Sie betrat das Dach eines Hochhauses und der Wind zerzauste ihr das leicht gewellte, mausbraune Haar, in das sich bereits die ersten grauen Strähnen schlichen. Äußerlich vollkommen ruhig schritt sie rasch auf den Rand des Daches zu und stieg über die hüfthohe Absperrung. Nur noch ihre Hände und der Schmale Sims unter ihren Füßen bewahrten sie vor dem Fall. Tief unter sich sah sie die Lichter der großen Stadt, den warmen Schein, der aus den großen Fenstern der Straßencafès und Bars drang, die schnellen, huschenden Scheinwerfer der Autos und die bunten Tupfen der Leuchtreklamen. Der Verkehrslärm drang nur gedämpft an ihr Ohr und wurde fast vom Pfeifen des Windes übertönt.
Viel Zeit ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken blieb ihr nicht, mit Sicherheit war das Treppenhaus videoüberwacht und der Sicherheitsdienst bereits informiert, daß sich jemand unbefugt auf dem Dach aufhielt. Zweimal bereits hatte sie in einer ähnlichen Situation bereits gezaudert, war vor dem letzten Schritt zurückgeschreckt. Einmal hatte ihr dies einen mehrwöchigen Aufenthalt in der städtischen Psychiatrie eingebracht und es hatte sie unendlich viel Mühe und Kraft gekostet, die Lügen aufrecht zu erhalten, die die Ärzte und Pfleger hören wollten.
Diesmal würde sie nicht zögern. Sie löste eine Hand von der Brüstung und umklammerte ein Silbernes Medaillon an ihrem Hals. Sie lehnte sich vor, spürte den Wind in ihrem Haar und schloß die Augen. Hinter sich hörte sie, wie die schwere Tür zum Treppenhaus mit Wucht aufgestoßen wurde und gegen die Wand prallte. Sie ließ los. Sie wußte, daß sie im freien Fall an der Glasfassade des Bürokomplexes 40 Stockwerke in die Tiefe rauschte, und doch kam ihr alles seltsam verlangsamt vor, als würde sie nicht fallen, sondern sanft wie eine Daune zu Boden schweben.
Wie Perlen an einer Schnur aufgereiht, sah sie die Ereignisse ihres Lebens vor sich. Ein Bild, das sie als Kind gemalt hatte. Die Schultüte bei ihrer Einschulung. Der schreckliche Moment, als ihr Onkel ihr sagte, sie müsse für immer bei ihm bleiben, nachdem ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall gestorben waren. Die Beerdigung. Seine Berührungen, wenn er nachts in ihr Zimmer kam um sie zu trösten. Bilder aus ihrer Schulzeit, von Mitschülern, die ihr tote Regenwürmer oder später ausgepackte Kondome in die Schultasche steckten. Kinder, die sie wegen ihrer Brille auslachten und sie häßliche Kuh nannten. Der Junge, in den sie sich verliebte und von dem sie schwanger wurde. Der Moment, als sie ihn, noch ehe ihr gemeinsames Kind geboren worden war, im Bett einer anderen erwischte. Sie sah noch einmal die Geburt ihrer Tochter, sah das Kind aufwachsen und schließlich den Moment, als die Polizei zu ihr kam und ihr mitteilte, daß sie Jana tot aufgefunden hatten, neben ihr die heruntergebrannte Kerze und das Spritzbesteck. Zwischen den Bildern ihrer eigenen Vergangenheit flackerten auch immer wieder Ereignisse auf, von denen sie nur in den Nachrichten gehört hatte. Bilder von Naturkatastrophen, Kriegen und Epidemien. Von Öl- und Chemieunfällen. Von Explodierenden Atomreaktoren, von Menschen auf der Flucht und zerstörten Städten. Bilder von gefolterten Menschen und Menschen, die über ihr Folterwerk lachten. All diese Bilder, jede einzelne Nachricht, die sie je mit Kummer erfüllt hatte drang nun mit Macht in ihr Bewußtsein, schwemmte auch noch die wenigen guten Erinnerungen ihres Lebens fort, bis sie das Gefühl hatte, vor Trauer und Schmerz und Hilflosigkeit zu zerbersten. Sie öffnete den Mund und schrie und in diesem Einen wortlosen Schrei lag der Schmerz eines ganzen Lebens. Sie schrie immer noch, als ihr Körper auf den polierten Granitplatten vor dem Gebäude aufprallte. Der Tod kam zu schnell, als daß ihr Gehirn noch in der Lage gewesen wäre, den Schmerz ihrer zerschmetterten Glieder zu begreifen.
