesicht rutschten. Als gerade wieder eine lange Strähne vor ihren Augen ging, hob er seine rechte Hand.

Wie ein verschrecktes Reh verharrte sie, als er ihr alle Haare auf eine Seite und hinters Ohr schob. Er ließ seine Fingerspitzen an ihrer Wange und Hals entlang streifen und sogleich lief ein Schauer über ihre Schulterblätter. Warm und schön. Der Schmetterling in ihr fiel in Ohnmacht.

Aufgeregt stieß Bofur Dwalin an. ,,Hast du das gesehen?“

Dieser nickte und schubste ihn genervt von sich.

Die Gefährten taten so, als interessierten sie sich nicht sonderlich für die beiden unter dem Fenster. Bifur, der genau wie sein Vetter Bofur Spielzeugmacher war, schnitze inbrünstig an einem Stück Holz herum, Ori kritzelte etwas in sein Buch, Oin polierte seinen Trichter und Dwalin hatte sich an der Kaminmauer gelehnte, die Beine lässig überschlagen und tat so, als ob er schlief. Doch jeder – absolut jeder beobachtete die beiden aus dem Augenwinkel.

Auch Thorin konnte seine Augen nicht von Marie lassen, wie sie so konzentriert über ihn gebeugt war. Der Schein der Kerze, die auf dem Hocker stand, spiegelte sich in ihren grünen Augen und ergab ein atemberaubendes Farbspiel. Sein Blick wanderte zu ihrem Hals. Wie ein Wasserfall ergossen sich ihre langen Haare über ihr sandbraunem Mieder und dem Oberteil. Langsam strich er wieder eine Strähne zurück an ihren Platz. Sie sah auf, senkte ihren Blick jedoch schnell wieder.

,,Ich wollte mich bei dir bedanken.“ In der Stille, die nur von dem prasselnden Feuer belebt worden war, wirkte seine Stimme noch tiefer. ,,Meinen Neffen hast du das Leben gerettet, hast für uns gekocht, uns bei dir wohnen lassen…Ich stehe tief in deiner Schuld.“ Er sah der Nadel zu, die durch seine Haut stieß und den Faden hinter sich her nahm, und wusste, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war. ,,Und ich wollte dich um Vergebung bitten.“

Die Nadel stoppte augenblicklich. Marie sah auf, sah ihm in die grauen Augen, die sie so voller Reue und Schmerz ansahen, dass sie seinem Blick nicht standhalten konnte und weg schauen musste.

,,Ich musste damals die Stelle meines Vaters und Großvaters einnehmen, mein Volk führen.“ Thorin sah, wie sie schluckte, als sie sich aufsetzte und damit Distanz zu ihm nahm. ,,Wenn ich könnte, würde ich sofort die Zeit zurückdrehen. Ich hatte nie die Absicht, dich jemals alleinzulassen, bitte glaube mir.“ Wieder streckte er ihr die Hand entgegen, um sie zu berühren, doch Marie drehte ihren Kopf in einer unmissverständlichen Geste weg.

Dichte Wolken zogen vor dem Mond vorbei, der durch das Fenster hinter ihnen zu sehen war. Kein Sternenlicht erhellte den schwarzen Himmel. Die Gefährten, die wie vergessen am Kamin saßen, wagten nicht zu atmen. Jeder spürte, dass etwas folgen würde, wie die Ruhe vor einem Sturm, der tiefhängende und undurchdringliche Wolken mit sich zog und wo niemand den Ausgang abschätzen konnte.

,,Warum hast du nicht nach mir geschaut?“

,,Ich hatte keine Wahl. Meine Pflichten haben von mir verlangt, mich um mein Volk zu kümmern. Sie haben mich in diesem Augenblick gebraucht. Ich konnte nicht weg, verstehst du?“

,,Glaubst du, ich habe dich nicht gebraucht?“ Ihre Stimme wirkte zerbrechlich, war nichts weiter als ein leises Flüstern. ,,Waren dir deine Pflichten wichtiger als ich? War ich dir egal?“

,,Nein! Nein, Marie, hör auf, so etwas auch nur zu denken. Du warst mir niemals egal“, sagte er mit solch einer Kraft in der Stimme, dass sie kämpfen musste, ihre erneut aufsteigenden Tränen zurück halten.

,,Ich hab euch gesehen“, hauchte sie, sah immer noch auf ihre Hände, in denen die Nadel und das Tuch lagen, an denen etwas von seinem Blut klebte. ,,Ich hab nach dir gerufen…doch du konntest mich nicht mehr hören. All die Zeit…“ Hörbar atmete sie. ,,All die Zeit hab ich mich gefragt, wo du bist, ob du lebst… und ob du mich genauso ermisst, wie ich dich vermisst habe.“

,,Jeden verdammten Tag habe ich mich nach meinem Mädchen aus Dale gesehnt, das ich so sehr liebte. Sechzehn Jahre habe ich mich nach dir gesehnt, Marie, nach der Liebe meines Lebens.“

Du bist auch die Liebe meines Lebens, meine einzige, dachte sie, doch konnte es nicht aussprechen. Sie biss sich auf ihre zitternde Unterlippe, schloss die Augen.

Thorin sah dies, fasste sich ins Hemd und zog eine schwarze Schnur heraus. Plötzlich wurde es ganz still im Raum. Selbst das Kaminfeuer brannte still. Marie spürte die Veränderung, schaute auf und ihre Augen weiteten sich, als sie den matten, kleinen Anhänger sah, der an der Schnur in seiner Hand lag. Mit offenem Mund legte sie die Nähutensilien beiseite und steckte die Hände danach aus. Als wäre sie von Kostbarkeit, nahm sie die Kette mit zitternden Fingern. Ihr Zeigefinger strich über den Anhänger in ihrer Handfläche, über das von seinem Körper warme Metall, was durch ihre Finger bis tief in ihr Innerstes reichte. Sie dort berührte. ,,Du hast sie immer noch?“

,,Ich trage sie seit dem Augenblick an, an dem du sie mir gegeben hast. Du hattest recht. Sie ist wirklich ein Glücksbringer, denn sie hat mich bis heute vor dem Tode bewahrt. Ich trug sie bei Smaugs Angriff, auf dem Schlachtfeld Morias, vielleicht konnte ich nur so überleben. Weil sie immer bei mir war…“ Seine Hand von ihren Beinen fasste unter ihr Kinn. Mit sanftem Druck hob er ihren Kopf, sodass sie ihm in die Augen schauen musste. ,,…weil du immer bei mir warst.“ Er strich über ihre Wange und raunte: ,,Mein Liebling.“

Es waren nur zwei Worte, doch diese ließen Marie innerlich zerspringen. Ein brutales Zittern und ein warmer Schauer durchfuhren gleichzeitig ihren Körper. Von ihren Sinneswahrnehmungen überströmt sah sie, wie Thorin sich mit dem rechten Arm ihr entgegen drückte, während seine andere Hand verwahrend an ihrer Wange lag, sie förmlich hielt. Als seine Nase fast ihr berührte, verharrte er, sein Blick wechselte zwischen ihr und ihren Lippen auf und nieder – eine stille Bitte um Erlaubnis.

Vom Verlangen geplagt schloss sie die Augen und ließ es geschehen. Thorin legte den Kopf etwas schief und küsste ihren Mundwinkel, geradezu vorsichtig, als könnte er sie mit seinen Lippen verletzen. Dann schloss auch er die Augen, küsste genauso zart einzeln ihre Unter- und Oberlippe, wollte sie mit jedem um Verzeihung bitten, und legte seinen Mund schließlich ganz auf ihren.

Marie spürte seine Lippen auf ihren, seine Hand an ihre Wange und seine Sehnsucht und seinen Schmerz, die er mit in diesen langen Kuss hinein nahm und stillte. Der Schmetterling saß merkwürdigerweise ganz still, bewegte nur seine Flügelchen, so als würde er jede einzelne Sekunde genießen wollen. Ihre Körper füllten sich mit einer Wärme. Eine Wärme, die ihre Herzen schneller schlagen ließen, während die Welt um sie herum belanglos und still zu stehen schien.

Schließlich beendete er den Kuss und verharrte vor ihr. Einen Atemzug lang schauten sie einander an, dann konnte Marie nicht mehr länger ihren Emotionen standhalten und schluchzte auf. Sie beugte sich zu ihm und schlang die Arme fest um seinen Hals. Sofort legte er den rechten Arm um ihren Körper, fasste mit dem anderen nach ihren Beinen und schob sie auf sich, wobei es in seiner halb vernähten Wunde schmerzte. Doch das war bedeutungslos. Er wollte ihr wieder nahe sein und sie sollte ihn wieder ganz nah bei sich spüren.

Mit Marie auf seiner gesunden Schulter ließ er sich zurück in den Mantel sinken. Schluchzend schmiegte sie ihren Kopf in seine Halskuhle und ließ übermannt von ihren Gefühlen den Tränen freien Lauf.

,,Bitte, verzeih mir“, flüsterte er mit einem Stein in der Kehle, merkte, dass sie nickte und legte die Hand an ihren Hinterkopf. Tränen benetzten seine Haut. ,,Sch…nicht weinen.“ Er wandte den Kopf, küsste sie auf die Stirn.

Allmählich verklang ihr Schluchzen und Marie schloss umgeben von seinem Geruch und seiner Wärme die Augen. ,,Wie sehr hast du mir gefehlt…“, hauchte sie und legte die Hand an seine Wange. Dicht und warm war sein Bart. Zaghaft fuhr sie durch die Barthaare, als würde sie es zum ersten Mal tun. Sie kratzten nicht, waren aber auch nicht weich. Der Zwergenkönig hielt still und genoss ihre zärtliche Berührung. Als sie an sein Kinn angelangte, hauchte er einen Kuss in ihre Handfläche. Sie strich an seinem Hals entlang, bis zu dem Anhänger, der auf seiner Brust, zwischen den Kordeln seines Hemdes lag. ,,Du sollst meine Kette auch weiterhin tragen, damit sie dich für immer beschützen kann.“

,,Das wird sie, für alle Zeit.“

Ori schniefte und wischte sich schnell unter dem Auge, ehe es noch jemand sah. Mit einem gerührten Schmunzeln schaute Bilbo in die Runde. Die Gefährten sahen einander an, hatten alle den gleichen Ausdruck in den Augen.

Thorin wollte ihr die Strähnen aus dem Gesicht ziehen, doch zuckte wegen der Wunde zusammen.

,,Nein, schon gut. Lass mich dich fertig vernähen“, sagte Marie und er gab sie aus seiner Umarmung frei. Ehe sie wieder seinen Arm auf ihre Beine legte, wischte sie sich noch etwas beschämt mit dem Ärmel das Gesicht trocken. Dann nahm sie das mit Alkohol getränkte Tuch und strich abermals vor dem Nähen über die Naht, wobei er scharf die Luft durch die Zähne einzog.

Mit halb geschlossenen Augen beobachtete Thorin sie. Seine Finger streichelten über ihre Beine. Gelegentlich hob sie den Blick, schenkte ihm ein Lächeln und musste sich anstrengen, bei seinen Berührungen und seinem Blick konzentriert die Nadel zu führen.

Als sie fertig war, wischte sie nochmal mit sauberen Tüchern darüber, legte dann alles zurück auf den Hocker. Sie wollte sich erheben, doch er fasste ihre Hand, zeigte ihr, dass sie bleiben sollte. ,,Es gibt keine keinerlei Rechtfertigung, warum ich nicht nach dir gesehen habe.“

,,Nein, Thorin“, unterbrach sie ihn sanft, als sie wieder neben ihm saß. ,,Schon gut...“

,,Nein, nichts ist gut. Ich kehrte der brennenden Stadt den Rücken und somit auch dir. Ich hätte bei dir sein müssen.“

Marie beugte sich vor, legte die Hände an seinen Hals. ,,Thorin, mir geht es gut“, sagte sie langsam, schaute ihm dabei tief in die sturmgrauen Augen. Immer noch hatte sein Blick etwas Schweres und Sorgenvolles in sich. ,,Ich bin am Leben, du bist am Leben. Das ist alles, was zählt.“ Er fasste nach ihrer Wange, strich mit dem Daumen über ihre Haut, so als wollte er sich dessen auch vergewissern. Dann hob er das Kinn und sie verstand, beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss.

,,Es ist spät“, flüsterte sie über ihm verharrend, strich an seiner Schläfe entlang. ,,Du musst dich ausruhen.“ Marie stand auf und nahm seine Decke, legte sie sorgfältig über ihn. ,,Ruh dich aus. Gute Nacht.“

,,Gute Nacht“, flüsterte er und Ansätze eines Schmunzelns hoben seinen Mundwinkel.

,,Gute Nacht euch anderen“, rief sie, als sie sich umdrehte.

,,Gute Na-acht!“, kam es im Chor zurück.

Marie nahm die Kerze vom Hocker, sah abermals zu ihrem Zwerg, der sie ebenfalls ansah, und ging mit weichen Knien die Treppe hinauf.

Als ihre Tür sich schloss, fiel sein Blick auf seine Gefährten. Bifur drückte wieder seine Fingerspitzen stürmisch gegeneinander und machte einen Kussmund, woraufhin Thorin die Augen verdrehte. Alle lachten und Jubel brach aus. Dwalin und Bofur schlugen mit den Fäusten ab. Jemand strubbelte dem Hobbit durch die Locken.

,,Dwalin, mein Lieber, du schuldest mir fünf Münzen!“, bemerkte Gloin freudestrahlend und klopfte ihm auf die mächtigen Schultern. Mürrisch warf dieser ihm ein Säckchen zu, woraufhin man überall Münzen klimpern hören konnte.

,,Müsst ihr immer auf alles und jeden Wetten abschließen?“, fragte ihr Anführer seufzend.

,,Dank dir bin ich ganze fünf Münzen ärmer!“

,,Warum verwettest du auch so viel?“

,,Konnte ich ahnen, dass du so ein Herzensbrecher bist?“

Anstatt zu antworten verschränkte Thorin seinen gesunden Arm hinterm Kopf und grinste über das ganze Gesicht. In ihm kribbelte es so stark wie niemals zuvor. In diesem Moment war er glücklich, einfach nur glücklich und er fragte sich, wann er es zum letzten Mal gewesen war.

 

~

 

Die Flamme der Kerze auf ihrem Nachttisch brannte regungslos, tauchte ihr Zimmer in einen warmen, schummrigen Schein. Still stand sie, doch in Maries Augen war sie voller Leben. Sie sah darin zwei wunderschöne, graue Augen, eine spitze Nase und einen dichten, dunklen Bart. Sie auszupusten brachte sie einfach nicht übers Herz.

Sie wollte nicht einschlafen. Kein Traum könnte in dieser Nacht die Wirklichkeit übertreffen.

 

Nach so einem Tag Schlaf zu finden war unmöglich. So erging es auch Thorin. Vor und neben dem Kamin erkannte er die Umrisse seiner schlafenden Freunde. Der Feuerschein verriet, dass sich nur noch wenig Glut darin befand. Schon öfters war es vorgekommen, dass er keinen Schlaf gefunden hatte. Anders als früher waren es Glücksgefühle, durch die er nun keine Ruhe fand. Auch der Verursacher einer weiteren schlaflosen Nacht besaß dieses Mal einen anderen Namen. Marie.

Holz knarzte und ließ ihn aufhorchen. Ein kleiner Lichtschein tauchte auf, der scheinbar nieder zu schweben schien. Eine Hand war vor die helle Flamme gehalten. Dahinter erkannte er ihr schönes Gesicht.

,,Thorin? Bist du wach?“, fragte sie ganz leise.

Er setzte sich auf und der Lichtschein kam näher. Das Geräusch von nackten Füßen war zu hören, die näher tapsten.

Ein lautes Schnarchen durchbrach brutal die Stille und Marie bekam den Schreck ihres Lebens. Bombur lag auf dem Rücken und schnarchte mit offenem Mund. Jemand regte sich neben ihm und gab dem dicken Zwerg einen Tritt, woraufhin dieser verstummte.

Thorin musste schmunzeln, wie sie bewegungslos im weißen Nachthemd im Raum stand und zu den Männern starrte. Der Stoff umspielte ihre weiblichen Kurven, die man noch dank des Feuerscheins erkennen konnte: ihre sinnlichen Hüften, ihren Bauch, ihre wohlgeformten Brüste. Ihr Anblick hatte sofort Wirkung auf ihn. ,,Komm zu mir“, flüsterte er und schlug die Decke beiseite.

Der Schmetterling flatterte bei den Worten auf. Die Kerze blies sie aus und stellte sie geräuschlos zu Boden. Im Raum war es jetzt fast völlig dunkel, nur die Glutreste im Kamin erhellten ihn so, dass Thorin ihre Silhouette erkennen konnte, wie sie grinsend über ihn stieg und sich auf seine anderen Seite legte. Für ihn war die Senke unter dem Fenster ideal, doch für Marie ein wenig zu kurz, weswegen sie sich seitlich hinlegte, ihre Beine auf seine. Der Zwerg warf die Decke über sie und spürte ihren Körper, der sich eng an ihn kuschelte und nur von einem achtlos dünnen Stück Stoff verhüllt war. Durin…

Marie legte den Kopf auf seine Brust, an ihrem Ohr wummerte sein Herzschlag. Oder war es doch ihr eigener?

Ihre Finger fuhren über sein Schlüsselbein, über einen der Zöpfe, spürten seine Muskeln, weiche Haare und die Schnur ihrer Kette

unter dem Hemd. Marie atmete tief durch, weil der folgende Satz große Kraft kostete. Zu viele Erinnerungen hingen daran, die früher immer mit dem bekannten Schmerz verbunden waren.

,,Kannst du dich noch an das Sommerfest erinnern?“ Die Arme legten sich fester um sie.

,,Natürlich. Marie, ich kann mich an alles erinnern.“

,,Es war warm…“, flüsterte sie.

,,Das Feuerwerk…“

,,Oh, ich hab mich so erschrocken…“

,,Deine Augen, wie sie gestrahlt haben.“

,,Die bunten Lichter…“

,,Der erste Kuss… Und deinen wunderschönen Körper.“

,,Deiner war aber auch nicht schlecht“, raunte sie und konnte förmlich spüren, wie er schmunzelte. Zusammen lauschten sie den Atemgeräuschen und dem leisen Schnarchen der anderen.

,,Wieso haben wir uns so lange angeschwiegen?“, flüsterte sie. ,,Wieso haben wir nicht schon viel eher miteinander geredet?“

,,Wir brauchten wohl beide etwas Zeit“, antwortete er ihr.

,,Damals ging alles so schnell. Von den einen auf den anderen Augenblich war…“, sie suchte seinen Blick, ,,war alles zerstört. Ich wusste noch nicht einmal, ob du überhaupt noch am Leben warst.“

,,Der Gedanke, du wärst in den Flammen umgekommen, war für mich kaum zu ertragen. Ein Gefühl tief in mir sagte mir immer wieder, dass du überlebt hast. Aber eine Suche gleich nach der Katastrophe wäre hoffnungslos gewesen. Auf unserem Marsch in die Blauen Berge berichteten die Raben, dass die Menschen aus Dale fortströmten und Esgaroth bereits überfüllt wäre mit Hilfesuchenden. Die Flüchtlinge verteilten sich in alle Himmels-richtungen. Wo sollte ich dich suchen?“

Du hättest mich nie gefunden, dachte Marie. Zu oft hatten sie ihre Pläne geändert und damit ihr Ziel.

,,Und irgendwann verließ mich der Mut“, erzählte er weiter. ,,Ich dachte, wenn wir uns jemals wiedersehen, würdest du mich nicht sehen wollen… mich wieder fortschicken. Es wundert mich, dass du noch mit mir sprichst. Bei all dem, was ich getan – oder nicht getan habe…Ich hätte bei dir sein müssen.“

,,Thorin, nicht. Du musst aufhören, dir Vorwürfe zu machen. Schlimme Dinge sind passiert, Dinge, die man nicht vorhersehen konnte. Lass die Vergangenheit zur Ruhe kommen.“

Als er antwortete, war seine Stimme von kalter Ruhe erfüllt. ,,Das kann ich nicht.“

Marie strich über sein Herz. In ihm schwelgten Rachegedanken. Rache für den Tod seiner Familie. Rache für das Leid seines Volkes. Das wusste Marie. Sie schmiegte sich an ihn, um ihm für diesen Moment Trost zu schenken, küsste seine Brust, damit die Gedanken daran keine Oberhand nahmen.

Er nahm einen tiefen Atemzug, schloss die Augen. ,,Mein Wunsch war es, dich mitzunehmen.“ Als er den Kopf zu ihr drehte, sah auch sie auf. ,,Als wir fortgingen.“

,,Hätte deine Familie mich denn akzeptiert? Und was ist mit deinem Volk? Wir hätten unsere Beziehung nicht länger geheim halten können, wie wir es mit dem Raben getan haben, der unsere Nachrichten unter Stillschweigen überbracht hatte. Zwerge sind nicht gerade…“ Als sie seinen Blick gemerkte, sagte sie: ,,Du weißt, was ich meine.“

,,Ich glaube schon.“ Er drückte sie an sich und küsste sie mit einem Schmunzeln auf die Stirn.

Über seine Brust hinweg schaute Marie zu den schlafenden Männern, von denen nur die Umrisse unter den Decken im fahlen Licht zu erkennen waren. Dass einer der Männer sie wohlmöglich bemerkt hatte, glaube sie bei dem Geschnarche zwar nicht. Hier im Dunkeln mit ihrem Anführer nur im Nachthemd bekleidet zu liegen und leise zu flüstern, hatte jedoch beinahe schon verbotene Züge an sich, welche sie überaus reizvoll fand.

,,Sie mögen dich“, raunte er an ihrem Ohr.

,,Ich mag sie auch.“ Dann gluckste Marie, als sie sich ein Lachen verkniff. ,,Ich hab Bofur ausgefragt, ob du verheiratet bist.“

,,Ich habe nie geheiratet.“

,,So wie ich.“ Beklemmendes Schweigen trat plötzlich ein. ,,Sechzehn Jahre“, seufzte Marie nach einer Weile. ,,Eine lange Zeit.“ Thorin schwieg und Marie fühlte seine Finger, die über ihre Schulter strichen. ,,Eins verstehe ich dennoch nicht. Du wolltest mich küssen und hast es nicht getan. Warum?“

,,Ich wollte, glaub mir, doch hatte… Es ist schwer zu erklären. Ich hatte vor Augen, was ich vielleicht dadurch anrichten könnte“, beichtete ihr. ,,Dass ich dadurch vielleicht mehr zerstöre, als zu heilen. Es war mein Fehler, mich meinem Wunsch hinzugeben, ohne die Folgen zu beachten.“

,,Dann war also nicht ich der Fehler?“

,,Wo denkst du hin, mell nin? Verzeih mir meine Dummheit.“

,,Ist vergeben“, murmelte sie und schloss glücklich die Augen. ,,Wie hast du mich überhaupt gefunden?“

,,Ich hörte dein Lied.“

„Das Lied hat dich zu mir geführt?“

„Ja. Und als ich dich auf dieser Lichtung gesehen habe, da zweifelte ich, ob du es auch wirklich warst. Es war wie ein Traum.“

,,Du hast recht. Es war wirklich wie in einem Traum.“ Sie unterdrückte abermals ein Kichern. ,,Und dann, als der Mann von dem ich so oft geträumt habe, vor mir stand, habe ich ihn nicht einmal erkannt.“

,,Habe ich mich so sehr verändert?“

,,Nein, eigentlich nicht. Die paar grauen Haare...“ Es dröhnte an ihrem Ohr, als er tief lachte.

Es war wie ein Wunsch, der endlich in Erfüllung gegangen war: er hielt sie in den Armen. Ihre Nähe zu spüren fühlte sich an wie ein Geschenk von einer höheren Macht geschickt. Wie konnte sie ihm bloß verziehen haben?

Er drehte den Kopf, drückte den Mund an ihre Schläfe, ,,Es tut mir leid wegen deinen Eltern, mell nin. Sind sie in Dale umgekommen?“

,,Nein, sie sind vor zwei Jahren gestorben. Anders als viele andere wurde meine Familie verschont. Allein mein Vater war verletzt worden. Es dauerte bis die Wunden ganz verheilten, doch sein Arm war vom Feuer gezeichnet geblieben. Nein, sie hatten eine Krankheit, für die es keine Heilung gibt.“

Marie hatte ihre Eltern sehr geliebt, das wusste Thorin. Sie hatte sich immer gut mit ihnen verstanden. Nie hatte er Streit mitbekommen. Was sie damals empfunden haben musste, konnte er nur allzu gut nachvollziehen und wieder herrschte in ihm der Groll darüber, dass er in dieser schweren Zeit nicht bei ihr gewesen war. Er schickte einen stillen Dank an Myrrte und Soren, dass sie so eine bildschöne und außergewöhnliche Tochter großgezogen hatten.

Von ihren Eltern zu sprechen machte ihr immer noch jedes Mal das Herz schwer. Die letzten Wochen gingen so schnell, ihr Tod kam so plötzlich. Machtlos hatte Marie mit ansehen müssen, wie die Krankheit ihre Eltern dahinsiechte. Deshalb schwieg sie. Doch sie schwieg auch, weil sie ihm nicht alles erzählen wollte. Wenn er mitbekäme, dass ich nur knapp den Flammen entkommen war und ausgerechnet Gonzo mir damals geholfen hatte, würde er sich noch größere Vorwürfe machen. Ich will nicht, dass er sich mit noch mehr Gedanken plagt. Zu viel lastet schon in ihm.

,,Dass du meine Kette immer noch hast, bedeutet mir viel“, flüsterte sie stattdessen.

,,Sie bedeutet mir genauso viel, doch du bedeutest mir viel mehr. Dich nun wiederzuhaben, ist für mich das größte Geschenk.“

Thorin. Sie musste schlucken. ,,Ich will dich nie, niemals wieder verlieren.“

,,Das wirst du auch nicht“, antwortete er ernst. ,,Sieh mich an.“ Sie tat es und er küsste sie hingebungsvoll. Ihre Lippen öffneten und schlossen sich. Die leisen Geräusche, mit denen sie sich immer wieder vereinten, waren Beruhigung für zwei Seelen, die sich nach Jahren der Ungewissheit wiedergefunden hatten. Marie fuhr an seine Wange entlang, umschlang sein Genick und drückte seinen Kopf stärker zu sich. Heißer Atem prallte an ihre Haut und gab ihr ihre verlorene Liebe zurück. Seine Hand wanderte über ihren Rücken, fuhr tiefer und legte sich auf ihren Hintern, presste ihn mit festem Griff an sich. Marie atmete scharf ein und fühlte ein wohlig warmes Gefühl in ihrem Unterleib, als sie seine beginnende Erektion zu spüren bekam.

,,Thorin…“

,,Ja?“, fragte er und begann seelenruhig, den dünnen Stoff ihres Nachthemdes zu raffen.

,,Wir können doch nicht hier…“ Mit geweiteten Augen spähte sie zu den schlafenden Männern, doch Thorin drehte sich, sodass er über sie gebeugt war.

,,Du musst nur leise sein.“ Raue Finger berührten ihre Knie. Als seine Hand sich höher schob, brach Hitze in ihren Körper aus. Sie blickte dem Zwerg in die Augen, in denen die Leidenschaft selbst im Dunklen funkelte. Thorin gab ihr Sicherheit und Geborgenheit mit allem, was er tat, und instinktiv öffnete sie die Schenkel für ihn. Er fand den Weg zu ihrer Mitte, teilte mit den Fingern ihren Haarschopf und berührte ihr feuchtes Fleisch. Marie schloss die Augen und gab ihren letzten Wiederstand auf.

Thorin küsste die Spitzen ihrer Brust durch das Nachthemd hindurch und betrachtete sie, während er sie streichelte. Marie öffnete den Mund, doch er brachte sie mit einem Kuss zum Schweigen. ,,Ein Wort und ich höre auf.“ Er sah, wie sie nickte, sich auf die Lippen biss. Ihr Bein hob sich an, ihr Atem wurde hörbar, als sie sich vor Wonne räkelte.

Marie öffnete die Augen und schob ihre Hand unter der schützenden Decke hervor, suchte seinen Schoß. Sie strich über

seine harte Erektion, die sich unter dem gespannten Stoff ihr ent-gegen drängte und setzte alles daran, ihm den Verstand zu rauben. Unvermittelt drang er mit einem Finger in sie ein und ihr entfuhr ein erstickender Ton.

,,Sch…“, raunte der König ganz nah bei ihr, dessen Daumen ihren empfindlichsten Punkt nun zu reiben begann, woraufhin sie leise wimmerte. Auch sein Atem wurde von Minute zu Minute schwerer. Er drückte seinen Kopf gegen ihren, intensivierte seine Berührungen. ,,Komm für mich.“

Marie versuchte, an nichts mehr zu denken, sich nur ihrer Lust hinzugeben, doch schlug irgendwann nach einer Weile deprimiert die Augen auf. ,,Ich kann nicht“, wisperte sie gerade, als abermals lautes Schnarchen den Raum durchbrach. Beide schreckten wie ertappt hoch.

Thorin verharrte in der Bewegung und warf einen Blick zum Kamin. Wieder schlief Bombur auf dem Rücken und wieder regte sich jemand neben ihm. Er erkannte Dwalins Umrisse, der nach etwas angelte. Es polterte, als etwas an seinen Kopf geschleudert wurde, woraufhin Bombur röchelte und sich auf die Seite rollte. Mit einem Knurren legte sich auch Dwalin wieder hin.

Schmunzelnd küsste Thorin sie sanft und zog seine Hand unter der Decke hervor. Obwohl Marie auch aus eigener Erfahrung wusste, dass Frauen in diesen Sachen längere Zeit benötigten als Männer und es komplizierter war, ihnen einen Höhepunkt zu bescheren, hatte sie ein schlechtes Gewissen. ,,Tut mir leid.“

Doch Thorin zeigte Verständnis. ,,Alles gut, mein Liebling.“ Er richtete ihr Hemd. ,,Keine Sorge. Ich bringe immer zu Ende, was ich angefangen habe.“ Dann verzog er das Gesicht und verbesserte mit einem Griff in seine Hose seine Schlafposition. ,,Auch wenn ich damit das schlechtere Los von uns beiden gezogen habe.“

,,Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.“

,,Wenn du das sagst, muss es ja stimmen.“ Einen letzten Kuss gab er ihr. ,,Schlaf jetzt“, flüsterte der Zwerg zärtlich und Marie ließ den Kopf auf seine gesunde Schulter sinken. Er legte die Decke zurecht, lehnte dann seinen gegen ihren und schlief an diesem Abend mit Marie in den Armen ein.

 

 

16

 

 

Der Sonnenaufgang kündigte sich mit rosa Dämmerlicht an, das verschlafen durch die Fenster drang und langsam die Gefährten erwachen ließ. Träge gähnten und streckten sich die ersten. Bombur hob einen großen Stiefel mit verschiedenfarbigen Fellkrempen vom Boden neben sich auf, drehte ihn verwundert.

,,Gib den her!“ Unsanft riss Dwalin ihn ihm aus den Händen.

,,Wieso liegt dein Stiefel bei mir?“

,,Den hab ich dir die Nacht gegen deinen Holzkopf gepfeffert! Ich bin wegen deinem Geschnarche aufgewacht. Und das nicht nur einmal!“

,,Das bisschen Schnarchen stört dich?“

,,Bisschen?! Noch so einer und ich lache. Du hättest fast deine Zunge verschluckt! Irgendwann drück ich noch dir ein Kissen aufs Gesicht.“

,,Hört doch auf zu zanken. Und das am frühen Morgen…“, beschwerte sich Balin und machte ein stöhnendes Geräusch, während er sein knackendes Kreuz durchdrückte. ,,Lasst uns schon mal den Frühstückstisch decken, bevor Marie runter kommt. Dann braucht sie das nicht zu tun.“

,,Sie ist schon hier unten“, warf Bilbo halblaut ein und runzelte die Stirn.

,,Äh, nein? Oder siehst du sie hier irgendwo?“, fragte Nori und begann, sich die Decke von den Beinen zu strampeln.

Bilbo räusperte sich und wies mit einem Nicken zum Fenster, wohin die Zwerge ihm fragwürdig folgten. Unter diesem lag Thorin, die Decke halb hochgezogen, den Kopf zur anderen Seite gewandt.

