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WEIHNACHTSWUNDER

11

 


Mit hochgelegten Beinen und einer kuscheligen Wolldecke darüber lag sie auf dem Sofa. Im Hintergrund lief leise eine CD, von der sie kaum etwas mitbekam, zu sehr war sie mit sich beschäftigt. Besonders behutsam und zärtlich strich sie über ihren Bauch, darauf wartend, dass sich ihr Kind darin bemerkbar machte. Die wilden Bewegungen in ihrem Inneren ließen nicht lange auf sich warten. Glücklich seufzte die werdende Mutter auf. Im Moment gab es für sie nichts Schöneres, als das neue Leben, das langsam in ihr heranwuchs, zu spüren.

 

In Gedanken führte sie bereits Gespräche, ohne jegliche Antworten zu erwarten. Es wurde immer ruhiger um sie herum, die Musik hatte inzwischen aufgehört zu spielen. Aus diesem Grund wurde sie immer schläfriger, die Augen fielen ihr deshalb immer wieder zu, auch wenn sie diese einige Male mit großer Überwindung öffnete. Ein leichter Luftzug und leise Schritte schreckten sie auf. Schlaftrunken wandte sie ihren Kopf der Tür zu. „Paps …“, rief Alex erfreut aus. Vorsichtiger, als es vielleicht angebracht gewesen wäre, schwang sie ihre Beine vom Sofa, blickte Jürgen Rietz erwartungsvoll entgegen.

 

Mit raschen Schritten kam er auf seine Tochter zu, hielt ihr eine große Kaffeetasse entgegen, ehe er sich ihr gegenüber niederließ. Mit strahlenden Augen schaute er Alex zu, wie sie einen ersten Schluck von dem heißen Gebräu nahm. „Wie ich sehe, lässt du es dir gut gehen …“, begann Jürgen das Gespräch. Sie nickte heftig mit dem Kopf. „Na klar …“, sagte sie gleichzeitig, „ich habe doch in ein paar Tagen keine Zeit mehr dazu. Also brauche ich ein klein wenig Ruhe auf Vorrat!“ Jürgen kicherte vor sich hin. „Wem sagst du das …“, murmelte er vor sich hin, als er sich wieder beruhigt hatte. Das waren die Momente, in denen er sich daran erinnerte, wie seine Töchter zur Welt kamen. Noch heute war er froh darüber, dass der Stress von damals schneller vorübergegangen war, als er eigentlich angenommen hatte. Und heute freute er sich auf sein zweites Enkelkind, darauf hoffend, dass er dieses öfters zu sehen bekam, als sein Erstes. Immerhin ließ sich seine Tochter Michaela mit Töchterchen Jona ausgesprochen selten sehen.

 

Wieder war Ruhe eingekehrt, nur das Schlürfen war zu hören, wenn einer von ihnen am Kaffee nippte. Niemand machte sich die Mühe, die CD auszuwechseln und das dafür vorgesehene Gerät wieder einzuschalten. Im Augenblick war der jeweils andere wichtiger. Jürgen genoss es sichtlich, seine Tochter um sich zu haben, sie in den nächsten Tagen noch umsorgen zu können. Noch immer wunderte er sich darüber, dass Alex kein Wort über den Vater ihres Kindes verlor. Jede Frage darüber überging sie geflissentlich, schien sie gar nicht erst gehört zu haben. Aber da Jürgen ihre engsten Freunde in München kannte, hatte er einiges herausbekommen und sich darüber Gedanken gemacht. Rasch war er auf eine Idee gekommen, die er auf alle Fälle in die Tat umsetzen wollte, auch wenn er sich noch nicht im Klaren darüber war, wie seine Tochter darauf reagieren würde. In wenigen Tagen würde er es wissen!

 

Erst als Alex zum wiederholten Male hinter vorgehaltener Hand gähnte, wurde Jürgen bewusst, wie müde sie sein musste. In den letzten Wochen schien sie ein viel größeres Schlafbedürfnis zu haben, als es früher der Fall gewesen war. Mühsam erhob er sich, zu lange war er ruhig auf seinem Sessel gesessen, und blickte belustigt auf Alex hinunter. „Du möchtest wohl ein wenig schlafen, ich will dich nicht länger stören, außerdem habe ich sowieso noch einiges zu erledigen“, gestand er plötzlich. Alex hielt es nicht für notwendig, darauf etwas zu sagen. Sie nickte ihrem Vater nur zu, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte. Lächelnd schaute sie ihm nach, als er zur Tür ging.

 

Dort wandte er sich nochmals um. Mit einem verlegenen Grinsen auf den Lippen trat er von einem Bein auf das andere. „Bevor ich vergesse …“, begann er zaghaft, „wir bekommen in den nächsten Tagen noch Besuch, der über die Feiertage bleibt!“ Mit diesen Worten rauschte er endgültig aus dem Raum, ohne sich bewusst zu werden, dass er eine erstaunte Alexandra zurückließ. Diese saß wie versteinert auf dem Sofa, starrte auf die geschlossene Tür, ohne tatsächlich zu wissen, was sie von den letzten Worten ihres Vaters halten sollte. Seine Sätze vertrieben ihre Müdigkeit, an Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Deshalb schob sie die Decke beiseite und erhob sich schwerfällig. Zum wiederholten Male verfluchte sie ihre Unbeweglichkeit, wohl wissend, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, bis sich das auch wieder änderte. Als ob ihr Ungeborenes ahnen würde, dass die Mutter an es denken würde, trat es kräftig gegen ihre Rippen. Alex stöhnte kurz vor Schmerzen auf, während sie kurz stehen blieb und sich behutsam über den gewölbten Leib strich. Langsam setzte sie ihren Weg fort, machte sich endlich auf die Suche nach Jürgen. Auf dessen Reiterhof, auf dem sie sich auf die Geburt ihres Kindes vorbereitete, war das kein leichtes Unterfangen.

 

Sie fand ihn nach längerer Zeit im Stall bei seinen Pferden. Wenige Augenblicke blieb sie am Eingang stehen, lauschte seinen zärtlichen Worten, mit denen er auf eines seiner Tiere einredete. In diesem Tonfall hatte er mit ihr in ihrer Kindheit gesprochen, wenn sie sich ihre Knie angeschlagen hatte oder vom Pferd gefallen war. Langsam folgte sie dem Klang seiner Stimme, fand Jürgen am anderen Ende des nicht allzu großen Stalles. Ihr Vater fuhr erschrocken herum, als er ihr Räuspern vernahm, da er ihr Näherkommen nicht bemerkt hatte.

