Unsterbliche Nacht
Band 1
Das Buch der Offenbarung
Maximilian Müller
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Das Urheberrecht und der Anspruch auf geistiges Eigentum, welches das gesamte Buch beinhaltet, liegt allein beim Autor.
Für Chris Fricke, Annemarie Müller und Dana Jankowski, die mich mit Rat und Tat bei meinem Vorhaben eine Großartige Geschichte zu schreiben unterstützt haben. Allen drei bin ich zu Dank verpflichtet und möchte diesen hier zum Ausdruck bringen.
Inhaltsverzeichnis
12.½ An dem, Tag als Arestina starb
15. Cerberus
16. Das Meisterstück
17. Die Belagerung
18. Die Hexenklaue
Als Cornell an diesem Morgen vom ersten Schrei des Hahns geweckt wurde und in seine Kleider schlüpfte, ahnte er noch nicht, dass dieser Tag nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das der Kinder der Nacht maßgeblich und in alle Ewigkeiten verändern sollte. Ja er wusste noch nicht einmal, dass es die Kinder der Nacht überhaupt gab, geschweige denn wer sie waren.
Unsere Geschichte beginnt an einem kalten Wintermorgen im Herzen Londons. Der Winter dauerte nun schon so lange an, dass der Hunger sein Lager vor den Stadttoren aufgeschlagen hatte..
Wo man auch hinsah, wenn man mutig genug war an diesen kalten, dunklen Tagen, die Nase aus der Tür zu stecken, sah man Elend und Erschöpfung, die Sonne hielt sich hinter einem wolkenschwerem Himmel verborgen, so dass Leute mit schlechter Laune behaupten könnten, sie tue das aus schierer Bosheit. Glücklich konnte sich schätzen, wer in dieser schweren Zeit ein Obdach vorweisen konnte.
Die Fassaden der Häuser waren in schweres Grau gehüllt. Einen Vogel hatte hier schon seit Monaten niemand mehr zwitschern hören. Keine Fliege summte, kein leiser Windhauch wehte. Regungslosigkeit und Stille bestimmten das Stadtbild. Die Häuser, gesäumt von toten, blinden Fenstern, schienen mit bösen Blicken auch die letzen Passanten von den Straßen vertreiben zu wollen. Nur die weiße Schneedecke, die über allem lag, vermittelte einen Eindruck von Winternostalgie. Mit einer meterdicken Eisschicht zugefroren, lag die Themse wie eine kalte unheilvolle Wasserschlange auf ihrem Grund. Nur wenige Geschäfte hatten noch geöffnet. Wer sich doch auf die Straße gewagt hatte, war in dicke Schichten aus Kleidung gehüllt und bemüht, eiligst alle Besorgungen zu erledigen, die der Alltag ihm aufgetragen hatte. Eingehüllt von kaltem Wind, umweht von einem Schwarm tanzender Schneeflocken, versuchte man schnellstmöglich den wärmenden Hafen einer Ladenschwelle zu erreichen. Kein Straßenmusiker hatte es gewagt, an diesem Morgen gegen die Kältewellen anzukämpfen, die einem ins Gesicht peitschten, sobald man die Haustür aufstieß.
So sah es wahrscheinlich aus dem Blickwinkel eines schlecht gelaunten Außenstehenden, der wohl nicht gerade ein Freund des Winters war, aus.
War man aber besserer Laune und hatte man etwas für die kalte Jahreszeit übrig, konnte man dem Ganzen durchaus einen gewissen Reiz abgewinnen. Schließlich ist nicht alles an so einem Winter unangenehm.
Denkt doch mal an Winterspaziergänge, daran wie gemütlich es ist, drinnen am warmen Ofen zu sitzen, vielleicht mit einem guten Buch in der Hand und zu lauschen, wie leise der Schnee am Fenster vorbei rieselt. Stellt euch die Freuden einer warmen Tasse Kakao mit einem Klecks frisch geschlagener Sahne vor. Na riecht ihr ihn schon , den aromatischen Duft des Winters? Ein Hauch von Zimt, Sternanis, ausdünstende Tannnadeln eines festlich geschmückten Christbaumes. Der unterschwellige Geruch von Kerzenwachs.
Der Rauch aus den unzähligen Kaminen der sogenannten Schornsteinstadt ? Wie aus dem Boden gewachsen, fielen einem beim Spaziergang durch die Stadt sofort kleine Stände auf, an denen dampfende Becher mit heißen Getränken ausgegeben wurden. An jeder Ecke gab es heiße Waffeln mit duftender Füllung für ein geringes Endgeld zu kaufen. Kaffees und Pub´s florierten im Winter wie kein anderes Gewerbe. In jeder Gaststube tummelte sich Kundschaft auf der Suche nach Zerstreuung und einer Tasse frisch gebrühtem Kaffee. Hier tauschte man die neuesten Nachrichten aus, verlief sich in tiefschürfenden Gesprächen über Gott und die Welt und war allgemein guter Dinge beim Gedanken an das bevorstehende Weihnachtsfest.
Wer sich vor Menschenansammlungen scheute, blieb zuhause und genoss den Besuch der Familie, die traute Anwesenheit der Liebsten oder einfach nur die besinnliche Einsamkeit, vielleicht bei einem innern Monolog mit sich selbst.
Der Weihnachtsmarkt hatte geöffnet und bei den Kindern und Jugendlichen brach das Jahrmarktsfieber aus. Fremdländische Gerüche waberten in bunten Schwaden über den Platz und verloren sich in den eng verwinkelten Gassen der Londoner Innenstadt. Fremdes Volk mischte sich unter die eigensinnigen Engländer. Buden und Schießstände wuchsen wie Pilze aus dem Boden. Kandierte Früchte, gebrannte Mandeln, Nüsse, Zuckerwatte, Zuckerkringel und heiße süße Eierkuchen
hatten Hochsaison. Überall brannten öffentliche Lagerfeuer, an denen man sich wärmen konnte. Kurzum für den Winterfreund war es ein wahres Fest..
Sollte doch klagen wer wolle, dass in den weniger wohlhabenden Vierteln ein paar Bettler verhungert oder erfroren waren. Damit hatte Cornell jedenfalls nichts zu tun. Geboren als der letzte Sohn eines aussterbenden Adelsgeschlechts, Erbe eines beachtlichen Vermögens.
Cornells Familie gehörte eines der ältesten und schönsten Anwesen im Zentrum der Stadt. Um das stattliche Haus mit der kunstvoll gestalteten Fassade rankte sich eine Vielzahl von Legenden. Geheimgänge, unterirdische Labyrinthe, Schatzkammern voll sagenumwobener Schätze.
Cornell war in diesem Haus aufgewachsen und lebte nun schon seit zwanzig Jahren hier.
In dieser ganzen Zeit, war ihm jedoch nichts Ungewöhnliches aufgefallen, keiner der angeblichen Geheimgänge hatte sich bisher für ihn geöffnet, es gab keine unterirdischen Katakomben, Schätze, versunkene Bibliotheken oder Laboratorien. An keiner der Geschichten, die auf der Straße, hinter vorgehaltener Hand, erzählt wurden, schien etwas dran zu sein. Schade eigentlich.
Das heißt natürlich nicht, dass es ansonsten nichts Interessantes am Haus zu sehen gab. Die Steinmetz arbeiten rund um das Haus waren derart kunstvoll und mit so viel Liebe zum Detail gearbeitet, das auch ein Leihe erkennen konnte, dass hier ein großer Meister am Werk war. Allein der Vorgarten war in seiner Pracht nahezu einzigartig. Gerade und symmetrisch angelegt, von zwei Gärtnern bestellt und mit wunderschönen Pflanzen bepflanzt, war er im Sommer ein Maß an vollkommener Schönheit. Auch jetzt im Winter konnte sich der Garten durchaus sehen lassen. Die Bediensteten hatten es sich nicht nehmen lassen, überall kleine Petroleumleuchten aufzuhängen und alle Bäume mit Weihnachtskugeln zu schmücken. Ein paar Kinder waren seit Tagen damit beschäftigt, Schneemänner zu bauen und über dem großen Eingangstor hingen Mistelzweige.
Auch im Inneren des Hauses gab es einiges zu bestaunen. Gemälde von Cornells Vorfahren hingen an den Wänden der geräumigen Eingangshalle. Inmitten des Foyers fand sich eine riesige kunstvoll mit Schnitzereien verzierte Treppe, die einen in den geräumigen zweiten Stock führte. Es gab insgesamt acht Räume in der unteren Etage, zwei Bäder, eine große Küche und vier Schlafzimmer sowie einen Aufenthaltsraum für die Bediensteten. In der oberen Etage, fanden sich weitere zwei Bäder, ein Schlafzimmer, drei Gästezimmer, ein monumentales Wohnzimmer und ein Studierzimmer. Des weiteren befand sich im zweiten Stockwerk ein großer Speisesaal. Davon abgesehen, hatte das Haus noch einen ziemlich verwinkelten Keller und einen riesigen Dachspeicher. Zum Haus gehörten vier Kamine. Die holzvertäfelten Wände, in die kunstvolle Intarsien eingelassen waren, welche detailgenau den Tathergang längst vergangener Schlachten schilderten, boten einen wundervollen Anblick. An einer Wand, befand sich ein großer Wandteppich, auf dem man den Familienstammbaum zurückverfolgen konnte. Vor den Kaminen, befanden sich Bärenfelle und schwere Vorhänge, rahmten die Fenster ein.
Cornell war ein stattlicher junger Mann von zwanzig Jahren. Er war hochgewachsen und sein schulterlanges Haar hatte er mit einer silbernen Spange streng nach hinten gesteckt, sodass keine Strähne aus dem Zopf fiel. Er hatte feine Gesichtszüge und war im allgemeinen eine sehr gepflegte Erscheinung. Durch häufige Ausritte und einen unwahrscheinlich hohen Bewegungsdrang, hatte er im Gegensatz zu seinen anderen Standesgenossen einen athletischen, kräftigen Körperbau.
In Westminster, einer der damaligen Eliteschulen, hatte er einen Großteil seiner Kindheit zugebracht.
Dort wurde ihn alles gelehrt, was der Adel eben so wissen musste. Fechten, reiten, traditioneller Schwertkampf, Schwimmen, Ringen, Bodenkampf und Faustkampf, gehörten dazu. Des weiteren, wurde er im Lesen, Schreiben, Rechnen, Geschichte, Astrologie, Naturkunde und Alchemie ausgebildet.
Nach Abschluss der Schule, die er mit Bravur absolvierte (nicht zuletzt, weil der Leiter der Schule seinem Vater eine erhebliche Menge an Gold schuldete), betrat er zum ersten mal seit Jahren wieder das geliebte Elternhaus. Es gab eine kleine Feier anlässlich seiner Heimkehr und dann sollte Cornell für eine Weile das Stadtleben jenseits der Schulmauern kennenlernen.
London.
Nie zuvor, hatte Cornell eine solche Fülle an Eindrücken gewonnen.
Vom Blick aus dem kleinen Fenster seines Internatzimmers, hatte er nicht mal eine entfernte Vorstellung dieser nahezu monströsen Stadt erahnen können. Bevor er nach Westminster ging, hatte er das elterliche Anwesen kaum verlassen.
Nun konnte er nach Herzenslust durch die Stadt streifen und ihre Geheimnisse ergründen. Er arbeitete sich systematisch von Viertel zu Viertel, Straße zu Straße und Haus zu Haus vor und lernte die Stadt und Ihre Bewohner dabei so gründlich wie kein Zweiter kennen.
Ein halbes Jahr später kannte Cornell nun jeden Winkel und jede Straße. Er hatte alles gesehen, die Geschichten hinter jeder Fassade ergründet, dies gilt für Häuser und Menschen gleichermaßen. Seine Nachforschungen lehrten ihn, dass sich auch hinter der schönsten Hauswand eine morsche Ruine befinden konnte sowie auch hinter jedem noch so schönen und anständigem Gesicht die verkommenste Seele lauern kann.
Seine große Leidenschaft war das Reiten. Zum zwanzigsten Geburtstag, bekam er von seinem Vater einen pechschwarzen Hengst geschenkt.
Damals war die Stadt noch von dichten Wäldern umgeben, die weit in das ganze Land hineinreichten. Da es in England bekanntlich viel regnete, erstrahlte die ganze Landschaft in einem satten Grün. Die saftigen Wiesen luden dazu ein auf ihnen dahinzureiten. Hügel und kleine Täler warteten darauf, entdeckt zu werden. Im diamantklarem Wasser der Bäche und Seen, brach sich das Sonnenlicht in allen Farben des Regenbogens. Cornell hatte sein Pferd Nightrunner getauft und war seitdem nicht mehr von ihm herunterzubekommen. Tagein tagaus sah man ihn nun auf seinem stolzen Pferd aus der Stadt reiten. Ohne ein bestimmtes Ziel ritt er quer durch die Landschaft und lernte auf seinen Streifzügen durch die nahezu unberührte Natur mehr über Flora und Fauna, als es ihm weitere zehn Jahre des Studiums in Westminster ermöglicht hätten.
So sorglos verging ein ganzes Jahr. Doch eines Tages kehrte er von einem seiner ungezählten Ausflüge zurück und stutzte, dass ihn nicht wie gewohnt sein Vater in Empfang nahm. Claire, die Köchin war es, die ihm an diesem warmen Spätsommertag mit tränenüberströmtem Gesicht entgegen kam. Auf seine Frage, was denn geschehen sei, fing sie nur noch heftiger an zu schluchzen.
Auch nach einer halben Stunde guten Zuredens war kein vernünftiges Wort über ihre Lippen gekommen.
Tränen rannen über das schmerz verzerrte Gesicht der ansonsten so fröhlichen alten Frau. Claire hatte schon sehr früh wie eine Mutter für den jungen Adelsspross gesorgt. Cornells Mutter, so hatte man ihm gesagt, war bei seiner Geburt verstorben und seitdem hatte die Köchin sich neben seinem Vater um den zarten Jungen gekümmert.
Nun stand vor ihm eine gebrochene Frau. So stark und forsch hatte er sie noch vor seinem Ausritt in Erinnerung, trotz der vielen Falten strotzte sie nur so vor unerschöpflicher Energie.
Nichts davon war übrig geblieben. In sich zusammen gesunken kauerte sie jetzt zu Cornells Füßen.
Bei seinen Streifzügen durch die Stadt hatte er viel Elend gesehen.
Kinder, die auf offener Straße dem Hungertod erlagen; Halbwüchsige, die in Gruppen durch die Gassen zogen, um Wehrlose halb tot zu prügeln. Doch an etwas ähnlich Elendes wie diese arme Greisin konnte er sich nicht erinnern. Was war geschehen, diese stolze Frau zu brechen? Welches schreckliche Ereignis verbarg sich hinter ihrer Pein?
Langsam schob Cornell sie an den Stallungen vorbei durch den Garten. Dies erwies sich schwieriger als gedacht. Von alleine gehen konnte oder wollte sie im Moment nicht.
In der Mitte des Gartens begann sie plötzlich wie von Sinnen zu schreien.
“BLUT”
Ihre Stimme nahm einen gespenstischen Klang an wie nicht von dieser Welt.
Dies und die Tatsache, dass sie laut und deutlich das Wort Blut geschrien hatte, jagte Cornell einen gewaltigen Schrecken ein.
Dann, ganz plötzlich so als hätte jemand den Ton abgestellt, erstarb ihre Stimme.
Sie zuckte noch ein letztes Mal, dann brach sie zusammen und blieb, alle Viere von sich gestreckt auf dem Bauch liegen. Ein schwarzer Pfeil steckte zwischen ihren Schultern. Cornell schwanden die Sinne und er fühlte wie er langsam in eine hilflose Ohnmacht fiel.
