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Sahen sie wirklich aus wie Lichtgestalten? Ihre Finger waren blutverschmiert, ebenso die schmalen Gesichter und die hochgewachsenen, schlanken Staturen. Sie trugen Rüstungen aus glänzendem Metal, tödliche Waffen erhoben sich in den unnatürlich, roten Himmel.
Schreie tobten über das Schlachtfeld, ebenso der Ruf der Kriegstrommeln und über all dem herrschte er, der Gehörnte… und lachte.
Wolken zogen sich zusammen, Blitze tobten hinter den bauschigen Schatten, ein Crescendo aus Wehklagen erhob sich aus den Tiefen der Hölle in den Himmel hinein. Inmitten dieses Chaos kniete eine Menschenfrau, in der Hand das goldene Schwert des Generals. Tränen vernebelten ihren Blick.
Schatten wirbelten um sie, die letzten Krieger der Erzgarde verteidigten sie… oder doch wohl eher das Schwert? Wann würde er kommen und es an sich bringen? Seinen Platz annehmen? Ihre Augen wanderten neben sich, zu der ausgestreckten Gestalt, mit dem langen, blonden Haar und dem leeren Blick, der in den feurigen Himmel starrte.
„Sieh nicht hin“, flüsterte sie. „Der Himmel brennt…“
Schweigen antwortete ihr von seinen reglosen Lippen, stattdessen nahmen die Schreie zu.
Etwas erschien auf dieser Ebene, dieser seltsamen Zwischenwelt. Sein Erscheinen riss fast die Dimension aus den Fugen. Boshaftigkeit und eine sadistische Lust schwappte über sie hinweg. Verzweiflung fesselte sie, so dass sie die Schwerthand sinken ließ. Vor Angst bebten ihre Lippen und doch zwang sie sich dazu den Blick von ihm zu lösen, aufzusehen.
Gebrüll schallte zu ihr, doch es hörte sich anders an als das Wehklagen der Verfluchten, drang ihr bis ins Mark und ließ ihr Blut gefrieren.
Die Reihen der Schutzgarde lichteten sich, denn eine riesige Krallenhand schnellte nach vorne und mähte sie nieder. Blut benetzte den leblosen Boden, Knochen brachen oder zersplitterten, und über den toten Körpern erklang ein triumphaler Aufschrei.
Der unheimliche Nebel auf dem Feld lichtete sich, gab eine Kreatur von entsetzlichem Aussehen frei. Lederne Haut zog sich über den riesigen Leib. Muskelbepackte Arme schleuderten Angreifer um Angreifer von sich. Über einer breiten Brust erhob sich ein mächtiger Kopf mit zwei nach unten gebogenen Hörnern, die zum Kinn hin, nach außen verliefen, bereit alles aufzuspießen, was sich ihnen in den Weg stellte. Dahinter lauerten gelbe Ziegenaugen, die sich an Tod und Qual weideten.
„Es ist…sein Sohn.“ Die Stimmen der Verbliebenen erzitterten vor Furcht. „Wie kann er hierher gelangen?“
„Weil wir versagt haben“, flüsterte ein anderer Mann, dessen schwarzes Haar ihm bis zu den Hüften reichte. In seiner Hand hielt er einen tödlichen Speer. „Wir ließen ihn sterben.“
„Seine Hülle“, flüsterte ein weiterer, der traurige Blick auf den Leblosen zu seinen Füßen gerichtet.
Zorn bemächtigte sich trotz der Angst ihrer. Sie war in dieses Chaos hineingezogen worden und nun gaben sie auf…
„Engel“, spie sie aus und stand auf, drehte sich wutentbrannt zu ihnen um. „Habe ich etwa die falsche Seite gewählt? Existiert hier nichts anderes mehr als Feigheit und Hoffnungslosigkeit?“
Die Miene des Dunkelhaarigen gefror zu Eis, die Hand umklammerte den Speer fester. „Achte auf deine Wortwahl, Weib!“
„Es ist nicht alles verloren“, stieß sie hervor, sich an den letzten Strohhalm klammernd. „Wir sind immer noch hier, wir kämpfen.“
„Uriel, sie sammeln sich.“ Ein Jüngling mit blondem Haar strich sich erschöpft eine blutige Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Ich frage mich wohl eher, warum sie uns nicht gleich fertig machen“, brummte ein weiterer Bote Gottes.