,,Das ist doch nicht Marie, du I-....“

,,Du bist hier der Idiot“, herrschte ein anderen denjenigen an. ,,Guck doch mal hin.“

,,Bei meinem Barte“, stieß jemand aus der vorderen Reihe tonlos hervor. ,,Er hat recht. Seht...“ Ihre Augen wurden groß, als sie sahen, wer bei ihm lag.

Auf Zehenspitzen schlichen ein paar Männer näher heran. Dicht an ihren Anführer geschmiegt lag im weißen Nachthemd Marie. Ihre braunen Haare hoben sich stark vom schneeweißen Stoff ab, der ihre Taille abwärts von der wolligen Decke verdeckt wurde. Sie sah noch schöner aus, als an den vorigen Tagen, und Bilbo fand, dass sie sogar etwas Elbenhaftes an sich hatte, wie sie so bei dem Zwerg lag. Diese Meinung teilte er jedoch mit niemandem im Raum und war besser dran, wenn er dies auch für sich behielte.

,,Das hat ja noch besser geklappt, als gedacht“, flüsterte Bofur gerade freudestrahlend, als die Jungs schlaftrunken in den Raum schlürften.

,,Morgen“, nuschelte Kili, dessen dunklen Haare in sämtliche Richtungen standen. ,,Wo starrt ihr denn alle so hin?“ Fili blinzelte, tippte ihn eilig an und zeigte einfach nur mit dem Finger. Nun erblickte auch Kili die beiden. Um sich zu vergewissern, dass es kein Traum war, rieb er sich die Augen, schaute danach zur Sicherheit nochmal hin. ,,Haben wir etwas nicht mitbekommen?“

,,Wir haben uns gestern Abend einen Plan ausgedacht, wie wir die beiden wieder zusammen bringen“, erklärte Nori. ,,Und wie man sieht hat er wunderbar funktioniert.“

,,Wir?“ Dori stemmte die Hände in die Hüfte. ,,Setz dir jetzt bloß nicht die Lorbeeren auf. Bilbo allein hatte die Idee.“

,,Ja, ja…“

,,Und das alles ohne uns?!“

,,Pscht! Ihr weckt sie noch auf“, zischte Bofur.

Flüsternd fragte Fili: ,,Haben sie miteinander geschlafen?“ Es wurde still. Die potenziellen Zeugen schauten einander an.

,,Ihr müsst doch etwas mitbekommen haben. Ihr wart im selben Raum.“

,,Habt ihr was mitbekommen?“, fragte jemand in die Runde und alle schüttelten den Kopf oder zuckten mit den Achseln.

,,Egal. Ich freue mich für ihn“, flüsterte Kili.

,,Ich auch“, stimmte ihm sein Bruder lächelnd zu.

 

~

 

,,Ahh! Nicht..auah!“ Gelächter.

,,Haltet doch mal still!“

,,Wie denn?!“

Marie wachte von Wärme umgeben auf und ein verträumtes Lächeln huschte über ihre Lippen. Thorin hatte den Kopf zu ihr gedreht. Sein lautloser Atem streifte sanft ihre Haut. Gelöst und entspannt waren seine Züge. Anders als sie war der kleine Schmetterling schon hellwach und vollführte waghalsige Flugbahnen. Schon allein mit seiner Nähe gab er ihr so viel. Fasziniert betrachtete sie jeden Zentimeter seines markanten Gesichtes. Selbst wenn er schläft ist er…, in Gedanken suchte sie nach einem passenden Wort und fand, dass majestätisch das passendste war. Ein Krieger. Erhaben, stolz, edel, ehrenhaft… Und ein würdiger König.

Sie ließ ihr Gespräch von gestern Abend nochmal an sich vorbei ziehen. Wie ein Abend doch alles verändern kann… Wie schön es gewesen war, in seinen Armen liegen zu können, ihn zu küssen und von ihm berührt zu werden. Ein wohliges Gefühl ließ die Muskeln in ihrem Unterleib bei dieser Erinnerung sich köstlich zusammenziehen. Sie legte die Nase an seine Schulter, sog seinen Geruch ein und schloss die Augen mit dem vorsichtigen Gedanken, dass alles vielleicht doch so wie früher werden könnte…

Von etwas weiter weg tönten laute Diskussionen und ließen sie aufhorchen. ,,Abgemacht. Aber bitte ganz vorsichtig.“

,,Ja, ja.“

,,Ahh! Vorsichtig hab ich gesagt!“

,,Ach komm…“

Es waren die Zwerge und so, wie es sich anhörte, waren sie am Fluss. Marie versuchte, den Lärm zu ignorieren, und kuschelte sich wieder an Thorin, um noch ein paar Minuten bei ihrem König liegen bleiben zu dürfen.

,,Lass mich das mal machen!“

,,Pfoten weg!“

,,Seid ihr Männer oder Mädchen?“

,,Wenn auf deinem Pelz so ne‘ Scheiße kleben würde, würdest du genauso schreien!“

Genervt verdrehte sie die Augen. Was machten diese Kerle denn da draußen? Widerwillig stand sie so vorsichtig wie irgend möglich auf und schaffte es, grazil über Thorin hinweg zu steigen ohne ihn zu streifen. Doch als sie den anderen Fuß auf den Boden stellte, stolperte sie über etwas. Zuerst polterte es erschreckend laut, dann klirrte es auch noch. Vor der Bank hatten seine Stiefel gelegen, die nun gegen den Teller der Kerze gefallen sind. Er regte sich. ,,Mhhm…Marie?“

,,Schlaf ruhig weiter“, flüsterte sie und legte die Decke wieder über ihn. Thorin drehte sich auf die Seite und stieß einen entspannten Seufzer aus, der eher wie ein Brummen klang. Noch einmal strich sie sachte über sein Haar, ehe sie zur Haustür tapste. Dass sie jedoch nur ihr Nachthemd trug, bemerkte sie erst, als sie schon die Klinke in der Hand hatte. So konnte sie den Männern nicht gegenüber treten, vor allem da, wenn das Licht ungünstig kam, es nicht gerade blickdicht war…

Schnell machte sie kehrt und eilte auf Zehenspitzen die Treppe hoch. In Windeseile warf sie das Hemd auf ihr großes Bett und zog sich an. Sie sah aus dem Fenster gegenüber von diesem. Die Sonne stand zwar noch tief, doch warme Strahlen erwärmten bereits die vor Morgentau glitzernden Wiesen. Es versprach ein guter Tag zu werden, doch das wusste Marie auch wenn sie nicht aus dem Fenster gesehen hätte. Ihr Blick fiel in ihren Spiegel, der in der Ecke zu ihrer Linken stand. Grüne Augen funkelten ihr entgegen. Ihre Haare waren ziemlich zerzaust und auf ihren Wangen lag ein rosiger Schatten.

Thorin, was hast du bloß mit mir gemacht? Bei dem Gedanken an ihrem Zwerg, kaute sie wieder einmal an ihrer Lippe herum. Über ihre lästige Angewohnheit schmunzelnd, holte sie ein Haarband aus einer der kleinen Schubladen ihres Schrankes und nahm es zwischen die Zähne, während sie in bester Laune ihre Haare kämmte und sich einen einfachen Zopf band, den sie anschließend noch grinsend flocht.

 

Die Jungs saßen auf einem der Felsen im Flussbett, umringt von einem äußerst skeptisch schauenden Hobbit und den restlichen, scheinbar sehr amüsierten Zwergen. Fili und Kili wurden von allen nur „die Jungs“ genannt. Sie waren zwar die jüngsten, Ori etwa so alt wie Fili, doch als Jungs konnten die jungen Männer nun wirklich nicht mehr bezeichnet werden. Doch wie sie so auf dem Stein saßen, die Arme um ihre Bäuche geschlungen, die Lippen geschürzt, sahen sie aus wie zwei bockige Kinder.

,,Was soll der Radau hier draußen?“ Alle drehten sich nach Marie um, die wie aus dem Nichts aufgetaucht hinter ihnen stand.

,,Marie, rette uns!“, flehte Kili.

,,Gut, dass du da bist. Die bringen uns um!“

,,Halt-halt-halt“, abwehrend hob sie die Hände, ,,nochmal langsam. Was ist hier los und wer bringt wen um?“

,,Wir wollten uns die juckenden Verbände abmachen und haben sie nur gefragt, ob sie und mal helfen könnten. Aber deine verdammte Salbe klebt an den Haaren fest und jetzt machen sie sich einen Spaß daraus, an den Verbänden zu ziehen.“

,,Ach komm! So dolle kann das doch nicht weh tun“, meinte Gloin belustigt.

,,Und ob!“, verteidigte sich Kili. ,,Ihr zupft alle an uns herum, nur um uns schreien zu sehen.“

,,Ihr stellt euch an. Ganz schon wehleidig…“

,,Ich geb dir gleich mal wehleidig!“, brüllte er und wollte sich auf Nori stürzen, wurde jedoch von Fili zurück gehalten.

,,Ich seh‘ schon...Wartet kurz, bevor das alles hier völlig im Chaos endet.“ Sie ging zum Haus zurück und kam gleich darauf mit einer Schere und einem Lappen wieder. ,,Ich glaube, ihr braucht weibliches Feingefühl.“ Sie tauchte den Lappen ins Wasser und wandte sich Kili zu, der wie sein Bruder mit nacktem Oberkörper da saß. Kurzerhand wrang sie den Stoff über dem Verband aus.

,,Ahiii! Uhh, ist das kalt!“ Sofort stellten sich seine Haare auf seinem ganzen Körper unter der Gänsehaut auf. Als der Verband und auch unweigerlich seine Hose nass waren, schob Marie vorsichtig die Finger unter den Stoff entlang und löste die getrockneten Reste der Salbe. Kili quickte auf und die Zwerge fingen an zu kichern. Noch einmal ließ sie Wasser darüber laufen und zog daran. Der Verband war nun schon los, aber einige seiner langen, dunklen Haare vom Bauch hingen noch daran, weshalb Marie die Schere nahm und dicht an der Haut entlang schnitt. Sichtlich erleichtert atmete er auf, als sie den alten Verband zusammen knüllte. Marie wusch die alte Wunde und entfernte die Salbenreste. Durch das Ausbrennen war eine Narbe in Form eines länglichen Kraters zurück geblieben. ,,Sieht gut aus.“

,,Ein ordentliches Andenken“, murmelte er weniger begeistert.

Dann wandte sie sich Fili zu. Zuerst machte sie den Verband am Oberarm ab. Das ging einfach, weil sie dort auf die Naht keine Salbe geschmiert hatte. ,,Die Fäden bleiben noch. Die müssen später gezogen werden.“ Sorgfältig verband Marie ihn wieder, befeuchtete danach wie zuvor den Verband um seinen Leib, der auch bei ihm nur noch an wenigen Lagen festhing. Bei ihm jedoch hatte sich die Salbe auf dem Bauch verteilt. Es war unmöglich an der Haut entlang zu schneiden. ,,Tut mir leid“, sagte sie und fasste den Stoff schnell und beherzt mit beiden Händen.

,,Nein, halt warte!“

Ratsch!

,,Ohuuh!!“, raunten die Gefährten und verzogen mitleidsvoll die Gesichter. Fili presste den Mund zusammen, bekam einen roten Kopf und schrie los. Von seinem Streifen Haare auf dem Unterleib fehlte das obere Stück, war stattdessen knallrot und haarlos. Den Zwergen war das Lachen vergangen. Manche hielten sich unter Phantomschmerzen die gleiche Stelle. Allein Bilbo kicherte in sich hinein.

,,Man, Marie!“

,,Tut mir leid.“

,,Weibliches Feingefühl für’n Arsch! Aua…“

 

~

 

Tellergeklapper und Stimmen weckten Thorin. Seine Hand ging dort hin, wo Marie zuvor gelegen hatte und als er niemanden neben sich spürte, hörte er ihre Stimme. ,,Das war sehr aufmerksam von euch, dass ihr schon gedeckt habt“, sagte Marie, als sie und die anderen ins Haus traten und sich den Geräuschen nach zu urteilen an den Tisch setzten.

,,War ganz schön mühsam, das alles leise zu machen“, antwortete ihr Gloin.

,,Wollten euch ja nicht stören“, fügte Nori mit leichtem Unterton hinzu.

Aha, daher wehte der Wind. Thorin stellte sich ihren peinlich berührten Gesichtsausdruck vor und entschied sich, ihr zur Unterstützung zu kommen. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und schaute zum Tisch, wo sich seine Männer bereits über das Frühstück hermachten. Beim Aufstehen zog er den Arm wieder durch den Ärmel seines Hemdes, wobei es etwas in der Naht drückte. Geradewegs, mit kribbelndem Magen ging er zu Marie, die am Herd stand und in einem Topf rührte, legte die Hände neben ihrer Hüfte auf den Herdrand und stellte sich auf die Zehenspitzen.

Dadurch, dass er nur Socken trug, hatte sie ihn nicht näherkommen gehört und fuhr zusammen, als jemand sie auf den Hals küsste.

,,Guten Morgen, mein Liebling“, flüsterte eine tiefe Stimme an ihrem Ohr und eine Welle aus Schauder und Erregung strömte durch sie hindurch. Ohne, dass sie sie sehen konnte, spürte Marie die Blicke der anderen Männer. Sanft befreite sie sich von ihm und drehte sich um, sodass sie nun zwischen seinen Armen stand und lächelnd zu ihm hinunter schaute. ,,Gut geschlafen, Eure Hoheit?“

,,Wie ein Stein, Mylady.“

Bei ,,Mylady“ ertappte sie sich dabei wie sich ein dümmliches Grinsen über ihr Gesicht ausbreitete. Sie konnte nicht anders und prustete los. ,,Mylady?“Auch auf seinem Gesicht breitete sich ein Schmunzeln aus – wie immer mit dem einen hochgezogenen Mundwinkel. Oh, ich liebe es, wenn er das macht – nein, ich liebe alles an ihm! Unbewusst schenkte sie dem Zwerg einen lieblichen Augenaufschlag.

Er spielte an dem Ende ihres Zopfes herum, der über ihrer Schulter lag. ,,Woran denkt Ihr gerade?“

Sie lehnte sich nach hinten, legte die Hände neben seine. Die Wärme der heißen Platte drückte angenehm an ihre Handgelenke. ,,Daran, dass mir so ein vornehmer Titel nicht gebührt.“

,,Das ließe sich ändern“, sagte Thorin ohne darüber nachzudenken, doch Marie nahm es lediglich als Scherz ab.

,,Spinner“, lachte sie und er beschloss, den Gedanken, Marie könnte eines Tages eine Königin werden, vorerst nicht weiter zu beflügeln. Es war besser so.

,,Ich weiß nun, warum Ihr so eine geruhsame Nacht hattet“, verkündete Marie immer noch gutgelaunt und lenkte ihn von seinen Gedanken über die ungewisse Zukunft ab, die er für diesen Moment nicht zulassen wollte.

,,So?“

,,Mir hat eben jemand erzählt, dass Ihr die letzten Tage nicht besonders gut geschlafen habt.“

,,Zeigt mir den Verräter“, murmelte Thorin, stellte sich abermals auf die Zehenspitzen und drückte seine Lippen auf ihre.

Mehrere hohe Pfiffe hallten, dazwischen die Rufe: ,,Nehmt euch ein Zimmer!“, ,,Ujujuj!“ und ,,Ohne Zunge!“, wobei Bilbo den Kopf schief legte.

Marie merkte förmlich, wie ihre Wangen anfingen zu glühen. Dass sie nicht alleine im Raum waren, hatte sie ganz vergessen und wollte sich eilig von ihm lösen, doch er drückte sie mit seiner Hüfte an den Herd, legte die Hände auf ihre und fuhr unbeirrt fort. Er schien die Sprüche der andern gar nicht ernst zu nehmen, im Gegenteil; es schien, als spornte sie ihn sogar an.

Seine Küsse wurden intensiver. Marie war gefangen von ihm, ihm restlos verfallen, konnte sich nicht bewegen. An seinen Lenden, die er feste an sie gedrückt hatte, konnte sie eine Beule seiner Männlichkeit spüren. Der völlig aufgelöste Schmetterling fiel mit einem Jauchzen in Ohnmacht, als seine Zähne an ihrer Unterlippe zogen, ehe er stoppte. Marie schlug die Augen auf und sah es in seinen funkeln vor Begierde. Himmel…

,,Der Zopf gefällt mir“, flüsterte er mit rauer Kehle und gab ihr noch einen letzten Kuss, bevor er sich abwandte.

Schnell strich sie die nichtvorhandenen Strähnen hinter ihre Ohren und über ihr Kleid, rückte die Schürze zurecht und kümmerte sich wieder um den köchelnden Inhalt ihres Topfes. Dabei strahlte sie wie ein junges Mädchen über das ganze Gesicht und kaute auf ihrer warmen Lippe herum.

Die Zwerge rückten, um für Thorin noch einen Platz freizumachen. Hungrig griff dieser nach Brot und Butter.

Seine Neffen, die ihm gegenüber saßen, warfen sich eindeutige Blicke zu. ,,Soso…gut geschlafen“, nuschelte Fili.

,,So nennt man das also…“, höhnte Kili.

Natürlich ahnte ihr Onkel, worauf die beiden hinaus wollten und schmierte unbeirrt weiter sein Brot. ,,Ich weiß nicht, wovon ihr redet.“

Kili warf einen kurzen Blick zu Marie, die nichts von der Unterhaltung mitbekam, beugte sich dann über den Tisch und fragte leise: ,,Habt ihr nur geschlafen oder auch gevögelt?“ 

Bilbo blieb der Bissen im Hals stecken. Während er sich mit der Faust auf die Brust haute, griff er nach seinem Krug Milch. Die Zwerge amüsierten sich sichtlich über seine Reaktion. Gelassen blickte Thorin zu Dwalin, der neben Kili saß und zog eine Augenbraue in die Höhe. Dwalin verstand. Er lehnte sich weit nach hinten, holte aus und gab Kili einen Schlag über den Hinterkopf.

Fili prustete los, zeigte mit dem Finger auf seinen kleinen Bruder, welcher „lach nicht so blöde, du hast zuerst gefragt“ knurrte. Gleich darauf holte ihr Ziehonkel noch einmal aus, sodass auch Fili einen gehörigen Schlag abbekam. Nun lagen beide auf der Tischplatte, hielten sich unter dem Lachen der anderen mit zerknirschten Gesichtern die Köpfe. ,,Man darf doch mal fragen…“

Mit einem schadenfreudigen Grinsen schob sich ihr Onkel sein Brot in den Mund.

,,Worüber lacht ihr denn so?“ Marie legte den Deckel auf den Topf und drehte sich um. Sofort fiel ihr Blick auf Kili und Fili. ,,Was ist denn mit euch? Habt ihr Kopfschmerzen? Soll ich euch etwas anrühren?“

Nur mit größter Müh und Not konnten die anderen sich zusammenreißen. Die Brüder nahmen schnell die Hände vom Kopf. ,,Nein, nein! Es geht schon wieder.“

,,Marie, jetzt setz dich auch mal hin. Du hast noch nichts gegessen“, sagte Dori mit seinem fürsorglichen Ton und lenkte gekonnt von den Vorkommnissen ab.

,,Sonst isst dir Bombur noch alles weg“, feixte Nori.

,,Ha-ha“, kam von diesem als Bemerkung.

,,Na schön“, lachte sie und ging um den Tisch herum zu Thorin. Dass sie sich nach letztem Abend neben ihn setzen konnte, war ihr nur allzu klar und sie hatte rein gar nichts dagegen. Der Zwerg rückte für sie und legte den Arm um ihre Taille. Verlegen lächelnd sah sie zu ihm hinunter und nahm sich dann vom geschnittenen Brot. Dass sie nicht nur von ihm, sondern auch von seinen Männern beobachtet wurde, merkte sie, doch machte sich nicht allzu große Gedanken darüber. Sie wusste, wie merkwürdig es für die Zwergenmänner wirken musste, und nahm ihnen ihre Skepsis nicht übel.

Thorin konnte immer noch nicht glauben, dass dies alles in so kurzer Zeit passiert war. ,,Ich glaube, ich schulde euch beiden meinen Dank, Bofur, Dwalin“, seufzte er tief und schaute die Angesprochenen an.

,,Hab ich dir doch gesagt“, meinte Bofur mit einem breiten Lächeln und schob sich sein Marmeladenbrot quer in den Mund.

,,Wofür bedanken?“, fragte Marie und nahm den Krug mit Milch.

,,Dwalin hat Thorin auf seine Wunde geschlagen, damit du ihn neu vernähen musstest und damit er mit dir reden und dich dann auch küssen sollte“, erklärte Ori mit vollem Mund.

,,Dwalin!“, fuhr sie ihn fassungslos an.

,,Waf denn?“ Ein Wurstzipfel hing ihm aus dem Mund.

,,So verheilt die Wunde doch nie!“

Thorin fasste nach ihrem Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. ,,Dich wiederzuhaben, war mir die Schmerzen allemal wert.“

Sie errötete auf niedlichste Weise.

,,Hab ich doch gern gemacht“, grinste Dwalin verschmitzt.

,,Das glaube ich dir beim Wort.“

,,Das war ja ein richtiger strategischer Plan, den ihr da ausgeheckt habt“, meinte Marie beim Beschmieren ihres Brotes und zog eine Augenbraue anklagend in die Höhe, während die Männer grinsten oder sich stolz aufrichteten.

,,Aber eigentlich müsstest du dich bei Bilbo bedanken. Er hatte die Idee.“

Thorin sah zu dem Hobbit am anderen Ende des Tisches. Ein weiteres Mal hat er mir geholfen. Was steckt noch alles in ihm? ,,Nun denn schulde ich auch dir meinen Dank, Bilbo.“ Der Hobbit lächelte.

Als ihm etwas einfiel, schielte Thorin zu Dwalin hinüber. Er erhob sich, stemmte sich auf die Tischplatte, um sich hinüberlehnen zu können. Als Dwalin aufschaute, schlug er zu. Während die anderen lachten, starrten Marie und auch Bilbo die beiden entgeistert an.

Es knackte mehrmals, als Dwalin seinen Unterkiefer bewegte. ,,Du alter Hund. Du lässt aber auch nichts verstreichen.“ Er boxte ihm gegen die gesunde Schulter, woraufhin Thorin ihm in den Schwitzkasten nahm, fast Dinge vom Tisch fegte und mit den Fingerknöcheln auf seiner Glatze rubbelte. Missfällig knurrte Dwalin, versuchte, sich von ihm zu befreien.

Bilbo runzelte die Stirn, glaubte sich verhört zu haben und lehnte sich nach hinten, um ja nicht dazwischen zu kommen.

,,Keine Sorge, mein Junge“, sagte Balin neben ihm. ,,Allein mein Bruder hat das Privileg so mit ihm zu reden - was er aber nicht allzu häufig macht.“

,,Hab mich schon gewundert… Seid ihr eigentlich schon lange Freunde?“, fragte er dann laut.

,,Eine halbe Ewigkeit“, antwortete Thorin, als er sich wiedersetzte. ,,Ich verdanke ihm einiges.“ Die Männer sahen sich an und Dwalin neigte leicht das Haupt.

,,Wie habt ihr euch kennengelernt?“, fragte Marie und zupfte ihm ein Stück Brot aus den Haaren. Wieder sahen die beiden einander an und mussten diesmal lachen. ,,Oh, bitte erzählt es!“

Dwalin machte eine auffordernde Handbewegung. ,,Nach dir.“

,,Es war spät am Abend“, fing Thorin an. ,,Ich kam wieder aus Dale, hatte mich ausnahmsweise vor dem Unterricht gedrückt, um mich mit dir treffen zu können.“ Er sah zu ihr hoch und Marie beugte sich zu ihm und küsste ihn unter einen der Mundwinkel, dort wo jeweils eine kleine Fläche haarlos war. ,,Ich schlich mich durch die Nebengänge, vermied dabei die Hauptgänge, damit mich niemand sah. Plötzlich prallte ich mit jemandem zusammen. Es hatte sich angefühlt, als würde ich gegen eine Wand laufen.“

Dwalin schnaubte. ,,Frag mich mal! Noch heute kann ich deinen Dickschädel spüren.“

,, ,Sag mal, bist du total bescheuert, Bengel? Hast du keine Augen im Kopf?!‘, fuhr er mich unverhohlen an.

,Du bist doch selber schuld! Warum rennst du auch wie ein Auerochse um diese Tageszeit durch die Gänge?‘

,Dasselbe könnte ich dich fragen, Trottel!‘ Wir rappelten uns auf und ich musterte den Kerl. Er war in meinem Alter, hatte schon einen längeren Bart in der gleichen Haarfarbe wie ich und einen wilden, ungebändigten Wuschelkopf.“

Kili grinste. ,,Vor dem Iro“, kommentierte er und streichelte ihm über die Glatze, woraufhin alle Zwerge kichern mussten und Dwalin den Kopf wegriss, die Hand mit gespreizten Fingern ihm direkt auf‘s Gesicht legte und ihn wegdrückte.

,,Was mich allerdings verwundert hatte, war eine Kette aus Würsten um Hals und Schulter“, fuhr Thorin fort und sein Freund lachte mit weit aufgerissenem Mund und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

,,Ah, der fette Metzger! Der wollte Spielschulden nicht bezahlen, die feige Sau! Da hab ich mir eben meinen verdienten Anteil geholt. War gar nicht so einfach gewesen da ranzukommen, das kann ich euch sagen.“

,,Nicht diese Geschichte…“, seufzte Balin und verdrehte die Augen. Doch, genau diese Geschichte folgte prompt.

,,Ich hab mich durch ‘ne Luke in den Vorratsraum gezwängt, bin zwei Meter tief runter geknallt und hab dabei zwei oder drei Regale zerkleinert – war nicht gerade leise und natürlich wurde ich erwischt. Ein Beil wurde nach mir geworfen, das ganz knapp hinter mir in ‘nem Regal stecken bleib. Ich sage euch, Haaresbreite! Auf der Flucht hab ich dann noch schnell nach einer Wurstkette gegriffen, damit es sich auch lohnte, bevor ich meine Beine in die Hand genommen habe.“ Alle brachen in Gelächter aus.

Schon sehr früh zeigte sich, dass nicht beide Söhne von Fundin dem Beispiel ihres Vaters folgten würden. Dwalin, der ein wenig aus der Art seiner restlichen Familie geschlagen war, machte zuerst eine Lehre als Waffenschmied. Dank dem Einfluss seines Vaters und der Freundschaft zu Thorin bekam er eine gute Kampfausbildung. Danach war er wegen seiner Kampfkünste und der Nähe der königlichen Familie bei vielen so geachtet wie gefürchtet.

,, ,Was willst du denn mit den ganzen Würsten‘, fragte ich“, fuhr Thorin fort, als es wieder ruhiger wurde, und Dwalin gegenüber antwortete wahrheitsgemäß: ,,Kann dir doch am Arsch vorbei gehen. Was wolltest du außerhalb des Berges?“

,, ,Woher weißt du das? Außerdem geht dich das gar nichts an, du Idiot!‘, hab ich darauf geantwortet. Dann hörten wir auch schon die Stimmen und schnellen Schritte seiner Verfolger. Der Kerl rannte einfach davon und ich hinterher. Er war nicht besonders schnell, deshalb holte ich ihn ein.“

,,Bild‘ dir jetzt bloß nichts darauf ein…“, murmelte dieser in seinen Krug hinein und nahm einen Schluck.

Herausfordernd ließ Thorin die Augenbrauen zucken. ,,Im Laufen wurde mir der Grund klar. ,Du hast die Würste geklaut, ist es nicht so?‘, fragte ich ihn.“

Dwalin antwortete: ,,Das geht dich gar nichts an, Bengel.“

,,Sag es.“

,,Nein.“

,,Sag es.“

,,Verpiss dich endlich.“

,,Sag es oder ich stell dir ein Bein.“

,,Das wagst du nicht…“

,,Ich würde es in deiner Lage nicht darauf ankommen lassen.“

,,Na gut, na gut! Ja, ich hab sie geklaut! Bist du nun zufrieden, du Nervensäge?“

,,Hättest du ihm wirklich ein Bein gestellt?“, fragte Bofur.

,,Halt die Klappe! Ich will wissen, wie es weitergeht“, zischte Nori.

,,Wir waren in der Zwischenzeit schon ein ganzes Stück gelaufen und kamen in ein Treppenhaus, hetzten die Stufen hinauf“, fuhr Thorin fort. ,,Oben angekommen lehnten wir uns gegen die Wand. ,Ich glaube, wir haben sie abgehängt‘, sagte ich und spähte um die Ecke die Stufen hinunter. Mein Begleiter ließ sich neben mir zu Boden sinken.

,Ich mache dir ein Angebot‘, schlug ich vor und setzte mich auch. ,Wir teilen und die Würste, dafür verpetzt du mich und ich dich nicht.‘

,Abgemacht‘, keuchte der Unbekannte, nahm die Würste, zählte ab und teilte sie.“

,,Bei Durin, das waren die besten Würste, die ich je gegessen habe“, meinte Dwalin und küsste sich die Fingerspitzen. Am anderen Tischende seufzte Bombur sehnsüchtig über den Verzicht auf Würstchen in diesem Moment.

,,Beim Essen hab ich ihn dann gefragt, wie er überhaupt hieß und er sagte eiskalt: ,Thorin II. Und du?‘ Ich schwöre euch, mir ist der Bissen im Halse stecken geblieben. ,Thorin?!‘, fragte ich geschockt. ,Doch nicht etwa der Prinz…‘ Und er antwortete wieder eiskalt: ,Doch, der bin ich.‘“

,,Was sollte ich denn deiner Meinung nach sagen?“, fragte dieser amüsiert und biss von seinem nächsten Brot ab.

,,Du hättest mir das auch schonender Beibringen können. Ich hab schließlich mit dem Prinzen Erebors auf den Boden gesessen, geklaute Würste gegessen und ihn Trottel und was weiß ich noch alles genannt! Ich hatte wirklich keinen Schimmer in diesem Moment.“

,,Dein Gesichtsausdruck hat für dich gesprochen.“

,,Und wie ging es weiter?“, fragte Marie.

,,Wir wurden Kumpels“, antwortete Dwalin schulterzuckend. ,,Wir haben zusammen Übungskämpfe gemacht und… was halt so beste Freunde in unserem Alter machen…“ Die beiden tauschten einen alles sagenden Blick aus. Der Tag würde nicht reichen, um alles erzählen zu können.

 

Nach dem Frühstück wollte Marie anfangen, den Tisch abzuräumen und erlebte eine weitere Überraschung an diesem Morgen. Die Teller wurden ihr einfach unter den Händen weggeschnappt. ,,He, was…“

,,Überlass das uns.“ Fili warf den Teller hinüber zur Spüle, wo Dori schon zum Fangen bereit stand. Gloin kam dazu und schüttete schwungvoll einen Eimer Wasser in das Becken, dass das Wasser nur so hoch schwappte. Auch über ihrem Kopf flog etwas. War das ein Brot? Ihr Herz blieb stehen, als Bifur sich die Messer zusammenklaubte und diese ebenfalls Richtung Spüle warf. ,,Himmel, vorsichtig!“ Alle dreizehn Zwerge machten sich ans Aufräumen. Marie drehte sich um die eigene Achse und war kurz darauf von ihnen umgeben. ,,Das kommt dorthin und das… Lasst mich das…“ Als Messer, Gabeln und Becher durch den halben Raum flogen, konnte sie kaum mehr hingucken. Die Männer begannen eine Melodie zu summen und Marie sah, wie Thorin darüber den Kopf schüttelte, ganz so, als würde er sich über ein bekanntes Lied amüsieren. Die Melodie wurde lauter. Besteck- und Tellergeklapper, rhythmisches Stampfen und das tiefe mehrstimmige Summen belebten das ganze Haus am Waldrand. Im gleichen Moment fasste Thorin ihre Hand und zog sie zu sich. ,,Was wird das?“ Er schwieg. Die Antwort musste sie wohl selber herausfinden.

Thorin zog sie ganz dicht und bestimmt an sich, so als wollte er klarstellen, dass sie zweifellos zu ihm gehörte. Seine Hand führe ihre freie zu seiner Schulter, ehe er ihre Taille fasste. Sollte sie etwa tanzen? Hier? In Schürze? Es schien geradezu surreal zu sein – alles. Wie oft hatte sie seit dem Sommerfest davon geträumt nur ein einziges Mal wieder mit ihrem Prinzen tanzen zu können? Sechzehn Jahre später erfüllte sich ihr Wunsch.

