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„Bruder, lass uns nach Hause gehen.“
Die zittrige Stimme des jungen Mädchens halte laut im Inneren des Tempels, den sie gerade betreten hatten. Theromon blieb inmitten des Raumes stehen und schlug zwei schillernde Kristalle aneinander. Funken stoben auf, und bald schon fingen die Kristalle an den Raum zu erhellen. Seit man diese Lichtquelle vor zweihundert Jahren beim Bergbau entdeckt hatte, erleuchtete sie die Häuser der Menschen. Diese Kristallvorkommen waren so groß, dass sogar mittellose Familien sie sich leisten konnten. Noch dazu behielten die Steine zwanzig Jahre lang ihre Fähigkeit zu leuchten. Sorgsam verstaute er die Leuchtkristalle in einen tragbaren Behälter und hob ihn in die Höhe, damit er sich besser umsehen konnte.
In dem hohen, runden Raum erhoben sich zehn riesige Statuen, fünf Frauen und fünf Männer. Sie waren wie der Tempel so uralt, dass längst in Vergessenheit geraten ist wer die Figuren in Stein gemeißelt hatte. Das Licht wurde von den vergoldeten Wänden zurückgeworfen und verlieh den Statuen etwas Überirdisches. Als Kind hatte er meist Stunden hier verbracht und diesen Raum staunend betrachtet. Heute ließ ihn diese majestätische Würde kalt.
„Komm schon, Kassia. Der Eingang ist dort drüben.“ Theromon deutete zu der Falltür hinter einer der großen Götterstatuen. Die hohe, barbusige Gestalt der Göttin Anythe baute sich schützend davor auf. Kein anderer Mensch schien den Eingang sehen zu können, doch seine Schwester und er waren keine normalen Menschen.
Zielstrebig ging er darauf zu und setzte an, die Falltür zu öffnen. Wenngleich seine Schwester vor Furcht zitterte, so half sie ihm dabei die schwere Tür hochzuheben.
Eigentlich war sie mit komplizierte, magische Siegeln versehen, doch das Blut der Göttin Anythe wurde vor tausend Jahren den Menschen zugefügt, als sie sich für einen menschlichen Mann als Geliebten entschieden hatte und ihren göttlichen Gatten verstieß. Dieses Kind war der Urahn von Theromon und seiner Schwester gewesen. Damals verlieh diese Abstammung große magische Kräfte, doch heute war das Blut so verwässert, dass es ihnen lediglich dabei half die magische Sperre zu überwinden.
„Mutter hatte nicht gewollt, dass wir diesen Ort betreten“, flüsterte Kassia nachdem sie mit vereinten Kräften die schwere Falltür angehoben hatten.
„Unsere Mutter ist tot“, antwortete Theromon und begann die Steinstufen nach unten in die Dunkelheit zu klettern. Ihre Mutter war vor drei Jahren an einer unbekannten, unheilbaren Krankheit gestorben, die den Körper immer mehr gelähmt hatte, bis die Lähmung das Herz erreichte und dies hatte zu ihrem Tode geführt. In diesen langen Tagen des Sterbens hatte sie ihre Kinder immer wieder ermahnt sich von dem alten Tempel fernzuhalten. Damals war er fest entschlossen gewesen ihrer Bitte nachzukommen.
„Umso mehr sollten wir ihren letzten Wunsch achten.“
Unentschlossen blieb Kassia stehen. Im grellen Schein der Leuchtkristalle wirkte sie mit ihrer hellen Gestalt wie die junge Göttin oben im Tempel. Sie hatte eindeutig das schöne Aussehen seiner Mutter geerbt. Er, mit seinen schwarzen Haaren und den blauen Augen kam mehr nach seinem Vater, der kurz nach Kassias Geburt in einer Schlacht zur Verteidigung des Dorfes gefallen war.
So unterschiedlich sie auch waren, so hatten sie das gleiche Blut in den Adern und waren die letzten Nachfahren Anythes und genau aus diesem Grund waren sie hier.
Theromon wandte sich seiner jungen Schwester zu. Im letzten Monat war sie gerade erst sechzehn Jahre alt geworden und war somit drei Jahre jünger als er. Viele der jungen Männer im Dorf hatten bei ihm um sie geworben, doch er war nicht in der Lage gewesen eine passende Antwort zu geben, wenngleich er wusste, dass Kassia einem von ihnen besonders zugetan war.
