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Oktober, 1941




Kalte, eisige Luft drängte durch den heftig ruckelnden Laster. Die Menschen im Inneren kauerten sich dicht gedrängt aneinander. Einerseits um sich gegenseitig Wärme zu spenden, andererseits weil die Angst in ihren Herzen drohte Überhand zu nehmen.
Margarethe Schneider saß inmitten ihrer Eltern und konnte nicht aufhören zu zittern, immer noch sah sie die groben Gesichter der uniformierten Männer, die sie aus ihrem Haus gezerrt hatten. Anschuldigungen wie Verräter prasselten auf das schüttere Haupt ihres Vaters hinab, die Mutter weinte rückhaltlos und sie selbst vermochte nichts anderes zu tun als sich zu fragen was denn nun auf sie zu kamen..
Gerüchte hatten in den vergangenen Monaten die Runde gemacht. Gerüchte über ein Lager, nicht allzu weit entfernt von Hamburg. Dort sperrte man die Unreinen ein um sie den Blicken des deutschen Volkes zu entziehen. Es hieß, immer mehr Juden wurden dorthin deportiert, ebenso jene die gegen die gesellschaftlichen Regeln verstießen. Männer die in Sünde lebten und das gleiche Geschlecht begehrten, ebenso Frauen die sich absonderlich verhielten. Kriegsgefangene sollten sich ebenfalls dort aufhalten.
Viel hatte man nicht über dieses Lager erfahren, sie selbst wusste es nur, weil sie eines Nachts erwachte und ein leise geführtes Gespräch ihrer Eltern belauschte. Zuerst verstand sie nicht wieso man ihr verschwieg was anscheinend so wichtig war um es heimlich zu besprechen, immerhin war sie schon siebzehn Jahre alt. Viele ihrer Freundinnen hatten in diesem Alter bereits einen Mann und Kinder.
Der Gedanke an ihren Freundinnen entlockte ihr nun doch Tränen, sie fragte sich ob sie Anne und Marie jemals wiedersehen würde.
Verräter, dröhnte es in ihren Ohren. Unwillkürlich hob sie den Blick und sah die verhärmte Gestalt ihres Vaters an. Bevor der Krieg ausbrach und das deutsche Volk versuchte sich die Welt Untertan zu machen, war ihr Vater ein liebenswerter, gutmütiger Unternehmen, der allerfeinstes Besteck herstellte. Danach zwang man ihn auf Kriegsgüter umzurüsten. Seit diesem Moment an zerbrach etwas in ihm, doch sie sah neben dem Kummer auch einen Funken des Widerstands. Offenbar sorgte er dafür dass die Waren nicht zur Zufriedenheit des Führerstabs ausgeführt wurden, denn man lastete ihm nach einer Weile Verrat an das deutsche Volk an. Neben dieser Anklage traf ihn eine weitere, vier jüdische Familien hatte er in der Fabrik versteckt, die nun ebenfalls in diesem Laster kauerten.
Holpernd kam der Laster zum stehen, man hörte die befehlsgewohnte Stimme eines Mannes, dann wurden die Planen zurückgezogen und bewaffnete Soldaten zerrten die Menschen ins Freie.
Insgesamt waren es fünfzehn Menschen, ein kleines zwölfjähriges Mädchen, die Jüngste unter ihnen, zitterte wie Espenlaub, doch nicht nur von der eisigen Kälte allein. Sie wusste nicht viel über diese Menschen, wie ihre Namen lauteten oder warum ihr Vater gerade ihnen geholfen hatte, doch der Stern an ihren Mänteln wies sie eindeutig als Juden aus.
Die Mütter pressten ihre Kinder schützend an sich und die Väter versuchten ihrerseits, das was sie liebten, zu beschützen. Nachdem man sie einige Meter vorwärts gedrängt hatte, schlug man sie, trennte die Männer von den Frauen und Kindern.
Margarethe sah entsetzt mit an wie ein hagerer Mann zu Boden ging und Blut spuckte, ihre Lippe bebte, die Hand ihrer Mutter bohrte sich in ihr Fleisch.
„Stillgestanden!“ bellte eine raue Stimme in der frostigen Morgenluft. Nachdem man sie in die Knie gezwungen hatte nahmen die Soldaten Haltung an, die sonst hämischen Gesichter eine steinerne Maske der Bewegungslosigkeit.
Zwischen ihren Eltern sah Margarethe unruhig einen schwarz uniformierten Mann auf sie zu kommen. Er trug am Kragen einen Totenschädel, etliche Orden und Ornamente wiesen ihn als einen ranghohen Offizier aus. Sie wusste genug von den militärischen Rängen um ihn als einen hohen Offizier der Totenkopf-SS zu erkennen.
Ein Soldat salutierte zackig und machte Meldung über den Fang des Tages. Plötzlich fand sie sich eisigen Augen ausgesetzt und hätte sich am liebsten schützend hinter ihre Eltern verkrochen.
„Das ist die Familie Schneider“, meinte nun der Soldat. Margarethe zuckte zusammen als der hellhaarige Offizier die Hand ausstreckte und nach einer Strähne ihres blonden Haares griff, diese zwischen seine behandschuhten Finger verrieb.
„So so“, murmelte er. „Die Verräter.“ Sofort ließ er ihr Haar los und wandte sich um.
„Gruppenführer.“ Ihr Vater streckte flehend die Hände aus. „Meine Familie hat mit der ganzen Sache nichts zu tun.“
„Der Sache?“ Langsam wandte sich der SS-Offizier ihnen wieder zu. „Mit Verrat, meinen Sie wohl? Sie haben die Lieferungen an die Reichsmacht sabotiert, etliche Waffenreihen vernichtet.“
Der kleine Mann schüttelte verzweifelt den Kopf. „Gruppenführer, ich flehe Sie…“
Die Mündung einer Pistole lag plötzlich an der verletzlichen Stirn des knienden Mannes. Margarethe hielt den Atem an, hob fassungslos den Blick und schauderte, denn der Blick des Offiziers streifte sie erneut. Ein falscher Gesichtsausdruck, eine falsche Bewegung und er würde ihren Vater töten, einfach so.
Sie wusste nicht, ob sie etwas getan hatte oder ob es seiner Laune entsprach, doch plötzlich ließ er die Waffe sinken. „Sie haben Glück, Herr Schneider. Wir brauchen dringend eine Fuhre neuer Arbeiter.“
Nach diesen Worten begab er sich zu einem Soldaten, der nur einige Ränge unter ihm stand und unterhielt sich leise mit ihm, ehe er mit großen Schritten die verängstigte Gruppe verließ
Flüstern von ihrer rechten Seite erregte ihre Aufmerksamkeit, sie wandte den Kopf zur Seite und sah wie ihre Mutter still ein Gebet sprach.
„Abführen“, peitschte eine weitere Stimme.
Unerwartet riss man ihren Vater von ihr los und schob ihn in eine andere Richtung. Ihre Mutter schrie schluchzend aus, wagte jedoch nicht die Arme nach ihm auszustrecken, sondern klammerte sich regelrecht an ihr Kind. Margarethe brachte vor Fassungslosigkeit keinen Ton hervor. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Wo brachten sie ihn hin? Was würde aus ihrer Familie geschehen? Doch die schwerwiegendste Frage war, ob sie ihren Vater jemals wiedersehen würde und ob sie ihm glaubhaft versichert hatte wie lieb sie ihn hatte. Tränen flossen nun auch bei ihr, sie klammerte sich an ihre Mutter als man sie auf die Beine zerrte und vorwärts stieß.
Durch ein stark bewachtes Tor führte man sie ins Innere des Lagers, Schnee bedeckte das ganze Gelände, es war so kalt dass man seinen eigenen Atem als Dampfwolke entweichen sehen konnte.
Die Männer auf dem Wachturm grölten spöttisch, einer der unten stehenden Soldaten streckte die Hand aus und griff nach ihrem Rock, so dass sie leise aufschrie, bis der Vorgesetzte ihn anfuhr gefälligst für Ordnung zu sorgen. Murrend gingen die Männer wieder an ihre Posten.
Sie wollten der Kolone der jüdischen Familien folgen, stoppten jedoch als eine Hand vor sie erschien und zum Anhalten brachte. Fragend sahen sie in das kalte Gesicht des hageren Mannes.
„Sie sind immer noch Mitglieder des deutschen Volkes“, blaffte er. „Man wird sie in andere Unterkünfte einquartieren.“
Was dies bedeutete, konnte sich weder Margarethe, noch ihre Mutter vorstellen. Stumm vor Angst, voller Fragen, warteten sie am Tor während der ranghöhere Soldat in ein Gebäude ging.
Margarethe ließ trostlos ihren Blick über das Gelände schweifen, über dieses Lager schien Dunkelheit und Trauer zu liegen und das empfand sie nicht nur wegen des kalten Schnees. Während sie sich umsah stach ihr plötzlich etwas Dunkles, vor dem hellen Weiß der Schneelandschaft, ins Auge.
„He! Sieh mal da!“ Grinsend deutete einer der Soldaten auf die Gestalt einer auf sie zu laufenden Person. Verwirrt zog Margarethe die Brauen zusammen, sie vergaß für den Moment sogar ihre missliche Lage als der kleine, dünne Mann dem bewachten, umzäunten Tor immer näher kam. Sie fragte sich was er vorhatte, wollte er versuchen zu entkommen?
Sein Gesicht wirkte irgendwie gelöst, beinahe sehnsuchtsvoll, aber auch grimmig. Was er vorhatte konnte sie sich nicht vorstellen, die Umzäunung war zwar niedrig genug, dass man darüber klettern konnte, doch die Wachen sahen ihn allzu deutlich, sie würden ihn niemals entkommen lassen. Seltsamerweise hob keiner ein Gewehr oder unternahm etwas.
Margarethe sah noch genau wie er die Finger ausstreckte um den Draht zu umfassen, dann setzte ein zischendes Geräusch ein, das ihrer Mutter einen erschrockenen Schrei entlockte. Bestürzt riss sie die Augen auf, beobachtete ungläubig das Schauspiel, wie der dünne Mann an dem Draht zuckte und zitterte, bis er schließlich schlaff herabhing, die Finger immer noch um die elektrischen Gitternetze gekrallt.
„Die Schweine versuchen es immer und immer wieder“, lachte ein junger Soldat und winkte die Frauen an weiter zu gehen.
Sie wurden zu einer eher abgelegenen Baracke gebracht, wo sich auch andere Frauen aufhielten. Allesamt Deutsche, die ihren Männern folgen mussten, deren Gesinnung ebenfalls nicht dem deutschen Staat zusagte. Bewacht wurde diese Baracke von einer sehr großen, stämmigen Frau, Hildegard Schmitt, die eine derartig boshafte Miene aufsetzte, dass Margarethe sich am liebsten in den Armen ihrer Mutter vor ihr versteckt hätte.
In dieser stickigen, dunklen Baracke wurden sie auf Waffen oder Messer untersucht, beide empfanden sie diese Prozedur als beschämend, denn die Soldatinnen bespöttelten ihre Mutter wegen ihres leicht hängenden Busens und sie wegen ihrer breiten Hüften. Mehrere Minuten waren sie gezwungen vollkommen unbekleidet da zustehen und den Spott über sich ergehen zu lassen, erst nachdem das Amüsement der Frauen gestillt und sie lange genug erniedrigt wurden, gab man ihnen riechende, kratzige Kleidung und teilte sie für Arbeiten ein.
Mit den kommenden Tagen, Wochen erfuhren sie auch wo sie sich befanden. Dies war das berüchtigte Lager von dem die Gerüchte kursierten. Sie befanden sich im Lager Neuengamme, das mehr und mehr anwuchs. Immer mehr Häftlinge und Gefangene wurden hierher deportiert. Von den anderen Frauen erfuhren sie, dass die Menschen für eine Rüstungsfabrik schufteten und Ton erbeuteten.
Im Lazarett, wo Margarethe so lange arbeitete bis sie sich kaum noch auf die Beine halten konnte, sah sie mehr und mehr der schlecht versorgten Gefangenen. Die meisten Sanitäter hatten nicht die benötigte Ausbildung um den Leuten zu helfen. Besonders nicht im Dezember des Jahres 1941 als im ganzen Lager Typhus ausbrach und fünf Monate lang tausend Menschen dahinraffte. Auf dicht gedrängten Wohn- und Schlafräume war die Ansteckungsgefahr extrem hoch, das Lager bot bei weitem nicht die Kapazität für so viele Arbeiter.
In dieser Zeit fragte Margarethe sich sehr oft, wie es ihrem Vater erging, den sie seit der Trennung nicht ein einziges Mal gesehen hatte. Ihrer Mutter begegnete sie nur nachts, sie hatte mehr und mehr an Gewicht verloren, wirkte wie ein Schatten ihres früheren Selbst. Das Gesicht ausgehöhlt, die Augen leer, kaum fähig zu sprechen oder ihrer Tochter Trost zu spenden. Auch die Gerüchte eines Lager-Bordells kursierten, viele der Frauen wurden zum Beischlaf gezwungen und manchmal sogar ungewollt schwanger. Weiterhin hieß es dass, wenn man ein Kind bekam, es nach der Geburt weggenommen und getötet wurde. Ebenso verfuhren die Soldaten mit Menschen, die der Erschöpfung erlagen und kaum fähig waren sich auf den Beinen zu halten. Unnütze Esser

nannte man diese armen Seelen und exekutiert sie sofort.
Je mehr Zeit verging umso mehr schien es als würde sie innerlich abstumpfen, sie hatte ebenfalls die ersten Monate viel an Gewicht verloren, so viele Tränen ob des Leids um sie herum vergossen, bis sie nicht mehr fähig war zu weinen. Und doch erspähte sie mit jedem neuen Tag noch mehr Leid und Grausamkeiten.
Margarethe erinnerte sich wie sie an einer Gruppe Soldaten vorbeikamen, die über einen Mann lachten, der stocksteif vor Entsetzen neben der gesperrten Zone stand.
Verwirrt hielt sie im Gehen inne, jeder wusste dass man getötet wurde, wenn man die Linie überschritt. Die Wachen wurden angewiesen flüchtige Gefangene sofort zu richten, also was hatte dieser Mann vor? Er wirkte fast vollkommen verängstigt, Exkremente beschmutzten seine Hosen, die dunklen Augen zeigten kaum noch Menschliches, darin loderte hoffnungsloser Wahnsinn.
„Los Jude! Hol das Mützchen!“
Erst als sie diese Worte hörte, konnte sie die Kappe erkennen, die sich hinter der Linie befand. Um sie zu erreichen müsste man die verbotene Zone betreten.
Ein junger Mann richtete spöttisch die Waffe auf den Gefangenen, grinste höhnisch im Angesicht der Todesangst. Sie selbst zitterte vor Furcht und Unglauben, wollte sich abwenden und konnte es dennoch nicht. Keines ihrer Worte würden diesen armen Mann retten, nichts was sie tat änderte das besiegelte Schicksal, also heftete sie den Blick auf die verhärmte Gestalt, damit sie niemals vergaß was sie mit ansehen musste, was in dieser Zeit geschah das absolut nichts mit Menschlichkeit und Würde zu tun hatte.
Die viel zu dünne Gestalt des Mannes bewegte sich zitternd einen Schritt voran, überquerte die Linie. Als immer noch kein Schuss erklang machte er einen weiteren Schritt, näher an die, im Matsch liegende, Mütze hin. Schwankend beugte er sich vor, griff nach dem Stoff und drehte sich um. Hoffnung leuchtete in den dunklen Augen, der abwegige Gedanke dass sein Leben doch verschont wurde, kam ihm in den Sinn. Dann, die wenigen Schritte zurück, bald hatte er die Linie erreicht, er setzte schon einen Fuß darüber hinweg… und prallte zurück als die Kugel sich in seine Stirn bohrte. Blut und Knochensplitter spritzten auf den matschigen Boden.
Ein Uniformierter, der viel zu nahe an dem Getöteten stand, machte seinen Unmut Luft. „Karl, du Sauhund! Sieh dir meine Uniform an.“
Daraufhin lachte der Schütze laut auf.
Margarethe schauderte, sie hatte die Hände zu Fäusten geballt, unfassbar, wütend.
„Geh weiter.“
Die Stimme erklang hinter ihr, so dass sie den Kopf abwandte. Neben ihr stand ein junger Mann, ebenfalls dünn aber wesentlich kräftiger als manch anderer Unglückselige hier. „Wer…“
„Geh weiter, sie werden sich gleich jemand anderen aussuchen mit dem sie spielen können“, knurrte er und ging an ihr vorbei, sie senkte den Blick und folgte ihm stumm. Das Gesicht des getöteten Mannes hatte sich in ihr Gehirn gebrannt, wann immer sie die Augen schloss, schien es als ob sie ihn vor sich sehen würde. An ihrem ersten Tag hier hatte sie einen Mann Erlösung in dem Tod suchen gesehen, heute erlebte sie, wie ein anderer verzweifelt um sein Leben zu kämpfen versucht hatte.
Etliche Meter weiter, in einem toten Winkel, versteckt vor den Blicken der Soldaten, lehnte sie sich zitternd gegen eine der Baracken und presste sich die Fäuste gegen die Brust, ihr wurde schlecht, so dass sie das wenige, dass sie gegessen hatte, erbrach.
„Alles in Ordnung?“
Immer noch zitternd sah sie zu dem Fremden auf. Er hatte einen seltsamen Dialekt in seiner Stimme. „Du bist aus Russland“, flüsterte sie, worauf er nickte.
„Andrej Iwanow.“
Zum Glück reichte er ihr nicht die Hand, sie wusste sowieso nicht ob sie in der Lage wäre ihre Finger auszustrecken.
„Margarethe Schneider“, flüsterte sie, immer noch zitternd.
„Du arbeitest im Lazarett“, stellte er fest, so dass sie die Stirn runzelte, denn sie konnte sich nicht erinnern ihn dort gesehen zu haben. Sein Aussehen war eher Durchschnitt, doch diese grünen Augen hätte sie nicht vergessen, sie strahlten eine Kraft aus die jeden erfasste wenn man seinem Blick begegnete. Als sie nickte lächelte er knapp. „Halte dich von Schwierigkeiten fern“, meinte er und nickte ihr zu, ehe er weiter seiner Wege ging.
In den kommenden Wochen war sie kaum noch in der Lage an die seltsame Begegnung zu denken, ihre Mutter wurde immer kränker und kränker. Medikamente bekam sie nicht, so blieb ihr nur die Hilfe des viel zu jungen Sanitäters Helmut, einer der wenigen freundlichen Menschen in diesem Lager, der eigentlich noch in die Lehre ging. Es verwunderte niemanden dass ihre Mutter nicht gerettet wurde, Roswitha Schneider starb einen kummervollen Tod. An diesem Abend wollte Margarethe nichts anderes tun als ihr zu folgen. Sie fühlte sich so elend und alleine wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
Helmut zog sich zurück, voller Schuldgefühle und unfähig tröstende Worte zu bilden. Die Einzige, die versuchte sie zu trösten war Helga, eine der zehn weiblichen Soldatinnen, die für die Frauen ihrer Baracke zuständig waren. Die kleine, zierliche Frau hielt sie in den Armen und flüsterte ihr warme, beruhigende Worte zu. In den vergangenen Monaten hatte sie sich mit einigen der Frauen angefreundet, doch eine tiefe Bindung ließ man hier selten zu, denn es kam oft vor das am nächsten Tag wieder eine Frau verschwand.
Nach dieser Tragödie setzten sich die tristen Tage fort, als wäre nichts geschehen. Mittlerweile war es Sommer, die Sonne schien als würde sie gar nichts von dem Elend und den Schrecklichkeiten dieses Lagers wahrnehmen.
Margarethe fühlte sich, trotzt ihrer achtzehn Jahren, wie eine uralte Frau. Sie schuftete Tag für Tag, entkam immer mit mehr Glück als Verstand den Anzüglichkeiten der männlichen Soldaten. Niemals hätte sie erwartet, dass etwas den leidvollen Alltag unterbrach, umso verwunderter war sie, als sie den jungen Russen immer häufiger im Lazarett entdeckte. Dort erfuhr sie auch von Helmut, dass er ein ranghoher Offizier der russischen Gefangenen war und sich mehrmals nach Medikamenten und Versorgungshilfen erkundigte. Offenbar wurde dies Offizieren und insbesondere Nicht-Juden gestattet, denn immerhin lebte er noch.
Sein Blick glitt mit einer Wärme über ihre Gestalt die sie seltsamerweise tröstete. Jeden Morgen ertappte sie sich dabei, dass sie nach seiner hochgewachsenen Erscheinung Ausschau hielt und errötete wenn sein Blick ihrem begegnete. Nie hatte sie erwartet in diesem Elend ein Gefühl zu empfinden, dass gänzlich anders war als Schmerz und Hass, doch Andrej eroberte ihr Herz, so aussichtslos diese Liebe auch war.
Mithilfe von Helmut konnten sie wenige Minuten am Tag miteinander verbringen und einander kennenlernen. Je mehr Zeit verstrich, umso mehr hingen sie aneinander und mit jedem Treffen wuchs in Margarethe eine neue Angst. Nämlich die, auch diesen geliebten Menschen zu verlieren.
Seine sanften Hände, der warme Blick seiner Augen ließen ihr Herz schneller schlagen. Sie liebte ihn und wusste, dass auch er diese Liebe erwiderte, wenngleich es jedoch ungewiss war ob sie hier lebend rauskamen.
Mit der Zeit machte Andrej Pläne, er sagte er wüsste schon wie er sie hier rausbringen konnte. Margarethe glaubte nicht, dass ein Entkommen möglich war, doch sie wollte ihm seinen Glauben nicht nehmen, also schwieg sie und ließ sich von ihm halten und küssen.
Immer schwieriger wurde es einander zu treffen seit Helmut, nur wenige Wochen nach ihrem Treffen, in ein anderes Lager versetzt wurde, die einzige Hilfe die ihnen noch blieb war Helga. Nachts schlich sie hinaus um ihren Liebsten wenigstens für ein paar Minuten zu sehen. Wenn die anderen Frauen innerhalb der Baracke dies bemerkten so schwiegen sie darüber, zumindest so viel Vertrauen war noch geblieben.
„Margarethe, wir können nicht länger warten“, flüsterte Andrej eines Nachts, während er sie an sich zog und seine Nase in ihrem hellen Haar vergrub. Sie lagen an einer abgelegenen Stelle in der Nähe der Frauenbaracken, geschützt durch mehrere, leer stehenden Versorgungsgebäude, unsichtbar für die sonst wachsamen Augen der Späher
„Aber ich weiß immer noch nicht wo mein Vater ist“, stieß sie besorgt hervor, so dass er ihr Kinn anhob und ernst auf sie hinabsah ansah.
„Glaubst du nicht, er würde wollen dass du die Möglichkeit zur Flucht ergreifst? Außerdem habe ich nach ihm gesucht, ich tat es für dich, doch ich fand niemanden. Du kannst nicht wissen ob er den Typhus überlebt hat.“
Das stimmte. Schmerz füllte sie aus, sie hatte gesehen wie die Männer, die ins Lazarett kamen, immer schwächer und schwächer wurden, selbst Andrej war nur noch Haut und Knochen. Zitternd krallte sie sich an ihm fest und spürte wie seine Anwesenheit ihren Kummer etwas linderte.
„Wie sollen wir fliehen?“ fragte sie leise.
„Es gibt einen Soldaten hier, er ist freundlich und hilfsbereit, mit seiner Hilfe konnten einige entkommen. Niemand hat ihn in Verdacht, weil er der Sohn eines berühmten Offiziers ist. Wilhelm Franzinger ist sein Name.“
Das klang wirklich danach als könnte es ihnen gelingen. Dennoch, die erlebten Grausamkeiten forderten ihren Tribut, es fiel ihr schwer einem Fremden nicht nur ihres, sondern auch Andrejs Leben anzuvertrauen. „Wieso willst du wissen dass er uns helfen wird?“
„Weil er selbst ein Gefangener wäre, würde man seine Neigung kennen. Wilhelm liebt Männer. Außerdem vertrauen ihm die anderen Gefangenen, ich sah selbst mit an wie er manchen zur Flucht verhalf.“
Dies verscheuchte ihre Sorgen, sie rang nach Luft und schmiegte sich an Andrejs warme Gestalt.
Sehnsüchtig schenkte sie ihrem Geliebten einen Kuss und seufzte, als seine Umarmung, anders als zuvor, drängender wurde. Dann fragte sie sich, worauf warten? Vielleicht war dies ihre einzige Möglichkeit, sie liebte ihn und wenn alles schieflief bekäme sie keine andere Gelegenheit sich ihm hinzugeben. Offenbar hegte er den gleichen Gedanken, denn sein Mund wurde fordernder, sie spürte die Berührung seiner langen Finger ihren Körper hinab wandern und ebenso erkundungsfreudig wanderten ihre über ihn, glitten unter das Hemd, berührten seine Haut. Es schmerzte sie zu fühlen, wie die Rippen durch seine Haut stachen oder wie leicht sie der Form der Schulterblätter folgen konnte. Nichts wünschte Margarethe sich sehnlicher als sein Wohl. Wenn sie ihm zumindest einen kleinen Augenblick des Glücks schenken konnte, so wollte sie diese Zweisamkeit auch bis zum Ende genießen.
Lippen suchten und fanden sich, Finger schlangen sich ineinander, während ihre Leiber ihrem Beispiel folgten, sich dem anderen entgegenstreckten, nahmen und gaben. Margarethe lag unter seiner großen Gestalt und erzitterte vor Glück, flüsterte atemlos seinen Namen, verriet ihm wie sehr sie ihn liebte und weinte vor Hingebung als beide sich aufbäumten, von einer Welle des Wohlbehagens und Glücks davongetragen wurden.
Nach und nach kehrte die Wirklichkeit zurück, sie zitterte in der kühlen Nachtluft und hörte vernahm erschrocken die Stimmen von Soldaten. Andrej zog sie gerade noch rechtzeitig in eine dunkle Nische zurück und hielt ihre Gestalt fest umschlungen, als ein kleiner Trupp an der Baracke vorbei patrouillierte und sich über die Frauen dieses Lagers amüsierte.
„Ich hab gehört, sogar der Gruppenführer hat einen Liebling, die kleine Schneider aus dem Lazarett. Karl meint, dass er sich nicht mehr lange zurückhalten kann, er plant sogar das Weibsstück mit in sein Haus zu nehmen.“
Margarethe stockte der Atem. Ja, der SS-Offizier hielt sich auffällig oft im Lazarett auf, doch sie hatte nie erwartet der Grund dafür zu sein. Nun, wenn sie darüber nachdachte, kam ihr der Blick seiner grauen Augen mehr als nur interessiert vor.
„Der Gruppenführer ist doch verheiratet“, rief einer aus.
„Warum sollte ihn das hindern“, meinte der erste. „Die Kleine ist wirklich eine Augenweide. Würde selbst hinter ihr her sein.“
„Simon, willst du ins kalte Sibirien versetzt werden?“ rief ein anderer Soldat.
Andrejs Finger bohrten sich so fest in ihre Arme, dass sie nur mit Mühe einen Schmerzenslaut unterdrückte. Als der Trupp endgültig außer Sicht war, glitt er mit einer Hand über ihre Locken. „Ich spreche gleich mit Wilhelm.“
Nickend bekundete sie ihr Einverständnis. Gemeinsam standen sie auf und rückten ihre Kleider zurecht, dann ging, nach einem letzten Kuss, jeder seinen Weg zurück zu seiner Unterkunft.
Mit Herzklopfen und stockendem Atem legte sie sich auf ihr hartes Lager und dachte an das Kommende. Ob sie es wirklich schafften dieser Hölle zu entkommen?
In den kommenden Tagen wurde die Absicht des Offiziers deutlicher, er lauerte ihr vor der Baracke auf oder auf dem Weg ins Lazarett. Seine Augen erinnerten sie an die eines toten Fisches, es widerte sie an von ihm betrachtet zu werden. Nun wusste sie auch warum keiner der Soldaten je Hand an sie gelegt hatte, doch noch schlimmer wäre es, seine Berührung zu fühlen. Alleine wie er immer wieder nach einer hellen Strähne ihres Haares griff oder ihre Gestalt betrachtete, jagte ihr eine Heidenangst ein. Sein Blick verriet mehr und mehr Begierde, er schien sich mit jedem Treffen kaum noch zügeln zu können.
Margarethe ahnte, dass er sie nur eines Blickes würdigte weil sie das perfekte Abbild eines arischen Menschen darstellte, obwohl sie sich selbst niemals so gesehen hatte. Mit ihren hellblonden, fast aschfarbenen Haaren und den blauen Augen blieb so mancher Blick an ihr hängen, besonders der einiger Offiziere.
Nach jedem dieser angsteinflößenden Besuche fiel es ihr immer schwerer daran zu glauben, dass sie tatsächlich fliehen konnten. Die Treffen mit Andrej waren immer viel zu riskant, so dass sie sich kaum sahen und nachdem zwei Monate vergingen, konnte die junge Frau sich nicht länger vor der Wahrheit drücken. In dieser Zeit hatte sie nicht ein einziges Mal ihre Monatsblutung bekommen, ohne Zweifel wusste sie, dass sie schwanger war und ahnte auch, was sie erwartete wenn der SS-Offizier davon erfuhr. Die Ängste, ausgelöst durch die grausamen Gerüchte über diese neugeborenen getöteten Kinder, rückten immer näher, sie erfuhr auch dass man manche Babys für Experimente missbrauchte, so dass sie nachts kaum noch Schlaf bekam.
Da sie sich nicht sehr oft treffen konnten hatten sie an ihrem Platz einen toten Briefkasten erschaffen, wodurch sie sich einander mitteilten, doch heute Nacht fädelte Helga ein Treffen mit Andrej ein als Hildegard Schmitt nicht zugegen war. Selbst er war entsetzt als er erfuhr dass sie schwanger war. Sie hatten sich nur ein einziges Mal geliebt, nicht daran denkend dass dies Früchte trug und nun drohte diese Schwangerschaft ihr mit dem Tode. Der Gruppenführer würde ihr niemals verzeihen, selbst Andrej ahnte, was mit ihr dann geschah, denn er wurde weiß im Gesicht.
„Wilhelm meinte wir müssten uns noch einen Monat gedulden“, murmelte er in ihrem Haar. Die Nacht lag still über sie, einzig allein unterbrochen von dem Flattern der Fledermäuse, die dieses Gebiet als Revier betrachteten.
„Mir werden jetzt schon die Kleider eng“, stieß sie leise hervor und schaudert furchtvoll. „Helga hilft wo sie kann, aber da sind immer noch die anderen Soldatinnen, sie werden es merken.“
„Dann muss ich mich nochmal mit Wilhelm unterhalten.“ Sein Kopf deutete nach oben zu dem Gebäude, an dessen Mauer sie lehnten und sich im Arm hielten. „Die Soldaten meiden diesen Ort, sie mögen die Tiere nicht. Hier werden wir versuchen zu fliehen.“
Wie genau das vonstattengehen sollte konnte sie immer noch nicht sagen.
Helga reiste für ein paar Wochen nach Hause, in dieser Zeit fürchtete sie die Entdeckung durch Hildegard. Zum Glück traf die Morgenübelkeit sie nicht so heftig, auf dass sie ihren Zustand lang genug verheimlichen konnte.
An dem Morgen als Helga zurückkehrte hielt sie ein Schreiben für sie bereit. Die rothaarige Frau sah sich unruhig um. „Hier“, flüsterte sie und reichte ihr den Brief.
Es war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit mit dem Lesen zu warten bis es sicher genug war. Den ganzen Tag über fühlte sie sich unruhig und unkonzentriert, so dass es sogar dem Lazarettarzt auffiel und er sie blaffend anschrie, danach versuchte sie sich zu konzentrieren, doch sie war froh als der Tag sich dem Ende neigte und man sie in ihre Baracke schickte.
Heute Nacht

, stand in ordentlichen Lettern darauf und sie schluckte vor Aufregung.
Dort drohte sie beinahe in Ohnmacht zu fallen, denn man hatte Helga diese Nacht in einen anderen Bereich versetzt.
Wie? Wie nur sollte sie ohne die Hilfe der gutmütigen Frau nach draußen gelangen? Zu ihrem weiteren Erschrecken erfuhr sie auch, dass Hildegard in dieser Nacht Dienst hatte. Die stämmige Frau hasste sie allein schon wegen ihres hellhaarigen Aussehens und fand immer eine Gelegenheit sie zu verspotten.
Geradeso als ob sie etwas ahnen würde, blieb die gehässige Person die ganze Zeit über in die Baracke, der Blick ihrer braunen Augen wanderte wachsam über alle Betten und trieb Margarethe noch mehr in Verzweiflung, je weiter die Nacht voranschritt.
Plötzlich, sie wusste die Uhrzeit nicht, erklang ein Donnern an der Tür.
„Aufmachen!“
Mehrere der Frauen richteten sich fragend von ihrem harten Lager auf. Hildegard schritt zur Tür und öffnete sie mit eisiger Miene.
Stimmen erklangen. Von ihrem Lager aus konnte Margarethe nicht viel hören, doch ihr schwante Übles, als sie Hildegard zurückkommen sah und diese ihren Namen rief.
„Margarethe Schneider, sofort melden!“
Zitternd vor Unruhe kletterte sie aus dem Bett, stieg in ihre Schuhe und zog sich einen Mantel über, zwang sich dazu jegliche Furcht aus den Augen zu verbannen während sie auf die große Frau zuging.
„Ich schätze das schöne Leben ist nun vorbei“, meinte diese gehässig, packte sie am Arm und schob sie nach vorne zur Tür, wo drei Soldaten sie erwarteten.
Ängstlich wollte sie sich zur Wehr setzen, doch die andere Frau war wesentlich stärker und schubste sie so barsch, dass sie auf die Knie fiel.
Eine unsanfte Hand packte ihr Kinn uns hob es an. Der Mann vor ihr war zum Glück nicht der Gruppenführer, doch seine folgenden Worte jagten ihr die gleiche Angst ein.
„Die ist wirklich hübsch. Jungs, unsere Feier wird heute ein richtiger Erfolg.“
Entsetzt wollte Margarethe den Kopf schütteln, sich weigern.
„Obersturmführer Franzinger, die Gefangene muss zum Morgenappel zurück sein“, mahnte die Soldatin ernst, worauf der blonde Mann wegwerfend winkte. „Ja, ja.“
Der Name des Mannes ließ Margarethe stutzen, sie blinzelte ihn an und zuckte zusammen als er sie auf die Beine zog und ihr in den Hintern kniff.
„Die wird uns wirklich Freude bereiten“, grinste er, während er sie immer weiter nach draußen zog. Verwirrt sah Margarethe um sich, nachdem die Tür mit einem lauten Geräusch hinter sie ins Schloss fiel und sie inmitten der drei Soldaten stand. Dichter Regen fiel auf sie hinab, durchnässte sie innerhalb weniger Sekunden.
Plötzlich änderten sich die Mienen der Drei, tiefer Ernst lag in den Gesichtern. Der blonde Mann beugte sich leicht zu ihr vor. „Ich schulde Andrej einen Gefallen, dich hier rauszubringen wird nicht leicht sein und erfordert sehr viel Mut von dir.“
„Wo ist Andrej?“ fragte Margarethe besorgt.
Die Männer sahen sich an, dann ging der Obersturmführer weiter, einen Arm um ihre Schulter geschlungen, so als würde er sich mit einem Lustmädchen amüsieren. „Wir machen einen kurzen Spaziergang. Bedenke dass wir hier unser Leben riskieren also fasse dich.“
Was wollte er damit sagen? Fragend wollte sie zu ihm aufsehen, stockte jedoch als er zu einem Gebäude deutete und sie erstaunt feststellte dass es Andrejs und ihr gemeinsamer Platz war.
„Sebastian, Bernhard, bereitet alles vor“, zischte der schlanke Mann, setzte dann den Weg mit ihr alleine fort.
Margarethe fror wegen des Regens, doch nicht nur deswegen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wo war Andrej?
Angst und Unruhe krochen ihr in die Glieder. Warum waren sie hier und wieso blieb Andrej so lange fort? „Wo…“
„Frag mich nicht“, unterbrach er sie. “Die anderen werden bald kommen. Hör genau zu was ich dir sage.“
Verwirrt schüttelte sie den Kopf, so dass ihr das nasse Haar ans Gesicht klebte. „Nein, ich will zu Andrej! Wo…“
Die große Hand des Offiziers schnellte hervor und packte ihr Handgelenk. „Sei nicht kindisch! Werde erwachsen, du trägst sein Kind in dir. Andrej ist ein Offizier und dadurch verantwortlich für seine Leute. Verlangst du wirklich, dass er sie im Stich lässt?“
Langsam begann sie zu verstehen, ein wilder Schmerz tobte in ihrer Brust. Er hatte niemals davon gesprochen dass sie gemeinsam flohen. Es ging immer nur darum, dass sie in Sicherheit gebracht wurde.
„Werden Sie dafür sorgen dass es ihm gut geht?“ Wieso fragte sie das diesen Fremden? Sie wusste rein gar nichts von ihm, noch nicht einmal sein Gesicht konnte sie richtig erkennen.
„Ich werde es versuchen aber wer weiß? Vielleicht endet dieser unglückselige Krieg ja bald und er bleibt bis dahin am Leben.“
Konnte sie es wagen darauf zu hoffen? Besser als gar nichts, sagte sie sich, während sie im Regen stand und in die Dunkelheit starrte.
Die Zeit dehnte sich scheinbar unendlich aus, dann hörte man das Rattern eines kleinen Lastwagens, der sich ihnen näherte. Der Gestank der mit ihm kam, drehte Margarethe den Magen um. „Was ist das?“
„Ich habe dir doch gesagt dass es viel Mut abverlangen wird“, knurrte der Offizier. Im Dunklen stieg der Fahrer, Bernhard, aus und öffnete die hintere Klappe. Der Mageninhalt der jungen Frau drängte nach oben als sie sah dass er voller Tote war. Leere Augen, vor Schmerz verzerrte Fratzen, im Schrei erstarrte offene Münder sprangen ihr entgegen. Entsetzt wich sie zurück. Voller Grauen schüttelte sie den Kopf, langsam begreifend was diese Flucht ihr abverlangen sollte. „Nein, ich kann nicht!“
„Du musst!“
„Frau Schmitt weiß sowieso dass ich mit Ihnen mitgegangen bin“, stieß sie fieberhaft hervor.
„Und sie wird am nächsten Morgen eine Leiche bekommen. Ein wenig zu viel gefeiert“, meinte der ältere Mann und hielt ihr die Hand hin. „Das Gesicht wird nicht zu erkennen sein, also mach dir darum keinen Kopf. Das Einzige, das wir von dir verlangen sind die wenigen Minuten auszuhalten bis die Kontrolle vorbei ist. Danach bleibt Bernhard stehen und holt dich hinaus.“
Es klang logisch und machbar, so als bestünde Hoffnung auf Erfolg, doch einfach die Vorstellung unter unzähligen leblosen Leibern begraben zu sein, nahm ihr schier den Atem.
„Tu es für dein Kind, für Andrej“, zischte der Offizier plötzlich ungehalten. „Denk an die beiden. Ihr könnt keine Zukunft haben wenn einer von euch tot ist. Beiß die Zähne zusammen, Mädchen.“
Sie konnte nicht, die Furcht… Versuchsweise streckte sie die Hand aus, berührte ein knochiges, eisiges Bein und fing an zu weinen, salzige Tränen vermischten sich mit dem Regen. So oft hatte sie daran gedacht wie es sein würde eine von ihnen zu sein, nichts mehr zu fühlen, einfach nur weggehen zu können. Heute, in dieser Nacht, hatte sie die Chance auf Freiheit. Bittend wandte sie sich an den Offizier. „Schlagen Sie mich. Schlagen Sie mich bewusstlos.“ Anders ging es nicht, unter diesen Toten würde sie wahnsinnig werden, selbst diese wenigen Minuten.
Einen Moment sah er sie an, dann schnellte seine Faust vor, traf ihre Schläfe und sie sank in Bewusstlosigkeit.
Die Männer arbeiteten gründlich und schnell. Es gab viel zu viele Leichen in diesem Lager, manche derart entstellt dass man durchaus einigen zur Flucht verhelfen konnte, wenn auch nicht jedem. Während der Obersturmführer zu einer Feier im Lager ging und seine Rolle weiterspielte, fuhr der Laster an das große, bewachte Tor.
Wie üblich, untersuchten die Männer auch dieses Mal den Leichenhaufen eher widerwillig wegen des Geruches, übersahen so die Besitzerin der hellen Lockenpracht, die besinnungslos unter Armen und Beinen armer Seelen lag, dann wurde weitergewinkt und der Laster verschwand in die Dunkelheit.


1949



Er hatte durchgehalten so lange er konnte, um jeden Bissen gekämpft, seinen Männern Mut zugesprochen bis sie alle weggebracht wurden. Im Radio verkündeten sie dann, dass der Krieg bald zu Ende sein würde, doch auch so nahm man davon Kenntnis. Die Deutschen versuchten ihre Untaten zu vertuschen, Kriegsgefangene wurden wieder ausgetauscht und die übrigen entfernte man aus dem Lager indem man sie Todesmärsche antreten ließ.
Ihn hingegen hatte man damals da behalten, als Mitglied eines Säuberungstrupps, der sich um die übrig gebliebenen Beweise kümmern sollte, der mithelfen musste bei ihrer großflächigen Vertuschungsgeschichte.
Drei Jahre hatte er um sein Überleben gekämpft, hatte gebetet dass er die Möglichkeit bekam wieder ein freies Leben zu führen. Jeder Tag, den er überlebte, war ein Tag näher an die Freiheit.
Seine Glieder waren müde, er fühlte sich trotz seiner siebenundzwanzig Jahre wie ein alter Greis. Schon allein das Gehen fiel ihm damals schwer, doch er mühte sich voran. Wann immer sein Schritt stockte, dachte er wieder an sie, an ihre blauen Augen, an eine Hoffnung, an die er sich klammerte. Sie wiederzusehen und vielleicht das Kind…
Mit Wilhelm hatte er nicht mehr allzu viel Kontakt, der SS-Offizier war auf der Flucht bis bewiesen wurde dass er ihnen geholfen hatte. Im Moment war jedes SS-Mitglied ein gesuchter Feind.
Die Befreiung durch die Briten hatte er kaum wahrgenommen. Im Fieber lag er, glaubte sich schon tot. Als er erwachte stelle er voller Bestürzung fest, dass man ihn inzwischen zurück nach Hause geschickt hatte. Bessere Verpflegung und die neugewonnene Freiheit verhalf ihm zu Stärke und Gesundheit, er wurde wieder der Mann der er war... fast…
Nachts erwachte er schweißgebadet, träumte von den Schikanen der Deutschen oder den Toten die er sah, träumte sogar von Margarethe, dass sie es nicht geschafft hatte und beruhigte sich nur mühsam.
Sieben Jahre trennten sie voneinander, sieben Jahre in denen er sich fragte ob sie noch lebte. Drei davon verbrachte er im Lager, die anderen vier in seine Heimat, in der er sich ohne sie wie ein Fremder fühlte. Weder das Militär, noch seine Familie, konnte begreifen wieso er die Suche nach einer Deutschen nicht aufgeben konnte und so sicherte man ihm keine Hilfe zu.
Durch harte Arbeit verdiente er sich das Geld, es nahm vier kostbare Jahre in Anspruch die Mittel zu erarbeiten um Hamburg zu erreichen. Dort angekommen stand er fast vor dem Nichts.
Er tat alles um sie zu finden, doch es gab nicht ein Lebenszeichen.
Monate verbrachte er in der großen Stadt, fand eine Arbeit und eine kleine Wohnung, er suchte verzweifelt nach ihr oder zumindest nach Wilhelm, ohne Erfolg.
Heute schlenderte er an diesem regnerischen Tag durch das ehemalige Konzentrationslager Neuengamme und versuchte sich selbst wieder Mut zu machen, die Hoffnung nicht aufzugeben. Es war spät Abend, zu dieser Jahreszeit schon so dunkel wie in der Nacht. Der Regen floss seine einsame Gestalt hinab. Hinter dem Zaun, den er entlanglief, wurde das alte Lager in ein großes Gefängnis umgewandelt.
Bewegungen in der Luft lenkten seinen Blick auf ein vertrautes, fast zerfallenes Gebäude. Die Fledermäuse! Sein Blick wandte sich nach rechts. Dort hatten sie sich zum ersten Mal geliebt, sich immer wieder getroffen. Er hatte ihr gesagt, dass sie von dort aus fliehen wollten und das hatte sie auch getan. Geschützt von Blicken war diese Stelle, umgeben von damals unbenutzten Gebäuden. Wie von selbst näherten sich seine Füße dem Ort, der sein Herz schneller schlagen ließ.
Mitten im Schritt erstarrte er. Der tote Briefkasten! Suchend ging er näher heran, glitt mit der Hand über die Außenwand, fand die Aushöhlung auf Anhieb da der Stein fehlte. Enttäuschung befiel ihn. Was hatte er erwartet? Eine heimliche Nachricht, vergessen über die langen Jahre? Unsinnig! Betäubt trat er zurück, wollte sich abwenden, stieß fast gegen einige Eimer und Körbe in denen sich Müll und vom Regen durchweichtes Papier befand. Plötzlich stach ihm etwas ins Auge. Neugierig ging er näher und öffnete verwundert den Mund. Was war das? Ein Brief? Wieso wurde dieses Schreiben weggeworfen?
Die stämmige Gestalt eine Frau erschien an der geöffneten Tür und stieß einen leisen Fluch aus als sie ihn vor dem Müll stehen sah.
Neben dem Brief entdeckte er im Licht der Straßenlaterne ein Bündel durchweichter Geldscheine, Reichsmark, die seit letztem Jahr nicht mehr gültig waren und einen abgetrennten Fledermausflügel, der aussah als wäre er schon etwas verwest.
„Was haben Sie hier zu suchen?“ herrschte die ältere Frau ihn an.
„Warum wirft jemand dieses Geld weg?“
„Geld?“ Nun sah die Frau wesentlich verwirrter aus. Neugierig beugte sie sich vor, die Augen vor Staunen geweitet. „Herrje, stimmt. Ich hatte in dieser Kiste nur diesen seltsamen Brief gesehen.“
Er sollte weitergehen, doch sein Körper rührte sich keinen Schritt. „Einen Brief?“
„Ja, mein Enkel hat die Kiste beim Spielen gefunden.“ Ihr Gesicht verzog sich vor Abscheu. „Hing eine tote Fledermaus dran, wurde beim Zuschließen der Metallkiste wahrscheinlich eingeklemmt.“
Wer ließ hier eine Kiste mit Geld und einem Brief? Als er die Hand ausstreckte baute sie sich drohend vor ihm auf.
„Ich will nur den Brief“, meinte er, da verlor ihr Gesicht etwas von der Härte. „Wenn es nur das ist.“
Andrej wartete bis sie sich das Geld geschnappt hatte, dann griff er nach dem Schreiben, versteckte es unter seiner Jacke damit es nicht noch nasser wurde und eilte daheim, wo er wie ein Besessener las.

Mein lieber Andrej, wahrscheinlich ist es durch und durch unsinnig was ich tue. Nachdem das Lager befreit wurde jedes Jahr zu unserem Platz zu gehen, in der Hoffnung auf Antwort ein Schreiben und etwas Geld zurückzulassen, dabei weiß ich noch nicht einmal ob du überlebt hast. Dieser Gedanke schmerzt mich sehr, umso mehr weil meine Gefühle für dich nie wirklich verschwanden, selbst über die vielen Jahre hinweg. In das Gesicht unseres Sohnes zu sehen lindert meinen Kummer etwas, ich sehe in seine Augen und vermeine dass es deine wären, so sehr gleicht er dir. Heute fragte er mich nach dir, ich habe dich so gut es geht beschrieben, doch er will mehr wissen.
Es ist nur eine unsinnige Hoffnung, doch ich kann sie nicht aufgeben. Das Geld wird nur für eine Fahrt nach Iserlohn reichen, dorthin hat Wilhelm mich bringen lassen um mich vor dem Gruppenführer zu schützen. Ich hoffe du wirst eines Tages vor unserer Tür stehen auch wenn diese Hoffnung schwer zu halten ist. In einem Jahr werde ich dir wahrscheinlich wieder einen neuen Brief hinterlassen, versuchen die Enttäuschung und Traurigkeit zu verdrängen, indem ich mir neuen Mut mache bis ich im nächsten Jahr wieder vor unserem leeren Briefkasten stehe. Mein Liebster, ich vermisse dich. Mir kommen die Tränen wenn ich an dieser Stelle stehe und mich erinnere. Trotz der grausamen Tage birgt dieser Ort auch etwas Gutes, ich habe dich gefunden und du hast mir Anton geschenkt. Bis zum nächsten dreizehnten August. In Liebe, Margarethe.



Kaum fähig nach Atem zu ringen sah Andrej auf die leicht verwischten Zeilen des Briefes und riss die Augen auf. Morgen! Morgen wäre der Tag an dem sie… wiederkommen… würde…

Impressum

Texte: Geschichte: Alle Rechte bei mir!
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2010

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