Uriel, der letzte Anführer, streckte die Hand aus und zog die zierliche Menschenfrau nah zu sich heran. „Das Schicksal hat dich dazu auserkoren sein Schwert anzunehmen. Solange du es trägst, wird deine Welt überleben.“
Sie erinnerte sich an die vergangenen Tage, an die schönen Zeiten mit ihrer Familie. An einen Ort, der in Glück und Vertrautheit getaucht war. Der Gedanke an ihn, hinterließ ein warmes Gefühl in ihren Adern. Sie brauchte nur die Augen zu schließen und an sie zu denken, um sich nicht alleine zu fühlen.
„Weib!“
Sie riss die Augen auf und sah ihm fest in die blauen Augen. „Mein Name ist Lena!“
Zornig riss sie sich von ihm los und drehte sich in Richtung der abscheulichen Kreatur, die auf dem Leichenberg thronte und mit dem abgerissenen Arm eines Engels spielte. Dunkle Schwingen erhoben sich hinter den breiten Schultern, so als verkündeten sie seine Ungeduld und doch harrte er aus.
„Er wird stärker. Je mehr er den Qualen lauscht, umso stärker wird er“, flüsterte der Jüngling.
„Raphael, beruhige dich“, ermahnte sein Kampfesbruder ihn. „Er wird auch stärker durch Angst.“
Lena hob die Hand mit der Klinge, sah in das Metal hinein und erblickte ein durchschnittliches Gesicht mit klugen, grauen Augen unter einem Schleier rotbrauner Haare. Seit dem Moment, als dieser seltsame Fremde in ihre Welt auftauchte und sie in diese Dimension entführte, hatte sie das Gefühl hier vollkommen falsch am Platze zu sein. Er hatte sich Michael genannt und trotz der Tatsache, dass sie ihn nicht kannte, fühlte sie eine so tiefe Verbundenheit zu ihm, dass sie sich nicht fürchtete. Noch nicht einmal, als die Schlacht begann, in der entschieden werden sollte, wer die Krone der Herrschaft auf dem Haupte trug.
Vier seiner Hauptmänner standen ihm zur Seite, als der Pfeil seines einstigen Bruders ihn traf und doch überreichte er ihr seine Waffe. Das Schwert der Schöpfung. Sie war somit die Einzige, die zwischen seinen Feinden und ihrer Welt stand.
„Die Aussichten waren schon mal besser“, flüsterte sie leise und reckte entschlossen das Kinn. „Ich werde für meine Familie kämpfen.“
Uriel knurrte und winkte die Schutzgarde um sich, stellte sich zwischen sie und den gierigen Augen der Teufelsbrut.
Grunzend sprang jener auf die Beine, zeigte riesige Hauer, die aus seinem Mund ragten. Speichel troff ihm vom Kinn als er ihnen seine Verachtung entgegen schleuderte.
„Und wir werden für jenen kämpfen, den wir lieben“, knurrte Uriel und streckte den Speer aus.




„Ist es nicht unvollkommen? Das rote Blut, es durchdringt den Boden… aber es bringt kein Leben herbei! Allerdings war das hier… Leben!“
Lena riss die Augen auf. Vor einer Sekunde noch, befand sie sich auf dem Schlachtfeld, und nun stand sie inmitten einer riesigen Stadt. Weißer Stein, klares, reines Glas erhoben sich in den Himmel, der nun von einem strahlenden Blau durchdrungen wurde. Sanfte Wolkenhänge zogen gegen Westen und eine freundliche Sonne sandte ihr Licht zu ihr hinab.
Sie schloss die Augen, sog ihre Lichtstrahlen in sich auf. Alles war still und friedlich. Keine Schreie drangen zu ihr hinüber. Sie war… nicht alleine!
Erschrocken riss sie die Augen auf und fuhr herum. Ihr gegenüber stand ein Jüngling mit hüftlangen, pechschwarzen Haaren und funkelnden, grünen Augen. Das Gesicht verriet eine Sanftheit, die man kaum noch fand und dennoch erkannte man Grausamkeit um den spöttischen Zug seiner Lippen und Kampfbereitschaft in der Art seiner Rüstung, die er auf dem Leib trug. Schwarze Schwingen falteten sich von seinen Schultern aus und umschlangen seine Gestalt, das Lächeln vertiefte sich. Als sie sich wieder ausbreiteten, trug er ein weichfallendes, dunkles Gewand, das ihm bis zu den nackten Füßen reichte.