Sie öffnete die Augen und nahm den Schein von Fackeln um sich herum wahr. Dann stürmte alles wieder auf sie ein, plötzlich erinnerte sie sich wieder an alles. Sie erinnerte sich an ihr Leben und ihren Tod. Und an ihr anderes Leben. Einen Moment lang war sie verwirrt, als die Erinnerung an zwei gänzlich verschiedene Leben sich vermischten, doch im nächsten Moment klärten sich ihre Gedanken. In diesem Leben war ihr Name Leya, sie war die Tochter des Stammesführers und heute war ihr 17. Geburtstag. Und sie hatte versagt.
„Willkommen zurück, Tochter!“ Erklang eine sanfte Frauenstimme. Leya setzte sich von dem Dicken Fell, auf dem sie lag, auf und sah sich nach der Sprecherin um. Am Rande des von Fackeln erhellten Platzes, in dessen Mitte sie gelegen hatte erblickte sie die Schamanin des Stammes. Sie war wohl schon alt gewesen, als Leyas Vater noch jung gewesen war, und nun kam sie Leya vor, als wäre sie so alt wie die Berge selbst. Natürlich war die Schamanin nicht ihre leibliche Mutter, doch sie nannte jeden im Stamm Sohn oder Tochter. Trotz ihres hohen Alters hielt sie sich gerade und ihre Stimme klang immer noch fest. Neben ihr erkannte sie zwei weitere Frauen. Die jüngere der beiden war Illa, die eines Tages den Platz der alten Schamanin einnehmen würde. Sie war nur ein paar Jahre älter als Leya. Die ältere Frau war Renya, die Anführerin der Stammeskrieger und Jäger. Bei ihrem Anblick spürte Leya, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. Man bekam nur diese eine Chance, sich als würdig zu erweisen, in die Kriegergemeinschaft aufgenommen zu werden. Und sie hatte versagt. Hastig wandte sie den Blick ab und sah zu Boden.
„Mutter Rabenfeder. Ich…“ Ihr Mund war trocken und Scham über ihr Versagen schnürte ihr die Kehle zu.
Illa trat vorsichtig vor und reichte ihr eine Schale. Dankbar setzte Leya das Gefäß an die Lippen und trank von dem klaren Quellwasser.
Nachdem sie die Schale geleert hatte setzte sie erneut zum Sprechen an: „Mutter, ich habe versagt.“ Preßte sie mit Mühe hervor und versuchte, die Tränen zurückzudrängen. Die Greisin war inzwischen vorgetreten. Mit einer Hand umklammerte sie ihren mannshohen Stab, der über und über mit ledernen Bändern, kleinen Knochen und federn geschmückt war, die andere legte sie nun auf Leyas Schulter. „Nein, mein Kind. Du bist zu uns zurückgekehrt. Du hast nicht versagt.“ In der Stimme der Alten lag so viel Wärme, daß ihr nun endgültig die Tränen über die Wangen kullerten. „Ich bin davongelaufen. Ich… In diesem anderen Leben habe ich mich selbst getötet. Wie kann das kein Versagen sein?“ Stieß sie mit Bitterkeit in der Stimme hervor.