Nach dem Tod seiner Eltern hatte er für Kassia und sich gesorgt. Er hatte die Felder bestellt und Geld zu essen für sie beide verdient. Eigentlich war er zufrieden mit seinem Leben gewesen und das sogar noch mehr, als Sonya, Perons Tochter, seinem Werben nachgegeben und seinen Antrag angenommen hatte. Sonyas Vater, der Dorfälteste, war Theromons Lehrer und ein Priester Sakkons. Wenngleich die meisten Götter bis auf einen den Tod gefunden hatten, hielt der alte Mann an seinem Glauben und seinen Gebeten fest. Dennoch war er nicht erpicht darauf die gleiche Frömmigkeit von Theromon zu verlangen, er lehrte ihn lediglich mit einem unerfreulichen Aspekt seiner ungewöhnlichen Abstammung zurechtzukommen.
Wenngleich Theromon vom Aussehen her nichts mit der Göttin gemein hatte, so zeigte sich seine Herkunft deutlich dadurch, dass er Dinge sah, die in der Zukunft geschehen würden.
Anfangs hatte er diese Gabe ignoriert und sie als Phantasie abgetan, aber als immer mehr Träume wahr wurden, begann er sie zu fürchten. Besonders der letzte Traum machte ihm zu schaffen.
Natürlich war er damit sofort zu Peron gegangen. Der alte Mann hatte ihn in seinem Haus willkommen geheißen und ihm das geraten was er heute tat. Suche das Heim der Götter auf

, hatte er gesagt. Und nimm deine Schwester mit

.
„Peron hat es mir geraten, er war immer gut zu uns“, sprach er zu Kassia und runzelte die Stirn als er ihren Unwillen sah.
„Ich mag ihn nicht, Thero. Er hat etwas Tückisches in seinen Augen.“
„Unsinn. Jetzt komm schon, Kassia.“ Entschlossen griff er nach der Hand seiner Schwester und zog sie vom Eingang fort.
Die unterirdischen Räume des Tempels waren schmal und eng gebaut. Das Licht der Kristalle erhellte ihnen den Weg und so sahen sie manches Mal die Überreste neugieriger Abenteurer, die es nicht wieder nach draußen geschafft hatten. In den Annalen des Dorfes stand geschrieben, dass vor hundertfünfzig Jahren Räuber die Gegend unsicher gemacht hatten. Vermutlich hatten manche hier ihr Ende gefunden.
Die Hand seiner Schwester zitterte merklich. Sie war von scheuem, unschuldigem Gemüt und mied Konfrontationen. Wäre die Göttin Anythe noch am Leben, sie wäre deren Priesterin geworden. Doch so wurden alle Götter dahingerafft bis auf einen und diesem Gott wollte niemand dienen.
Nachdem sie eine halbe Stunde in den unteren Gewölben des Tempels unterwegs waren, verbreitete sich der Weg zum ersten Mal.
Theromon trat durch den Durchgang und erzitterte, denn etwas schien über seinen Körper zu gleiten und ihn zu durchleuchten. Kassia stieß ein erschrockenes Keuchen aus, doch sie blieb an seine Seite.
„Ich glaube, wir sind gleich da“, flüsterte Theromon. Er kannte diese Gänge nicht, doch Peron hatte ihm eine detaillierte Karte gegeben, die er in den vergangenen Tagen studiert hatte.
Vor ihnen erstreckte sich ein runder Raum, in dessen Mitte sich ein natürlich erschaffener Fels befand. Der Stein schien wie eine Wurzel aus dem Boden zu ragen, sich wie der Rahmen einer runden Tür in die Luft zu winden und sich zwei Fuß weiter wieder in den Boden zu senken.
Die Luft roch feucht aber auch frisch. Unweit der natürlichen Felsformation erstreckte sich ein dunkler See.
„Es ist genauso wie Peron es beschrieben hat“, sagte Theromon mehr zu sich selbst.
Kassia schlang die Arme um sich selbst. Sie trug ein wadenlanges blaues Gewand und einen Umhang, doch die Kälte hier unten machte ihr zu schaffen.
„Wir müssen da durch“, teilte er ihr entschieden mit und zum ersten Mal schüttelte sie den Kopf.