„Magdalena.“ Fordernd streckte er eine Hand aus. „Komm mit mir.“
Wer war das? Und wieso nannte er sie so? „Ich heiße Lena.“
Die sinnlichen Lippen teilten sich und gaben ebenmäßige, weiße Zähne frei. „Ich weiß wer du bist, von wessen Blut du abstammst. Du gehörst zu mir.“
Du gehörst zu uns!


Diese Worte hatte sie schon einmal vernommen. Michaels sanftes Gesicht tauchte vor ihr auf, die strahlenden blauen Augen hatten sie voller Liebe und Anbetung angeblickt.
„Nein, ich will nicht.“ Abrupt wandte sie sich um und sah in die leere, leblose Stadt hinein. Das hier war ihr Heim, das Domizil der Engel. Hier lebten sie und beteten unter seinen Augen. So sah es zumindest aus, bevor dieser schreckliche Krieg begann.
„Sagt dir das dein Herz oder dein Verstand?“ Eine Hand schlang sich um ihre Mitte, jemand presste sich gegen ihren Rücken. Lena keuchte auf und wollte weglaufen, doch er packte ihr Kinn und drückte ihren Kopf nach hinten. Hilflos hing sie in seiner Umarmung und blickte zu ihm hinauf. „Bitte….“
Die Härte verschwand aus seinem Griff, stattdessen glitt seine Hand unerwartet sanft über die Kontur ihres Kiefers, streichelte über ihren Hals.
„Du kannst mich wieder zu dem machen, der ich eins war. Schenk mir Vergebung, Magdalena.“
Verwirrt sah sie zu ihm hinauf, ihre Lippen zitterten vor Furcht. „Wer… bist du?“
Das Lächeln erschien wieder. „Du weißt es!“
„Lena!“
Abrupt wandte sie das Gesicht ab und sah ihn vor sich stehen. Aufrecht und voller Leben, so wie er damals aussah, als sie ihm das erste Mal begegnete.
„Michael“, rief sie und streckte die Arme nach ihm aus, doch die schwarzen Schwingen des anderen Jünglings schlangen sich um ihre Gestalt, eine Hand wanderte nach unten, zu ihrem Bauch.
„Halte dich da raus, Bruder!“
Unerwartete Härte loderte in den blauen Augen. „Glaubst du, sie wird dich wieder zu dem machen, der du einmal warst? Zu viel Zeit ist verstrichen, Äonen vergingen. Der Himmel hat sich gewandelt, ebenso wie du dich gewandelt hast. Es kann nicht mehr so sein wie früher.“
„Dann werde ich den Himmel vernichten“, schrie er und breitete die Schwingen aus, erhob sich mit ihr in die Luft.
Lena keuchte auf und wehrte sich gegen seinen Griff. „Lass mich los!“
Ein verbittertes Lachen antwortete ihr, der Griff seines Arms um ihrer Mitte war unerbittlich.
„Hör auf“, schrie Michael. Nun befreite auch er seine Schwingen, die Sonne spiegelte sich in seiner funkelnden Rüstung. „Es ist zwecklos, es kann nie sein, was du dir wünschst.“
Die breite Brust bebte an ihrem Rücken, als der dunkle Engel zu einem Turm flog und sich auf einen sehr schmalen Rand stellte.
„Wieso nicht?“ rief nun auch er. „Ich bin doch nur, wie er mich geschaffen hat! Anders als du, Bruder, wurde ich so geschaffen, Fragen zu stellen. Warum sollte ich deswegen bestraft werden?“
Oh mein Gott, dachte Lena und erzitterte vor Angst. Nun ahnte sie, wer hinter ihr stand und sie hielt. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie wünschte sich, dies hier wäre nur ein hässlicher Traum. Wie ein kleines Mädchen wollte sie von ihrem Vater beschützt werden… aber sie war alleine. Ihr Vater befand sich sicher in der Menschenwelt. Er hatte sie seit ihrer Geburt begleitet und sie behütet, nun lag es an ihr, ihn zu schützen.
