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Es sah nach einem Sturm aus an diesem Morgen und dennoch beschlossen sie, ihr Morgenritual auch dieses Mal durchzuführen. Folglich zogen sie sich warm an und verließen den kleinen, gemütlichen Bungalow, in dem sie sich immer einmieteten, wenn der Urlaub nahte. Beide hatten sie die Jugend schon längst hinter sich gelassen und genossen die wenigen Male, die sie hier verbrachten, in dem Wissen, dass sie genug Geld gespart hatten um ihren Lebensabend auf dieser behaglichen Insel zu verbringen. Noch zwei Jahre Arbeit, dann ging es endlich in den Vorruhestand. Solange begnügten sie sich mit den kleinen, jedoch wundervollen Ausflügen auf ihrem Einod der Erholung.
Der Klang eines Nebelhorns ließ beide zu dem Leuchtturm blicken, der hoch auf einer Klippe in den Himmel ragte.
„Sollen wir nicht doch lieber zurück?“ fragte Inge und zog unruhig die Brauen zusammen, als der Wind ihr ungestüm das helle Haar ins Gesicht wehte.
„Ach was, wir haben schon Härteres überstanden“, lachte Simon und drückte liebevoll ihre Hand. Entspannt lächelnd setzten sie ihren Spaziergang fort. Zu dieser Jahreszeit war es zwar zu kalt zum Schwimmen, doch die aufregenden Wattwanderungen gehörten sowieso mehr zu ihren Lieblingsbeschäftigungen.
Passend warm dafür gekleidet waren sie auch. Das Meer hatte sich zurückgezogen, sie setzten bereits seit einer halben Stunde den Weg in dem matschigen Schlick fort, tief versunken in dem phantastischen Naturschauspiel. Ab und zu beugte Inge sich neugierig vor um etwas zu inspizieren. Immer wieder fanden sie etwas Neues auf ihren Spaziergängen, nie wurde es langweilig.
Simons sah seiner Frau zärtlich dabei zu wie sie eine besonders schöne Muschel aufhob und in den Beutel gleiten ließ. Das ferne Donnern jedoch lenkte seinen Blick in den grauen Himmel. Mittlerweile hatten sich die Wolken dicht zusammengezogen und ragten bedrohlich über dem Horizont auf.
„Vielleicht sollten wir…“ Abrupt blieb er stehen, Inges Fuß stieß gegen einen Widerstand, doch sie lief weiter ohne es zu bemerken. Verwundert sah er nach unten und konnte im Schlamm eine bauchige Flasche erkennen. Seufzend ging er in die Hocke und streckte die Hand danach aus. Was die Menschen auch alles ins Meer warfen! Kopfschüttelnd hob er die Flasche um sie einzustecken, damit er sie später entsorgen konnte, runzelte jedoch die Stirn als er den Korken darauf sah.
Neugierig schüttelte er sie, im Inneren raschelte es leise.
„Was hast du da?“ Inge trat hinter ihn und sah ebenfalls neugierig zu dem Fundstück. Plötzlich verzog sich ihr Gesicht vor Unruhe, sie wich einen Schritt zurück. „Simon, lass es liegen.“
„Aber da ist etwas drin“, meinte er aufgeregt, zückte sofort das Messer und entfernte den Verschluss.
„Das ist nur Müll“, murmelte seine Frau unzufrieden. „Lass uns weitergehen.“
Neugierig stellte er die Flasche auf den Kopf, hinaus glitt ein alter, fleckiger Zettel. Vergnügt lächelnd ließ er die Flasche fallen. „Da glaubt wohl doch noch jemand an die gute alte Flaschenpost.“
Stille hinter ihm, doch er war zu gefangen von dem interessanten Fund. Mit zitternden Fingern faltete er das Papier auf, mittlerweile wehte der Wind stärker, doch er achtete nicht darauf, sondern las sich die Zeilen durch, die in sauberen, ordentlichen Lettern geschrieben standen.