Er erwachte in seinem Bett und stellte fest, dass sich um ihn herum sämtliche Bedienstete des Hauses versammelt hatten. Außerdem standen da noch Dr. Heander, der Hausarzt, und zwei Herren, deren Namen Cornell nicht kannte. Nach ihren Uniformen zu urteilen, gehörten sie anscheinend zu Scottland Yard. “Zum Glück… Gärtner …Doktor gerufen“, glaubte er einen der Uniformierten sagen zu hören. Langsam erlangte er das Bewusstsein zurück.
So jäh, wie er aufgewacht war, schossen ihm die ersten Fragen durch den Kopf. Erinnerungsfetzen kursierten in seinem Gehirn und verbanden sich langsam zu einer gespenstischen Kulisse.
Der Ausflug in den Wald, die tote Köchin, seine Ohnmacht.
Abrupt stand er auf. Die um ihn Versammelten wirkten besorgt angesichts seiner raschen Regung, ganz so, als befürchteten sie, er würde gleich wieder in seine Kissen zurücksinken.
Seine Ohnmacht, schien nicht allzu lange angehalten zu haben, denn er war noch fast vollständig bekleidet. Nur die Schuhe standen vor dem Bett. “Sein Kreislauf stabilisiert sich”, sagte der Arzt.
“Wir haben etwas mit dem gnädigen Herrn zu besprechen”, wandte sich einer der Polizisten an die Umstehenden. “Wenn sie bitte so freundlich wären, den Raum zu verlassen!”
Zögernd und nicht ohne ein paar neugierige Blicke zurückzuwerfen, verließen die Bediensteten und der Arzt den Raum. “Was ist hier geschehen? Wo ist mein Vater?” wandte sich Cornell hoffnungsvoll an die Herren von Scotland Yard. Die Polizisten, wechselten einen kurzen vielsagenden Blick. “Wir hatten eigentlich gehofft, dass sie uns das sagen könnten. Woran können sie sich erinnern?”
Es gab nichts Feindseliges in seiner Stimme. Freundlich, aber nicht ohne einen gewissen Unterton, fuhr er fort: “Wissen Sie, was hier los ist?” “Mein Vater ,was ist mit ihm? Wo ist er? Die Köchin?” Cornells Stimme brach ab. Wieder wurden Blicke ausgetauscht. “ Sie haben tatsächlich keinen blassen Schimmer?” Cornell schüttelte kaum merklich den Kopf. “Es tut uns sehr Leid, Ihnen das mitteilen zu müssen.” Die Mienen der Polizisten verfinsterten sich. “Um genau zu sein, haben wir selbst nicht die geringste Ahnung. Der Gärtner hat den Arzt gerufen und dann kam er zu uns auf das Revier gerannt und sagte, er hätte Schreie gehört. Als wir hier ankamen, lag die tote Köchin im Garten. Die Wände im Flur sind blutverschmiert.” Cornell stockte der Atem. “Von ihrem Vater fehlt jede Spur!”
Nach diesem Gespräch, stellten die beiden noch ein paar Routinefragen an Cornell und befragten dann die Angestellten. Nach ein paar Tagen kam ein Brief von Scottland Yard, dass man weiter ermitteln und ihn über die Ergebnisse auf dem Laufenden halten werde. Als sich auch Wochen nach dem Zwischenfall nichts Neues ergeben hatte, trat der Notar und Freund der Familie Professor Doktor Adam Melworre auf den Plan und sprach Cornell sein Beileid aus. Natürlich war er nicht nur gekommen um seine Trauer zu bekunden, hauptsächlich hing sein Erscheinen mit dem Testament des Vaters zusammen. Die Vorkommnisse im Alten Herrenhaus waren nämlich keinesfalls unbemerkt geblieben. In der ganzen Stadt, wurde über das Verschwinden des gnädigen Herren gerätselt. Es waren die unerhörtesten Gerüchte im Umlauf. Jeder Bewohner Londons wollte etwas gesehen haben. Jeder dahergelaufene Schreiberling bildete sich ein, ein Stück der Wahrheit zu kennen. In den Zeitungen prangte seit Wochen ein Bild des Herrenhauses.
Lediglich der Adel hielt sich bedeckt.
Cornell interessierte das Ganze herzlich wenig. Das einzige, was für ihn zählte, war die Tatsache, dass sein Vater im Gegensatz zu den haltlosen Behauptungen, die überall verbreitet wurden, nicht tot, sondern einfach nur verschwunden war. Widerwillig unterschrieb Cornell die Papiere, die besagten, dass er nun der Erbe des väterlichen Vermögens war. Er teilte Melworre keinen seiner Gedanken mit und gab ganz den trauernden Sohn. Insgeheim stellte er seine eigenen Untersuchungen an, um das Verschwinden seines Vaters zu klären. Bis jetzt war zwar jede seiner Bemühungen ins Leere gelaufen, doch er gab die Hoffnung nicht auf.
Vier Jahre später erinnerten sich nur noch wenige an den Fall vom Herrenhaus. Einzig Cornell, ein paar treue Freunde und diejenigen, die anwesend waren in jener Nacht. Vier verfluchte Jahre der Trauer und rastlosen Suche nach irgendeinem Hinweis, hatten ihm nichts als Albträume und ein paar Falten auf seinem jungem Gesicht beschert.
Doch jetzt stand Weihnachten vor der Tür und Cornell wollte sich das erste Mal wieder amüsieren. An jenem kalten Wintermorgen, an dem unsere Geschichte beginnt, hatte er den prächtigen Wintermantel angezogen, den ihm Doktor Heander letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Mit so guter Laune wie an diesem Tag, war der junge Mann schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen worden. Nach einem ausgiebigen Frühstück, das er sich seit der Ermordung seiner Köchin jetzt immer selbst zubereitete, wollte er zunächst einen kleinen Stadtbummel unternehmen. Vom Londoner Stadtleben hatte er sich seit dem Tod des Vaters weitgehend ferngehalten. Die Stadt selbst hatte sich in vier Jahren kaum verändert. Er spürte deutlich, wie ihm die Last der letzten Jahre von den Schultern fiel, und genoss den frischen Wind, der ihm durchs Haar fuhr. Zum ersten Mal seit vier Jahren, zeichnete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ab.
Als Cornell so die Straße entlang schritt, war er einen Moment lang sogar versucht laut zu lachen. Einen derartigen Gefühlsausbruch hätte er sich selbst gar nicht zugetraut.
Je weiter er ging, desto näher kam er dem Jahrmarkt. Schon von weitem, konnte er die bunten Lichter erkennen. In seinen Ohren, schallten die Stimmen der vielen Kinder wider, die von ihren Eltern begleitet den Festplatz besuchten. Der Duft von frisch gebratenem Wildspieß kroch in seine Nase. Die Aromen gebrannter Mandeln, und kandierter Äpfel, mischten sich darunter. Mit der wachsenden Intensität der Gerüche, beschleunigten sich auch seine Schritte. Noch eine Straßenbiegung. Und da waren sie auch schon, hunderte von Händlern, die lauthals ihre Waren anpriesen. Langsam ging Cornell auf das bunte Treiben zu. Noch fünfzig Schritte, noch dreißig Schritte, noch zehn, noch drei und schon hatte ihn der Jahrmarkt verschluckt. Cornell stahl sich wie ein Spion durch die Menschenmenge. Er wollte nicht angesprochen werden. Nicht in ein Gespräch verwickelt werden, einfach nur die allgemeine Heiterkeit genießen und vielleicht eine Kleinigkeit zu sich nehmen. So viele Menschen auf einem Haufen hatte er selten gesehen. Zwar war ihm durchaus bewusst, dass er in einer der größten Städte Europas lebte und London schon zu seiner Zeit über achthunderttausend Einwohner zählte, nicht aber wie es aussah, wenn ungefähr zwei Drittel davon sich zum selben Augenblick an einer Stelle befanden.
Langsam bekam Cornell Hunger. So machte er sich auf die Suche nach einer Gelegenheit, etwas zu essen. Dabei kam er an einer Reihe von vielfarbigen Zelten und ein paar Ständen mit ungewöhnlich kleinem Angebot vorbei. Bei näherem Hinsehen fiel ihm auf, dass es sich hierbei um Händler aus dem Orient handelte. Während er weiter über den Markt zog, beschlich ihn das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch jedes Mal, wenn er sich umdrehte, stand da niemand. Er ging schneller und versuchte zehn Stände weiter den Gedanken an einen möglichen Verfolger zu zerstreuen, indem er sich das Spiel zweier Gaukler ansah. “Ein Salto auf dem Hochseil!” kündigte der Artist großspurig an. Mit geübten Schritten, bestieg er den hölzernen Mast, an dem das Seil gespannt war. Leichtfüßig wie ein Vogel tanzte er auf dem Seil. Sein Partner setzte einen donnernden Trommelwirbel ein. Der Seiltänzer ging inzwischen in die Hocke. Kaum merklich schwang das Seil im Wind. Der Trommelwirbel hob an und das Publikum hielt den Atem an. Dieser Akt war ein besonders gefährliches Unterfangen. Das Seil spannte sich in vier Metern Höhe quer zwischen den Masten zweier Zelte. Sicherung durch ein Netz oder Seil gab es nicht. Der Akrobat spannte sich wie ein Bogen und setzte zum Sprung an. Ein Fall aus dieser Höhe konnte durchaus mit Verletzungen oder gar tödlich für ihn enden. Doch allem Anschein nach Interessierte ihn das herzlich wenig. Im Gegenteil, er vermittelte den Zuschauern sogar das Gefühl, er hätte auch noch Spaß an dem, was er da tat. Ein letzter Blick auf das harte Pflaster unter ihm, dann sprang er. In der Luft überschlug er sich einmal und landete dann sicher auf dem Seil. Tosender Beifall brandete unter ihm auf.
In dem Moment, wo die Füße des Schaustellers das Seil wieder berührten, klatschte Cornell jemand von hinten auf die Schulter. Fast wäre ihm das Herz stehen geblieben, so sehr erschrak er. Wie gelähmt stand er da und konnte keinen Finger rühren. Es folgte jedoch kein Angriff. Eine freundliche wohlbekannte Stimme hob zum Gruß an. Als Cornell sich umdrehte, stellte er erleichtert fest, dass es sich um Adam Melworre handelte. Langsam fiel die Spannung von ihm ab. Ihn hier wieder zu sehen, damit hatte Cornell nicht gerechnet. “Einen guten Tag wünsche ich”, sagte Cornell.
“Da haben Sie mir einen schönen Schrecken eingejagt! Wie geht es Ihnen denn?” “Danke der Nachfrage, mir könnte es nicht besser gehen”, gab der Anwalt zurück. “Was hat Sie denn hierher verschlagen? Sind Sie geschäftlich unterwegs?” Der Anwalt runzelte die Stirn und antwortete dann zögernd: “Nicht ganz. Eigentlich wollte ich mir nur ein bisschen die Beine vertreten. Vielleicht den einen oder anderen Schluck trinken. Wie wäre es, wenn Sie mir Gesellschaft leisteten?” Dagegen gab es eigentlich nichts einzuwenden, dachte Cornell. “Ja warum nicht”, gab er zurück. “Sehr gut! Ich kenne einen hervorragende Schankbude ganz in der Nähe.” “Gut sie wissen wo es langgeht, Sie gehen voraus.” Der etwas übergewichtige Mr. Melworre, hatte keine Schwierigkeiten, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Wenn Cornell ihm nicht so dicht gefolgt wäre, hätte er den kleinen Mann wahrscheinlich aus den Augen verloren und auf dem überfüllten Markt nicht wieder gefunden. Zwei Wegbiegungen später hielt der Anwalt abrupt an. “Hier ist es,” sagte er. Auf den ersten Blick wirkte das Zelt vor dem sie jetzt standen, sehr schäbig und heruntergekommen. Dazu kam, dass ein Schild vor dem Eingang hing, auf dem eindeutig “geschlossen” stand. “Es hat zu”, sagte Cornell und war schon dabei, umzudrehen. “Glauben Sie mir, es ist offen”, erwiderte der Anwalt mit einem geheimnisvollen Lächeln. “Folgen Sie mir.” “Sie können doch nicht…”, schon war der kleine Mann zwischen den Vorhängen, an denen das “geschlossen” -Schild baumelte, verschwunden. Unsicher wagte Cornell einen Schritt hinein. Fast wäre er gleich wieder hinaus gestolpert, so überrascht war er über das Schauspiel, das sich ihm bot. Was von außen so heruntergekommen gewirkt hatte, war von innen das mit Abstand schönste Zelt, das er je betreten hatte. Die Zeltwände, mit königsblauer Seide ausgekleidet, reflektierten den Schein tausender Kerzen, die überall im Raum verteilt standen. In der Mitte des kreisrunden Zeltes befand sich eine runde Theke. Ringsum standen mit Schnitzereien verzierte Tische. Den Boden hatte man mit hellgelben Samtteppichen ausgelegt und von der Decke des Zeltes hing ein riesiger kristallener Kronleuchter herab. Das Angebot von Speisen, das sich auf kleinen Tischen aufgebaut vor ihm auftat, war von solcher Raffinesse, dass man meinen könnte, es wäre für einen königlichen Empfang bestimmt. “Ihr Mund steht offen”, sagte Mr. Melworre. “Verzeihung, aber Sie haben mit keinem Wort erwähnt…” der Rest blieb Cornell im Hals stecken, als er verblüfft feststellte, dass sie nicht allein waren.
Normalerweise hätte ihn der Anblick einer Menschenansammlung nicht so schnell aus der Fassung gebracht. Immerhin lebte er in London. Es lag vor allem an der Auswahl der hier versammelten Personen die Cornell verunsicherte. Fast der gesamte Hochadel der Stadt schien sich hier versammelt zu haben, er sah den Stadtrat, den Bürgermeister und sogar einige Höflinge der Queen höchst selbst. Was taten all diese betuchten Herrschaften in diesem wunderlichen Zelt? Ungläubig ließ er den Blick über das Szenario schweifen. Er spürte, dass der Anwalt ihn von der Seite beobachtete. Er sah sich um und war sich auf einmal ziemlich sicher, dass sie sich keinesfalls zufällig begegnet waren. Fast alle Blicke richteten sich auf ihn. Um ihn herum wurde es plötzlich ganz still.
Sollte das ein schlechter Scherz auf seine Kosten sein? War es eine Gedenkfeier, die die Freunde seines Vaters organisiert hatten, und er als sein einziger Sohn war der Stargast? “Was ist hier los…”, wollte Cornell den Anwalt fragen. Doch mit einem leisen “pssst!” würgte dieser ihn ab. Der Bürgermeister, den er flüchtig von einigen Geschäftsbesuchen bei seinem Vater kannte, machte jetzt Anstalten, etwas zu sagen. Ächzend erhob er sich und ging auf den Zeltmittelpunkt zu. Dort angekommen, räusperte er sich wie jemand, der geübt darin war, Ansprachen zu halten. “Seit über zweitausend Jahren besteht unser Zirkel. Unsere Wurzeln reichen bis in die Antike zurück und ich freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Das ist die größte Versammlung seit neunhundert Jahren. Doch bevor wir fortfahren, möchte ich ein weiteres Kind der Nacht in unseren Reihen begrüßen.” Melworre gab Cornell einen kleinen Schubs und wie auf Kommando trat er vor. “Ich hätte Sie gerne unter anderen Umständen eingeweiht, doch die jüngsten Ereignisse drängen zur Eile. Wahrscheinlich ist es Ihnen noch nicht aufgefallen, aber es herrscht Krieg”, der Bürgermeister, sprach nun direkt zu Cornell. “Natürlich haben Sie nicht die leiseste Ahnung, denn Sie sind ein Mensch. Mit dem Frieden der Menschen hat Unsereins selten etwas zu tun. Auch Sie werden ab heute einer anderen Art angehören. Doch lassen Sie mich vorher bitte einige Dinge erklären: Als vor vier Jahren Ihr Vater verschwand, dachte das Menschenvolk natürlich, es handle sich um eines der üblichen menschlichen Verbrechen.