Der dunkle Engel war so mit seiner Wut beschäftigt, dass sie ihm ungehindert den Ellbogen in den Magen rammte. Dieser unerwartete Angriff löste den Griff um sie und Lena stürzte in die Tiefe.
Ihr dunkelrotes Haar wallte um ihr Gesicht, das weiße Kleid drückte gegen ihre Handflächen. Sie sah den Turm mit dem schwarzhaarigen Engel immer kleiner und kleiner werden… dennoch brannte sein grüner Blick sich in ihren und sie vermeinte neben dem Zorn auch Trauer und Schmerz zu sehen.
„Lena!“ Eine weitere Stimme erklang neben ihr, kurz darauf wurde sie von sicheren Armen aufgefangen. Der Verdammte auf dem Turm breitete die Schwingen aus und flog davon. Es war Irrsinn so zu fühlen, dennoch empfand sie Mitgefühl und Traurigkeit.
„Bist du in Ordnung?“ Michael erreichte den sicheren Boden und stellte sie auf die Beine. Wankend ging sie in die Knie, stemmte sich mit den Handflächen auf den weißen Stein ab.
„Lena?“ Besorgt kniete Michael sich neben sie und umfasste ihre Schultern.
Das dunkelrote Haar floss wie ein seidiger Schleier um die hohen Wangenknochen, die Spitzen berührten fast den Boden.
„Warum?“ wisperte sie fast lautlos.
„Lena…“
Sie hob den Blick, begegnete dem strahlenden Blau seines eigenen. „Warum?“
Nur ein Wort und dennoch hing alles von diesem einzigen Wort ab. Warum?
„Weil du etwas Besonderes bist“, antwortete er ehrlich. „Du bist die Einzige, die diesen Kampf beenden kann.“
Warum?
„Lena… du musst kämpfen“, sprach er sanft auf sie ein.
Warum?
Er musste die stumme Frage in ihren Augen sehen, denn er zog sie sanft an sich und strich ihr über das glatte Haar. Die Berührung erinnerte sie so sehr an ihren Vater, dass sie aufschluchzte. „Ich würde gerne sagen, dass ich nach Hause will, aber das würde ihr Ende sein.“
Michael blieb stumm, sein Griff wurde fester. „Du bist… unsere Schwester“, flüsterte er dann an ihrem Ohr. „Die Einzige, die wir haben. Die Einzige, die von seinem unsterblichen Blut ist. Sein einziger Nachkomme von seinem lebenden Sohn.“
Darum!
Blinzelnd rückte sie ab und sah ihn an. „Er hatte keine Frau und keine Kinder, so schrieben es die Geschichtsbücher“, wandte sie ein.
„Steht in diese Büchern auch geschrieben, dass Krieg im Himmel tobt und dass unser dunkler Bruder dabei ist zu gewinnen?“
Kopfschüttelnd senkte sie das Gesicht und sah auf ihre Hand hinab. „Aber das ist nicht real. Er hat dich mit einem Pfeil durchbohrt.“
Dunkel floss das Blut über die glänzende Rüstung, während Tränen in seinen blauen Augen schimmerten. Sie hatte alles wie in Zeitlupe vernommen, wie er vor sie sprang, um sie vor dem Pfeil zu bewahren, der ihren Tod auslösen sollte. Kaum zu einem Gedanken war sie damals fähig. Ungläubig hatte sie in sein Gesicht gestarrt, während er fiel, das Schwert trotzdem festhaltend, als wäre es an ihm festgewachsen.
Nun war er hier… und dennoch weit weg. Es schimmerte um ihre Gestalt, sie spürte diese eigenartige Welt in jeder Pore. Das hier war real und doch auch Traum. Immer noch lag er gefallen auf dem Schlachtfeld, umgeben von seinen Brüdern… und ihr. Sie hob die Hände und legte sie auf seine, streichelte über die warme Haut. Er war gegangen und doch bei ihr. Sein Atem strich über ihr Gesicht, so dass sie den Kopf hob und ihn ansah. Warum hatte er sich geopfert um sie zu retten? Weil sie, ihres Blutes wegen, die Kraft hatte, die Verdammten zu besiegen?