Ist es wirklich geschehen? Mir kommt es vor wie ein surrealer Traum, eine Begebenheit, die sich ein Autor erdacht hat. Kein Mensch kann so etwas getan haben, niemand kann so schnell die Kontrolle über sich verlieren und doch, hier stehe ich nun. In dem Zimmer, in dem wir so viele Male gelacht haben, in dem wir uns liebten und in dem wir uns stritten. Du warst immer allgegenwärtig, deine Nähe für mich wichtiger als der Atem. Wir hatten stets Auseinandersetzungen, jedes Paar stritt sich in seiner Beziehung, doch der Streit endete niemals so. Nicht mit dieser Stille und der Ruhe, die dich befallen hat. Du, meine Geliebte, liegst auf unserem Bett, den Blick starr nach oben gerichtet, seltsam fahl ist dein Gesicht. Ich habe gewartet dass du aufwachst, dass sich deine Brüste heben wenn du nach Atem ringst, Minuten vergingen zu Stunden, Stunden werden zu Tage…



„Oh Gott“, entfuhr es Simon. „Oh Gott, er hat sie umgebracht.“
Konnte dies möglich sein? War dies das Geständnis eines Mörders? Weitere Zeilen warteten auf darauf gelesen zu werden, sie schienen das Papier zu beherrschen und obwohl er sich davor scheute, glitten seine Augen darüber, die Letter bildeten Worte und Worte wurden zu unheilvollen Sätzen.

Mein Magen knurrt, aus Angst dich zu verlassen habe ich mich selbst beschmutzt. Ich kann nicht weggehen, noch nicht einmal um etwas zu essen. Geschlafen habe ich, weil ich nicht mehr wachbleiben konnte und der Schlaf mich übermannte, doch sofort wenn ich erwache, sehe ich dich immerzu an. Es ist kein Traum, wird mir klar. Grau ist nun deine Haut, die Lippen blau und immer noch sieht dein regloser Blick zur hellen Decke auf. Mittlerweile zieht ein strenger Geruch durch die Wohnung, doch ich nehme ihn kaum wahr, habe mich schon an ihn gewöhnt.
Erneute Krämpfe schütteln meinen Magen, mein Körper schreit nach Essen. Wozu, frage ich mich. Wenn ich fort bin und du erwachst? Nein, lieber hier warten. Es ist ein Traum! Nur ein Traum!



Zitternd umfasste Simon den Brief fester, er fürchtete sich vor den nächsten Sätzen. Der anfängliche Spaß hatte sich in Entsetzen verwandelt. Es konnte sich auch um das Resultat eines viel zu phantasievollen Geistes handeln, ein junger Mensch, der sich an einen Roman versuchte. „Ganz gleich ob es wahr ist oder nicht“, murmelt er leise. „Wir müssen den Brief der Polizei übergeben.“
Ein Seufzen erklingt hinter ihm, er stammt aus Inges Lippen, doch er ist zu gefangen von dem Brief und will die letzten Zeilen lesen.

Die Nachbarn waren heute hier, sie beschweren sich über einen furchtbaren Gestank. Ich habe gelogen, gesagt, dass ich nicht weiß woher er kommt. Was soll ich nur tun? Wie kann ich erklären, dass ich nicht mehr Herr meiner Sinne war? Im Grunde bist du schuld! Du hast beschlossen, dass du nicht mehr mit mir leben willst, obwohl du genau wusstest dass ich nicht ohne dich leben kann. Du hast diesen fremden Mann in unsere Wohnung gelassen, in unser Bett, und als ich dich sah, unter ihm, die Hände in seinem Nacken vergraben, zerbrach etwas in mir. Sag es! Ist es nicht deine Schuld? Meine Hand war es, die die Klinge des Fleischmessers führte, doch du hast mir den Grund geliefert! Deine Schuld war es, dass ich es immer und immer wieder in deinem und seinem Fleisch stieß, bis nichts mehr herrschte außer dieser allumfassenden Stille.



Erschrocken hob Simon den Blick, die Lippen bebten unkontrolliert. Vor sich sah er den Sturm, dunkel und bedrohlich ragte er auf. Der letzte Satz bohrte sich in sein Gehirn, fassungslos sah er zu Inge auf, die geduldig vor ihm stand und auf ihn hinabsah. Das sonst liebevolle Gesicht nun eine Maske der Ernsthaftigkeit. Sofort, als er ihrem Blick begegnete, wusste er, dass dieser Sturm nicht hier, über diesem Meer tobte, sondern tief in seinem Inneren. Die letzten Lettern tauchten vor seinem inneren Auge auf.


Warum? Wieso hast du mich dazu gebracht? So viele Jahrzehnte, so viele Jahre des Glücks und des Leids haben wir miteinander geteilt, warum wolltest du mich auf einmal nicht mehr, Inge?

Impressum

Texte: Geschichte: Alle Rechte bei mir, der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2010

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