In Wirklichkeit, handelte es sich jedoch um den Neubeginn einer immerwährenden Schlacht, die seit Anbeginn der Zeit zwischen den Vampiren und den Knechten der Unterwelt tobt, zwischen Gut und Böse tobt.
Der Grund, warum Sie hier sind ist folgender: Sie stammen aus einem sehr alten und einflussreichem Vampirgeschlecht. Es ist Tradition, dass Sie Mitte des fünfundzwanzigsten Lebensjahres in die Geheimnisse des Zirkels eingeweiht werden. Ihr Vater wäre sehr stolz, wenn er jetzt hier seien könnte. Mit der Aufnahme sind einige Annehmlichkeiten verbunden, Mr. Melworre, wird Sie davon unterrichten, sobald der Rat seine Sitzung beendet hat.” Ungläubig, starrte Cornell den Bürgermeister an. Vampire? Knechte der Unterwelt? Kriege, von denen Menschen nichts wussten? Das kam ihm alles irgendwie lächerlich vor. Träumte er vielleicht nur, wachte er im nächsten Moment in seinem Bett auf und musste feststellen, dass er wieder nur einem seiner üblichen Albträume erlegen war? Er schloss die Augen und kniff sich schmerzhaft in die Seite, nichts geschah. Als er die Augen wieder öffnete, befand er sich am gleichen Ort wie zuvor. Die selben Personen standen um ihn herum und ihm wurde beklommen zumute. War es Angst?
“ Ich kann gut verstehen, das dass alles etwas unwahrscheinlich klingt”, fing jetzt der Anwalt an zu sprechen. “Aber ich bin sicher, du wirst es bald verstehen. “Nun denn, beginnen wir also mit dem Ritual”, sagte der Bürgermeister. “Ich frage Sie, möchten Sie in die Fußstapfen Ihres Vaters treten? Wollen Sie helfen die Umstände seines Verschwindens zu klären? Werden Sie eintreten in den Bund der Nacht?” In voller Überzeugung, dies sei keine reale Situation, und nichts davon geschähe wirklich, konnte Cornell sich ein leichtes Nicken abringen. “Dann treten Sie vor,” forderte ihn der Bürgermeister mit feierlicher Stimme auf. Zögerlich, als würde bei jedem Schritt der Boden unter ihm nachgeben, wagte Cornell langsam ein paar Schritte auf den Bürgermeister zu. Mit einem Lächeln entblößte dieser zwei Rasiermesser-scharfe Eckzähne, die sich aufgrund ihrer Länge deutlich von den anderen abhoben. Cornell glaubte zu wissen, was jetzt passieren würde und hielt instinktiv seinen Hals hin. Der Stadtvater, öffnete den Mund zum Biss und versenkte die Zähne tief in Cornells Hals.
Ihm wurde schwarz vor Augen. Er hatte den Eindruck, als würde er mit hoher Geschwindigkeit durch einen langen dünnen Schlauch gezogen. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, die er durch das langgezogene schwarze Nichts tauchte. Plötzlich riss der rasante Flug ab und ein helles Licht war am Ende des Tunnels zu erkennen. Mit dem Näherkommen, wuchs das Leuchten an und schließlich sah er den Bürgermeister strahlend wie nicht von dieser Welt umgeben von völliger Dunkelheit. “Tritt näher mein Freund. Du bist im Schattenreich. Für die wirkliche Welt sind wir nun unsichtbar, wenngleich nicht weniger real. Das passiert mit jedem, der die Verwandlung vom Menschen zum Vampir durchmacht. Die Schattenwelt, ist so eine Art Zwischenreich und liegt jenseits von Tag und Nacht. Jeder Vampir kann hierher gelangen, aber nicht jeder findet auch wieder zurück. Sei also bedacht, wenn du in dieses geheimnisvolle Land abtauchst. Bis wir wieder in die Wirklichkeit zurückkehren, müssen wir noch ein paar Einzelheiten besprechen. Ich finde, es ist an der Zeit dass du die Wahrheit über deinen Vater erfährst. Seit hunderten von Jahren, benutzt der Zirkel euer Haus als Hauptquartier. Du hast bestimmt schon von den Legenden über Schätze und geheime Katakomben gehört?” “Ja, was ist damit?” “Sagen wir mal so, Die Legenden spiegeln nicht einmal einen Bruchteil der Wirklichkeit wider. Wenn wir wieder aus der Schattenwelt austreten, zeige ich es dir.” Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: “Mit der abgeschlossenen Verwandlung, erhältst du neue übermenschliche Kräfte. Deine Zähne fangen an zu wachsen. Durch deine Adern strömt ein Stoff, den wir Hermalarpholin genannt haben. Er bewirkt, dass alle Fremdkörper, alle Schadstoffe und Krankheitserreger und alle abgestorbenen Zellstrukturen sofort aus deinem Organismus ausgesondert werden. Er macht deinen Körper resistenter und widerstandsfähiger als jede bekannte Lebebnsform auf dieser Erde, verhindert die Zellalterung, stoppt jeglichen Blutfluss und verstärkt Konzentrationsvermögen und Sehkraft ungemein.
Du kannst schneller laufen, als ein Vogel fliegen kann. Du wirst nach der Verwandlung so stark sein, dass du eine massive Felswand mit einem Faustschlag zu winzigem Steinstaub zertrümmern kannst. Ab heute ist deine Alterung gehemmt. Ja man könnte fast sagen, wir sind unsterblich. Jedenfalls ist noch keiner von uns eines natürlichen Todes gestorben. Klingt gar nicht so übel, oder?” Cornell war fassungslos. Sollte das tatsächlich der Wahrheit entsprechen, war es ganz und gar unglaublich. “Zurück zu deinem Vater. Schon in der Antike, haben sich Wolfsmenschen oder Lykanthrophine und die Vampire bekämpft. Der Hass zwischen den beiden Rassen rührt daher, dass unsere Gattung für die Kirche kämpft. Für das gute… für Gott. Die Gegenseite, führt Aufträge aus, die direkt aus der Hölle kommen, kämpft also für den Satan.
Die Kriege waren sehr blutrünstig und forderten über die Jahrhunderte viele Leben. Dreizehnhundertelf, im Jahre des Herrn, wurde schließlich in Vatikanstadt Rom eine Waffenruhe vereinbart, die bis vor vier Jahren andauerte. Bis zu jenem Tage, an dem dein Vater von den Bestienmenschen verschleppt wurde.” Cornell, brauchte einen kurzen Moment, um zu verarbeiten, was sein Gegenüber ihm da offenbart hatte. Nach einigen Minuten wagte er zu fragen: “Dann lebt er also noch?” Mit einem wohlwollenden Lächeln beugte sich der Bürgermeister ein paar Zentimeter zu ihm vor und antwortete: “Ich habe ein paar gute Gründe, zu glauben, dass dem so ist.” Cornell durchfuhr ein Freudenstoß bei diesen Worten.
Ich kehre jetzt mit dir in die Wirklichkeit zurück.”
Die Kulisse um ihn herum, löste sich in Dunkelheit auf und erneut war es Cornell so, als zöge man ihn durch einen dünnen Schlauch und als seine Füße wieder auf dem Zeltboden aufschlugen, fühlte er sich leicht benommen und schwindelig wie nach einem langen undurchsichtigem Traum. Schnell holte ihn die Wirklichkeit wieder ein. Da waren sie wieder, all die vertrauten irdischen Gerüche, die Jahrmarktgeräusche, welche gedämpft durch die Zeltwände drangen.
Kaum hatten sich Cornells Augen wieder an das Tageslicht gewöhnt, als donnernder Beifall rings um ihn aufbrandete. Er sah sich um und blickte in die vielen Gesichter junger und alter Generationen von Vampiren , die ihn als neues Mitglied ihres Bundes willkommen hießen. Es war schon ein merkwürdiges Erlebnis, wenn einen Leute bejubelten, die man entweder nur flüchtig oder gar nicht kannte.
Der Bürgermeister, der jetzt wieder neben ihm stand, wartete einige Augenblicke, bis der Applaus langsam abgeflaut war, und sagte dann mit feierlichem Ton: “Wir begrüßen recht herzlich ein neues Mitglied in unseren Reihen. Cornell gehört ab jetzt zu den Kindern der Nacht!”
2. Die Kinder der Nacht
Cornell durchlebte in den folgenden Tagen die Verwandlungsstufen vom Mensch zum Vampir. Es fing damit an, dass er Zahnschmerzen bekam. Seine vorderen Reißzähne wuchsen rasant. Parallel dazu veränderte sich seine Sicht, sonderbarer Weise konnte er auf einmal durch seinen bloßen Willen zwischen Nah- und Fernsicht wechseln. Bis ins mikroskopische Detail drang er mit seinem Blick vor. Aus zwanzig Metern Entfernung konnte er die kleinen Beinchen einer Laus sehen, die auf einer Pflanze saß. Er konnte ohne ein Teleskop mühelos die Strukturen vom Mars erkennen und stundenlang auf dieselbe Stelle stieren, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln. Seine Reflexe steigerten sich dermaßen, dass er eine Fliege aus der Luft fangen konnte, ohne ihr das kleinste Härchen zu krümmen.
Er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Er bekam ein völlig neues Körpergefühl, seine Muskeln, wuchsen und strafften sich, sein Haar bekam eine gesunde Schwärze und die grauen Strähnen, die die letzten vier Jahre mit sich gebracht hatten, lösten sich in Luft auf. Seine Haut spannte sich glatt über sein Gesicht. Keine noch so kleine Falte, blieb übrig. Die Fingernägel wuchsen einige Millimeter und wurden zu rasiermesserscharfen Klauen. Außerdem plagten ihn Schmerzen im Rücken und nach ein paar Tagen musste er feststellen, dass ihm kleine schwarze Federn aus dem Fleisch wuchsen. Das hatte der Bürgermeister mit keinem Wort erwähnt. Aber das konnte er ihn alles heute Abend fragen, wenn er zu Besuch kam.
Abgesehen von den physischen Veränderungen grüßten ihn auf der Straße plötzlich Leute, mit denen er zuvor noch nie ein Wort gewechselt hatte. Bei seinen Unternehmungen in der Stadt bereitete ihm das Sonnenlicht leichte Schmerzen auf der Haut. Für Cornell war das alles sehr aufregend. Er konnte kaum fassen, was da mit ihm geschah.
Während seiner Verwandlung, hatte Cornell viel nachgedacht. Sollte tatsächlich die Chance bestehen, dass sein Vater noch lebte, würde er alles daran setzen, ihn zu retten. Das hatte er sich fest entschlossen zum Ziel gemacht.
Cornell saß in dem großen Salon des Herrenhauses, lauschte dem Knistern des Kaminfeuers und summte leise vor sich hin. In freudiger Erwartung des Bürgermeisters, der sich für später am Abend angekündigt hatte. Langsam und quälend verstrichen die Minuten. Hatte er elf Uhr gesagt? Um zwölf? Es war jetzt schon halb elf und Cornell wurde immer unruhiger, je öfter er auf die Uhr sah. Es handelte sich um das wunderschöne Exemplar einer Taschenuhr, die ihm sein Vater zu seinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Man musste sie nie aufziehen oder nachstellen, immer zeigte sie die Zeit auf die Sekunde genau an. Außerdem war sie gleichzeitig ein Kompass. Man musste nur ein anderes Scharnier öffnen. Cornell ließ die Gedanken schweifen und verlor sich im Zauber seiner Taschenuhr. Liebevoll betrachtete er das kleine Kunstwerk in seiner Hand. Obwohl die Uhr nicht einen einzigen Kratzer hatte, nicht den Hauch einer Gebrauchsspur, so wirkte sie dennoch sehr alt. Er war gerade im Begriff, die kleine Uhr zu öffnen und mit seinem neuen Sehvermögen die Raffinessen der Uhrmacherkunst zu erkunden, als es an der Tür läutete. Er schreckte jäh auf und rappelte sich aus dem Sessel hoch. Hastig rannte er aus dem Salon, den langen Korridor entlang, die Treppen hinunter in die Eingangshalle, wo er keuchend zum Stehen kam. Mit vor Aufregung zitternden Händen öffnete er die schwere Eichentür. Da stand er in einen langen schwarzen Mantel gehüllt, der Bürgermeister, in Begleitung von Mr. Melworre, der ebenfalls ein schwarzes Gewand trug. “Willkommen in meinem Haus!”, sagte Cornell. “Wie wäre es mit einem Willkommen zurück, schließlich, haben wir wahrscheinlich mehr Zeit hier verbracht als du und dein Vater zusammen,” scherzte der Anwalt. “Können wir jetzt endlich herein, es ist gefährlich des Nachts zu lange auf der Straße zu verweilen”,
sagte der Bürgermeister mit nervösem Unterton in der Stimme. Zielstrebig, als wäre es der Bürgermeister der hier wohnte und nicht Cornell, ging er auf den großen Kamin in der Eingangshalle zu. “Da wollten sie rein. Doch sie hatten nicht das hier,” sagte der Bürgermeister und zog einen großen kristallenen Schlüssel aus der Innentasche seines Mantels. “Dein Vater hat gut daran getan, ihn mir zu geben. Vielleicht ahnte er, dass etwas passieren würde.” Mit geübtem Blick suchte er die Innenwand des Kamins nach irgendetwas ab, von dem Cornell nichts wusste. Nach einer Weile hielt er inne und wandte sich dann mit einem geheimnisvollen Blick zu Cornell und dem Anwalt um. “Hier ist es”, kündigte er verheißungsvoll an. “Also los!”, sagte er und klopfte leicht mit dem Fingerknöchel auf einen der Ziegel.
Daraufhin war ein mechanisches Klicken zu hören und der Stein schob sich ein paar Zentimeter aus der Wand. Cornell trat vor und konnte in der rechten Seite des Ziegels, die von außen nicht zu sehen war, ein in den Stein eingelassenes goldenes Schloss erkennen. Cornell stand vor Staunen der Mund offen und als der Stadtvater es bemerkte, musste er schmunzeln .
Feierlich führte er nun den Schlüssel in das Schloss ein und drehte ihn vorsichtig um. Ein lautes Geräusch setzte im ganzen Haus ein, als hätte man eine riesige Maschine angestellt. Nach und nach tat sich im Boden des Kamins eine Treppe auf, die geradlinig unter das Haus führte. “Folgt mir.” Der Bürgermeister ging voran. Cornell folgte ihm die steile Treppe hinab. Hinter ihm schloss der Anwalt den Geheimgang ab. Sobald sich der Kaminboden über dem Anwalt wieder geschlossen hatte, entzündete der Bürgermeister eine Fackel, die in einer Halterung in der Wand gesteckt hatte.