„Michael? Wieso hast du mich gerettet?“
„Du bist meine…“ Er verstummte, schließlich lächelte er sanft. „Weil du es wert bist, gerettet zu werden. Ganz gleich, ob du diesen Kampf gewinnst oder nicht, ich würde tausend Mal sterben um dich zu retten, Lena.“
Schluchzend ließ sie den Kopf gegen seine Brust sinken und ließ sich von seiner Anwesenheit einlullen, genoss die Wärme seiner Umarmung.
„Das würde ich auch tun“, flüsterte sie und hielt den Atem an, als Staub um sie wirbelte.
„Weib, wach auf!“
Inmitten des Kampfgetümmels öffnete sie die Augen und starrte in Uriels wildes Gesicht. Ihre Augen suchten den Boden ab, doch von Michael war nichts zu sehen. Wie ein wilder Vogel schlug ihr das Herz gegen die Rippen. „Wo ist er?“
„Weib!“
Zischend sprang sie von ihm weg. Er lag doch hier, wo… Ihre Augen suchten den Himmel ab, doch sie konnte ihn nicht sehen. Nur dunkelrote Schwaden zogen über sie hinweg.
Schreiend stürzte ein Engel neben sie zu Boden, sofort kniete Raphael sich neben ihm und legte die Hände auf die Wunde, versuchte zu heilen, was nicht mehr zu heilen war.
Gelächter erklang über all den Schreien. Lena hielt den Atem an und wandte sich schließlich der Ausgeburt des Bösen zu.
Ihre Blicke trafen einander, doch dieses Mal erbebte sie nicht vor Furcht. Das hier war, was sein sollte. Sie war dazu auserkoren etwas Großartiges zu vollbringen. Ihre Familie zu beschützen und alle jene, die ihr am Herzen lagen.
Entschlossen blickte sie auf das funkelnde Schwert in ihrer Hand hinab. Uriel schien ihren Umschwung zu spüren, denn er blieb schweigend vor ihr stehen.
Wieso griffen weder Gott noch Teufel in dieser Schlacht ein? Es war nicht der Gehörnte, der hier auf dem Schlachtfeld stand und befehligte. Sein Sohn führte diese Arme an. Und Sie selbst war zwar nicht seine Tochter, aber sie war von seinem Blut. Entschlossen hob sie den Kopf. Während die Entscheidung von ihr getroffen wurde, spürte sie Schwere auf den Gliedern. Ein Blick hinab verriet ihr, dass das weiße Gewand sich in eine prachtvolle Rüstung gewandelt hatte.
„Weib…“ Uriel verstummte angesichts ihres veränderten Blickes, schließlich legte er eine Hand auf seine Brust und senkte den Blick. „Wir werden dir folgen, selbst in den Tod.“
Wie von selbst streckte sie die Hand aus und berührte seine Hand. Es war ein Impuls, der ihren ganzen Körper erfüllte und ihr verriet, dass sie nicht alleine auf diesem Schlachtfeld stand. Eine Präsenz voller Wärme füllte sie mit Zuversicht und Liebe aus. Lena ließ die Hand sinken und ging um Uriel herum auf das tosende Ungeheuer zu.
Die Klinge fühlte sich leicht an, fast so als gehöre sie zu ihrem Körper. Ein Dämon mit der Fratze eines Raubtiers stellte sich ihr in den Weg, doch sie wich seinem Angriff aus und hieb ihm die Klinge in den Nacken. Ächzend verging er zu Asche. Neben ihr fanden die wenigen verbliebenen Engel Hoffnung und schritten entschlossen neben ihr, mähten jene nieder, die sie angreifen wollten.
„Das soll eure Waffe sein?“ höhnte der Dämon und warf einen Engel auf sie zu. Uriel sprang nach vorne und fing den Jüngling auf, bevor er den Boden erreichte. In seinen Augen spiegelte sich unendliche Traurigkeit, als er zu ihr aufsah. Der Engel in seinen Armen war schon gestorben.
Lena verdrängte den Zorn aus ihren Gedanken und stellte sich dem boshaften Blick des Teufels.
„Ich bin dein Gegner“, verkündete sie mit entschlossener Stimme.