 

„Ich dachte, dass du bereits geschlafen hast!“, meinte er entschuldigend und blickte sie treuherzig mit schief gelegtem Kopf an. Belustigt lachte Alexandra auf. „Der Schlaf ist mir etwas vergangen, als du gemeint hattest, wir bekämen Besuch. Mich wundert nur, dass du es mir überhaupt nicht gesagt hast“, meinte sie, als sie sich wieder beruhigt hatte, „seit wann hast du es gewusst?“ Vorerst zierte er sich, ihr überhaupt zu antworten. Aber dann endlich entschloss er sich, es doch zu tun. „Ich weiß das seit ein paar Tagen, nur hatte ich keine Ahnung, wie ich es dir hätte erzählen sollen“, gestand er endlich kleinlaut.

 

In seinem Gesicht zeichnete sich das Unbehagen ab, das er im Augenblick empfinden musste. Über sein Mienenspiel musste Alex einfach nur noch mehr lachen, konnte ihm einfach nicht mehr böse sein. Mit einer wegwerfenden Handbewegung tat sie seinen Satz einfach ab. „Du tust gerade so, als wäre ich ein Unmensch“, war Alex sichtlich entrüstet, wohl wissend, dass Jürgen das nie annehmen würde. Mit einem Anflug von Entrüstung wies ihr Vater ihren letzten Satz auch sofort zurück und ehe er irgendetwas sagen konnte, merkte er, wie sich Alex’ Gesicht vor Schmerzen verzog.

 

Erschrocken kam er auf sie zugelaufen, streichelte behutsam über ihren Rücken. „Brauchst du einen Arzt, Alex?“ wollte er aufgeregt wissen. Sie schüttelte nur den Kopf, hielt kurze Zeit die Luft an und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Hastig zog sie die Luft in die Lungen, stieß sie genau so rasch wieder aus. Das leichte Ziehen in ihrem Unterleib ließ langsam nach. Alex schenkte ihrem Vater ein aufmunterndes Lächeln. „Papa, es geht mir gut, mach dir keine Sorgen …“, bat sie schließlich eindringlich, „ich verstehe nur nicht, warum du aus unseren Gästen ein derartiges Geheimnis machst.“ Jürgen wischte ihren Einwand einfach mit der Hand beiseite. „Die sind jetzt im Moment unwichtig. Etwas in deinen Augen sagt mir, dass du mir nicht die ganze Wahrheit gesagt hast“, stellte er traurig fest. Gekonnt überging Alex seinen Einwand, ungelenk wandte sie sich um, darauf hoffend, dass er ihr folgen würde, wollte sie doch einfach nicht alleine sein. Seine eiligen Schritte verrieten ihr, dass er es ohne weitere Aufforderung tat. Sie hatte es ja gewusst, immerhin kannte sie ihn gut genug. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen nahm sie es zur Kenntnis, wollte aber dennoch nicht weiter auf seine väterliche Fürsorge eingehen, doch sie tat einfach nur gut.

 

Mit Mühe konnte sie am nächsten Morgen verhindern, dass Jürgen Rietz ständig um seine Tochter herum lief. Irgendwie schaffte sie es, ihn zu seinen Pferden zu schicken. Dennoch schaute er immer wieder nach ihr. Seine Sorge rührte sie beinahe zu Tränen. Eisern hielt sie an ihrem Vorhaben fest, nichts darüber zu verlieren und so genoss sie die Liebe ihres Vaters einfach nur. Erst als ein leises, immer näher kommendes Motorgeräusch zu hören war, kam wieder ein wenig Leben in Jürgen, der sich mit einer Tasse Kaffee einige Minuten zu Alex gesetzt hatte. Er ignorierte den fragenden Blick seiner Tochter, während er sein Getränk auf dem Tisch abstellte und mit raschen Schritten das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer verließ.

 

Mit einem breiten Grinsen strebte er dem Wagen zu, der inzwischen unweit seines Standortes zum Stehen gekommen war. „Schön, dass du gekommen bist …“, begann Jürgen das Gespräch, ehe ihm das Lächeln auf seinem Gesicht augenblicklich gefror. Nach einem Blick in den Wagen bemerkte er die dunkelhaarige Frau, die neben Alex‘ Kollegen auf dem Beifahrersitz saß. „Wer ist das denn?“, fragte Jürgen ziemlich verwundert, aber auch ratlos, denn damit hatte er nicht gerechnet. Auf das Gesicht des Angesprochenen legte sich so etwas wie Stolz. „Das ist meine Freundin, ich hoffe doch, dass es dich nicht stört, wenn ich sie mitgenommen habe?“, wollte der Neuankömmling interessiert wissen. Beklommen schüttelte Jürgen den Kopf, auch wenn er sich eingestehen musste, dass ihm genau das völlig ungelegen kam. Ihm fielen jedoch nicht die richtigen Worte ein, um Michael klar zu machen, dass seine Begleitung nicht zu dem Plan gehörte, den er sich so schön ausgemalt hatte. Mit einem leisen Aufseufzen trat er zur Seite, um es seinem Gast zu ermöglichen, den Wagen zu verlassen.

 

Alex hörte ihren Vater vor dem Fenster sprechen, nahm auch eine Stimme wahr, die ihm antwortete, konnte jedoch nicht erkennen, wem sie gehörte, zu undeutlich war sie. Neugierig, wie sie nun einmal war, erhob sie sich ziemlich schwerfällig, ignorierte das leichte Ziehen in ihrem mittlerweile recht großen Bauch. Mit langsamen Schritten ging sie den Geräuschen entgegen, die Jürgen und sein Besuch verursachten. Es erstaunte sie, als sie noch jemanden reden hörte, bisher hatte sie nur zwei Personen erkennen können. Ehe sie die Haustüre erreichen konnte, wurde diese aufgestoßen und vor ihr stand ein Mann, den sie aufgrund des Zwielichtes nicht sofort erkennen konnte.