Hier roch es nach Erde und Feuchtigkeit und ein kühler Luftzug wehte aus der Tiefe zu ihnen herauf. Das Mauerwerk war von grober Beschaffenheit Ihr Weg führte sie eine ganze Weile steil treppab und von den niedrigen Wänden, hallten gedämpft ihre Schritte wider. Cornell kam es wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sie endlich auf eine hölzerne Tür stießen, hinter der wieder ein ebener Gang lag. Dieser war von ganz anderer Beschaffenheit als die steile Treppenflucht. Viel höher angelegt und von Statuen verschiedener Persönlichkeiten gesäumt, die Cornell allesamt fremd waren. Die Decke wurde von hohen Säulen getragen und der Boden bestand aus eingepassten Marmorplatten. Obwohl dieser Teil des Gebäudes schon sehr alt sein musste, wies er nicht das geringste Zeichen von Verfall auf. Ein gespenstisches phosphoreszierendes Licht, erhellte das Szenario. Zügig, schritt der Bürgermeister voran. “Haben wir es denn eilig?” fragte Cornell. “Eigentlich nicht, aber der Bürgermeister hält nichts von dunklen Geheimgängen”, antwortete Mr. Melworre. “Mach dich nicht lustig, dunkle Zeiten, mahnen zur Vorsicht und zur Eile.”
Danach sagte keiner mehr etwas. Still und raschen Fußes durchquerten sie nun den Rest der langgezogenen Halle, bis sie wieder vor einer Tür zum Stehen kamen. Diesmal, handelte es sich um eine gewaltige Eisentür. Sie war verschlossen. In der Wand neben der Tür eingelassen, befand sich eine handgroße goldene Schale. Der Bürgermeister trat vor.
Aus den vielen Taschen seines Mantels zog er ein kleines hölzernes Kästchen heraus, dem er eine dünne Nadel entnahm. Er ballte einige Sekunden lang eine Faust und stach sich dann mit der Nadel in den linken Zeigefinger. Ein paar Tropfen Blut rannen von seinem Finger in die Schale. “Es ist ein uralter Mechanismus, mit dem sichergestellt wird, dass es sich bei einem Eindringling auch wirklich um einen Vampir unseres Zirkels handelt.”
Kaum hatte das er ausgesprochen, da öffnete sich auch schon die Tür und versank geräuschlos seitlich in der Wand. “ Bist du bereit, das wahre Erbe deiner Familie anzutreten?”, fragte der Anwalt.
Vor ihnen, tat sich eine gigantische Kammer auf. Wie ein Amphitheater aufgebaut zogen sich kreisförmig angelegte Stufen immer abwärts und endeten schließlich am tiefsten Punkt des Raumes, wo sich ein Podest fand, auf dem ein Rednerpult aufgebaut war. “Das ist der Sitzungssaal unseres Blutzirkels. In den umliegenden Räumen ist die Zufluchtsstätte für Brüder und Schwestern des geheimen Ordens angelegt, in die wir uns in Zeiten der Not zurückziehen. Sie besteht aus mehreren Schlafsälen und einer großen Blutbar. Außerdem hat jede Vampirfamilie Londons hier ihr eigenes Verlies, in dem sie ihre Schätze hortet. Natürlich hat auch deine eins. Es ist übrigens eines der größten”, sagte der Bürgermeister. “Ihr meint, es gibt dort Schätze, die jetzt mir gehören?” “Genau das meinen wir und wir sprechen hier nicht nur über irgendwelche Reichtümer. Deiner Familie gehört der vielleicht wertvollste Besitz überhaupt. Das Schwert des Blutfürsten.
Wir glauben, dass die Bestienmenschen unter anderem aus diesem Grund bei euch eingebrochen sind und deinen Vater verschleppt haben. Aber wieso stehen wir eigentlich noch hier rum? Es wird Zeit, dir deinen Besitz zu zeigen.” Sie schritten das Rund des Redesaals ab, in dessen Wände Türen eingelassen waren, die zu den umliegenden Räumen führten. Bei Tür Nummer sieben blieb der Bürgermeister abrupt stehen. “Du bist der Anwalt”, sagte er an Mr. Melworre gewandt. “Alles, was mit Hinterlassenschaften zu tun hat, ist dein Gebiet.” Der Anwalt öffnete die Tür und geleitete sie einen weiteren Gang entlang, der sie noch tiefer unter die Erde führte. Unterwegs kamen sie an unzähligen Gestängen vorbei, hinter denen weitere Türen lagen. Je tiefer sie kamen, desto schmuckvoller, war die Gestaltung der Zellen, desto undurchdringlicher wirkten die Gitterstäbe und die dahinterliegenden Türen. Cornell staunte, um wie viele Verliese es sich hier handelte. Er hatte ja keinen blassen Schimmer gehabt, was sich da unter seinem Haus abspielte. “So viele Vampirgeschlechter gibt es in London?”, fragte er den Anwalt.
“Natürlich nicht, das sind die Reichtümer von ganz England, die hier für ihre Besitzer verwahrt werden”, antwortete er. Ein paar tausend Schritte und unzählige Schatzkammern später nahm der Gang ein jähes Ende. Beim letzten Verlies, welches mit den stärksten Stäben versiegelt war, hielten sie an. “Das ist das neben den Toren von Sternenstadt bestgehütete Geheimnis von ganz Europa”, sagte der Anwalt, “eure Familien-Schatzkammer.
Als du damals die Erbschaftsurkunde für das Herrenhaus und alle anderen Besitztümer deines Vaters unterschrieben hast, schienst du das Lesen offenbar völlig vergessen zu haben. Auf Seite drei wird kurz der sogenannte untere Bereich des Hauses erwähnt. Eine Klausel, die dich als alleinigen Eigentümer über die Räumlichkeiten des Hauptquartiers auszeichnet. Allerdings hast du, ohne es zu wissen, zugestimmt, dass der Blutzirkel dein Eigentum weiter uneingeschränkt nutzen darf. Außerdem gehört dir seit der Unterzeichnung der Erbschaftsunterlagen Verlies Nummer eins samt Inhalt. Jetzt ist die Zeit gekommen, da du dein wahres Vermächtnis antreten darfst. Der Schlüssel, der durch diese Pforten führt, liegt in deinen Venen. Es ist dasselbe Prinzip, wie es auch beim Eingang zum Hauptquartier funktioniert nur dass es bei diesem Mechanismus ausschließlich mit Blut aus deiner direkten Blutlinie geht.” “Nadel gefällig?”, mischte sich der Bürgermeister in die Ausführungen Melworre ´s ein.
Er holte dieselbe Nadel heraus, die er selbst schon für das Blutopfer am Einlass gebraucht hatte. Aus einem anderen Versteck seines Mantels kramte er ein kleines Fläschchen hervor, in dem eine pechschwarze Lösung unruhig umher schwamm als hätte sie ein geheimnisvolles Eigenleben. “Um die Nadel zu reinigen, ich weiß nicht ob die Kammer uns Einlass gewährt, wenn dein Blut verfälscht ist.”
Daraufhin öffnete er die Glasphiole und tauchte die Nadel ein. Die darin enthaltene Flüssigkeit verfärbte sich schlagartig scharlachrot. Nach wenigen Augenblicken wechselte die Farbe wieder auf schwarz und der Bürgermeister zog die Nadel heraus. “Bitte sehr”, sagte er und hielt Cornell die frisch gereinigte Nadel hin. “Du musst dir in die Fingerkuppe stechen, die ist gut durchblutet.” Ohne lange nachzudenken stach Cornell zu. Schon nach wenigen Momenten war der erste Tropfen zu sehen. “Streich es an die Gitterstäbe, dass sollte genügen.” Cornell tat wie ihm geheißen und strich sein Blut an einen der Stäbe. Kurz darauf wechselten sie die Farbe. Das metallische Grau wich einem strahlendem Goldton und schlangengleich, bogen sich die Stangen zu einer breiten Öffnung auseinander. Aufgeregt trat Cornell ein und durchquerte den Eingang, der hinter der Vergitterung lag. Eine unvorstellbare Ansammlung von Reichtümern offenbarte sich seinen Augen. Geblendet vom Glanz tausender und abertausender Schätze musste er gegen den Drang ankämpfen, nicht auf der Stelle seinen Verstand zu verlieren. Mit einem flauen Gefühl im Magen versuchte er Größe und Gesamtwert des Raumes abzuschätzen. Schnell gab er dieses Vorhaben wieder auf. Einfach zu gigantisch, war das, was sich hier anhäufte.
Da gab es Gold und Silber, Diamanten, Smaragde, Rubine und Saphire von absoluter Reinheit und vollkommenem Schliff. In reich verzierten Regalen, die den Tischlerhänden vieler Epochen entsprungen waren, stapelten sich fein säuberlich geordnet Bücher und Schriftrollen, deren Wert, so hätte Cornell gewettet, den der Edelsteine noch übertroffen hätte. Auf unzähligen Staffeleien, teils verhängt, waren die schönsten Gemälde zu bestaunen. Es gab Vitrinen, in denen schmuckvolle Waffen verschiedenster Art auslagen: Schwerter, Äxte, Speere, Morgensterne, Peitschen, Messer, Dolche, Degen, Streitäxte, Bögen, Schleudern, Armbrüste, Wurfmesser und vieles mehr. Alles von einer Qualität und Güte, die eines Kaisers würdig war. Kleine Schnitzereien aus Elfenbein, türmten sich auf den umliegenden Tischen. Edelste Stoffrollen standen ordentlich zusammengerollt in allen Ecken. Kostbare Tierhäute und Felle zierten den Boden. Filigrane Apparaturen, deren Verwendungszweck Cornell nicht kannte, waren auf diversen Bänken abgestellt worden. Büsten aus den unterschiedlichsten Rohstoffen gefertigt, antike Vasen, Ikonen, Zepter, Kronen, Diademe, Ohrringe, Armreifen, Colliers und noch so viel mehr. “Fall nicht gleich in Ohnmacht”, sagte der Anwalt spöttisch, aber ebenso fasziniert. “Wir sind immer noch auf der Suche nach dem verdammten Schwert.” “Warum eigentlich”, fragte Cornell. “Was haben wir denn damit vor?”, Bürgermeister und Anwalt warfen sich einen raschen, aber bedeutungsvollen Blick zu. “Dazu erstmal nur so viel, wir haben Pläne mit dir! Alles andere erläutern wir, sobald wir das Schwert haben. Schau nebenbei mal nach, was du von hier auf einer Reise gebrauchen könntest.” Cornell verstand nicht ganz, wollte aber nicht widersprechen und ließ seinen Blick schweifen. Wenn hier tatsächlich irgendein kostbares Schwert ruhte, dann könnte es Monate dauern, es zu finden. Die Größe der Anlage belief sich auf den Umfang einer Kleinstadt. “Gut, fangen wir also an zu suchen. Am besten teilen wir uns auf”, schlug der Anwalt vor. “Aber wonach sollen wir denn überhaupt suchen, hier gibt es bestimmt an die tausend Schwerter, woher weiß ich, wann ich das Richtige gefunden habe”, wollte Cornell wissen. “Das ist eine interessante Frage, daran habe ich gar nicht gedacht”, sagte der Anwalt.
“Es ist ganz einfach, laut den Legenden und dem, was Cornells Vater sagt, hat das Schwert des Blutfürsten eine schwarze Klinge. Wir müssen also nur nach einer schwarzen Klinge Ausschau halten. Moment, ich habe sogar die alten Aufzeichnungen über das Blutfürstenschwert mit”, sagte der Bürgermeister “Na los, lies vor”, kam es wie aus einem Munde vom Anwalt und Cornell. Wieder steckte der Bürgermeister die Hände in die schier unergründlichen Tiefen seines Mantels und holte eine dicke Lederrolle heraus. Er wickelte sie auf und zum Vorschein kam ein uraltes Stück Pergament. “Es ist zwar nicht die Originalfassung, aber sie wird reichen müssen: die Klinge der Blutfürsten oder Prinzen, jene mächtige Waffe, geschmiedet von den zwölf Erzdämonen, die die dunklen Gegenspieler der zwölf Apostel bilden, in den Feuern der Hölle selbst, einst anlässlich zu Ehren des Satans, zieht dieses mächtige Schwert eine blutige Spur, durch die Annalen der Geschichte. Hergestellt aus Mycron oder auch Höllenerz ist von der härtesten und schönsten Klinge der gesamten alten Welt die Rede. Sie verleiht ihrem Besitzer angeblich übernatürliche Kräfte und ist mit magischen Bannen belegt. Ihr wird nachgesagt, dass der Herr der Hölle einen Tropfen seines eigenen Blutes einschmieden ließ, um den weltlichen Verfall der Waffe zu verhindern. Das Schwert des Blutfürsten ernährt sich von den Seelen seiner Opfer und wird mit jedem tödlichen Schlag mächtiger. Ursprünglich war es dafür gedacht, in einer erneuten Schlacht zwischen Gut und Böse über die himmlischen Heerscharen zu triumphieren. Das Schwert war des Teufels liebster Besitz, bis eines Tages Beelzebub, der oberste Dämon unter dem Befehl des Antichristen, einem Anfall von Gier erlag und das Schwert stahl. Da Beelzebub der Himmel versagt war und die Hölle von Luzifer kontrolliert wurde, brachte er das Schwert auf die Erde. Zusammen mit seinem Bruder Belial versah der Dämon das Blutfürstenschwert mit einem Zauber, der es für den Teufel unmöglich machte, sein Schwert aufzuspüren. Zur Strafe für seine Tat wurde Beelzebub bei seiner Rückkehr in die Hölle von Luzifer geschrumpft und seiner Kräfte beraubt. Von nun an, tyrannisiert er die Menschen in Gestalt einer Fliege, indem er Krankheiten überträgt und seine widerlichen Larven in ihren Lebensmitteln ablegt. Das Schwert galt ab diesem Zeitpunkt lange als verschollen und taucht erst viele Jahrtausende später wieder im Besitz Vlad des Dritten auf, den die Vampire noch heute als den ´Blutfürsten` verehren. Während der Kreuzzüge gegen das Osmanische Reich spielte das dämonische Schwert eine bedeutende Rolle. Mit Hilfe dieser übermenschlichen Waffe war es dem Blutfürsten möglich, rund um das Schwarze Meer vierundzwanzigtausend Türken und muslimische Bulgaren niederzumetzeln. Wie er an das Schwert gelangt war, ist nicht bekannt. Belegt ist nur, dass er das Schwert seinem Sohn vermachte, der es von diesem Zeitpunkt an immer an den direkten Nachkommen seiner Blutlinie weiter gab.
Zum äußeren Erscheinungsbild der Klinge lässt sich aus den Erzählungen entnehmen, dass Griff und Knauf aus geheiligtem Gold bestehen, welches das göttliche Gegenstück zu Mycron oder Höllenerz bildet. Die Klinge ist von schwarzer Färbung, während der Griff weiß und golden erstrahlt. In den Griff sind heilige Schutzrunen eingearbeitet, die Schneide, wurde mit dämonischen Kriegsrunen versehen, welche dem Krieger jeweils Schutz und Stärke zukommen lassen sollen.
Um das Ganze ein bisschen abzukürzen, wir suchen nach einem schwarzen Schwert mit Goldgriff”, schloss der Bürgermeister seinen Vortrag. Das war ja eine interessante Geschichte, dachte Cornell.