Hohngelächter ausstoßend kam er auf sie zu. Eine Scharr aus Verdammten wuselte um seinen Körper und stürzte sich auf die Engel. Lena streckte die Klinge von sich und wartete bis er bei ihr war. Die Krallenhand war, entgegen ihrer Größe und Breite, unglaublich schnell. Mit einem Sprung zur Seite brachte sie sich in Sicherheit. Gleichzeitig rollte sie sich nach links ab, denn sein Morgenstern schlug dort ein, wo sie noch eben lag. Geschwind kam sie auf die Beine und sprang hoch, als seine Waffe auf ihre Füße zu schwang. Überrascht spürte sie ein warmes Kitzeln an ihren Schultern, im nächsten Moment breiteten sich riesige, weiße Schwingen hinter ihrer Gestalt aus.
Hämisch lachend erhob sich der Teufel ebenfalls in der Luft und griff mit seiner Pranke nach ihr. Aus reinem Instinkt zog sie die Schwingen an und ließ sich fallen, sie sah wie er ihr nachsetzte und breitete die weißen Flügel wieder aus, glitt mit einem Aufwind hinauf.
Ein bedrohlicher Luftzug verriet ihr, wie nah er war, doch obwohl sie ihm auswich, erwischte seine Klaue sie an der Rippe. Die Krallen kratzten an ihrer Rüstung und verletzten die kleine, freie Stelle an der Hüfte. Blut benetzte das weiße Hemd darunter.
Erschrocken fuhr sie herum und nahm mit der Klinge aus, traf ihn am Arm. Er zuckte nicht zurück, sondern ließ zu dass sie etwas Abstand zwischen sich und ihm brachte, führte die Krallen genüsslich zum Mund. Eine schwarze Zunge tauchte hinter den Lippen hervor und leckte das rote Blut hinab. „Köstlich“, grunzte er und starrte sie mit wollüstigem Blick an. „Dein Blut ist rein, ich werde dein Fleisch genießen und danach jeden Tropfen von dir trinken.“
Die furchteinflößenden, gelben Ziegenaugen glitten zu ihrer rechten Hand, mit der sie die Klinge hielt. „Ihr beschützte es so sehr, dass ihr alles aufgebt. Mein Vater will den Himmel, doch mich kümmert das nicht. Im Gegensatz zu ihm, ist jeder Engel Schmutz in meinen Augen, sogar euren Gott werde ich unter meinen Füßen zermalmen.“
Dieser Teufel hatte wirklich nichts mit seinem Vater gemein, dachte Lena, die sich an das erinnerte, was der Schwarzhaarige gesagt hatte. Er sehnte sich danach wieder zu sein, was er war, doch sein Sohn wollte allem ein Ende setzen. Sie sah die Gesichter ihrer Eltern und Großeltern vor sich und reckte entschlossen das Kinn. „Ich werde dich daran hindern!“
„Als ob du es könntest“, brüllte der Teufel und setzte zu seinem Sprung an. Wenn sie ihn nicht daran hinderte, dann würde er sie töten. Sie sah die Entschlossenheit in seinen Augen und hielt den Atem an.
Unter sich hörte sie Uriel aufschreien, fühlte ihn beinahe, wie er die Schwingen ausbreitete um sie zu retten, und es doch nicht schaffte, weil Unmengen von Verdammten ihn daran hinderten.
„Lena“, schrie er, was sie zu einem Lächeln veranlasste. Ihr Gegner nahm mit dem Morgenstern aus um genug Schwung in den Schlag zu bringen, damit sie ganz und gar zermalmt wurde. Die andere Hand stand vom Körper ab um seiner Angriffskraft zu helfen, er würde seine Stellung so schnell nicht ändern können.
Binnen wenigen Sekunden hob sie die Hand mit der Klinge und schleuderte sie auf den Teufel. Sie sah Überraschung in seinen Augen aufblitzen. Die Engel hatten diese Waffe mit ihren Leben beschützt, sie loszulassen wäre ihnen niemals in den Sinn gekommen.
„Schützen heißt manchmal loszulassen“, flüsterte sie, als die Waffe sich tief in die breite Brust bohrte.
Die Kraft seiner Schwingen trieb ihn auf sie zu, eine Krallenhand legte sich um ihren Hals. Helles Licht floss von der Klinge in ihn hinein, sein Tod würde schnell eintreten, dennoch würde es nicht genügen um sie zu retten. Unter seiner wuchtigen Gestalt begraben, stürzte sie in die Tiefe.