„Nein, ich will da nicht durch. Thero, lass uns nach Hause gehen“, flehte sie ihn an. Ihre Stimme ähnelte dem eines kleinen Kindes und unmerklich fing sie an rückwärts zu gehen.
Mit zusammengepressten Lippen griff Theromon nach ihrer kleinen Hand und zwang sie weiter auf die Formation zu. Aus dem Mund seiner Schwester drang ein leises Schluchzen, doch er stählte sich gegen die aufkeimenden Gefühle. Zu stark waren die Bilder seines prophetischen Traumes um sie zu ignorieren.
„Bitte, Thero. Bitte, nicht.“
Sonyas Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf. Die mandelförmigen Augen, die ihn immer mit einem Schalk darin ansahen, betrachteten ihn liebevoll. In ihr hatte er seine Partnerin gefunden, mit ihr wollte er eine Zukunft haben, doch das würde nicht geschehen, wenn er das nicht erledigte wofür er gekommen war.
Unsanft zog er Kassia mit sich und trat unter den Fels. Was danach mit ihm geschah, war kaum zu ertragen. Sein Blut schien plötzlich in seinen Adern zu kochen. Gemeinsam mit Kassia sank er in die Knie und schrie auf. Schmerzwellen rasten durch seinen Körper, zerrten an seinen Nervenenden. Es fühlte sich an, als würde man sogar an seiner Seele zerren. Wie lange dieser Zustand andauerte konnte er nicht sagen, doch als er zu sich kam, befand er sich nicht mehr in dem runden Raum, sondern lag auf einem glatten, schwarzen Marmorboden.
Neben sich konnte er Kassias reglosen Leib erkennen, das helle Haar bedeckte ihr Gesicht, doch ihr Busen hob sich regelmäßig unter dem Gewand.
Theromon kam auf die Beine und sah sich um. Das Licht der Kristalle erstrahlte immer noch so hell wie eh und je, doch dieses Mal schien es die Dunkelheit dieses Ortes nicht durchdringen zu können.
„Der andere Ort“, murmelte er ehrfürchtig. Der Fels war, wie Peron gesagt hatte, ein Portal und er hatte sie hierher gebracht, an den Ort, an den die Götter gelebt hatten.
Neugierig geworden ging er einige Schritte voran, doch er konnte nicht weit sehen und fürchtete Kassia in dieser Finsternis zu verlieren. Schnell kehrte er zu ihr zurück und rüttelte sie leicht an der Schulter.
Leise stöhnend kam sie zu sich.
Während sie sich zu fangen versuchte, dachte er über den Grund nach, warum er diesen Ort aufgesucht hatte.
„Weißt du, warum Mutter niemals wollte, dass wir hierher kommen?“
Überrascht hielt Kassia inne und sah ihn an. Ihr Gesicht nahm wieder Farbe an, doch die Augen waren groß und voller Furcht. Schweigend schüttelte sie den Kopf.
„Wir sind etwas Besonderes, Kassia“, teilte er ihr mit. „Das Blut Anythes fließt in unseren Adern, aber es wirkt unterschiedlich.“
Helfend hielt er ihr die Hand hin und zog sie auf die Beine. Sonya reichte ihm bis zum Kinn, aber Kassia war wesentlich kleiner. „Meine Gabe ist es, zu sehen was die Zukunft bringt“, verriet er ihr. „All das Schlimme und Grausame kann ich sehen, lange bevor es wirklich geschieht.“
Er sah wie sie den Mund öffnete um etwas zu sagen und kam ihr rasch zuvor. „Aber ich bin hier nicht der einzige Mensch mit einer Gabe.“
Verwundert schüttelte Kassia den Kopf. „Aber ich habe keine Gabe.“
„Oh, doch“, entgegnete er wissend. „Als du drei warst bist du in dem Teich unweit unseres Hauses gefallen, bei deinem siebten Geburtstag fiel dir ein großer Ast auf den Kopf und erst vor drei Jahren hast du dir ein Messer in den Bauch gerammt, weil du gestolpert bist. Was verrät dir das?“
„Dass ich eben ein Tollpatsch bin“, entgegnete Kassia ängstlich.
