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Die Abenddämmerung brach über den dichten Wald Dimmersin. Wem dieser Name zu verdanken war, war bis heute nicht bekannt, dass er vor Gefahren nur so trotzte allerdings schon.
Deryan zog auf einer kleinen Lichtung die Zügel seines Rappen an und kam neben einer alten Fichte zum stehen.
Nachdem er einen wachsamen Blick in den dichten Wald hinein geworfen hatte, stieg er von seinem Pferd und begann mit den Vorbereitungen des Lageraufbaus. Während er trockene Zweige und Äste suchte, umgab ihn eine unnatürliche Stille, die ihn mehr beunruhigte als ein Rudel Wölfe es könnten.
Widernatürlich!
Die warnenden Worte des alten Priesters kamen ihm erneut in den Sinn. Mit zitternder Stimme hatte er Deryan von den lauernden Gefahren des Dimmersin berichtet. Seine blinden Augen hatten auf das Gesicht seines Zuhörers gestarrt, gefangen in den Klauen einer alten Angst. Jahrzehnte waren seit der Wanderung des alten Mannes durch den Wald vergangen und immer noch erbebte damals seine Gestalt vor Furcht, während er erzählt hatte, was er einst sah.
Deryan streckte seinen sehnigen, kleinen Körper und kniete sich vor dem hastig entfachten Lagerfeuer nieder. Ein Kreis aus unebenen Steinen verhinderte, dass das Feuer auf den Laubboden übergriff. Während er seine Hände an der kleinen Flamme wärmte, fragte er sich, wie viel Glauben er den Worten des Greisen schenken konnte. Die Furcht war echt, daran hatte er nie gezweifelt, doch gab es wirklich eine Gefahr oder war sie dem Wahn des Alten zuzuschreiben?
Ein schläfriges Gähnen kam über ihn. Er lehnte sich gegen einen umgefallenen Baumstamm und wickelte sich in eine wärmende Wolldecke ein. Es behagte ihm nicht, sich schutzlos dem Schlaf hinzugeben. Während seiner Dienstzeit beim Militär war er stets von seinen Kameraden umgeben, doch nachdem der alte König starb, endeten mit dessen Sohn auch alle Streitigkeiten. Der Frieden sättigte das Land Herthya und machte es fett und faul.
Mit seinen unzähligen Belobigungen und Verdiensten hätte Deryan weiterhin in den Diensten des Palastes bleiben können, doch es zog ihn hinaus in die Welt. Er war sowieso nie ein Mann gewesen, der sich an einen Ort binden konnte.
Wanderschaft hielt ihn aufrecht. Die Märsche zu den zackigen Bergen der kleinwüchsigen Thenadri, die trotz ihrer geringen Größe eine beachtliche Stärke an den Tag legten, oder die Wanderschaft zu den hochgewachsenen Daella, die ihm fast weibisch vorkamen, so grazil waren sie in Sprache und Bewegung. All diese Erinnerungen verwahrte er tief in sich. Wäre er kein Krieger gewesen, er hätte all die Dinge nie erlebt, die ihn nun als einen erfahreneren Mann ausmachten.
Der plötzliche Frieden hatte ihn seiner Geldquelle beraubt, doch er wollte nicht auf das Wandern verzichten und nun fand er eine Möglichkeit, sich dennoch seinen Lohn zu verdingen.
Tief im Dimmersin, in einer breiten Schlucht, hatten sie geschrieben, verberge sich der Schatz der uralten Nechard, ein Volk so geheimnisumwittert wie grausam. Ihre einzige Gier galt dem glänzenden Einod der Berge: Gold. Sie waren auf der Jagd danach, rotteten Ortschaften aus, die das seltene Erdmetall horteten und verkauften.
Ihre Taten galten als so schrecklich, dass ein hohes Kopfgeld auf jeden getöteten Nechard angesetzt wurde. Jäger machten sich einen Namen damit, die großen, jedoch wendigen Wesen abzuschlachten. Nach ihnen kamen die Ritter des Reiches. Die Jagd auf die Nechard wurde zu einem Sport, der so lange weiterging… bis es so gut wie keinen Nechard mehr gab.