Die Stimme der Schamanin war ruhig und geduldig, als hätte sie diese Diskussion schon hundertmal geführt, als sie antwortete: „Du weißt, daß die Seelenreise nicht ungefährlich ist. Manch einer kehrt nie zurück und viele derer, die zurückkehren berichten davon, daß sie sich selbst getötet haben, weil der Schmerz und die Verwundung, die sie dort erlitten haben zu grausam waren. Jeder lebt ein anderes Leben dort, doch niemals ein glückliches. Du warst drei Nächte und drei Tage fort. Du bist jung und hast doch den Schmerz eines ganzen Lebens bereits erfahren. Es ist für jeden eine harte Prüfung und manches Herz zerbricht und erkaltet an dem, was einem in dieser anderen Welt widerfährt. Es tut mir leid, daß du all das durchmachen mußtest.“ Mitfühlend legte sie dem Mädchen einen Arm um die Schulter und Leya vergrub ihr Gesicht an der Schulter der Alten, während ihr Körper von Schluchzern geschüttelt wurde. Doch nach einer Zeit beruhigte sie sich. Diesmal war Illa mit einem feuchten Tuch bereit, mit dem sie sich das Gesicht abwischte. Verlegen warf sie einen Blick hinüber zu der Kriegerin, die die ganze Zeit ruhig am Rande des Lichtkreises gewartet hatte. Dieser Blick entging Renyas scharfen Augen keineswegs und nun sprach auch sie das Mädchen an. Um ihren Mundwinkel spielte ein Lächeln. „Schäme dich nicht für deine Tränen. Ich glaube nicht, daß es irgend jemanden gibt, der nach der Prüfung nicht geheult hat wie ein verlassener Wolfswelpe.“ Renya betrat den Lichtkreis nun vollends und zum ersten Mal bemerkte Leya, daß sie einen Speer in der Hand hielt. Der Schaft war aus hellem Holz und mit lackierten Schnitzereien versehen. Trotz des flackernden Lichts erkannte sie Rot und Blau in den Schnitzereien, die Farben ihrer Familie. Die Kriegerin sah Leya fest in die verweinten Augen und reichte ihr den Speer. „Willkommen, Schwester“. Mehr sagte sie nicht, bevor sie sich umwandte und zum gehen anschickte. Am Waldrand blieb sie noch einmal stehen, blickte zurück zur Lichtung und rief „Ich hoffe, du willst da nicht die ganze Nacht sitzen bleiben. Es wäre schade, wenn wir deine Ernennung zu einer Behüterin des Stammes ohne dich feiern müßten.“ Mit diesen Worten ließ sie die anderen Frauen auf der Lichtung zurück.
Nachdenklich betrachtete Leya den Speer in ihren Händen und fuhr mit der Fingerspitze eine der Schnitzereien nach.
„Mutter“ fragte sie zögerlich „diese andere Welt. War es Wirklichkeit oder nur ein Traum? Gibt es diesen Ort wirklich?“
Die alte Schamanin seufzte. „Das weiß nicht mal ich, obwohl ich im Laufe der Jahre so einiges Wissen angesammelt habe. Vielleicht existiert dieser Ort wirklich irgendwo. Vielleicht ist es eine Welt, die einmal gewesen ist, oder möglicherweise irgendwann einmal sein könnte. Vielleicht ist es auch nur ein Trugbild, das die Götter aus all unseren Albträumen gewebt haben. Was oder wo diese Welt auch ist, in jedem Falle ist sie uns eine Mahnung, was mit einer Welt geschieht, in der die Herzen erkalten, in der Habgier und Fanatismus über die Menschlichkeit gesiegt haben. In diesem anderen Leben sind wir machtlos, wir fühlen uns klein, unbedeutend und hilflos gegenüber all dem, was wir erleben oder mit ansehen müssen.
In diesem Leben ist es anders. Du bist nun eine Kriegerin und darfst eine Waffe tragen. Eines Tages wirst du die Nachfolge deines Vaters antreten. Und du wirst sowohl deine Waffen als auch deine Macht als Stammesführerin, wenn es soweit ist, mit Umsicht einsetzen. Wie jeder von uns, der von einer Reise in diese andere Welt zurückgekehrt ist, denn keiner von uns möchte jemals wieder in solch einer Welt leben.
Laßt uns gehen, Kinder. Inzwischen hat Renya sicherlich schon dem ganzen Dorf erzählt, daß es deine Rückkehr zu feiern gibt.“
Mit diesen Worten hackte sich die alte Schamanin bei ihrer jungen Schülerin ein.
Leya blickte hinauf in den klaren Nachthimmel und betrachtete die beiden Monde, die ihr nun wieder so vertraut waren. Drei Tage war es her, daß sie sich an diesen heiligen Ort begeben hatte um die Seelenreise anzutreten. Und doch lag ein ganzes Leben zwischen diesen Nächten. Sie holte tief Luft und atmete das würzige Aroma des Waldes ein.
„Gehen wir!“ stimmte sie zu. Und zum ersten mal, seit einem ganzen Leben fühlte sie sich wieder zu Hause.
Tag der Veröffentlichung: 17.03.2019
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme diese Geschichte all jenen, die uns aus eigenem Entschluß verlassen haben.
Möget Ihr Euer ganz persönliches Land mit zwei Monden finden!