Hatte sie je in ihrem Haus getanzt? Sie wusste es nicht und es war ihr auch egal, als Thorin seine Schulter drehte und sie mit reinen Glücksgefühlen benebelte. Die Zwerge stimmten während dem Abwasch das Lied an und sie begannen, flotte Kreise zu tanzen.

,,Wir tanzten mit Marie, du und ich, du und ich.

Wir tanzten mit Marie, sie wollte mich.

Doch als der Krieg mich rief,

erreichte mich dein Brief,

dass sie des Nachts entschlief,

teurer Freund, teurer Freund,

dass sie des Nachts entschlief,

mein teurer Freund.“

Marie schaute zu Thorin hinab. Seine grauen Augen funkelten, so als würde er es genießen, sie zu beobachten. Bei seinem triumphalen Grinsen und dem Text, musste sie lachen. Ihr Rock schlug ihr um die Beine. Ihr Zopf schwang hinter ihrem Rücken mit den Kreisen, die sie zusammen zogen.

,,Marie hieß meine Braut.

Sie war schön, wunderschön.

Marie hieß meine Braut, sie war schön.

Marie hieß meine Braut.

Du hast sie mir geraubt,

doch ich hab dich durchschaut, teurer Freund, teurer Freund.

Doch ich hab dich durchschaut,

mein teurer Freund.“

Sie nutzten den ganzen Wohnraum aus, von einer Ecke zur anderen und einmal um den Tisch herum, zwischen allen hindurch. Marie lachte aus vollem Hals, ließ den Kopf in den Nacken fallen.

,,Seitdem war ich hier nicht mehr,

lang ist’s her, lang ist’s her.

Seitdem war ich hier nicht mehr,

ja lang ist’s her.

Doch schließlich heute früh,

da sah ich doch Marie.

Ganz plötzlich sah ich sie.

Teurer Freund, stell dir vor,

ganz plötzlich sah ich sie,

ja, stell dir vor.

 

Sie stand vor deinem Haus,

ganz in weiß, ganz in weiß.

Sie stand vor deinem Haus,

ganz in weiß.

Es war ihr großer Tag.

Sie sah mich und erschrak.

Ich läg in einem Sarg

Irgendwo, schrieb man ihr.

Ich läg in einem Sarg,

das schrieb man ihr.“

Thorin führte sie schneller, doch sie konnte das auch und so drehten sie schneller und ausgelassener die Kreise, welche auch nicht immer rund waren. Irgendwo um sie herum klatschten und stampften die Gefährten im Rhythmus. Seifenlauge aus dem Spülbecken ließ Seifenblasen durch die Küche wehen, durch die Marie lachend hindurch geführt wurde.

,,Marie hieß meine Braut.

Sie war schön, wunderschön.

Marie hieß meine Braut, sie war schön.

Marie hieß meine Braut.

Du hast sie mir geraubt,

doch ich hab dich durchschaut,

teurer Freund, teurer Freund.

Doch ich hab dich durchschaut,

mein teurer Freund.

 

Ich las in ihrem Brief,

hundertmal, hundertmal.

Ich laß in ihrem Brief,

einhundert Mal.

Die Schrift war mir bekannt.

Die Lüge, die dort stand,

sie war von deiner Hand,

mein teurer Freund.

 

Marie hieß meine Braut!

Sie war schön, wunderschön.

Marie hieß meine Braut, sie war schön!

Marie hieß meine Braut.

Du hast sie mir geraubt,

doch ich hab dich durchschaut,

teurer Freund, teurer Freund!

 

Doch ich hab dich durchschaut,

mein teurer Freund!“

Sie kamen in einer blitzblank aufgeräumten Küche zum Stehen und augenblicklich schallten Applaus und Pfiffe von den versammelten Gefährten für das Paar.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

17

 

 

Nach dem Frühstück trat Balin zu ihm. ,,Kann ich dich sprechen?“

,,Was gibt’s, Balin?“

,,Lass uns bitte unter vier Augen reden.“

Sofort spürte Thorin, dass etwas nicht stimmte. Er wies zur Tür und gab seinem Freund den Vortritt. Es war ein sonniger Herbsttag. Der Himmel war seit Tagen wieder einmal blau.

,,Marie hat sich wirklich aufopferungsvoll um uns gekümmert“, begann der weißhaarige Zwerg, als sie alleine auf der Wiese standen. Er rang die Hände, die in dicken, ledernden Handschuhen steckten.

Thorin nickte. ,,Wir verdanken ihr viel.“ Dass Balin jedoch sehr bedrückt wirkte und seine Worte ihm gegenüber bedacht wählte, entging ihm nicht im Geringsten und plötzlich ahnte er, was sein alter Freund ihm zu vermitteln versuchte.

Er wandte sich ab, wollte das Unausweichliche nicht hören, doch Balin sprach weiter. ,,Ja. Sie ist eine bemerkenswerte Frau, die etwas von ihrem Handwerk versteht. Die Jungs sind dank ihr wieder gesund und wir sind alle gestärkt… Und nun wird es Zeit weiterzuziehen.“

Es war, als würde man aus einem Traum aufwachen und in Bruchteilen einer Sekunde gnadenlos der Wirklichkeit gegenüberstehen. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, krachten ineinander und zerbarsten. Balin hat recht; es wird höchste Zeit aufzubrechen. Der Herbst schreitet voran. Der Durins-Tag rückt immer näher, nur wenige Tage verbleiben uns noch. Wenn wir jetzt nicht aufbrechen, schaffen wir es nicht und dann wäre alles umsonst gewesen und alles verloren. Sein Wunsch, Erebor zu erreichen und seine königliche Pflicht seinem Volk gegenüber einzulösen, würde ihn von der Frau trennen, die er gerade erst wiedergefunden hatte. Der Frau, die sein Herz besaß.

Er hatte sie schon einmal verlassen, sie dabei so verletzt, und musste es nun erneut tun. Den vorwitzigen Gedanken, sie einfach mitzunehmen, verwarf er wieder. Er brachte sie in große Gefahr, wenn sie mitkommen würde. Ohne irgendwelche Kampferfahrung war sie den Bedrohungen, die ihnen noch bevorstanden, und dem Feuer eines Drachen schutzlos ausgeliefert. Wenn ihr irgendein Leid wiederfährt…

Balin legte ihm eine Hand auf die Schulter und holte ihn so aus seinen tiefen Gedanken. ,,So leid es mir tut, wir können nicht länger bleiben. Je eher wir aufbrechen, desto mehr Strecke können wir aufholen. Der Durins-Tag ist nicht mehr fern.“

Verzweifelt fuhr Thorin sich durch die Haare. ,,Ich weiß, ich weiß ja... Es ist…nur so schwer. Vielleicht verstehest du das nicht.“

Balin betrachtete ihn aufmerksam. Marie bekräftigt ihn, in allem, was er tat. Die Bedeutung, die dieser Mensch für ihn hatte, konnte der alte Zwerg mit der bloßen Hand greifen. Als er den Plan der anderen, ihn wieder mit ihr zusammenzubringen, erfahren hatte, war er nur dagegen gewesen, weil er wusste, dass eine Trennung angesichts ihrer Mission unvermeidbar wäre. Er hatte vorausschauender gedacht, was wohl an seiner Lebenserfahrung lag. Wie konnten die anderen das einfach ignoriert haben? Sich gerade jetzt an ein Weib zubinden, war der ungünstigste Zeitpunkt, den er treffen konnte.

Nun stand Thorin vor der Hürde, Marie wieder für eine ungewisse Zeit zu verlassen. Und diese Hürde musste er allein nehmen.

,,Ich verstehe dich sehr gut, mein Freund,“, antwortete er ihm, ,,du musst das nicht tun, Thorin. Das habe ich dir schon einmal gesagt“, sprach er eindringlich zu ihm. ,,Du hast eine Wahl. Du kannst hier bleiben, wenn du das möchtest, bei ihr. Nicht nur ich weiß, welche Bürde auf deinen Schultern liegt…und das kann man von niemanden verlangen.“

,,Ich bin der rechtmäßige König“, wiedersprach Thorin. ,,Es ist meine Bestimmung, mein Vermächtnis und mein Schicksal. Es gibt keine andere Wahl. Nicht für mich. Diese Mission werde ich zu Ende bringen…auch wenn es mich wohlmöglich mein Leben kosten kann. Nur so werde ich meinen Frieden finden können.“

Balin presste die Lippen aufeinander, nickte. ,,Keiner von uns zweifelt an deine Entschlossenheit, Thorin. Marie bedeutet dir sehr viel, dass sieht und spürt jeder. Aber dennoch, sie hier zu lassen ist der richtige Weg. Die Gefahren sind nicht abzusehen. Das was uns bevorstehen wird, liegt noch im Vorborgenen. Auch deine Männer mussten ihre Frauen dort zurücklassen, wo sie sie in Sicherheit wussten, so wie ich es ebenfalls mit meiner Wilar getan habe. Sei also versichert, dass wir dich verstehen und deine Entscheidung gutheißen werden. Lass auch du sie hier, Thorin. Hier wird sie in Sicherheit sein und zurechtkommen, falls wir…“ Das Ende ließ er ungesagt, denn sie beide wussten nichts über das, was das Schicksal für sie und ihre Gefährten noch bereit hielt.

,,Du hast recht“, murmelte Thorin. ,,Es ist die einzige Möglichkeit.“ Er blickte den Weg entlang, der nach Osten führte und sie weiter gen Erebor bringen sollte. Wiederwillig sträubte er sich und ballte die Fäuste. ,,Doch ich schwöre bei allen Göttern, wenn wir es geschafft haben, wenn ich den Thron meiner Vorfahren als mein Erbe antrete, wenn der Drache tot ist und das Gold und der Arkenstein wieder unserem Volk gehört…und ich dann noch am Leben bin, dann werde ich hier her zurück kehren und sie mit in unsere Heimat nehmen.“

Für einen langen Moment sah der alte Zwerg ihn an, sah in seinen scharfen Augen einen silbrig schimmernden Glanz, während er mit der Entschlossenheit eines Königs gesprochen hatte. ,,So soll es sein“, raunte er feierlich.

,,Morgen in der Früh brechen wir auf“, verkündete ihr Anführer und König mit kalter Stimme, ehe er den Trampelpfad zum Fluss einschlug. Balin blieb zurück und sah ihm unglücklich nach.

 

~

 

Marie nahm den nächsten Kittel, tauchte ihn ins kalte Wasser und breitete den groben Stoff danach auf dem Waschbrett aus. Bester Laune summte sie das Lied, mit dem die Zwerge sie überrascht hatten. Neben ihr im Wasser tauchte ein Schatten auf. Sie fuhr herum und lächelte, als sie Thorin erkannte, und wandte sich dann ihrer Arbeit wieder zu. ,,Eure Hoheit, wenn Ihr mir helfen wollt, muss ich Euch leider abweisen. Ein König wäscht unmöglich Wäsche, an der Kuhmist klebt.“

Thorin schwieg. Ihm war nicht zu diesem Spiel zumute.

,,Das Lied, dass ihr gesungen habt, könnt ihr niemals extra für mich gedichtet haben“, redete sie munter weiter. ,,Das gibt es doch bestimmt schon länger. Und wie könnt ihr nur so die Sachen werfen? Euer Geschick möchte ich…“

,,Sari.“

,,Wie bitte?“

,,So heißt die Braut eigentlich.“

,,Ein schöner Name. Mit Marie find ich es trotzdem schöner. Findest du nicht auch?“ Als sie keine Antwort erhielt, hielt sie inne und drehte sich um. Ihr Lächeln verblasste. Er stand einfach nur da, hatte die Arme verschränkt und schaute auf seine Stiefelspitzen, als könnte er sie nicht ansehen. ,,Thorin? Stimmt etwas nicht?“

Auf dem kurzen Weg hierher war er nicht imstande gewesen, sich Sätze zurecht zu legen. Wie sollte er nur anfangen? Welche Worte wären die richtigen? Auf keinen Fall wollte er sie verletzen – nicht noch einmal. Marie erhob sich, trat zu ihm und nahm seine Hand, unwissend, dass sie alles dadurch nur noch verschlimmerte. ,,Thorin, was ist los? Du schaust so traurig.“

Er entriss ihr seine Hand. ,,Marie, ich muss dir etwas sagen.“ Wie angewurzelt verharrte sie und er sah in ihre grünen Augen, als stünden brauchbare Erklärungen in ihrer Iris. Doch alles, was er sah, war ihr verunsicherter und zunehmend besorgter Blick.

Nein, es ging einfach nicht.

Er konnte ihr nicht sagen, dass sie aufbrechen werden, dass er sie wieder verlassen musste. Er konnte es einfach nicht. Stattdessen strich er eine feine Strähne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, hinter ihr Ohr und nahm ihre beiden Hände sanft in seine. ,,Weißt du… Gefühle, die wieder hochkommen, sind Gefühle, die niemals fort waren. Und sie waren niemals fort, denn du warst immer bei mir. Du bist das Mädchen aus Dale, in das ich mich einst verliebte und an das ich mein Herz verloren habe.“

In Maries Augen stiegen Tränen auf. Wie schafft er es nur immer, so etwas Schönes zu sagen und warum muss ich immer flennen? Als könnte er ihre Gedanken lesen, drückte er ihre Hände fester, sah mit erstem und zugleich auch traurigem Blick zu ihr hinauf.

,,Wenn ich dir in die Augen schaue, erblicke ich das pure Glück, dann verliere ich mich jedes Mal in ihrem strahlenden Grün. Dein Lachen baut mich auf. Wenn du mich berührst, empfinde ich Wärme. Meine Gefühle für dich, die mich jedes Mal übermannen, sind stärker denn je.“

Oh, wie schön! Nicht weinen, jetzt nicht weinen. Sie presste die Lippen aufeinander, doch die nächsten Sätze gaben ihr den Rest.

,,Solange ich noch stehen kann, kämpfe ich für dich. Solange ich atme, verteidige ich dich. Solange mein Herz schlägt, wird es dich in sich tragen. Solange ich lebe, werde ich dich lieben. Marie, mein Liebling, amra limé. Ich liebe dich.“

Der Schmetterling explodierte und aus seinen kleinen Fetzen formten sich viele neue. Wie ein Wirbelsturm flatterte ein ganzer Schwarm in ihr, zog seine Kreise wie bei einem Siegeszug. Ungehalten kullerten nun doch Tränen über ihre Wangen, während sie ,,ich liebe dich auch“ hauchte und beide Hände an seine Gesicht legte. ,,Ich habe dich immer geliebt…“ Marie beugte sich zu ihm hinab und küsste ihn. Thorin schlang seine Arme um ihren Rücken, drückte sie solange an sich, bis er ihren Geschmack und ihren Geruch nie zu vergessen wagte.

 

~

 

In ihm herrschte ein Gefühl der Zerrissenheit, als er zurück zum Haus ging. Auf der einen Seite war es ein unglaubliches Gefühl, Liebe zu empfinden wie zu erhalten, doch dies war nur eine dünne Schicht Balsam für alte Wunden. Denn auf der anderen Seite herrschte in ihm Enttäuschung und Zorn über sich selbst. Er war nicht Manns genug gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen. Die Vorstellung, dass sie ihn immer geliebt hatte, verstärkte den Zorn darüber, dass er ihr einst den Rücken gekehrt hatte. Für das, was ich ihr angetan habe, verdiente ich sie gar nicht mehr. Verbittert ballte er beim Gehen die Fäuste und trat fester auf.

Vor dem Haus saßen die Gefährten in der Sonne. Viele hatten sich ihre Pfeifen angesteckt und blickten neugierig auf, als er über die Wiese kam. Im Türrahmen lehnte Balin. Wie er so da stand und ihm empfing, die eine Hand hinter dem Rücken gelegt, erinnerte er Thorin an seinen Vater Thrain, wie dieser am Abend auf seine Kinder gewartete hatte, als er mitbekommen hatte, dass sie mal wieder etwas angestellt hatten. Nicht allzu selten wurden er und sein Bruder wenn nötig übers Knie gelegt – Frerin öfters als er. Seine Schwester hingegen nicht ein einziges Mal. Dis war Vaters Liebling gewesen, seine kleine Prinzessin. Traditionell und pflichtbewusst waren die drei Geschwister erzogen worden. Thrain wollte für seine Kinder stets nur das Beste und auch wenn er manchmal sehr streng mit ihnen war, war er doch ein liebender Vater gewesen.

,,Hast du es ihr gesagt?“

Ohne zu antworten ging er an ihm vorbei ins Haus. Am Fuße der Bank unter dem Fenster lagen sein Rucksack und sein großes Schwert Orcrist, welches er aus der Trollhöhle mitgenommen hatte. Im Vergleich zu den schmucklosen Zwergen-Kurzschwerter kam es einem Kunstwerk gleich. Elben hatten es geschmiedet. Als Gandalf ihm dies sagte, wollte er es gleich wieder aus der Hand legen, behielt es jedoch letztendlich. Solch eine Klinge war trotz der Herkunft von unschätzbarem Wert und Schärfe.

Aus seinem Rucksack holte er seine Pfeife und seinen Tabaksbeutel heraus. Damit trat er wieder aus der Tür, in der Balin immer noch stand, und ließ sich an der Hauswand nieder.

,,Du hast es ihr also nicht gesagt.“

,,Wir gehen heute Abend ins Dorf in die Kneipe.“

Verwirrt über seine Antwort blinzelte Balin wie eine Eule, während die anderen sich mit blitzenden Augen anschauten.

,,Gedenkst du dabei an eine Abschiedsfeier?“

Anstatt zu antworten holte Thorin aus einer Tasche am ledernden Beutel Zündhölzchen heraus, riss die Kordel auf, nahm das braune Kraut mit Daumen und Zeigefinger heraus und stopfte es sorgfältig in den Pfeifenbauch. Nicht nur Balin machte eine fragwürdige Grimasse über sein Schweigen - auch die Gefährten, die den Aufbruchsplan von ihm schon mitgeteilt bekommen hatten.

,,Was sollte sonst der Anlass sein?“

,,Ich hab ihr meine Liebe gestanden“, für einen Moment stoppte er seine Arbeit und schaute in die Ferne „…und dann sagte sie, dass sie mich auch liebe.“

Für ein paar Sekunden wurde es still, ehe begeisterter Jubel ausbrach. ,,Ich hab’s gewusst!“, brüllte Bofur und rüttelte den völlig überrumpelten Bilbo von hinten an den Schultern. ,,Hab ich’s euch nicht gesagt?!“

,,Das nenn ich mal einen richtigen Grund zum Feiern!“, meinte Gloin und Bifur neben ihm formte seine Hände wieder zu Mündern, mit denen er ein hüpfendes Puppenspiel veranstaltete.

Fili lehnte sich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. ,,Wir freuen uns für dich.“

Abwesend nickte ihr Onkel ihnen zu. Dwalin hielt ihm die Faust hin, die er ebenfalls nur beiläufig abschlug.

Verzweifelt schaute Balin in den Himmel und murmelte Unverständliches.

Kili hingegen rieb sich die Hände vor Vorfreude. ,,Endlich mal wieder was Schönes trinken.“

Sein Bruder neben ihm nahm einen Zug von seiner Pfeife und paffte gekonnt einen grauen Ring in die Luft. ,,Oh ja“, meinte er, während er seinem Werk zusahen, wie es sich in der Luft auflöste. ,,Ein paar Schnäpse wären jetzt genau das Richtige.“

,,Wir trinken nur ein paar Bier“, entgegnete Thorin, während er ein brennendes Zündhölzchen an den Tabak hielt. ,,Wir müssen Morgen früh aufstehen“, nuschelte er mit der Pfeife im Mund. Dann schüttelte er das Hölzchen aus und warf es fort. Nicht nur die Jungs, auch die anderen schauten enttäuscht drein.

,,Thorin hat recht“, meinte Oin. ,,Es täte euren noch geschwächten Körpern nicht gut, wenn ihr euch besaufen würdet.“

Beide rollten mit den Augen. ,,Uns geht es doch wieder gut…“

Sogleich stupste Dwalin mit dem Finger Kili in den Bauch, woraufhin dieser vor Schmerz zusammenzuckte. ,,Lass das!“

,,Nur eine Runde“, bettelte Fili und gab acht, dass sein Ziehonkel seine Finger bei sich hielt.

Thorin nahm einen tiefen Zug. Die Dämpfe des Krauts ließen sein Gemüt ein kleinwenig entspannen. Er wollte nicht, dass seine Männer miesgelaunt den Marsch begannen. ,,Eine Runde.“

Triumphierend sahen sich die Brüder an.

,,Mehr wäre auch gar nicht in unsere Münzen miteinkalkuliert. Gerade einmal ein paar nette Runden sind drin“, fügte Gloin nickend hinzu. ,,Wir müssen uns wohl mit weniger begnügen.“

,,Naja, besser als nichts“, meinte Bofur schulterzuckend und bekam Zustimmung.

,,Schon komisch, dass Marie den wahren Grund für die Feier gar nicht weiß“, meinte Ori leise. Wie ein Kartenhaus fiel die Stimmung. Dafür stieß Nori ihm den Ellenbogen in die Seite.

Thorin schwieg in sich hinein und blies gedankenverloren den Rauch aus der Nase. Betretendes Schweigend herrschte, bis Nori fragte: ,,Also sollen wir ihr nichts sagen, oder wie?“

,,Natürlich müssen wir es ihr sagen, du Pfosten!“, herrschte Dwalin ihn an.

,,Dir könnte ich ja so etwas zutrauen“, mischte sich Dori schnaubend ein, ,,einfach abhauen bei Nacht und Nebel.“

Wütend wurde er von seinem Halbbruder angefunkelt. ,,Was soll das denn heißen?“

,,Du weißt ganz genau, was ich meine… Du und deine Weibergeschichten. Du hast schon so mancher Zwergin das Herz gebrochen.“

,,Ach ja?!“

,,Ja!...“

,,Schluss! Jetzt!“ Die barsche Stimme von Dwalin ließ die beiden Streithähne verstummen.

,,Oder soll es ihr jemand anderes sagen?“, warf Bofur wieder ein, wurde jedoch von einem Machtwort seines Anführer zum Schweigen gebracht. ,,Das ist allein meine Angelegenheit, in die sich niemand einzumischen hat!“ Eingeschüchtert zog er den Kopf ein.

Bilbo stütze seinen Ellenbogen auf seinem Bein ab, der Bauch seiner langstieligen Pfeife in der anderen Hand haltend. Er grübelte, doch fiel ihm keine Lösung ein. Fakt war, dass Thorin es ihr sagen muss. Da führte kein Weg drum herum und er befürchtete, dass er ihm diesmal nicht dabei helfen konnte.

Auf einmal sprang Bifur auf und schleuderte seinen Zeigefinger wie verrückt mehrmals geradeaus.

,,Bei Durins Arsch, Bifur, setz dich wieder hin. Was soll das werden?“

Bofur stellte sich zu seinem Vetter und verfolgte über dessen Schulter wie über ein Fernrohr seine Weisung. ,,Da brat mir doch einen Storch…“ Zwölf Augenpaare folgten ihm augenblicklich.

Eine Person tauchte auf dem Weg auf. Sie war groß gewachsen, hatte einen langen Stab bei sich und trug ein langes, graues Gewand mit einem spitzen Hut.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

18

 

 

Am Abend hatte Marie ihr bestes Kleid, was sie besaß, angezogen und drehte sich schon eine ganze Zeit lang vor ihrem Spiegel hin und her. Der Ausschnitt bringt mich noch um, dachte sie und legte die Hände über ihr Dekolleté.

Als sie vorhin vom Waschen kam, wurde sie Zeuge einer herzlichen Begrüßung. Sichtlich erstaunt hatte Gandalf sie gemustert, während die Zwerge ihn über sie aufgeklärt und erzählt hatten, was hier in der Zwischenzeit geschehen war. Dabei hatte Gandalf einen mehr als erstaunten Blick Thorin zugeworfen. Marie hatte noch nie einen der fünf Zauberer zu Gesicht bekommen, doch so hatte sie ihn sich vorgestellt. Seine Haut war von der Sonne gegerbt, Falten und Tränensäcke zeugten von seinem Alter. Er hatte lange, graue Haare und Bart. Seine Augen waren trotz seines Alters scharf, klar und aufmerksam, die Sympathie und Wärme ausstrahlten. Er hatte eine Umhängetasche und einen Stab mit gedrehter, kunstvoll geschnitzter Spitze bei sich. An seinem Gürtel hing ein Schwert, welches er, so wusste sie intuitiv, zu benutzen wusste. Im Haus hatte Marie ihm einen Tee angeboten, den er dankbar annahm. Er war sehr höflich gewesen, besaß eine ruhige Art und wirkt sehr weise und klug.

Als sie die Kanne aufsetzte, hatte sie der Unterhaltung der nun wieder vollzähligen Gefährten zugehört. Nachdem er ihr altes Lager und die toten Orks gefunden hatte, habe er sich Sorgen gemacht und sie gesucht.

Seufzend drehte sie sich vom mannshohen Spiegel weg und ging zu ihrem Schrank, der daneben, an der gegenüberliegenden Wand von der Zimmertür stand und sperrangelweit geöffnet war, und warf nochmal einen Blick hinein. Der Verzweiflung nahe machte sie dicke Backen, als sie ihre tägliche, teils schon verschlissene Kleidung in Augenschein nahm. Rechts an der Kleiderstange hing an einem Haken ihr sandbraunes Mieder und Oberteil und der hellblaue Rock, was sie eigentlich ständig trug. Ihre Stiefel für den Winter standen darunter. Daneben hing noch ein anderes Mieder und ein paar wenige Röcke. Ihr Blick ging zu der linken Seite und wie von alleine glitten ihre Finger über einen Stapel Hosen.

Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie deren Sachen aufbewahrt. Im Winter trug sie ständig unter dem Rock Hosen ihres Vaters oder auch eines seiner Hemden. Das war nicht gerade damenhaft, das wusste sie, doch sie machte sich nichts daraus. So fühlte sie seine immer noch währende Anwesenheit und seine Sachen gaben ihr Wärme, so wie zu Lebzeiten. Manche Teile ihrer Mutter hatte sie auch Anna gegeben. Diese wollte sie zwar nie annehmen - sie war einfach zu bescheiden - doch Marie hatte ihr angesehen, wie sehr sie sich darüber gefreut hatte, nachdem sie sie ihr aufgedrängt hatte.

Gedankenversunken holte sie aus einer der kleinen Schubladen in der Mitte eine Kette heraus. Das war das einzige Schmuckstück, das sie besaß und sie machte sie auch nur selten um, weil sie Angst hatte, dass sie sie wohlmöglich verlieren könnte. Es war ein runder, unbearbeiteter, rötlicher Stein, durchzogen mit einer helleren Gesteinsader und durch dessen Loch die dunkle Schnur verlief, die mit einem metallischen Verschluss versehen war.

,,Wenn man den Stein ins Licht hält, schimmert die Ader. Es ist pures Silber“, hatte ihre Mutter, als sie kleiner war, einmal zu ihr gesagt und ihn für sie in die Sonne gehalten.

Marie nahm den Stein zwischen die Finger und drehte ihn. Obwohl sie heute weiß, dass es kein echtes Silber war, sah sie das vertraute Glitzern, was ihr ein Lächeln zauberte. Sie umschloss die Kette und sah abermals in den Spiegel. Und nun stand sie hier in ihren besten Sachen, dem Lieblingskleid ihrer Mutter nämlich, und mit ihrer Kette in der Hand in ihrem Zimmer und haderte mit sich selbst.

Ein doppeltes Klopfen an der Tür ließ sie aufschrecken. ,,Ja, bitte herein.“ Kili und Fili traten ins Zimmer und als sie Marie sahen, blieben ihnen die Münder auf.

Das Kleid besaß ein weit ausgeschnittenes Mieder zum Schnüren vorne aus samtfeinem, ebenholzfarbenden Hirschleder, was ihre Büste ein wenig hochdrückte. Das weiße Oberteil gab ihre Schultern frei und hatte lange, lockere Ärmel. Der Rock war weinrot, dessen Saum ein Streifen dunkler Spitze zierte.

,,Fick die Henne!“, entfuhr es Kili.

,,Ist das gut oder schlecht?“

,,Das ist mehr als gut!“, sagte Fili.

,,Kann ich das wirklich anziehen?“, fragte sie mit zerknirschtem Gesicht.

,,Du musst!“

,,Hab mehr Selbstbewusstsein! Glaub uns, du siehst umwerfend, richtig edel aus. Thorin wird es sicher gefallen. Was machst du mit deinen Haaren?“

Dies aus Filis Mund zu hören, verursachte einen kribbeligen Schauer auf ihrer Haut. Sie zuckte mit den Achseln. ,,Ganz normal, schätze ich.“

Die Brüder sahen sich an und ein Blick genügte. Fili packte Marie an den Schultern und zogen sie nach hinten. ,,Setz dich.“

,,Was habt ihr vor?“, fragte sie, während die Bettkante gegen ihre Kniekehle drückte und sie aufs Bett beförderte.

,,Wir machen dich noch hübscher. Hast du hier irgendwelche Haarbänder rum fliegen?“

,,Im Schrank, in der obersten Schublade.“

Während Kili in ihr herumkramte, riss sich Fili die Stiefel von den Füßen und sprang hinter ihr aufs Bett.

,,Soll ich sie dir ummachen?“ Sein Atem streifte ihre Wange.

Sie drehte den Kopf und währe fast mit seinem Gesicht zusammen gestoßen. Er spähte über ihre Schulter und wies mit einem Nicken auf ihre Hand, in der immer noch die Kette lag. ,,Bitte.“ Marie reichte sie ihm und schob ihre Haare auf eine Seite. ,,Ich trage dafür zu selten Schmuck.“

,,Wenn du mich fragst, eine Schande.“ Er legte sie ihr um und machte den Verschluss zu, wobei er aber etwas brauchte, um mit dem winzigen Haken fertig zu werden.

Kili pfiff durch die Zähne und Marie senkte errötend das Kinn.

,,Hör auf, zu schleimen und wirf mal die Haarbürste da rüber.“ Kaum hatte Fili ausgesprochen flog diese an Maries Kopf vorbei.

 

~

 

Tak-tak-tak-tak.

,,Warum dauert das denn immer so lange bei den Frauen?“, nuschelte Bofur gelangweilt mit aufgestütztem Kopf.

Nori saß neben ihm am Tisch, ließ seine Finger nacheinander der Reihe nach darauf tippen. Tak-tak-tak-tak. Tak-tak-tak-tak.

,,Man gut, dass ich keine Frau bin“, murmelte Dori.

,,Ein Glück!“, schnaubte Nori. ,,Du wärst sicherlich pottenhässlich!“ Schallendes Gelächter brach aus. Bofur haute sich auf’s Knie. Sogar Gandalf, der gemütlich auf der Bank unter dem Fenster saß, musste sich das Lachen verkneifen. Dori hingegen zog eine genervte Grimasse.

Tak-tak-tak-tak. Tak-tak-tak-tak. Tak-tak… Dwalin schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass es rumste. ,,Hör auf, das nervt!“

,,Was machen die Jungs denn so lange bei ihr? Sie wollten doch nur gucken gehen“, fragte Bofur in den Raum.

Just in diesem Moment kamen sie die Treppe hinunter und stellten sich zu ihrem Onkel, der sie schief und mit zugekniffenen Augen misstrauisch ansah. ,,Was habt ihr angestellt?“

,,Du wirst es gleich sehen“, meinte Kili nur und wies mit einer Kopfbewegung zur Treppe, deren Stufen zu knarzen begannen.

Alle drehten sich zu Marie um, die schüchtern lächelnd die Treppe hinunter kam. Auf den Gesichtern der Zwerge legten sich begeisterte, faszinierte oder erstaunte Lächeln, während sie sich ehrfürchtig erhoben und sie zwischen ihnen hindurch auf Thorin zu schritt. Bei ihrem Anblick setzte sein Herz ein paar Takte zu. Ihre langen Haare waren zu einem dicken Zopf, der aus mehreren geflochtenen Zöpfen bestand und mit mehreren Bändern zusammen gehalten wurde, geflochten. An ihren Schläfen und hinter ihren Ohren kamen sehr dünn geflochtene Strähnen heraus, die sich wie Ranken um den großen wunden, der schwer über ihrer Schulter lag.