 

„Alex …!“, hörte sie eine ihr nur allzu bekannte Stimme ziemlich erstaunt ausrufen, immerhin hatte er nicht wirklich über den Hintergrund der Einladung nachdenken wollten. Sie konnte spüren, wie seine Augen sie eingehend musterten. „Warum bleibt ihr hier draußen stehen? Ich habe echt keine Lust, hier zu erfrieren. Es ist dir doch hoffentlich klar, Micha, dass es fürchterlich kalt ist!“, unterbrach eine ausgesprochen schrille Stimme die plötzlich eingekehrte Stille. Mit einem Anflug von Schadenfreude nahm Alex zur Kenntnis, dass Michael es nicht für notwendig zu erachten schien, weiterzugehen, aber dann doch etwas unsanft von seiner Begleitung ins Haus geschoben wurde. Erst jetzt bemerkte Alex die dunkelhaarige und ausgesprochen langbeinige Frau, die hinter Michael das Gebäude betrat und sich neugierig umschaute. An ihrem Gesicht war zu erkennen, was sie von dem Vorraum hielt, in dem sie im Augenblick stand.

 

Am Rande bemerkte Alex dies zwar, ignorierte es aber ebenso, wie die Person selbst. Sie starrte einfach nur auf Michael, der zwar einige Schritte auf sie zugekommen war, aber aus unerfindlichen Gründen wieder stehen blieb und sie gründlichst musterte. Sein Blick glitt über ihren gewölbten Leib, beobachtete Alex dabei, wie sie behutsam darüber strich. Das schmerzverzerrte Gesicht versuchte er einfach zu übersehen, zu sehr war er von der Person selbst beeindruckt.

 

„Michi, was treibst du denn hier?“, brachte sie endlich über die Lippen, nicht ohne ihn ebenfalls eingehend zu mustern. Jürgen schob sich an dem Angesprochenen vorbei, fasste seine Tochter am Arm und riss das Wort einfach an sich. „Weißt du, Alex, ich habe mir in den letzten Wochen einige Gedanken über dich gemacht und das ist dabei herausgekommen …“, erklärte er nicht ohne Stolz und deutete auf Michael, „auch wenn nicht alles so gelaufen ist, wie ich es mir vorgestellt habe!“ Seine Augen suchten Michaels Begleitung, schaute sie kurz strafend an und wandte sich auch sofort wieder den anderen zu. Mit einer leichten Handbewegung forderte er alle auf, ihm in den Wohnraum zu folgen.

 

Mit Entsetzen nahm Jürgen zur Kenntnis, dass sich die unbekannte Schönheit ziemlich provokant an Michael heranschmiss, dem das sichtlich unangenehm war, sich aber im Moment nicht wirklich zu helfen wusste und es auch allem Anschein nach nicht wollte. Ungehalten schnaubte Jürgen vor sich hin, ohne dass der ungebetene Gast etwas an seinem Gehaben zu ändern gedachte. Sie schien allen zeigen zu wollen, wie sie zu Michael stand. Der Einzige, dem das im Augenblick störte, war Jürgen. Er wusste nur noch nicht, wie er diese Person wieder aus seinem Haus entfernen sollte, ohne Michael vor den Kopf zu stoßen. Vorerst hinderte Jürgen neuerlicher Autolärm daran, seine Gedanken auch in die Tat umzusetzen. Ziemlich erstaunt erhob er sich, entschuldigte sich kurz und verließ das Haus.

 

„Harald, was treibt dich denn hierher?“, wollte er von seinem Tierarzt wissen, als sie sich gegenüber standen. „Du hast mich doch vor einer halben Stunde angerufen, Jürgen, hast du das schon wieder vergessen? Eines deiner Tiere soll lahmen“, bemerkte Harald Mühlhuber. Jürgen schüttelte leicht den Kopf. „Du musst dich irren, Harald, aber komm trotzdem herein, für dich ist sicherlich noch Kaffee übrig“, meinte er belustigt, „ich bin mir sicher, dass wir in den letzten Tagen nicht miteinander gesprochen haben. Du kannst mir ruhig glauben, Harald, aber sieh das Ganze ein wenig positiv. Du sitzt nicht alleine zu Hause herum, am ersten Weihnachtsfeiertag bist du eben mal bei uns!“ Es brauchte nicht viel, den Tierarzt zu überreden. Jürgen wusste genau, dass Harald sich gerne bei ihm aufhielt. In den Jahren, seit sich dieser oft genug um die Pferde kümmerte, war das eine oder andere Bier getrunken worden, an die unzähligen Diskussionen, die dabei geführt worden waren, wollte er gar nicht mehr denken.

 

Alex merkte sehr wohl, dass Michaels Blick immer wieder über ihren Körper wanderte, ab und zu auf ihrem Bauch haften blieb. Als es ihr zu unangenehm wurde, riss sie ihn mit den Worten „Du hast mir meine Frage noch immer nicht beantwortet“ aus seinen Träumereien. Michael konnte sich nur mit Mühe von ihr losreißen, schaute ihr in die Augen und nickte schließlich leicht. „Das stimmt … Jürgen hat mich gebeten, für ein paar Tage hierher zu kommen“, bekannte er endlich, „es stört dich doch nicht, wenn ich Edda mitgenommen habe? Ich hatte einfach keine Lust, alleine zu fahren!“ Sein Blick wurde beifallheischend, doch Alex tat ihm nicht den Gefallen, darauf einzugehen, sie überging seinen letzten Einwand einfach, wohl merkend, dass sich diese Edda oder wie immer sie auch heißen mochte, in diesem Raum einfach nicht wohlzufühlen schien. Aber darum wollte sie sich nicht kümmern – noch nicht! Im Moment war für sie etwas anderes wichtiger, viel wichtiger sogar. Sie wusste jedoch nicht, wie sie ein Gespräch darauf bringen sollte oder konnte. Denn irgendwie hatte sie ein solches nie wirklich führen wollen.

 

Ein leichter Schmerz durchzuckte sie, lenkte sie von ihren Gedanken ab, ihre Hand zuckte zu ihrem gewölbten Leib und streichelte behutsam, wie beruhigend, darüber. „Was ist los mit dir?“, hörte sie seine erschrockene Stimme fragen, „tut dir etwas weh?“ Langsam nickte sie, strich wieder über ihren Bauch, versuchte zu lächeln und hatte selbst den Eindruck, dass es gründlich misslang. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Michaels Begleiterin ziemlich unruhig auf ihrem Platz hin und her rutschte, war aber aus irgendeinem Grund jedoch froh darüber, dass diese Frau einfach nur schwieg.

