In Japan gibt es TausendeShinto-Heiligtümer, auch Schreine genannt.
Viele verkaufen Talismane und verheißen göttliche Unterstützung in Lebenssituationen wie Geburt, Eheschließung oder bei Prüfungen. Andere stehen an landschaftlich besonders schönen Punkten, die als heilig angesehen werden.
Es gibt aber auch welche, deren Zweck heute niemand mehr versteht.
Als Takeo durch das Torii ging, blieb er kurz stehen und strich noch einmal, ein letztes Mal, mit der Hand über das verwitterte Holz.
Er sah sich um. Am oberen Ende der steinernen Treppe mit den unregelmäßigen Stufen lag der Platz mit dem Honsha, dem Hauptgebäude. Unzählige Male, in der Kälte des Winters ebenso wie bei brütender Hitze, war er auf das Dach geklettert um es auszubessern, doch konnte er sich nicht erinnern, dass es jemals dicht gewesen wäre.
Der Fensterladen des kleinen Stands daneben, in dem sie hin und wieder Ema, Omikuji und Omamori verkauft hatten, würde sich nun nie wieder öffnen. Alles wirkte leer und verlassen. Einzig das Wasser im Chozuya plätscherte fröhlich wie eh und je. Nur würde sich hier nie wieder ein Gläubiger reinigen.
Oder würde die alte Teru noch mal vorbeischauen? Früher war sie regelmäßig gekommen, sie hatte immer erzählt, wie wichtig das sei. Alle anderen, die regelmäßig gekommen waren, als sein Vater noch gelebt hatte, waren inzwischen gestorben, und auch Teru war schon über 90 Jahre alt und sie hatte Mühe, die Stufen zum Heiligtum zu erklimmen. Vielleicht war sie auch schon gestorben, überlegte Takeo.
Durch die Blätter konnte er die strahlend weiße Fassade des Luxushotels erkennen, das seit ein paar Jahren unten an der Küste stand.
Sein Vater war ganz aufgeregt gewesen, als das Hotel geöffnet hatte und tatsächlich war irgendwann ein Angestellter gekommen, hatte sich den Schrein zeigen lassen und dann noch lange mit seinem Vater gesprochen. Der hatte daraufhin gehofft, dass nun viele Touristen kämen. Er hatte sogar davon gesprochen, wieder ein Mädchen als Miko einzustellen.
Doch das war lange her. Die Touristen waren ausgeblieben.
Takeo erinnerte sich, dass er einmal das Hotel besucht hatte. Er war in einer großen Halle gewesen, die mit einem dicken, dunkelgrünen Teppichboden ausgelegt war. Ein Grüppchen junger Frauen in Bademänteln war schnatternd und lachend an ihm vorüber gegangen.
Takeo hatte die schönen Fotos des Onsen betrachtet, die an der Wand hingen. Man konnte im dampfend heißen Wasser liegen und dabei das Panorama mit der Küste und den Bergen genießen. Texte priesen die Qualitäten des Wassers, das wohltuend und heilsam sein sollte. Auf den Fotos sah man, wie Männer behaglich im dampfenden Wasser lagen und, ein Glas Sake in der Hand, die schneebedeckten Berge betrachteten.
Daneben hingen Poster, die für organisierte Ausflüge warben: „New Fashion Outlet Center – 35 Designergeschäfte in einer einzigen Mall“, „Island-hopping mit einem traditionellen Fischerboot“ und „Tour der 12 Tempel und Schreine“. Die 12 waren auch einzeln aufgeführt, der Schrein seines Vaters war aber nicht dabei. Natürlich kannte er die anderen Heiligtümer, alle waren viel größer und bestens auf Touristen eingerichtet. Wahrscheinlich auch kulturhistorisch bedeutender.
So hatte sich die Hoffnung zerschlagen, dass Touristen kämen. Auch die Leute aus dem Dorf kamen immer seltener, die meisten Jüngeren waren sowieso weggezogen, nach Tokyo oder Osaka, und auch die wenigen, die geblieben waren, besuchten den Schrein kaum.