Kili hustete. ,,Gern geschehen.“

Dankend sah Thorin seine Neffen an, kam dann strahlend ihr entgegen. Erst wollte sie ihn fragen, ob sie ihm gefällt, doch sie hätte gar keine Antwort gebraucht, denn seine funkelnden Augen sprachen für sich.

,,Atemberaubend schön“, flüsterte er und ließ seine Fingerspitzen über das Ende des Zopfes streichen.

,,Jetzt bin ich eine Zwergin“, grinste sie und zog die Schultern wie ein kleines, verlegenes Mädchen hoch.

,,Ja…Fast.“ Er lächelte, was ihm jedoch nur schwer gelang.

Wie er so zu ihr hinauf schaute, bemerkte sie etwas Betrübtes in seiner Stimme. Wenn da die Größe nicht wäre…, fügte sie für sich hinzu. Marie konnte jedoch nicht ahnen, dass er wegen einem ganz anderen Grund sie so kummervoll betrachtete. Ein Gedanken durchzuckte sie, über den sie erst ziemlich erschrak und ihn eilig wieder zu verdrängen versuchte. Zuerst fragte sie sich, ob sie verrückt geworden wäre, doch dann, was denn dagegen spräche. Sollte und konnte sie so etwas überhaupt wagen? Schneller, als sie sich versah, war sie schon nicht mehr bei der Idee, sonder bei der Tat.

,,Gandalf?“ Sie blickte zu dem Zauberer. ,,Wäre es möglich, dass…Ich weiß, das klingt jetzt wahrscheinlich total verrückt und ich weiß auch nicht, ob Ihr gar so etwas vollbringen könnt, aber…Wie soll ich es sagen? Alles ist im Moment perfekt. Ich habe Thorin wie durch ein Wunder wieder gefunden. Ich liebe ihn über alles auf der Welt. Aber ich möchte alles noch perfekter machen, für mich…“, sie sah zu diesem hinunter, ,,und für dich.“ Irritiert sah er sie an. Marie atmete noch einmal durch, ehe sie ihren Wunsch äußert. ,,Und darum bitte ich Euch, mich auf die Größe einer Zwergin zu schrumpfen.“

Vor Erstaunen blinzelte Gandalf mehrmals hintereinander. Die Gefährten sahen sich an, manche waren überrascht, geschockt, andere lächelten schief über ihren unglaubliche Bitte. Bilbo stand da mit offenem Mund.

Das Strahlen war aus Thorins Gesicht gewichen. ,,Nein, Marie.“

Seine kühlen Worte waren ein herber Rückschlag für sie. ,,Aber…“ Sie sah ihm in die Augen, die einen undurchdringlichen Glanz angenommen hatten.

,,Kein aber.“

,,Was ist, wenn ich es mir wirklich wünsche?“

,,Nein.“

In ihren Ohren klang es wie eine Verurteilung. ,,Wieso?“

,,Weil ich es sage.“

Manchmal ist er echt herrisch. Entmutigt ließen die Schmetterlinge die Köpfe hängen und Marie ihre Schultern.

,,Marie.“ Thorin trat ganz nah zu ihr, hob die Hände zu ihrem Gesicht und fasste an ihre Wangen. ,,Ich will nicht, dass du dich wegen mir ändern musst.“

Sie fasste ihm an die Unterarme. Obwohl seine Stimme weich war, war sein Blick immer noch genauso hart wie das Leder seiner Armschützer. ,,Ich ändere mich doch nicht, nur weil ich ein Stückchen kleiner werde. Ich bleibe die Alte, nur könnte ich dir dann in die Augen sehen, ohne dass du ewig zu mir hoch oder ich runter starren muss.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem dünnen Strich. ,,Verzeih. Ich wollte dich nicht kränken.“

,,Nein, hast du nicht.“

,,Dann würdest du das also nicht schön finden?“

,,Doch, natürlich, aber ich liebe dich auch so. Tu das nicht meinetwegen. Tu das nicht, nur um mir zu gefallen, denn das tust du auch so.“

Räuspernd mischte sich Gandalf ein. ,,Marie, ist dir bewusst, dass dies eine endgültige Entscheidung ist? Das ist ein Zauber, den ich nicht mehr rückgängig machen kann.“

,,Wie?! Das geht wirklich?“, entfuhr es Kili.

Gandalf setzte seine Predigt ungerührt fort. ,,Ein Stückchen von der Körpergröße, sagtest du. Das wäre aber schon ein wenig mehr, als ein Stückchen. Bist du dir darüber im Klaren?“

Seine Stimme und sein Blick, der scheinbar bis in den hintersten Winkel ihres eigenen Ichs vordrang, wurde so eindringlich, dass Marie schlucken musste. Es war, als würde er in sie hineinblicken und nach der Wahrheit suchen. Wollte sie das wirklich? War sie sich wirklich sicher? Auf einmal rief sie sich seine Wort ins Gedächtnis. Solange ich lebe, werde ich dich lieben. Und genau das wollte sie. Ein Leben mit ihm. Für immer. Sie sollten endlich zusammen glücklich sein. Er sollte glücklich sein. Noch glücklicher als in diesem Moment.

Fest entschlossen sah sie ihn an. ,,Ganz sicher.“

Gandalf hielt ihren Blick stand und gab ihn erst frei, als ein kaum erkennbares Funkeln im Grau seiner Augen aufblitzte. ,,Nun gut.“ Er erhob sich. ,,Auf deinen Wunsch hin…“

Marie strahlte übers ganze Gesicht, riss sich von Thorin los und fiel dem Zauberer um den Hals. ,,Danke! Oh, danke-danke-danke!“ In ihrer Freude gab sie ihm einen Kuss auf die Wange, die daraufhin feuerrot wurde.

Drohend erhob er den Zeigefinger. ,,Ausnahmsweise!“

Nun lächelten alle Gefährten – bis auf Thorin. Er wusste, dass er sie nun nicht mehr davon abhalten konnte. Als Marie sah, wie er so niedergeschlagen im Raum stand, zog sich ihr Herz zusammen. Sie ging wieder zu ihm und ergriff seine Hände. ,,Ich gehöre zu dir. Doch will ich mehr, als das“, flüsterte sie. ,,Ich will dir jederzeit in die Augen schauen können und ein Teil von dir sein.“

,,Das bist du schon…“ Thorin legte die Hand an ihre Wange, fuhr ihre Kontur nach und betrachtete sie.

,,Mir passiert schon nichts“, wisperte sie.

Der alte Zauberer klappte die Ärmel seines Gewands um und trieb sie und die anderen auseinander. ,,Gebt uns ein wenig Platz.“

Ehe Thorin einen großen Schritt zurück ging, hauchte er ihr einen Kuss auf die Hand, die er solang wie möglich hielt.

Als Gandalf zu ihr trat, fiel ihr gerade noch rechtzeitig etwas Wichtiges ein. ,,Ach, noch etwas! Könntet Ihr mein Kleid auch mit schrumpfen lassen, damit ich noch etwas am Leib…“

,,Jajaja! Und nun still!“ Er fasste sich mit zwei Fingern zwischen die Augen, als müsste er tief in seinem Gedächtnis graben.

Kurz hatte Marie noch Zeit, ihren Blick durch die Runde schweifen zu lassen. Ein letztes Mal sah sie Thorin an, der besorgt zu ihr blickte und schloss dann die Augen mit der Gewissheit, dass, wenn sie sie wieder öffnen würde, eine Veränderung mit ihr vorgegangen war.

Neben sich hörte sie Gandalf etwas auf einer fremden Sprache murmeln. Uralt und geheimnisvoll klang sie. Wieder einmal kaute sie auf ihrer Lippe herum. Ihr ganzer Körper spannte sich an. Würde es tatsächlich klappen? Würde sie dann wirklich so groß wie eine Zwergin sein? Ihre Vorfreude stieg ins unermessliche. Es schien, als würde Gandalf den Zauber nie zu Ende sprechen. Sie schmeckte einen feinen Eisengeschmack, als sie sich die Lippe vor Nervosität aufbiss. Im Raum war es unterdessen totenstill. Kaum einer wagte, zu atmen. Gandalfs Stimme verstummte, doch zu Maries Enttäuschung geschah nichts. Keine Geräusche, weder ein ,,Paff!“, noch ein ,,Pling!“, weder ein komisches Gefühl in ihr, noch ein Druck, so als würde sie zusammengepresst werden. So oder so etwas Ähnliches hatte sie sich nämlich doch schon vorgestellt.

Allmählich veränderte sich etwas – jedoch nicht mit ihr selbst und ganz unscheinbar, dass sie es erst gar nicht merkte.

Plötzlich spürte sie den Boden unter ihren Schuhen nicht mehr. Das Holz der Dielen verschwand. Schwebte sie? Marie öffnete die Augen und sah nichts. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Marie war von einer allesverschlingenden Finsternis umgeben, die nichts mit den Elementen ihrer Welt gemein hatte, die sie kannte. Wo war sie? Befand sie sich überhaupt noch in ihrem Haus? In ihrer Welt?

Sie wollte sich bewegen, fürchtete, sie würde ihr Gleichgewicht in der orientierungslosen Schwärze verlieren. Luft rauschte an ihren Beinen vorbei, ließ ihren Rock wehen. Wind? Sie drehte sich um, um die Quelle zu erfahren. Ihr Zopf hob sich von ihrer Schulter und sie dachte, sie stünde an einer unsichtbaren Klippe, vor sich nichts als Leere. Der Wind nahm zu, doch er war nicht kalt. Wärme war immer bei ihr. Ein gelbes Licht strömte aus der Ferne auf sie zu. Es verdrängte die bedrohliche Schwärze und hüllte sie ein. Obwohl ihre Augen weiterhin geschlossen waren, sah sie es klar vor sich. Es war ein sanftes Gelb, was sie an erste Sonnenstrahlen eines neuen Tages erinnerte und ihr die Angst nahm. Etwas in ihr sagte, dass alles gut werden würde. Und sie vertraute.

Die Wärme des Lichts umwob ihre Fingerspitzen, wandte sich um ihre Schultern, ihre Taille, ihre Beine. Marie fühlte sich sicher und geborgen und ließ los.

 

 

 

 

19

 

 

Wie lange ihr Geist aus ihrem Körper getreten war, konnte sie nicht sagen. Als sie wieder die Augen öffnete, wusste sie nicht, ob sie in ihre Welt zurückgekehrt war oder noch in dieser Finsternis weilte. Allmählich kamen ihre Sinne zurück. Jemand hatte die Arme in einer festen Umarmung um sie geschlungen. Ihre Wange lag an einer, sich hebenden und senkenden Brust. Dass sie die ganze Zeit den Atem angehalten hatte, hatte sie gar nicht bemerkt. Panisch krallten sich ihre Hände in den Mantel unter ihnen, während sie nach Luft schnappte.

,,Marie, ganz ruhig! Alles ist gut. Ich bin hier.“ Seine tiefe Stimme war ganz nah bei ihr, gab ihr Schutz und seine Nähe Halt, ließen sie sich nach ein paar Atemzügen beruhigen.

,,Es ist in Ordnung. Mach die Augen auf und sieh mich an.“

Sie blinzelte, als sie seine Brust vor sich sah. Ungläubig hob sie den Kopf und konnte es zunächst nicht realisieren. Ihre Beine wurden weich, doch seine starken Arme fingen sie auf. Marie starrte zu ihm hinauf, zu ihrem Zwerg, direkt in seine wunderschönen Augen. Es war unfassbar. Thorin war fast einen Kopf größer als sie.

Er ließ seine Fingerknöchel über ihre Wange streichen. ,,Hey.“

,,Hey“, antwortete sie genauso leise.

,,Alles in Ordnung?“

,,Ich glaube schon…“

Er lächelte, küsste sie auf den Scheitel und sie schmiegte sich an ihn, hört und spürte wie er vor Erleichterung ausatmete und tat es ihm gleich.

Thorin sah zu Gandalf hinauf und formte mit den Lippen ein lautloses ,,Danke“, welches er nie ernster gemeint hatte.

Der Zauberer neigte den Kopf. ,,Ich hoffe, dass du deine Entscheidung nie bereuen wirst.“

Lächelnd legte Marie demonstrativ die Arme um Thorins Nacken, der wie ein Schneekönig strahlte. ,,Nein, niemals.“

 

~

 

Das große Wirtshaus Kupfer Stube war sehr gut besucht. An der großen, ums Eck verlaufenden Theke im Vorraum war kein Hocker mehr frei. Fast alle Tische im dahinterliegenden Saal waren besetzt. Von überall tönten Gelächter und rege Gespräche. Kellnerinnen liefen unermüdlich hin und her, mussten sich mit vollen Tabletten durch die Gäste drängen. Eine heitere Melodie mit Leier, Flöte, leichten Trommeln und Geigen kam ihnen entgegen, als die Gefährten durch die Eingangsnische traten, wo etliche Mäntel an der Garderobe hingen. Einige Leute im Vorraum drehten sich verwundert über den Anblick der ungewöhnlichen Gäste nach ihnen um.

Marie musste schlucken. Nun wurde ihr vollends bewusst, dass der Zauber tatsächlich funktioniert hatte. Sie war kleiner als die kleinsten Frauen hier und die Menschen um sie herum waren zu Riesen geworden. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in ihr aus, als sie daran dachte, dass über sie geredet werden würde. Doch nicht nur wegen dem unvermeidbarem Getuschel, sondern auch, weil sich alles um sie herum verändert hatte. Ganz banale Dinge wirkten jetzt geradezu unrealistisch, denn es war als hätte der Zauber nicht sie sondern ihre Umwelt betroffen. Sie müsste sich an diesen ganz neuen Blickwinkel auf Dauer erst noch gewöhnen müssen.

Marie hatte an sich hinunter geblickt, sich heimlich abgetastet und dabei keine Veränderung bemerkt. Ihre früheren Proportionen passten auf wundersame Weise zu denen der Zwerge, nur war sie im Vergleich zu einer echten Zwergin zierlicher gebaut. Auf dem Weg war Dwalin vor ihr gegangen, wobei sie erst jetzt gemerkt hatte, wie mächtig er tatsächlich war. Er besaß ein Kreuz wie ein Bär! Auch die anderen Männer waren größer oder gleichgroß wie sie, wie zum Beispiel Bilbo.

Sie sah zu Thorin und das unwohle Gefühl wich, als würde er es durch seine bloße Ausstrahlung abhalten und Marie fühlte sich bei diesem Mann noch geborgener und noch sicherer. Wenn sie ihn küssen wollte, musste sie sich nun auf die Zehenspitzen stellen. Vorher war ihr der Größenunterschied keineswegs unangenehm gewesen, doch besonders damals ihr wie auch ihm sehr vor Augen geführt worden.

So war es einfach viel schöner. Und intensiver. Sie konnte sich an ihren Zwerg nun richtig ankuscheln und er würde sie mit seinen breiten Schultern und kräftigen Armen fest umschließen.

Während die anderen sich unter den Blicken der Leute nach hinten in den Saal begaben, blieb Thorin im Vorraum zurück, wo zu seiner Linken sich die kürzere Seite der Theke befand. Marie vor ihm hörte, wie er unverständliches in seinen Bart brummte. Sie blieb stehen und ergriff seine Hand. Damals war er Menschen gegenüber immer skeptisch und distanziert gewesen. Wie fühlte er sich nun mitten unter ihnen? ,,Wir können auch umkehren.“

,,Schon gut. Mit so vielen Gästen hab ich nur nicht gerechnet.“ Er warf den Männern an der Theke abschätzende Blicke zu. Sie tuschelten, sahen dabei besonders Marie an, was ihm mehr als missfiel. ,,Ich werde wohl ein Auge auf dich haben müssen“, murmelte er und ging mit ihr weiter.

,,Hast du das nicht immer?“

,,Da könntest du recht haben.“

Sie gingen durch eine weit aufgeschobene Flügeltür mit bunten, unklaren Fenstern, durchquerten den Saal zu einem langen Tisch ganz hinten, den die anderen bereits in Beschlag genommen hatten. Thorin nahm Marie ihren Umhang ab und zog sich dann selbst den Mantel aus, den er wie seine Männer aus Gewohnheit nicht zu den anderen habe hängen wollen. Er breitete ihn auf der Bank aus, setzte sich auf die eine Hälfte und wies ihr einladend, neben ihm Platz zu nehmen.

Für ihn war Marie schon immer perfekt gewesen, vom Fuß bis in jede Haarspitze. Das alles wurde noch gekrönt durch ihren Wunsch und nun war sie noch perfekter. Sie hätte eine der Khazâd-felaks sein können, eine der sieben Halbgötter, die Durin einst aus Stein gemeißelt hatte und die durch den Donner eines gewaltigen Gewitters zum Leben erweckt worden waren - nur ohne die charakteristischen weiblichen Barthaare, was ihn aber überhaupt nicht störte. Marie sah einfach unglaublich schön aus. Schon immer war sie anders als alle anderen Menschen gewesen und heute war sie das auch äußerlich geworden. Es gehörte viel Mut zu so einer Entscheidung und vielleicht noch mehr Wahnsinn. Es kribbelte jedes Mal noch wärmer und noch stärker in ihm, wenn er sie betrachtete. Thorin glaubte, sich neu verliebt zu haben.

,,Sehr ehrenvoll“, kommentierte sie, als sie sich setzte.

,,Ich kam in den Genuss einer guten Erziehung. Was hast du?“, fragte er, als sie zu kichern begann.

,,Meine Füße! Schau doch!“ Sie ließ die Beine übermütig baumeln, die den Boden nicht berührten. Thorin verdrehte die Augen, woraufhin Marie auch ihn auslachte.

,,Ich komme wenigstens auf den Boden.“

Sie streckte ihm die Zunge raus. ,,Angeber.“

Eine der Kellnerinnen kam an ihnen vorbei und Gandalf bestellte für alle. Marie nutze die Gelegenheit, um sich umzuschauen. Weil sie mit dem Rücken zur Wand saß und ihr Tisch einer der äußeren war, hatte sie einen guten Blick auf den Saal. Eine Gruppe Wandermusiker spielte in einer Ecke – zwei Männer und zwei Frauen. Ihr gefiel die Musik. Nah an ihrem Tisch lag die kleine Tanzfläche, wo aber niemand tanzte. Die an den Balken hängenden Lampen sorgten zusammen mit den von der Decke hängenden für ausreichend Licht.

Natürlich entgingen ihr nicht die Blicke der Gäste, die immer wieder verstohlen zu ihnen schauten. An einem Balken standen zwei Männer aus Kerrt. Durch die Geräuschkulisse konnte Marie ihr Gespräch verfolgen, ohne dass sie es wollte.

,,He, Heribert. Da ist eine Zwergin. Hast du schon mal eine zu Gesicht bekommen?“, fragte der Jüngere von beiden.

,,Hast du es denn schon?“, stellte Heribert, der ortsansässige Böttcher, die Gegenfrage ohne von seinem Bier aufzusehen.

,,Nein. Deswegen wundert es mich, dass sie keinen Bart hat. Jeder weiß doch, dass Zwergenfrauen ebenso beharrt sind. Sie muss ein Mensch sein.“

Marie machte über seine abfällige Bemerkung ein böses Gesicht und funkelte den Jungspund an, sodass er es hoffentlich merkte.

Heribert, der schon ordentlich gebechert hatte, blickte endlich auch auf und lachte los. ,,Du bist noch halbwegs nüchtern und erkennst unsere Heilerin nicht?“

,,Was? Rede kein Unsinn. Warum ist sie so klein?“

,,Da fragst du den Falschen. Aber sie soll doch ‘ne Horde Zwerge bei sich einquartiert haben. Und wenn mich meine Sehkraft auf meine alten Tage nicht verlässt, dann sieht mir das dort drüben ganz nach der besagten aus.“

Marie wandte den beiden den Rücken zu. Scheint ja die ganz große Runde gemacht zu haben…

,,Hörst du sie auch?“, flüsterte eine vertraute Stimme.

,,Hm.“

,,Es werden in der nächsten Zeit noch mehr Menschen über dich reden.“

,,Ich weiß. Doch damit werde ich klarkommen. Es war mein Wunsch gewesen und den bereue ich nicht.“

Thorin schmunzelte und legte den Arm um sie. ,,Woher wissen die, dass wir bei dir sind?“, fragte er dann laut.

,,Ich weiß es nicht. Aber ich bin mir sicher, das geht schon durch ganz Kerrt.“

,,Ignorier sie. Kümmere dich nicht um irgendwelches Geschwätz.“ Ein kribbeliger Schauer durchfuhr sie, als er seine Nase hinter ihr Ohr drückte und raunte: ,,Der Abend gehört uns und du mir.“

Marie wusste genau, was er damit meinte. Es galt noch etwas nachzuholen und das würde er in dieser Nacht einlösen.

Die erste Runde Bier wurde von drei Kellnerinnen gebracht. Thorin erhob sich und reckte seinen Krug. ,,Auf Gandalf, der wieder den Weg zu uns gefunden hat und auf die wahre Liebe! Trink aus, Männer, und denkt an eure Frauen! Ich danke Durin, dass meine heute Abend an meiner Seite ist.“

Seine Frau? Die Schmetterlinge schwangen Wimpel.

,,Auf die Liebe!“, wiederholten die Zwerge und stießen ihre Krüge in der Mitte des Tisches zusammen, sodass es mächtig überschwappte. ,,Prost!“-,,Prost, Männer!!“ Alle tranken ihren Krug in einen Zug aus, dabei waren sie so gierig, dass es ihnen an den Mundwinkeln über die Bärte floss. Mit einem amüsierten und fassungslosen Kopfschütteln schaute ihnen Marie dabei zu. Als sie die Krüge wieder abstellten, stießen manche hemmungslos auf, woraufhin die anderen lachten. ,,Ihr Schweine…“, raunte Marie.

Die Stimmung war fröhlich und sorglos. Die Zwerge begannen lustige oder peinliche Geschichten zu erzählen. Bei den teilweise vulgären Stellen oder bei den miesen Lästereien über Elben, vergrub Gandalf das Gesicht in den Händen.

,,Beruhigt euch, beruhigt euch! Ich hab noch einen! Reißt euch mal zusammen! Also, was haben Elben und Bäume gemeinsam?“ Erwartungsvolle Still legte sich über die Tafel.

,,In beiden gehört die Axt.“

In dem Gejohle der Männer kuschelte sich Marie über den schlechten Witz schmunzelnd an Thorin und genoss es einfach, ihm so nahe zu sein. Dann merkte sie, wie seine Hand nach ihrer tastete und sie zusammen mit seiner auf seinem Oberschenkel legte. Sie krümmte ihre Finger, sodass ihre Hände von der Tischplatte verdeckt ineinander geschlossen waren und lauschte den haarsträubenden Geschichten.

Während sie hin und wieder ihren Blick schweifen ließ, sah sie auf einmal ein sehr bekanntes Gesicht. Anna. Das war sie doch. Sie reckte den Kopf, um noch vergeblich einen Blick auf sie erhaschen zu können.

,,Meister Beutling, bestellt mal vorne die nächste Runde! Sonst dauert das ja noch Jahre bis mal jemand bei uns vorbeikommt.“

Dieser verdrehte die Augen, erhob sich aber trotzdem. Wie von selbst tastete dabei seine Hand kurz zu seiner Jackentasche. Ein Gefühl der Ruhe breitete sich aus, als er den Ring spürte. Er hatte ihn nicht im Haus lassen können, hatte ihn kurz bevor sie losgingen wieder aus den Tiefen seines Rucksackes geborgen.

,,Warte, ich komme mit“, sagte Marie eilig und erhob sich ebenfalls. Wie sie so durch die Leute gingen, konnte sie die Blicke förmlich spüren und das Getuschel der Frauen hören. Die derben Sprüche kamen von den Männern.

,,Schau mal, eine Zwergenfrau.“

,,Ich hab mir die immer hässlicher und dicker vorgestellt. Aber die hier ist echt hübsch sogar.“

,,Vorsicht, laufender Meter unterwegs...“

,,Hör einfach nicht hin“, sagte Bilbo neben ihr.

,,Passiert dir das öfters?“

,,Da wo ich herkomme, gehen Menschen und Hobbits freundschaftlich miteinander um. Aber man gewöhnt sich dran.“

,,Verstehe“, sagte Marie nur und schämte sich über Ihresgleichen. Sie wusste, dass viele Menschen, die keinen Kontakt mit Zwergen hatten, glaubten, Zwerginnen wären mehr Mann als Frau. Manche behaupteten sogar, dass es überhaupt gar keine Zwerginnen gab, nur weil sie Barthaare hatten. Dabei waren sie genauso unterschiedlich maskulin, dick oder hässlich wie Menschenfrauen auch. Die Einwohner Dales hatten es besser gewusst. Damals hatten Zwerginnen wenn Markt war geklöppelte Sachen, Schmuckstücke oder bearbeitete Steine verkauft. Als Kind hatte Marie sie furchtbar interessant gefunden und minutenlang die Frauen aus dem benachbartem Königreich angesehen. Sie hasste diese Vorurteile und versuchte gerade, die dämlichen Kommentare zu vergessen, da wurde Bilbo neben ihr unsanft zur Seite geschubst. Ein Mann, breitschultrig und - für sie riesig groß gebaut - mit kurzen, schwarzen Haaren drängte sich zu ihr.

,,Oh, Marie, meine Hübsche! Dass ich dich hier treffe.“

Genervt seufzte sie. ,,Gonzo… Was für eine Überraschung.“

,,Sag mal, bist du geschrumpft, seit ich dich das letzte Mal gesehen hab? Naja, is‘ ja auch egal. Wie hübsch du aussiehst.“

Eine Alkoholfahne drang an ihre Nase. ,,Danke“, nuschelte sie nur und drehte sich zu Bilbo um, der am Boden lag und sich den Kopf rieb. ,,Alles in Ord…?“, schon wurde sie grob am Arm zurück gezogen.

,,Was kümmert dich so ein Halbling? Komm, gesell dich doch zu mir. Alles geht natürlich auf mich.“

,,Bilbo, hol Thorin! Bitte eil dich“, zischte sie ihm zu, ehe sie sich ihrem aufdringlichen Gegenüber zuwandte. ,,Danke, aber nein. Ich bin nicht alleine hier.“

,,Bist du wieder mit diesem Weichei zusammen? Gregor oder wie der heißt?“

Perplex suchte sie nach Worten. ,,Nein, bin ich nicht! Und hör auf, so über ihn zu sprechen. Und jetzt lass mich bitte los, du tust mir weh!“

 

~

 

 

Mühsam bahnte sich Bilbo einen Weg zurück zu ihrem Tisch. Er drückte sich zwischen den Menschen und haarscharf unter dem Tablett einer geschäftigen Kellnerin hindurch. Jemand stieß ihn an und er stolperte über seine Hobbitfüße. Der Ring rutschte ihm aus der Tasche. In seinen Ohren hörte sich sein Aufkommen auf den Dielen an, wie das schwere Fallen eines Schmiedehammers. Groß und brachial.

Eilig krabbelte er hinterher, zog ihn aus dem Spalt im Holz heraus. Bilbo sah sich selbst in der Spiegelung des Goldes und auf einmal blitze ein flammendes Auge über seinem Gesicht auf. Für einen Moment verebbte sein Atem, als drückte ihm jemand die Luft ab, während er seinen Blick nicht von den Flammen lösen konnte, die das Auge umwoben. Ihm wurde heiß und kalt. Was passierte mit ihm?

Gerade, als die Wörter deutlicher wurden, stieß ein Beinpaar gegen ihn und half ihm, davon wegzukommen. Schnell steckte er sein Geheimnis zurück in die Tasche und schaute auf. Der Mann ging bereits weiter und Bilbo fand sich am Boden hockend wieder. Auf allen Vieren krabbelte er mit dem Entschluss weiter, sich das alles nur eingebildet zu haben, direkt zwischen den Beinen von zwei großen Männern hindurch, die mitten im Gang standen. Überall sah er Beine. Irgendetwas Schleimiges klebte an seiner Hand. Angewidert schüttelte er es ab, krabbelte weiter und kam schließlich außer Atem am Tisch an.

,,Wo ist Marie?“, fragte Thorin sogleich.

,,Ja, darum geht es. Bei ihr ist so ein Typ aufgetaucht – Gonzo heißt er, glaube ich. Sie sagte, du sollst kommen.“

Thorin traute seinen Ohren nicht. Das darf nicht wahr sein… Er hoffte, dass es nur ein Zufall war, dass irgendein anderer Idiot so hieß. Mit Gesichtszügen wie Stein und blitzenden Augen erhob er sich sofort und folgte dem Hobbit. Doch dieser bleib vor den Männern stehen, die immer noch mitten im Gang standen und sich jetzt mit zwei Frauen unterhielten.

,,Äh, Verzeihung? Hallo? Könnten wir kurz durch?“ Sie würdigten ihm keines Blickes und flirteten unbeachtet weiter.

Thorin drängte sich an ihm vorbei, haute eine Hand zwischen die Blockade und schubste sich den Weg frei. Empört sahen die Frauen dem Zwerg nach. Mit einem knappen ,,‘Tschuldigung“ schlüpfte Bilbo ebenfalls durch die Lücke hindurch.

Inzwischen hatte Thorin Marie im geräumigen Vorraum unweit der Theke entdeckt. Ihr gegenüber stand ein Mann, hielt sie am Arm fest und zog sie in diesem Augenblick näher an sich heran. Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, als er feststellen musste, dass der kleine Finger von ihm fehlte.

,,Warum zierst du dich immer so?“

,,Gonzo, du bist betrunken. Lass mich los!“

,,Gonzo!!“ Der laute Ruf hallte durch die Kneipe. Der Angesprochene blickte zu dem Zwerg, der mit dem Finger auf ihn zeigte. ,,Nimm sofort deine dreckigen Hände von ihr!“ Thorins Zähne waren einem tollen Wolf gleich entblößt, seine tiefe Stimme so laut und aggressiv, dass sich die Leute zu ihm umgedreht und einen weiten Kreis um sie gebildet hatten, damit sie sich das Spektakel besser angucken können.

Abfällig musterte Gonzo ihn. ,,Was willst du, Zwerg? Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.“

Auf seine Brust hämmernd schlug Marie um sich, konnte sich aus seinem Griff befreien und lief an Thorins Seite. Schützend legte er einen Arm um sie, den Blick dabei starr auf seinen Rivalen gerichtet, der dies verwundert beobachtete.

,,Was zum…?“

,,Ahh!!“ Hinter ihnen hörte man spitze Schrei von weiblichen Gästen.

Über die Tische stiegen, um besser voran zukommen, begleitet von Empörung Kili und Fili, hauten mit ihren Stiefeln so manche Krüge um. ,,Platz da. Vorsicht. Aus dem Weg.“ Sie sprangen vom Tisch und stellten sich neben ihrem Onkel. Auch die anderen tauchten hinter ihrem Anführer auf, um ihm den Rücken freizuhalten.

Thorin rümpfte die Nase, zog Marie noch näher an sich. ,,Wenn du sie noch einmal anfassen solltest, schlag ich dir noch einen Finger ab. Oder diesmal die ganze Hand.“

Es schien so, als würde er schlagartig nüchtern werden. ,,Du? Das warst du gewesen?“

,,Ohh…gut kombiniert! Das muss man ihm lassen“, rief Bofur und die Gäste lachten.

Seine Augen wurde dunkel, als ihm klar wurde, wer da vor ihm stand. Eisern heilt der Zwerg seinen Blick stand, hob das Kinn. Die Luft war urplötzlich mit Spannung erfüllt, die zwischen ihnen zum Zerreißen drohte. Graue gegen brauen Augen. Niemand wollte zuerst den Blick abwenden.

,,Du bist also wieder bei ihm“, sagte Gonzo auf einmal leise.

Marie schluckte. ,,Ja“, brach sie hervor und er stieß den Atem aus, als hätte er es bereits geahnt.

,,Ich dachte, ich hätte dich ein für alle Mal los… Du bist abgehauen, hast sie im Stich gelassen.“

Thorin erwiderte nichts, starrte ihn nur weiter an.