 

Erstaunt wandte sie ihren Kopf der Tür zu, als sich diese öffnete und ihr Vater mit seinem Gast den Raum betrat. Ehe Alex den Tierarzt begrüßen konnte, durchzuckte ein heftiger Schmerz ihren Körper, der ihr einen spitzen Schrei entlockte. „Alex …“, rief Jürgen entsetzt und bemerkte mit wachsender Bestürzung, wie sich ihre Jeans dunkel färbte. „Das Baby kommt …“ meinte Alex nur, „die Fruchtblase ist geplatzt!“ Mit großen Augen schaute sie an sich hinunter, den Kopf ein wenig zur Seite gelegt. „Jetzt schon? ... das hatte doch noch ein paar Tage Zeit …“, stellte Jürgen konsterniert fest. Es war ihm anzusehen, dass er mit jeder Minute nervöser wurde und aus diesem Grund konnte man immer weniger mit ihm anfangen.

 

Mit aufgerissenen Augen beobachtete Michael sekundenlang das Ganze, ließ sich jedoch von der zappelnden Edda ablenken. Mit wilden Gesten wollte sie ihm zu verstehen geben, dass sie sich so vollkommen fehl am Platz vorkam.

 

Mit einer wegwerfenden Handbewegung wischte er ihre Gesten einfach zur Seite. Mit einiger Mühe schaffte er es, sein Handy aus der Hosentasche zu ziehen, um das dringend notwendige Gespräch zu führen. Harald Mühlhuber erfasste die Situation rascher, als der Hausherr selbst, schob diesen einfach zur Seite und war mit einem Male wieder ein Arzt, auch wenn es sich in diesem Fall um die Tochter seines Freundes handelte und nicht um einen für ihn gewohnten Patienten. In Alex’ Gesicht konnte er die Verwunderung erkennen, die sie im Augenblick empfinden musste, als sie erkannte, was Harald vorhatte.

 

Michael und Jürgen standen nur herum, fühlten sich fehl am Platz und unnütz. Erst die brummige Stimme des Tierarztes riss sie aus ihrer Erstarrung. „Jürgen, stell dir nur mal vor, Alex wäre eine deiner Stuten, die gerade ein Fohlen bekommt. Bring mir einfach die wichtigsten Dinge, die du auch bei Pferden bereitstellst. Hier brauche ich außerdem noch eine Unmenge an Handtüchern und eine Decke wäre auch nicht schlecht“, scheuchte er Jürgen aus dem Raum und wandte sich Michael zu. „Junge, du kannst dich auch nützlich machen. Lenk Alex einfach ein klein wenig ab, im Moment ist sie mir zu aufgeregt“, stellte der Arzt fest, „schau mich nicht so an. Wenn ich Jürgen richtig verstanden habe, bist du dafür auch ein wenig verantwortlich. Wenn du dich schon in den letzten Monaten ein wenig rar gemacht hast, kannst du ihr wenigstens jetzt ein wenig behilflich sein.“

 

Nach diesen Worten war es ruhig geworden im Raum, fast schon zu ruhig, so dass man eine Nadel hätte fallen hören können. Jeder vergaß darauf, zu atmen. Alle starrten den alternden Tierarzt an, der sich dessen gar nicht bewusst wurde, zu sehr konzentrierte er sich auf seine Arbeit, die an diesem Abend so von dem Gewohnten abwich. Aber warum sollte er nicht einem eiligen Menschenkind ausnahmsweise auf diese Welt helfen, wo er doch genau wusste, dass ein Rettungswagen bereits unterwegs war. Allerdings war ihm auch klar, dass dieser wohl wenige Minuten zu spät da sein würde, da bereits die ersten Presswehen bei Alex eingesetzt hatten.

 

Harald war überrascht zu sehen, dass Michael tatsächlich auf dem Sofa Platz nahm, den Kopf der werdenden Mutter behutsam auf seinen Schoß bettete. Sein Blick wanderte über ihr schweißnasses Gesicht, sachte streichelte er darüber und wagte ein zaghaftes Lächeln, als er bewusst wahrnahm, dass Alex seine Gesichtszüge musterte. Irgendwann traf sich ihr Blick, auch wenn sich in ihrem der Schmerz abzeichnete, der sich wieder in ihrem Körper breit zu machen schien. Am Rande hörte er, wie Harald Alex aufforderte, weiter zu pressen.

 

In sein Bewusstsein drang hektisches Geklapper von Frauenschuhen, kurz danach wurde eine Tür laut ins Schloss geworfen. Erst als etwas über seine Schulter gelegt wurde, hob er den Kopf und bemerkte Jürgen, der mit einem Stoß Handtücher und einer Schüssel heißem Wasser neben ihm stand. „Deine Begleitung hat fluchtartig das Haus verlassen, Michael!“, stellte Jürgen fest, legte den Kopf schief, als er beobachtete, wie Michael hilflos mit den Achseln zuckte. Lautes Stöhnen beendete ein Gespräch, ehe es richtig begonnen hatte. Erschrocken schauten die Männer in Alex‘ schmerzverzerrtes Gesicht. „Streng dich noch ein wenig an, Mädchen, gleich haben wir es …“, hörten sie die weiche Stimme von Harald, seine Augen begannen zu strahlen, nachdem er bisher nur vierbeinigen Lebewesen auf die Welt geholfen hatte, war das kleine Köpfchen, welches sich nun abzeichnete etwas völlig anderes. Einem kleinen Menschen, gerade an Weihnachten auf die Welt zu helfen, war nun wirklich etwas ganz besonderes für einen Tierarzt.

 

Ihr Atem ging rasch und hektisch, das Hecheln wurde lediglich unterbrochen, als sie während der Presswehen diesen anhielt. Ihre Hand suchte die von Michael, drückte sie kräftig, kaum dass seine ihre umschlungen hatte. Mit Mühe unterdrückte er einen Schrei, Alex schien unheimliche Kräfte zu entwickeln. Sein Daumen fuhr behutsam über ihren Handrücken. Mit der anderen Hand zog er das Handtuch von seiner Schulter, begann über ihre schweißbedeckte Stirn zu streichen. „Gleich hast du es geschafft, du wirst sehen …“, versuchte er beruhigend auf sie einzuwirken. An ihrem Blick konnte er erkennen, dass sie nicht an seine Worte glauben wollte. Erschrocken schnappte sie nach Luft, hielt sie kurz an, presste wieder und stieß einen markerschütternden Schrei aus. „Da ist sie schon, deine Tochter … ich wusste doch, dass es schnell geht … gut gemacht, Alex …“, lobte Harald, legte Alex das Neugeborene in den Arm, nachdem er es abgenabelt hatte und kümmerte sich direkt um die Nachgeburt.

