Clara Trautmannstorff
Ende einer
Quizshow
Roman
© Clara Trautmannstorff, Weiterverbreitung nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Verfassers. 1. Ebook-Ausgabe - 2021
Die Handlung dieses Romans und sämtliche Begebenheiten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor weder gewollt noch beabsichtigt. Dies gilt auch für eventuelle Namensübereinstimmungen.
1
Die schweren Schritte kamen näher. Unwillkürlich richtete sich die Frau von ihrer Lagerstatt auf. Obwohl in diesem Zellentrakt mehr als hundert Untersuchungshäftlinge untergebracht waren, ahnte sie gleich, dass dieser Besuch ihr galt. Als sich der schwere Riegel bewegte, nickte sie stumm vor sich hin. Sie hatte sich also doch nicht geirrt. Mit einem leisen Quietschen schwang die Zellentüre auf. Eine stämmige Schließerin in dunkelblauer Uniform baute sich vor ihr auf. Ihr Gesichtsausdruck zeigte keine Regung.
“Besuch für Sie, Schätzchen.“
“Wer?“ fragte die Inhaftierte ohne großes Interesse.
“Na, wer wohl“, antwortete die Uniformierte und deutete unmissverständlich an, ihr zu folgen.
Draußen auf dem Gang empfing sie der Geruch von Bohnerwachs und Desinfektionsmittel. Ein Geruch, an den sie sich seit ihrem Aufenthalt in Untersuchungshaft noch nicht gewöhnen konnte. Es erinnerte sie an das Krankenhaus und an die Flure im Arbeitsamt. Stationen in ihrem Leben, die sie gerne aus ihrem Gedächtnis gestrichen hätte. Nun gesellte sich noch eine dritte Station hinzu. Das Untersuchungsgefängnis.
Der Weg führte sie an den Zellen der anderen Insassen vorbei. Als sie an der Zelle mit der Nummer 624 vorbeikamen, fuhr ihr unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. Hinter der Tür hauste Margret, die heimliche Patin im Knast. Wer Zigaretten, Schnaps oder noch Härteres brauchte, Margret konnte es besorgen. Auch wenn der Preis mitunter hoch erschien. Wer nicht zahlen konnte, dem gewährte Margret anstandslos Kredit. Zehn Prozent pro Woche. Ohne Nebenkosten. Und quasi als Disagio forderte die muskulöse, ehemalige Packerin in einem Versandhaus zudem noch gewisse Zuneigungen beim gemeinsamen Duschen. Auch Ellen war ganz zu Beginn der Untersuchungshaft in die Verlegenheit gekommen, auf Margrets Gefälligkeit angewiesen zu sein. Wenn sie an jene halbe Stunde im Sanitärtrakt zurückdachte, stieg ihr immer noch der Ekel hoch. Aber sie hatte die zwanzig Mark gebraucht, um ihren Sohn anrufen zu können. Doch das Jugendamt weigerte sich, ihr seinen Aufenthaltsort zu nennen. Wehmut legte sich auf ihre Seele. Die beiden Frauen erreichten die nächste Tür. Die Schließerin legte den Zeigefinger auf die Tastatur und tippte eine Zahlenfolge ein. Mit einem kurzen Summen öffnete sich das Stahlgitter. Seufzend folgte sie der Uniformierten.
Die Tür schwang auf, und Ellen wurde in das Vernehmungszimmer geschoben. Die Schließerin deutete stumm auf einen Besuchersessel und nahm dann vor der Tür Aufstellung. Diesmal mussten sie nicht lange warten. Es dauerte kaum zehn Minuten, ehe die Tür ein weiteres Mal aufschwang und eine elegant gekleidete Frau den Raum betrat. Ihre Strafverteidigerin.
“Lassen Sie uns bitte allein“, forderte die Rechtsanwältin, ohne Schärfe in ihre Stimme zu legen.
Die Uniformierte nickte nur kurz und verließ dann widerspruchslos den Raum.
Sandra Landshoff war zehn Jahre jünger als Ellen. Aber nicht nur das Alter unterschied die beiden Frauen voneinander. Sandra Landshoff verkörperte die jung-dynamische Yuppiegeneration par excellence. Gerade erst einunddreißig Jahre alt und stets sonnenbankbraun brauchte sie sich kaum zu schminken. Es hätte ohnehin nicht viel abzudecken gegeben. Höchstens den Ansatz einiger unscheinbarer Lachfältchen um die Augenwinkel. Ganz anders ihre Mandantin. Ellens Gesicht zeigte längst deutliche Spuren von Patina, und ihr rötlich blondes Haar erste graue Strähnen. Kein Wunder. Die letzten zehn Jahre waren die härtesten ihres Lebens gewesen. Noch vor mehr als einer Dekade hatte sie selbst das Leben in vollen Zügen genossen. War erfolgreich im Beruf, bereiste nicht selten exotische Länder, fuhr einen sündhaft teuren Sportwagen und bewohnte ein wunderschönes Appartement in der Innenstadt. Die Männer, oder zumindest die, die sich dafür hielten, lagen ihr zu Füßen. Ellen schluckte rau und knetete die Knöchel ihrer Hände.
“Wie geht’s?“ fragte ihre Besucherin beiläufig.
“Wie soll’s schon gehen?“ entgegnete Ellen.
“Okay, kommen wir zur Sache“, fuhr die Rechtsanwältin in geschäftsmäßigem Ton fort und zog ein paar Unterlagen aus ihrem Aktenkoffer hervor. Für sie war dieser Fall eigentlich Routine. Routine auf dem Weg zur Spitze in der Kanzlei. Wenn sie im anstehenden Prozess erfolgreich war, winkte ihr endlich ein eigenes Zimmer. Direkt neben dem des Seniorchefs. Ein schöner Anreiz.
“Wie geht es Max?“ fragte Ellen.
Die Rechtsanwältin hob die rechte Augenbraue, so, als könne sie die Frage nicht recht verstehen.
“Max?“
“Mein ...“. Ellen stockte.
“Ach so, Max“, lächelte Sandra Landshoff. “Soweit ich weiß, geht es ihm gut. Er ist jetzt im Heim. Irgendwo in Süddeutschland. Wo genau, weiß ich nicht. Das Jugendamt rückt seine Adresse nicht heraus.“
Ein eisiger Stich durchfuhr Ellen.
“Hab‘s geahnt“, murmelte sie.
Sandra Landshoff straffte sich. “Wir sollten jetzt aber nicht über Max plaudern, sondern uns lieber mit dem Fortgang des weiteren Verfahrens beschäftigen, Frau Graf. Wie Sie wissen, steht uns in einer Woche der erste Verhandlungstermin bevor. Ich denke, wir sollten uns ein wenig darauf vorbereiten.“
“Was wollen Sie wissen?“ fragte Ellen.