Als dann sein Vater starb, wusste Takeo, dass ihn nichts mehr in den kalten Bergen hielt. Schon in der Schule hatten sich seine Kameraden über ihn lustig gemacht und ihn als Bergmenschen verspottet. Das Schlimme war: sie hatten recht. Sie lebten in einer anderen Welt als er. Er kannte ihre laute, bunte Welt aus dem Fernsehen.
Wie anders war sein Zuhause; wenn er abends seinen letzten Rundgang machte und das Tor verschloss, drang kein Laut zu ihm als das Rauschen des Waldes und der vereinzelte Ruf eines Vogels.
Takeo fühlte sich frei, als er den Weg entlang ging. ‚Sayonara, dunkler Wald’, dachte er vergnügt. ‚Sayonara, kalte Berge, und: Hallo, Leben!’
Er zog die Sporttasche, die von seiner Schulter zu rutschen drohte, wieder hoch. Wie lange hatte er sich danach gesehnt, ein neues Leben zu beginnen.
Er würde seinen Onkel in Tokyo besuchen, den Bruder seines verstorbenen Vaters. Der war viel jünger als sein Vater und hatte sich immer über diesen lustig gemacht. Bei der Beerdigung hatte er ihn eingeladen, zu ihm zu kommen. Seine Wohnung sei zwar klein, aber er könne so lange bei ihm bleiben, wie er wolle, hatte er ihm versprochen.
Zum hundertsten Mal tastete Takeo vorsichtig nach seiner Geldbörse. Natürlich war sie noch da. Allzu viel war zwar nicht drin, doch es würde genügen, um eine Fahrkarte nach Tokyo zu kaufen und die ersten paar Wochen zu überbrücken.
Danach wollte er sich einen Job suchen. Erst einmal irgendetwas Kleines. Sein Onkel meinte, der Convenience Store bei ihm am Eck suche immer Verkäufer. Damit werde man zwar nicht reich, aber darum ginge es ja auch nicht.
Takeo stellte sich vor, wie er zwischen all den bunten Waren im hell erleuchteten Laden stand. Wenn ein kleines Mädchen käme, würde er es anlächeln und ihm einen Bonbon schenken oder so etwas.
Er würde ein Teil dieser bunten, lauten Welt werden. Er würde diese alte Welt und ihre verstaubten Traditionen endgültig hinter sich lassen. Die Welt seines Vaters … er hielt einen Moment inne, dann schüttelte er diesen Gedanken ab und ging er weiter.
Jetzt gab es ohnehin kein Zurück mehr. Vergnügt ging Takeo die letzten Stufen hinab. Als er noch einen letzten Blick auf den Ort warf, der die letzten 19 Jahre seine Heimat gewesen war, kam es ihm vor, als verspürte er ein leichtes Zittern, als ob der ganze Berg die Luft anhielte.
Deutlich war zu sehen, dass die Alte Mühe mit dem Weg hatte. Sie stützte sich auf ihren Stock und blieb immer wieder stehen. Doch lächelte sie jedes Mal, wenn Sie eine Pause machte. Sie genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht und sog die feuchte Morgenluft tief ein. In den Zweigen glänzten Tautropfen und der Nebel hatte sich noch nicht ganz aufgelöst. Teru freute sich über den Spaziergang.
Sie war glücklich, dass sie bald den Schrein besuchen würde und fragte sich, wie es dem kleinen Takeo ging. Der war ja schon immer ein ruhiger Junge gewesen, aber seit dem Tod seines Vaters schien er ihr noch schweigsamer. ‚Der braucht eben eine Freundin’, dachte sie und lächelte, ‚schade, dass ich keine Mädchen in seinem Alter kenne.’
Als sie durch den Torii schritt, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte.
Alles wirkte vernachlässigt. Auf den Stufen lagen Blätter, die niemand zusammen gekehrt hatte. Oben angekommen, verstärkte sich der Eindruck: Der Platz war leer und verlassen, alle Gebäude waren verschlossen.