Danach wurden ihre Minen geplündert und ausgebeutet, bis die Erde blutete; doch an ihre Heimat, die tiefe Schlucht im Dimmersin, wagte sich keiner heran. Gerüchte besagten, der Herr der Nechard hätte sich voller Gram in sein Heim zurückgezogen. Anders als bei seinen Kindern, verlangte es ihn nicht nach Gold oder menschlichen Schätzen. Er war stets um Wissen bemüht, das seinem Volk Friede und Zufriedenheit schenken sollte. Seine Macht galt um ein Vielfaches größer, als die seiner Kinder. Jeder Mensch, der es wagte sein Heim zu betreten, erlitt einen schlimmen Tod, denn das Herz des einst guten Herrschers wurde in Verbitterung und Zorn getränkt. Zumindest hieß es so in den Geschichten dieses Landes, durch das Deryan erst seit Kurzem ritt.
Seufzend legte der Krieger den Kopf in den Nacken und blickte an den Bäumen hinauf zum runden Ende der Lichtung, in dessen Mitte der Viertelmond hinter einer dichten Wolke zum Vorschein kam. Einige Minuten lang betrachtete er den Wandel der Sterne, verfolgte die vorbeiziehenden Wolken, bis er sich ruhig genug fühlte, die Augen zu schließen und einzuschlafen.


Das laute Wiehern Rutils, seines großen Rappen, weckte ihn kurz vor Morgengrauen. Alarmiert sprang Deryan auf die Beine und hatte seine beiden Kurzschwerter aus der Lederscheide am Rücken gezogen, noch ehe er richtig begriff was vor sich ging.
Der schwarze Hengst tänzelte unruhig, die Augen panisch rollend. Deryan suchte nach der Quelle der Unruhe, fand jedoch nichts Außergewöhnliches. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass keine sichtbare Bedrohung existierte, streckte er leise Worte murmelnd die Hand aus und trat von der Seite zu dem großen Tier.
Wahrscheinlich ließ der Rappe sich nur deswegen von ihm berühren, weil sie so viele Schlachten gemeinsam überstanden hatten. Die aufstehenden Ohren bewegten sich unruhig als der Krieger eine Hand auf der warmen Stirn legte.
„Hattest du einen schlimmen Traum?“ flüsterte der braunhaarige Mann und lehnte seine Stirn gegen die des Tieres. „Diese Gegend ist mir ebenfalls unheimlich, wir…“
Unerwartet brach das Tier aus seiner Umarmung und stieg bedrohlich auf die Hinterbeine. Einzig und allein seiner schnellen Reaktion war es zu verdanken nicht getroffen worden zu sein. Geschwind rollte er sich auf den Boden zur Seite, um sich aus der Reichweite der gefährlichen Hufe zu bringen.
Rutil wieherte laut, fast wild, dann brach er durch das dichte Gehölz und suchte das Weite.
Fluchend kam Deryan auf die Beine. Das Verhalten seines Pferdes beunruhigte ihn selbst. Noch niemals zuvor hatte das Tier die Flucht ergriffen, dabei waren sie in der Vergangenheit mehrmals von den Schreien unzähliger Sterbenden umgeben gewesen. Selbst der laute Knall der neumodischen Bomben hatte Rutil bisher nicht zu erschrecken vermocht. Was ging nur in seinem Pferd vor, dass er seine antrainierte Ruhe vergaß und sich dem wilden Instinkt ergab?
Da er Rutil abgesattelt hatte, suchte er eilig seine Sachen zusammen, löschte das Feuer, indem er mit den Händen Erde darauf schaufelte, und folgte Rutils Spur durch das Geäst. Den Sattel hatte er fürs Erste im Lager gelassen, lediglich die wichtigsten Sachen wie seine Klingen und seine viel zu leichte Geldbörse trug er bei sich.
Die Furcht rumorte in ihm, Rutil verloren zu haben. Dieser Gedanke fühlte sich wie ein Hieb in den Magen an. Wenn er einen Gefährten hatte, dann war es Rutil. Sie hatten so vieles durchgemacht, er liebte das Tier wie einen Freund.
Mit schnellen Schritten folgte er der Spur durchs Gehölz. Sie war so breit, dass er um die Unversehrtheit Rutils fürchtete. Rotes Blut an abgeknickten Ästen kündete bereits davon, dass der Rappe sich verletzt hatte.
„Rutil!“ rief er und als er ein entsetztes Wiehern vernahm, stockte er für eine Sekunde, nur um gleich darauf doppelt so schnell zu laufen.
