Cover



Wie ein kostbarer Einod ruhten seine Schätze in dem kleinen Behälter aus rotem Samt. Nachdem er das herzförmige Kästchen aus dem Versteck hinter dem kleinen Bücherregal nahm, glitten seine Finger zart über den samtigen Stoff. So fein, so weich… Ein Lächeln legte sich über seine Lippen. Sein Geschenk, seine Opfergabe an jenem besonderen Tag.
Ehrfürchtig steckte er das Gefäß in die Tasche seiner Jacke und verließ das kleine Zimmer.
Von unten drang das alte Grammophon seiner fast tauben Großmutter. Sie liebte alte Lieder, am besten in Französisch. Er hasste diese Melodien, für ihn war nichts hart genug.
Darauf bemüht so leise wie möglich zu sein, schlich er sich die Treppe hinunter. Seine Großmutter mochte nicht gut hören, doch der kleine Hund, den sie sich hielt, würde nur allzu schnell ihre Aufmerksamkeit erringen, indem er knurrte und bellte. Er hasste ihn! Er hasste sie! Er hasste sie alle!
Sein leises Vorgehen brachte ihn ohne weiteres aus dem Haus. Ein eisiger Wind pfiff um seine hochgewachsene Gestalt. Ende Oktober, man merkte, dass die Jahreszeit sich langsam dem Winter zuneigte.
Gelächter von der anderen Straßenseite veranlassten ihn rüber zu sehen. Sandy Gilmore, die dralle Blondine aus der Schule. Sie war die Anführerin der Cheerleaderinnen und ging mit Mike Bronzen aus, dem Anführer des Basketballteams. Ein perfektes Paar.
Gerade eben lehnte sie sich auf den Vorderbau des schnittigen Sportwagens zurück und reckte ihre Brüste in die Luft. Mike, der sich mit seinen Freunden über die Karosserie des Wagens unterhielt, schien nicht zu würdigen, was ihm geboten wurde, worauf Sandys Augen mürrisch nach vorne glitten und ihn bemerkten.
Gehässigkeit blitzte in ihren Augen auf. „Sieh an! Jack traut sich aus dem Haus.“
Die schrille Stimme seiner Schulkollegin riss ihren Macker sofort aus seinem Gespräch. Die hellblauen Augen Mikes richteten sich auf ihn. Ein spöttisches Grinsen umspielte seinen breiten Mund.
„Hey! Schlitzer-Jack!“
Er zog den Kopf ein und versuchte so viel wie möglich seines Gesichtes durch den hohen Kragen der Jacke zu verbergen. Er hasste es wenn sie ihn so nannten. Schlitzer-Jack! Schlitzer! Sein Gesicht und Oberkörper waren von Narben entstellt, die er sich bei einem Autounfall zugezogen hatte. Die Glassplitter waren mit solcher Wucht in seinen Körper gefahren, dass er eigentlich hätte tot sein müssen. Eigentlich…
„Na, das ist ja die passende Jahreszeit für dich, Kumpel“, rief einer von Mikes Freunden über die Straße. Schon rotteten sie sich zusammen, bald waren sie nicht mehr zu halten und würden versuchen sich in ihren Beleidigungen zu überbieten.
„Das positive daran ist, dass du dir kein Kostüm kaufen musst“, lachte Sandy Gilmore.
Blöde, dämliche Kuh. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Nicht hinsehen, sagte er sich. Einfach weitergehen.
Hastig wandte er sich ab und ging den gepflasterten Weg weiter. Es war dumm von ihm, gerade heute das Haus zu verlassen, doch er hielt es bei dieser alten Frau nicht mehr aus. Sie sah ihn an wie die Missgeburt des Teufels. Nachts hörte er sie Gebete murmeln, der Herr möge ihre Seele bewahren, nun, da sie sich um diese Teufelsbrut kümmern musste. Wäre doch nur alles anders gekommen… Wäre dieser Autounfall nicht gewesen, in dem sein Eltern und er verwickelt wurden…
„Hey! Ich rede mit dir!“
Mike baute sich mit seinen Freunden vor ihm auf, ein überhebliches Grinsen im Gesicht.
„Lass mich vorbei“, sagte Jack ruhig.
„Komm schon, sei kein Spaßverderber“, warf Cole ihm vor. „Zeig uns deine vernarbte Visage.“
Er hasste sie! Er hasste sie alle! „Lasst mich vorbei.“
„Hey, Kumpel! Wenn wir sagen, dass du uns deine hässliche Fratze zeigen sollst, dann spurst du“, drohte Mike, das Grinsen war nun verschwunden, pure Boshaftigkeit blickte ihm entgegen.