Lena!“
Licht drang unter ihren Lidern hervor, Schmerz brandete in ihrem Körper auf. Sie fühlte viele Gestalten um sich herum, eine Schar aus Liebe, Gebeten und Hoffnung. Jemand wälzte etwas Schweres zur Seite, dann wurde ihr Oberkörper gehoben.
„Lena, wach auf.“
Sie hörte den weichen Klang in seiner Stimme und lächelte leicht. „So hast du… mich ungern… genannt.“
Blinzelnd öffnete sie die Augen und blickte in Uriels blutverschmiertes Gesicht. Seine Hand strich ihr das Haar aus dem Gesicht und blieb schließlich auf ihrer Wange liegen. „Du hast uns alle gerettet.“
„Es war wert dafür zu… sterben“, flüsterte sie und blickte an ihm vorbei in den blauen Himmel.
„Du wirst bei uns bleiben“, sprach eine andere Stimme, so dass sie wieder nach unten blickte. Raphael kniete weinend neben sie, die Hand auf ihren zermalmten Körper, doch er würde sie nicht retten können, das sah sie in seinem traurigen Gesicht.
Michael? Würde sie Michael sehen, wenn sie starb? Kam sie überhaupt in den Himmel? Immerhin hatte sie nun getötet. Ihre Augen suchten die Reihen der Engel ab, doch nirgends konnte sie ihn entdecken. War er gegangen? Dieser Gedanken rief eine Welle der Traurigkeit in ihr hervor.
Wärme erreichte ihre Hand, sie sah hinter Raphael und entdeckte die funkelnde Klinge. Ihre Finger streckten sich aus, umfassten den runden Griff.
Aufschreiend bäumte sich ihr Körper auf, ein strahlendes Licht umschmeichelte ihre Gestalt.
Uriel ließ die Hände sinken und sah ihr dabei zu, wie sie langsam in den Himmel stieg. Das Licht formte sich zu zwei Händen, die sie aufwärts trugen. Schmerzen wühlten in ihrem Leib, doch es gab da noch etwas… Wärme, die sie einhüllte. Jemand, oder Etwas, der sie so sehr liebte, dass ihr die Tränen kamen. Sie schloss die Augen, suhlte sich in diesem Gefühl, dankbar dafür, dass sie es genießen durfte. Unzählige Stimmen und Gebete drangen zu ihr hinauf, sie wusste dass es die Engel waren, die für ihre Seele sangen.
„Vergiss uns nicht ganz“, hörte sie Uriels Stimme und lächelte schwach, im nächsten Moment herrschte nur noch Dunkelheit.


„Lena! Hey, Lena!“
Überrumpelt öffnete die junge Frau die Augen. Jemand stand vor ihrem Tisch und sah mit finsterer Miene auf sie hinab. Ein Name brandete in ihrem Geist auf. „Melanie“, murmelte sie und sah sich verwirrt um.
Sie saß im Hinterzimmer der kleinen Boutique und hatte offenbar geschlafen.
„Kleine, was ist los? Dass du auf der Arbeit schläfst bedeutet nichts Gutes.“
Sich von seinem Boss dabei erwischen zu lassen, sicher auch nicht, dachte sie erschrocken.
„Es tut mir leid… ich war… groggy…“ Erinnerungen wirbelten in ihrem Kopf umher. Sie sah Unmengen von Männern um sich, Männer mit weißen Schwingen…
„Nicht dass du dich noch erkältest.“ Besorgt legte die schwarzhaarige Frau eine Hand auf ihre Stirn. „Hm, Fieber hast du nicht. Soll ich dich nach Hause bringen? Es ist sowieso Zeit abzuschließen.“
„Nein, das ist schon in Ordnung. Ich bin gestern in meine neue Wohnung umgezogen, wahrscheinlich war ich deswegen so müde. Tut mir leid, Melanie.“
Wärme leuchtete aus den grünen Augen. „Ist schon in Ordnung. Du bist eine sehr fleißige Mitarbeiterin, du hättest mir doch Bescheid geben können, ich hätte dir geholfen.“
Abwehrend stand Lena auf. „Es war ja nicht viel. Meine Eltern waren da.“
„Dann ist ja gut. Jetzt aber nichts wie nach Hause und ruh dich ordentlich aus, ein Glück dass Wochenende ist“, meinte sie freundlich und reichte ihr ihren Mantel.
