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Kapitel 1


Meine Kleine Schwester Baby stürm-
te laut schreiend in mein Zimmer. "Ran-
dy! Randy! Mom sagt, sie würde dich umbringen!"
Baby kicherte boshaft. Sie freut sich nämlich
immer diebisch, wenn ich Ärger bekomme. Das
liegt wahrscheinlich daran, dass sie selber ständig
Zoff hat.
Ich ignoriere sie einfach und brülle die Treppe
hinunter: "Drängel doch nicht so, Mom. Ich bin
ja schon fertig!"
"Du wirst zu spät kommen!", rief Mom zurück.
"Ich weiss. Aber ich kan's nicht ändern."
Heute war mein erster Tag an der neuen Schu-
le in Shadyside. Natürlich wollte ich nicht un-
pünktlich sein, aber ich wollte auch nicht völlig
unmöglich aussehen. Ich hatte schon alle Sachen
in meinem Kleiderschrank anprobiert und wusste
immer noch nicht, was ich anziehen sollte. In
sämtlichen Klamotten sah ich aus wie ein kleines
Mädchen, und das war nun wirklich das Letzte,
was ich gebrauchen konnte.
Ich bin zwölf, aber die Leute halten mich immer
für jünger. Dabei weiss ich gar nicht, wie sie da-
rauf kommen. Okay, ich bin klein und dünn.
Aber so klein nun auch wieder nicht.
Ich starrte mich im Spiegel an und zupfte unzu-
frieden an meiner Jeans herum. Ich hätte zu ger-
ne gewusst, was die Kinder hier in Shadyside so
trugen. Aber leider hatte ich nicht den blassesten
Schimmer. Mom, Dad, meine schwachsinnige
kleine Schwester und ich waren nämlich gerade
erst von Maine nach Shadyside gezogen. Wir le-
ben in einem Haus in der Fear Street. Ich finde,
das ist ein ziemlich merkwürdiger Name für eine
Strasse. Auf jeden Fall klingt er nicht besonders
fröhlich. Sogar die Leute, die schon länger in der
Stadt leben, scheinen den Strassennamen ko-
mich zu finden.
An dem Tag, an dem wir eingezogen sind, bin
ich mit Mom zur Post gegangen. Die Angestellte
hinter dem Schalter hat uns ganz seltsam ange-
guckt, als Mom unsere Adresse erwähnte. Sie
hob die Augenbrauen und sagte: "Fear Street?
Hmmm."
Ihr Verhalten kam mir ziemlich komisch vor. Sie
starrte mich die ganze Zeit an und fragte dann,
wie alt ich wäre.
"Zwölf", antwortete ich.
"Dann könntest du diejenige sein", meinte sie
nachdenklich. Mom und ich schauten uns ver-
wundert an.
"Wie meinen Sie das?" Ich konnte mir die
Frage nicht verkneifen.
"Das wirst du noch früh genug herausfinden,
wenn du nicht vorsichtig bist", erwiderte sie ge-
heimnissvoll. "Bis zum zehnten Juni ist es nicht
mehr lange hin. Ihr seid genau zur richtigen Zeit
hierher gezogen."
"Na klar. Logisch", dachte ich bitter. "Ich kann
mir wirklich nichts schöneres vorstellen, als aus-
gerechnet am Ende des Schuljahres die Schule zu
wechseln." Immerhin musste ich die letzten Mo-
nate der sechsten Klasse in einer neuen Schule
und mit einem Haufen Kinder verbringen, die ich
nicht kannte.
Und die mich nicht kannten. "Heute werden sie
mich bestimmt von oben bis unten mustern und
dann sofort entscheiden, ob ich okay bin oder
nicht", überlegte ich mit einem mulmigen Gefühl
im Bauch.
Schnell streifte ich die Jeans ab und zog noch
einmal ein graues Trägerkleid an. Aber ich war
mir nicht ganz sicher, ob die Farbe auch wirklich
zu meinen braunen Haaren passte. In diesem
Moment stürmte Mom in mein Zimmer.
"Randy, wenn du dich noch einmal umziehst,
fange ich an zu schreien. Du behälst jetzt gefäl-
ligst dieses Kleid an - und damit Schluss!"
"Gib's ihr, Mom!", krähte Baby.
"Mädchen!", fauchte Mom gereizt.
Sie konnte manchmal ganz schön streng sein,
deshalb blieb mir wohl nichts anderes übrig, als
mich mit dem Trägerkleid abzufinden. Also griff
ich mir meinen Rucksack und flitzte aus dem
Haus.
Baby kreischte mir hinterher: "Du kommst zu
spät! Du kommst zu spät! Hahahahaha!"
Möchte vielleicht jemand eine siebenjährige
Nervensäge adoptieren?
Ich lief die Fear Street hinunter und bog in den
Park Drive ein. Als ich dann die Hawthorne
Street erreichte, legte ich noch mal einen Zahn
zu.
Endlich tauchte die Schule vor mir auf. Die Ein-
gangstüren waren geschlossen, und der Schulhof
lag völlig verlassen da. Ich war eindeutig zu spät
dran.
Beim Anblick des leeren Schulhofs schlug mein
Magen plötzlich Purzelbäume. "Das ist bestimmt
nur die Nervosität", dachte ich. Ich rannte die
Stufen hinauf und zog an der Eingangstür.
Sie war verschlossen!
Ein eisiger Schreck durchfuhr mich. Ausge-
sperrt an meinem ersten Schultag! "Die Tür kann
unmöglich zu sein", überlegte ich. "Sie würden
doch wohl nicht einfach alle Schüler einsperren,
oder?"
Meistens hilft es mir, alles noch einmal in Ruhe
zu durchdenken. Ich verliere nämlich sehr leicht
die Nerven, wenn meine Fantasie mit mir durch-
geht.
Ich riss noch einmal kräftig an der Tür - und
dieses Mal flog sie auf. "Meine vernünftige Seite
hat also doch Recht gehabt", dachte ich. "Wie üb-
lich. Die Tür hat einfach nur geklemmt. Kein
Grund zur Aufregung."
Das Echo meiner Schritta hallte von den Wän-
den, während ich den langen, menschenleeren
Flur entlangging. Ich schob meinen Rucksack
zurecht und drehte nervös eine Haarsträhne um
meinen Finger. Ich sollte mich im Büro des Di-
rektors melden, aber ich hatte keine Ahnung, wo
es war.
"Hoffentlich kriege ich keinen Ärger, weil ich zu
spät gekommen bin", dachte ich nervös. "Sie
werden mir doch wohl an meinem ersten Schul-
tag keine Strafe aufbrummen, oder?"
Ich kam an einem grossen Schwarzen Brett vor-
bei, das an der Wand befestigt war. In einer Ecke
hatte jemand einen grossen Kalender angepinnt,
der die Monate Mai und Juni zeigte. Alle Tage bis
zum 22. Mai - das war heute - waren ausgestri-
chen, und ein Datum war dick mit rotem Filzstift
umrahmt - Samstag, der zehte Juni.