 

Während Michael ausgesprochen behutsam das kleine Mädchen ein wenig säuberte, es in Handtücher und die viel zu große Decke wickelte, brüllte es, was das Zeug hielt. Es war ihm anzusehen, wie wenig er mit einem schreienden Kind anzufangen wusste.

 

Alex beobachtete es mit einem spöttischen Lächeln. Ihr Schmunzeln wurde noch breiter, als sie seine Worte realisierte, denen zu Folge sie mit dem Neugeborenen bereits auf dem Weg ins nächste Krankenhaus sein sollte. „Warum denn? Es ist interessant, dir zuzusehen. Außerdem ist im Moment dichtes Schneetreiben, da ist es sicherlich schwierig, hierher zu kommen“, stellte Alex fest, nachdem sie einen kurzen Blick aus dem Fenster geworfen hatte, „aber vielleicht solltest du dich um deine Begleitung kümmern, sie ist schon vor einer Weile verschwunden!“ Erstaunt schaute er sich um, bemerkte erst jetzt, dass Edda nicht mehr im Raum war und wunderte sich im Grunde gar nicht über diese Tatsache, da er genau wusste, was sie von diesem Ausflug gehalten hatte. Dieses Detail behielt er aber lieber für sich. Zärtlich streichelte er über das kleine Köpfchen, auf dem dunkle lange Haare zu sehen waren und legte das kleine Mädchen in die Arme seiner Mutter.

 

Langsam ließ er sich neben Alex nieder, die noch immer auf dem Sofa lag und auf ihn noch immer ziemlich mitgenommen wirkte. „Na, du …“, hörte er eine heisere Stimme, die sich zu seinem Leidwesen als seine herausstellte, „als dein Vater mich hierher eingeladen hat, hab ich mit allem Möglichen gerechnet, nur damit nicht, dass ich bei einer Geburt dabei sein sollte!“ Schüchtern lächelte er auf sie herab, seine Hand streichelte behutsam über ihre Wange. Diese Geste nahm sie mit einem dankbaren Blick zur Kenntnis, ihre Lippen verzogen sich zu einem leichten Schmunzeln. „So war das auch nicht geplant gewesen, Paulina hätte noch einige Tage Zeit gehabt. Vermutlich war sie neugierig darauf, wer … du bist …“, murmelte Alex vor sich, ihre Augen suchten ihren Vater, den sie neben Harald Mühlhuber ausmachte. Sie merkte, dass beide Männer sie interessiert beobachteten. Sie hatten sehr wohl das kaum merkliche Zögern bei Alex‘ Worten bemerkt, gebannt warteten sie darauf, was nun weiter gesprochen wurde.

 

Vorerst warteten sie vergeblich auf eine Fortsetzung des Gespräches, Paulina zog die Aufmerksamkeit ihrer Mutter neuerlich auf sich, indem sie glucksende Laute von sich gab, auch wenn sie tief und fest zu schlafen schien. Die Geburt war auch für sie anstrengend gewesen. „Die Kleine erinnert mich an Mike, als er ein paar Stunden alt war“, warf Michael plötzlich ein, er hielt Alex‘ Blick gefangen, schaffte es auch, dass sie seinem standhielt, „ich denke mir, dass wir etwas zu klären haben!“

 

Vorerst brachte Alex nur ein Nicken zustande, hielt seinem Blick plötzlich nicht mehr stand, sondern wich aus und fixierte den kleinen Kopf, der auf ihrer Brust ruhte.

 

Geduldig wartete Michael auf ein Wort von ihr, blickte dann doch einige Male auf die Uhr. „Wo um alles in der Welt bleibt denn der Krankenwagen?“, wollte er plötzlich wissen und schaute fragend zu Jürgen. „Du hast recht, der sollte eigentlich schon hier sein. Kläre du mal die Sache mit Alex, ich werde rasch noch einmal anrufen“, schlug Alex’ Vater vor, erhob sich und verließ rasch den Raum, auch wenn er neugierig genug war und wissen wollte, was bei der längst fälligen Unterhaltung herauskommen würde. Auch Harald verließ den großen Wohnraum, folgte seinem alten Freund, sichtlich stolz darauf, dass er einem Menschenkind auf die große Welt geholfen hatte – auch für ihn eine neue Erfahrung! Er war froh darüber, dass alles so glatt gegangen war, keine Komplikationen aufgetreten waren, denn dann wäre auch er wahrscheinlich an seine Grenzen gestoßen.

 

Erst als sich die Tür hinter den beiden Männern geschlossen hatte, wandte Michael sich wieder Alex zu, deren Kopf noch immer auf seinem Schoß ruhte und sich dort auch wohl zu fühlen schien. Sein Blick wurde fragend, als dieser auf Alex‘ Augen traf. Wenige Sekunden wartete Michael vergebens darauf, dass sie als Erste das Wort ergriff. „Du solltest mir vielleicht etwas sagen, findest du nicht?“, wollte er endlich wissen, hielt ihren Blick gefangen und war erstaunt darüber, dass sie diesem sogar standhielt. Auf ihrem Gesicht schlich sich ein leichtes Lächeln, während sie sachte nickte, um ihre kleine Tochter nicht zu wecken. „Erinnerst du dich an das Wochenende, bevor du sang- und klanglos verschwunden bist?“, erkundigte sich Alex neugierig, fuhr schließlich fort, als Michael nickte: „Wir haben die ganze Zeit im Bett verbracht, und ich habe es damals unheimlich genossen. Da ich Monate vorher schon keinen Freund hatte, verwendete ich natürlich auch kein Verhütungsmittel. Du hast es irgendwie geschafft, mich so gut abzulenken, dass ich nicht mehr an solche Dinge gedacht habe und das Ergebnis siehst du hier!“ Glücklich lächelnd schaute sie zu Paulina hinunter, streichelte behutsam über deren Rücken. „Dich stört es nicht, dass es dieses Kind gibt?“, fragte Michael erstaunt. „Nein, natürlich nicht … ich wollte doch schon immer Kinder haben, weißt du das nicht mehr? Aber es hat nie geklappt. Ich war so froh darüber, dass es funktioniert hat und war aber gleichzeitig so enttäuscht, dass du plötzlich verschwunden warst. Vergeblich hab ich versucht, dich irgendwo zu erreichen. Wo hast du bloß gesteckt all die Monate?“, erkundigte sich Alex, aus großen Augen beobachtete sie ihn, verstand nicht, warum sich sein Gesicht plötzlich verschloss und sie nicht mehr daraus lesen konnte.