Wieder musterte er ihn verächtig. ,,Ausgerechnet dich hat sie sich ausgesucht. Die kleine Pestbeule, welche von seinem alten Großvater Goldbarren in den Arsch geschoben bekam. Das Lieblingsprinzlein.“

,,Ich schlag ihm den Schädel ein…“ Dwalin wollte sich auf ihn stürzen, wurde aber von vereinten Kräften zurück gehalten.

Thorins Gemüt verfinsterte sich wie schwärzeste Nacht. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er presste die Kiefer aufeinander, ballte die bebenden Fäuste. Seine Nägel drückten sich in seine Handflächen. In ihm kochten die Wut, der Abschaum und die Kränkung, wurden durch sein Herz in jede Faser seiner Körpers gepumpt.

,,Thorin, lass ihn reden…“

,,Halt dich daraus, Marie.“

Die Schmetterlinge zuckten bei seiner geladenen Stimme zusammen und sie verstummte.

,,Weiß du eigentlich, was du ihr angetan hast?“, schnaubte Gonzo. Dann bildete sich ein provozierendes Grinsen auf seinem Gesicht. ,,Aber keine Sorge. In deiner Abwesenheit hab ich mich gut um dein Mädchen gekümmert.“

Aus Thorins Augen stoben glühende Funken, als er auf ihn zuging. Marie fasste nach ihm, doch er schüttelte ihre Hand ab. Nichts und niemand konnte ihn mehr zügeln.

,,Mach den Bastard fertig!“

,,Stopf ihm das Maul!“, ertönte es aus seinem Rücken.

Gonzo nahm einen kräftigen Schluck von seinen Krug, der auf der Theke stand, und näherte sich ebenfalls.

Jeder Muskel seines Körpers war angespannt, seine Sinne konzentriert auf jede kleineste Bewegung zu reagieren. Er achtete auf jeden Schritt seines Gegners, der einen Halbkreis zu ziehen begann, um Zeit zu schinden, tat den Gegenschritt in die andere Richtung und bedauerte, dass er ihm Orcrist nicht in den Wanst jagen konnte. Sein Herz hämmerte puren Hass durch seine Venen, doch er musste sich konzentrieren.

Im Kampf darf man sich nie von Hass oder Ungeduld leiten lassen. Kämpfe mit Kopf und Herz zu gleichen Teilen. Dies hatte Karif den jungen Soldaten immer wieder gelehrt und so wurde es auch ihm beigebracht. Als junger Prinz hatte er Kampfunterricht bekommen - Gonzo offensichtlich nicht, denn er stürzte sich kopflos auf ihn. Thorin sah, wie die geballte Faust auf ihn zu schnellte. Er drehte sich, spürte deutlich den Luftzug, als sie an ihm vorbei zog. Dann konterte er, so schnell und gezielt, dass sein angetrunkener Gegner keine Chance zum Reagieren hatte.

Mit dem harten Knöchelschütz seiner Faust traf er ihn direkt unter dem Kinn. Mit einem dumpfen Rumsen fiel er nach hinten auf die Dielen und blieb benommen liegen. Die Menschen lachten über diesen unspektakulären Ausgang. Die Zwerge jubelten am lautesten. Kili pfiff spöttisch.

Bedrohlich langsam, mit pochender Halsschlagader schritt Thorin auf Gonzo zu, der wieder zur Besinnung kam. Er stand fast über ihm, als sich Marie zwischen die Fronten schob. ,,Nicht! Lass ihn.“ Er starrte sie an, spürte den Druck ihre Hände nur vage an seiner Brust, weil sein dröhnender Pulsschlag in seinem ganzen Körper wiederhallte.

Marie sah ihn bittend an und drehte dann den Kopf. ,,Es ist besser, wenn du jetzt gehst“, sagte sie über die Schulter hinweg an seinen Rivalen gerichtet, der sich unterdessen halb aufgerichtet hatte.

Thorin musste den Blick abwenden. ,,Verschwinde jetzt oder ich vergesse mich. Das war meine allerletzte Warnung.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

20

 

 

Was macht denn der Kerl hier?“, fragte Dori aufgebracht, als sie wieder alle am Tisch saßen. ,,Du hattest doch erzählt, dass er auch in Dale wohnte.“

,,Meine Familie war nicht die einzige, die von dort geflohen ist und hier her kam“, erinnerte Marie ihn.

Abwertend zeigte Fili mit dem Daumen in Richtung Tür. ,,Und ausgerechnet dieses Ekelpacket ist mit hier her gekommen?“

Sie konnte nur mit den Schultern zucken. Nach dem kraftvollen und gezielten Schlag hatte sich Gonzo mühsam aufgerappelt und war verschwunden. Im Vorbeigehen hatte er Marie einen Blick zugeworfen und sie war von einem Zittern durchfahren worden. Zutiefst verletzt hatte er ausgesehen - nicht äußerlich, sondern innerlich.

,,Wenn ich jemanden den Tod im Drachenfeuer gewünscht hätte“, murmelte eine eiskalte Stimme neben ihr, ,,dann wäre es mit Sicherheit dieser Kerl gewesen. Eigenhändig hätte ich ihn noch hineingeworfen. Dann hätte ich ihn endgültig los…“ Verbittert spielte Thorin am Henkel seines Kruges herum. ,,Warum hab ich ihn eben laufen gelassen?“, fragte er mehr zu sich selbst und kippte voller Verachtung den letzten Rest von seinem Bier hinunter.

,,Hör auf, jemanden so etwas zu wünschen, Thorin. Außerdem ist doch nichts passiert“, versuchte Marie ihn zu besänftigen.

Geräuschvoll knallte Holz auf Holz, als er seinen Krug nieder haute. ,,Nichts passiert?!“

Nicht nur Marie zuckte zusammen. Die Gefährten schauten mit ernsten Mienen auf ihre leeren Krüge oder zogen abwesend an ihren Pfeifen. Man merkte, dass sich keiner einmischen wollte.

,,Der Typ ist dich angegangen, hat dich festgehalten! Man kann ihm nicht trauen. Er ist gefährlich, Marie. Verdammt, soll erst etwas passieren?“ Seine drohende Stimme war immer noch geladen, als stünde sein verhasster Rivale selbst noch vor ihm.

Himmel, wenn Thorin wütend war, konnte er richtig einschüchternd wirken. Marie kaute auf ihrer Unterlippe und suchte einen Weg, um ihn zu beschwichtigen. ,,Das eben war weil er getrunken hat. Ja, es stimmt: Gonzo ist ein Idiot und eine aufdringliche Klette, aber er kann auch ganz in Ordnung…“

,,Ganz in Ordnung?!“

Mist. Sofort bereute sie es, aber es war die Wahrheit.

Das Grau in seinen aufgerissenen Augen blitze. ,,Dieses Arschloch ist nur nett zu dir, damit er sich an dich ranmachen kann! Das war und wird auch immer so bleiben. Wenn du mich nicht gerufen hättest, wäre er drauf und dran gewesen dir seine Zunge in den Hals zu stecken.“ Seine Hände waren zum Zerreißen angespannt, als er sich beidhändig durch die Haare fuhr. 

Doppelt aufgebracht. Nein, er ist nicht wütend. Er ist stocksauer.

,,Wieso hast du dich eben zwischen uns gestellt?“

,,Weil ich nicht wollte, dass du ihn schlägst, wenn er am Boden liegt. Das hätte er nicht verdient.“

,,Nimmst du ihn etwa in Schutz?“

,,Nein, aber er hat mir damals…“ Schnell presste sie die Lippen aufeinander. Es war besser, wenn er es nicht wusste. Er würde sich eh nur noch mehr Vorwürfe machen…

,,Was hat er?“

Mist! ,,Ach, nichts. Vergiss es!“

,,Marie, ich will wissen, was dieser Kerl gemacht hat. Auf. Der. Stelle.“

Verdammter Mist. Krampfhaft schaute sie auf ihre Finger, nur um ihn nicht ansehen zu müssen. Die Schmetterlinge versteckten sich hintereinander mit schlotternden Knien.

Auf einmal musste Thorin an seine Worte denken: Ich hab mich gut um dein Mädchen gekümmert… Abrupt fielen seine Gesichtszüge. Der Stachel der Eifersucht bohrte sich in sein Herz hinein. ,,Hattest du dich ihm hingegeben?“

Ruckartig hob sie den Kopf, starrte ihn an. Diese Worte von ihm zu hören, schmerzten unvorstellbar, wo er doch ganz genau wusste, wie sehr sie ihn abgewimmelt hatte. Wie konnte er das nur denken? Er vertraut mir nicht. Sie hatte es satt, ihm hier und vor den anderen Rechenschaft abzulegen und konterte zurück. ,,Wie kannst du mir derartiges unterstellen?“, fauchte sie in der gleichen Tonlage wie er. ,,Denkst du, ich schmeiße mich an den Erstbesten ran, der mir schöne Augen macht? Frag dich doch mal, warum Gonzo mich nicht in Ruhe gelassen hat. Weil er sich neue Hoffnungen gemacht hat. Denn du bist fortgegangen und hast mich allein gelassen!“

Ihre Worte trafen ihn gnadenlos. Das Grau in seinen Augen wurde matt, während Maries Grün das einer Katze gleichkam.

,,Er hat mir damals geholfen! Er war da. Du nicht.“ Er zuckte zusammen, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. ,,Nachdem ich fast im Drachenfeuer umgekommen bin – ja, du hörst richtig. Ich wäre beinahe gestorben. Stattdessen willst du denjenigen brennen sehen, dem meine Eltern vieles verdanken. Ich hatte einen Schock. Unsere Gruppe wollte aufbrechen und meine Eltern haben mich angefleht, ich möge aufstehen. Mein Vater war verletzt, konnte mich nicht tragen. Gonzo hat es getan. Er hat mich bis zum Abend hin durch getragen, ohne an sich selbst zu denken! Ich bin ihm heut noch dankbar für das, was er für mich getan hat, das weiß er auch, aber mehr als Freudschaft war es nie gewesen. Ich habe und hatte noch nie Interesse an ihm! Aber dass du mir jetzt genau dies wahllos in deinem Zorn unterstellst, verletzt mich sehr.“ Marie musste einen Atemzug machen, damit sich ihr wallendes Blut wieder beruhigte.

Die ganze Zeit hatte Thorin ihr in die Augen gesehen, doch nun starrte er auf die Maserung der dicken, Kerben übersäten Tafel. Jedes Wort von ihr war wie eine Kerbe gewesen. Weitere für sein Herz, das dem dunklen Holz ähnelte.

Als Marie die Auswirkung ihrer Worte sah, erschrak sie. Das wollte sie nicht. Reuevoll schlang sie die Arme um seinen Hals. ,,Es tut mir leid“, hauchte sie. Ihre Nasenspitze streifte seine Wange. ,,Bitte, ich…Es tut mir leid.“

Der Zwerg schloss die Augen, genoss ihre leise Stimme. Wie konnte ich ihr nur so etwas unterstellen, wenn ich derjenige bin? Ich war kein Deut besser. Für einen Moment ließ er die Erinnerungen an die Zeit in den Eisenbergen zu, wo der Alkohol Besitz von ihm genommen und er seinen Kummer und die Schmach bei Amris gelassen hatte. Dann musste er an die brennende Stadt denken. Sie war in den Flammen gewesen... Das war zufiel für ihn.

,,Oh, Marie…“

Unvorbereitet fuhr er herum, nahm ihren Kopf mit beiden Händen und legte die Stirn gegen ihre. Sie hatte diese Geste bereits zwischen ihm und Kili beobachtet. Es schien eine Art Ritual ihres Volkes zu sein, das mit tiefer Verbundenheit und bedingungslosem Vertrauen geknüpft war. Und diese spürte Marie in diesem stillen Moment, spürte seinen tiefen Atem, der mit ihren eigenen verschmolz, seine rauen Hände, wie sie sie hielten und seine Haut an ihrer. Ihre Herzen schlugen wieder im Einklang.

Es hätten Sekunden oder Minuten verstrichen sein können. Irgendwann löste er sich von ihr und sah sie an. Sein Daumen fuhr ihre Lippen nach, während seine Hände an ihren Wangen verweilten. In seinen weiten Pupillen sah sie etwas, was sie noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte.

,,Ich will dich nicht verlieren, will dich mit niemanden teilen. Ich ertrage es nicht, wenn dich jemand angräbt, besonders nicht er. Er ist unberechenbar und gefährlich. Halte dich fern von ihm. Versprich es mir.“

,,Ich verspreche es.“

,,Verzeih mir. Verzeih mir alles, was ich getan oder gesagt habe. Ich werde nie wieder die Stimme gegen dich erheben.“

Beschwichtigend legte sie ihm den Finger über den Mund. ,,Gonzo bildet sich ein, er hätte Chancen bei mir. Dabei konnte er dir nie das Wasser reichen. Er kann nicht akzeptieren, dass ich dich liebe. Vom ganzen Herzen…“ Um ihm genau das zu beweisen, küsste sie ihn.

Ihre Stimme, der Anblick ihrer grünen Augen, ihr Kuss… Er merkte, wie die Wut durch ihre Nähe aus seinem Körper wich. Sie gab ihm so viel, brachte ihn runter, löschte dunkle Gedanken und Schmerz aus ihm. Das war es, was er jetzt brauchte. Sie.

Thorin fasste hinter ihr Genick, presste den Mund fester auf ihren, sodass sich sein Bart eng an ihre Haut legte und Marie ließ ihn gewähren, weil sie wusste, dass er es brauchte. Leidenschaftlich öffnete und schloss er ihre Lippen, beanspruchte sie für sich allein. Abermals mit der Stirn gegen ihre gepresst, löste er sich keuchend von ihr. ,,Du gehörst mir“, raunte er kehlig und so leise, dass nur sie es hören konnte.

Eine Welle der Erregung rauschte durch ihr Blut. ,,Ja…“, flüsterte sie und er gab ihr noch einen letzten Kuss.

Auf den Gesichtern der Gefährten war Zufriedenheit und Erleichterung abzulesen, als Marie ganz dicht an ihn rückte und seinen Arm umschlang, eine Hand in seiner verflocht.

,,Danke, dass ihr mich vorhin beschützt habt, Eure Hoheit.“

Thorin küsste sie schmunzelnd auf den Scheitel und atmete tief aus. ,,Zu schade nur, dass er so schnell umgekippt ist. Ich hätte ihm trotzdem nur allzu gern ein paar Schläge mehr reingedrückt.“

Sie schürzte tadelnd die Lippen. ,,Ich hatte auch so schon genug Sorge.“ Zu ihrer Überraschung musste er lachen.

,,Ich bin ganz andere Gegner gewöhnt.“

,,Wenn ich dagegen an Azog denke, ist Gonzo ein feuchter Furz. Mehr nicht“, meinte Kili.

,,Azog?“ Sie blickte zu ihm. ,,Der Ork, der deinen…“ Er nickte. Marie drückte seine Hand stärker, doch sie spürte, wie sich Thorins Körper wieder anspannte.

,,Der Anführer einer Gruppe Wargreiter“, erklärte Balin ihr und klopfte seine Pfeife auf dem Tisch aus, wischte die verbrannten Tabakreste zu Boden. ,,Ein bleicher, narbenübersäter Gunderbard-Ork. Er und seine Häscher verfolgen uns schon eine ganze Weile.“

,,Inzwischen müssten wir sie aber abgeschüttelt haben“, ergänzte Gloin.

,,Waren dass die Orks, die euch im Wald angegriffen haben?“

,,Nein, so wie es mir berichtet wurde und nachdem, was ich beim alten Lager gesehen habe“, sagte Gandalf, ,,war das ein anderer Trupp. Mich beschäftigt dennoch die Frage, was sie in dieser Gegend zu tun hatten und wohin sie wollten.“

,,Ist doch egal“, meinte Nori. ,,Hauptsache, die sind wir los. So wie wir auch Azog los sind, wenn ihr mich fragt. Seit der Brandschlacht haben wir ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen.“

,,Brandschlacht?“

,,Er und seine Handlanger haben uns in den Nebelbergen überrascht“, erzählte ihr Fili, nachdem er einen Zug von seiner Pfeife genommen hatte.

,,Wir haben uns mit Feuer verteidigt“, erzählte sein Bruder weiter, ,,und dabei ‘nen Kiefernwald abgefackelt und zudem so machen stinkenden, verlausten Wargpelz versengt.“

Erneut hob Gandalf das Wort. ,,Ohne die Hilfe der Adler hätten wir es niemals geschafft und wären verloren gewesen.“

Das können nur die Adler aus den Nebelbergen sein, dachte Marie fasziniert. Hoch oben in Bergschluchten sollen riesige Adler leben. Nur wenige haben sie bisher zu Gesicht bekommen. Zahlreiche Sagen rankten sich um die Vögel mit dem goldbraunem Gefieder und den mächtigen, schwarzen Krallen, die selbst fähig sein können, Ochsen zu erlegen.

,,Wir sollten unvorstellbar dankbar sein, dass sie meinem Ruf gefolgt sind. Mit ihnen haben wir ein ganzes Stück geschafft.“

,,Adler haben uns mitgenommen?“, fragte Thorin irritiert. In seinem Gedächtnis herrschte an dieser Stelle eine graue Lücke.

,,Du warst halb tot“, erklärte Dwalin kurz und ungebunden.

Mit einer Mischung aus Entsetzten und Panik starrte Marie ihn an, sah dann zu Thorin, der den Blick gesengt hatte.

,,Ja…und das, was du getan hast, war sehr leichtsinnig von dir“, tadelte der Zauberer ihn mit ernster Miene. ,,Es war ein wahres Wunder, dass du noch gelebt hast. Nur deshalb konnte ich dich in die Welt der Lebenden zurück holen. Was mir bis heute unbegreiflich ist…“, fügte er leise hinzu, als hätte er laut nachgedacht.

Thorin hob den Kopf. Mit zusammen gezogenen Augenbrauen stieß er die Luft aus der Nase, doch ehe er erwidern konnte, winkte Bofur ab. ,,Ach Leute, warum reden wir denn über Gonzo und Azog? Wir sind doch hier um uns einen schönes Abend zu machen.

,,Aber ich seh‘ gerade…“, symbolisch drehte Kili seinen Krug um, ,,wir sitzen immer noch auf dem Trockenen. Wo bleibt das Bier?“

Bofurs braune Augen blitzen auf. Er legte sich über den Tisch zu Fili, raunte ihm etwas zu. Der blonde Zwerg lächelte, schlug ihm mit der flachen Hand gegen die Schulter und erhob sich. Zwischen den Menschen verschwand er in die Richtung der Musiker. Alle schauten ihm hinterher, während Bofur auf den Tisch kletterte. Fili kam wieder, in den Händen eine Geige mit Bogen. Begleitet von Lachen und Jubel sprang er ebenfalls auf den Tisch und ließ den Bogen mit kurzen Bewegungen über die Saiten gleiten, entlockte dem Instrument gekonnt eine Melodie. Ein paar von den Männern begannen im Takt mit ihren Stiefel zu stampfen. Fasziniert vom Geschehen schaute Marie ihm zu. Er konnte es wirklich gut.

Dann rückte sich Bofur seine Mütze zurecht und stimmte ein Lied an. Die Geige und Stiefel verstummten.

,,Wir haben Durst und krepieren daran,

denn schon seit Tagen geht

es nicht mehr voran.

Die Sonne brennt und wir

verlier’n den Verstand.

Alles stinkt nach Mann!“

Nun hatte sich auch der allerletzte Gast zu ihrem Tisch umgedreht - selbst die Leute vorne an der Theke, um dem lautstarken Treiben auf den Grund zu gehen. Die Musiker, die aufgehört haben zu spielen, waren scheinbar die einzigen, die Gefallen daran fanden und mit den Schuhen im Takt wippten.

,,Die Fässer sind längst leer,

die Kehle verdorrt.

Das letzte Bier war schon am ersten Tag fort.

Rette sich wer kann!“

Fili fing wieder an zu spielen und alle sangen beim Refrain aus vollem Hals mit. Ihre tiefen Stimmen donnerten durch den Saal. In Maries Lunge dröhnte es.

,,Es gibt nur Wasser, Wasser, Wasser überall,

doch wir haben nichts zu Trinken!

Es gibt nur Wasser, Wasser, Wasser überall

und unser Fest droht zu versinken!

Wir brauchen Bier, Bier, Bier, sonst verdursten wir!

Wir brauchen Bier!“

Wieder sang Bofur:

,,Wir haben die letzte Runde scheinbar verpasst

und würden alles tun für ein volles Fass!

Bitte kommt und bringt uns was her,

den wir alle schrei’n…“

,,…wir wollen mehr!

Es gibt nur Wasser, Wasser, Wasser überall,

doch wir haben nichts zu Trinken!

 

Es gibt nur Wasser, Wasser, Wasser überall

und unser Fest droht zu versinken!

Wir brauchen Bier, Bier, Bier, sonst verdursten wir!

Wir brauchen Bier!“

Nun spielte Fili alleine. Gespannt schauten alle zu, wie er tanzte, den Bogen schnell über die Saiten gleiten ließ. Zwischendurch schloss er die Augen, zog konzentriert einen Mundwinkel hoch. Dann sangen alle wieder, diesmal noch lauter und Marie mitten unter ihnen auch, doch ihre Stimme verlor sich zwischen denen der Männer.

,,Es gibt nur Wasser, Wasser, Wasser überall,

doch wir haben nichts zu Trinken!

Es gibt nur Wasser, Wasser, Wasser überall

und unser Fest droht zu versinken!

Wir brauchen Bier, Bier, Bier, sonst verdursten wir!

Es gibt nur Wasser, Wasser, Wasser überall,

doch wir haben nichts zu Trinken!

Wir brauchen Bier, Bier, Bier, sonst verdursten wir!

Wir brauchen Bier!!“

Die Zwerge brachen in schallendes Gelächter aus. Manche warfen ihre leeren Krüge hoch, sodass letzte Pfützen nieder regneten. Gandalf und Bilbo zogen die Köpfe ein. Gespielt übertrieben verbeugte sich Fili, schlug mit seinem Bruder ab. Langsam kehrte der rege Gang ins Wirtshaus zurück, die Gespräche wurden wieder aufgenommen.

,,Wir hoffen doch, dass wir euch richtig verstanden haben.“ Zwei Kellnerinnen standen mit schweren Tabletten voller gestapelter Krüge vor ihrem Tisch. Marie hatte Mitleid mit ihnen, als die armen Frauen gar nicht so schnell reagieren konnten, wie die Männer danach griffen.

 

 

 

 

 

21

 

 

Bizar il-gabad.“

Marie sprach es nach. Einen Satz nach dem anderen musste sie wiederholen, den ihr die Zwerge vorsagten. Sie versuchte, sich Sachen zu merken, doch es waren einfach zu viele auf einmal. Bier hieß tenok, oder war es tial? Sie kam ganz durcheinander und ihr brummte schon der Schädel von den ungewohnten Wörtern und Lauten.

Thorin saß neben ihr, trank sein Bier und beobachtete sie in sich hinein schmunzelnd. Nur gut, dass sie so manches Mal nicht verstand, was sie da sagte.

,,Hört endlich auf ihr so etwas beizubringen!“, beschwerte sich Gandalf. ,,Das gehört sich nicht.“

,,Eins noch“, warf Kili schnell ein, der zusammen mit Dwalin und Gloin Karten spielte, bevor der Zauberer die Unterrichtsstunde in Khuzdul ganz beendete. ,,Menu khagam penu tarag.“

,,Und was heißt das?“

,, ,Euer Vater hat keinen Bart.‘ Sag das aber lieber nicht. Sonst bekommst du echte Probleme.“

,,Unmöglich, sie unwissend solch Sachen sagen zu lassen“, murrte Gandalf.

,,Was für Sachen?“, fragte Marie. Die Männer lachten auf.

Thorin legte den Arm um sie und drückte sie an sich. ,,Für das, was du eben gesagt hast, könnte man uns verhaften.“ Er beugte sich näher zu ihr. ,,Eigentlich müsste ich dich dafür übers Knie legen.“

,,Das hättest du wohl gerne…“, raunte sie schmunzelnd und sah ihn herausfordernd an.

Er grinste bloß und küsste sie auf die Schläfe. ,,Verzeih uns unseren Scherz, mell nin.“

Sie warf einen scharfen Blick durch die Runde. ,,Ich hätte es mir eigentlich denken müssen, bei eurem zeitweiligen Gekicher.“

,,Mit den derben Ausdrücken hätte sie locker mit Ninak mithalten können“, lachte Kili und schmiss ein Ass in die Mitte.

,,Oh-hoho, da wäre ich mir nicht so sicher!“, gab Dwalin zurück und legte gleich zwei ab, woraufhin Kili sauer dreinschaute.

,,Männer, lasst uns darauf trinken. Auf die Frauen und ihre Mundwerke!“

,,Jungs! Holt mal die versprochene Runde Schnäpse!“ Gloin machte eine ausholende Armbewegung und bekam bekräftigende Zustimmung. Während Kili ein paar Münzen in die Hand gedrückt bekam, zählte Fili die Handzeichen. Als er bei Gandalf ankam, schüttelte dieser so heftig den Kopf, dass sein langer Bart mit schwang.

Marie sah, dass auch Thorin seine Hand hob und musste unweigerlich an das Gespräch mit Fili denken. Hör auf dir irgendwelche Gedanken darüber zu machen. Es ist nur ein Schnaps. Er musste wohl ihren Blick gemerkt haben, denn er legte den Arm fester um sie. ,,Ist etwas, mein Liebling?“

,,Nein, nichts“, wimmelte sie ab, doch hätte eigentlich wissen müssen, dass Thorin nicht so einfach locker ließ. Er bemaß sie mit einem vorwurfsvollen Blick. ,,Na, schön. Also, eben…da, nun ja, ich hatte irgendwie Bedenken mit dem Schnaps.“ Irritiert sah er sie an. ,,Ich hatte gedacht, nachdem wir uns gestritten haben…“

,,Wir haben uns nicht gestritten.“

,,Du hast mir nicht vertraut“, gab sie konternd zurück.

Thorin straffte die Schultern, als wäre dieses Thema ihm unangenehm. ,,Es ist viel Zeit vergangen, Marie, in der ebenso viel passiert sein kann, wie passiert ist. Ich wollte nicht, dass du mich anlügst.“

,,Ich habe dich nie angelogen. Alles, was ich gesagt habe, war die Wahrheit.“ Er stieß einen mürrischen Laut aus. ,,Es tut mir leid, dass ich dich mit meinen Worten verletzt habe. Das war unüberlegt von mir.“

Etwas Betrübtes senkte sich über ihn. ,,Du hast nur die Wahrheit gesagt.“

,,Ich wollte es nicht so sagen! Und als ich deine Reaktion gesehen habe, da hatte ich Angst, du könntest vielleicht deinen Zorn ertränken.“ Er zog die Augenbrauen hoch. ,,Fili hat mir davon erzählt.“

,,Hat er das?“

Sie nickte. ,,Dir ging es sehr schlecht, oder?“

Thorin richtete seinen Blick auf seinen Krug. ,,Ich erinnere mich nicht gerne zurück daran, aber ja. Manches hab ich aber auch vergessen. Ich bin nicht stolz darauf.“

,,Aber du hast den Alkohol hinter dir gelassen und dafür bin ich stolz auf dich.“ Schwach lächelte er, doch Marie bemerkte, dass es aufgezwungen war.

,,Ich will nicht, dass du dir Gedanken darüber machst“, sagte er und beschloss, ihr nichts über diese Zeit zu erzählen. Denn er wusste nicht, wie sie auf Amris reagieren würde. ,,Heute weiß ich, wo meine Grenzen sind“, fuhr er fort. ,,Ich trinke noch, jedoch genauso viel wie jeder andere auch.“

Sie senkte das Kinn auf die Brust, als sie merkte, dass sie sich völlig unberechtigt Gedanken darüber gemacht hatte. Auf einmal spürte sie eine Hand an ihrem Gesicht. Sie schaute zu Thorin hinauf. Sein Finger strich über ihre Lippen, fuhr über ihr Kinn.

,,Von einem Schnaps werde ich nicht rückfällig, mein Liebling“, raunte er, ,,ganz gleich wie stark er ist.“

Sie lächelte und wollte sich erheben, um noch eilig den Jungs zu folgen.

,,Was ist denn jetzt?“, fragte er amüsiert.

,,Ich hab vorhin eine Freundin gesehen und bin nicht dazu gekommen sie zu begrüßen.“

,,Soll ich mitkommen?“

Sie rollte mit den Augen. ,,Du kannst nicht nur herrisch, sondern auch überfürsorglich sein.“ Schweigend zog er bloß einen Mundwinkel hoch und als sie das andere Bein über die Bank geschwungen hatte, gab er ihr in einem unbeobachteten Moment der anderen einen Klaps auf den Hintern. Marie zuckte am ganzen Körper zusammen. Mit offenem Mund fuhr sie herum und sah das triumphale Schmunzeln auf seinem Gesicht.

,,Herrisch, sagtest du?“

Mit glühenden Wangen boxte sie ihm gegen den Arm und beeilte sich dann, den Jungs zu folgen. Als sie jedoch an die Theke ankam, stutze Marie und fühlte sich noch kleiner: sie konnte nicht über den Tresen schauen.

Kili und Fili sprangen hoch. Ihre Arme krallten sich über die innere Kante. Polternd schlugen ihre Stiefel gegen die Wandverkleidung. Der dicke Wirt mit dem dunklem Vollbart und den spärlichen, lockigen Strähnen auf dem Kopf bekam einen kleinen Schreck. Neugierig drehte man sich auf den Hockern um.

,,Wir hätten gern 16 Schnäpse“, begann Fili.

Marie musste grinsen. Es sah zu komisch aus, wie die zwei auf den Armen liegend über der breiten Holzplatte hangen, die Füße in der Luft baumelnd.

,,Nein 15. Gandalf wollte doch keinen“, raunte Kili ihm zu. Dann drehte er halb den Kopf und rief hinter sich: ,,Marie, du aber wolltest doch, oder?!“

,,Der Zwerg hat Marie gesagt…“

,,Das ist sie tatsächlich.“

,,Die Heilerin.“

,,Warum ist sie so klein?“ Von überall um sich herum hörte sie ihren Namen im erstaunten Raunen. Plötzlich fühlte sie sich den Blicken, die sich durch ihren Körper bohrten, hilflos ausgeliefert. ,,Ja, eine Runde trink ich mit“, antwortete sie, bemühte, ihre Unsicherheit über die Aufmerksamkeit für sich nicht anmerken zu lassen.

,,15, bitte. Was habt Ihr denn so schönes da?“, fragte Fili und spähte schon mal an dem Wirt vorbei, der eine ausholende Geste machte und hinter sich auf die langen Regale wies, vollgestellt mit etlichen Flaschen in den verschiedensten Formen und einigen Farbschlägen.

,,Ich hab viel Auswahl. Könnt Euch ruhig in Ruhe umschauen.“

,,Du Fili, wollen wir nicht links anfangen und schauen wie weit wir kommen.“

,,Thorin sagte, nur eine Runde. Ich fürchte, wir müssen uns daran halten.“ Leise seufzten sie beide.

,,Marie, bist du’s wirklich?“, hörte diese eine verblüffte und bekannt Stimme neben sich.

,,Anna! Dann hab ich mich also doch nicht verguckt. Aber ich bin enttäuscht, dass du deine Freundin nicht erkennst!“

,,Verzeih, ich musste zweimal hinsehen. Was um alles in der Welt ist mit dir passiert? Lass dich mal anschauen.“ Ihre Freundin nahm ihre Hände und musterte sie. ,,Das ist unmöglich… Aber dieses Kleid… und deine Haare. Wie schön! Da kann man echt neidisch werden.“

Anbei betrachtete Marie Annas einfaches, schlichtes grün-braunes Kleid, was schon mal bessere Tage gesehen hatte. Sie hatte eine schmutzige und nasse Schürze um, die Ärmel weit hochgekrempelt.

,,Hallo, Marie!“ Hinter ihr tauchte Mel auf.

,,Mel, was machst du denn hier um diese Zeit noch? Musst du nicht schon längst im Bett sein?“

,,Ausnahmsweise“, erklärte Anna und strich ihr über den Hinterkopf. ,,Ich hab hinter der Theke abgewaschen. Sonna hat mich gefragt, ob ich aushelfen will. Du siehst ja, was hier los ist. Aber jetzt ist meine Schicht zum Glück vorbei.“

,,Und ich hab ihr geholfen!“, erzählte Mel stolz.