Jetzt war natürlich klar, dass ein solcher Schatz nicht einfach in einem alten Schrank verstaut lag. “Wir sollten den Raum nach einer Aufbewahrungsstätte durchsuchen, die einer derart kostbaren Reliquie gerecht wird, denn wir wissen zwar, wie das Schwert aussieht, können aber nicht voraussetzen, dass wir hier einfach zufällig darüber stolpern”, sagte der Anwalt, woraufhin die drei mit ihren Blicken die Schatzkammer akribisch durchforschten. Es dauerte nicht halb so lange wie erwartet, bis Cornell so ziemlich am Ende der Kammer einen leuchtenden Sarkophag ausmachen konnte. Als er seine beiden Mitstreiter darauf aufmerksam machte, schenkte der Anwalt ihm ein Nicken und der Bürgermeister sagte: “Tatsächlich, dass könnte es sein.” Zügig, gingen sie auf das Grabmal zu. Als sie näher kamen, stellte sich heraus, dass es sich um das riesige goldene Monument eines Sarges handelte. Dem Betrachter stachen sofort die in Regenbogenfarben gebrochenen Lichtsegmente ins Auge, welche nur Diamanten hervorzubringen vermochten. Der ganze Sarkophag war mit hunderten davon besetzt und erfüllte den hinteren Teil der Kammer mit einem überirdisch schönen Licht. Der goldene Sarkophag war in Form eines Engels gestaltet worden. Jedenfalls hatte die Figur gefiederte Flügel, die man aus Gold detailgenau nachgebildet hatte. Wie gebannt standen die drei vor der liegenden Statue. Sie hatte die Größe eines Menschen und war mit einem Gesicht versehen, das Cornell irgendwie fremd und doch, auf seltsame Weise, vertraut vorkam. “Ich glaube, das soll Vlad den Dritten darstellen. Wie du siehst, seht ihr euch ein wenig ähnlich”, sagte der Bürgermeister und musterte Cornell, gespannt wie dieser reagieren würde. Cornell sah sich den Sarkophag genau an, insbesondere das Gesicht der Skulptur. Tatsächlich kam es ihm vor, als schaute er in eine Art Spiegel, nur dass der Gezeigte wie jemand anders aussah und doch dem Betrachter glich.
“Himmel Herrgott, allein diese verdammte Urne ist wahrscheinlich mehr wert als der ganze Rest in diesem Raum”, meldete sich Mr. Melworre zurück, der bei diesem Anblick offenbar für einen Moment die Fassung verloren hatte. “Die Frage, die sich jetzt stellt, bezieht sich nicht auf den Wert der Verpackung, sondern auf den Inhalt, Melworre!”, sagte der Bürgermeister mit leichter Erregung in der Stimme, doch auch er kam nicht umhin, den Sarkophag ehrfürchtig zu bestaunen. “Oder die Frage muss lauten, wie öffnen wir das Ding”, sagte Cornell. Seine beiden Mitstreiter beendeten ihren kleinen Disput und fingen an, Cornell dabei zu helfen, den Sarg nach einem Anhaltspunkt, der auf seine Öffnung verwies, abzusuchen. Es dauerte auch gar nicht lange, da hatte der Bürgermeister eine runde Vertiefung von ungefähr vier Zentimeter Durchmesser gefunden, die verdächtig nach einer Art Schlüsselloch aussah. “Hat jemand einen Schlüssel dabei”, fragte der Anwalt. An dieser Stelle musste leider auch der Bürgermeister mit seinen vielen Manteltaschen passen, er hatte zwar für alles Mögliche und Unmögliche irgendwelche Schlüssel einstecken, aber hier konnte er auch nicht weiterhelfen. “Hat dir dein Vater mal irgendwas erzählt, was an dieser Stelle von Nutzen seien könnte? Besitzt du etwas, was deinem Vater gehörte?”
Cornell dachte eine kurzen Augenblick nach. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: die kleine sonderbare Taschenuhr, die ihm der Vater mit fünfzehn geschenkt hatte. Hatte er nicht vor gut einer Stunde noch darauf gestarrt, als er auf die Ankunft seiner beiden Besucher gewartet hatte? “Hier”, sagte er und reichte die Uhr dem Bürgermeister. Beim Anblick der Uhr zeichnete sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht ab. “Dein Vater ist ein kluger Mann. Wer kommt denn schon auf eine Uhr und noch dazu auf den Gedanken, man würde sie einem Kind anvertrauen? Ja ich glaube, wir haben unseren Schlüssel gefunden.” Vorsichtig passte er die goldenen Uhr in die Öffnung des Sarkophags ein. Gespannt warteten sie darauf, dass etwas passieren möge. Nach kurzer Zeit, gab die Uhr ein leises Ticken von sich, dann versank sie in der Vertiefung und verschwand im Inneren des Sarges.
Aus den Tiefen des Sarkophages heraus war immer noch das leise Ticken der Taschenuhr zu hören. Dann erstarb der Ton und wurde vom Klang einer komplizierten Maschinerie abgelöst. Kurz darauf klappten die goldenen Flügel der Skulptur auseinander und der Sarg öffnete sich. Im Inneren mit dunkelrotem Samt ausgekleidet bot der Sarg bedeutend weniger Platz, als sein Äußeres vermuten ließ. Der Hohlraum bot gerade mal soviel Platz, dass eine reich verzierte längliche Holzkiste darin Platz fand. Genau wie der Sarg, hätte auch jene Kiste eine astronomische Summe auf dem Markt erzielt. Vorsichtig, barg der Bürgermeister die Kiste aus ihrer Versenkung. Sie war vielleicht hundertachtzig Zentimeter lang und zwanzig Zentimeter breit. Den Deckel zierte eine Kunstvolle Oberflächen Schnitzerei, die den Aufstieg Luzifers thematisierte, wie er mit einer Schar von Gefallenen in den Himmel einzog. “Das ist sie also, die Büchse der Pandora. Ich denke, Cornell sollte sie öffnen, immerhin ist es sein Erbstück”, sagte der Bürgermeister und der Anwalt bestätigte mit einem Nicken. Cornell trat vor und hob sanft den Deckel der Kiste.
Da lag es, das Schwert des Blutfürsten. Nie zuvor hatte Cornell einen derart schönen und begehrenswerten Gegenstand gesehen. Das Aussehen dieser Klinge befand sich jenseits jeglicher Vorstellungskraft. Das war wahre Schmiedekunst auf allerhöchstem Niveau. Im Grunde, glich das Schwert zwar der Beschreibung des Bürgermeisters, es jedoch in wahrhaftiger Gestalt zu vor sich zu sehen, kam einem Traum gleich. Auch der Anwalt und der Bürgermeister waren in schierer Faszination erstarrt. Neben dem Schwert lag ein passendes Heft, das ihm an Schönheit nicht im geringsten nachstand. Schon wollte Cornell das Schwert wieder zurück in die Schatulle legen, als der Bürgermeister ihm sanft auf die Schulter tippte : “Das nehmen wir natürlich mit!” “Wohin?”, Cornell sah ihn fragend an.
“Erstmal gehen wir zurück in den den Ratssaal, wir müssen einiges besprechen. Ohne großen Wirbel darum zu machen, klappte der Bürgermeister den Sarkophag wieder zu. Nach wenigen Augenblicken kam die goldene Taschenuhr wieder zum Vorschein und Cornell steckte sie wieder ein. “Das Schwert nimmt am besten sein neuer Besitzer”, sagte der Anwalt. Cornell schnappte sich die Kiste und folgte eilig dem Bürgermeister, der schon fast beim Ausgang war. “Wie wäre es, wenn du zur Abwechslung mal warten würdest”, rief ihm Mr. Melworre verärgert hinterher. “Dafür haben wir keine Zeit und das müsstest du eigentlich wissen”, gab der Bürgermeister zurück.
Beim Verlassen Schatzkammer schlossen sich die Gitter hinter ihnen wie von selbst. Zügig führte der Bürgermeister sie wieder in den Ratssaal und forderte sie auf, Platz zu nehmen. “Normalerweise ist das eine Angelegenheit, die den ganzen Zirkel etwas angeht. Um jedoch auszuschließen, dass ein möglicher Verräter in unseren Reihen mithört, haben Mr. Melworre und ich beschlossen, diese Unterredung nur im engsten Kreis abzuhalten. Je weniger Leute davon wissen desto besser. Kommen wir zum ersten Punkt, deine Verwandlung. Wie schreitet sie voran?” “Naja soweit ich das beurteilen kann, ganz gut”, antwortete Cornell, der keine Ahnung hatte, wann so eine Verwandlung vom Mensch zum Vampir normal verlief und wann nicht. “Würde es dir etwas ausmachen deinen Mund zu öffnen? Ich will deine Zähne prüfen”, bat der Bürgermeister. Zögernd, öffnete Cornell den Mund. “Noch ein bisschen weiter aufmachen, stopp, ja so ist ´s gut. Hervorragende Entwicklung. Bei manchen Leuten schließt die Verwandlung erst Wochen später ab, aber in deinem Fall scheint alles nahezu perfekt funktioniert zu haben. Hast du außer den üblichen Erscheinungen irgendwelche besonderen Auffälligkeiten?” “Das kommt darauf an, was ich unter besonderen Auffälligkeiten verstehen darf. Eigentlich kann ich über nichts klagen. Im Gegenteil, ich fühle mich besser denn je. Das einzige, bei dem ich mir nicht ganz sicher bin, ob es normal ist, sind die Flügel”, sagte Cornell. “Flügel, was denn für Flügel? Wachsen dir etwa welche”, fragte der Bürgermeister und versuchte die Aufregung in seiner Stimme zu bändigen. Aus den paar kleinen Federn auf Cornells Rücken waren tatsächlich ein paar kleine schwarze Flügel gewachsen. Er konnte sie jedoch so dicht an seinen Körper anlegen, dass sie unter seiner Kleidung niemandem auffielen. “Zieh bitte dein Hemd aus, das ist in der Tat höchst ungewöhnlich.” Cornell legte seine Kleider ab, bis er nur noch die Hose und die Schuhe anhatte, und zeigte dem Bürgermeister seine Flügel. “ Hm… zum Fliegen noch etwas zu klein, aber es sind eindeutig Flügel. Schau sie dir an Adam.” Der Anwalt beugte sich vor und musterte die kleinen schwarzen Federn. Er wechselte einen schnellen Blick mit dem Bürgermeister, dann drehten sie sich wieder zu Cornell um. “Was ist denn los?”, wollte Cornell wissen. “Stimmt etwas nicht?” “Nun ja, es gibt keinen bekannten Fall, in dem schon mal jemandem Flügel gewachsen wären. Allerdings hat das Orakel in Sternenstadt vor vielen Jahren vorausgesagt, dass eines Tages ein Vampir geboren würde, der anders sei als alle vor ihm, der Herr der Nacht. Stärker und schneller als die anderen zu Großem berufen soll er der Prophezeiung nach in Zeit der größten Not erscheinen. Vielleicht bist du gemeint. Vielleicht ist das ein Zeichen. Ich schätze mal, die werden noch ein ganzes Stück wachsen. Mit ein bisschen Glück kannst du bald fliegen. Was für ein schöner Traum!” Wehmütig hing der Bürgermeister dem Gedanken vom Fliegen nach. “Der Sarkophag!”, fiel es Cornell plötzlich ein “Diese Figur, sie hatte auch Flügel. Vielleicht war damit gar nicht der Blutfürst gemeint, sondern ……….. ich?” “Das ist eine interessante Theorie, unter Umständen könntest du sogar Recht haben. Was es damit allerdings genau auf sich hat, kann ich leider nicht sagen. Man könnte darauf schließen, dass das Blutfürstenschwert für dich gedacht ist. Womöglich war das gar kein Grabmal, sondern einfach nur eine sicher versiegelte Art Truhe zum Schutz des Schwertes. Wie gesagt, ich kann nur Mutmaßungen anstellen. Eventuell erfährst du im Laufe deiner Reise noch mehr darüber. Das bringt mich zum nächsten Punkt. Deine Reise. Ach ja, deine Klamotten kannst du wieder anziehen.” Cornell, der immer noch mit nacktem Oberkörper da stand, schlüpfte hastig zurück in seine Sachen “Was für eine Reise, ich hatte eigentlich nicht vor, London zu verlassen.” “Ich fürchte, da hast du leider kein Mitspracherecht. Wenn du nämlich deinen Vater irgendwann wiedersehen willst, ist das wahrscheinlich die einzige Möglichkeit.” Cornells Zweifel, die entstanden waren, als das Wort Reise fiel, verflogen im Nu bei dem Gedanken an seinen Vater. “Was wisst ihr über seinen Aufenthaltsort?” “Nicht viel mehr als du. Wir vermuten aber, dass er sich nicht mehr in England aufhält. In Sternenstadt kann man dir aber auf jeden Fall weiterhelfen und wenn du wirklich der Herr der Nacht sein solltest, dann musst du irgendwann nach Sternenstadt pilgern. Ich könnte mir vorstellen, dass in Sternenstadt eine große Überraschung auf dich wartet. Aber diesen Spaß sollst du selbst erleben, ich möchte nicht zuviel verraten.” “Wo genau liegt Sternenstadt? Ich habe von dieser mysteriösen Stadt noch nie gehört, weder habe ich sie auf einer Karte oder einem Globus je gesehen.”
Cornell hatte während seines Studiums einige Zeit damit verbracht, über staubigen Stadtplänen und Landkarten zu brüten, doch von einer Sternenstadt hatte er noch nie gehört. “Sternenstadt befindet sich in Rom unter dem Vatikan. Sie ist das größte Vampirdomizil diesseits und jenseits des Ozeans. Ich selbst habe diesen fantastischen Ort noch nie besucht, aber es soll dort wunderschön sein”, sagte der Bürgermeister. “Das kannst du alles selbst herausfinden, denn genau da schicken wir dich hin. Du hast drei Tage um zu packen und nimm auf jeden Fall das Schwert mit. Dein Vater wollte, dass du es führst, sonst hätte er dir nicht den Schlüssel vermacht. In drei Tagen holen wir dich zuhause ab und bringen dich zum Schiff.”
In den nächsten drei Tagen verschwendete Cornell nicht viel Zeit damit, zu packen, vielmehr ging er auf und ab und versuchte die Langeweile totzuschlagen. Hätten sie ihm eine halbe Stunde zum Packen gegeben, er wäre jetzt schon auf hoher See, wenn nicht sogar schon in Amsterdam. Nein, sie ließen ihn warten. Er trat der ganzen Sache mit gemischten Gefühlen entgegen. Irgendwie fand er es schade, dass er den Anwalt und den Bürgermeister zurück ließ. Wenngleich er die beiden kaum kannte, konnte er doch nicht umhin, sie einfach zu mögen. Er hatte sich vorgenommen ihnen das auch zu sagen, wenn sie ihn endlich abholten.
Nach Rom sollte es also gehen. Sternenstadt. Das klang alles sehr unwirklich für ihn, wie ein verschwommener Traum, schön und hässlich zugleich. Einerseits befand er sich womöglich gerade im größten Abenteuer seines Lebens und würde viel von der Welt sehen, ja vielleicht würde er sie sogar ein bisschen verändern. Andererseits war sein Vater jetzt schon seit über vier Jahren verschwunden und offenbar in eine Sache verwickelt, die Cornell nicht verstand. Verdammt noch mal, ihm wuchsen Flügel, was war los mit seiner Welt, so wie er sie kannte? Wo waren sie hin, all die Werte, für die er glaubte gelebt zu haben? Jedes Mal, wenn er dachte, er könne die Langeweile nicht mehr aushalten, zog er die goldene Taschenuhr heraus und fing an, damit zu spielen. Wahrlich ein Kunstwerk, was er da in Händen hielt. So klein und dennoch so bedeutsam. Ab und an, holte er auch das Schwert, dass er, mitsamt der Scheide, so andächtig in Stoff gehüllt hatte, und besah es sich. Wenn die Geschichte dazu der Wahrheit entsprach, dann konnte Cornell gut nachvollziehen, warum es dem Teufel einst das höchste Gut zwischen Himmel und Hölle gewesen war. Wenn er das Schwert dann eine halbe Stunde in Händen gehalten hatte, packte er es wieder ein und schritt erneut im Zimmer auf und ab. Er schlief sehr unruhig und wurde oft von seinen eigenen Träumen geweckt. Jetzt waren schon fast drei Tage vergangen und obwohl Cornell wusste, dass man ihn in ein paar Stunden abholte, tat er nichts weiter, als sinnlos die Räume abzuschreiten. Er hatte weder das Bedürfnis, sich von irgendjemandem zu verabschieden, noch wollte er die Stadt ein letztes Mal sehen. Eigentlich wollte er nur, dass die beiden endlich kamen und ihn auf das Schiff brachten.