 

„Warum antwortest du mir nicht? Steckt diese Frau dahinter, mit der du gekommen bist?“ hinterfragte Alex ängstlich. Eigentlich hatte sie absolut keine Lust darauf, die Wahrheit zu erfahren. Mit Erstaunen nahm sie sein Kopfschütteln zur Kenntnis. „Tut mir leid, Alex, dass ich dich enttäuschen muss, damals war ich allein. Den Grund für mein plötzliches Verschwinden war eine verdeckte Ermittlung, von der absolut keiner wissen durfte. Sie hat einige Monate gedauert, kaum war ich wieder zurück im Kommissariat, warst du nicht mehr für mich zu erreichen“, stellte er mit Bedauern fest, „ich verstehe bis heute nicht, warum wir keinen Kontakt mehr hatten, als dieser Fall abgeschlossen war. Erst als dein Vater im K11 angerufen hat, bin ich wieder auf dich aufmerksam geworden, und da sitze ich nun!“ „Ja, jetzt sitzt du hier und erlebst die Geburt deiner Tochter hautnah mit. Weißt du, was mir keine Ruhe lässt?“, verwundert schaute sie zu ihm auf und merkte, dass seine Augen an diesem Tag mehr leuchteten, als sie es in Erinnerung hatte, „erklär mir bitte, warum du diese Frau mitgenommen hast, sie passt doch so gar nicht zu dir!“ Ein leichter Schatten legte sich über ihr Gesicht, als sie sein leises Lachen hörte. „Meinst du?“, kicherte er, sanft streichelte er über ihre Wange, „du hast recht, Alex, aber sie ließ mir absolut keine Ruhe, sie wollte unbedingt wissen, wohin ich fahre. Außerdem wollte ich nicht alleine diese lange Strecke hierher fahren. Aber in gewisser Weise war sie nur eine Ablenkung, eine Art Trost, weil du verschwunden warst. Komischerweise ist mir das erst klar geworden, als ich dich plötzlich vor mir sah und während du mir eben die Hand fast zerquetscht hast, ist mir klar geworden, was ich wirklich in den letzten Wochen gesucht habe.“

 

Lauschend hob er den Kopf, Alex nicht aus den Augen lassend. „Ich höre den Rettungswagen“, stellte er überflüssigerweise fest, „und ich werde dich begleiten!“ Michael genoss sichtlich das Strahlen auf ihrem Gesicht. „Das würdest du wirklich tun?“, wollte sie erstaunt wissen. Bedächtig nickte er, ehe er etwas sagte: „Natürlich mache ich das, vorher verrätst du mir aber noch, wie du auf den Namen „Paulina“ kommst?“

 

Belustigt schaute sie zu ihm auf. „Während der Geburt ist mir eine alte Tante eingefallen, die ebenfalls Paulina geheißen hat. Da hab ich mich spontan entschlossen, unsere Tochter so zu nennen. Ich hoffe doch, dass du nichts dagegen hast!“, erwiderte sie. Michael nickte nur, wurde von der sich öffnenden Tür abgelenkt.

 

Mit raschen Schritten kamen der Arzt, sowie die Sanitäter auf Alex zugelaufen. Mit großen Augen schauten sie auf das Baby hinab, das noch immer tief und fest schlief, auch wenn um es herum so viel mehr Menschen waren, als noch vor Minuten. „Wer hat dich denn geholt?“, wollte einer der Männer ziemlich erstaunt wissen, als er das kleine Mädchen behutsam zu sich nahm, damit seine Mutter untersucht werden konnte. Alex kicherte vor sich hin, ehe sie antwortete: „Der Tierarzt meines Vaters war gerade hier, als es losging …“

 

Die Besatzung des Einsatzfahrzeuges blickte sich erstaunt an, ehe sie ziemlich irritiert mit dem Kopf schüttelten. „Gute Arbeit …“, brachte der Arzt zufrieden hervor, „schaffen Sie es, alleine zum Wagen zu kommen?“ Hilflos zuckte Alex mit den Schultern. „Ich weiß es nicht …“, gab sie kleinlaut zu, schaute zu Michael auf. „Wir holen uns den Sessel …“, bot der Sanitäter an, wartete eine Antwort erst gar nicht ab, sondern verschwand mit raschen Schritten aus dem Haus.

 

Zurück kam er im Schlepptau mit Edda. An ihrem Gesichtsausdruck war ihre Gemütsregung abzulesen. „Können wir reden?“, wollte sie von Michael wissen. Aus einem ersten Impuls heraus schüttelte er den Kopf, wandte diesen Alex zu, versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, was ihm vorerst nicht gelang. Es war ihm anzusehen, dass er nicht wusste, wie er sich richtig verhalten sollte. „Ich werde mit dir ins Krankenhaus fahren!“, erklärte er Edda, verzog entschuldigend das Gesicht und wandte sich wieder der Mutter seiner Tochter zu. Er merkte sehr wohl, dass Edda seine Antwort nicht besonders behagte.

 

Alex räusperte sich kurz, um die Aufmerksamkeit Michaels auf sich zu lenken. „Du klärst das jetzt und kommst dann ins Krankenhaus. Schau mich nicht so an, du wirst sicherlich nichts versäumen, Michael, glaub mir. Paulina und ich werden wahrscheinlich nochmals gründlich untersucht, dabei langweilst du dich sicherlich“, bemerkte Alex belustigt, half dem Sanitäter dabei, sie auf den bereitgestellten Rollstuhl zu setzen. Mit Paulina auf dem Arm wurde sie zum Rettungswagen geschoben. Ehe sie in den Vorraum geschoben und die Tür hinter ihnen geschlossen wurde, warf Alex Michael noch einen schnellen Blick zu. Er lächelte ihr noch zaghaft zu, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwand.