Einerseits war sie froh, dass sie eine so engagierte Pflichtverteidigerin zugewiesen bekommen hatte, andererseits war ihr das ganze Verfahren zuwider. Eigentlich wollte sie nur eines. In Ruhe gelassen werden. Auch auf die Gefahr hin, den Rest ihres Lebens längsgestreift wahrzunehmen.
“Erzählen Sie mir, was sich in jener Nacht tatsächlich abgespielt hat“, erwiderte ihr Gegenüber.
“Nicht schon wieder“, stöhnte Ellen.
Sandra wurde ungeduldig.
“Sie müssen schon ein bisschen kooperieren, wenn ich Ihnen helfen soll“, rügte sie ihre Mandantin mit schnippischem Unterton. “Es scheint, wenn Sie mich fragen, ohnehin praktisch aussichtslos, für Sie bei Gericht noch etwas herauszuholen.“
“Dann lassen Sie es doch bleiben.“
Sandra versuchte im Gesicht ihres Gegenübers zu lesen. Es gelang ihr nicht. Ellen Grafs Mimik wirkte in diesem Augenblick so verschlossen wie das der Sphinx. Sie überlegte. Jeder vernünftige Strafverteidiger hätte in diesem Augenblick seine Sachen gepackt. Doch das konnte sie nicht. Sie musste diesen verdammten Prozess gewinnen oder zumindest das Beste für ihre Mandantin herausholen. Ob sie wollte oder nicht. Zuviel hing vom Ausgang des Verfahrens ab. Weniger für ihre Mandantin, als viel mehr für sie selbst. Sandra Landshoff wollte endlich das Zimmer neben dem Seniorchef. Sie wollte ihren eigenen Parkplatz und diesen Schnöseln in der Kanzlei zeigen, dass sie die Bessere im Team war. Doch bis dahin schien es noch ein verdammt langer Weg. Und dieser Weg musste ausgerechnet über diese verstockte Mandantin führen. Das Leben war ungerecht.
“Also, ich höre“, erwiderte Sandra unbeirrt.
“Alles, was es von meiner Seite aus zu sagen gibt, steht im Protokoll“, stöhnte Ellen. “Warum lässt man mich nicht endlich in Ruhe?“
“Kann ich Ihnen sagen. Wollen Sie den Rest Ihres Lebens hinter Gittern verbringen?“
“Ist mir im Augenblick sch...egal“, murmelte ihr Gegenüber. “Haben Sie eine Zigarette für mich?“
“Natürlich.“ Sandra nickte und kramte aus ihrer Handtasche ein Päckchen hervor.
Ellen nahm ein Stäbchen entgegen, ließ sich Feuer geben und inhalierte tief. Dann lehnte sie sich weit nach hinten zurück und schloss die Augen. Sandra Landshoff wurde ungeduldig. So kam sie nicht weiter. In der Kanzlei wollte man Erfolge sehen. Also musste sie sich etwas einfallen lassen.
“Vergessen wir einfach einmal, was im Protokoll steht“, erwiderte sie und versuchte, obwohl es ihr schwer fiel, Geduld zu bewahren.
“Himmel, Frau Graf, ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Jetzt helfen Sie mir bitte auch.“
“Wozu?“ meinte die Angesprochene, ohne die Augenlider zu öffnen.
Sandra verlor die Geduld. “Schauen Sie mich an, wenn ich mit Ihnen rede!“
“Mach mal halblang, Mädel“, lächelte Ellen. Dabei öffnete sie das rechte Auge.
“Nennen Sie mich nicht Mädel!“ knurrte Sandra wütend. Beinahe verschluckte sie sich. So kam sie wirklich nicht weiter. Es musste einen anderen Weg geben, an diese verstockte Person heran zu kommen.
“Okay. Ist ja gut“, murmelte Ellen und inhalierte erneut tief. “Tut mir leid. Aber der Umgang im Knast färbt halt auf einen ab.“
“Trotzdem“, wollte sich die junge Rechtsanwältin beschweren, nahm sich jedoch im nächsten Moment wieder zurück.
“Also, was kann ich für Sie tun, Lady?“ seufzte Ellen.
“Die Frage ist eher, was ich für Sie tun kann“, meinte die Frau in dem eleganten Kostüm.
“Sind Sie da so sicher?“
“Wie meinen Sie das?“
Ellen lachte. “Verkaufen Sie mich nicht für dumm, meine Liebe. Sie sind gerade einmal einunddreißig Jahre alt. Sie wollen als Strafverteidigerin Karriere machen. Karriere in einem Job, der normalerweise nur Männern vorbehalten ist. Dies hier ist vielleicht nicht Ihr erster Job, aber der erste, an dem Sie sich messen lassen müssen. Also, was denken Sie? Wer soll hier wem helfen?“
Sandra Landshoff atmete tief durch. Obgleich sie es eigentlich nicht wollte, griff sie selbst nach den Zigaretten und zündete sich ein Stäbchen an. Genauso gierig wie ihre Mandantin sog sie den Rauch in ihre Lungen und stieß ihn im nächsten Moment zur Zimmerdecke empor. Herrgott, was habe ich mir da angetan? Konnte ich mir keinen leichteren Fall aussuchen? Aber als sich wegen der Aussichtslosigkeit des Falles offenbar niemand in der Kanzlei bereit erklärte, Ellen Grafs Verteidigung zu übernehmen, schlug sie blind zu. Und Dr. Lichtenfeld, der Seniorpartner der Kanzlei, hatte ihr auch noch wohlwollend auf die Schulter geklopft. Sie machen das schon, waren seine letzten Worte, ehe er sich in sein Zimmer begab, um dort das Einlochen seiner Golfbälle zu üben. Sie begann ihn dafür zu hassen.
“Okay, lassen wir das“, meinte die junge Rechtsanwältin nach einer Weile. “Trotzdem. Der Termin der Verhandlung steht an, und ich verspüre nicht im Geringsten Lust, hinterher wie ein Idiot vor dem Staatsanwalt zu stehen. Also kooperieren Sie endlich.“
Ellen Graf drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und schaute ihre Pflichtverteidigerin abwartend an.
“Gut, ich höre“, meinte sie schließlich.
Sandra Landshoff seufzte.