3. Übers Meer
Als die Nacht hereinbrach war es dann soweit. Der Bürgermeister und Mr. Melworre, waren schon um acht Uhr erschienen, aber man wollte warten, bis es dunkel wurde. Alle drei hatten sich in schwarze Reisemäntel gehüllt und Kapuzen über die Köpfe gezogen. Punkt zwölf, kam die kleine Gruppe im Londoner Hafen an, wo die Black Mary, das Schiff, welches Cornell nach Amsterdam übersetzen sollte, vor Anker lag. Nun war es an der Zeit, sich zu verabschieden. Cornell drückte erst den Bürgermeister, der ihm viel Glück und alles Gute für seine Reise wünschte, dann schloss er den Anwalt in die Arme, der fragte, ob er das Schwert auch wirklich eingepackt hatte. Zum Abschied gaben seine beiden Freunde ihm noch eine Schachtel Süßigkeiten mit, das schone die Nerven und sei gut für die Durchblutung, hatte der übergewichtige Anwalt gesagt.
Auf dem Schiff wurde er dann von Captain Charles Horroway in Empfang genommen, einem stämmigen Seebären, der so um die vierzig seien musste. Er hatte ein wettergegerbtes Gesicht und sein langes silbriges Haar wehte ihm offen um die Schultern. Er machte einen sehr netten Eindruck, als er die Hand ausstreckte und sagte: “Willkommen auf der Black Mary! Mein Name ist Charles Horroway, aber ich würde es bevorzugen, wenn du mich einfach Charles nennst.” Cornell stellte sich ebenfalls mit seinem Namen vor und bat den Captain auch, ihn nur beim Vornamen zu nennen. Sobald Cornell an Bord gegangen war, legte das Schiff auch schon ab. Über die Reling gebeugt, winkte er noch einmal seinen beiden Freunden, die am Ufer der Themse standen und heftig zurück winkten. Danach zeigte ihm der Captain seine Kabine und half Cornell dabei, seine Sachen zu verstauen. Das Schwert ließ Cornell allerdings in seinem Koffer, denn er hielt es für keine gute Idee, es jemandem zu zeigen. Nachdem der Captain sich verabschiedet hatte, schloss er die Tür ab und legte sich schlafen. Er schlief einen traumlosen, ruhigen Schlaf und wurde am nächsten Morgen von einem lauten Klopfen geweckt. Es war der Captain, der ihn zum Frühstück in seine Kajüte einlud. Cornell nahm den Koffer mit dem Schwert mit zum Frühstück, da er es auf keinen Fall unbeaufsichtigt lassen wollte. Cornell wusste nicht recht, was er sagen sollte, als er dem Captain in seiner Kajüte gegenüber saß, und war froh, als er selbst das Gespräch anfing. “Ich kannte deinen Vater sehr gut. Ich habe auch ihn oft nach Amsterdam übergesetzt, von wo er weiter nach Sternenstadt gereist ist.” “Mein Vater ist nach Sternenstadt gereist? Davon wusste ich nichts”, sagte Cornell überrascht. “Natürlich nicht. Du warst noch nicht alt genug, um dich einzuweihen. Ich finde zwar, dass es eine unsinnige Regel ist, die Leute erst mit fünfundzwanzig aufzunehmen, aber so ist es nun mal. Außerdem wäre es doch komisch, wenn du für immer, sagen wir mal, acht Jahre alt wärst, oder? Nein fünfundzwanzig ist ein gutes Alter für den Beitritt. Aber man könnte die Angehörigen ja wenigstens vorher einweihen. Nein, man lässt sie lieber im Ungewissen, bis man sie eines Tages ins kalte Wasser wirft. Dein Vater wollte dich eigentlich schon viel früher in die Geheimnisse des Zirkels einweihen, aber der Rat war strikt dagegen!” “Was hat mein Vater denn in Sternenstadt gemacht?”, wollte Cornell wissen. “Darüber darf ich nicht sprechen, das sollst du alles erfahren, wenn du selbst dort bist. Ich kann dir nur einen Tipp geben: Er hat Verwandte besucht.” “Verwandte? Außer meinem Vater habe ich keine Verwandten”, sagte Cornell mit leichter Verunsicherung in der Stimme. “Nur, weil du sie nicht kennst, heißt das noch lange nicht, dass du sie nicht trotzdem hast. Aber genug davon, ich habe schon viel zu viel verraten. Was führt dich nach Sternenstadt?”, fragte der Captain, dem aufgrund dessen, dass er sich verplappert hatte, leicht die Röte ins Gesicht gestiegen war. “Ich suche nach meinem Vater. Der Bürgermeister, vermutet, dass sein Verschwinden etwas mit dieser mysteriösen Stadt zu tun hat.” Cornell wusste nicht, inwieweit er dem Captain vertrauen konnte, deshalb wollte er ihm nicht gleich alles erzählen. “Ja, ich denke, dort wirst du viele Antworten finden.” Hoffentlich hatte der Captain recht. Antworten konnte er gut gebrauchen, dachte Cornell. “Ich selbst war leider auch noch nie da. Dein Vater hat mir aber viel davon erzählt. Sie haben dort ein riesiges unterirdisches Belüftungssystem gebaut. Außerdem soll die Decke der Stadt aussehen wie der Himmel, vielleicht begleite ich dich sogar dorthin. Ich habe meine besten Jahre auf diesem verfluchten Schiff zugebracht und mir ist ein bisschen nach Abwechslung zumute.”
Nach dem Frühstück zeigte der Captain Cornell das Schiff. Bei Tage betrachtet, wirkte es viel größer als des Nachts. Es war ein mittelgroßer Dreimaster mit dutzenden Segeln. Mit stolzgeschwelter Stimme berichtete der Captain von unzähligen Überfahrten, von gewaltigen Seeschlachten, Piraten und Meeresungeheuern. Charles Horroway war seit sechsundfünfzig Jahren der Captain der Black Mary. Davor hatte er zwanzig Jahre der englischen Krone gedient. Horroway war erst relativ spät, nämlich mit zweiundvierzig Jahren, zum Vampir geworden. Er entstammte keiner Vampirfamilie und musste sich deshalb die Anerkennung des Zirkels erst hart erarbeiten. Aufgrund der unbarmherzigen Sonneneinstrahlung auf See hielt er es nur wenige Stunden an Deck aus. Deshalb schlief er tagsüber die meiste Zeit. Vampire konnten die Sonne zwar nicht besonders leiden, da sie ihnen leichte Schmerzen auf der Haut verursachte und nach einiger Zeit Verbrennungen nach sich zog, das hieß aber nicht, dass sie nicht trotzdem unter ihren Strahlen überleben konnten. Cornell hatte ein reges Interesse an den Geschichten des Seemannes und hörte ihm aufmerksam zu. Der Captain allerdings vermittelte ihm den Eindruck, dass er des Lebens auf dem Schiff überdrüssig geworden sei. Mit wehmütiger Miene sprach er von seinem Leben gerade so, als wünschte er sich ein anderes. “Wie steht ´s mit der Liebe? Hast du eine Frau?”, wollte Cornell wissen. “Wie sagt man, an jedem Hafen eine andere. Eine feste Frau gab es bisher nie bisher nicht.” “Eventuell ergibt sich ja etwas, wenn du mir wirklich nach Sternenstadt folgst, könnte ich mir vorstellen, dass die eine oder andere Vampirlady einem muskulösen Seemann nicht abgeneigt ist!” Für diese Worte, schenkte der Captain ihm ein verwegenes Grinsen.
Der Rest des Tages verlief ziemlich ereignislos, bis die Nacht hereinbrach.
Es fing alles damit an, dass der Himmel sich verdunkelte. Dichte Wolken zogen über ihnen auf und nahmen einem die Sicht. Mit zunehmender Dunkelheit wuchsen die Wellen, die sich an ihrem Schiff brachen. Ein Sturm verdüsterte die Welt um sie herum. Unter Deck, im Laderaum, lösten sich die Fässer unter dem ständigen Schaukeln von ihren Vertäuungen. Blitze durchzuckten den Himmel und bald wurde die Black Mary wie eine winzige Nussschale von den gewaltigen Wogen hin und her geworfen. Die Kerzen, die man gegen die Dunkelheit entzündet hatte, verloschen bald unter der aufpeitschenden Gicht. Einen Sturm von solchem Ausmaß hatte Cornell, soweit er sich erinnerte, noch nie miterlebt. Und das, obwohl es in London wahrscheinlich mehr regnete als in sonst irgendeiner Stadt. Immer heftiger wurde der Wellengang und die Crew hatte alle Hände voll damit zu tun, das Schiff unter Kontrolle zu halten. Captain Charles brüllte seiner Mannschaft mit donnernder Stimme Befehle zu und auf sein Kommando rannte, kletterte und sprang alles, was Beine hatte, auf und ab. Segel wurden ein- und ausgeholt, Wellen wurden mit rasanten Manövern umschifft oder gebrochen. Inmitten des Schauspiels stand Cornell und beobachtete die Szenerie. Stundenlang schien sich die Natur an der Black Mary auszutoben, doch das Schiff und seine Crew trotzten jeder Widrigkeit. Cornell kam nicht umhin, den Seemännern ein wenig unter die Arme zu greifen. Er hielt hier eine Leine, zog da an einem Tau, warf sich mit der Crew auf die eine Seite des Schiffes ,um das Gleichgewicht zu halten, dann wieder auf die andere Seite. Nach ungefähr einer Viertelstunde an Deck, waren seine Kleider völlig durchnässt. Der Captain hatte ihn gewarnt, dass das ganze eine ziemlich feuchte Angelegenheit werden konnte, aber unglücklicherweise hatte Cornell einen schützenden Regenmantel unbedacht abgelehnt, nun musste er den ziemlich nassen Preis dafür bezahlen. Das Schwert hatte er kurz nach dem Frühstück in seine Scheide gesteckt und an seinem Gürtel befestigt.
Erst in den frühen Morgenstunden legte sich der Sturm und die erschöpfte Crew tröpfelte langsam unter Deck in ihre Kajüten ein. “Das war es also, dein erstes richtiges Unwetter auf offener See. Wie hat es dir gefallen?”, fragte der Captain Cornell, als auch er langsam den Weg zu seinem Schlafgemach einschlug. “Aufregend und vor allem anstrengend, sehr anstrengend sogar. Ganz zu schweigen davon, dass ich total nass bin.” “Wenn du möchtest, habe ich ein paar trockene Klamotten für dich und außerdem einen heißen Tee mit einem ordentlichen Schluck Rum in meiner Kajüte. Komm!” Cornell wollte dem Captain gerade unter Deck folgen, als der Matrose vom Ausguck herunter rief: “Schwarze Flagge, Schwarze Flagge!” “Das sind Piraten”, sagte der Captain ohne auch nur den geringsten Anflug von Furcht in der Stimme. “Jetzt wird´s lustig.” Mit diesen Worten stellte er sich an die Reling und wartete die Situation ab. Cornell, verdutzt ob dieser Gleichgültigkeit, ging dem Captain nach und fragte dann: “Sollten wir nicht den Rest der Crew benachrichtigen?” Captain Charles, musste angesichts solcher Panik herzhaft lachen, versicherte Cornell dann aber, dass es nicht mehr als zwei Vampiren bedurfte um mit einer Meute Piraten fertig zu werden. “Hast du schon mal gekämpft?”, fragte er Cornell und musterte ihn, als könne er mit seinem Blick alles über Cornells Geschick im Umgang mit der Klinge erraten. “Nur in der Akademie. Schulunterricht im Fechten, Ringen und Faustkampf.” “Quatsch, ich meine als Vampir auf Leben und Tod ? Ich finde, du solltest unbedingt deine Fähigkeiten erproben. Wir haben ein ausgezeichnetes Talent dafür. Das wirst du gleich selbst feststellen. Hast du eine Waffe?” Cornell überlegte einen Moment und zeigte dem Captain dann das Schwert. Was es wirklich damit auf sich hatte, verschwieg er allerdings und sagte einfach, dass es sich um ein Familienerbstück handelte. Der Captain kaufte ihm diese Geschichte ohne weitere Nachfrage ab, wusste er doch genau, was für ein wohlhabender Mann Cornells Vater war. Trotzdem konnte er nicht anders, er musste das Schwert erst einmal genau in Augenschein nehmen und versuchte gar nicht erst, seine Begeisterung zu verbergen.
“Mit dem Teil, wirst du wahrscheinlich jeden Kampf gewinnen. Ob du nun kämpfen kannst oder nicht.” “Hoffen wir´s, ich habe nämlich noch keine Lust zu sterben”, sagte Cornell und wirkte dabei leicht besorgt. “Du stirbst nicht. Vampire sind nicht zum Sterben gemacht. Normale Klingen verletzen unser Fleisch nicht und an Altersschwäche oder Krankheiten krepieren wir nicht. Nur das Silber und der Biss des Wolfes sind tödlich na ja und wenn unser Herz durchbohrt wird. Unserem kleinen Abenteuer steht also nichts im Weg.” Cornell hatte immer noch so seine Zweifell und der Captain schien dies zu bemerken. “Mach dir keine Sorgen. Das ist jetzt deine Feuertaufe. Irgendwann lernt jeder Vampir, seine Fähigkeiten einzusetzen. Manche von uns tun das auf vortreffliche Weise. Andere stiften nur Unruhe. Du musst selbst herausfinden, zu welcher Sorte du gehören willst.”