„Nein, Kassia!“ Theromons Stimme hatte zornig geklungen. „Du warst dreimal tot und bist jedes Mal zurückgekehrt. In der Menschenwelt bist du unsterblich, Schwester.“
Erschrocken wich sie vor ihm zurück, doch die tiefe Dunkelheit hier fürchtete sie sogar noch mehr als ihn. „Thero…“
„Und weil du nicht sterben kannst, wird das was ich gesehen habe wahr werden“, verriet er ihr weiterhin. „Kassia…“
Kassias Augen weiteten sich sogar noch mehr als er die Hand hinter seinem Rücken wegzog und darin ein Dolch lag.
„Sonya wird sterben“, stieß er hervor. „Das ganze Dorf wird sterben, alles wird sterben weil du nicht sterben kannst.“
Kopfschüttelnd hob Kassia die Hände hoch. „Nein, das ist nicht wahr.“
„Ich habe es gesehen!“
Entsetzt wich sie nun doch von ihm zurück, doch er war schneller und packte sie, drückte sie mit einem Arm gegen seine Gestalt, während die Hand des anderen Armes den Dolch tief von unten zu ihrem Herzen hochstieß.
Während sie einen schluchzenden Schrei ausstieß, presste Theromon die Lider fest aufeinander. Er wollte seiner Schwester nicht ins Gesicht sehen, wollte die Enttäuschung und die Vorwürfe darin nicht sehen, wollte nichts von dem Schmerz sehen. In diesem Moment verlor sie das Urvertrauen in ihn und auch wenn er der Mörder war, er konnte sie verstehen. Diese Tat war verabscheuungswürdig, er war verabscheuungswürdig.
„Thero…“ Der leise Laut klang seltsam verloren in der Stille dieses Ortes. Kassia sank endgültig gegen ihn und er ließ sie zu Boden gleiten.
Seine Augen wanderten zu dem Dolch in seiner Hand, den er schließlich auch fallen ließ. Dunkles Blut tränkte den Stoff seines Ärmels und seine Hand, warm tropfte es zu Boden und verunreinigte den makellosen Marmor.
„Es ist getan“, wisperte er in der Stille und kurz darauf fing er an zu zittern. All die unterdrückten Gefühle kamen in ihm hoch. Die Schuld, der Schmerz, aber am allerschlimmsten war der Selbsthass. Er hatte das Ende der Welt gesehen und gewusst, dass Kassia dieses Ende einleiten würde, doch trotz allem hatte er seine Schwester sehr geliebt.
Theromon wich von dem immer kälter werdenden Leib zurück und taumelte in die Dunkelheit. Es war richtig gewesen! Die Menschheit war ein solches Opfer wert gewesen! Selbst wenn er sich diesen feigen Mord niemals verzeihen konnte, es war richtig gewesen!
Zitternd wandte er sich um, damit er das Portal erreichen und diesen sonderbaren Ort hinter sich lassen konnte und hielt inne, weil es plötzlich verschwunden war. Es gab nichts anderes hier, als dieser marmorne Boden und die alles verschlingende Finsternis.
„Aber das ist unmöglich“, flüsterte er entsetzt. Das Tor hätte hier sein müssen!
„Es ist unendlich lange her seit ich Besuch empfangen durfte.“
Beim Klang der rauen Stimme zog sich alles in ihm zusammen. Der Sprecher, eindeutig männlich, schien wunde Stimmbänder zu besitze, so schrecklich klang seine Stimme.
Ein schlimmes Gefühl der Vorahnung erfasste ihn. Peron hatte ihm eingetrichtert sich zu beeilen, aber so lange war er gar nicht hier. Die Zeit war noch nicht abgelaufen.
Etwas Großes flog an ihm vorbei, der Lufthauch streifte seinen Nacken. Theromon stolperte nach vorne und griff hastig nach dem blutigen Dolch. Es lief ganz und gar falsch, Peron hatte ihm etwas anderes erzählt.
Ich mag ihn nicht, er hat etwas Tückisches in seinen Augen…


Nein, wieso sollte Peron ihn in dieser Sache belügen? Für seine Tochter Sonya sollte er wollen, dass die Welt gerettet wurde. Aber… sie war gerettet worden. Durch den Mord an Kassia war die schlimme Zukunft abgewendet worden, doch nicht nur Kassia war von göttlicher Abstimmung. Hatte Peron gewollt, dass er hier ebenfalls den Tod fand? Kassia konnte nur hier, an diesem anderen Ort sterben, drohte ihm nun das gleiche Schicksal? War auch er unsterblich? Ihm waren nie schlimme Unfälle passiert und er fühlte sich an wie sonst.