,,Warum hast du mich denn nicht gefragt, ob ich auf sie aufpassen kann?“

Die Frage war ihr wohl unangenehm, denn Anna trat von einem Fuß auf den anderen. ,,Du hast doch Gäste…“

,,Aber das hätte doch nichts gemacht.“

Als Erklärungsversuch zuckte sie mit den Schultern und wechselte das Thema. ,,Marie, jetzt musst du mir aber einiges erklären. Was ist mit dir passiert und wer ist der Zwerg?“

,,Welcher?“, konnte sie es sich nicht verkneifen zu fragen.

Anna rollte mit den Augen. ,,Der schwarzhaarige, den, den du geküsst hast, der, der sich wegen dir mit Gonzo geprügelt hat. Glaubst du, ich hab das nicht mitbekommen?“

Marie spürte die Blicke in ihrem Rücken, die sich bis in ihr Knochenmark drückten. Offenbar wurden sie belauscht. ,,Ich erzähle dir alles ein anderes Mal. Versprochen.“

,,Na schön, aber wehe, du spannst mich zu lange auf die Folter!“

Das kleine Mädchen schaute zu ihr hoch, denn Marie war doch noch ein Stückchen größer und fragte ganz trocken: ,,Warum bist du so klein?“

Sie musste schmunzeln. Die Kleine sah zuckersüß aus, wie sie sie mit großen Augen anschaute. Auch Anna schaute erwartungsvoll. ,,Also euch zweien verrate ich es…“, flüsterte sie und trat einen Schritt näher. ,,Ich bin verzaubert worden.“

Mel raunte ein erstauntes ,,oh“.

,,Dann ist der Alte einer der Zauberer?“

,,Ja, Gandalf der Graue. Und hör auf, der Alte zu sagen.“

,,Ich find deinen Zopf schön“, meinte Mel und Marie lächelte gerührt. ,,Dankeschön.“

,,Was ist das da für einer? Mittleres Regal, 3.,4. äh, 5. Flasche?“

Die Hände an seiner Schürze abwischend, drehte sich der Wirt um und holte die beschriebene bauchige Flasche mit dem dunkel-braunem Inhalt hervor. ,,Da habt Ihr euch ja das richtige ausgesucht, verehrter Herr Zwerg. Das ist Drachenzunge, verträgt nicht jeder.“

,,Ja, perfekt!“ Kili haute mit der flachen Hand auf die Theke. ,,Genau das brauchen wir.“

Der Wirt stelle ein Tablett Gläser zurecht. ,,Seid Ihr sicher? Das ist ein ganz übles Zeug“, meinte er, die Flasche noch ungeöffnet in der Hand.

,,Bei Durin, wir sind Zwerge! Als ob uns das davon abhalten würde…“ Kili schob ihm die Münzen rüber. ,,Also, haut rein und macht das voll! Nur nicht so knauserig!“

,,Ich wollte dir nochmal danken für die Salbe. Es hat wirklich sehr geholfen.“

Marie sah zu ihrer Hand, wo noch immer die Fingergelenke verfärbt waren. ,,Nicht dafür. Wende die Salbe aber noch an, falls du noch etwas davon hast, und sei nicht leichtsinnig, deine Hand zu früh zu stark zu strapazieren.“

,,Du, Marie…“ Wieder meldete sich die Kleine, zupfte ihr diesmal am weinroten Rock und zeigte auf die Jungs, die immer noch über der Theke hingen. ,,Sind das da richtige Zwerge?“ Annas Wangen wurden rot, was zeigte, dass die Gerüchte über die Zwerge auch bei ihr angekommen waren.

Schmunzelnd beugte sich Marie zu Mel. ,,Ja, natürlich, aber soll ich dir noch etwas verraten?“

Da sie an ihrem Ton ahnte, dass es etwas Bedeutendes sein musste, nickte sie nur.

,,Das sind echte Zwergenprinzen.“

Mels Augen wurden noch größer. ,,Wirklich?“

Marie nickte, als gerade die Jungs wieder zu Boden sprangen.

,,Nanu, Marie, wer ist denn deine kleine Freundin?“, fragte Fili und trat näher.

Sie legte ihr die Hände von hinten auf die zarten Schultern. ,,Das ist Mel.“

Diese starrte nur mit großen, runden Augen voller kindlicher Fassungslosigkeit von einem Prinzen zum anderen.

,,Hallo, Mel.“ Weil er wusste, dass dies bei Menschen so Sitte war, hielt Fili ihr die Hand hin, die sie auch zaghaft nahm.

Sie drehte sich zu Marie und zupfte ihr wieder am Rock. ,,Wie heißt er?“

Die Freundinnen tauschten einen Blick aus, woraufhin Anna, die den Zwerg bereits mit mütterlicher Wachsamkeit gemustert hatte, sich einmischte. ,,Warum fragst du ihn das nicht selber, mein Schatz?“

,,Wie heißt du?“, fragte sie sogleich an ihn gewandt.

Mit einem Lächeln hockte er sich vor dem überaus neugierigen Mädchen hin. ,,Fili. Und das ist mein Bruder Kili.“

Die Kleine zog die Stubsnase kraus. ,,Komische Namen.“

,,Die sind nicht komisch“, lachte er.

,,Marie hat gesagt, dass ihr Prinzen seid. Stimmt das?“

,,Ja, das stimmt.“

,,Und wo sind eure Kronen?“

,,Weißt du, wir haben keine.“

Eine laute Reibeisenstimme brüllte durch den ganzen Saal über die anderen hinweg, sodass mache Gäste zusammen zuckten. ,,KILI, FILI?! Wo bleibt ihr denn?!“

,,KOMMEN GLEICH!“, brüllte Kili zurück und nahm schon mal behutsam das Tablett.

,,Warum habt ihr so kurze Bärte?“, fragte Mel wieder ganz trocken.

,,Mel, so etwas fragt man nicht!“, raunte Anna beschämt ihrer Tochter zu.

Zwar bemerkte Marie, dass Kili die Augen verengte, doch die beiden nahmen es ihr nicht allzu krumm. Hätte dies jemand anderes gefragt, so war sie sich sicher, hätten sie wahrscheinlich ganz anders reagiert. Sie hat bestimmt noch Welpenschutz, dachte sie schmunzelnd.

,,Die wachsen noch. Die älteren haben schon längere.“

,,Achso…Ich find deine Zöpfe da lustig“, meinte sie und zeigte auf sein Gesicht. Kili unterdrückte ein Kichern, musste aufpassen, dass er nichts verschüttete.

,,Du meinst diese hier?“ Er verzog den Mund, sodass seine Bartzöpfe hin und her schwingten und die Kleine gluckste. Beim Aufstehen wuschelte er ihr durch die hellblonden Haare.

,,FILI, KILI! Kommt mal ran auf’m Meter!!“, brüllte wieder ihr Ziehonkel und dann jemand anderes, vermutlich Gloin: ,,Seid ihr eingeschlafen?!“

Kili machte ein genervtes Geräusch. ,,KOMMEN!!“

,,Wir wollen euch nicht weiter aufhalten.“ Anna sah sie kurz unschlüssig an, beugte sich dann zu ihr und umarmte ihre Freundin wie eh und je, ohne sich von ihrer Größe dafür abschrecken zu lassen und schenkte ihr dadurch unbedacht ein Stückchen Normalität für ihre veränderte Welt. Dafür liebte Marie sie. ,,Und vergiss ja nicht, mir alles zu erzählen…“

,,Keine Bange.“

,,Na dann, atenio, Mel. War nett dich kennenzulernen.“

,,Atenio? Was soll das heißen?“

,,Oh. Das heißt auf Wiedersehen“, erklärte er lachend.

Anna nahm Mels Hand und führte sie weg. ,,Schönen Abend noch.“

,,Werden wir haben!“, rief Kili über die Schulter und trug mit größter Vorsicht das Tablett in Richtung ihres Tisches.

,,Tschüss, Mel.“ Marie winkte ihr, die zurück winkte.

,,Mama, hast du die gesehen? Das waren echte Zwergenprinzen!“, rief sie begeistert, als Anna sie durch die Tür schob.

,,Natürlich, mein Schatz. Und jetzt ab ins Bett.“

Wieder am Tisch angekommen, verteilten die Jungs die Schnäpse.

,,Wieso hat das so lange gedauert?“

,,Die beiden hier konnten sich nicht entscheiden“, erklärte Marie beim Hinsetzen.

,,Und Fili hatte eine kleine Verehrerin“, scherzte sein Bruder.

,,Wenigstens kann ich mit Kindern umgehen. Die Kleine war echt niedlich. Wer war das?“

,,Die Tochter von Anna, meiner besten Freundin.“

,,Was habt ihr denn da für ein Zeug ausgesucht?“, fragte Oin und begutachtete sein Glas.

,,Drachenzunge“, erklärte Kili breit grinsend.

Von jedem hörte man: ,,Ouuh!“ und von Thorin ein kühles: ,,Welch Ironie…“

,,Da hatte ich ja Glück gehabt“, nuschelte Gandalf erleichtert. Bilbo, der das gehört hatte, sah ängstlich auf das Besagte.

,,Marie, willst du das etwa auch mit trinken? Wir würden es dir nicht übel nehmen, wenn nicht“, meinte Dori besorgt.

,,Klar trinkt sie mit!“, rief Dwalin. ,,Mach dir nicht ins Hemd.“

,,Na dann…Prost!“, rief Fili und erhob seinen schon mal.

,,Trinkt aus auf drei!“, rief sein Bruder. ,,Eins…zwei…drei!“

,,Ouhh!“ Manche schüttelten sich sogar.

,,Herrlich“, hauchte Dwalin und leckte sich die Lippen. ,,Bei meinem Bart, der haut rein!“

,,Herrje, so etwas hab ich schon seit Jahren nicht mehr getrunken“, lachte Balin und hustete. Bilbo hingegen unterdrückte ein Würgen, musste sich zusammenreißen, um nicht wieder auszuspucken. Fili und Kili lachten, als sie das sahen.

,,Geht’s?“ Ori klopfte ihm auf den Rücken.

Er winkte ab. Wie kann man so ein Zeug nur freiwillig trinken?

Thorin machte nur eine Kopfbewegung. Er spürte, wie der dünnflüssige Schnaps heiß seine Kehle hinunter rannte und sich in einer warmen Wolke in seinem Magen ausbreitete. Doch als er Marie sah, musste er unweigerlich schmunzeln.

Tränen lagen in ihren Augen. Sie dachte, ihr Hals würde brennen. Es kribbelte abartig scharf in ihrem Rachen, noch dazu mit dem heißen Gefühl im Hals. ,,Der Name passt“, keuchte sie heiser und fasste sich an die Kehle.

,,Hier, trink.“ Thorin hielt ihr ihr Bier hin, welches sie auch eilig mit beiden Händen nahm und gierig davon trank. Lachend und erstaunt schauten ihr die anderen dabei zu, wie sie den Krug in einem Zug leerte. Als sie diesen abstellte, entfuhr ihr ein Röbser. Peinlich berührt schlug sie die Hand vor dem Mund, schaute mit großen Augen unsicher durch die Runde. Für ein paar Sekunden wurde es still. Dann wandelte sich die Stille in grölenden Jubel.

,,Jetzt bist du eine von uns!“ Bofur riss sich seine geliebte Mütze vom Kopf und setzte sie Marie auf.

Lachend spähte sie mit glühenden Wangen unter der zu weiten Krempe hervor.

,,Meine Zwergin…“, flüsterte Thorin und küsste sie. Der Kuss schmeckte nach Drachenzunge.

 

~

 

,,Jetzt gehöre ich also schon zu euch, hab die Zwergensprache gelernt bekommen, hab auf die richtige Art und Weise Bier getrunken. Könnt ihr jetzt nicht mal etwas auf Khuzdul singen?“, fragte Marie, die mit der Mütze auf dem Kopf Bifur zusah, wie dieser aus einem Stück Holz einen kleinen, fliegenden Adler zauberte, dessen Grundzüge schon zu erkennen waren.

,,Tri martolo passt doch“, meinte Nori. Schlagartig änderte sich die Stimmung.

,,Was ist das für ein Lied?“

Thorins Augen lasteten düster auf dem Zwerg, der entschuldigend mit den Achseln zuckte. Dann wandte er sich Marie zu. ,,Es handelt vom Abschied.“

,,Ist es ein trauriges Lied?“

,,Nein, eher nicht.“

,,Dann spricht doch nichts dagegen“, meinte sie. Wie gern würde ich ihn nochmal singen hören.

Das grüne Funkeln in ihren Augen war nur schwer bei der Gewissheit zu ertragen, dass dies der letzte Abend mit ihr war. Er schluckte, fuhr sich übers Kinn. Es fiel ihm schwer, doch sah es als ersten Schritt an, ihr die Wahrheit zu sagen.

Und als er, immer noch den Arm um sie gelegt, anfing zu singen, schlug seine unbeschreiblich tiefe Stimme sie in seinen Bann und Marie konnte es wieder einmal nicht glauben, dass dieser Traum von einem Mann zu ihr gehörte.

,,Sag mir Lebwohl, mein Herz – tralalah-lalalala.

Auch wenn der Abschied schmerzt,

bleibe ich dir immer nah.

Jetzt keine Träne mehr - tralalah-lalalala.

Ich weiß, es fällt dir schwer,

doch so schnell vergeht ein Jahr.“

Wie aufs Stichwort sang Dwalin mit genauso tiefer, aber rauerer Stimme weiter, breitete dabei die Arme aus: ,,Komm und sing dein Lied für mich, sing für meine Seele!“

Und alle Zwerge stimmten mit ein: ,,Komm und sing dein Lied für mich, sing für meine Seele!“

Krüge und Fäuste wurden wieder im Rhythmus auf die Tafel gehauen und mit den Stiefeln während des Refrains gestampft.

,,Tri martolo – joho! Tralalah-lalalala!

Tri martolo – joho! Womeb da veâ jigeh!

Tri martolo – joho! Tralalah-lalalala!

Tri martolo – joho! Womeb da veâ jigeh!“

Die anderen Gäste drehten sich zu ihrem Tisch um. Doch diesmal waren sie weniger erstaunt. Sie wussten ja schon, wie so etwas ablief.

Dann sang Thorin wieder, bevor die anderen mit einstimmten:

,,Sing nochmal dein Lied für mich,

sing für meine Seele!“

,,Sing nochmal dein Lied für mich,

sing für meine Seele!

Tri martolo – joho! Tralalah-lalalala!

Tri martolo – joho! Womeb da veâ jigeh!

 

Tri martolo – joho! Tralalah-lalalala!

Tri martolo – joho! Womeb da veâ jigeh!”

Plötzlich stand Ori auf und sang scheußlich schief und aus vollem Halse: ,,Womeb da veâ jigeh, womeb da veâ jeh!!“, bis sein ältester Bruder Dori ihn wieder auf seinem Hintern zog.

,,Womeb da veâ jigeh, womeb da veâ jeh!

Col melveht geh carsét - tralalah-lalalala!

Col melveht geh carsét – te van guru melveht!

Thorin sang wieder alleine, diesmal leiser, beugte sich dabei ganz nah an Marie, sodass sein Atem sie streifte:

,,Sing ein letztes Mal für mich, sing für meine Seele.“

,,Sing ein letztes Mal für mich, sing für meine Seele…

Tri martolo – joho! Tralalah-lalalala!

Tri martolo – joho! Womeb da veâ jigeh!

Tri martolo – joho! Tralalah-lalalala!

Tri martolo – joho! Womeb da veâ jigeh!

Tri martolo – joho!...“

,,Sing für meine Seele!!“

,,…Tri martolo – joho! Womeb da veâ jigeh!!

Als der letzte Ton verklang, applaudierten Gandalf, Bilbo und Marie. Ihre Augen funkelten wie Sterne unter der Mütze hervor, während sie lachte. Thorin neben ihr hatte jedoch einen wehmütigen Blick auf sie gerichtet. Sie schien gar nicht bemerkt zu haben, dass Nori dieses Lied nicht zufällig ausgesucht hatte.

 

~

 

Sie ahnt von Nichts. Absolut nichts. Ich muss es ihr unbedingt sagen, aber nicht hier. Hier hat sie so viel Spaß. Wie wird sie darauf reagieren? Wird sie es verstehen? Es geht aber nicht anders. Es ist höchste Zeit weiterzuziehen. Die Zeit sitzt uns im Nacken. Es war die richtige Entscheidung, Morgen aufzubrechen. Wir haben nur diesen einen Tag um diese Tür zu öffnen. Alles hängt davon ab. Er sah zu Marie, die sich umgesetzte hatte, um sich mit Oin über Heilkräuter zu unterhalten. Wie sollte er es ihr bloß sagen? Konnte er sie einfach mit der Wahrheit überfallen? Konnte er sie wieder zurücklassen? Die wichtigste Frage war jedoch eine andere. Konnte man ein gebrochenes Herz noch einmal brechen? Diesmal wäre es für immer, sollte er nicht mehr zurückkehren.

 

,,Es ist doch erstaunlich…“

,,Hm?“ Bilbo schaute zu Gandalf hinauf.

,,Wer hätte gedacht, dass ein Mensch Thorin jemals so viel bedeuten würde?“

Der Hobbit schaute zu dem Angesprochenen. Wie zerschlagen saß der großgewachsene Zwerg am Tisch, die Arme darauf, die Hände um seinen Krug gelegt, den Blick starr auf die Maserung im Holz gerichtet. ,,Ja, er liebt sie wirklich. Aber er hat beschlossen, sie trotz allem hier zu lassen. Doch sie weiß davon noch nichts. Das muss er ihr heute Abend beichten.“

Der Zauberer nickte. ,,Ich weiß.“

,,Woher?“

,,Ich führte ein Gespräch mit Balin.“

,,Hm. Balin sagt, er will sie holen und sie mit nach Erebor nehmen, wenn er den Thron wieder hat. Aber er ist sich nicht sicher, ob er es überleben wird.“

,,Sagte er dies so?“

,,Ich glaube schon… Wird es dazu kommen, Gandalf? Ich meine, kann es dazu kommen? Dass er stirbt, meine ich.“

,,Für Thorin ist Großes vorherbestimmt.“

Bilbo verzog den Mund über seine unbrauchbare Antwort.

,,Sie wird ihm helfen“, sprach Gandalf weiter.

,,Sie? Du meinst Marie?“

Er nickte.

Musste er ihm alles aus der Nase ziehen? ,,Wie wird sie ihm helfen?“

,,Mein guter Herr Beutling…“, er wandte sich ihm zu, ,,stellt Euch einen Stein vor?“

Bilbo runzelte die Stirn. ,,Einen…Stein?“

,,Ja, einen Stein. Kalt, unscheinbar, ohne Heimat. Vergessen von anderen, von seinesgleichen. Marie hat diesen Stein aufgehoben. Sie hat Thorin aufgehoben, wie es niemand hätte tun können. Die Liebe trägt die Seele, wie die Füße den Leib tragen.“

Bilbo seufzte. ,,Gandalf. Was willst du mir sagen?“

,,Es ist die Liebe, die ihn stärkt und ihm Kraft gibt.“ Auf einmal wurde er um einiges ernster. ,,Und er wird alle Kraft brauchen, die er aufbringen kann für das, was kommen wird.“

Am liebsten hätte Bilbo ihn gefragt, was denn kommen wird, doch er wusste, dass er ihm keine brauchbare Antwort darauf geben würde. Er sah wieder zu Thorin. Immer noch saß er teilnahmslos zwischen seinen Männern, die sich angeregt unterhielten, rauchten oder Karten spielten. Aber auch sie blickten immer mal wieder zu ihrem Anführer. Etwas lag in der Luft. Jeder spürte das bedrückende Gefühl, das sich schwer über ihrem Tisch ausgebreit hatte.

,,Nur deswegen habe ich ihr ihren Wunsch erfüllt. Weil ich gesehen habe, dass diese Verbindung, die diese zwei Personen eingehen, einzigartig ist, die man kein zweites Mal findet. Thorin muss sich nun der Liebe, der stärksten Macht, die es gibt, entgegen stellen. Beide werden auf eine Probe gestellt…“

Wortlos stand Thorin in diesem Moment auf und ging in die Richtung der Musiker. Alle schauten ihm verwundert nach. Bilbo warf einen Blick zu Gandalf hinauf, der den Mund schloss, die dünnen Lippen aufeinander gepresst. Auch Marie drehte sich um. ,,Was hat er vor?“ Doch sie bekam keine Antwort.

Erst nach einer ganzen Weile kam er wieder. Thorin schritt um den Tisch herum zu ihr, nahm ihr die Mütze vom Kopf und warf sie in Bofurs Richtung. ,,Tanz mit mir“, sagte er und hielt ihr die geöffnete Hand hin. Ihr ahnungsloses Strahlen war wie Gift für sein Herz, als sie ihre Hand in seine legte und sich erhob.

Ein Lied wurde gespielt. Die Melodie war sanft und lieblich mit einem melancholischen Hauch und deutlichen Trommelschlägen. Unter den Blicken der Gäste fasste Thorin auf der Tanzfläche ihre Taille, legte die andere Hand in ihre. Als die beiden Frauen anfingen zu singen, da fingen auch sie an, sich in weiten Kreisen zu drehen.

,,Wenn wir uns wiederseh’n…

 

Wenn wir uns wiederseh’n…

 

werden die Wiesen blüh’n...

 

Verjagt hat uns ein kalter Wind,

nicht sollen sich in Ehren.

Ein Spielmann und ein Königskind,

auf dieser Welt gehören.“

Thorin konnte sehr gut führen. Marie hatte das Gefühl, als würden seine Füße, die mit den schweren Stiefeln völlig lautlos auftraten, sie tragen. Fast schon ein Gefühl des Fliegens herrschte in ihr, wie sie so sanfte Kreise auf der Stelle zogen.

,,Wenn wir uns wiederseh’n – heja, hejaheja!,

werden die Wiesen blüh’n

in jenem grünen Tal.

Dann werden wir versteh’n – heja, hejaheja!,

das nicht vergehen kann,

was einmal kostbar war.“

Um besser der Musik lauschen zu können, drehte sie ihren Kopf. Bewegungslos ruhten seine Augen ernst auf ihr.

,,Denk an den Pfad im tiefen Wald,

auf dem du mich geführet

und wie du mich auf lichter Au

mit deinem Lied berühret.“

Die gesungenen Worte bekamen in ihrem Gedächtnis eine zweite, reelle Bedeutung. Der Wald, die Lichtung, das Lied… Sie bemerkte ein dunkles Grau in seiner Iris, fast so dunkel und genauso schwer wie Schiefer. Ihre Mundwinkel fielen. Ihr Lächeln erlosch. Thorin nahm sie in den Arm und sie legte ihren Kopf gegen seine Schulter. Eng aneinander tanzten sie weiter. Als die lieblichen Stimmen wieder ertönten, sang auch Thorin leise mit, so als sang er nur für sie. So als sang er nur diese eine Strophe für sie…

,,Nun trennt sich unser Weg

im ersten Morgenlicht….“

Graue Augen begegneten ihre. Starr und traurig.

,,Was immer vor uns liegt,

den Weg ins Tal finden wi-ir zurück.“

Dann legte er seine Hand wieder bestimmend an ihre Taille und nahm mit der anderen ihre auf. Im Refrain tanzten sie wieder schneller, sodass Maries Rock flog.

,,Wenn wir uns wiederseh’n – heja, hejaheja!,

werden die Wiesen blüh’n

in jenem grünen Tal.

Dann werden wir versteh’n – heja, hejaheja!,

das nicht vergehen kann,

was einmal kostbar war.

 

Wenn wir uns wiederseh’n – heja, hejaheja!,

werden die Wiesen blüh’n

in jenem grünen Tal.

Dann werden wir versteh’n – heja, hejaheja!,

das nicht vergehen kann,

 

was einmal kostbar war.

 

Wenn wir uns wiederseh’n…“

Die Musik verstummte sanft und holte die beiden zurück in die Realität. Sie blieben stehen und er legte behutsam die Hände an ihre Wangen, beugte sich zu ihr. Thorin hauchte ihr einen Kuss, so sanft und vorsichtig, damit er ihr beweisen konnte, dass sie ihm heilig war. Doch für Marie war die Situation, dieser Kuss nicht zu ertragen. Wie ein Abschiedskuss… In ihr brach ein erbitterter Krieg zwischen Herz und Verstand los. Sie hielt es nicht mehr aus und entzog sich ihm. ,,Ich…ich brauch mal frische Luft“, stammelte sie, hob ihren Rock an und lief davon.

Völlig überrumpelt blieb Thorin allein auf der Tanzfläche stehen und sah ihr machtlos nach.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

22

 

 

Die Tür klackte ins Schloss. Nächtliche Kälte schlug ihr so intensiv ins Gesicht, als schließe man sie in Eis ein. Wie bei einem Tier auf der Flucht, pochte ihr das Herz gegen die Rippen. Marie legte den Kopf in den Nacken und versuchte, tief zu atmen, um sich zu fassen. Distanz zu all dem, das war es, was sie jetzt brauchte.

Kurz sah sie sich um, verschränkte die Arme gegen die Kälte und ging, ohne ein wirkliches Ziel zu haben, die Gasse runter. Das Dorf lag vollkommen ruhig, abgesehen von der Kneipe aus derer Richtung Musik und Stimmen kamen. Auch in ihrem Kopf war es laut und wie das Stimmengewirr durcheinander. Gedanken glichen einem Schwarm aufgeschreckter Vögel - viele Gedanken, die sie erst einmal sortieren musste.

Denk an den Pfad im tiefen Wald…und wie du mich auf lichter Au mit deinem Lied berühret… Genau so war es gewesen. Ihr Lied hatte ihn zu ihr geführt. Der Spielmann, der den Großteil seines Lebens auf der Straße verbrachte und das Königskind. Es war ein und dieselbe Person. Nun trennt sich unser Weg im ersten Morgenlicht… Die Erkenntnis über den Aufbruch der Gefährten und ihre eigene Dummheit breitete sich wie eine giftige Wolke in ihr aus. Verseuchte jeden ihrer Gedanken.

,,Warum hast du mir das nicht schon eher erzählt?“, wisperte sie in die Dunkelheit. Wie konnte sie die Aufgabe, die sie zu erfüllen versuchten, die letzten Tage über vergessen? Liebe machte wirklich blind. Wie hatte sie sich das vorgestellt? Zweifel kamen auf und blieben. Thorin, der der rechtmäßige König Erebors war, konnte unmöglich bei ihr bleiben. Er und seine Männer hatten eine Mission zu erfüllen - ihr Königreich wieder zurück zu erobern.

Was hatte sie denn erwartet? Ja, ihr war bewusst gewesen, dass sie wieder aufbrechen würden, doch dass der Abschied so schnell kam, hatte sie schlichtweg verdrängt. Nun mussten sie wieder fort… Und mit ihnen der Mann, den sie schon einmal verlor.

Als Marie ein weiteres Mal über das Ziel ihrer Reise nachdachte, ließ ein grausames Frösteln sie am ganzen Leib zittern. Smaug. Sie hatte den Drachen damals gesehen, erlebt, zu was er imstande war. Er würde sie mühelos töten können. Ihr Herz verkrampfte sich, so schmerzhaft, dass sie die Hand schützend darüber legte. Der Wind frischte auf und Marie fröstelte armselig, rieb sich über die Arme. Ihre nackte Haut am Dekolleté und an den Schultern war schon ganz gefühllos. In Gedanken wünschte sie sich ihren Umhang herbei, doch dieser lag in der Kneipe auf ihren Platz. Dorthin konnte sie nicht einfach zurückkehren. Sie brauchte einen Moment für sich.

Sie ging durch einen schmalen Gang zwischen zwei Häusern. Als sie nach einigen Metern wieder auf die Gasse trat, schienen einige Meter rechts von ihr hell erleuchtete Fenster auf der anderen Gassenseite, warfen rechteckige Schatten auf die Pflastersteine. Das Wirtshaus. Sie war im Kreis gelaufen.

Mit ihren Gedanken und Ängsten überfordert lehnte Marie sich gegen die Wand und sah zur brennenden Öllampe am gegenüberliegenden Haus, welche diese Stelle der Gasse ein wenig erhellte. Hier draußen, so hatte sie gedacht, könnte sie klare Gedanken bekommen. Doch es war nur noch schlimmer geworden als vorher.

Grau verblassten ihre Atemwolken in der Luft, schwebten als winzige Kristalle nieder. In der Hoffnung, die Sterne zu sehen, blickte sie in den Nachthimmel. Das schwarze Firmament hing über ihr. Sternenlos.

Eine dunkle Gestalt kam die Gasse herauf. Marie hörte die Schritte und drehte den Kopf dorthin. Wegen der dumpfen, schweren Schritte blieb sie an der Wand, halb verdeckt von dem Eckbalken des Hauses, stehen, da sie sich sicher war, dass es ein Mann sein musste.

Wie oft hatte ihr ihre Mutter gepredigt, nicht alleine bei Nacht auf der Straße zu sein? Wenn Myrrte gewusst hätte, dass ihre Tochter manchmal alleine nachts in Wald zum Kräuterpflücken geht, hätte sie die Hände über den Kopf zusammen geschlagen und sie in ihrem Zimmer eingesperrt. Doch ihre Mutter war nicht mehr am Leben und Marie auf sich allein gestellt.

Der Mann kam genau in ihre Richtung, vielleicht wollte auch er in die Kupfer Stube. Doch so spät noch? Marie entschied, sich nicht weiter darum zu kümmern. Das Beste wäre, wenn auch sie wieder ins Wirtshaus ging. Vor einer Auseinandersetzung mit Thorin kam sie ja dennoch nicht herum. Was sollte also dieses Versteckspiel?

Die Schritte wurden lauter und sie entschied, ihn vorgehen zu lassen und ihm dann zu folgen. Sie hörte, wie er auf die Gasse spuckte. Kurz darauf erschien ein riesiger Schatten in ihrem Blickfeld und verdeckte den Schein der Lampe. Plötzlich fühlte sie ein unerklärliches Unbehagen. Sie hob den Kopf und Kälte lief ihr den Rücken hinunter, als der Fremde stehen blieb und sie direkt ansah. ,,Marie?“

,,Gonzo.“ Sein Name blieb ihr fast im Hals stecken.

,,Was machst du hier draußen?“

Marie schluckte, wischte sich mit dem Ärmel über die Wangen. Er sollte ihre Tränen nicht sehen. ,,Nichts.“

,,Marie.“ Näher trat er. Sein Schatten legte sich über sie. ,,Was ist mit dir? Hast du geweint?“

,,Nein, ich…“ Sie gab auf. Ihre Stimme verriet sie ja eh. ,,Wie geht es dir?“

Für einen Moment schaute er sie an, sah dann aber zu Boden. ,,Wie soll es mir schon gehen…“

Nur die gedämpften Stimmen vom Wirtshaus hallten in ihrem Schweigen zu ihnen hinüber.

,,Wenn du irgendetwas brauchst…“, setzte Marie an, doch verstummte wieder. Irgendwelche Floskeln waren fehl am Platz. Wenn sie zu ihm aufsehen wollte, musste sie den Kopf in den Nacken legen. ,,Es tut mir leid. Was vorhin passiert ist, meine ich.“

,,Ich glaube, deinem Zwerg tut es nicht leid“, entgegnete er verbittert. ,,Hat mich zum Gespött des ganzen Abends gemacht.“

,,Hat er dich arg getroffen?“ Marie trat einen Schritt auf ihren Freund zu, doch dieser griff nach ihren Händen und hielt sie fest. Sie zuckte zusammen, doch zog sie nicht zurück, als sie seine Wärme spürte.

,,Komm mir nicht mit deiner verdammten Heilerin-Pflicht. Lass mich dich anschauen.“ Sein Blick streichelte liebevoll über ihre Gestalt, sodass Marie den Kopf wegdrehte und sich schämte. ,,Warum, Marie?“, fragte er so leise, kaum wahrnehmbar. So viel steckte in diesem so kurzen Satz...

