P R O L O G
Langsam ließen sie sich rückwärts auf sein Bett sinken, ohne den stürmischen Kuss zu lösen. Im Nachhinein konnte keiner der Beiden mehr sagen, wie lange er in Wirklichkeit gedauert hatte; es interessierte sie hinterher auch gar nicht mehr. Sie versanken so sehr darin, dass sie ihre unmittelbare Umgebung nicht einmal mehr wahrnahmen und sich ihre Leidenschaft ins Unermessliche steigerte, als sie mit den Händen den Körper des jeweils anderen erkundeten. Erst ausgesprochen behutsam, dann immer rascher schälten sie sich gegenseitig aus ihrer Kleidung, warfen sie achtlos auf den Boden. Wieder liebkosten und ertasteten sie sich gegenseitig, die Lippen fanden sich wieder zu einem ungestümen Kuss, den sie erst lösten, als keiner der Beiden mehr Luft zum Atmen bekam. Dennoch berührte sein Mund ihre seidige Haut, hinterließ hin und wieder verräterische Spuren darauf, und er war so zärtlich, wie sie es nie für möglich gehalten hätte, auch wenn sie bisher geglaubt hatte, ihn gut zu kennen.
Die Nacht wurde länger, als sie es sich zu Beginn ausgemalt hatte, und so viel intensiver, als sie es je für möglich gehalten hatte. Außerdem war sie derart erschöpft, dass sie beinahe sofort in seinen Armen einschlief und Stunden später entsetzter wieder aufwachte, als es die Situation vielleicht erfordert hätte. Erleichtert nahm sie zur Kenntnis, dass er sich von ihr abgewandt hatte, sodass es ihr daher ihr Vorhaben deutlich erleichterte. Rascher und ohne allzu viele Geräusche zu erzeugen kroch sie aus dem Bett, sammelte ihre Kleidung ein, um damit endlich ins Wohnzimmer zu verschwinden. Dort schlüpfte sie eilig in ihr Gewand, ehe sie, die Eingangstür hinter sich ins Schloss ziehend, aus der Wohnung verschwand.
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Clara lag auf einer Seite des Doppelbettes, in welchem sie seit jenem Tag schlief, und starrte in der Dunkelheit zur Decke, noch immer nicht wissend, ob ihr Handeln richtig gewesen war. Darüber dachte sie schon all die Tage und Wochen nach, in denen sie sich an diesem Ort verkrochen hatte, auch wenn er in all den Jahren, in denen sie in den Ferien hierhergekommen war, so etwas wie eine zweite Heimat geworden war.
Bisher hatte sie sich noch nicht dazu entschließen können, sich bei irgendjemandem zu melden – weder bei ihrer Familie noch bei Freunden, ganz zu schweigen von ihrer Arbeitsstelle, die seit einigen Wochen nicht mehr so bestand, wie sie es von den letzten Jahren gewohnt war. Denn noch immer verstand sie nicht, warum ihr kleines Kommissariat aufgelassen beziehungsweise mit einem anderen zusammengeschmolzen war. An den eigentlichen Grund – gravierende Einsparungsmaßnahmen – wollte und konnte sie nach all den Wochen noch immer nicht glauben. Aber rechtfertigte es die Tatsache, nach der Abschiedsfeier mit dem Kollegen die Nacht in seinem Bett ausklingen zu lassen? Heftig schüttelte sie den Kopf, auch wenn es durch den Polster nicht so gelingen wollte, wie es sich Clara vorgestellte hatte. Doch nun musste sie es als das akzeptieren, was es nun einmal war – ein Ausrutscher nach einem feuchtfröhlichen Abend. Und genau das fiel ihr immer schwerer, je länger sie darüber grübelte.
Je länger sie über die letzten Arbeitstage nachdachte, umso mehr wälzte sie sich im Bett hin und her, bis es ihr zu bunt wurde und sie es schließlich wieder verließ. Doch die leichte Nervosität besserte sich durch das Umherwandern in der Dunkelheit nicht, sondern verstärkte sich hingegen noch ein wenig. Seufzend öffnete sie den Kühlschrank und holte sich eine angebrochene Packung Milch heraus, um sich daraus Kakao zu machen. Den trank sie immer wieder gerne, wenn sie des Nachts ziellos in dem kleinen Appartement umherwanderte.