„Ich kann es riechen“, erklang die grässliche Stimme erneut. „Ich kann Anythes Blut an dir riechen.“
„Du kannst sie nicht mehr nehmen“, schrie Theromon außer sich. „Kassia kann von dir nicht mehr geschändet werden, sie kann deine alles vernichtende Brut nicht mehr austragen!“
Wieso war der Letzte der Götter hier? Peron hatte ihm versichert, er wäre immer noch gefangen durch den Zauber, den Anythe einst um ihn gewoben hatte. Nachdem der Gott Orseth seine Geschwister getötet hatte, blieb nur noch Anythe, die sich ihm entgegen stellen konnte. Sie sei nicht besonders stark gewesen, doch ihr Leben hinzugeben, verlieh ihr unendliche Macht. Während sie starb, schlangen sich wegen dieses großen Opfers, dicke Ketten um den gewaltigen leib Orseth´s und er blieb hier gefangen, unfähig die menschliche Welt zu betreten oder ihr zu schaden. So stand es zumindest in den Geschichtsbüchern.
„Oh, ich habe diese Ketten lange von mir gesprengt, dennoch war ich unfähig dieses Gefängnis zu verlassen“, antwortete er auf Theromons Gedanken und lachte kalte auf. „Ein Teil von dir ist göttlich, mein lieber Junge. Anythe war meine Gemahlin und dadurch konnte ich ihre Gedanken hören wie sie die meinen. Dass ich deine Gedanken wahrnehmen kann, stimmt mich ungemein zufrieden.“
„Du kannst mir nicht drohen“, stieß Theromon mutig hervor, obwohl nun er vor Furcht zitterte. „Ich bin nicht Kassia, ich bin ein Mann!“
Schmerz flammte in seiner Wange auf, als er von einer Peitsche getroffen wurde. Theromon sprang nach vorne und hob den Behälter mit den Leuchtkristallen auf, warf ihn in Richtung der Stimme. Was er sah, raubte ihm jeglichen Kampfesmut. Eine kolossale Gestalt erhob sich in der Dunkelheit, tiefschwarze Federn schlangen sich um einen dicklichen Leib, während der Hals sich unnatürlich lang machte und einen Kopf trug, der im Gegensatz zum Körper nicht zu einem Vogel gehörte. Der Kopf eines Mannes ruhte auf dem langen Vogelhals und trug einen wahnsinnigen Ausdruck in den glimmenden Augen.
Raschelnd entfaltete der entsetzliche Gott seine Flügel und ein Prasseln erfüllte den Raum.
„In diesem Punkt hast du Recht“, stimmte Orseth ihm zu. „Anythe hätte meinen Plänen zustimmen sollen, sie hätte sich mit mir gegen die anderen Götter wenden sollen. Sie hätte mir die Kinder schenken sollen, die den Menschen den Untergang bringen, aber sie hat sich für diesen irdischen Mann entschieden.“
Krallen schnellten vor und packten seine Mitte. Theromon stach auf die raue Haut ein, doch es war zwecklos. Der Gott zog ihn langsam aber beständig zu sich. Die Kristalle leuchteten immer noch, doch nun wünschte er sich die Finsternis zurück. Er wollte diese Monstrosität nicht ansehen müssen, er wollte nicht sehen was mit ihm geschehen würde, folglich schloss er die Augen.
Neben den Geräuschen, welches das Gefieder verursachte, spürte er Hitze auf sich zukommen, weswegen er nun doch die Augen öffnete.
Unter den schwarzen Federn züngelten kleine Flammen, doch sie setzten das Gefieder nicht in Brand.
Theromon wehrte sich heftig, schaffte es aber nicht freizukommen. Stets fragte er sich, was der Gott mit ihm vorhatte. Nur eine Frau mit Anythes Blut konnte sich mit ihm vereinen, deswegen hatte er Kassia den Tod gebracht. Wieso also tötete der Gott ihn nicht sofort? War Orseth womöglich so sadistisch ihn stundenlang zu quälen?
Ein Stich in seine Seite entlockte ihm einen Schrei. Theromon blickte nach unten und sah die Spitze einer Kralle in sein Fleisch dringen. Die Schmerzen jedoch waren wesentlich stärker als sie wegen dieser Wunde sein dürften, weshalb er Gift vermutete und es zog sich langsam aber beständig durch seinen ganzen Körper.