„Rutil!“ Mit diesem Schrei brach er durch das Gebüsch und knurrte einen Fluch. Seine Hände krallten sich an die trockenen Zweige und Blätter des Baumes fest, denn nur einen Meter vor seiner Nase fiel das Gelände steil nach unten.
Nachdem er seinen Stand stabilisiert hatte, verharrte er für Sekunden derart festgekrallt, dann stieß er den Atem aus. Was war mit seinem Pferd geschehen? War es über den Vorsprung gestürzt?
Vor seinen Augen erstreckte sich eine breite Schlucht aus weißem Gestein. Bei näherem Betrachten des Bodens unter seinen Füßen erkannte er das helle Gestein unter Waldlaub und –moos.
Vorsichtig löste Deryan seinen Griff und trat vier Schritte voran, bereitete sich auf den schmerzhaften Anblick vor. Mit angehaltenem Atem blickte er hinab und stieß einen erleichterten Seufzer aus, als er nichts als Stein unter sich erkannte.
Die Schlucht befand sich an die dreißig Meter unter ihm und bestand aus grobem Fels, der sich je nach Lage und Standort erhellte und verdunkelte, doch selbst im tiefsten Schatten wurde der Stein nie dunkler als Hellgrau.
Ein Blick in den bewölkten Himmel verriet ihm, dass die wahre Pracht dieser Schlucht wahrscheinlich erst durch Sonnenlicht offenbart werden würde.
„Aber nicht heute“, flüsterte er und blickte sich suchend um. Da er sich nun sicher war, dass Rutil nicht in die Schlucht gefallen war, musste der Rappen seitlich am Rand der Schlucht entlang galoppiert sein.
Deryan entdeckte eine breitere Stelle, wo der Wald sich vom Rand der Schlucht zurückzog. Nur dort konnte Rutil sich aufhalten!
Während er einen Fuß nach dem anderen setzte, fragte er sich, was seinen Freund so erschreckt haben mochte. Ein Tier war es nicht, zumindest hatte er nichts gesehen. Rutils Sinne hingegen waren schärfer als seine, womöglich hatte der Hengst etwas gespürt.
Die vor Angst wispernde Stimme des Alten kam ihm wieder in den Sinn, gefolgt von einem leichten Schaudern des Unbehagens. Selbst wenn er sich nie für abergläubisch gehalten hatte: Dies war ein ziemlich unheimliches Gefühl, das ihn da beschlich.
Nur noch wenige Meter trennten ihn vor der Verbreiterung des Simses, da entdeckte er Rutil. Der Rappe lehnte zitternd an einer steilen Felswand. Schweiß und Blut bedeckte das dunkle Fell.
„Mein Junge“, flüsterte Deryan und näherte sich vorsichtig. Der Ausbruch des Pferdes war ihm deutlich in Erinnerung geblieben, er wollte es vermeiden, unter Rutils Hufe zu kommen.
Während er versuchte, sich dem Pferd zu nähern, erklang das Scharren von Stein auf Stein in der Nähe.
Deryan fuhr herum. Da der Wald an dieser Stelle so dicht war, dass Nichts und Niemand durchs Gehölz brechen konnte, kam dieses Geräusch eindeutig aus der Schlucht.
Rutils mächtige Flanken bebten, die Augäpfel rollten unruhig in ihren Höhlen. Verängstigt drängte das große Pferd sich gegen den rauen Fels.
Angespannt wandte Deryan sich der Schlucht zu. Am liebsten würde er sich um die Wunden seines Reittieres kümmern, doch das Gefühl der Bedrohung hatte nun Überhand genommen. Etwas lauerte hier und jagte seinem Pferd Angst ein, selbst bei ihm verursachte es Unbehagen.
Leise zog er seine beiden Kurzschwertern aus den Scheiden, und näherte sich dem Felsvorsprung.
Das eigenartige Scharren verstummte für eine Weile, dann setzte es erneut ein. Der kleine, jedoch wendige Deryan blickte um sich. War es womöglich die Felswand, an die Rutil lehnte? Wenn man nicht achtsam blieb, dann konnte man von herabfallenden Steinen erschlagen werden, doch nichts deutete an der Wand darauf hin. Sie war glatt und erstreckte sich nur wenige Meter über Rutil in die Höhe.
Erneut dieses Geräusch!