Teru lächelte nun nicht mehr. Sie wusch sich die Hände am Chozuya und ging zur Tür des Honsha. Dort hing ein handgeschriebenes Schild, das ihre Befürchtungen bestätigte. Takeo bedankte sich darin für die Treue der Besucher und entschuldigte sich, dass er den Schrein bis auf weiteres nicht weiterführen könne. Er lud alle ein, hier dennoch zu beten.
Erschöpft stützt sich die alte Frau an der Tür ab. War schon alles zu spät?
Oder war es doch nur ein Märchen, das ihr ihre Obachan erzählt hatte? Als Teru noch ein Kind war und mit ihren Geschwistern auf dem Schoß der Großmutter herumgeturnt war, ermahnte die sie stets, recht fleißig zum kleinen Schrein am Berg zu gehen. Schon damals hatte Terus Mutter darüber gelächelt. Der kleine, alte Schrein schien ihr ein Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten, ganz anders als die prächtigen Kaiser-Schreine.
Doch Obachan bestand darauf, dass es wichtig sei, dass alle regelmäßig den Schrein besuchten und so hatte sich Terus Mutter gefügt.
Später dann, als es der Großmutter nicht mehr so gut ging und sie fast nur noch im Bett lag, hatte sie mit Teru über den Schrein gesprochen.
„Meine liebe Teru, ich will dir von dem Schrein erzählen.
Es war vor langer Zeit, als ich selbst noch ein kleines Mädchen war. Noch einiges jünger als du jetzt bist, vielleicht 4 oder 5 Jahre alt. Damals gab es den großen Schrein in der Stadt noch nicht … eigentlich gab es die ganze Stadt noch nicht.
Aber den kleinen Schrein auf dem Berg, den gab es schon. Und er sah damals schon genau so aus wie heute. Uns kam er damals allerdings noch nicht so ärmlich vor; es waren ja alle Häuser aus Holz und so etwas wie unser neues Rathaus – ganz aus Beton! – gab es noch nicht.
Was wollte ich dir eigentlich erzählen? Ach ja. Eines Tages war ich wieder mit meiner Mutter und meinen drei Brüdern beim Schrein. Ich habe mich natürlich gelangweilt und bin ein bisschen herumgelaufen. So lange ich nicht zu weit weg lief oder meinen Kimono schmutzig machte, war das meiner Mutter egal.
Also lief ich durch den dichten Wald, der das Gelände umgibt. Ich weiß nicht mehr, was ich tat, wahrscheinlich sammelte ich Stöckchen oder Steinchen oder so etwas. Plötzlich sah ich eine kleine Höhle vor mir. Vielleicht ein Kaninchenbau, dachte ich und wollte hineinsehen. Natürlich habe ich meinen Kopf hineingesteckt, das ging gerade so. Erst einmal habe ich nichts gesehen, aber … nach einer Weile habe ich etwas gespürt.
Ich habe bemerkt: Irgendetwas ist da drin. Und es hat mich angesehen, nein, es hat mich analysiert, es hat mir auf den Grund meiner Seele geschaut. Frag mich nicht, wie ich das gemerkt habe, vielleicht spüren Kinder das einfach. Ich habe den Kopf herausgezogen und bin schreiend zu meiner Mutter gelaufen. Meine Mutter und meine Brüder haben natürlich nur gelacht, aber der Priester war ganz ernst und wollte genau wissen, was ich gesehen habe. Dann hat er gesagt: ‚kami’.“
Teru unterbrach die Erzählung der Großmutter: „Der Priester meint, du hättest einen kami gesehen?“
„Ja,“ fährt diese fort, „und ich kann dir sagen, es ist kein freundliches Wesen. Glaubst du etwa auch, nur weil eine Wesenheit sehr mächtig ist, muss sie automatisch gut sein? So wie die Menschen im Westen, die an einen lieben Gott glauben?“
„Nein, natürlich nicht, Großmutter.“
„Wenn ein kleiner Junge einen Ameisenhaufen zertritt, erscheint er den Ameisen dann nicht wie ein Gott?