Dankbar nahm Lena ihn an sich, dann half sie ihrer Chefin und Freundin den Laden abzusperren und verabschiedete sich davor von ihr.
Nachdem der kleine Ford um die Ecke verschwand, richtete Lena den Blick nach vorne. Ihre neue Wohnung lag in Arbeitsnähe, so dass sie die kurze Strecke zu Fuß bewältigen konnte. Während sie langsam durch einen Park heimwärts ging, versuchte sie die Flut an Bildern und Erinnerungen zu bewältigen.
Engel? Hatte sie über Engel geträumt? Je mehr sie darüber nachdachte, umso konfuser wurde sie. Selbst als das Gesicht eines blonden Mannes mit strahlenden, blauen Augen, aus den ganzen Erinnerungen hervorstach, fragte sie sich, ob sie sich das alles einbildete. Der Schmerz, den sie jedoch fühlte, war echt.
Ihre Hand glitt über ihrem Herzen und blieb dort stehen. Warum war sie nur so traurig?
Etwas Kaltes berührte ihre Wange, sie hob den Kopf und sah in den dunklen Nachthimmel. Schneeflocken fielen sanft auf sie hinab, eine schwache Brise ließ sie im Himmel tanzen. Neben ihnen spürte sie heiße Tränen auf ihren Wangen. Kälte und Hitze, die auf ihrer Haut tanzten.
„Habe ich dir gesagt, dass du traurig sein sollst?“
Erschrocken blickte sie wieder nach vorne und riss die Lider hoch, als sie den blonden Mann aus ihrer Erinnerung vor sich stehen sah. In ihrem Kopf hatte er eine funkelnde Rüstung getragen, doch nun stand er, bekleidet mit einem schwarzen Mantel, vor ihr. Seine Hand hob sich und berührte ihre Wange, glitt mit dem Finger über die Träne.
„Lena“, sprach er sanft. „Ich möchte nicht, dass du weinst.“
Michael, schoss es ihr in den Sinn. „Ich dachte, alles wäre nur ein Traum und du wärst… fort.“
„Ich bin hier“, murmelte er und kam ihr nahe, die andere Hand legte sich auf ihre Hüfte. „Ich habe dir gesagt, dass ich tausend Tode für dich sterben würde. Wie könnte ich dich da alleine lassen?“
Immer noch ungläubig legte sie ihre Hand über seine, spürte seine Wärme und lächelte glücklich. Es war kein Traum, er war bei ihr.
„Ich bin froh“, flüsterte sie und hielt den Atem an, als er sich vorbeugte und sie leicht küsste. Glück und Hoffnung tobten nun in ihrer Brust, sie klammerte sich an ihm, doch eine neue Angst kroch in ihr hinauf.
„Aber… wirst du wieder gehen?“
„Ich habe Urlaub genommen“, teilte er ihr lächelnd mit und rieb mit seiner Wange an ihrer. „Einen sehr langen Urlaub. Wenn du es wünscht, bleibe ich für immer an deiner Seite.“
Für immer! Dieser eine Satz sandte tausend Glückswellen durch ihren Körper. „Ja“, flüsterte sie und zeigte ihm mit ihren Lippen, dass sie die Wahrheit gesprochen hatte. Seine Arme schlangen sich um ihre Gestalt, bargen sie in der Wärme, die er für sie fühlte.
Über ihren Kopf hinweg jedoch blickte Michael in die Dunkelheit, aus der sich langsam eine Gestalt löste. Eine hochgewachsene Frau, Melanie, die allmählich das Aussehen eines dunkelhaarigen Mannes annahm, dessen grüne Augen funkelnd zu dem Rücken der rothaarigen Menschenfrau glitten. Ein Versprechen loderte in dem brennenden Blick, der Mund verzog sich spöttisch, danach lösten seine Konturen sich im leichten Wind auf.
„Lass uns gehen“, flüsterte Michael, den Arm um jene geschlungen, derentwegen er den Himmel verlassen hatte und die er mit seinem ganzen Sein verteidigen würde.




Ende


Impressum

Texte: http://fractured-sanity.org oder http://nightgraue.deviantart.com/
Tag der Veröffentlichung: 14.08.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen, die wundervolle Geschichten lieben, die sie aus der Realität zu enführen vermögen

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