“Also noch mal. Was hat sich in jener Nacht tatsächlich abgespielt?“
“Das steht doch alles in den Akten“, stöhnte Ellen. “Ich hab dem Mistkerl ein Brotmesser in die Brust gerammt. Und ich sage Ihnen eines: Ich bereue es nicht einmal.“
“Sie wissen, was auf Mord steht?“ Sandra verzog die Augen zu schmalen Schlitzen. Normalerweise machte man als Anwalt seinem Mandanten keine Angst, aber in diesem Fall schien es nicht anders zu gehen.
“In einigen zivilisierten Ländern der elektrische Stuhl“, antwortete Ellen lakonisch. Ihr Blick wurde ausdruckslos. Mit einem Mal schaute sie an der jüngeren Frau vorbei.
“Wir sind aber nicht in den Vereinigten Staaten“, erwiderte Sandra Landshoff. “Zum Glück für Sie. Aber fünfundzwanzig Jahre in irgendeinem Loch können trotzdem ziemlich nervtötend sein.“
“Machen Sie sich um meine Nerven mal keine Sorgen.“
“Ach, Sie denken, Sie stehen das so einfach durch?“ mokierte sich die Jüngere. “Haben Sie eine Ahnung, ...“
Sandra ließ die Konsequenz offen. Ellen Graf legte den Kopf schräg. Sie grinste schwach.
“Es gibt Schlimmeres.“
“Was soll es Schlimmeres geben?“
“Keine Aussicht auf eine Perspektive zu haben.“
Sandra Landshoff stöhnte genervt auf. “Oh je, eine Philosophin ist unter uns.“
Ungeniert griff Ellen nach der Schachtel mit den Zigaretten und zündete sich ein neues Stäbchen an. Sandra fiel auf, dass ihre Finger dabei ganz leicht zitterten. Ellen lehnte sich erneut mit geschlossenen Augen zurück. Sandra musterte ihr Gegenüber etwas genauer. Ellen Graf war einundvierzig Jahre alt, ledig, Pflegemutter eines dreizehnjährigen Jungen und bis zu ihrer Inhaftierung ein unbescholtenes Blatt. Bis zu jenem folgenschweren Abend, an dem sie vor ihrer Wohnung einen Mann erstach. Niemand aus dem Umfeld ihrer Mandantin wollte diesen Mann bisher gesehen haben. Was also konnte diese bisher unbescholtene Frau bloß zu dieser Tat veranlasst haben? Es war ihr ein Rätsel, aber sie musste dieses Geheimnis lüften. Anders hatte sie keine Chance, vor Gericht wenigstens auf Totschlag zu plädieren. Denn den Ermittlungen der Polizei zufolge konnte man davon ausgehen, dass der Mann arglos war. Der Staatsanwalt plädierte eindeutig auf Mord. Mord aus niederen Motiven, obgleich auch er, was das eigentliche Motiv anbelangte, ziemlich im Nebel stocherte. Unwillkürlich straffte sie sich.
“Ich habe nicht ewig Zeit, Frau Graf“, meinte sie schließlich. “Wollen wir nun zusammenarbeiten, oder soll ich mich für Sie nach einer Kollegin umsehen?“
Ellen Graf hob den Kopf. Ein schwaches Grinsen huschte über ihr Gesicht.
“Ach, hören Sie schon auf“, erwiderte die Frau in der Anstaltskleidung tonlos. “Wenn Sie bloß keine Lust haben, die Polizeiprotokolle zu lesen ...“
“Jetzt habe ich aber die Nase voll!“ fuhr sie die Rechtsanwältin an. Mit bebenden Fingern kramte die Jüngere ihre Unterlagen zusammen und stopfte sie in ihren Aktenkoffer. Wortlos drehte sie sich auf dem Absatz herum und stürmte zur Tür.
“Sie wollen wirklich die ganze Geschichte hören?“ hörte sie die Stimme der Anderen in ihrem Rücken. “Na schön. Wie viel Zeit haben Sie?“
Sandra Landshoff atmete auf. Endlich, durchfuhr es sie. Das war verdammt knapp. Sie wusste nicht, was ihr übrig geblieben wäre, hätte sie das Feld kampflos räumen müssen. Die junge Rechtsanwältin setzte ein geschäftsmäßiges Gesicht auf und drehte sich herum. Langsam ging sie zurück zu dem Tisch, an dem ihre Mandantin immer noch hockte. Demonstrativ stellte sie ihren Aktenkoffer auf der Tischplatte ab.
“Also, ich höre“, meinte sie knapp.
“Gerade eben ging Ihnen der Arsch aber ganz schön auf Grundeis, nicht?“ meinte Ellen und deutete auf den leeren Sessel. Keine Spur von Häme oder Überheblichkeit schwang in Ellen Grafs Worten mit.
“Sie wollen Karriere machen, stimmt‘s? Da käme Ihnen ein so aussichtsloser Fall wie meiner doch ziemlich gelegen, oder irre ich mich? Machen wir uns nichts vor. Ihnen liegt überhaupt nichts an mir. Sie wollen doch nur Ihren eigenen Profit aus der Sache ziehen. Aber was soll‘s? Mir ist sowieso alles egal.“
Sandra Landshoff ließ sich in den dargebotenen Sessel gleiten. Sie griff in ihren Aktenkoffer und zog ein Diktiergerät hervor.
“Okay, Lady. Ganz von vorn. Und ganz langsam.“
Ellen Graf lächelte. “Und natürlich nur die Wahrheit. Nichts als die Wahrheit. Ich weiß schon. Hören Sie zu ...“
2
Der Radiowecker machte mit Nachdruck darauf aufmerksam, dass ein neuer Tag angebrochen war. Seufzend richtete sich Ellen Graf in ihrem Bett auf und streckte sich. Was soll‘s, dachte sie bei sich. Neuer Tag, neues Glück. Also, auf ein Neues. Ellen schwang die Beine über den Bettrand. Gedankenversunken griff sie nach ihrem Morgenmantel und streifte ihn über. Auf dem Weg zu Max‘ Schlafzimmer stolperte sie über dessen Schildkröte. Sie nahm das Tier auf.
“Na, Schildie?“ Sie grinste das Panzertier an. “Was willst du zum Frühstück?“
Die Schildkröte schwieg natürlich. Ellen legte das Tier in ihre Handfläche und riss im nächsten Moment die Tür zum Zimmer ihres Sohnes auf. Max schlummerte wie ein Baby unter seinem Bettlaken. Unwillkürlich musste sie lächeln. Typisch, dachte sie bei sich. Verschläft noch den halben Tag.
“He, Cowboy!“ rief sie halblaut in das abgedunkelte Zimmer. “Zeit zum Aufstehen. Los, hoch! Die Rinderherde wartet!“
Der Junge drehte sich um und schaute sie aus verschlafenen Augen an.
“Was soll das Geblöke?“ fragte er genervt.