Deryan wandte sich um und blickte in die Leere vor sich. Die Schlucht!
Vorsichtig näherte er sich dem Sims und wölbte überrascht die Brauen, als er des kleinen Pfades angesichtig wurde, der nach unten führte. Vielmehr ein Ziegenpfad; würde es nicht leicht sein nach unten zu gelangen, vor allem nicht mit einem fast panischen Pferd. War dies die Schlucht der Nechard?
„Was mache ich hier eigentlich?“ fragte er sich fast lautlos. Er könnte sich als Söldner für einen reichen Edelmann verdingen, doch er konnte diesem Status nichts abgewinnen.
Rutil wieherte erneut unruhig, doch dieses Mal konzentrierte Deryan sich vollkommen auf die Schlucht, wartete auf Bewegungen in den unübersichtlichen Tiefen.
Er war so sehr darauf fixiert, dass die von oben kommende Bewegung ihn umwarf. Weiß und hart preschte es auf ihn zu, rammte ihn und warf ihn um. Als nächstes hörte er Rutils entsetztes Wiehern. Panisch, Schmerzverzerrt.
Benommen fasste er sich an die Stirn, versuchte Klarheit zu erlangen. Etwas Festes hatte ihn umgeworfen und danach sein Pferd angegriffen.
„Rutil“, krächzte er und mühte sich auf die Beine. Die Benommenheit erleichterte ihm sein Aufstehen nicht gerade, doch die Sorge um sein Pferd drängten Übelkeit und Schmerzen beiseite. Die pochende Wunde an der Stirn ebenso ignorierend wie die warme Flüssigkeit, die ihm das Gesicht hinab lief, blickte er um sich.
Auf dem weißen Gestein wirkte die Farbe Rot erschreckend klar und rein. Deryan brauchte nur ein paar Sekunden, um zu erkennen, was geschehen sein musste.
Ein dumpfes Brennen in seiner Brust verdrängte den Schmerz seiner aufgeplatzten Stirn. Es hatte sich Rutil geschnappt!
Zorn, Trauer, Hass kämpften gegeneinander. In dem Gewirr vieler Emotionen erhob sich eine andere, die ihn warnte und ihm riet das Weite zu suchen, doch sie wurde erstickt.
Knurrend hob er die Hände mit den Schwertern, die er nicht eine Sekunde lang losgelassen hatte und folgte den kreischenden Schreien hinab zur Schlucht.
Mehrere Male wäre er fast den Ziegenpfad hinabgestürzt, doch er lehnte sich immer rechtzeitig gegen die stabile Wand des Felsens, um sich zu fangen.
Was auch immer Rutil geschnappt hatte, es war noch nicht fertig mit ihm und vielleicht konnte er noch etwas tun, um sein Reittier zu retten. Das abrupte Verstummen der Schreie allerdings beraubte ihn jeglicher Hoffnungen.
„Nein“, wisperte Deryan zitternd. Nicht Rutil, es durfte nicht wahr sein. Er hatte weder Eltern, noch Frau und Kinder. Seine Kriegskameraden fielen alle in der Schlacht, der Einzige, den er noch hatte, war sein Kriegspferd. Ein schweigsamer Freund, aber nichtsdestotrotz ein Freund.
„Rutil“, brüllte er und rannte die restliche Strecke wie von Sinnen hinab. Einen Schritt vor Erreichen der ebenen Strecke stolperte er über einen Stein und fiel nach vorne.
Da er vermeiden wollte sich selbst aufzuschlitzen, ließ er seine Klingen los und prallte mit dem Gesicht auf rauem Gestein. Nun tränkte sein eigenes Blut den weißen Stein.
Überflüssige Feststellungen kamen ihm in den Sinn. Während eines Feldzuges hatte er eine Statue aus weißem Hanoi-Marmor gesehen. Sein Vorgesetzter, ein blaublütiger Offizier, der keinerlei Ahnung von Strategien besaß, allerdings eine Menge über den kostbaren Marmor wusste, ließ sie drei Tage lang etliche Skulpturen und Gefäße abtransportieren, die es in dem eroberten Gebiet zu finden gab. Das Gestein ähnelte dem, unter sein vollkommen zerkratztes Gesicht, als wäre es hier abgebaut worden. War es Hanoi-Marmor?