Na, wie auch immer, so war das damals. Und seitdem habe ich den kami jedes Mal gespürt, wenn ich in der Nähe des Schreins war. Ich fühlte seine Anwesenheit in einer Höhle, hinter einem Baum, oder in einem dunklen Gebäude. Immer gerade außerhalb meines Blicks.“
„Hast du ihn denn niemals gesehen?“
„Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich glaube aber, einmal …,“ sie zögert, „einmal war es anders. Es war ein paar Jahre später und ich hatte mich irgendwie schon daran gewöhnt, ihn immer zu spüren, wenn ich an jenem Ort war.
Dieses Mal war ich allein gekommen und war auch nicht so ganz bei der Sache. Ich dachte an die Schule und dachte an einen jungen Mann …“ Sie lächelt ihre Enkelin an, „… ja, Teru, ich war auch einmal jung. Wie dem auch sei, ich saß auf den Stufen zum Honsha, dachte nach und habe wohl vor mich hingestarrt.
Irgendwann bin ich zu mir gekommen und habe bemerkt, dass direkt hinter dem Chozuya etwas stand, keine 5 Meter von mir entfernt. Ich sage nicht: ‚jemand’, denn ich habe sofort bemerkt, dass das kein Mensch war. Es war groß, sehr groß, und irgendwie … dunkel. Ich konnte keine genaue Form festzustellen, vielleicht hatte es auch keine. Es muss wohl bemerkt haben, dass ich es ansah, denn es verschwand ganz langsam wieder im Schatten, wie ein böser Traum, der dem Tageslicht wichen muss.
Ich hatte danach wochenlang Alpträume und wollte nachts das Licht nicht ausmachen, aber ich habe bis heute niemandem etwas davon erzählt. Mein ganzes Leben lang rätsele ich schon, was für ein Wesen das war und ob es böse ist oder gut.“
„Und was denkst du?“
„Früher dachte ich, es müsse böse sein. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Vielleicht ist es weder gut noch böse. Vielleicht ist es einfach nur ganz anders als wir.“ Die Großmutter schweigt nach dieser langen Erzählung.
„Und der Schrein?“
„Den Schrein haben unsere Ahnen vor langer Zeit errichtet. Ich vermute, so lange der Schrein da ist, bleibt auch der kami dort. Ob der Schrein ihn irgendwie gefangen hält oder ob er einfach dort bleiben möchte – wer weiß das schon. Doch sicher ist: dieses Wesen gehört nicht in die Welt der Menschen. Es ist wichtig, dass es dort bleibt, wo es ist.“
Sie sieht Teru in die Augen. „Wirst du zum Schrein gehen, wenn ich nicht mehr bin?“
„Aber obachan, sag doch nicht so etwas. Du lebst doch noch ganz lange.“
„Ich meine es ernst, Teru. Versprich es mir. Bitte.“
„Na gut. Ich verspreche es.“
An dieses Versprechen hatte sich Teru ihr ganzes Leben lang gehalten. Bis ins hohe Alter war sie regelmäßig zum Schrein gegangen und auch jetzt war sie nur ein paar Wochen zu Hause geblieben, weil sie eine schwere Erkältung gehabt hatte.
Doch nun war der ganze Schrein verlassen. Es gab keinen Priester mehr und gewiss war seit Tagen niemand mehr hier gewesen, um zu beten. Teru stand vor dem Honsha und fühlte sich mit einem Mal ganz klein und hilflos. Sie war plötzlich wieder vier Jahre alt, wie ihre Großmutter, als sie den kami das erste Mal traf. Sie spürte, wie sich etwas hinter ihr aufbaute, etwas Gewaltiges, etwas von ungeheurer Kraft.
Teru drehte sich um.
Copyright © 2013 by M.P. Anderfeldt
Cover design by M.P. Anderfeldt
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Tag der Veröffentlichung: 22.05.2013
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