Die Tasse mit beiden Händen umfasst, um diese an dem heißen Porzellan zu wärmen, nahm sie ihre begonnene Wanderung wieder auf. Hin und wieder schlürfte sie am noch ziemlich heißen Getränk, während sie weiterhin vor sich hinbrütete. Natürlich kamen ihr die Gedanken wieder in den Sinn, die ihr bisher den Schlaf geraubt hatten, und sie wusste auch nur zu genau, dass sie sich hätte längst bei ihrer neuen Dienststelle hätte melden sollen. Clara konnte nur noch nicht sagen, warum sie es bisher nicht getan hatte, auch wenn sie sich über die daraus erfolgenden Resultate durchaus im Klaren war. Aber sie wusste zudem, dass es etwas gab, was es ihr nicht leichter machen würde, sich auf eine neue Herausforderung zu konzentrieren – immerhin befürchtete sie, dass diese eine Nacht nicht ohne Folgen geblieben sein könnte.
„Mist, das habe ich wieder notwendig gehabt“, brummte Clara ungehalten vor sich hin, als ihr der tatsächliche Grund ihrer selbst auferlegten Einsamkeit wieder eingefallen war, „ich frage mich, warum es überhaupt soweit hat kommen müssen!“ Eine Antwort darauf konnte sie sich nicht geben, aber so betrunken war sie dann doch nicht gewesen, um nicht noch zu wissen, dass es ihr damals unheimlich gefallen hatte. Doch hinterher war sie derart darüber entsetzt gewesen, als sie festgestellt hatte, wo sie sich befand und sie Stefan in dieser Nacht betrogen hatte. Das hatte er schließlich nicht verdient, immerhin war er ihr bis zu diesem Zeitpunkt ein perfekter Partner gewesen und der vermutlich nicht verstehen konnte, warum sie sich von ihm abgewandt hatte. In der Dunkelheit des Zimmers fand sie es zwar als fair, wenn sie ihm tatsächlich reinen Wein einschenken würde, aber vorerst konnte sie es doch nicht.
Inzwischen war der Kakao ausgetrunken und Clara nach wie vor ziemlich aufgewühlt. Denn noch immer hatte sie keine Antworten auf all die Fragen, die ihr während der letzten Wochen im Kopf herumschwirrten. Aus diesem Grund wusste sie nicht, ob sie wütend auf sich selbst sein sollte oder nicht. Um sich abzulenken, wusch sie die leere Tasse aus und legte sich schließlich mit einem Buch wieder ins Bett, nachdem sie die Dinge, die sie zu so später Stunde gebraucht hatte, wieder verstaut hatte.
Müde wurde sie dennoch nicht, solange sie auch las. Erst als sie merkte, dass es bereits wieder hell wurde, legte sie das Buch beiseite und ließ sich erneut aufs Kissen zurücksinken, um seufzend zur Decke zu starren. Zum wiederholten Male schweiften ihre Gedanken zum letzten Abend ab, den sie mit ihren Kollegen verbracht hatte und mit einem davon trotz kaum konsumierten Alkohols im Bett gelandet war. Obwohl sie damals beim Aufwachen ziemlich erschrocken über die gemeinsam verbrachte Nacht war, ja sogar die Flucht ergriffen hatte, bereut hatte sie es bisher nicht.
Im Augenblick schreckte sie nur von den Folgen, die sich daraus ergeben hatten, zurück. Denn insgeheim wusste Clara bereits, dass sie solche in wenigen Monaten erstmals in ihren Armen halten würde. Sie musste es sich nur noch von einem Arzt bestätigen lassen. Doch noch hatte sie keine Ahnung, wo ein guter war und würde wohl Erika Schröder, die Inhaberin dieses Campingplatzes, fragen müssen.
Missmutig schwang Clara ihre Füße aus dem Bett. An Schlaf war aufgrund ihrer sich bereits überschlagenden Gedanken nicht mehr zu denken. Aus diesem Grund konnte sie auch gleich ins Bad schlurfen, um sich bei ihrer morgendlichen Toilette noch mehr Zeit lassen zu können, als sie es ohnehin schon tat. Außerdem stellte sie bei sich fest, dass sie an diesem Morgen länger frühstücken konnte als sonst, zu knapp kroch sie sonst aus dem Bett.
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„Herrgott noch mal, wie lange wollen Sie denn noch auf Frau Tischler warten?“, fuhr Staatsanwalt Aigner seinen Kommissar, Felix Schramm, äußerst ungehalten an, „mittlerweile wissen wir beide, dass sie heute nicht mehr auftauchen wird, und vermutlich in den nächsten Tagen auch nicht. Sagen Sie mir einfach nur, was ich mit Frau Tischler machen soll? Seit Wochen weiß niemand, wo sie sich aufhält!“
Hilflos zuckte der ein Meter achtzig große Angesprochene mit den Schultern und starrte schweigend seinem Gegenüber in die braunen Augen. Immerhin wusste er, wie recht sein Vorgesetzter hatte.