Ich fragte mich, ob an diesen Tag wohl etwas
Besonderes los war. Jedenfalls kam mir das Da-
tum irgendwie bekannt vor. Ich wusste, dass ich
schon mal davon gehört hatte. Dann fiel es mir
wieder ein. Die unheimliche Postangestellte hat-
te den zehnten Juni erwähnt!
Plötzlich bemerkte ich, dass jemand oben auf
die Kalenderblätter geschrieben hatte: noch 18
Tage bis zu Petes Geburtstag.

Die Zahl war aus-
tauschbar, sodass sie von Tag zu Tag gewechselt
werden konnte.
"Wow!", dachte ich. "Ich wüsste ja zu gerne,
wer Pete ist. Er muss ziemlich beliebt sein, wenn
die ganze Schule sich auf seinen Geburtstag
freut."
Ich riss meinen Blick vom schwarzen Brett los
und Bog um die nächste Ecke.
"Oh!" Ich schnappte nach Luft und bieb so ab-
rupt stehen, dass ich beinahe auf dem gebohner-
ten Boden ausgerutscht wäre.
Ein Junge torkelte auf mich zu. Er stolperte vor-
wärts und umklammerte mit beiden Händen sei-
nen Kopf. Sein Gesicht sah irgendwie seltsam
aus - richtig grünlich. "Vielleicht ist ihm
schlecht", schoss es mir durch den Kopf.
"Was ist los?", fragte ich ihn. "Was ist passiert?"
Der Junge stöhnte vor Schmerzen. "Hilfe!",
krächzte er und streckte seine verschmierten
Hände aus. Tiefrotes Blut quoll aus einer furcht-
baren Wunde an seinem Kopf.
Ich schrie auf, als er genau auch mich zuwankte.

Kapitel 2


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.03.2012

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