“Hurry up, old boy!“ lachte Ellen. “Zeit für die Schule. Komm, nun mach schon! Oder willst du schon wieder zu spät kommen?“
“Scheiß-Schule“, murmelte die Stimme unter der Bettdecke.
“Nun ist es aber gut“, meinte Ellen gut gelaunt. “Also, ab die Post! In zehn Minuten steht das Frühstück auf dem Tisch.“
Ohne sich weiter um die Schlafmütze zu kümmern, putzte sie sich im Bad die Zähne, sprang rasch unter die Dusche und ging dann in die Küche. Als erstes setzte sie die Schildkröte auf ein frisches Salatblatt. An diesem Morgen dauerte es überraschenderweise nur eine halbe Stunde, ehe Max erschien. Lauthals gähnend goss er sich ein Glas Orangensaft ein. Er hinterließ ziemlich deutlich den Eindruck, als hätte er wieder die halbe Nacht vor dem Computer gehockt.
“Na, eine anstrengende Nacht gehabt?“ fragte sie den Jungen.
“Wie man‘s nimmt“, antwortete der Halbwüchsige. “Dieses blöde Programm. Ich haue es Paul noch um die Ohren. Jedes Mal, wenn ich es starte, stürzt mir der Rechner ab.“
“Welches Programm?“ fragte Ellen ohne großes Interesse.
“Ach, so ein blödes Computerspiel ...“
Max stockte und wurde bleich. Ellen begriff. Von seinem wenigen Taschengeld konnte er die Software wohl kaum regulär gekauft haben.
“Raubkopie, stimmt‘s?“
“Was du nur wieder denkst“, versuchte Max abzulenken.
“Soll ich mich nachher darum kümmern?“
“Untersteh dich. Du bringst mir nur noch mehr durcheinander.“
“War ja nur so eine Idee.“ Sie wusste, dass Max nichts mehr hasste, als wenn sich jemand an seinem Rechner zu schaffen machte. Es war ein uraltes Gerät, das sie irgendwann einmal für wenig Geld über eine Zeitungsannonce erworben hatte.
“Was ist mit Latein?“ wollte sie anschließend wissen. “Du schreibst doch heute eine Arbeit, oder irre ich mich?“
“Alles im grünen Bereich“, murmelte der Junge.
“Dann ist‘s ja gut“, erwiderte sie ohne großen Enthusiasmus. Max hatte gestern bestimmt nicht für fünf Minuten in sein Lehrbuch geschaut.
“Agricola, der Bauer“, gluckste ihr Gegenüber.
“Was du nicht sagst“, knurrte Ellen. “Welche Präpositionen stehen beim Ablativ?“
“Ach, nerv mich doch nicht schon am frühen Morgen.“ Max winkte ab.
Ellen blieb hartnäckig. “A und ab, ex und e, cum und sine ... Na, wie geht‘s weiter?“
“Präfix“, antwortete ihr Pflegesohn.
“Spinner“, lachte Ellen. “Prä und de, wolltest du wohl sagen. Bin gespannt, wie du die Arbeit heute schreiben willst. Wenn du die schon wieder in den Sand setzt, ist Schluss mit lustig. Das habe ich dir prophezeit. Dann kannst du dir Computer und Fußball abschminken. Dann gibt es Nachhilfe. Und zwar bis die Schwarte kracht. Hörst du?“
“Oh, Mann!“ stöhnte der Junge. “Jetzt geht das schon wieder los.“
Ellen nickte. “Ja, das geht los. Ganz bestimmt, wenn du mit einer Fünf nach Hause kommst.“
“Warum gehst du nicht für mich in die Schule?“ maulte der Junge weiter und verzog das Gesicht. “Du weißt doch ohnehin alles besser.“
“Unfug“, lächelte Ellen. “Es gibt halt Dinge, die bleiben einem im Gedächtnis hängen.“
“Ja“, brummte Max. “So wie binomische Formeln und all dieser Sch...“
“Max!“ zischte Ellen. “Benimm dich! Solche Ausdrücke dulde ich nicht bei Tisch!“
“Sorry.“ Der Junge machte ein betretenes Gesicht.
Eigentlich bestand gar kein Grund, sich bereits am frühen Morgen mit Ellen zu streiten. Sie war zwar nur seine Pflegemutter, aber seit er zurückdenken konnte, hatte sie ihm nie das Gefühl gegeben, ‘nur‘ ein Pflegekind zu sein. Ganz anders in der Pflegefamilie, wo ihn das Jugendamt zunächst untergebracht hatte. Da war er immer nur der Außenseiter gewesen. Anfangs hatte er nicht verstanden, warum. Erst als er in den Kindergarten kam, wurde ihm sein Schicksal bewusst. Die übrigen Kinder machten vom ersten Tag einen weiten Bogen um ihn. Max war mit einem Feuermal zur Welt gekommen. Es bedeckte seine gesamte rechte Gesichtshälfte von der Stirn bis zum Hals. Alle nannten ihn nur ‘Rothaut‘ oder, im besten Fall, ‘Winnetou‘. Ellen war der erste Mensch gewesen, der ihn so nahm, wie er war. Sie hatte ihn selbstbewusst gemacht, ihm erklärt, dass man nicht gleich mit Fäusten auf Menschen losgehen durfte, nur weil sie dumme Bemerkungen über sein Aussehen machten. Als Max seine angehende Pflegemutter kennen lernte, galt er noch als extrem schwierig und praktisch nicht erziehungsfähig. Die Leute, bei denen er bis dahin wohnte, wollten ihn deshalb auf dem schnellsten Weg los werden. Ellen hingegen hatte nicht eine Minute gezögert, ihn bei sich aufzunehmen. Mit ihr konnte er über alles reden. Sie war für ihn mehr ältere Freundin statt Mutter. Nur, wenn er sie fragte, wie sie überhaupt auf ihn aufmerksam geworden war, zumal sie in einer ganz anderes Stadt lebte, zeigte sich Ellen einsilbig. Das sei halt eben ihre soziale Ader, pflegte sie stets zu frotzeln.
“Woher weißt du eigentlich soviel?“ meldete er sich nach einigen Augenblicken wieder zu Wort. “Zum Beispiel Latein. Oder den anderen Kram. Das ist ja beinahe schon unheimlich. Bei meinen Kumpels gibt es niemanden daheim, der soviel weiß. Warst du in der Schule eine Streberin?“
“Unfug“, erwiderte Ellen, ohne eine Miene zu verziehen. “Ich habe halt einfach nur im Unterricht aufgepasst. Das solltest du lieber auch tun. Und ein bisschen mehr die Nase in die Schulbücher stecken. Anstatt die halbe Zeit vor dem Computer zu hocken oder Fußball zu spielen.“
“Was macht deine Arbeit?“ versuchte er vom Thema abzulenken.