Er versuchte an ihnen vorbei zu gehen, doch ein Fausthieb im Magen warf ihn auf die Knie. Ächzend beugte er sich nach vorne, hielt jedoch sein Gesicht gesenkt.
„Mike, lass das!“ Sandy schien nun jeglichen Spaß verloren zu haben.
„Halts Maul, Schlampe!“
Langsam kam er wieder auf die Beine, den Blick immer noch auf den gepflasterten Boden gerichtet als sie erneut auf ihn einschlugen, dieses Mal zu dritt. Er presste die Arme dicht an den Körper, versuchte seine Rippen zu schützen, doch als sie auf seinen Kopf zielten, sah er sich gezwungen die Arme zu heben. Ein wirklich fieser Tritt krachte gegen seine Rippen.
„Hey! Was macht ihr denn da?“
Die Stimme kannte er! Mr. Goran, der neue Nachbar seiner Großmutter. Er hatte nie viel mit ihm gesprochen, vor allem da er wusste, dass der Mann ihn ebenso fürchtete und verachtete wie alle anderen auch.
„Verpissen Sie sich!“
Während Mike sich von dem Neuankömmling ablenken ließ, richtete Jack sich auf und hielt sich schmerzvoll die Seite.
„Was für eine kranke Fresse“, lachte Cole und Jack zuckte zusammen. Sein Gesicht! Sie sahen es! Sie sahen ihn!
Selbst Mr. Goran, vor den er es immer versteckt hatte, erbleichte.
Knurrend stürmte er voran. Als Cole sich ihm in den Weg stellte, rannte er ihn einfach um. Seine Beine bewegten sich unnatürlich schnell und trugen ihn fort von den Gaffern und Heuchlern.
Keine Menschenseele kam ihm entgegen, allerdings hatte er sich in den kleinen Park des Ortes verzogen, der um diese Uhrzeit meist verlassen war. Von hohen Bäumen umgeben, blieb er auf den ausgetretenen Pfad stehen und atmete stockend. Seine Seite schmerzte. Da Mike und seine Freunde ihm öfters zusetzten kannte er diese Schmerzen. Einmal hatten sie ihm sogar die Rippe gebrochen, er wusste wie sich das anfühlte. Dieses Mal hatten sie diese nur geprellt.
Gespenstische Geräusche umgaben ihn, als der Wind durch die blattlosen, dürren Äste fuhr. Hier fühlte er sich wohl. Hier, in der Stille und der Einsamkeit! Doch er musste diesen geheimen Ort immer wieder verlassen. Er musste zurück, in diese heimtückische, ungerechte Welt.
Gelächter erklang in weiter Ferne. Bald zogen sie aus und spotteten über das, was er gezwungen war zu sein. Schlitzer-Jack!
Schluchzend ging er in die Knie und krallte seine Finger in die kalte Erde.
Nein, er musste sich beruhigen! Er hatte sie bei sich! Sie waren immer bei ihm!
Seine schmutzige Hand glitt zu seiner Jackentasche um den kleine herzförmigen Behälter herauszunehmen und stockte… die Tasche… war leer.
Aufschreiend bäumte er sich auf. Sie hatten es! Er konnte es nur verloren haben als sie ihn niederschlugen…


Die Nacht endete spät als Halloween in vollen Zügen mit Alkohol und Drogen gefeiert wurde.
Mike taumelte aus dem Wohnzimmer ins Bad, wo er sich auf die Kloschüssel setzte und vor sich starrte. Der vom Alkohol erzeugte Taumel hielt ihn noch immer in seinem Griff, ihm war so übel dass er bald den Joint in das Waschbecken warf und sich neben die Toilette kniete um alles heraus zu kotzen, was er zu sich genommen hatte.
Einer seiner Freunde bekam es mit und zog über ihn her, doch er konnte noch nicht einmal genug Luft schöpfen um ihn anzubrüllen.
Minuten später, nachdem sein Magen vollkommen entleert war, stand er mit wackeligen Beinen auf und blickte in den Spiegel. Schwarz umrandete grelle Augen blickten ihn aus dem runden Rasierspiegel an. Falsche Zähne, die jedoch ziemlich echt wirkten und ein knallenges Lederoutfit machten aus ihm einen perfekten Vampir.
Mit trägen Bewegungen spülte er sich den Mund und verließ das Bad.
Sandy lag auf der Couch und wurde gerade von Cole rangenommen. Halb benommen blickte sie zu ihm auf, vielleicht wollte sie auch von ihm gerettet werden. Dämliche Bitch!