 

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Kaum hatte er beobachtet, wie Alex in den Krankenwagen verladen worden war, wandte er sich zu seiner Begleiterin um. Mit Entsetzen nahm er ihr siegessicheres Lächeln wahr. „Hast du jetzt erreicht, was du wolltest?“, wollte er ungehalten wissen, drehte sich wieder zum Fenster, vor dem er noch immer stand, starrte in die Dunkelheit, ohne wirklich etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen. Noch immer sah er ihr hämisches Gesicht vor sich, auf dem sich ein spöttisches Grinsen immer breiter machte. „Nein, hab ich nicht“, antwortete Edda unwirsch, stapfte mit dem Fuß auf, „ich frage mich nämlich schon die ganze Zeit, warum ich hier her gekommen bin!“ Ihr Blick wurde erwartungsvoll, legte bei ihrer Musterung den hübschen Kopf schief. „Weißt du, Edda, ursprünglich wollte ich Jürgen einen kurzen Besuch abstatten, darum hatte er mich ja vor ein paar Tage gebeten, aber du hast ja keine Ruhe gegeben und wolltest unbedingt mit, um zu sehen, wohin ich fahre. Bevor du auf dumme Gedanken kommst – Alex ist eine Kollegin, wir arbeiten seit Jahren im K11 zusammen …“, gab Michael zu, erstaunt realisierte er Eddas humorloses Lachen. „Och, eine Kollegin also, es stört dich doch hoffentlich nicht, dass ich dir genau das nicht glaube … Kollegin – so ein Unsinn aber auch!“, donnerte Edda, auf dem Absatz fuhr sie herum und starrte Michael wütend an, „du solltest mir vielleicht erklären, warum du mit ihr so anders umgegangen bist. Was ich vorhin beobachtet habe, gab mir das Gefühl, dass ich für dich ein Klotz am Bein bin! Wahrscheinlich war ich nur eine Notlösung, solange du diese Frau nicht bei dir hattest.“ Abwartend schaute sie ihm in die Augen. Unwillig tat er ihren Wutausbruch mit einer Handbewegung ab, hielt es gar nicht für notwendig, überhaupt eine Antwort zu geben, auch wenn er wusste, dass sie ein Recht darauf hatte. Gedankenlos begann er auf seinen Lippen herumzukauen, krampfhaft überlegte er sich, wie er sich aus der Affäre ziehen konnte, wie er Edda am Schnellsten wieder loswerden konnte.

 

Ehe er noch einen klaren Gedanken fassen konnte, kam Jürgen wieder in den Raum und schaute sich erstaunt um. „Ist Alex schon auf dem Weg ins Krankenhaus?“, wollte er aufgeregt wissen. Michael nickte nur abwesend, seine Gedanken waren noch immer bei dem vor kurzem geführten Gespräch. „Und warum bist du noch hier? Ich dachte doch, dass du mitfährst!“, meinte Jürgen verwundert und schaute irritiert zwischen den beiden Menschen hin und her, die mit ihm im Zimmer waren. „Das hatte ich eigentlich auch vor, aber ich wurde leider aufgehalten. Jetzt weiß ich nicht einmal, wo Alex mit Paulina ist“, gestand Michael kleinlaut, bittend blickte er Jürgen in die Augen. Dieser verstand sofort, was gemeint war, beantwortete Michaels versteckte Frage auch sofort. Mit einem feinen Lächeln nahm Jürgen wahr, dass sich der Jüngere auch sofort umwandte und zur Tür ging. Nur Edda hielt ihn gerade noch am Oberarm fest.

 

„Wo willst du denn hin?“, fuhr sie Michael an, ihre Augen sprühten vor Zorn. Ungehalten schüttelte er ihre Hand ab, starrte sie kurz an und überlegte sich eine entsprechende Antwort. „Du hast doch gerade gehört, dass ich ursprünglich Alex in die Klinik begleiten wollte, dank deiner stehe ich noch immer hier“, knurrte er schließlich. „Ach, sie ist also nur eine Kollegin?“, donnerte Edda, ihre Stimme klang so schrill, dass Michael sich wünschte, taub zu sein, um sie nicht hören zu müssen. „Du hast recht, sie ist mehr als nur eine Kollegin, deshalb werde ich jetzt auch zu ihr fahren. Immerhin hab ich es ihr versprochen“, stellte er kühler fest, als es eigentlich angebracht wäre, doch ihr Verhalten stieß ihn im Augenblick so sehr ab, dass er froh war, den Reiterhof der Familie Rietz wieder verlassen zu können.

 

Zu seinem Leidwesen kam Edda ihm nach, wieder hielt sie ihn fest. „Nimmst du mich wenigstens bis zum nächsten größeren Ort mit, an dem eventuell ein Zug nach München hält?“, wollte sie ergeben wissen. Michael nickte nur schweigend, hielt ihr aber die Autotür auf und ließ sie einsteigen. Schwungvoll warf er die Wagentür zu, ehe er sich selbst hinter das Steuer setzte.

 

„Danke fürs Bringen …“, murmelte Edda ungehalten, nachdem sie die Autotür geöffnet hatte, ein Bein stand bereits neben dem Wagen. „Bitte …“, brummelte Michael nur, er hielt es aber nicht mehr für notwendig, noch ein Wort mit ihr zu wechseln. Er beobachtete sie nur dabei, wie sie das Fahrzeug endlich verließ und auf das Bahnhofsgebäude zulief. Weit war sie nicht gekommen, als ihr noch etwas einzufallen schien, sie drehte sich aus diesem Grunde wieder Michael zu und kam mit raschen Schritten auf seinen Wagen zu, dessen Seitenfenster von ihm herabgelassen wurde. Erwartungsvoll wurde Edda angeschaut. „Was ist?“, wollte Michael wissen, als sie schwieg. „Weißt du was, du Mistkerl?!? Lass dich bei mir einfach nie mehr blicken! Verstehst du das?“, schrie sie ihm endlich ins Gesicht, drehte sich sofort wieder um, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, überhaupt noch etwas zu sagen. „Aber natürlich … liebend gerne!“, flüsterte er vor sich hin. Mit einem feinen Lächeln auf den Lippen stieg er auf das Gaspedal und brauste mit quietschenden Reifen davon, Richtung Krankenhaus.