Unaufhaltsam drangen weitere Schreie aus seinem Mund, er wollte verstummen, sich seine Würde bewahren, doch die Qualen hörten nicht auf. Die Reise zu diesem Ort war schon schlimm gewesen, doch das hier war zehnmal schmerzvoller. Dem Wahnsinn nahe krümmte er sich im festen Griff der scheußlichen Kreatur und behielt seinen Verstand wahrscheinlich nur deswegen, weil sein Geist den Kampf aufgab und er ohnmächtig wurde.
Hitze weckte ihn wieder. Hitze und ein eigenartiges Gefühl. Theromon öffnete die Augen und blinzelte weil er die Umgebung nur verschwommen wahrnehmen konnte. Er lag auf dem kalten Marmor, doch als er sich aufsetzte verbesserte sich seine Sicht.
Das Gefühl von eisiger Kälte auf seiner Haut ängstigte ihn. Er blickte unter sich und stellte fest, dass er vollkommen nackt war. Als Nächstes fiel ihm etwas anderes auf. Theromon zitterte, ein panischer Schrei drang ungewollt aus seinem Mund. Taumelnd kniete er sich auf und blickte an sich hinab. Sein nackter Körper war nicht wie er ihn in Erinnerung hatte. Die muskulöse Brust war verschwunden, an ihrer Stelle erhoben sich zwei sanfte Rundungen und zwischen seinen Beinen schien etwas Eindeutiges zu fehlen.
Angsterfüllt beugte er sich nach vorne und betrachtete sich in dem spiegelnden schwarzen Marmor. Das kantige Gesicht hatte sich ebenfalls verändert, es hatte eindeutig etwas Feminines an sich.
„Was ist passiert? Götter, was ist passiert?“ fragte er mit schriller Stimme.
Als er auf die Beine kam, zuckte er zusammen, denn ein dumpfer Schmerz zwischen seinen Schenkeln bestätigte seine Vermutung. Hilflos blickte er sich um, doch von Orseth war nichts zu sehen, aber die Hitze in seinem Inneren nahm zu.
Tränen liefen ihm die Wangen hinab. Kassia zu töten hatte nichts verändert, denn Orseth hatte ihn selbst zur Frau gemacht und geschändet, weil auch in seinem Blut Anythes Erbe lag.
Die Ermahnungen seiner Mutter kamen ihm wieder in den Sinn. Hatte sie gar gewusst, warum ihre Kinder sich von dem alten Tempel fernhalten sollten?
Jeder Schritt schmerzte, doch er ging weiter. Der tote Leib seiner Schwester war nicht mehr zu sehen, noch nicht einmal die Leuchtkristalle konnte er finden.
Die Halle wurde stattdessen von einem wilden, rötlichen Licht beleuchtet, das von allen Seiten zu kommen schien. Er wusste nicht in welche Richtung er gehen sollte, doch genauso schlimm war es einfach nur so zu stehen und auf das Ende zu warten.
Sein geschändeter Leib schmerzte unsagbar während er sich fortbewegte. Sogar als Tränen seine Augen verließen geschah dies unter Schmerzen.
Nach einigen Schritten näherte er sich dem Rand des gewaltigen Raumes und stand vor einem tiefschwarzen See. Am anderen Ende des Sees thronte Orseth und blickte ihn mit diesen toten, roten Augen an. Von seinem Gefieder troffen Flammen, ein langer Schwanz, eindeutig der Schwanz einer Ratte, peitschte hinter ihm hin und her, an der Schwanzspitze zischelte eine große Flamme.
„Nun, meine Liebe. Bist du bereit für einen neuen Anfang?“
Er wollte sich töten, wollte seinem Leben ein Ende setzen, doch er fand keine Waffe. Hier gab es nur diesen See, aber vielleicht schaffte er es sich selbst zu ertränken, damit Sonya und das Dorf gerettet waren. Nur durfte Orseth sein Vorhaben nicht erraten.
Erschöpft kniete er am Rande des Sees und blickte in das schwarze Wasser. Kein Lüftchen schien es zu trüben, nichts zerstörte das schwarze Bild.
„Wenn wir nie hierhergekommen wären…“, setzte Theromon an.