„Wenn ihr fertig seid, nehmt sie mit. Ich geh pennen“, knurrte er und stieg die Stufen ins erste Stockwerk, wo sich sein großes Zimmer, samt Balkon, befand.
Ein Glück dass seine Eltern erst in zwei Tagen zurückkamen, so blieb genug Zeit zum Putzen. Er wusste auch wen er für diesen Job engagieren würde. Die Trottel aus seiner Schule, die sich immer in seinem Ruhm suhlen wollten.
Jack tauchte ebenfalls in seinen Gedanken auf. Wie schade. Es wäre amüsant gewesen ihn auf Knien den Boden schrubben zu sehen.
Das Innere seines Zimmers war dunkel, noch nicht einmal das Licht der Straßenlaterne drang zu ihm, da ein großer Baum sein offenes Fenster abschirmte. Schon oft hatte jener ihm ermöglicht sich aus dem Haus zu schleichen, als seine Eltern meinten ihm jede Party verbieten zu wollen.
Seufzend ließ er sich auf das breite Bett nieder und starrte auf den dunklen Holzboden unter seinen Füßen. Erneut überkam ihn eine Übelkeitswelle. Mann, heute hatte er einfach zu viel gesoffen.
Als er sich nach hinten lehnen wollte, fiel etwas aus seiner Hosentasche und landete mit einem dumpfen Laut zu Boden.
„Was…“
Es bereitete ihm Mühe in die Knie zu gehen und nach dem Ding zu greifen. Das Licht anzumachen, würde sich als hilfreicher erweisen, doch er konnte getrost auf die Kopfschmerzen verzichten und die würde er unweigerlich bekommen.
Tastend glitten seine Hände über das teure Laminat und blieben schließlich auf etwas Weiches liegen. Überrascht nahm er das Kästchen an sich. Jack! Nun erinnerte er sich wieder. Der Trottel hatte das Ding fallengelassen, nachdem dieser bescheuerte Goran meinte sich mit ihnen anlegen zu müssen. Jack, der Pisser, hatte sich verdrückt, doch die Rechnung würde er sowieso begleichen müssen, immerhin gingen sie auf die gleiche Schule.
Nach dem Streit mit diesem alten Knacker wollte er es öffnen, doch dann waren noch mehr Freunde gekommen und sie hatten sich schnell fertig gemacht um ordentlich durch die Häuser zu ziehen und Halloween zu feiern.
Leise kichernd kniete er sich auf und legte das Kästchen auf das Bett. Da er es jedoch in der Dunkelheit so gut wie gar nicht sehen konnte, schaltete er die Nachttischlampe an, die war nicht so stark wie das Hauptlicht.
Im weichen Schein des Nachtlichtes blickte er auf das blutrote Herz, welches sich kontrastierend von den schwarzen Satinlaken abhob. Was sich wohl darin befand?
„Was braucht so ein kranker Penner wie Schlitzer-Jack?“ flüsterte er boshaft und ließ das Kästchen aufschnappen.
Im ersten Moment fühlte er sich wie erstarrt. Beinahe ungläubig starrte er auf den Inhalt, unfähig etwas zu sagen oder sich zu rühren. Schließlich rang er keuchend nach Luft und wich auf alle viere vor dem Bett zurück, bis er gegen den Kleiderschrank prallte.
„Gefallen sie dir?“
Die heisere Stimme kam vom Fenster her. Mike hob den Blick und sah ihn auf das Fensterbrett hocken. Schlitzer-Jack, der Trottel seiner Schule über den er sich immer lustig gemacht hatte. Sein Verhalten an diesen Tagen war meist unterwürfig, das Gesicht steckte er immer in den hohen Kragen seiner abgelatschten Pullis. Dieses Mal jedoch versteckte er es nicht. Neben eisigen grauen Augen erstreckten sich dicke, tiefe Narben und verunstalteten das einst wohl schöne Gesicht auf groteske Weise. Eigenartig, dass nur der sinnliche Mund seine Vollkommenheit behielt.
Mike blickte von Jacks grauen Augen zu dem Inhalt des Kästchens und schluckte bittere Galle als ihm bewusst wurde, dass dieser kranke Typ Zähne in dem Kästchen verwahrte. Daneben befand sich noch etwas, doch es war zu sehr verwest um auszumachen was es einst gewesen war.
„Wäre es noch so wie am ersten Tag würde man die Ähnlichkeit bemerken“, flüsterte Jack und hielt sich mit der Hand am Fensterrahmen fest, kletterte in den Raum hinein.