Ellen lachte hell auf. “Schöner Versuch, mein Freund. Danke für‘s Mitspielen. Also, wir haben uns verstanden?“
“Ja, okay“, meinte er halblaut.
Ellen warf einen Blick auf die Uhr. “Es wird Zeit, mein Junge. Der Schulbus. Ich drücke dir die Daumen.“
Einen Augenblick später fiel bereits die Haustür ins Schloss. Seufzend räumte Ellen den Frühstückstisch ab und begab sich dann ins Zimmer ihres Sohnes, um das Bett zu machen. Beim Wegräumen seines Schlafanzugs fiel ihr Blick unwillkürlich auf das kleine Bord neben dem Computer. Dort lagen, säuberlich aufgeschichtet, eine ganze Reihe von CDs. Sie nahm die oberste in die Hand. Unwillkürlich musste sie grinsen. Kein Label. Als hätte sie es geahnt. Natürlich eine Raubkopie. Sie musste wirklich bald mal ein ernstes Wort mit dem Jungen reden. Unschlüssig drehte sie die Metallscheibe in der Hand hin und her. Es war noch nie ihre Art gewesen, ihm hinterherzuspionieren. Vertrauen galt seit jeher als das oberste Gebot in ihrer Gemeinschaft. Doch diesmal siegte ihre Neugier. Mit flinken Bewegungen schaltete sie Rechner und Monitor an und legte die CD ein. Musik ertönte, und das Gesicht eines bekannten Fernsehmoderators erschien auf der flimmernden Mattscheibe.
“Ach, der schon wieder“, brummte sie und suchte bereits den Schalter zum Abschalten, doch im nächsten Moment verharrte sie in ihrer Bewegung.
“Wollen Sie Ihr Wissen testen?“ näselte der Kerl auf dem Bildschirm. “Oder wollen Sie sich gar für meine Sendung fit machen? Nur zu! Klicken Sie auf ...“
Ellen hörte gar nicht mehr hin. Ein wenig ratlos starrte sie auf die Eingabemaske für ein Ratespiel, das auch im Fernsehen lief. So was. Sie wusste gar nicht, dass sich Max neuerdings für Quizsendungen interessierte. Na, ihr sollte es recht sein. So kam der Junge wenigstens nicht auf dumme Gedanken, und schaden würde ihm das Computerspiel bestimmt nicht. Auch wenn es ihr lieber gewesen wäre, er würde seine Nase endlich in sein Lateinbuch stecken. Von wegen Agricola, der Bauer. Dieser Lausekerl! Kopfschüttelnd schaltete sie den Rechner wieder aus. Eine halbe Stunde später machte sie sich auf den Weg in die Firma.
“Ah, Frau Graf“, wurde sie bereits beim Betreten des Ladenlokals begrüßt. Die Stimme gehörte Sybille Weber, der Filialleiterin. Ihr penetrantes Vorgesetztengehabe konnte einem manchmal schon gewaltig auf die Nerven gehen. Besonders um halb neun in der Frühe. Auch wenn man noch so gut gefrühstückt hatte.
“Morgen, Frau Weber.“ Ellen versuchte sich an ihrer Vorgesetzten vorbeizudrücken.
“Nicht so eilig, junge Frau“, erwiderte ihre Chefin und wollte sie am Ärmel festhalten.
“Was gibt‘s?“ fragte Ellen und wischte ihre Hand beiseite.
“Wo haben Sie die Sonderangebote hingeräumt?“
“Nun lassen Sie mich doch erst einmal richtig reinkommen“, brummte Ellen und knöpfte dabei ihren Mantel auf. “Welche Sonderangebote überhaupt?“
“Die Deo-Sticks und die Waschlotionen, die gestern geliefert wurden“, erwiderte ihre Chefin.
“Keine Ahnung.“ Ellen zuckte die Schultern. “Fragen Sie doch Mathilde. Vielleicht weiß die ...“
“Mathilde, Mathilde. Hatte ich Ihnen nicht den Auftrag erteilt, sich darum zu kümmern?“
“Mathilde ist immer noch für die Körperpflegeartikel zuständig“, widersprach Ellen. “Aber ich kümmere mich darum. Vermutlich ist sie gestern abend nicht mehr zum Einräumen gekommen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete Ellen die Tür zum Personalraum und verschwand.
“Was ist denn mit der schon wieder los?“ fragte Ellen, während sie ihren Spind öffnete und Mantel gegen Kittel austauschte.
“Menopause“, frotzelte Lucie, die jüngste der drei Verkäuferinnen. Mit ihren kurz geschorenen und neuerdings auch noch grell gefärbten Haaren sah sie nicht nur frech aus. Sie war es auch.
“Vermutlich wieder mal tote Hose daheim“, hieb Mathilde gleich mit in die Kerbe.
Ellen grinste vor sich hin. Typisch für die Mädels. Im Personalraum die dicke Lippe riskieren, aber draußen im Laden gleich wieder kuschen.
“Wo hast du die Waschlotionen und die Deo-Sticks verkramt?“ fragte sie die ältere der beiden anderen Verkäuferinnen.
“Ach, du Sch..., äh, Schreck“, stöhnte Mathilde auf. “Die sind noch im Lager. Himmel, man kann doch nicht an alles denken. Das kommt davon, wenn die einen so irre macht.“
“Mach dir mal keinen Kopf“, entgegnete Ellen. “Aber sieh zu, dass der Kram nachher in die Regale kommt. Draußen hängt schon seit gestern das Plakat mit den neuen Sonderangeboten.“
Mathilde nickte. “Mach ich.“
Nachdenklich schaute sie Ellen an. “Manchmal denke ich, die da oben haben einen riesigen Fehler gemacht, als sie dir diese Zicke vor die Nase gesetzt haben.“
Ellen winkte ab. “Ach wo. Die Weber war halt vor mir dran. Im übrigen arbeitet sie bestimmt zehn Jahre länger für die Firma.“
“Trotzdem“, murmelte Mathilde.
“Ich frage mich sowieso, was du hier zu suchen hast.“ Dabei schmierte sich Lucie ungeniert eine gehörige Portion Gel in die raspelkurzen Haare. “Für den Job bist du doch völlig überqualifiziert.“
“Das lass mal meine Sorge sein“, wies Ellen sie zurecht. “Und jetzt hurtig, Mädels. Es ist gleich neun.“
“Yes, Sir!“ stieß Lucie hervor und salutierte dabei stramm.