Blinzelnd kniete er sich auf. Seine rechte Gesichtshälfte pochte schmerzhaft, Schwindel überkam ihn, doch selbst über diesen angekratzten Zustand hinweg, nahm er das bedrohliche Scharren wahr.
Es war der Angreifer, dachte er grimmig. Wegen der Schnelligkeit seiner Bewegungen hatte er ihn nicht genau gesehen, nur gefühlt wie fest sein Körper sich anfühlte und da er seinen Blickfeld ausfüllte, vermutete er ebenfalls dass er groß sein musste. Aber was war er, oder es?
Konnte dies bereits das Gebiet der Nechard sein? Wenn er darüber nachdachte, hatte er nur ungenügende Informationen besessen. Das Schreiben wurde vor zwei Jahren verfasst und hing immer noch halb verrottet an der Tür der Schenke, die er vor einer Woche aufgesucht hatte.
Nechard-Gold, Nechard-Dinge wurden als sehr kostbar angesehen. Irgendein Adeliger hatte diesen Zettel anfertigen lassen und er Dummkopf musste darauf anspringen. Noch nicht einmal dieser alte Mann hatte ihn abgeschreckt und deswegen musste Rutil dafür büßen.
Tränen brannten ihm in die Augen, die er hastig mit dem Ärmel seiner Jacke abwischte. Er durfte nicht trauern. Für den Moment zumindest nicht. Jetzt brauchte er seine ganze Konzentration. Kein Gold der Welt würde ihm seinen Freund zurückbringen, doch es war nun sein Leben, das auf Messers Schneide stand und es stand außer Frage, sich vor diesem Kampf zu drücken.
Für diese Gedankengänge benötigte er nur wenige Sekunden. In diesen kam er auf den Beinen und suchte die Umgebung nach seinen Klingen ab. Sie lagen unweit von ihm entfernt auf weißem Gestein.
Deryan bückte sich und hob gerade seine zweite Klinge auf, als er etwas sah, dass ihn stutzen ließ. Bleiche Finger unter einem der seltenen Grasbüschel, die hier unten vereinzelt wuchsen.
Stirnrunzelnd schob er die trockenen Zweige des Büschels beiseite und entdeckte einen Arm. Marmor. Weiß. Abgeschlagen.
Statuen, hier? Verwirrt blickte er um sich und sah nun die unebenen Formen der Landschaft um sich herum genauer an. Zehn Meter vor sich entdeckte er einen steinernen Torbogen, dahinter eine kleine verwitterte Statue.
Seinen ganzen Mut zusammennehmend marschierte Deryan tiefer in die Schlucht hinein. Überall, wohin er blickte, entdeckte er in Marmor gemeißelte Gegenstände. Entweder eine Truhe oder eine kleine, von Rosen umrankte, Säule. Sogar den unteren Teil eines Hauses machte er aus.
Seltsam, wer schlug diese Formen in den weißen Marmor? Dies müsste doch Jahrzehnte andauern?
Vor der Gestalt eines Mannes seiner Größe blieb er stehen. Wenige Figuren waren bis jetzt vollkommen geblieben, so gut wie allen fehlte der obere Teil ihres Körpers.
Angespannt trat er um den hellen Steinkörper des Mannes und blickte in das erstarrte Gesicht. Entsetzen packte Deryan. Diese Statue war so vollkommen, so perfekt gemeißelt. Selbst Wimpern und Poren hatte der Künstler nicht ausgelassen.
Aufgewühlt schritt Deryan zu einer weiteren männlichen Statue, der Kopf fehlte zwar, doch er entdeckte am Halsausschnitt die feinen Runzeln und Falten, die man im hohen Alter bekam. So filigran verarbeitet, dass es etliche Jahrzehnte dauern müsste, dies zu bewerkstelligen.
Eisiges Grausen floss ihm den Rücken hinab. Der Fluchttrieb setzte ein. Er drehte sich zu dem Ziegenpfad um und riss die Lider hoch, als er das Scharren hörte, dieses Mal sehr nahe.
Seinen Gegner hatte er nicht genau zu Gesicht bekommen, doch vor einem Angriff vernahm er jedes Mal dieses Geräusch. Bevor es ihn erneut angreifen konnte, flüchtete er zu der im Schatten liegenden steilen Wand, unter der sich eine Nische verbarg, in die er dreimal reinpasste. Zwar saß er hier in der Falle, doch ein Angriff von hinten war unmöglich. Wenn er attackiert wurde, dann nur von vorne und er würde seinem Gegner in die Augen sehen.