Cornell erkannte das feindliche Schiff und seine Besatzung auch ohne Fernrohr mühelos von weitem. Die Segel des Piratenschiffs waren schwarz getüncht und auch der Schiffskörper war von tief schwarzer Färbung. Als Galionsfigur hatte man die monströse Nachbildung eines menschlichen Skelettes gewählt. Auf den Segeln, prangte die entstellte Abbildung einer Meerjungfrau, darunter zwei gekreuzte Entermesser. Die Besatzung war ungefähr achtzig Mann stark und augenscheinlich schwer bewaffnet. Mit rasantem Tempo kam das Schiff näher. “Wie sollen wir denn zu zweit gegen die alle gewinnen?”, wollte Cornell vom Captain wissen. “Das habe ich dir doch schon erklärt. Du bist jetzt kein Mensch mehr. Du gehörst ab sofort einer Gattung an, die an der Spitze der Nahrungskette steht. Es wird keine zwanzig Minuten dauern und keiner von denen wird mehr leben. Wart´s ab und lass dich von deinen Instinkten leiten.” Der Gegner hatte keine Kanonen ausgefahren, was bedeutete, dass man zuerst so viel plündern, rauben und morden wollte wie möglich und dann erst das unglückselige Schiff versenken, was man für den Beutezug auserkoren hatte. Als die beiden Schiffe nur noch etwa zehn Meter trennten, zogen Captain Charles und Cornell ihre Waffen. Nur ein paar Sekunden später schwirrten die ersten Enterhaken durch die Luft. “Warte, bis sich die Haken in der Bordwand verkeilt haben und ihre Werfer dranhängen. Dann schnappst du dir dein Schwert und kappst die Taue. Für diejenigen, die an den Seilen hängen, wird das heute ein ziemlich nasser Tag”, wies der Captain Cornell an. Cornell machte sich sofort an die Arbeit und zerschnitt jede Enterleine, die sich in seiner Reichweite befand. Die ersten zwanzig Mann landeten daraufhin unsanft im Wasser und paddelten hilflos zu ihrem Schiff zurück. Auch die zweite Angriffswelle hätten sie mühelos auf diese Art abwehren können, doch der Captain meinte, dass verderbe einem den ganzen Spaß. So ließen sie die nächste Welle durch ohne auch nur einen Piraten zurück ins Wasser zu schicken. Stattdessen warteten sie ab, bis ungefähr dreißig Freibeuter ihr Schiff erreicht hatten und über die Bordwand geklettert waren. Der Pirat, welcher Cornell am nächsten stand, zog kurzerhand seinen Revolver und schoss auf ihn. Wie in Zeitlupe sah er die Kugel auf sich zukommen. Mit einem lässigen Schlenker seines Oberkörpers wich er der Kugel aus, so dass diese ihn um einen halben Meter verfehlte und hinter ihm im Hauptmast stecken blieb. Verdutzt lud sein Gegner den Revolver nach. Die Zeit nutzte Cornell. Mit wenigen schnellen Schritten war er mit ihm gleichauf und trennte mit einem glatten Schnitt seinen Kopf von den Schultern. Der nächste Feind hatte weniger Glück. Seinen Kopf hämmerte Cornell so oft schmerzhaft gegen die Reling, bis ihm der Schädel in zwei Hälften barst. Ein sausendes Geräusch, verriet Cornell, dass schon wieder auf ihn geschossen wurde, diesmal mit einer Armbrust. Der Pfeil kam ähnlich der Pistolenkugel, stark verlangsamt auf sein Gesicht zugeflogen. Diesmal wich Cornell zwar auch aus, berührte aber mit dem Zeigefinger das Ende des gefiederten Pfeils und veränderte damit seine Flugbahn so, dass er einem anderen Piraten genau zwischen den Augen stecken blieb. Kurz darauf sah er sich einer Gruppe dreier Fechter gegenüber, die wie wild mit ihren Degen in seine Richtung fuchtelten. Da er auf der Akademie Fechtunterricht genossen hatte, konnte er gut beurteilen, dass es sich bei diesen Exemplaren um erfahrene Kämpfer handelte. Die Bewegungen der langen Stichwaffen kamen Cornell so langsam vor, als habe er Tage Zeit um ihre Schläge abzuwehren. Bis die Klingen seinen Körper erreichten, überlegte er sich einen Konter, mit dem er sowohl ihre Angriffe abblocken- als auch ihre Körper auf der Hälfte durchtrennen konnte.
Nach nur fünf Minuten war das Drama vorbei. Alle Gegner waren besiegt und die Schiffsplanken mit Blut getränkt. Nun galt es, die Leichen von Bord zu werfen, wobei ihm der Captain, der den ganzen Kampf über nicht einen Finger gerührt hatte, jetzt wieder behilflich war. Wie kann das sein, ich kann doch nicht allein eine achtzigköpfige Truppe von schlachterprobten Seeräubern besiegt haben, schoss es Cornell durch den Kopf. Gerade wollte er sein Schwert vom Blut der Feinde säubern, als er feststellte, dass das Blut in der Klinge zu versiegen schien. Das Schwert nährt sich von Blut, ein absurder Gedanke, der Cornell jedoch bei dieser dämonischen Waffe nicht sonderlich verwunderte. “Und wie war´s?”, wollte Cornell wissen. “Hast dich geschlagen wie ein junger Gott. Solche Reflexe sind selbst für einen Vampir ungewöhnlich. Verdammt, bist du schnell. Wie fühlst du dich, Champion? Hast du jetzt Lust auf ein Schlückchen Rum?”, und ob er die hatte. Der Captain wies einen Schiffsjungen an, das Blut, soweit es möglich war, aufzuwischen, und ging dann, gefolgt von Cornell unter Deck. In seiner Kajüte angekommen füllte er Cornell einen ordentlichen Krug Rum. “Wahnsinn”, sagte Cornell “man hat mich zwar über die Auswirkungen der Verwandlung informiert, aber mit so einer Wirkung habe ich nicht gerechnet.” sagte er, nachdem er den ersten Schluck Rum hintergekippt hatte. “Sind doch genial, diese Kräfte”, antwortete der Captain, während er sich ebenfalls einen ordentlichen Humpen eingoss. “Wer hätte das gedacht, da bist du also ein richtiger Profi!” Kopfschüttelnd, wandte sich der Captain seinem Rum zu. “Ich meine, ein schönes Schwert zu haben ist eine Sache, damit umgehen, das ist was anderes.” Cornell fühlte sich von soviel Lob geschmeichelt. Dennoch hatte er ein mulmiges Gefühl. Immerhin hatte er zum ersten Mal getötet, noch dazu in Serie. Dem Captain fiel seine Nachdenklichkeit auf: “ Ist es, weil sie tot sind? Daran gewöhnt man sich. Glaub mir, das waren miese Schweine und jeder von ihnen hat sein Schicksal verdient.” “Was wird jetzt eigentlich mit dem Piratenschiff? Lassen wir den Kahn einfach treiben?”, wollte Cornell wissen. “Genau so machen wir das. Was geht uns denn die alte Schaluppe an? Diese Seifenblasen- Piraten haben sowieso keine verwertbare Fracht an Bord. Das einzige, wovon du bei denen profitieren kannst, ist die Kampf- Erfahrung. Früher war das anders. Wenn wir vor zwanzig Jahren ein Piratenschiff geplündert haben, war das immer ein lohnenswertes Unterfangen. Die haben damals jedes verdammte Handelsschiff ausgeräumt. Da gab es manchmal so viel Gold zu holen, dass wir uns gewundert haben, wie die überhaupt noch schwimmen konnten bei dem ganzen Gewicht. Heute ist das anders. Diese nutzlosen Freibeuter haben heutzutage weder Ehre noch anständige Beutegier.”
Nach der Unterhaltung mit dem Captain und einige Becher Rum später legte sich Cornell schlafen. Seine Träume waren verzerrt von den Schreien seiner Opfer. Dazu kam eine geflügelte Gastalt, die schemenhaft über der brutalen Kulisse schwebte, gleich einem Racheengel. Schweißgebadet wachte er zwischendurch immer wieder auf und fiel dann erneut in einen unruhigen Schlaf. Als er endgültig wieder erwachte, musste Cornell erschrocken feststellen, dass seine Flügel wieder gewachsen waren. Sie reichten jetzt fast bis auf den Boden. Aufgrund dieser Tatsache riss er große Löcher in die Rückseite seines Hemds, wo er die Schwingen hindurch zwängte. Dann zog er seinen Reisemantel über und achtete dabei genau darauf, dass er auch seine letzte Feder vollständig bedeckte. So verhüllt ging er an Deck. “Ist dir kalt?”, fragte Captain Horroway. “Nein der Mantel hat andere Gründe. Ich würde sagen, mir macht die Sonne einfach ein bisschen mehr zu schaffen als anderen.” Beide lachten. “Bist du reisefertig? Wir legen in ein paar Stunden in Amsterdam an. Halt dich bedeckt wenn wir da sind. Du kannst niemandem trauen. Rede nur das Nötigste. Ich werde dich zum Zug begleiten und für dich das Wichtigste übersetzen.
Cornell hatte gleich ein viel besseres Gefühl, als er hörte, dass der Seemann ihn begleiten würde. Mit ihm als Mitstreiter rechnete Cornell mit einem sorgenfreien Aufenthalt in Amsterdam. Wenige Stunden noch und er sollte diese fremde Nation kennen lernen. Die Niederlande also und dann gleich von dort aus nach Rom mit dieser neuen Erfindung die sie Eisenbahn nannten. Cornell fand, das war alles sehr spannend, doch hatte er im Moment nicht gerade das Gefühl, etwas zu bewirken. Hoffentlich änderte sich das bald. Die restlichen Stunden vergingen jedenfalls fast wie im Flug. Der Himmel war nach dem Sturm klar. Nicht einmal eine Schönwetterwolke stand über ihnen. Schonungslos brannte die Sonne auf die Black Mary nieder, sodass es Cornell und den Rest der Besatzung unter Deck gezogen hatte. Einzig der Matrose auf dem Ausguck und der erste Steuermann waren noch an Deck geblieben, um unter großen Sonnensegeln ihrer Arbeit nachzugehen. Bald würde man in Amsterdam vor Anker gehen und entsprechend war auch die Stimmung an Bord. Die Seeleute hatten alle ihre ganz eigenen Vorstellungen, was sie in Amsterdam erledigen wollten. Der Aufenthalt in Amsterdam sah zwei volle Tage vor und es gab den Aussagen der Matrosen nach eine Menge, was man in dieser Stadt alles tun konnte. Da gab es zum einen das Glücksspiel, was die Seemänner anscheinend sehr zu schätzen wussten, zum anderen, befanden sich im Hafenviertel einige etablierte Freudenhäuser, die laut den Erzählungen immer einen Besuch lohnten. Des Weiteren bot der Markt eine Fülle an sogenannten Rauschmitteln. Besonders in Mode gekommen war Tabak in Form von Zigarren, Pfeifen und Zigaretten. Der Captain hatte Cornell überredet, unbedingt mal eine davon auszuprobieren. Leider hatte er keine mehr von seiner letzten Fahrt übrig gehabt. Natürlich gab es Tabakwaren mittlerweile auch in London zu kaufen, aber die eindeutig beste Qualität erhielt man nun mal nur in Amsterdam. Einige Mitglieder der Crew waren auch dem Konsum verschiedener Opiate verfallen, welche für einen Vampir zwar nicht gesundheitsschädigend sind einen jedoch bei fortwährender Einnahme langsam weich im Kopf machen. “Wenn du bei gutem Verstand bleiben willst, lässt du lieber die Finger von dem Zeug”, hatte ihn der Captain gewarnt. Cornell hatte ohnehin nicht vorgehabt sich in den Niederlanden zu berauschen. Viel zu dringlich warteten seine Aufgeben auf ihn.
Am späten Nachmittag lief die Black Mary im Amsterdamer Hafen ein. Da gab es einiges zu bestaunen. Schiffe, dreimal so groß wie ihr eigenes, lagen dort vor Anker kleinere Segelboote, Yachten für die bessere Gesellschaft, Fähren, Galeonen und schwere mit Kanonen bewehrte Kriegsschiffe. Vereinzelt sah man auch die neuen Dampfschiffe. Das achtzehnte Jahrhundert war zu Ende und das neue Zeitalter brachte viele technische Neuerungen mit sich, zum Beispiel die Dampfmaschine und der Blitzableiter. Das Bürgertum, der sogenannte dritte Stand, drohte den Adel schon bald zu verdrängen. In England war von Veränderung noch nicht viel zu spüren. Jenseits der Grenzen des neuen vereinigten Königreiches sah das schon etwas anders aus. Das Bürgertum rottete sich in kleinen Grüppchen auf den Straßen zusammen und begehrte gegen den Adel und seine Patriarchen auf. Der Handel mit der neuen Welt florierte. Unzählige Schiffe liefen ein und aus. Ladungen wurden gelöscht und Schiffe neu beladen. Hafennah gab es gigantische Transportunternehmen für den Handel Überland. Tausende Pferdewagen und Kutschen fuhren ein und aus. Dutzende von Malern und freischaffenden Künstlern hielten eifrig mit Pinsel und Ölfarbe die neuesten Entwicklungen im Hafen fest. Eine unbekannte neue Welt tat sich vor Cornells Augen auf, als die Black Mary einfuhr. Dabei bekam er gerade mal einen Bruchteil dessen mit, was hier geschah. Der Captain ließ eine feste Anlegestelle ansteuern, die seit geraumer Zeit für sein Schiff gepachtet war. Cornell befand sich unter den Ersten, die von Bord gingen. Er fühlte sich eher wie ein Tourist unter den vielen Matrosen, die jetzt das Frachtgut abluden. Captain Charles schrie in rauem Ton Anweisungen über das Deck, woraufhin seine Mannschaft eilig seinen Befehlen folgt. Cornell beobachtete das geschäftige Treiben in aller Ruhe vom Steg aus. Segel wurden eingeholt und Leinen vertäut. Der riesige Anker wurde zu Wasser gelassen.
Zwei Stunden später war auf dem Schiff endlich Ruhe eingekehrt und der Captain, stieß wieder zu Cornell, der immer noch unbewegt auf dem Steg verweilte. “Komm ich zeig dir die Stadt. Jetzt ist meine Pflicht getan und wir haben Zeit uns die Beine zu vertreten. Das ist der Vorteil einer Vampircrew: Es geht alles dreimal so schnell wie mit einer normalen Besatzung. Außerdem muss nur ein Mann zum Schutz auf dem Schiff bleiben. Du weißt ja inzwischen selbst, über welche verheerenden Kräfte wir verfügen. Jetzt suchen wir erstmal nach einem geeignetem Hut für dich, sonst verbrennt dir die Sonne noch den Kopf.” Bei diesen Worten, klopfte er sich leicht an den Kopf, den ein riesiger Dreispitz zierte. “Amsterdam bietet viele Einkaufsmöglichkeiten. Ich kenne den besten Hutmacher, den du in der ganzen Stadt finden kannst. Da unsereins weder schwitzt noch friert, kannst du dich auch im Hochsommer bedeckt halten. Glaub mir, es gibt nichts Wichtigeres als eine Garderobe, die dich so gut wie möglich vor der Sonne schützt.” Damit lag er vollkommen richtig, musste Cornell zugeben. Die Sonne machte ihm in letzter Zeit tatsächlich ungemein zu schaffen. Mit diesem Wissen machte er sich nun mit dem Captain auf die Suche nach einem anspruchsvollen Hut. Was seine Kleidung betraf, war Cornell sehr eitel und wählerisch. Außenstehende würden ihn wahrscheinlich sogar als anmaßend beschreiben. Die Straßen in der Nähe des Hafenviertels waren dunkel und verwinkelt, ideale Bedingungen für zwei Vampire auf Einkaufsbummel. Amsterdam hat eine schöne Innenstadt, stellte Cornell fest, je näher sie dem Stadtkern kamen. Mit London konnte Amsterdam zwar seiner Meinung nach nicht mithalten, lohneswert war ein Stadtbummel aber trotzdem allemal. Vor allem zum Kaufen war man herzlich eingeladen, dieses Gefühl, vermittelte einem jedenfalls das Stadtbild. Schon nach einer halben Stunde hatte Cornell den Eindruck, man könne hier für das nötige Entgelt alles erwerben. Es gab für jeden Geschmack und Geldbeutel den richtigen Laden. Schuhe, Mützen und Anzüge bot man feil. Messer, Vorderlader, Revolver, Degen, Säbel, Entermesser, Dolche und Macheten, gab es zu sehen, alles in speziellen Manufakturen angefertigt. Es gab einen kleinen Laden für Uhren und Schmuck. Regenschirme und Spazierstöcke von billigem Buchenholz bis Elfenbein. Samt und Seide, Seiler und Sattlerwaren, Handwerkszeug und Blumensträuße. Gemälde und Kronleuchter, Wanduhren und Sekretäre für jeden war etwas dabei. Ob Liebhaber, Sammler oder Kenner, für jeden gab es das richtige Angebot. Der Captain riet, einen guten Waffenhändler aufzusuchen, gleich nachdem der Hut gekauft sei. “In diesen Zeiten ist es erforderlich, sich gut vorzubereiten. Es herrscht Krieg, mein Freund.” Cornell hielt den Vorschlag für absolut überflüssig, hatte er doch gerade in diesem Moment, das mächtigste Schwert was man sich überhaupt vorstellen konnte, unter seinem Mantel verborgen. Seine Fähigkeiten sprachen außerdem dafür, dass er gänzlich auf jegliche Art von Waffe verzichten konnte.