“Nimm dich bloß zusammen!“ Ellen verzog das Gesicht, doch richtig böse war sie dem Mädchen nicht. Lucie hatte ja Recht. Manchmal fragte sie sich selber, was sie in einer Drogeriefiliale zu suchen hatte. Damals hatte sie ganz andere ...
Ellen schluckte heftig. Damals. Das war so lange her.
“Habt ihr gelesen?“ Atemlos klopfte Mathilde mit dem Knöchel ihres Zeigefingers auf die aufgeschlagene Seite eines bekannten Boulevardblattes. Ellen und Lucie räumten gerade ein paar Regale leer, um Platz für neue Ware zu schaffen.
“Was?“ fragte Ellen uninteressiert. Wenn Mathilde so aufgeregt war, dann war entweder Prinzessin Caroline schwanger oder Boris Becker trennte sich gerade mal wieder von einer seiner Freundinnen. Nichts, für das es sich gelohnt hätte, auch nur den Kopf zu heben.
“Der Typ, der gestern bei diesem Fernsehquiz mitgemacht hat“, antwortete die Ältere atemlos. “Der hat doch tatsächlich achtzigtausend Euro abgestaubt.“
“Na und?“ erwiderte Ellen gelangweilt. “Welches Quiz überhaupt?“
“Was treibst du eigentlich abends?“ wollte die Angesprochene wissen.
“Lass mal sehen“, rief Lucie und nahm ihrer Kollegin die Zeitung aus der Hand. “Tatsächlich. Du glaubst es nicht. So ein Milchgesicht. Der und Achtzigtausend. Die Welt ist echt ungerecht.“
“Wusste gar nicht, dass wir eine Philosophin unter uns haben“, brummte Ellen und zog die Jüngere zurück zum Regal. “Komm, mach hin. Wir haben nicht ewig Zeit.“
“Himmel, dich kann man aber mit gar nichts beeindrucken“, meinte Mathilde kopfschüttelnd. “Also, wenn ich soviel Geld hätte, ...“
“Hast du aber nicht.“ Ellen bückte sich zum unteren Regalfach. “Also gib Ruhe.“
“Mit dir ist aber auch gar nichts los“, beschwerte sich Mathilde. Sichtlich beleidigt faltete sie die Zeitung zusammen und verbarg sie unter dem Kittel. Sie hatte entweder verdammtes Glück oder ziemlich gute Ohren. Gerade in diesem Moment bog die Filialleiterin um die Ecke.
“Sind die Damen beim Plausch?“ meinte sie schnippisch.
“Nee, bei der Arbeit“, antwortete Lucie frech.
Sybille Weber wollte bereits tief Luft holen, um ihrem Ärger Luft zu machen, doch Ellen fiel ihr vorsorglich in Wort.
“Nun mal ruhig Blut“, meinte sie. Ihr Rücken schmerzte. Das tat er seit letzter Zeit immer häufiger. Vielleicht sollte sie sich doch langsam nach einem anderen Job umsehen. Schließlich war sie keine Zwanzig mehr. Andererseits, Mathilde ging langsam auf die Fünfzig zu.
“Sehen Sie lieber zu, dass Sie nach vorne kommen“, knurrte die Weber unfreundlich. “Da stehen Kunden an der Kasse.“
Ellen atmete tief durch. Schließlich nickte sie und machte sich wortlos davon. Lucie und Mathilde schauten ihr ratlos hinterher.
“Und Sie machen hier weiter“, zischte die Filialleiterin.
“Ich sag‘s ja. Menopause“, flüsterte Lucie, als sie sich unbemerkt wähnten.
“Halt bloß die Klappe“, erwiderte Mathilde kopfschüttelnd.
Max stürmte in die Küche. Ellen bemühte sich in diesem Augenblick die T-Shirts ihres Sohnes so zu bügeln, damit sie auch ihre Form behielten. Es war schon ein Kreuz mit dieser billigen Kaufhausqualität. Aber Markenware konnte sie sich beim besten Willen nicht leisten. Soviel warf ihr Job als Verkäuferin nicht ab.
“Warst du an meinem Computer?“
“Wie kommst du denn darauf?“
“Weil noch eine CD im Schacht war“, beschwerte sich der Junge. “Ich weiß genau, dass sie auf dem Stapel lag, als ich zur Schule ging.“
“Ja, richtig“, meinte Ellen beiläufig. “Ich wollte nur mal wissen, mit was du dir die Zeit vertreibst.“
“Spionierst du seit neuem hinter mir her?“
Ellen schüttelte den Kopf. “Rede keinen solchen Blödsinn, Cowboy. Wegen mir kannst du soviel herumquizzen, wie du willst. Meinen Segen hast du.“
“Trotzdem“, blieb der Junge hartnäckig. Ellen Graf blickte von ihrer Arbeit hoch. Ihr Gesicht wirkte mit einem Mal streng.
“Okay, wenn du nicht willst, dass ich irgend etwas von dir anrühre, dann darfst du ab sofort dein Bett selber machen, saugen und Staub wischen. Und auch bügeln. Am besten fängst du gleich mit deinen T-Shirts an. Ich habe Besseres zu tun, als für dich das Dienstmädchen zu spielen.
Max zuckte zurück. “So war das doch nicht gemeint.“
“Dann mache hier auch nicht solch eine Schau.“
Ellen musste unwillkürlich schmunzeln. Inzwischen redete sie daheim schon genauso wie im Betrieb.
“Mal was anderes“, wechselte sie das Thema. “Wie war die Lateinarbeit?“
“Ging so“, antwortete der Junge.
“Mulmiges Gefühl?“
“Nein. Alles im grünen Bereich.“
Ellen musterte den Junge. Immer, wenn er aufgeregt war, sich heftig ärgerte oder die Unwahrheit sagte, glühte sein Feuermal im Gesicht besonders stark. So wie auch in diesem Augenblick. Sie bemühte sich, es zu übersehen. Insgeheim rechnete sie durch, für wie viele Nachhilfestunden ihr Gehalt wohl reichen würde. Vermutlich für ziemlich wenige. Es musste auch so irgendwie gehen. Wenn sie bloß endlich eine Gehaltserhöhung bekäme. Aber in dieser Hinsicht zeigte sich die Firmenleitung stur. Man zahlte den gewerkschaftlich ausgehandelten Mindestlohn. Basta.
Als Ellen Graf kurz vor neun Uhr abends vom Sprachunterricht in der Volkshochschule zurück nach Hause kam, glaubte sie, ihren Augen nicht zu trauen. Max hockte doch tatsächlich vor dem Fernseher. Ausgerechnet Max, der Fernsehsendungen eigentlich abgrundtief spießig fand. Normalerweise traf er sich um diese Uhrzeit mit seinen Kumpels auf dem Sportplatz zum Fußball spielen. Der Platz war bis zehn Uhr mit Flutlicht ausgeleuchtet. Dabei taten sie immer so, als wären sie die großen Bundesliga-Champions.
“Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Du und fernsehen?“
“Was dagegen?“ antwortete der Junge, ohne den Blick von der Mattscheibe abzuwenden.
“Was schaust du dir überhaupt an?“
“Ach, dieses Fernsehquiz mit dem blöden Bernd Gerber.“
“Warum schaust du dir denn die Sendung an, wenn der Kerl blöde ist?“
Sie erhielt jedoch keine Antwort. Kopfschüttelnd goss sich Ellen ein Glas Rotwein in ein hochstieliges Glas. Sie liebte Rotwein. Das war der einzige Luxus, den sie sich gönnte. Der einzige Luxus, den sie sich aus ihrem früheren Leben bewahrt hatte. Ja, damals. Ach, das ist doch so lange her.
“Meine Güte!“ stieß Max aus. “So ein Blödsinn. So was kann doch keiner wissen.“
“Was kann keiner wissen?“ meinte Ellen ohne großes Interesse. Sie stand gerade am Bücherschrank und räumte ihre Arbeitsunterlagen beiseite. Aus dem Lautsprecher des Fernsehers drang eine monotone, ziemlich nervtönende Taktfolge.
“So ein Quatsch!“ schimpfte Max weiter. “Klar, wenn es auf die hunderttausend Euro zugeht, dann versuchen sie einen natürlich abzuservieren.“
“Wer serviert wen ab?“ fragte Ellen.
“Dieser blöde Bernd Gerber“, rief Max. “Schau nur mal, wie hämisch der den Kandidaten angrinst. Dem könnte ich so eine reinhauen.“
“Wieso?“ Sie drehte sich herum und warf einen Blick auf die Mattscheibe.
“Ja, stimmt“, pflichtete sie dem Jungen anschließend bei. “Der grinst genauso schräg wie einer der Typen aus der Firmenleitung.
Sie schaute genauer hin. “Ist das die Frage, die der Mann beantworten soll?
Immer noch ertönte die monotone Taktfolge. Das Grinsen des Moderators wurde penetranter. Er schien sich an den Schweißperlen, die dem Kandidaten auf der Stirn standen, förmlich zu ergötzen.
Max nickte heftig. “Wie hieß der Festungsbaumeister Ludwig des Vierzehnten. Sag selbst. Wer weiß denn so was?“
“Vauban“, erwiderte Ellen und glitt in den freien Sessel. “Sebastien Vauban.“
Max fuhr herum. “Du spinnst!“
“Überhaupt nicht. Hab ich irgendwo mal gelesen.“
“Glaube ich nicht“, keuchte der Junge. “Du willst mich bloß für dumm verkaufen, nicht wahr?“
“Würde ich nie tun“, lächelte seine Mutter.
“... richtige Antwort ist: Sebastien Vauban“, kam es aus dem Lautsprecher. Die monotone Melodie verstummte. Gleichzeitig setzte ein vielstimmiges Seufzen ein. Die Quittung des Publikums für das Versagen des Kandidaten.
“Danke für‘s Mitmachen“, meinte der Moderator und schüttelte dem Kandidaten, dem jetzt noch mehr Schweiß auf der Stirn stand, überschwänglich die Hand. “Na ja, man kann nicht immer gewinnen. Und nun, meine Damen und Herren, die nächste Chance, die vielleicht das Leben verändern kann. Immerhin geht es bei uns um zwei Millionen Euro ...“
“Das hast du doch geraten“, beschwerte sich Max.
“Ich habe dir doch gesagt, ich habe es irgendwo mal gelesen“, fuhr ihm Ellen über den Mund.
“Das glaube ich einfach nicht. Der Kerl verquizzt seinen Joker, überlegt fast zehn Minuten, und du weißt die Antwort auf Anhieb.“
“War auch keine besonders schwere Frage“, verteidigte sich Ellen. “Na ja, solange man die Antwort weiß, ist keine Frage besonders schwer.“
“Hör mal“, widersprach der Junge. “Das war die vorletzte Frage im zweiten Level. Soweit sind bisher erst fünf Leute gekommen.“
“Wie schön für die Leute“, murmelte Ellen und machte es sich auf der Couch bequem. Der Tag war lang und anstrengend gewesen. Sie wollte eigentlich nur noch ihre Ruhe. Doch Max ließ nicht locker.
“Pass auf! Gleich kommt der nächste ...“
Ein durchdringender Ton deutete das Ende der Sendezeit an.
“Mist!“ schimpfte Max. “Schon zu Ende.“
“Freu dich doch“, erwiderte Ellen unbeeindruckt. “Dann brauchst du dich auch nicht mehr über diesen blöden Moderator zu ärgern.“
Max schaute seine Pflegemutter durchdringend an. “Hast du morgen abend etwas vor?“
“Wieso fragst du?“
“Morgen kommt bereits die nächste Folge dieser Quizsendung. Dann kannst du ja beweisen, ob du wirklich so gut bist.“
“Ich habe nie behauptet, dass ich gut bin“, rügte sie den Jungen. “Ich habe lediglich die Antwort auf diese Frage gewusst. Und jetzt gib Ruhe. Ich will noch etwas lesen.“
Der nächste Tag begann wie der vorangegangene. Sie weckte Max, fütterte die Schildkröte und richtete das Frühstück her. Nein, etwas war anders an diesem Morgen. Max erschien bereits nach fünf Minuten am Frühstückstisch. Eine geradezu rekordverdächtige Zeit.
“Also, du bist heute abend daheim?“ fragte er zur Begrüßung. Sein Feuermal glühte hellrot.
“Guten Morgen, Cowboy“, lächelte Ellen. “Gut geschlafen?“
“Lenk nicht vom Thema ab“, murmelte er und schüttete sich gleichzeitig Cornflakes in eine Schale. “Also, was ist nun?“
“Natürlich bin ich heute abend zu Hause“, antwortete sie erstaunt. “Wo soll ich denn sonst sein? Mein Französischkurs ist, wie du sicherlich weißt, nur einmal die Woche. Und das war gestern.“
“Na, fein“, meinte er sichtlich befriedigt.