Stille senkte sich über die Schlucht. Währenddessen beobachtete er jeden Winkel genau. Dabei fiel ihm auf, dass Pflanzen nur in bestimmten Bereichen wuchsen und auch sehr jung waren. Unkraut, kleine Büschel, Bäume gab es hier unten nicht, von denen aus Stein einmal abgesehen.
Das seltsame Scharren wurde zu einem Schleifen und es kam eindeutig von oben.
Deryan hob in seinem Versteck den Kopf. So musste es sein! Was auch immer Rutil und ihn angegriffen hatte, es musste fliegen können. Den schmalen Ziegenpfad hätte es unmöglich zu Fuß bewältigt, dazu war es zu groß.
Minuten vergingen, nichts regte sich im Tal, doch über sich hörte er Bewegungen. Es zermürbte ihn, lauerte ihm wie ein Falke seiner Beute auf.
Deryan zwang sich zur Untätigkeit. Wenn er hinausstürmte war er tot.
Plötzlich ein Schleudern gegen die Marmorwand über seinem Kopf. Helle Gesteinsbrocken fielen hinab, einer traf ihn sogar an der ohnehin verletzten Gesichtsseite. Einen Schmerzschrei unterdrückend, hob er langsam die Klingen. Der zweite Aufprall kündete die Entschlossenheit seines Gegners an. Mehrere Steinschichten knirschten bedrohlich, das Schleifen und Scharren kam nun über ihn aus der Marmorwand. Was auch immer ihr so zusetzte, es würde nicht eher aufhören bis es ihn unter Tonnen von Gestein begrub.
Einen Fluch zwischen den Zähnen zischend, preschte Deryan aus seinem Versteck. Zehn Meter vor sich hatte er das halb eingefallene Gebäude gesehen. Er nötigte seinem Körper alles ab während er rannte, immerzu in dem Bewusstsein, dass es über ihn kreiste. Nur noch zwei Meter trennten ihn vor dem schützenden Unterschlupf, als ein Lufthauch hinter ihm ankündete, dass er es nie erreichen würde.
Instinktiv warf der schlanke Mann sich auf den Rücken und blickte erschrocken über sich. Was er sah, war eine geriffelte Bauchdecke, die nur einen Fingerspalt über ihn hinweg zog. Sekunden später krachte es gegen den Oberkörper des steinernen Mannes und zerstörte auch diese Statue. Keuchend blickte er in den bewölkten Himmel und schluckte hart. Deswegen also hatten die Statuen keinen Oberkörper!
Es zerstörte sie während des Fluges. War das ein… Nechard? Keine Zeit zum Nachdenken! Nicht jetzt! Schon rollte Deryan sich ab und kam auf die Beine, da sah er es!
Zehn Meter vor ihm thronte es in der Luft, mit Flügeln aus weißem Hanoi, die Staub aufwirbelten, denn in dieser Schlucht gab es keine Erde. Der Rumpf glich dem einer Echse, Steinplatten schützen Rücken und Glieder. Selbst die Flügel schienen aus härtestem Stein gemeißelt. Um die pferdeähnliche weiße Schnauze erkannte er rotes Blut. Rutils Blut!
Trotz seines Zorns und seines Kummers wagte Deryan es nicht sich zu rühren. Es musterte ihn ebenso wie er es musterte. Graue Schlangenaugen blinzelten, dabei schlossen sich die steinernen Lider nicht von oben nach unten, sondern von den Seiten hin zur Mitte. In diesem Blick erkannte er etwas eigenartig Menschliches. Wut, ein unbändiges Verlangen zu töten und es ließ sich eindeutig Zeit damit.
Trotzdem schien es nicht ganz vor Angriffen gefeit zu sein. Über dem gewölbten Bauch erkannte er viele Narben. Seine Schwachstelle, dachte er und hob entschlossen das Kinn.
Es gab kein Geräusch, das den Angriff ankündete, nichts was ihn vorwarnte. Kein Freudegebrüll, lediglich das Scharren, welches von dem langen Schwanz verursacht wurde, um Schwung für seinen Angriff zu erhalten, dann stürzte es nach vorne.