Seine Hände waren anders als Thorins. Genauso rau, doch weniger schwielig. Ihre glichen in den seinen wie Bestandteile einer Puppe, ihr ganzer Körper, der ihm gerade einmal bis zum Bauch reichte. ,,Weil ich Hoffnung hatte.“

,,Hoffnung“, echote er. ,,Hoffnung auf was? Dass es diesmal anders wäre als damals? Hast du das wirklich geglaubt? Ich habe dich damals gesehen, wie du gelitten hast… Er hat dir das Herz gebrochen und das wird er wieder tun. So oft er will.“

Er verdreht die Dinge. So ist es nicht, schützte Marie ihr Inneres vor der Zerstörung.

An ihrer Reaktion musste er es jedoch gemerkt haben, denn einen Augenblick später beugte er sich zu ihr und fasste ihre Schultern. ,,Schau mir in die Augen und sage mir, dass ich unrecht habe!“ Als Marie sich auch nach Sekunden nicht rührte, ging er vor ihr auf die Knie. ,,Ich habe mich immer um deine Gunst bemüht! Habe dir versucht zu zeigen, wie ernst es mir ist. Und dann kommt dieser Kerl einfach zurück und ihr tut so, als ob nichts gewesen wäre. Er bekommt dich einfach wieder... Weißt du, wie ich mich fühle?“

Innerlich wurde sie auseinandergerissen. Stück für Stück. ,,Ich hatte nie die Absicht -…“

,,Und dann veränderst du dich auch noch so für ihn und wie dankt er es dir? Verschwindet demnächst wieder spurlos. Hättest du dich für mich entschieden… Ich würde dir alles bieten, was in meiner Macht steht. Du brauchtest dich nicht verzaubern zu lassen. Ich hätte dich genauso genommen, wie du bist…“

Marie versuchte den dicken Stein im Hals runter zu schlucken. ,,Es war meine eigenen Entscheidung. Das verstehst du nicht…“

,,Er hat seine Chance auf dich verloren!“ Seine Verzweiflung war genauso deutlich zu spüren wie zu sehen.

Und Marie wusste nicht, was sie glauben sollte. ,,Warum bist du zurückgekommen?“, fragte sie, um nicht länger bei diesem Thema zu bleiben, das drohte, ihre Gefühle noch weiter zu verdrehen. ,,Du wohnst in der entgegengesetzten Richtung.“

,,Wegen dir. Weißt du überhaupt, Marie, wie viel du mir in Wahrheit bedeutest?“ Sie wurde zu ihm gezogen und saß einen Augenblick später auf seinem Schoß. ,,Noch ist es nicht zu spät. Bitte den Zauberer, dich zurück zu verwandeln und komm mit mir.“

,,Das ist unmöglich...“, hauchte sie.

,,Ich liebe dich. Ich würde alles tun, um dir das klarzumachen.“ Seine Hände fuhren über ihren Rücken, gaben ihr Wärme, wo sie sie brauchte. Braune Augen machten ihr klar, wie nah sie sich waren. Sie fühlte sich zerbrechlich an seinem harten Körper, doch er hielt sie nur fest und betrachtete sie.

Ehe sie die Situation erkannte, küsste er sie. Marie schloss die Augen und wehrte sich nicht dagegen. Sie ließ es zu, dass seine Lippen die ihre berührten, dass sie vorsichtig und forsch zugleich sie ermunterten, es ihm gleichzutun. Sie küsste Gonzo und vergaß für einen Moment das Warum. Marie legte ihm die Hand auf die Schulter, griff an seinen Hinterkopf, spürte seine kurzen Haare seidig durch ihre Finger gleiten. Auf der Suche nach der Verbindung küsste er sie mit solch einer Inbrunst, dass sie sich begehrenswert und gut fühlte. Es geschah einfach und sie fühlte nichts dabei.

Das schlechte Gefühl überwog schließlich und ihre Vernunft kehrte in ihr Bewusstsein zurück, ließ sie realisieren, was sie hier auf dem Boden hockend taten. ,,Wir sollten aufhören“, wisperte sie an seinem Mund.

Gonzo öffnete die Augen und starrte sie verständnislos an. Ehe er sie festhalten konnte, nutzte Marie die Gelegenheit und befreite sich aus seiner Umarmung. Sie fühlte sich plötzlich unglaublich schlecht, als sie sich erhob und ein paar Schritte zwischen sich und ihm brachte. Als könnte sie es ungeschehen machen, wischte sie sich über die Lippen. ,,Es ist besser, ich gehe zurück.“

,,Zurück zu ihm.“ Es war keine Frage, sondern eine bittere Feststellung. Sie antwortete nicht. Was sollte sie auch?

,,Es tut mir leid, Gonzo“, sagte sie ihre letzten Worte, die gleichzeitig ein Abschied sein sollten. Marie wollte zurück zu den hell erleuchteten Fenstern gehen, da packte er sie am Arm.

Ihr Herz setzte aus. Marie riss die Augen auf, starrte ihn an. Wie von einem Windstoß davon getragen, verflog jegliches Vertrauen zu ihm.

,,Warum stößt du mich immer von dir? Bin ich dir nicht gut genug?!“ Schmerzhaft grub sich seine Hand in ihr Fleisch. ,,Antworte mir!“

,,Gonzo, bitte…“ Er ließ sie los, doch drängte sie zurück. Marie schluckte, bündelte ihren Atem. ,,Gonzo, hör mir zu. Du bist mein

Freund. Das eben war ein großer Fehler. Glaub mir, ich habe nie gewollt, dass du meinetwegen unglücklich bist, aber bitte versteh, dass ich Thorin liebe und akzeptiere meine Entscheidung.“

,,Und wenn ich das nicht kann?“ Etwas Düsteres und Bedrohliches schwang in seiner Stimme mit. ,,Wenn ich mehr will?“ Langsam kam er auf sie zu und dann war da wieder der Wolf, der sich ihr näherte. In seinen dunklen Augen stand lüsterne Begierde nach ihr. Eingeschüchtert ging sie rückwärts, bis sie die Hauswand im Rücken spürte.

Er ist unberechenbar und gefährlich. Halte dich fern von ihm. Hilfesuchend starrten sie an ihm vorbei, doch sie war ganz allein

mit ihm. Niemand war da.

Er kam immer näher. Marie blickte steil nach oben in sein Gesicht, welches sie gerade noch so im fahlen Licht erkennen konnte. Es war nicht die nächtliche Dunkelheit, die sein Gesicht überschattete, sondern jene Dunkelheit aus seinem Inneren, die jetzt aus ihm heraus und ans Licht trat.

Auf einmal öffnete sich die Tür vom Wirtshaus und eine riesige Hand presste sich auf ihren Mund. Ihre nackten Schultern wurden durch seinen Körper brutal gegen die raue Wand gedrückt. ,,Keinen Mucks.“

Gäste kamen aus der Tür, blieben noch plaudernd davor stehen. Mit angsterfüllten Augen starrte sie Gonzo an. Seine Hand lag auf ihrem Mund, so feste dass es weh tat. Er wagte nicht, zu atmen, starrte nur zu der Gruppe und ließ nicht zu, dass sie ihren Kopf drehte. Und so konnte Marie nur deren Stimmen hören. Inständig flehte sie, wenigstens einer würde sie entdecken und Gonzo zur Flucht verhelfen, doch sie standen einige Meter weit entfernt, dicht in den Schatten des Hauses gepresst. Niemand würde sie sehen.

Während sie zu dem Mann hinaufsah, in dem sie sich so fatal getäuscht hatte, musste sie mit anhören, wie die Stimmen sich entfernten. Nach einer Zeit nahm er langsam seine Hand weg und Marie all ihren verbliebenen Mut zusammen.

,,Thorin wird mich suchen, wenn ich nicht gleich wieder komme“, drohte sie ihm, doch ihre zitternde Stimme verriet ihre Angst.

,,Dein ach so toller Zwerg…“ Mit Wucht hob er ihre Hände über ihren Kopf, sodass ihre Fingerknöchel gegen die Wand schlugen. Ihr Mund öffnete sich zu einem erstickenden Ton, während Schmerz sich ausbreitete. ,,Er mag mich vielleicht besiegt haben, aber jetzt bin ich wieder nüchtern.“ Ein Bein gegen sie gedrückt, hielt er ihre Handgelenke nur noch mit einer Hand fest. Ihm machtlos ausgeliefert musste sie zuschauen, wie er an ihrer Wange, über die geflochtenen Strähnen ihres Zopfes und ihrem Hals entlang strich… Eiskalt lief ihr der Schauer über den Rücken. Zart und unbeschreiblich grausam zugleich.

Er beugte sich zu ihr, küsste ihren Hals, schmiegte seine Wange an sie. Seine Berührungen und seine Lippen lösten in ihr Ekel aus. ,,Meine Schönheit…“, flüsterte er mit kehliger Stimme, strich sehnsüchtig über ihre Haut. ,,Was hat er, was ich nicht habe?“

Sie musste mit ihm reden, bevor er völlig die Fassung verlor. ,,Gonzo, hör mir zu“, sprach sie so ruhig, wie es ihr in noch möglich war, auf ihren Freund ein, den sie nicht mehr erkannte. ,,Wir finden eine Lösung. Ich helfe dir dabei. Alles wird wieder gut.“

,,Er hat dich nicht verdient…“

,,Thorin wird dir nichts tun. Ich verspreche dir, dass ich dir verzeihen werde. Lass mich los…“

,,Damit du wieder zu deinem Zwerg rennen kannst?“, fuhr er ihr übers Wort. ,,Oh, nein. Einmal im Leben, nur ein einziges Mal möchte ich dich haben… und diesmal für immer.“

 

 

 

 

 

 

 

 

23

 

 

Ausdruckslos starrte Thorin auf sein Bier, den Krug fest umklammert, bis dessen Farbe zu einem undeutlichen Fleck wurde. Das Stimmengewirr um ihn herum war monoton und von keinerlei Bedeutung. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, die er am liebsten fortgewischt hätte. ,,Ich Idiot…“

,,Wird schon wieder“, nuschelte Dwalin und drückte ihm beharrlich die Schulter.

,,Thorin.“

Der Angesprochene hob den Blick, schaute zu Balin ihm gegenüber.

,,Lass ihr Zeit“, riet der alte Zwerg. ,,Sie kommt bestimmt gleich wieder.“

 

~

 

Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Marie war nicht mehr Herrin ihres Körpers. Sie wollte schreien - konnte es aber nicht. Sie wollte sich wehren - konnte nicht. Ihr Körper war wie Stein, wurde von seinem festgehalten. Ein ungeheurer Druck lastete auf ihren Handgelenken. In ihren Pulsadern pochte Todesangst.

,,Ach, nun doch leise wie ein Mäuschen? Hab ich dir die Sprache verschlagen?“ Sie konnte seinen Atem an der Stelle spüren, wo seine Lippen gelegen haben, zitterte am ganzen Körper. Pure Besessenheit sah sie in seinem wilden Blick. ,,Meine Schönehit…Keine Angst. Wenn du artig bist, dann verspreche ich dir, tut es auch nicht weh…“, säuselte er, beugte sich tiefer und schob seine freie Hand unter ihren Rock.

Marie schrie innerlich auf. Sie trat nach ihm, doch er stellte seinen Fuß an ihren und schob so ihre Beine auseinander. Sie versuchte, sich zu wehren, doch gegen sein Gewicht kam sie nicht an. Angst hämmerte in ihr, ließ sie keinen klaren Gedanken mehr fassen, als seine große Hand den Weg zu der Stelle fand, wo sich ihre Schenkel vereinten. Sie schluchzte auf, biss die Zähne aufeinander. ,,Bitte...hör auf.“

,,Ich fang doch gerade erst an…“ Heiß liefen ihr Tränen übers Gesicht.

Wieder ging die Tür der Kneipe auf, aber Gonzo achtete nicht darauf. Er hatte nur noch Augen für sie. Während er anfing sie zu streicheln, küsste er ihr Dekolleté. Panisch schaute Marie die Gasse hoch. Jemand war aus der Tür getreten und gab ihrer Stimme die Kraft zurück.

,,Thorin!!“ Ihr Kopf schlug gegen die Wand, als er eine Hand auf ihren Mund pressen wollte. Benommen sank sie zu Boden und spürte eiserne Kälte. Die Steine unter ihr vibrierten von mächtigen Schritten, die auf sie zugerannt kamen. ,,Thorin…hilfe…“

Was dann geschah, bekam sie nur schemenhaft mit.

,,Du Bastard!!“ Kraftvoll wurde er nach hinten gerissen, weg von ihr. Irgendwie schaffte es Gonzo dabei, Thorins Kopf zu fassen. Er packte ihm in die Haare, zog ihn von sich.

Vor Schmerz öffnete sich sein Mund zu einem Schrei, ehe er zu Boden geworfen wurde. Gonzo wollte zum Tritt ausholen, doch er rollte sich zur Seite, sprang wieder auf die Beine und bekam stattdessen einen Faustschlag zu spüren. Thorin konterte sofort.

Am Boden liegend sah Marie machtlos zu, wie sich die beiden gnadenlos schlugen. Doch Gonzo war stärker als vorhin. Mit einem riesigen Haken schlug er ihm gegen die Schläfe und ließ ihn taumeln. Dicke Arme schlossen sich von hinten um Thorins Nacken und Hals. Er fing an zu röcheln, konnte nicht atmen. Nein!! Marie wollte aufstehen, zu ihm, ihm helfen, doch jegliche Kraft war von ihm aus ihrem Körper getrieben worden. Hör auf! Hör auf, ihm weh zu tun! Bitte! Sie machte den Mund auf, doch ihre Schreie fanden nicht den Weg aus ihr.

Mit einer Hand versuchte Thorin an seinen Stiefel zu kommen. Noch enger drückten sich die Arme um seinen Hals, wollten ihm das Leben austreiben. Es presste ihm immer mehr die Luft aus dem Leib. Mit aller Macht versuchte er, seinen Griff zu lockern, zu atmen, spürte nichts als Schmerz. Er nahm sich zusammen, zog das Bein hoch. Im nächsten Moment blitze etwas hellmetallisch in der Nacht auf. Dann schrie Gonzo. Thorin hatte ihm einen Dolch ins Bein geschlagen.

Er ließ ihn los und konnte sich gerade noch auf den Beinen halten. Auch Thorin stolperte von ihm weg und fuhr mit sprühenden Augen herum. ,,Wie kannst du es wagen?!“

Blut quoll schwarz im fahlen Licht aus dem tiefen Einstich. Auch aus seiner Nase strömte Blut, lief ihm über die Lippen. ,,Wie ich es wagen kann? Wie kannst du es wagen, einfach hier aufzutauchen und Marie dir zu nehmen?“, zischte er und hielt sich den zitternden Oberschenkel. Sein Gesicht verzog sich zu einem zynischen, wilden Lächeln. ,,Aber eben…eben gehörte sie mir. Sie hat mich geküsst, Zwerg. Sie wollte es auch und hat es genossen…“

Noch genau drei Sekunden lang blickte Thorin ihn an, dann krachte es an Gonzos Gesicht. Mit einem gewaltigen Schlag wurde er zu Boden geschleudert. Wie in einem Rausch holte er aus und rammte ihm seinen Stiefel in den Bauch. Immer und immer wieder bohrte sich der Stiefel in den Körper. Es machte ein Geräusch, als eine Rippe brach.

,,Thorin!! Hör sofort auf!“ Es war Gandalfs raue Stimme, die von irgendwo her rief. Mehrere Hände packten ihn sogleich. Die Zwerge mussten Thorin mit aller Macht weg zerren, der wie ein Berserker tobte.

Zwischen all seinem Zorn sah Marie einen nie gesehen Ausdruck in seinen Augen, der von einer glühenden Dunkelheit überschattet wurde, ehe sich kräftige Arme auch unter ihren Körper schoben. Sie hoben sie hoch, trugen sie schwerelos durch die Nacht. Fort von Dunkelheit und zum Licht hin.

Stöhnend wandte sich Gonzo am Boden und spuckte ein Schwall Blut. Blut floss auch aus seinem Bein, breitet sich wie Pech auf den Steinen aus.

Gandalf war zu Thorin gekommen und bemaß ihn mit einem strengen, fast schon wütenden Blick. ,,Was ist in dich gefahren?“

Doch dieser konnte nur auf seinen Gegner starren, die Augen wild aufgerissen, die Zähne entblößt. ,,Er hätte den Tod mehr als verdient!“, schrie er vom Hass ergriffen und schlug um sich, wurde jedoch festgehalten. ,,Dieses Schwein hat sich an Marie vergriffen!“

Lange schaute der Zauberer auf Gonzo hinab. Indem er Thorin ansah, sich danach schweigend abwendete und ging, besiegelte er dessen Schicksal.

Dwalin, Nori, Kili und Gloin, die ihren Anführer zurück gehalten hatten, sahen sich an und ließen los. Sofort stürzte sich Thorin auf ihren Peiniger, riss ihm den Dolch aus dem Bein und legte ihn an seiner Kehle an.

 

~

 

,,Weg da! Lasst mich durch!“ Über sich sah sie blonde Zöpfe, dahin huschende Balken und Dielen. Lichter. Fili blickte zu ihr hinab. ,,Keine Angst, du bist jetzt in Sicherheit.“

Sie lag in seinen Armen, während er sie im, ein wenig leerer gewordenen Wirtshaus zurück zu ihrem Tisch trug. Ein paar Zwerge kamen ihm entgegen, streckten helfend die Arme aus. ,,Geht schon“, murmelte er und setzte sie behutsam auf ihren Platz, wo Dori ihr Thorins Mantel umlegte. Bilbo und die restlichen Zwerge schauten sie mit besorgten, fast schon panischen Gesichtern an.

,,Was ist passiert?“ Bofur kam zu Marie geeilt, setzte sich neben sie und legte ihr einen Arm um den Rücken. Schwach fiel ihr Körper an ihn.

,,Gonzo“, sagte Fili nur düster und setzte sich auf ihre andere Seite, um sie zu stützen.

Oin verscheuchte Bofur wie eine lästige Fliege. ,,Lass mich zu ihr! Marie, tut dir etwas weh?“ Kurz klappte er ihr ein Augenlied hoch, fasste an ihre Pulsadern.

,,Mein Kopf…“

,,Holt mal jemand einen kalten Lappen“, kommandierte der Grauhaarige, woraufhin Bofur los stolperte und zusammen mit Gandalf wieder kam.

,,Wie geht es ihr?“, fragte er Oin, der ihr den Lappen an den Hinterkopf legte.

,,Kann ich noch nicht sagen. Schwächeanfall. Mit Schock wahrschein.“

Marie starrte auf ihre Hände. Blut trat aus ihren aufgeschürften Fingerknöchel. Sie sah Oins Hände, wie sie sie nahmen, den Lappen, mit dem er das Blut wegtupfte. Was hatte sie getan?

Nori, Kili, Gloin und Dwalin kamen zurück zu ihrem Tisch und Marie fragte nach Thorin. Ihr war so schlecht, dass sie glaubte, sich jeden Moment übergeben zu müssen.

,,Mach dir keine Sorgen“, beschwichtigte Gloin sie. ,,Er kommt gleich.“ Kaum hatte er ausgesprochen flog wahrlich die Tür auf und Thorin stürmte herein. Eingeschüchtert traten die Gäste von selbst beiseite, ohne dass er etwas sagen brauchte.

Oin und die anderen machten ihrem Anführer eilig Platz, der sich neben ihr auf die Knie fallen ließ. ,,Sieh mich an! Sieh mich an!“ Er nahm ihr blasses Gesicht in seine Hände, strich mit den Daumen über ihre Wangen. Sein Körper war aufs äußerte angespannt, zitterte, seine Augen groß und von Sorge erfüllt.

,,Thorin…ich hatte solche Angst“, schluchzte Marie und presste sich an seine Brust.

,,Er wird dich nie wieder anfassen.“

 

~

 

Weich schmiegte sich Fell um ihre Schultern, starke Arme hielten sie fest, als würden sie sie von der Welt verschließen wollen. Sie lauschte der Musik, den Stimmen im Saal und versuchte, ihr Herzschlag zu beruhigen. Bei ihm verspürte sie keine Ängste, sondern Geborgenheit. Bei ihm fühlte sie sich am sichersten Ort der Welt.

,,Thorin, wir müssen von hier verschwinden“, sprach jemand eindringlich zu ihm, was Marie jedoch kaum wahrnahm.

Sie merkte, wie Thorin sein Gewicht verlagerte, sie weiterhin fest auf seinem Schoß hielt, und etwas antwortete. Dann nahm er sein Kinn von ihrem Kopf und zog ihr den Mantel dichter über die Schulter. ,,Marie.“ Etwas berührte ihre Wange. ,,Wach auf, Marie.“

Nur träge konnte sie durch die hämmernden Schmerzen an ihrem Hinterkopf die Augen wieder öffnen. ,,Wo sind die anderen?“ Ganz alleine saß sie mit ihm am Tisch.

,,Sie sind nacheinander aufgebrochen, damit unser Verschwinden nicht allzu sehr auffällt. Sie warten an einem Treffpunkt auf uns“, erklärte er ihr knapp. ,,Kannst du gehen?“

,,Ich denke, ja.“ Mit einem beherzten Griff in die Tischkante steuerte Marie gegen den sich drehenden Saal. Thorin half ihr, ihren Umhang umzulegen und sie fasste seinen Arm. Sie musste es wissen. ,,Was hast du mit ihm gemacht?“ Sie wusste es schon, hatte es an seinem ganzen Sein gespürt. Sie brauchte nur die Gewissheit.

Mit einer Maske, die sein Inneres verschloss, und aus eiskalten Augen sah der Zwerg sie an. ,,Ich habe ihn getötet.“

Marie nickte einfach nur, versuchte, nichts zu fühlen.

,,Komm, lass uns gehen.“ Er ergriff ihre Hand, warf sich die Kapuze über, um seine aufgeplatzte Augenbraue zu verbergen und führte sie eilig zur Tür. Erst an der Garderobe warf er einen Blick zurück, ehe sie durch die Tür nach draußen huschten.

Es war schon nach Mitternacht und die Kälte noch bitterer geworden. Marie zog ihren Umhang enger an sich, die Kapuze wie er über den Kopf und versuchte, mit ihm schrittzuhalten. Thorin zog sie hinter sich her, sah sich mehrmals nach allen Seiten um. Nach einigen Metern jedoch blieb sie stocksteif stehen. Und abermals lief es ihr eiskalt über die Haut.

,,Sieh nicht hin.“ Doch sie hatte hingesehen und nun wurde ihr übel. Schnell presste sie das Gesicht an Thorin, der den Arm um sie legte und sie weiter führte, vorbei an der reglosen Gestalt und dem Blutfluss, der durch die Rillen der Pflastersteine verlaufen war.

Am Rande des Dorfes stießen sie auf die bereits wartenden Gefährten. Mit einem kurzen Nicken signalisierte ihr Anführer den Aufbruch. Die Nacht gab ihnen Deckung, als sie in den Feldweg einbogen und das schlafende Dorf hinter sich ließen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

24

 

 

Das helle Leuchten, welches sie begleitet hatte, erlosch aus dem Stab des Zauberers, als das Herumdrehen des Schlüssels im Schloss die Stille des Hauses beendete.

Der Kamin wurde erneut angefacht, Kerzen wurden angezündet, deren Flammen sanft den Wohnraum säumten. Hier, zurück im Haus fiel das Geschehen des Abends über alle herein. Die Männer wirkten nachdenklich und bedrückt, die meisten machten sich stumm daran, Stiefel und Mäntel abzulegen.

Thorin sah zu Dori hinüber, der sich am Fenster in der Küche positioniert hatte und gerade ,,alles ruhig“ raunte.

,,Glaubst du, sie sind hinter uns her?“, fragte Fili beunruhigt.

,,Ich denke nicht, aber wir können uns keine Anklage wegen Mordes leisten.“ Er sah zu Marie. In sich gekehrt wirkte sie, als könnte sie das Geschehene noch nicht vergessen. Sie stand vor dem Feuer und betrachtete ihre Hände, deren Knöchel von Oin in Taschentücher gewickelt worden waren, während die Männer um sie herum ihre Schlaflager bereiteten.

,,Dieser Hurensohn…“, zischte Kili und verursachte Gemurmel und unterdrückte Flüche unter den anderen.

,,Warum habt ihr mich vorhin zurückgehalten?“, knurrte Dwalin und rieb sich die tätowierten Fingerknöchel. ,,Ich hätt‘ ihm Arme und Beine ausgerissen. Dann hätte er sie nicht anfassen können, dann hätte er nix mehr anfassen können, das schwöre ich euch.“

Als könnte er sie davon abschirmen, trat Thorin zu Marie und legte ihr vorsichtig eine Hand an die Seite. ,,Geh nach oben. Ich werde gleich nachkommen.“ Er drückte ihr einen flüchtigen Kuss an die Schläfe. Sie sah zu ihm hinauf und versuchte sich an einem Lächeln, was ihr jedoch kläglich misslang. Er sah ihr nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwand. Seufzend wandte er sich dann an seine Männer. ,,Versucht zu schlafen. Die Nacht wird kurz und der Weg ist noch lang bis zum Erebor.“ Als auch er zur Treppe gehen wollte, erhob sich Gandalf von der Bank, auf der er gesessen hatte, und Thorin befürchtete, nun doch verurteilt zu werden für das, was er getan hatte.

,,Balin gab dir den richtigen Rat“, sprach der Zauberer zu ihm. ,,Sie wird dir die mächtigste Kraft geben, die es gibt. Nutze diese für das, was bevorstehen wird.“

Thorin nickte und erwiderte nichts.

 

~

 

Es gab ein kurzes, zischendes Geräusch, als das Ende des Zündhölzchens auffachte, sich in ein zartes Flämmchen wandelte. Schnell legte Marie eine Hand davor und beugte sich zur Kerze, die auf ihrem Nachttisch stand. Sie hielt das Hölzchen an den Docht, der kurz darauf ihr Zimmer mit einem warmen Schein erhellte. Gedankenversunken schlich sie barfuß zum Fenster und schaute in den schwarzen, sternenlosen Nachthimmel. Immer noch sah sie seinen Blick über sich. Vergöttert. Beinahe flehentlich. Besessen. Und dann, als sie sich ihm verweigert hatte… Marie schloss die Augen und legte die Arme um sich selbst. Wie konnte man sich in jemanden so irren, dem man Vertrauen geschenkt hatte?

Schwere Schritte kamen die Treppe hinauf und rissen sie aus ihren Gedanken. Thorin trat ein und schloss die Tür hinter sich. Allein mit ihm in einem Raum.

Marie nahm einen tiefen Atemzug und setzte sich auf die Bettkante. ,,Ich denke, wir sollten reden.“

Während die anderen sich bereits ihre Mäntel im Haus entledigt hatten, stand der schwarzhaarige Zwerg noch in voller Montur im Raum. ,,Das denke ich auch“, antwortete er und trat näher, setzte sich jedoch nicht zu ihr, sondern blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. ,,Er sagte, du hättest ihn geküsst…freiwillig. Ist das wahr?“

,,Ja…es ist wahr.“

Es fühlte sich wie ein Messerstich direkt ins Herz an. Thorin drehte sich von ihr weg, konnte das Knurren in seiner Kehle nicht unterdrücken. Die Enttäuschung nicht verbergen.

Marie sprang auf. ,,Ich war so wütend und…furchtbar enttäuscht! Ich war überfordert mit der Situation. Aber es hatte nichts zu bedeuten, rein gar nichts! Es war nur ein Kuss.“

,,Nur ein Kuss“, er drehte sich wieder um. ,,Marie…ist dir klar, was du mir damit antust?“ Thorin berührte ihre Wange und sie drückte ihren Kopf in die warme Fläche seiner Hand. ,,Als ich dich schreien gehört habe…da hatte ich Todesangst um dich.“

Seine Worte und der Anblick des aufgeplatzten Hemmatoms an seiner Augenbraun trieben ihr abermals die Tränen in die Augen. ,,Ich hatte ebenso Angst um dich. Dass er dich tötet.“

Ja, er hatte es genossen. Zu sehen, unter seinen eigenen Händen zu spüren, wie das Leben aus diesem Menschen wich. Wie ein Schwein hatte er ihn ausbluten lassen. Er hatte das bekommen, was er verdiente. Eine angemessenere Strafe gab es nicht für das, was er ihr angetan hatte. Sein Inneres erweichte sich, als er Maries Reaktion merkte, und er zwang sich, tief auszuatmen.

,,Ich konnte nicht zulassen, dass dieser Mistkerl ungestraft davon kommt“, sagte er laut. ,,Ich nahm sein Leben für deines. Er hätte dich genauso töten können. Verstehst du?“

Nur zögerlich nickte sie. ,,Du hattest recht. Du hast gesagt, ich solle mich von ihm fernhalten und ich…“ Tränen ließen ihren Blick verschwimmen.

,,Komm her zu mir.“

Seine warmen Worte erreichten kaum ihr Ohr, da presste sie sich bereits an ihn, um nicht in einem Weinkrampf auszubrechen. ,,Es tut mir so unendlich leid, ich bereue es so sehr…“

,,Sch-sch-sch-sch...“ Noch fester legten sich seine Arme um sie. ,,Solange ich atme, verteidige ich dich.“

Die Schmetterlinge trauten sich endlich wieder hervor und bewegten ihre Flügel im Schutze des Königs. Marie zog den Kopf zurück, damit sie ihn anschauen konnte, und hob die Hand, strich liebevoll über sein Kinn. ,,Wieso musstest du es mir auf diese Weise mitteilen, was du mir schon viel früher hättest sagen müssen?“

,,Weil ich nicht konnte. Als wir gemeinsam am Fluss standen… Die Worte lagen wie Stein in meinem Hals.“ Er schluckte schwer und begann, ihre Verbände aufzuknoten.

Marie sah seinen schwieligen Händen zu, die so behutsam damit umgingen, wie man es so einem Mann niemals zugetraut hätte. Die Vorsicht, mit denen er den Stoff von ihren Verletzungen löste, wirkte geradezu tröstlich auf sie.

,,Ich habe es zu lange hinausgezögert, weil ich nicht wahrhaben wollte, dich wieder verlassen zu müssen.“

,,Ich…ich will nicht, dass du gehst“, flüsterte sie fast unhörbar. ,,Ich will dich bei mir haben.“ Tränen liefen ihr übers Gesicht.

Thorin zerriss es das gepeinigte Herz. Er umschlang sie mit den Armen und Marie legte den Kopf an seine Schulter, vergrub sich im flauschigen Fell seines Mantels. ,,Ich muss das Reich meiner Väter zurück erobern. Es ist meine Bestimmung. Der Thron Erebors ist mein Erbe.“

,,Ich will dich aber nicht wieder verlieren, nicht noch einmal.“

,,Das wirst du nicht. Nie mehr. Ich werde wiederkommen.“

Sie starrte ihn an, die Augen vor Angst geweitet. ,,Du sagst das so leicht, als wäre es nichts. Aber du irrst dich, Thorin, wenn du denkst, dass du mich damit beschwichtigen kannst. Was ist, wenn du nicht wieder kommst? Thorin, ich habe Angst um euch… Angst um dich, dass ich dich für immer verlieren könnte… Die Chancen, dass du überlebst – dass ihr alle überlebt, stehen gen Null. Smaug… Er bringt dich um…“

,,Marie.“ Er nahm ihr Gesicht in seine, von Arbeit und Kampf, gerauten Hände. Weitere Tränen liefen auf seine Daumen, den zitternden Körper an seinen gepresst. ,,Ich werde alles daran setzten zurückzukehren“, flüsterte er. ,,Und dann nehme ich dich mit nach Erebor.“

Sie griff fest nach seinen Unterarmen. ,,Lasst mich mit euch ziehen.“ Noch ehe er etwas dagegen sagen konnte, fügte sie hinzu: ,,Ich werde schnell lernen, wie man eine Waffe führt - du wirst es mir beibringen. Ihr werdet gar nicht merken, dass ich da bin und wenn, dann…“

,,Nein, Marie.“ Sanft aber bestimmt fasste er ihre Hände, um sie zum Zuhören zu bewegen. ,,Die Wildnis ist zu rau und unberechenbar. Ich würde dich niemals dieser gleichen Gefahr aussetzen.“ Entmutigt senkte sie den Blick und Thorin legte einen Finger unter ihr Kinn und hob es an. ,,Hier bist du in Sicherheit. Hier weiß ich, wo du bist. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir noch einmal etwas zustoßen würde.“

Ehe er wieder ihr Gesicht berühren konnte, befreite sie sich von ihm. ,,Ich könnte es ebenso nicht ertragen, wenn du stirbst!“, rief sie und schlug eine Hand vor dem Mund, als sie laut aufschluchzen musste. Der Gedanke daran war einfach zu schrecklich.