 

~~~~~

 

Ohne große Eile fuhr der Krankenwagen seinen Weg, da nach der Erstuntersuchung mit Mutter und Kind alles soweit in Ordnung war, war nun keine große Eile geboten. Mit einem anerkennenden Blick musterte der Notarzt Alex und ihre Tochter. „Gute Arbeit …“, murmelte er vor sich, lobte den Einsatz des Tierarztes, konnte sich aber ein leichtes Lächeln nicht ganz verkneifen. Irgendwie erinnerte es ein wenig an die Weihnachtsgeschichte. Hier war zwar kein Kind in einem Stall, inmitten von Tieren geboren, aber dafür hatte es ein Tierarzt auf die Welt geholt. Im Krankenhaus wurde Paulina dann noch richtig untersucht, gewogen und gemessen, auch dieser Kollege wollte sich von der guten Arbeit des Tierarztes überzeugen. Nachdem die Ärzte mit Mutter und Tochter zufrieden waren, alles in Ordnung war, wurde Alex das kleine Mädchen wieder in den Arm gelegt. Glücklich lächelte sie auf ihre Tochter hinab, vergaß in diesem Augenblick einfach deren Entstehung und freute sich nur am Anblick des kleinen Wesens.

 

Mit raschen Schritten kam Michael aus dem Stiegenhaus, auf den Aufzug hatte er einfach nicht warten wollen, um die Ecke geeilt, schaffte es gerade noch, nicht in Alex‘ Bett hineinzulaufen. Erstaunt schaute er darauf hinab. „Du bist schon fertig?“, wunderte er sich, lächelte zaghaft auf sie herab, während er neben dem Bett herging, welches soeben in ein Zimmer geschoben wurde. „Wie du siehst, Michael. Paulina und ich sind doch nur noch untersucht worden. Und ich muss sagen, unser Tierarzt hat gute Arbeit geleistet“, grinste Alex, mit großen Augen beobachtete sie Michael dabei, wie er seinen hinter dem Rücken versteckten Arm nach vorne holte und ihr einen kleinen Blumenstrauß auf das weiße Lacken des Bettes legte, sein Lächeln wurde noch verlegener, als es ohnehin schon war. „Danke …“, hauchte sie, strahlte zu ihm auf. Wie von selbst suchte ihre Hand nach seiner, drückte sie sachte.

 

Vorsichtig setzte er sich neben Alex, ohne diese loszulassen, verträumt schaute er ihr in die Augen und wusste nicht, was er sagen sollte. So beschloss er einfach, das Ganze zu genießen, still zu sein und zu warten, was Alex machen würde.

 

An ihrem Gesicht merkte er, wie es in ihr arbeitete. Er überlegte gerade, wie lange er auf ein Wort von ihr warten sollte, als sie sich kurz regte und sich ein wenig nach oben schob, nahm Paulina etwas anders in den Arm, so dass sie sie nun besser halten konnte, während sie im Bett saß. „Hast du noch mit dieser Edda geredet?“, wollte Alex wissen, blickte Michael neugierig in die Augen. Er nickte langsam, überlegte, was er antworten sollte. „Sie hat mich gebeten, sie einfach in Frieden zu lassen …“, gab er endlich zu, „und ich muss zugeben, dass ich mit dieser Bitte einfach kein Problem haben werde.“

 

Alex schwieg vorerst für kurze Augenblicke, dachte kurz über seine Worte nach. „Ich hoffe doch, dass ich nicht schuld daran bin“, murmelte sie vor sich hin. An ihrer Stimme war die ganze Gemütslage herauszuhören, die sie gerade durchleben musste, denn sie hatte sich nicht in eine Beziehung drängen wollen. In den letzten Monaten hatte sie sich durchaus darauf vorbereitet gehabt, ihr Kind allein großziehen zu müssen. „Du bist nicht schuld daran, dass sie mich abgeschossen hat, vielleicht warst du nur der Auslöser dafür, aber ich muss zugeben, dass es eigentlich nie wirklich funktioniert hat. Am Anfang habe ich nicht so wirklich darauf geachtet und irgendwie war ich einfach nur froh, dass ich nicht allein war. Über das Miteinander von ihr und mir habe ich mir nie groß Gedanken gemacht“, gestand Michael kleinlaut, „aber ich habe nicht geahnt, dass ich dich bei deinem Vater wiederfinde, Alex, und ich muss zugeben, dass ich Jürgens Einladung erst jetzt begreife. Vermutlich waren du und Paulina der Grund dafür!“ Nachdenklich nagte Alex an ihrer Unterlippe, schwieg unendlich lange Sekunden, ehe sie sich zu einem leichten Nicken durchringen konnte.

 

„Ich kann mir das durchaus vorstellen, Micha, denn er wollte unbedingt wissen, wer der Vater seines Enkelkindes ist, denn ich war gemein genug, es ihm nicht zu erzählen. Warum er ausgerechnet auf dich gekommen ist, weiß ich trotzdem nicht“, erklärte Alex, „auch wenn ich weiß, dass er uns gerne als Paar sehen würde!“ Sie registrierte sein feines Lächeln, das leichte Grübchen auf seine Wangen zauberte und sie immer wieder faszinierte. „Wäre das wirklich so abwegig?“, forschte er, rückte immer näher zu ihr und streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken. Mit Genugtuung sah er ihr leichtes Kopfschütteln und es zauberte ein Leuchten in seine Augen.

 

„Dieses Wochenende damals hab ich schon so genossen, konnte mich endlich wieder als Frau fühlen, die begehrt wird. Ich könnte mir viele Wiederholungen durchaus vorstellen …“, gab Alex zu. Michael grinste auf sie herab. „Dann wollen wir daran arbeiten, wenn du wieder aus der Klinik entlassen wirst. Außerdem sollte Paulina in einer Familie aufwachsen können …“, schlug er vor, während er sich langsam zu ihr hinab beugte und mit ihren Lippen zu spielen begann. Endlich öffnete sie ihre, ließ einen überaus sanften Kuss zu, der sie an dieses Wochenende vor langer Zeit erinnerte. „Das wird doch nicht der einzige Grund dafür sein?“, nuschelte Alex, als sie diesen endlich ein wenig stoppte, um Michael in die Augen schauen zu können. Aber sie ließ ihm nicht die Möglichkeit, überhaupt zu einer Erwiderung anzusetzen, sondern setzte ihn mit einer Intensität fort, die ihm den Atem raubte.



- E N D E -


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Tag der Veröffentlichung: 18.12.2015

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