Mike empfand das Bedürfnis die Beine in die Hand zu nehmen. Das hier war nicht der Jack, den er sonst kannte.
„Sie vergehen einfach zu schnell“, seufzte der Junge fast traurig, hob die Hand und glitt zu der Stelle unterhalb seines Auges. „Weißt du, wie ich diese Zeichen bekommen hab? Du wolltest es immer wissen. Nicht wahr, Mike?“
„Scheiße! Du bist krank“, stieß jener hervor. Ein Zitteranfall überkam ihn, doch er brachte es noch nicht einmal zustande auf die Beine zu kommen und wegzulaufen vor Grauen.
„Wir fuhren zum Picknicken. Ich hasste es, jeden Tag hinausfahren und im Freien zusammensitzen, aber meine Eltern waren so idyllisch. Während der Autofahrt, als mein Dad auf einem leeren Parkplatz anhalten wollte, beschloss ich endlich mein wahres Gesicht zu zeigen.“
Noch während er sprach brachte er die andere Hand zum Vorschein, in ihr lag eine riesige, glänzende Klinge. Die scharfe Schneide funkelte im Licht der schwachen Lampe bedrohlich.
„Ich habe meiner Mutter das Ding in die Brust gerammt und dann meinem Vater die Kehle aufgeschlitzt. Der Bastard wurde jedoch nicht langsamer, während er verblutete wie ein abgestochenes Schwein, drückte er das Gaspedal durch und raste auf einen Laster zu, der Glas transportierte.“
Die vernarbte Fratze Jacks verzog sich zu einem kalten Lächeln. „Ich habe sie getötet, einfach so und es ist noch nicht einmal lange her. Vor einem halben Jahr sollte ich hierher kommen, da meine Großmutter die einzige Anverwandte war und du bekamst deinen Prügelknaben. Habe ich nicht recht, Mike?“
„Deine Großmutter…“, stieß Mike hervor. Er musste weg! Einfach nur weg von diesem kranken Typen.
„Leider bin ich auf sie angewiesen. Irgendwie ahnt sie, was ich getan habe, dabei kann ich nicht sagen, dass ich unvorsichtig war. Die Glasscherben haben mein Aussehen ruiniert, aber sie haben auch meine Tat verheimlicht.“
Mikes Augen glitten zu den verwesenden Teilen im Inneren des Kästchens. „Du bist krank.“
„Nachdem sie weg waren… habe ich sie vermisst“, flüsterte der Junge in Gedanken, fast traurig. „Deswegen habe ich mir ein Teil von ihnen als Erinnerung besorgt. So geht es mir viel besser.“
Jetzt oder nie! Mike sprang auf die Beine und lief auf die Tür zu, die in den Flur führte. Ein grausamer Schmerz in die Seite brachte ihn zum Schreien, doch Jacks große Hand legte sich auf seine Lippen und dämmte ihn.
„Du hast keine Ahnung wie passend dieser Spitzname für mich war, den du dir erdacht hast, Kumpel“, säuselte Schlitzer-Jack und sein heißer Atem kitzelte über Mikes Ohrmuschel.
Die Augen des Junge quollen fast aus den Höhlen hervor. Er versuchte sich gegen den genauso großen Angreifer zu wehren, doch mehrere schmerzende Einstiche in seinem Körper raubten ihm fast das Bewusstsein. Er spürte warme Nässe sein Beine nach unten fließen, neben dem Blut entleerte sein Körper sich auch aller Exkremente. Seine Wehrversuche wurden immer schwächer, bis er hilflos in Jacks Griff zusammensackte.
Der Junge warf ihn auf das Bett und blickte mit regloser Miene auf ihn hinab, einzig allein die eisigen Augen schienen von Leben erfüllt. Voller Gier nahmen sie sein langsames Sterben in sich auf, warteten auf den letzten Atemzug, der unweigerlich kam, bis sich Ruhe über ihn senkte, eine grauenvolle, schauerliche Ruhe.
Kurz bevor sein Körper versagte, beugte Schlitzer-Jack sich zu ihm hinab und hauchte ihm etwas ins Ohr. „Warte brav auf mich, ich geh weitere Erinnerungsstücke sammeln, danach komme ich zu dir.“
Unfähig etwas zu sagen, oder jemanden zu warnen, lag er da, sein letzter Herzschlag schwieg schon seit Sekunden, während Schlitzer-Jack langsam die Stufen nach unten stieg um Mikes ahnungslosen Freunden aufzulauern…


Ende



Impressum

Texte: Cover: Hintergrund von http://browse.deviantart.com/?qh=§ion=&q=dark+Texture#/d1nwdwd
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /