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Mein Sohn

“Junge, wir müssen uns über dein Verhalten im Internet unterhalten.“ Langsam setzte ich mich zu ihm an den Schreibtisch, während sein Notebook offen war und er gerade Grand Theft Auto spielte. Er tat so, als würde er mich nicht hören, als die Hauptfigur auf seinem Computerbildschirm mit einem Maschinengewehr rumfuchtelte. „Junge, kannst du dein Spiel kurz pausieren?“

Er drückte zügig auf die Escape-Taste, knallte sein Notebook zu und schaute mir genervt in die Augen: „Wird das wieder eine deiner blöden Geschichten, die mir Angst einflößen sollen?“

„Waaaaass?“, simulierte ich verletzte Gefühle und grinste ihn an „Ich dachte du magst meine ganzen Stories?“ Als kleines Kind hörte er viele meiner Märchen von bösen Wölfen, gemeinen Hexen, hinterlistigen Geistern und Trollen verschiedenster Art. Wie schon viele Generationen Eltern vor mir, versuchte ich mit grusligen Geschichten meinen Kindern Moral und korrektes Verhalten beizubringen. Ein alleinerziehender Vater muss nun mal alle Möglichkeiten nutzen, seine Nachkommen ordentlich zu erziehen.

Er verzog sein Gesicht: „Die waren ja irgendwie auch in Ordnung, als ich fünf war. Aber jetzt sind diese Geschichten einfach kindisch und jagen doch keinem mehr Angst ein. Wenn du schon eine Geschichte über das Internet erzählen willst, kannst du sie dann bitte wenigstens richtig, richtig gruselig machen?“ Ich blickte mit zweifelnder Miene auf ihn und er fuhr fort: „Dad, ich bin dreizehn!“

„OK … Hm … Ich probier’s”

Ich begann mit “Es war einmal vor langer, langer Zeit ein Junge namens Felix…” Seine Mimik verriet mir, dass er nicht mit meiner Einleitung begeistert war und seufzte, als er sich unfreiwillig für eine der langweiligen Geschichten seines Vaters bereitmachte.

“Felix ging online und meldete sich bei einigen Kinder-Websites und Chatrooms an. Nach einer Weile fing er damit an, mit den anderen Kindern im Spiel und in den Foren zu reden. Er befreundete sich mit einem anderen Zwölfjährigen namens Hunter7. Felix und Hunter7 mochten Videospiele und Fernsehsendungen, sie lachten zusammen über die Witze des jeweils anderen und unterhielten sich über diverse Spiele. Nach mehreren Monaten Freundschaft gab Felix Hunter7 fünf Goldstücke in einem Online-Spiel, das sie zusammen bestritten. Das war ein sehr großes Geschenk, musst du wissen! Hunter7 wusste, dass Felix‘ Geburtstag bevorstand und so wollte er ihm im echten Leben ein echt cooles Geschenk machen. Felix dachte sich, es würde ja niemandem schaden, Hunter7 seine echte Adresse mitzuteilen, sofern dieser hoch und heilig versprach, sie keinem Dritten weiterzugeben. Hunter7 schwur, dass er sie für sich behalten und nicht mal seinen eigenen Eltern verraten würde.“

Ich stoppte hier kurz meine Geschichte und fragte meinen Sohn, „Findest du, das war eine gute Idee?“ „Nein“, sagte er wie aus einer Pistole geschossen, „natürlich nicht!“ Er schien, langsam in meine Erzählung einzutauchen.

“Naja, also, Felix fand das im Nachhinein auch nicht. Er fühlte sich sehr schuldig, dass er seine Adresse zu Hause verraten hatte und seine Schuld in ihm begann stetig zu wachsen. Als es Schlafenszeit war, zerfraßen seine Angst und seine Schuldgefühle ihn regelrecht von innen. Er nahm sich hier fest vor, seinen Eltern von seiner Dummheit zu beichten und, auch wenn seine Bestrafung hart ausfallen sollte, so war es ihm definitiv wert, sein Gewissen davon zu befreien. Er rann in sein Zimmer und wartete darauf, wie jeden Abend von seinen Eltern in seinem Bett fest eingewickelt zu werden.“

Mein Sohn wusste, dass jetzt sicherlich der gruselige Abschnitt käme und trotz seiner lässigen Art vor wenigen Minuten lehnte er sich jetzt mit großen Augen nach vorne zu mir. Ich redete fest und entschlossen weiter:

„Doch Felix‘ Eltern kamen nicht zu ihm. Stattdessen hörte er nur unterschiedlichste Geräusche in seinem Haus. Die Waschmaschine klopfte im Schleudermodus im Keller, die Blätter der Bäume im Garten kratzten leicht an der Hauswand, ein Motorrad fuhr mit lautem Getöse die Straße entlang und sein kleiner Bruder - ein Säugling - schrie leise aus dem Nachbarzimmer. Und dann waren da noch ganz andere Geräusche, die er nicht ganz zuordnen konnte. Doch da! Endlich hörte er die Schritte seines Vaters den Flur entlang kommen und schrie nervös aus dem Zimmer raus: „Hey Dad…? Ich muss dir etwas sagen.“

Sein Vater steckte seinen Kopf durch die Tür und blickte auf eine skurille Art und Weise ins Leere. In der Dunkelheit hatte es den Eindruck, als würde sich sein Mund nicht bewegen und seine Augen erschienen vollkommen tot. „Ja, mein Sohn?“, fragte er mit verzerrter Stimme. „Geht es dir gut, Dad?“, wollte Felix wissen. “Uh-huh”, sang sein Vater mit einem von Felix noch nie gehörtem Tonfall. Felix zog seine Decke bis ganz unter die Augen über sich und wollte verängstigt wissen: „Daaad, … ist Mom irgendwo da?“

„Da bin ich doch!“, meldete sich Felix‘ Mutters und steckte ihren Kopf unter der Achsel des Vaters durch die Tür. Auch ihre Stimme klang vollkommen anders: „Wolltest du uns gerade sagen, dass du unsere Adresse zu Hause an Hunter7 weitergegeben hast? Das hättest du nicht tun dürfen! Wir haben dich mehrmals in der Vergangenheit aufgefordert, niemals persönliche Informationen im Internet preiszugeben!“ Sie fuhr fort: „Hunter7 war in Wirklichkeit kein Kind wie du, sondern gab sich nur für eins aus! Weißt du, was er getan hat? Er kam heute in unser Haus, brach ein und brachte uns beide um! Nur, um mehr Zeit mit dir verbringen zu können!“

Ein fetter alter Mann in einem nassen Mantel tauchte plötzlich im Türrahmen des Zimmers auf und hielt die enthaupteten Köpfe von Felix‘ Eltern in seinen beiden Händen. Felix schrie wie ein Wahnsinniger, der Mann ließ die Köpfe auf den Boden fallen, zog ein riesiges Messer hervor und bewegte sich im Zimmer in Richtung Felix.“

Selbst mein Sohn schrie hier kurz auf, als ich zu diesem Teil der Geschichte kam. Doch ich war gerade erst warm geworden:

„Der Mann im Mantel fing an, Felix mit seinem Messer zu bearbeiten. Nach einigen brutalen Minuten war Felix fast tot und aus seinen Schreien wurde ein Wimmern. Da bemerkte der Mörder das Geheule des Säuglings aus dem Nachbarzimmer. Das war eine herrliche Überraschung für den alten Mann, denn er hatte noch nie ein Baby umgebracht und war hocherfreut über diese nun stattfindende Premiere. Hunter7 ließ Felix blutverströmt seinen Tod erwartend in der Ecke liegen und folgte den Heulschreien des kleinen Kindes wie ein Spürhund auf der Fährte. Als er am Kinderbett ankam, begutachtete er das Baby und wischte zuerst das Messer an der Bettdecke ab. Nachdem er das kleine Kind zu sich hochzog, hielt er es eine Weile hochprofessionell in seinen Armen und streichelte zärtlich seine Wange: „Hey da, kleiner süßer Mann.“  Das Kind musste wohl einen sehr tiefen Eindruck auf den sadistischen alten Mann hinterlassen haben, denn er entschloss sich, das Leben des Babys zu verschonen.

Er verließ mit dem Kind das Haus, nahm es zu sich nach Hause, taufte es Jonathan und zog es wie sein eigenes groß.“

Als ich meine Geschichte zum Thema Internetsicherheit beendete, war mein Sohn vollkommen erschüttert. Zwischen seinen tiefen Atemzügen stammelte er vor sich hin: „Aber Dad, ich heiße doch selbst Jonathan?!“ Ich schaute meinen Sohn mit einem herzhaften Lächeln an, strich ihm durch sein gelocktes Haar und sagte mit einem Zwinkern: „Natürlich heißt du auch so, mein Sohn.“

Jonathan stand auf und lief im Eiltempo die Treppe in sein Zimmer hoch, bevor er seine Tür dort zuknallte.

Ganz tief im Inneren glaube ich aber, ... dass ihm meine Geschichte gefallen hat.

10, 9, 8

Wissen Sie, ich war früher in der britischen Armee. Zwei Touren im Irak, drei Mal nach Afghanistan. Ich wurde zwei Mal verwundet, erhielt Tapferkeitsmedaillen und war einer der besten Scharfschützen, den die Welt je gesehen hat. Meine Mutter hasste den Berufsweg, den ich damals eingeschlagen hatte und ich konnte es ihr nicht verübeln. Nach meinem Karriereende als Soldat kam ich zurück und konnte lange Zeit keinen Job finden. Ich fühlte mich wie John Rambo damals im Film, der aus dem Vietnamkrieg als Held zurück in die USA kam und von allen verachtet wurde. Nur durch einen Bekannten konnte ich nach langer Suche einen Job in London finden. Siebenundfünfzig Menschen hatte ich in meinen knapp acht Dienstjahren erschossen, doch interessanterweise erlebte ich den größten Horrormoment meines Lebens nicht irgendwo im Mittleren Osten, sondern im Zentrum der britischen Hauptstadt.

Mein erster ziviler Job war in der Leibgarde der Königin. Sie wissen schon. Das sind die, die mit den roten Outfits und den komischen Hüten stundenlang vor dem Palast stehen und Wache schieben, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. In England ist das eine ziemlich große Ehre dort zu dienen. Als Dank für meine ganzen militärischen Erfolge durfte ich jetzt unzählige Stunden vor großen Gebäuden stehen und mich von bekloppten chinesischen Touristen photographieren lassen, die versuchten uns zum Lachen zu bringen. Der Job an sich war für mich keine Herausforderung. Ich hatte zu viel Blut und Tod im Krieg gesehen und da würden mich jetzt ein paar übergewichtige alte Leute mit Kamera nicht aus der Ruhe bringen. Aber ich wollte ständig raus, es war so fürchterlich. Doch die Ehre des Jobs, das weit überdurchschnittliche Gehalt und meine Mutter, die endlich in Ruhe schlafen konnte, weil die größte Bedrohung für ihren Sohn nun höchstens ein kleiner Asiate war, zwangen mich dazu, weiter zu machen. Wenn ich damals nur gewusst hätte, dass ich in Kabul sicherer wäre…

An einem Herbsttag war ich vor dem Tower von London stationiert. Eine Schicht dauerte in der Regel drei bis vier Stunden, ehe man abgelöst wurde und drinnen Pause machen konnte. Zusätzlich muss ich hinzufügen, dass der Job noch verdammt schnell langweilig wurde. Immer die gleichen betrunkenen Touristen, die mit den gleichen blöden Tricks versuchten, mich und meine Kollegen zum Lachen zu bringen, um dann ihre scheiß Photos auf Facebook posten zu können. Ich musste mich zusammenreißen, nicht durchzudrehen, weil ich mich selbst hasste für die Arbeit, die ich verrichtete. Doch wie ich bereits sagte: Es war ein Job, der Arbeitsmarkt war schlecht, ich wurde gut bezahlt, also hielt ich meine Fresse und machte weiter.

Also, der eine Tag im Herbst 2013, der mir immer in Erinnerung bleiben wird, fing eigentlich an wie jeder andere. Ich hatte ein paar französische Typen vor mir stehen, die versuchten mit mir ihren Spaß zu haben. Leider dürfen wir uns nicht zur Wehr setzen, solange wir nicht berührt werden - das waren glasklare Regeln. Dann hatte ich eine Gruppe von knapp bekleideten und angetrunkenen blonden ukrainischen Mädels - gar nicht mal so schlecht, dachte ich. Es war für die Jahreszeit sehr warm, über 25°C und mein Kopf wurde ganz warm unter dem riesigen Hut, als eine neue Gruppe Touristen entlangkam. So eine Art Gruppe mit Reiseführer. Sie machten alle ihre Standardspielchen mit mir: Winken, Lachen, komische Grimassen ziehen und Sprüche klopfen. Sie hatten alle ihre Kameras gezückt und trugen alle das gleiche rote T-Shirt mit irgendeinem Big Ben Mist draufgedruckt.

Alle bis auf eine. Ich bemerkte, wie sie ganz hinten von allen stand und mit ernstem Blick mir tief in die Augen starrte. Sie war eine gutaussehende Frau, wahrscheinlich Ende dreißig, sehr schlank und mit sehr langen dunklen Haaren. Sie war etwas blass, weshalb ich dachte, dass sie Engländerin sei und deshalb nicht wirklich zur Gruppe um sie herum passte.

Nachdem alle anderen genug Bilder geknipst hatten und genervt feststellten, dass ich nicht mal mit dem kleinsten Muskel meines Körpers zucken würde, packten sie zusammen und gingen weiter. Alle außer eben dieser einen Frau, die stehen blieb und mich weiterhin fest anschaute. Zugegebenermaßen hatte ich in der Vergangenheit schon mit vielen Menschen zu tun, die jeden erdenklichen Mist an mir ausprobieren wollten, doch das hier war selbst für mich neu. Diese Lady war felsenfest von ihrem Vorhaben überzeugt. Ein paar hundert Touristen und zwei Stunden später stand sie immer noch an derselben Stelle. Der Tag war warm, sie war in einer Lederjacke gekleidet, aber ich schwöre Ihnen bei Gott, dass sie sich sogar weniger bewegt hatte als ich. Sie lächelte nicht mal, was ich komisch fand, da ich eigentlich dachte, sie wollte eine Reaktion von mir erzwingen. Wieder dreißig Minuten später, als es Abend wurde und die Menschenmassen sich langsam ausdünnten, kam sie ein paar Schritte auf mich zu. Und dann noch ein paar. „So jetzt kommt ihr Trick“, dachte ich mir.

Sie blieb knapp einen Meter vor mir stehen und schaute mir immer noch in die Augen. Sie neigte ihren Kopf leicht nach links, dann nach rechts zur Seite und ich dachte, das wäre ihr Versuch, mich zum Lachen zu bringen. Dann bemerkte ich jedoch, dass die Frau nicht zum Spaß hier war. Immer noch einen Meter von mir entfernt fing sie an mit ihrem geneigten Kopf sich langsam

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 01.03.2016
ISBN: 978-3-7396-4072-3

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Familie und Freunde, die jeden Tag aufs neue mit mir fertigwerden müssen.

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