Bald bogen sie in eine der eher ruhigeren Gassen ein. Vor einem unscheinbaren kleinem Geschäft blieb der Captain stehen. Von draußen, vermittelte es einem den Eindruck, geschlossen zu haben. Die Schaufenster waren nur spärlich beleuchtet und auch die Aufmachung begrenzte sich auf ein nahezu winzig kleines Schild, auf dem geschrieben stand: Van Stadelli- aus Leidenschaft zum Hut! “Na dann immer hereinspaziert”, lud ihn der Captain ein und hielt Cornell die Tür auf. “Lass dich nicht vom äußeren Eindruck täuschen. Stadelli macht seit über zwanzig Jahren die besten Hüte, die du zu kaufen kriegst.” Im Inneren roch es muffig. Der Laden war voll gestellt mit Hüten aller Arten und Formen, aus den verschiedensten Materialien gefertigt. Vom klassischen Zylinder, über den ledernen Dreispitz, bis hin zur Melone war alles vorhanden. Baskenmützen, Spitzhüte, Baretts, Federhüte und sogar Reiterhelme warteten auf Kunden. Stadelli war ein älterer Herr von geringem Wuchs, jedoch mit Charisma. Freundlich kam er hinter seinem blank polierten Tresen hervor und begrüßte seine beiden Gäste in fließendem Englisch. “Willkommen Kapitane, und einen Freund hat er auch mitgebracht, guten Tag junger Mann.” Da die meisten von Stadellis Kunden aus England kamen, hatte er sich im Laufe der Jahre ihre Sprache angeeignet. Davon wusste Cornell natürlich nichts. Im Augenblick war er damit beschäftigt, Stadellis reichhaltiges Angebot zu studieren, während der Captain ein angeregtes Gespräch mit dem Hutmacher führte. Nach einer Weile wandten sich die beiden wieder Cornell zu. “Sie suchen also die geeignete Kopfbedeckung?”, sagte der alte Mann und nahm Cornells Kopf genauer ins Visier. Bevor Cornell etwas sagen konnte, ergriff der Hutmacher wieder das Wort: “Für Sie kommt eigentlich nur ein Trecking- Hut in Frage. Sehr modern und zudem äußerst chic, mit einer breiteren Krempe, damit der nötige Sonnenschutz gewährleistet wird. Die meisten meiner englischen Gäste, legen jedenfalls hohen Wert darauf. Deshalb habe ich den klassischen Trecking- Hut etwas abgeändert und die Krempe breiter angelegt.” Dass Stadellis Spezialhüte etwa anderthalb Jahrhunderte später in ähnlicher Art unter dem Namen Cowboyhut berühmt würden, konnte damals noch keiner ahnen. “Ich werde ihren Kopf ausmessen. Wahrscheinlich habe ich sogar einen vorrätig, der Ihnen passt. Ansonsten müsste ich erst einen Hut für Sie anfertigen. Das könnte einige Wochen dauern, fürchte ich.” “Dann hoffen wir mal, dass er passt”, sagte der Captain. “Mein Freund ist nämlich nur auf Durchreise.” “Ich erinnere mich an einen sehr anspruchsvollen Kunden. Er hat vor geraumer Zeit einen Hut für sich anfertigen lassen, hat ihn aber nie abgeholt. Das war vielleicht die beste Arbeit, die ich je angefertigt habe. Er sah ihnen sogar ziemlich ähnlich. Hatte in etwa dieselbe Kopfform und auch die Gesichtszüge stimmen irgendwie überein. Dürfte jetzt an die vier Jahre her sein, ein bisschen länger sogar. Einen derartigen Auftrag hatte ich noch nie, müssen Sie wissen, Gegerbtes Wolfsleder, Fledermauspelz als Innenfutter. Hat mich ein kleines Vermögen gekostet, das zu beschaffen. Und dann auch noch in Schwarz. Wissen Sie, wie viele schwarze Wölfe es gibt? Ich schätze nicht viele, denn es hat ein ganzes Jahr gedauert, bis ich es bekommen habe. Glücklicherweise ist mein Cousin Jäger. Ich gehe den Hut mal holen”, mit diesen Worten, verschwand der kleine Mann hinter dem Tresen im angrenzenden Lager. Aufgeregt drehte sich Cornell zum Captain um. “Meinst du…?” “Ja, allerdings, das meine ich”, unterbrach der Captain seinen Satz. “Ich habe dir doch gesagt, dass ich deinen Vater oft nach Amsterdam übergesetzt habe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dir dieser Hut passen wird.” “Hoffen wir es. Falls wir uns je wiedersehen, wird Vater große Augen machen, wenn ich seinen Hut trage”, sagte Cornell. “Das Gesicht würde ich nur zu gerne sehen”, lachte der Captain. Ein paar Minuten später, kam der Hutmacher wieder aus seinem Lager und hielt einen runden Karton in der einen, ein Bandmaß in der anderen Hand. “Das ist er”, sagte Stadelli. “Mal schauen, ob er passt”, mit diesen Worten legte er Cornell das Bandmaß an. “Wir scheinen Glück zu haben. Die Maße stimmen genau überein. Es könnte sein, dass es ein paar Millimeter Abweichung gibt, aber das werden wir gleich sehen. Wenn ich bitten darf gnädiger Herr?” Stadelli holte den Hut aus der Schachtel, damit Cornell ihn anprobieren konnte. Der Hut war wirklich prächtig, das sah sogar der Captain, der sonst nur auf seine Dreispitze schwor. Er war absolut perfekt vernäht und passte Cornell gleich wie angegossen. “Den nehmen wir. Egal was er kosten soll. Ein anderer Hut kommt gar nicht in Frage”, bekundete Cornell seine Begeisterung. Auch der Captain hatte nur Gutes anzumerken: “Fürwahr, Stadelli Sie sind ein absoluter Meister! Was kostet er denn?” “Ich werde Ihnen einen Freundschaftspreis machen, der Kapitane kauft schon seit vielen Jahren bei Stadellis ein. Vierhundert Pfund.” “Das ist ein gutes Angebot”, sagte Cornell und war schon mit den Fingern in seinem Mantel verschwunden auf der Suche nach seinem Geldbeutel. “Ich zahle”, warf der Captain ein “Und zwar in Gold! Betrachte es als Abschiedsgeschenk mein Freund.” Der Captain holte einen zerschlissenen Lederbeutel hervor, in dem es fröhlich klimperte. “Das dürfte ausreichen. Wir sehen uns sicher bald wieder Stadelli, vielen Dank für Ihre Hilfe.” Dem Anschein nach, kannten sich der Captain und der Hutmacher tatsächlich ziemlich gut, denn Stadelli, zählte das Gold nicht einmal nach. Er verabschiedete sich herzlich von seinen Kunden und wünschte einen schönen Tag. “Danke Charles”, sagte Cornell, nachdem sie das Geschäft verlassen hatten. “Jetzt haben wir noch knappe sechs Stunden, bevor dein Zug fährt.” “Was hälst du davon, wenn wir etwas essen gehen? Ich kenne eine passable Schlachterei nicht weit von hier. Du brauchst Blut.” “Blut? Unsinn ich trinke kein Blut!”, angewidert, sah Cornell den Captain an. “Dann wirst du sterben. Es ist nichts dabei. Man gewöhnt sich dran, glaub mir. Du kannst dich auch mit normaler Nahrung über Wasser halten, aber zirka aller zwei Wochen brauchst du mindestens einen Liter frisches Blut. Vorzugsweise Menschenblut, wer damit ein Problem hat, kann auch auf Schweineblut zurückgreifen. Fakt bleibt, wer als Vampir durchkommen will, muss ausreichend Blut trinken. Manche von uns halten es so, dass sie jeden Tag ein bisschen trinken, andere alle zwei Wochen eine größere Menge. Wie du es halten willst, kannst du dir aussuchen.” “Wenn überhaupt, dann nur tierisches Blut. Ich bin doch kein Kannibale.” sagte Cornell. “Mit Kannibalismus hat das in unserem Fall gar nichts zu tun. Du gehörst jetzt einer anderen Spezies an. Vergiss das nicht.” Widerwillig, folgte Cornell dem Captain, der sich abgewandt hatte und nun auf direktem Kurs das Schlachthaus ansteuerte. Sie mussten gar nicht weit gehen, bis sie das es erreichten. Es war ein altes Gebäude mit neuem weinroten Anstrich. Beim Eintreten machte Cornell eine erstaunliche Entdeckung.
Er roch das Blut. Zu seiner eigenen Verwunderung musste er feststellen, dass ihm dieser Geruch keinesfalls einen Ekel bereitete. Im Gegenteil, er bekam einen unbestimmten Durst darauf. Der Captain bestellte zwei Liter frisches Schweineblut. Der übergewichtige Schlachter grinste und verschwand. Aufgrund seiner neuen Fähigkeiten, konnte Cornell verstehen, was gesprochen wurde. “Schon wieder so ein perverses Schwein, hat zwei Liter Blut bestellt. Ich erinnere mich noch genau an die drei Kerle von letzter Woche. Ham nen halbes Schwein leer gesoffen. Ham die ganze Kundschaft vertrieben, ekelhaftes Pack, Teufelsanbeter oder so. Wenn die Schweine das Zeug wieder in meinem Laden saufen, ruf ich die Sitte un nen Exorzisten.” Offenbar hatte der Captain dasselbe gehört und so sagte er zu Cornell: “Wir sollten das vielleicht nicht hier drin machen. Es ist besser, wenn wir solange wie möglich unauffällig bleiben.” Als der Schlachter wieder hinter die Theke trat, hatte er einen metallenen Eimer mit Blut in den Händen. “Bitte sehr die Herren. Das macht dann…”, er zögerte kurz, dann sprach er weiter, “wissen Sie behalten Sie ihr Geld. Verschwinden Sie bitte einfach, so schnell es geht.” Es war unmissverständlich, dass er den Besuch der unliebsamen Kunden für beendet, hielt. Dass der Fleischer wenige Augenblicke, nachdem Cornell und der Captain sein Geschäft verlassen hatten, Besuch von drei ganz anderen Gestalten bekam, die sich sehr genau darüber erkundigten, was seine letzten Kunden gekauft hatten und wie sie aussahen, konnten die beiden natürlich nicht ahnen. Nachdem sie jetzt eingekleidet waren und gespeist hatten, hatten Cornell und der Captain beschlossen, eine Bar aufzusuchen. Der Abend löste den Nachmittag langsam ab und der Captain schwärmte Cornell vor, wie erquicklich das Amsterdamer Nachtleben doch war und dass man unbedingt daran teilgenommen haben sollte. Ansonsten habe man etwas verpasst. Unter seinem Reisemantel und seinem neuen Hut, spürte Cornell kaum etwas von der langsam untergehenden Sonne über ihren Köpfen. Momentan konzentrierten sie sich darauf, ein geeignetes Etablissement aufzusuchen. Auch an diesem Punkt konnte der Captain mit seinen hervorragenden Stadtkenntnissen auftrumpfen. Eine halbe Stunde brauchten die beiden dann aber doch, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Mit zunehmender Dunkelheit veränderte sich die Stadt um sie herum allmählich. Straßenmusikanten zogen an allen größeren Plätzen auf. Sie bogen gerade in die Straße ein, wo sich besagte Bar befand, deren Besuch sich nur die bessere Gesellschaft leisten konnte. Cornell, war gerade damit beschäftigt, die wunderschönen mit Stuck verzierten Fassaden zu inspizieren, als ein Schuss die Luft zerriss. Die Kugel, verfehlte den Captain nur um Haaresbreite am Kopf und ließ sein Haar wehen. “Deckung!”, schrie der Captain und Cornell, warf sich auf den Boden. Aus einer angrenzenden Seitenstraße waren drei in dunkelrote Mäntel gehüllte Gestalten erschienen. “Verdammt! Das sind Verräter der Bruderschaft. Diese verfluchten Schweine stellen mir und meinem Schiff schon eine ganze Weile nach.” “Ich glaube, die sind hinter mir her!”, gab Cornell aus seiner unbequemen Position zurück. “Vielleicht sind das dieselben, die für das Verschwinden meines Vaters verantwortlich sind.” Einen kurzen Augenblick lang sahen sie sich an. “Erledigen wir sie!”, sagten beide wie aus einer Kehle. “Pass auf Cornell. Das sind Vampire. Sie sind genau so schnell wie du.” Da hörte Cornell schon gar nicht mehr zu. Eine rasende Wut hatte ihn ergriffen und er wollte nur noch eins, seine Feinde in ihrem Blut liegen sehen. Er rappelte sich auf und stürmte los. Geschickt und mit einer Geschwindigkeit, die für das menschliche Auge nicht mehr zu fassen war, wich er drei Kugeln aus, die ganz sicher in seinem Kopf stecken geblieben wären, hätte er nicht reagiert. Er erreichte im Laufen ein Tempo, mit dem selbst seine Peiniger nicht gerechnet hatten. Als ihn noch gute zehn Meter von seinem ersten Ziel trennten, stieß er sich kraftvoll vom Boden ab und sprang gute sieben Meter in die Luft. Da jetzt Nacht war, brauchte er die Sonne nicht zu fürchten. Er warf seinen Mantel ab und breitete zur Verwunderung aller Beteiligten seine schwarzen Flügel aus. Mit ein paar schnellen Flügelschlägen, stieg er gute dreißig Meter in die Luft. Dann zog er sein Schwert und donnerte, einem Racheengel gleich vom Himmel. Mit einem gezielten Streich, trennte er Fleisch und Knochen. Zwei der Verräter klappten an den Bäuchen auseinander und Blut spritzte über die ganze Straße. Mit einem Satz war er über dem letzten seiner Widersacher, dem Schützen, der es auf den Captain abgesehen hatte. Cornell hielt ihm die Kehle zu und unterdrückte seine Luftzufuhr. “ Wer hat euch geschickt? Was weißt du? Rede!” “Sie werden kommen und euch töten”, sagte der Mann und presste ein irres Lachen hervor. “Mag sein,” antwortete Cornell in nicht weniger irrem Ton. “Aber für den Augenblick bin ich dran. Fühlst du das”, flüsterte er ihm ins Ohr. “Das ist die Nacht. Sie fließt durch meine Venen, wie sie es bei keinem von euch tut. Sie trennt Fleisch von Knochen und Haut von Muskeln”, mit diesen Worten grub ihm Cornell seine Fingernägel in die Stirn und zog ihm dann bei lebendigem Leibe die Haut ab. Danach, schnitt er den Korpus mit seiner Klinge in Stücke. “Möge die Hölle seine Seele verzehren.” Nachdem Cornell seinen blutigen Marathon beendet hatte, kauften sie in der nächsten Bar eine Flasche Absinth und Zigarren. Sie kippten den hochprozentigen Alkohol sogleich über die Leichname. Der Captain rauchte eine Zigarre und ließ deren glimmende Überreste in die grüne Pfütze fallen, in welcher ihre besiegten Feinde lagen. Der Schauplatz verwandelte sich in Sekundenschnelle in eine lodernde Feuerbrunst und der Captain und Cornell machten sich aus dem Staub. “Vampire hinterlassen keine verwertbaren Spuren für die Menschen. Dieser Fall wird wohl als ungeklärt in die Annalen der Geschichte eingehen. Machen wir, dass wir hier wegkommen. Zum Zug kannst du nicht mehr. Wahrscheinlich erwarten sie uns dort schon.”
Texte: Maximilian Müller
Bildmaterialien: Maximilian Müller
Lektorat: Annemarie Müller
Übersetzung: In Arbeit
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Chris Fricke, Annemarie Müller und Dana Jankowski, die mich mit Rat und Tat bei meinem Vorhaben eine Großartige Geschichte zu schreiben unterstützt haben. Allen drei bin ich zu Dank verpflichtet und möchte diesen hier zum Ausdruck bringen.