Sein Herz zersprang endgültig. Es quälte ihn, sie so zu sehen, zu sehen, wie sie litt. Doch genau wie sie, litt auch er.

Er hatte sie gesehen, wie sie an der Wand gedrückt vor ihrem Peiniger gestanden und was dieser mit ihr getan hatte. Nie könnte er ertragen, sie noch ein einziges Mal in Gefahr zu sehen.

Er musste sie hier lassen in der Ungewissheit, ob er sie je wieder sehen würde. Eines wusste er aber: sie sollte nicht ihr ganzes Leben lang traurig bleiben. Wenn die Zeit kommen würde, dann musste sie ihn loslassen. Und diesmal endgültig.

Bittend streckte er die Hand nach ihr aus und Marie überwand sich und kam zurück in seine Umarmung. ,,Wenn ich nach einem Jahr nicht zurück gekehrt bin…“ Langsam schaute sie auf, die grünen Augen weit aufgerissen. Still rollten die Tränen über ihre Wangen. ,,…dann musst du mich vergessen.“

Irgendetwas brach in ihr zusammen. Leblos segelten ein paar Schmetterlinge zu Boden. ,,Nein…“

Auch in seinen Augen flackerte es. Er versuchte, das Beben in seiner Stimme zu unterdrücken. ,,Wenn ich sterbe, musst du dein Leben weiter leben.“

,,Nein. Nein, nein! Das kann ich nicht…“ Abermals presste sie sich an ihn, als sie von einem Weinkrampf erfasst wurde. Das war das Schlimmste, was für sie passieren könnte: ihn zu verlieren und dann vergessen zu müssen.

,,Ich will, dass du lebst, bitte.“ Seine Stimme war heiser und leise, gab seine Schwäche preis. Noch fester legten sich seine Arme um sie, machten ihr das Atmen schwer. Lange Zeit standen sie einander festhaltend vor dem Fenster.

,,Das kann ich nicht“, wisperte Marie. ,,Man hatte mir gesagt, ich sollte dich loslassen. Immer wieder sagte man es mir… doch ich habe es nie getan.“ Sie hob den Kopf. ,,Ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, dich wiederzusehen, und ich werde es auch jetzt nicht tun. Befreie dein Königreich, hol dir deinen Thron und dein Gold zurück… und bitte, kehre dann wieder zurück zu mir. Bitte, komm zurück.“ Die letzten Worte flüsterte sie flehend.

,,Das werde ich. Ich liebe dich.“

,,Ich liebe dich auch…für immer.“

,,Für immer.“ Dann besiegelte er dieses gegenseitige Versprechen mit einem Kuss, der für die Ewigkeit gelten sollte.

Auf einmal blitzte etwas in seinem rechten Augenwinkel. Thorin blickte auf und sah zwei Lichter über den Himmel schießen. ,,Schau, Sternschnuppen.“

Marie schniefte, wischte sich mit den Ärmeln übers Gesicht und schaute aus dem Fenster. Wie helle Feuerbälle glühten sie in der Dunkelheit und gaben dem Himmel Leben. Sie verschwanden und hinterließen hellblaue Streifen in der Nacht, wie zwei Narben. Während sie zusahen, verblassten sie immer mehr und waren wenig später ganz verschwunden.

Dicht hinter sie stellte sich Thorin, legte die Hände um ihren Bauch. ,,Wünsch dir was.“

Sie schloss die Augen. Nur ein einziger, sehnlicher Wunsch lag schwer in ihrem Herzen, den sie in ihren Gedanken bewahrte. Ich wünsche mir, dass du zu mir zurück kehrst…

Thorin beugte den Kopf und küsste ihr den Nacken, in der Hoffnung, sie dadurch etwas zu trösten.

Ein warmer Schauer lief über ihren ganzen Körper, als sie seinen Atem spürte. Er schob den schweren Zopf zur anderen Seite, küsste sie auf den Hals. Sein dichter Bart und seine Küsse waren federleicht, ließen Ruhe durch sie hindurch strömen. ,,Was hast du dir gewünscht?“, fragte sie, genoss seine Liebkosung.

,,Dich.“

Marie öffnete die Augen. Langsam drehte sie den Kopf, sah direkt in seinen, mit Liebe erfüllten Blick.

,,Ich will dich hier und jetzt, für alle Zeit, mein Leben lang.“ Wieder küsste er ihren Hals, wobei seine Zähne an ihrer Haut zupften. Genussvoll legte sie den Kopf zur Seite, um ihn frei gewähren zu lassen, denn es bedurften keine Worte. Sie beide erfüllte die gleiche Leidenschaft.

Seine Hände strichen über das samtige Mieder, fanden die Schnürung und fädelten sie auf. Es öffnete sich und er ließ das ebenholzfarbende Kleidungsstück zu Boden fallen, knöpfte, während er eine Spur aus Küssen über ihren Hals zog, mit sinnlicher Langsamkeit die drei kleinen Knöpfe auf. Mit pochendem Herzschlag lockerte Marie den Rock, zog die Arme aus den Ärmeln und schon fiel ihr Kleid geräuschlos in sich zusammen und sie stand nackt vor ihm.

An ihrem Rücken kitzelte eine der Fellscherpen, weckte in ihr unaussprechliche Sinnlichkeit. Sie konnte seine Wärme, seinen schweren Atem und seinen Blick spüren, der ihren Körper in Flammen setzte.

Als sie sich umdrehte, sah sie in funkelnde Augen, ehe Thorin hinter ihr Genick griff und sie gierig und besitzergreifend küsste. In ihren beiden Körpern brach heißes Verlangen nach dem anderem aus. Ihre Hände tasteten zu seinen Gürtel. Er kam ihr zur Hilfe, ohne den Mund von ihrem zu nehmen und schweres Metall fiel polternd in der Stille auf die Dielen.

Sie zerrte ihm den Mantel von den Schultern, sah, wie er selbst die Schnallen der Armschützer öffnete, sie abstreifte und fallen ließ. Nur wiederwillig lösten Thorin sich von ihr, als er sich das gepanzerte Oberteil auszog. Mit zitternden Fingern machte sie die Kordeln seines Hemdes auf, zerrte es ihm ebenfalls ungeduldig über den Kopf. Schwarze Achselhaare kamen für einen Augenblick zum Vorschein. Und als er mit nacktem Oberkörper vor ihr stand, hielt sie einen Moment lang fasziniert inne.

Pechschwarze Haare hatte er auf der muskulösen Brust, die im Kerzenlicht orangen schien. Die Naht an seiner linken Schulter war durch seine helle Haut deutlich zu erkennen. Ein Streifen Haare führte ihren Blick von seinem Nabel über seine leicht zu erkennenden Bauchmuskeln hinab zu seinen Lenden. Um seinen Hals lag ihre Kette, die sie ihm einst in einem gefühlten anderen Leben geschenkt hatte.

Ehrfürchtig legte Marie die Hände auf seine Brust und sah zu ihrem König hinauf, öffnete die Lippen zum Kuss. Sogleich verschloss er sie mit den seinen. Starke Arme schlangen sich um ihren nackten Körper, drückte sie an sich, sodass sie seine Erektion an ihrem Bauch spürte. Seine Zunge drängte sich in ihren Mund und Marie nahm ihre einladend zurück. Dann umkreisten sie sich, streichelten einander sanft, vollführten ihren Tanz. Er leckte ihr über die Lippen, saugte an ihnen, nahm sie zwischen die Zähne und Marie wimmerte vom süßen Schmerz. Der Kuss schmeckte nach dem Salz ihrer Tränen.

Um sich Stiefel und Socken von den Füßen zu reißen und sich die Hose gleich samt Unterhose auszuziehen, musste er sich von ihr lösen. Sofort trat er wieder zu ihr und in seinem Blick lag glühendes Verlangen allein nach ihr. Fest legten sich seine Hände unter ihre Oberschenkel und hoben sie schwerelos hoch.

Wie von selbst schlang sie Arme und Beine um ihn und Thorin trug sie zum Bett, zog mit einer Hand die Decke hinunter, legte sie in die Mitte und sich daneben, damit er sie betrachten konnte. Seine Augen wanderten genussvoll über ihren Körper. Makellose, reine Haut war von keiner Narbe gezeichnet. ,,Wie schön du bist“, raunte er und küsste sie.

Langsam wanderte seine Hand von ihrem Hals tiefer und Marie sehnte sich quälend nach mehr, danach, dass er sie am ganzen Körper berührte, sehnte sich nach ihm. Endlich strichen seine Finger über ihre linke Brust, berührten ihre Brustwarze, die unter seiner Berührung hart wurde. Erregung lief über ihre Oberschenkel bis über ihre Schienbeine in ihre Knöchel hinein und hallte gleichzeitig in ihrem Unterleib wieder.

Sie presste ihre Lippen auf seine, drückte sich gegen seine Hand, um dieses schöne Gefühl vollauszukosten. Er verstand ihre Bitte, umfasste ihre Brust und nahm ihre Knospe zwischen Daumen und Zeigefinger. Marie stöhnte leise und begegnete seinem Blick.

Um auch ihm Lust zu bereiten, fuhr sie über seinen Körper, seine Taille, seine Brust. Die schmale Spur aus Haaren führte sie tiefer, bis ihm ein heiserer Laut entfuhr, als ihre Finger über seinen Schoß strichen und sich um das feste Fleisch legten.

Dadurch, dass sie nah beieinander lagen, konnte sie nichts sehen. Doch dafür spürte sie ihn umso mehr. Es fühlte sich wie ein mit Samt umwickeltes Eisen an. Thorin schloss die Augen und schwoll unter ihren geschickten Berührungen noch weiter an. Wie lange hatte er sich danach gesehnt?

Sanft drückte er sie auf den Rücken, sodass er nun über sie lehnte. Die Metallverschlüsse seiner geflochtenen Zöpfe streiften ihre Brust, irgendwo dazwischen baumelte die Kette. Thorin rückte zwischen ihre Beine, beugte sich nach vorn und schob sich küssend zwischen ihren Brüsten über ihren Bauch immer tiefer, umkreiste langsam ihren Nabel, ihren Unterleib…

Wie benebelt vom prickelnden Gefühl, stütze Marie sich auf die Ellenbogen und öffnete den Mund, als sie sah und merkte, wie er behutsam ihre Scham küsste. Kein Mann hatte sie dort je geküsst, weder er noch Greg. Noch weiter schob er ihre Beine auseinander, küsste die Innenseite ihrer Schenkel, schmeckte und liebkoste ihre weiche Haut und in ihrem Unterleib zog sich jeder Muskel zusammen.

Bis in jede Haarspitze erregt lehnte sie sich zurück ins Kissen und sogleich legte der Zwerg eine Hand auf ihren Bauch. Sein Bart hüllte ihre Scham förmlich ein. Dann spürte sie seine heiße Zunge. Marie schrie leise auf und krallte die Nägel ins Laken.

Bei ihrer heftigen Reaktion vergrub er seinen Kopf zwischen ihren Beinen und drang mit der Zunge in sie ein. Warme Feuchte breitete sich aus. Ihr Geschmack war mit nichts anderem auf der Welt vergleichbar, anders als alles, was es gab, aber einfach nur schön. Immer noch griffen ihre Hände fest in das Laken, als sein Atem sie wärmte. Er küsste ihre intimste Stelle, leckte, saugte und knapperte behutsam und zärtlich, sodass sie, ihm völlig dargeboten vor ihm liegend, sich vor Lust wandte, doch seine Hand hielt sie unten, wenn sie sich unter seinen Berührungen aufbäumte. Fast raubten ihr Stöhnen und ihr Anblick ihm den Verstand.

Ihr Körper bebte, als er ihr Geschlecht schließlich mit der anderen Hand umfing und seinen Mittelfinger langsam in sie hinein gleiten ließ. Seine Zunge rieb über ihre Knospe, seine Fingerspitze streichelte das zarte Gewebe im Inneren und Marie warf den Kopf zurück ins Kissen und streckte sich ihm verzweifelt entgegen. Ihre Füße zerfurchten das Laken, als er sie an den Rand des Wahnsinns brachte. Sie begann zu zittern und er erlöste sie von der sinnlichen Folter.

Thorin zog sich zurück und setzte sich auf die Knie. Herrlich träge vor Lust schaute Marie auf und sah ihn an, als hätte er etwas Verbotenes getan. Sofort fiel ihr Blick auf seine Lenden und sie bekam einen trockenen Mund bei dem Anblick seiner schweren Hoden und seinem erregten Glied.

Er folgte ihrem faszinierten Blick und konnte das unsagbar schöne Grün in ihren Augen und die Röte auf ihren Wangen leuchten sehen. Thorin beugte sich über sie, die Hände zu beiden Seiten ihres Kopfes und verharrte mit brennendem Blick über ihr. Dann beugte er sich zu ihr hinab, küsste sie. ,,Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich will?“, raunte er nah an ihren Mund.

Vor Lust seufzte Marie, als sie ihn spürte. Sie winkelte die Beine an, wollte ihn endlich in sich spüren. ,,Zeig mir, wie sehr.“

Er fasste unter ihren angewinkelten Schenkel, sah ihr tief in die Augen, während er seine Hüfte vor schob. ,,So sehr.“

Ihre Pupillen weiteten sich, als sie seine unvorstellbare Härte spürte. Ihr Mund öffnete sich ohne einen Ton. Marie legte ihre Hände an seine Rippen, an sein Herz, und schloss die Augen, als die Muskeln in ihrem Unterleib ihn sehnsüchtig umklammerten und um diesen Moment zu genießen, von dem sie bis vor wenigen Tagen noch dachte, er würde sich nur noch in ihren Träumen abspielen.

Direkt drang er ganz in sie ein, füllte sie scheinbar komplett aus, wobei er ein Keuchen ausstieß. Neben ihrem Kopf legte er seine muskulösen Unterarme, stütze sich dicht über sie darauf ab, als er mit langen und tiefen Bewegungen begann, sich zu bewegen.

Er spürte, wie sie sich entspannte, spürte sich tief in ihr, tief und untrennbar mit ihr verbunden. Marie schlang die Arme um seinen Nacken, die Stirn gegen seine gepresst, sodass ihre Lippen sich fast berührten. Flehend drückte sie ihm das Becken entgegen und er folgte ihrem Wunsch nur allzu gern. Wieder trafen ihre Lippen aufeinander, öffneten und schlossen sich leidenschaftlich und ließen Marie sich selbst schmeckten. Schubweise mit den Stößen, die schneller und roher wurden, prallte sein heißer Atem an ihr Gesicht. Mit jedem Stoß spürte sie ihn tief in sich, schloss die Augen und vergrub die Finger in seinen langen Haaren, während seine Zunge ihre Mundhöhle einnahm. Ihre Hände wanderten über seine Schultern, fühlten feste Muskeln. Hier und da war seine Haut von Narben durchbrochen. Gern hätte sie die Geschichten dazu gehört, hätte mit ihm gelacht und ihn festgehalten, wenn er von schweren Zeiten gesprochen hätte.

Eine hauchdünne, salzige Schicht bildete sich auf ihren Körpern, die eins geworden waren. Haut an Haut. Heiß und feucht.

Gedanken beider zerfielen… nur noch reines Gefühl. Es gab nur noch sie…nur noch ihn…nur noch sie beide. Vereint.

In seiner Brust merkte Thorin sein Herz hämmern, fühlte, wie ihre Hände über seinen breiten Rücken fuhren. Neben ihrem Kopf krallte er sich in die Bezüge, um noch härter zuzustoßen.

Wie ein Gewitter, welches man schon am Horizont sehen konnte und wo man wusste, dass es gleich anfängt zu Donnern, verspürte Marie einen herannahenden, schönen Druck, der immer mehr anzusteigen schien. Leise stöhnte sie seinen Namen und als wollte er ihr antworten, brach ein grollendes Knurren aus seiner Brust. Thorin küsste sie auf den Hals, biss sie, bis sie schrie. Sie gehört ihm. Voll und ganz. Und er verlor sich in ihr.

Bedingungslos gab sie sich ihm hin, wölbte sich ihm entgegen, nur um ihm nahe zu bleiben. Dann schoss durch ihr Becken der erste und alles vernichtende Donnerschlag. Für einen Moment vergaß sie die restliche Welt, als sie von dem Rausch erfasst wurde, der ihren Körper zerspringen ließ und ihr die Erlösung schenkte.

Thorin stemmte sich auf die Arme. ,,Marie.“ Laut und tief stöhnte er, als er seinen Samen in sie gab, dadurch ihr Herz bis in den letzten Winkel erfüllte. Marie sah zitternd zu ihm hinauf und ihm dabei zu, wie auch er bebend seine Erlösung fand. Schweiß perlte über seine markanten Gesichtszüge. Seine Arme hielten seinen Oberkörper nicht mehr und er legte sich auf sie, seinen Kopf auf ihre Schulter, während sich tiefe Entspannung auch über ihn senkte.

Deutlich konnte er das schöne Zucken ihre Muskulatur um seinen Penis herum fühlen, das nur langsam schwächer wurde.

Schwer atmend ließ Marie ihre Hände auf seinen Lendenwirbeln ruhen, spürte seinen verschwitzten, schweren Körper auf ihr liegen, seinen Atem, der heiß an ihren Hals prallte und spürte, wie die Festigkeit seiner Erektion verschwand und warme Nässe Platz machte. Sie genoss den Ausklang ihres Höhepunktes voll aus, genoss Thorin, der in ihr ruhte und diesen Moment, der niemals enden sollte. Sie wünschte sich eine für immer andauernde Nacht. Doch das war unmöglich. Genauso unmöglich war es auch, dass er bei ihr blieb. Bereits in wenigen Stunden würden sie aufbrechen. Sie konnte ihn nicht aufhalten, sondern musste ihn gehen lassen.

,,Ich liebe dich…“, flüsterte sie in die Stille hinein, spürte, wie er schluckte.

,,Ich dich auch, mein Liebling.“ Weich und völlig losgelöst war sein Blick, als er sich wieder auf den Unterarmen abgestützt hatte, doch war überschattet von Traurigkeit.

Ein paar Strähnen hingen ihm vor den Augen, die sie für ihn wieder nach hinten legte. Dann legte sie beide Hände an sein Gesicht, fuhr mit den Daumen über seine Augenbraun, Wangen, an seiner spitzen Nase entlang, über sein Kinn, den dichten Bart… Alles an ihm war ihr so vertraut. ,,Ich werde dich vermissen“, flüsterte sie abermals mit flackernden Augen.

,,Ich werde immer bei dir sein.“ Bei seiner Stimme musste sie mit den erneut aufsteigenden Tränen kämpfen. ,,Und du wirst ebenso immer bei mir sein.“ Er fasste zwischen ihren Körpern und holte den kleinen Anhänger hervor, umschloss ihn mit der Faust. ,,Du hast sie mir in der Sommernacht geschenkt - nach dieser, bei Durin - der schönsten Nacht in meinem Leben. Egal, wie weit ich von dir entfernt war und egal, wie weit ich von dir entfernt sein werde, du warst und wirst immer bei mir bleiben.“ Sie biss sich auf die Lippen, schloss die Augen und er küsste tröstend ihre Stirn.

Längst war Ruhe in ihre Körper gekehrt, als Marie ihre Arme von ihm nahm und er aus ihr glitt. Wie vorhin legte er sich neben sie, angelte vorher noch nach der Decke und zog sie hoch.

Eng kuschelte sich Marie an ihn, legte den Kopf auf seine Brust und den Arm über seinen Bauch, um ihn für diese letzte Nacht festhalten zu können. Während sie seinem Herzschlag lauschte und fühlte, wie seine Hand über ihren nassen Rücken streichelte, fielen ihr erschöpft die Augen zu.

Wehmütig strich Thorin ihr über den Zopf, der etwas zerzaust auf seiner glänzenden Brust lag, und schaute ihr beim Schlafen zu. Schließlich streckte er den anderen Arm zum Nachttisch aus, nahm den kleinen Teller und blies die Kerze aus.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

25

 

 

Das Haus am Waldrand war eingehüllt vom Morgennebel, der über den, vor Tau glitzernden Wiesen lag. Die Sonne ging gerade auf und färbte alles in ein goldenes Licht, welches zart und verträumt dem weißen Nebel Farbe gab.

Vor dem Haus waren alle mit Waffen und geschultertem Gepäck versammelt. Marie mitten unter ihnen fröstelte. Enger wickelte sie den Umhang um sich. In ihr war es kalt und still, ihre Gedanken und Gefühle wie tot. Sie sah zu Gandalf hinauf, der sie bereits mitfühlend angesehen hatte. ,,Die Zeit zum Abschied nehmen ist gekommen.“

Marie merkte, dass sie einfach nickte und wandte sich Bilbo zu, der dem Zauberer am nächsten stand, und umarmte ihn. ,,Pass bitte gut auf dich auf, Bilbo.“ Ihre eigene Stimme hörte sich fremd an.

,,Ich versuch’s.“

Sie ging von Zwerg zu Zwerg, verabschiedete sich von jedem einzelnen. ,,Auf Wiedersehen.“ Zuerst umarmte sie Balin, musste wegschauen, als sie die Tränen sah, die in seinen kleinen, dunklen Augen lagen. Er antwortete nichts, sah sie nur an und nickte.

,,Dori, pass weiterhin auf deine Brüder auf.“

Er zwang sich zu einem Lächeln. ,,Ist zwar nicht einfach, aber ich bemüh‘ mich.“

Als nächster drückte ihr Gloin ein schweres Säckchen aus Leder in die Handfläche, in dem es verheißungsvoll klimperte. ,,Das ist für die Versorgung unsere Wunden. Von uns allen.“

Doch Marie schüttelte den Kopf, drückte dem Rothaarigen die Münzen wieder in die Hand und hielt sie mit ihrer umschlossen. ,,Die Bezahlung ist mir völlig egal. Bitte, nimm es wieder. Ihr werdet es noch brauchen, das weiß ich.“

,,Marie, das…“

,,Bitte.“ Sie wollte es nicht, hatte einfach nicht die Kraft darüber zu sprechen. Gloin rang mit sich, erwiderte jedoch nichts mehr.

Neben ihm stand Bombur. Die Hände vor seinem Bauch gefaltete blickte er sie aus runden, braunen Augen traurig an. Dann drückte er sie, wobei er sie sogar etwas hoch hob, sodass ihre Schuhe den Boden nicht mehr berührten. ,,Ich hoffe, wir haben deine Vorräte nicht allzu sehr verringert.“

,,Das ist nicht schlimm.“ Marie schritt weiter und holte die zusammengefalteten Blätter aus ihrem Ärmel. ,,Ich habe dir Rezepturen einiger Salben aufgeschrieben.“

Überrascht von ihrer Geste nahm Oin das beschriebene Papier entgegen. ,,Oh, vielen Dank. Ich werde es in Ehren halten.“

Dann blickte sie zu Dwalin hinauf und seine großen Hände legten sich schwer auf ihre Schultern, ehe seine Arme sie in eine ungewohnt vertraute Umarmung schlossen. Sie kuschelte sich an seinen breiten Körper, hoffte, er könnte ihr Wärme geben. Ihr war so kalt.

Es dröhnte an ihrem Ohr, als er flüsterte: ,,Du musst jetzt stark bleiben – stark wie eine Zwergin.“

Schweigend umarmte danach auch Nori sie. Sie versuchte, mit aller Macht die Tränen zu unterdrücken, doch es gelang ihr nicht mehr. Viel zu groß war der Schmerz.

Seine Hand legte sich tröstend hinter ihren Kopf, fuhr über ihren zerzausten Zopf. Bifur kam hinzu, umarmte sie ebenfalls und redete mit ihr. Sie lauschte seinen Worten in Khuzdul, während die Tränen sich ihren Weg suchten. Kein einziges verstand sie, doch es war die Art und Weise wie er sprach, sodass sie wusste, was er ihr sagen wollte.

Ganz dicht an sie drückte sich auch Ori, um seine eigenen Tränen zu verstecken. Marie merkte es und so nahm sie den kleinen Zwerg fester in den Arm. ,,Bleib so, wie du bist, mein lieber Ori…“

,,Marie, sei nicht traurig“, sagte Bofur, während er neben den jungen Zwerg trat. ,,Wir werden uns wiedersehen. Ganz bestimmt.“Als sie ihn ansah, war das vertraute Funkeln in seinen braunen Augen schwach, aber immer noch da.

Kili und Fili lösten ihn ab und umarmten sie beide gleichzeitig.

,,Passt bitte auf euch auf…“, murmelte sie an einer Schulter.

,,Machen wir“, antwortete Fili leise.

Respektvoll machten alle Männer Platz, als ein Zwerg, der abseits der versammelten gestanden hatte, langsam zu ihnen kam, zwischen ihnen hindurch auf Marie zuging. Nicht mehr auf haltbare Tränen liefen über ihre Wangen, als der Mann, den sie liebte, auf sie zu schritt. Graue Augen schienen aus Eis zu bestehen, die nichts aus seinem Inneren preisgaben, um das selbige zu schützen. Schweigend nahm er sie in den Arm und Marie drückte sich an ihn. Lange und innig hielten sie einander fest. Ein letztes Mal.

Viel zu schnell löste er sich jedoch von ihr, legte eine Hand an ihre nasse Wange. Sehnsüchtig schmiegte sie ihren Kopf hinein, wollte nicht, dass dieser Moment endet…

,,Ich liebe dich und werde es auch immer.“

Sie antwortete nicht, konnte nicht, sah ihn nur mit rotgeweinten Augen an und dachte, ihr Herz würde jeden Augenblick aufhören

zu schlagen.

Langsam beugte sich Thorin zu ihr und küsste sie lange und hingebungsvoll, als wäre dies sein letzter Kuss für sie und der letzte in seinem Leben. Und dann ließ seine Hand ihre los, ganz langsam, als wollte er jede weitere Sekunde hinauszögern. Doch irgendwann streiften ihre Finger aneinander vorbei und dann war da nichts mehr. Nur die kühle Luft.

Mit tränenüberströmtem Gesicht sah Marie, wie er sich abwandte und vorausging, gefolgt von den Zwergen, Gandalf und Bilbo. Die langen Gräser am Wegesrand wogen auf und nieder, so als wollten der Wind ihnen zum Abschied winken. Durch die aufgehende Sonne waren sie nur noch als Silhouetten zu erkennen, welche sich immer weiter entfernten.

In seiner Kehle drückte es, so als läge ihm ein Felsen im Hals und ihm den Raum zum Atmen nahm. Thorin wollte nicht zurück schauen, doch er konnte nicht gegen die Sehnsucht ankämpfen, die bereits jetzt schon unermesslich schien. Nun warf er doch einen Blick zurück und sah Marie vor ihrem Haus stehen, welches im Nebel einzutauchen schien und auch ihren Körper in eine Nebelgestalt wandelte. Er musste die Augen schließen, richtete stattdessen seinen Blick wieder nach vorn.

Regungslos stand Marie da und sah ihnen nach. Stimmen hallten verzerrt in ihrem Kopf, durcheinander, schnell abfolgend, unterschiedlich laut: …weil du immer bei mir warst. Ich will dich nie, niemals wieder verlieren. Das wirst du auch nicht. Liebe meines Lebens…Bitte, verzeih mir…Wie sehr hast du mir gefehlt… Wenn ich könnte, würde ich sofort die Zeit zurück drehen…Solange ich lebe… Für immer. Sie schüttelte den Kopf, erst langsamer, dann immer schneller. Plötzlich wurde ihr Umhang zu Boden geworfen. Wie von selbst fingen ihre Beine an zu laufen, zu rennen, rannten den Weg entlang, der aufgehenden Sonne entgegen.

Ein verzweifelter Ruf zerriss die Stille: ,,THORIN!!“

Alle wirbelten herum, sahen, wie Marie mit gerafftem Rock durch den Nebel brach, hinter ihnen her und durch sie hindurch, bis an die Spitze rennen. Sofort ließ Thorin Rucksack und Köcher von seinen Schultern zu Boden fallen und Marie rannte in seine ausgebreiteten Arme, schlang ihre um seinen Hals, krallte sich an ihm fest.

,,Ich will nicht, dass du gehst…“

Ihr entfuhr ein Klagelaut, den er kaum ertragen konnte. Ihr Schmerz war schlimmer für ihn als sein eigener. ,,Ich muss fort. Ich muss…“ Hemmungslos weinte sie, als sie von einem heftigen Weinkrampf erfasst wurde. ,,Mein Liebling“, flüsterte er, drückte sie machtlos an sich.

Wie lange sie so dagestanden hatten, wusste er nicht. Irgendwann merkte er eine Hand an seinem Rücken und hörte die vertraute Stimme von Balin. ,,Thorin…wir müssen los.“ Der alte Zwerg sprach so sanft, als wollte er die ehrlichen Worte tröstend sagen.

Über die Schulter hinweg, sah er ihn und seine Gefährten auf dem Weg stehen. Er atmete tief ein, schaute in den Himmel. Es führte keinen Weg am Abgrund vorbei. Er musste springen.

Entschlossen löste er Marie von sich und hielt sie an den Schultern fest, weil er Angst hatte, sie könnte sonst fallen und weil er sie nicht eher loslassen wollte. Er schaute ihr tief in die Augen, die ihn an glanzlose, kaputte Smaragde erinnerten. Eindringlich sprach er zu ihr, weil sie sich alles einprägen und niemals vergessen sollte. ,,Es tut so unbeschreiblich weh, dich verlassen zu müssen. Ich habe es schon einmal getan und mein ganzes Leben lang bereut, dich aus den Augen verloren zu haben. Doch dieses Mal ist es anders, mell nin. Ich komme wieder und hole dich und dann nehme ich dich mit, mit nach Erebor. Ich gebe dir mein Wort. Halte den Blick nach Osten gerichtet. Ich werde am Horizont erscheinen. Ich verspreche es dir, ich komme wieder.“ Er nahm ihren Kopf in beide Hände und gab ihr einen Kuss. ,,Ich liebe dich.“

,,Ich liebe dich auch“, schluchzte Marie, sah Thorin an, der so dicht bei ihr war, dass seine Nasenspitze fast an ihrer lag.

,,Bis an das Ende aller Tage, bis in alle Ewigkeit gehört mein Herz dir und nur dir allein“, flüsterte er, küsste sie ein allerletztes Mal, presste vor Schmerz die Augen zu und konnte die Träne nicht unterdrücken, die über seine Wange rollte. Schließlich und endgültig kehrte er ihr den Rücken, hob seine Sachen auf und ging wieder an die Spitze der Gruppe, die erneut an diesem Morgen aufbrach.

Alleine auf dem Weg stehend sah Marie den Gefährten nach, wie sie den Hügel in Richtung des Dorfes hinunter gingen und dann zwischen den taubedeckten Wiesen und dem Morgennebel verschwanden.

 

 

Fortsetzung folgt...

 

 

 

 

 

 

 

 

Nachwort

 

 

Mit irgendwelchen Gedankenspinnereien von mir hat alles angefangen. Dass das alles solch Ausmaße annimmt, hätte ich nie gedacht. Der erste Band musste sich oft verändern bis ich schließlich zufrieden damit war. Ich weiß, dass meine FanFiction noch meilenweit vom Perfekten entfernt ist, doch symbolisch hat diese Reihe für mich einen großen Wert.

An dieser Stelle danke ich auch Peter Jackson für seine unglaubliche Arbeit als Regisseur. Seine Filme haben mich (wie viele andere auch) in ihren Bann geschlagen und mich bis dato noch nicht wieder losgelassen. Danke an Richard Armitage, der Thorin Eichenschild auf der Leinwand, in meinem Herzen und in meiner Phantasie zum Leben erweckt hat.

 

 

Danke auch an Ewa Aukett, die mich ermutigt hatte, auf Bookrix meine Texte mit anderen zu teilen.

 

Falls dir meine Fanfiction gefallen hat, lass es mich wissen! :)

 

Schau auch mal auf meiner Seite hier bei Bookrix vorbei. Dort findest du auf meinem Titelbild meine Kette, die hier in dieser Erzählung eine Rolle bekam.

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.07.2017

Alle Rechte vorbehalten

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