„Dann wäre ich noch länger in diesem Gefängnis geblieben“, antwortete die Kreatur. „Anythes Zauber war stark. Ich konnte diese Welt nicht verlassen, aber ich hatte noch meine Diener.“
Seine Diener! Theromon schloss die Augen. Er erinnerte sich an die Abneigung seiner Mutter gegen Peron. Er wurde erst nach ihrem Tod der Schüler des alten Mannes. Wie? Wie konnte er das seiner Tochter antun?
„Oh, beide sind natürlich in die Sache involviert. Sie glauben an mich und dienen mir“, antwortete Orseth wieder auf Theromons gedankliche Fragen. „Sonya und Peron waren von vornherein damit einverstanden ihr Leben zu lassen, damit meine Kinder die Menschheit ablösen können.“
Sonya auch. Hitze tropfte auf seine Schenkel. Theromon hob die Hände an die Wangen und schluchzte unaufhaltsam als Feuer seine Hände trafen und immer mehr feurige Tränen aus seinen Augen drangen. Sein fremder Leib pulsierte auf absonderliche Weise, es fühlte sich beängstigend an.
Orseth schien voller Erwartung zu zittern, die glühenden Augen betrachteten ihn abwartend.
Er musste es sofort tun, das wusste Theromon. Was auch immer mit ihm geschah, es würde die Menschheit vernichten. Den Rat seiner Mutter hatte er ignoriert und deswegen die Vernichtung aller riskiert aber nun durfte er nicht so egoistisch sein und an seinem Leben hängen.
Mit letzter Kraft raffte er sich auf und warf sich in das pechschwarze Wasser. Seine Befürchtungen von den Krallen des Gottes gepackt zu werden, erfüllten sich nicht, stattdessen raste er ungewohnt schnell in die Tiefe. Über sich dröhnte das Gelächter des Gottes.
„Gut gemacht, Liebes“, rief er Theromon hinterher. „Ich hätte dieses Gefängnis immer noch nicht verlassen können.“
Und während Theromon fiel, erglühte sein Körper in einem unnatürlichen Licht. Die Feuertränen vermengten sich mit den Flammen, die von seiner Haut aufstiegen. Theromon schrie voller Verzweiflung als ihm bewusst wurde wie übel man ihm mitgespielt hatte. Unter sich verschwand die Schwärze und er konnte etwas ausmachen. Kleine Lichter, die von Sekunde zu Sekunde immer größer wurden. Ein Blick nach oben zeigte ihm den Sternenhimmel und das Tor darin, durch das der monströse Gott ihm nachsah. Seine Selbstaufopferung hatte die Menschen nicht gerettet. Wäre er in der Welt der Götter gestorben, hätte dies keine Konsequenzen für die Menschen bedeutet, doch so, während er nach unten auf die Erde fiel, war er sich im Klaren darüber, dass alleine sein Handeln das Ende besiegelt hatte.
Nicht Kassia hatte der Menschheit das Ende gebracht, sondern seine Entscheidung Perons Ratschlag zu befolgen und in die andere Welt zu gehen. Zudem hatte er sich ein weiteres Mal für die Vernichtung entschieden, als er das Menschenreich wieder betreten hatte. Orseth hatte ihn geschändet, ihm seine Brut eingepflanzt und während er fiel, brandete die Hitze in ihm auf. Welle um Welle drängte sie gegen seine Gestalt. Die Nachtlichter der Dörfer wurden immer größer und als er so nahe war, dass er die Konturen der Häuser erkennen konnte, explodierte er in Millionen kleiner Funken, die wie glimmender Regen auf die Menschen hinab fiel, doch noch bevor die Funken auf die Erde auftreffen konnten, wandelten sie sich und stoben mit wildem Schweif auseinander.
Unzählige Flammenvögel rasten durch die herbei eilenden Menschen, ihre feurigen Gestalten brannten alles nieder was sie berührten und alles was sie berührten, wandelte sich ebenfalls in ein alles verzehrendes Feuer, das viel zu schnell die ganze Welt umhüllte.
Während des schrecklichen Sterbens einer Art, die seit Jahrtausenden überdauert hatte, bereitete der letzte Gott sich darauf vor mit dem Tod des letzten Menschen Anythes Zauber zu brechen und in eine Welt aufzubrechen, die er nach seinen Wünschen formen konnte.



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