„Das dachte ich mir schon, Schramm, und ich weiß noch immer nicht, wie lange ich diese Geschichte von dem Undercover-Auftrag aufrechterhalten kann“, gab Aigner brummend zu, „außerdem sollten Sie mir endlich erzählen, warum Frau Tischler so rasch verschwunden ist. Ich möchte nur anmerken, dass ich die Ausrede nicht gelten lassen werde, die Auflösung dieses Kommissariats sei schuld daran!“
Felix wusste nicht genau, wie er auf diese Worte reagieren sollte. Schließlich konnte er den Grund ihres Verschwindens auch sofort sagen, ohne darüber lange nachdenken zu müssen. Aber dieser Anlass hatte hier, in der Staatsanwaltschaft, eindeutig nichts verloren, stellte Felix auch sofort bei sich fest.
Deshalb antwortete er noch immer nicht auf Aigners indirekte Frage.
Dem vorwurfvollen Blick seines Chefs versuchte Felix vergeblich auszuweichen. Außerdem machte sich auch sofort das Gefühl in ihm breit, durchschaut zu werden. Denn die Augen des Staatsanwaltes musterten ihn nach wie vor sehr eingehend, schienen ihn sogar durchdringen zu wollen. Erfolglos versuchte Felix, sich davon loszureißen. Minuten später gelang es ihm, ohne zu wissen, wie das geschehen hatte können. Auch wenn er wusste, dass Aigner die Menschen in seiner Umgebung ohne weiteres zu seinen Gunsten beeinflussen konnte, in diesem Augenblick schwor sich Felix, etwas Derartiges nicht mehr an sich heranzulassen. Das konnte er auf keinen Fall brauchen, stellte er bei sich fest und wich weiterhin dem Blick seines Gegenübers aus.
„Mit der Auflösung unserer Dienststelle hat es in der Tat nichts zu tun“, rang sich Felix schließlich doch eine Antwort ab, „das ist das Einzige, das ich Ihnen sagen kann. Aber warum sie wirklich fortgegangen ist, hat sie mir nicht erzählt. Bei mir hat sie sich nämlich seit Wochen auch nicht gemeldet.“ Er wusste sofort, dass Aigner ihm seine Worte so nicht abnahm, kaum, dass er dem Staatsanwalt in die Augen geschaut hatte. Aber Felix war der Meinung, dass sein Privatleben sein Gegenüber nicht zu interessieren hatte, vor allem die Tatsache nicht, mit wem er seine Nächte verbrachte! Er konnte jedoch nicht verhindern, dass sich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen schlich, als er an diesen einen Abend und seine Folgen dachte.
„Woran denken Sie gerade?“, hinterfragte Aigner das Mienenspiel seines Kommissars, den er nachwievor eingehend musterte. Felix hob und senkte zögerlich seine Schultern, während er sich rasch eine Antwort überlegte. Da er seinem Staatsanwalt seine tatsächlichen Gedanken nicht mitteilen wollte, meinte er nur lapidar: „Das ist nicht wirklich wichtig …!“ Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, wusste Felix, dass diese Antwort nicht das war, was der andere hatte hören wollen. Aber er fügte dem nichts mehr hinzu, sondern wartete darauf, dass Aigner das Gespräch wieder auf den ursprünglichen Grund seines Hierseins lenken würde.
„Nachdem Sie mir weder sagen können oder wollen, wann Frau Tischler endlich hier aufzutauchen gedenkt, werden wir es auch schaffen, hier ohne sie weiterzumachen“, begann Aigner, „wir beide wissen, dass Sie seit wenigen Wochen in Ihrer neuen Dienststelle Ihren Dienst versehen, Sie haben sich bereits voll in diese neue Gruppe eingegliedert, wie mir versichert wurde!“
Felix merkte sehr wohl den zufriedenen Tonfall seines Vorgesetzten, der auch mit seinem neuen Kommissariat zusammenarbeitete.
Das war ihm ganz recht, wie er zugeben musste, sehr recht sogar. So wusste er immerhin, was von ihm, Felix, erwartet wurde. Aber an Aigners Worten störte ihn nur, dass der ihm nicht sagen wollte, wo sich Clara aufhielt.
Tatsächlich wusste er es selbst nicht, denn sie war verschwunden gewesen, als er nach dieser einen Nacht wach geworden war und hatte es bisher nicht der Mühe wert gefunden, sich in irgendeiner Form zu melden!
„Es ist richtig, dass ich mich bereits gut eingearbeitet habe. Und mir macht es nachwievor
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Andrea Taraška
Bildmaterialien: Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 12.11.2018
ISBN: 978-3-7438-8625-4
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