Deryan bemühte sich um Ruhe, er wartete den Angriff ab, deutlich fixiert auf die Schwachstelle am Bauch. Wenn er die traf, dann war er ein Stück näher an seiner Rettung.
Wie erwartet flog es dicht über ihn und griff mit den viel kleineren, dünnen Armen nach ihm. Mit größter Konzentration wich er dem Angriff des Wesens aus und rammte ihm beide Klingen in den Bauch. Heiße Flüssigkeit benetzte seine Gestalt, das Blut des Wesens war so kochend, dass er gellend aufschrie. Taumelnd stürzte Deryan nach vorne. Schmerz pulsierte auf seiner Haut, zerrte an seinen Nervenenden. Zuerst tobte es nur auf seinem Kopf, dann wanderte die Pein weiter zu den Schultern.
Wimmernd fuhr er zu dem Wesen herum. Es hatte sich vor der Nische niedergelassen, in die er sich vorhin versteckt hatte, und betrachtete ihn lauernd.
Zitternd bemühte Deryan sich, seine Klingen nicht zu verlieren, doch als die Qual seine Arme hinab wanderte, entglitten die Waffen seinen zitternden Fingern und fielen mit einem lauten Scheppern zu Boden.
Der mächtige Leib des Wesens erschauerte im Genuss.
„Du kamst hierher mit der Absicht zu töten, nun wirst du auf ewig hier verweilen.“


Die Stimme, rau und ruhig wie die eines alten Mannes, erklang in Deryans Geist. Er wollte sich von den Schmerzen befreien. Selbst wenn es siedend heißes Blut gewesen sein musste, das ihn traf, so schien es nicht normal, dass es sogar bis in den Beinen zog, immerhin traf es nur seinen Oberkörper, also wieso spürte er die Qualen überall an sich?
Deryan wollte sich bücken, um nach seinen Klingen zu greifen. Wenn er nicht überlebte, dann wollte er seinen Gegner wenigstens mit sich reißen. All seine Muskeln strengte er an, trotzdem rührte sein Leib sich keinen Zentimeter. Mit zusammengebissenen Zähnen mobilisierte er all seine Kräfte, zog einen Arm an und presste ihn gegen seine Brust. Warum nur fiel es ihm so schwer sich zu bewegen?
Zu den Schmerzen gesellte sich eine Taubheit, die ihn noch mehr ängstigte als er ohnehin schon war. Was ging hier vor? Erstarrte er? Warum?
Seine Augen, das einzig Bewegliche an ihm, glitten wieder zum dem weißen Ungetüm. In den ebenfalls grauen Augen, die ebenfalls das Einzig Lebendige zu sein schienen, las er kalte Berechnung. Wie auf seine stumme Frage hin, hob es den Oberkörper und entblößte den ungeschützten Bauch. Von der Wunde, die Deryan dem Wesen zugefügt hatte, war nichts mehr zu sehen. Ein weiterer Blick an sich hinab offenbarte ihm ebenfalls, was ihn die ganze Zeit an diesen Ort gestört hatte. Eine weiße Steinschicht überzog seinen Körper, er fühlte sich so starr wie ein Stein, weil er langsam zu Stein wurde!
„Warum?“

schrie er auf, doch sein Schrei ging unter, da Stimmbänder und Zunge sich weigerten zu arbeiten. Er würde untergehen! Hier, inmitten all jener, die versucht hatten dieses Wesen zu töten, würde er einer von ihnen werden. Bedeutete das Sterben? Verließ seine Seele diesen steinernen Leib?
„Du wirst sehen“

, schnarrte die raue Stimme in seinem Geist. „Über Äonen hinweg wirst du dem Sterben der Deinen zusehen, so wie ich es bei Meinen tun musste.“


Und noch nicht einmal das Zerstören seines marmornen Körpers während eines Kampfes würde ihn aus diesem Zustand befreien, dachte er mit Entsetzen. Und während er stumm aufschrie, dem Wahnsinn nahe brüllte vor Furcht, wandte das Ungetüm sich ab und wartete auf den nächsten Kopflosen, der glaubte, an Legenden wären nichts dran.

Impressum

Texte: Geschichte: Frei von mir erfunden. Alle Rechte liegen bei mir Cover: http://adean.deviantart.com/ oder http://www.factory-point.at/neu/
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An Fianna. Danke für deine Hilfe, Süße =)

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