Auch an diesem Morgen richtete Ellen wie üblich das Zimmer für den Jungen her. Auf seinem Schreibtisch fand sie achtlos weggelegte Socken, eine Bonbontüte und unter einem Stapel Comics einen Teller mit einem halb abgebissenen Butterbrot. Seufzend nahm sie die Sachen auf, um sie in die Küche zu tragen. Dabei fiel ihr Blick erneut auf den fein säuberlich aufgeschichteten Stapel Metallscheiben. Die CD mit dem Ratespiel lag immer noch obenauf. Stirnrunzelnd schaltete sie den Rechner an, legte die CD in das Laufwerk und startete das Programm. Es ertönte dieselbe Melodie wie gestern in der Sendung. Der Quizmaster erschien als virtuelle Figur und erläuterte den Spielablauf. Die Regeln waren ebenso einfach wie einleuchtend. Ein Kandidat musste sich in drei Spielabläufen jeweils mehreren Fragen stellen. Jeder Spielablauf erreichte ein höheres Level. Für das Erreichen der letzten Frage im dritten Level winkte in der richtigen Fernsehshow die schier unvorstellbare Summe von zwei Millionen Euro. Bar. Cash auf die Hand. Steuerfrei. Unwillkürlich musste Ellen schlucken. Wahnsinn! Was man damit hätte anfangen können. Kurz darauf erschien die erste Frage auf dem Bildschirm. Ellen klickte die richtige Antwort an. Aus den beiden Lautsprechern neben dem Bildschirm ertönte heftiger Applaus.
“Danke.“ Ellen lächelte breit und deutete eine Verneigung an. “Vielen herzlichen Dank.“
Die nächste Frage erschien. Ellen schaute sich die fünf Antwortmöglichkeiten an und klickte auf eine der Optionen. Erneut erscholl Applaus. Diesmal meldete sich auch die Stimme des Moderators. Er sprach ein Lob aus.
“Brich dir keinen ab“, schmunzelte Ellen und wollte bereits eine der Antwortmöglichkeiten für die nächste Frage anklicken, als sie hinter sich ein Geräusch vernahm. Jemand hatte sich unbemerkt ins Zimmer geschlichen. Ellen wirbelte herum.
“Das habe ich mir doch gedacht!“ Max grinste. “Kaum bin ich aus dem Haus, spielst du an meinem Computer herum.“
Ellen runzelte die Stirn. “Wieso bist du nicht in der Schule?“
“Die erste Stunde fällt aus“, meinte er beiläufig. “Hatte ich dir das nicht gesagt? Was treibst du da eigentlich?“
Er schaute genauer hin. “Ach, nee! Die Dame übt heimlich. Jetzt verstehe ich, wieso du immer auf alle Fragen eine Antwort weißt.“
“Da du schon einmal hier bist“, erwiderte Ellen und schaltete den Computer aus, “kannst du gleich noch ein bisschen Erdkunde lernen. Also, mach hin. Noch so eine Pleite wie im vergangenen Monat möchte ich nicht erleben. Das Gespräch mit deinem Pauker war alles andere als erheiternd. Und noch etwas: Spioniere mir nur ja nicht noch einmal hinterher. Das mag ich überhaupt nicht. Schleicht sich einfach unbemerkt zurück in die Wohnung. Das darf doch wohl nicht wahr sein!“
“Okay“, wich Max aus und versuchte gute Stimmung zu machen. “Aber wo du schon einmal hier bist, kannst du mir ja vielleicht ein bisschen helfen.“
“Ich muss ins Geschäft“, widersprach seine Mutter. “Geld für die Frühstücksbrötchen verdienen. Du erinnerst dich?“
Ellen ging zur Garderobe, schlüpfte in ihre Schuhe und nahm den schon lange aus der Mode gekommenen Mantel vom Haken. Ja, seufzte sie vor sich hin. Ein neuer wäre wirklich langsam fällig. Na ja, vielleicht im Herbst. Ich muss halt noch ein bisschen sparen. Max war ihr unbemerkt gefolgt. Er hielt doch tatsächlich einen Stapel Lehrbücher in der Hand. Sie wusste nicht, ob sie erfreut oder sauer sein sollte. Sie ahnte bereits, was folgen würde.
“Wie wird der Anfang der letzten Eiszeitperiode, das so genannte Diluvium, sonst noch genannt?“ wollte er wissen und baute sich demonstrativ vor ihr auf. Er versuchte dabei genauso hämisch zu grinsen wie der Moderator in der Quizsendung.
“Komm, hör mit dem Blödsinn auf“, brummte sie und schob ihn beiseite.
“Ätsch, du weißt es nicht!“ lachte er laut los.
“Okay, du gibst ja doch keine Ruhe. Also, das Diluvium nennt man auch das Pleistozän. Es liegt rund zweieinhalb Millionen Jahre zurück. Damals bedeckten etwa zehn Prozent Eis die Erdoberfläche.“
Max starrte sie mit großen Augen an.
“Elf Prozent“, stammelte er.
“Siehst du“, meinte sie, und ihr Grinsen geriet etwas schief. “Ich weiß also doch nicht alles. Zufrieden?“
“Verdammt“, stieß Max hervor. “Wie machst du das bloß?“
“Du sollst in meinem Beisein nicht fluchen“, rügte sie den Jungen. “Du sollst eigentlich überhaupt nicht fluchen. Wann merkst du dir das endlich?“
Max stellte sich vor die Haustür und versperrte ihr dadurch den Weg. Blitzschnell lag ein anderes Buch in seiner Hand. Er blätterte die Seiten durch, bis er auf ein Lesezeichen stieß.
“Na schön“, brummte er. “Nächste Frage. Welche Ordnungszahl besitzt Plutonium.“
“Vierundneunzig. Und jetzt lass mich endlich gehen, sonst komme ich wirklich noch zu spät zur Arbeit.“
“Das glaube ich nicht!“ ereiferte sich der Junge. “Das glaube ich einfach nicht! Woher weißt du das bloß?“
“Im Leben Augen und Ohren offen halten und nicht nur an Fußball und Computerspiele denken, mein Junge“, antwortete Ellen und schob Max sanft aber bestimmt beiseite.
Sandra Landshoff wechselte die Kassette im Recorder.
“So hat also alles angefangen?“
“So fing es an. Ich wünschte, ich hätte Max damals den Hosenboden versohlt, anstatt mich von ihm provozieren zu lassen.“
“Fühlten Sie sich denn provoziert?“ fuhr Sandra Landshoff fort.
“In gewisser Weise schon“, nickte Ellen. “Na ja, anfangs war ich ja froh, dass sich Max endlich mal für etwas anderes als Computerspielereien und Fußball interessierte. Aber er ließ dann nicht mehr locker. Was sollte ich denn tun? Diese verdammten Quizsendungen wurden ja bald an jedem Abend ausgestrahlt. Ich konnte doch nicht einfach verschwinden. Schließlich brauchte der Junge Ansprache und wenigstens abends ein warmes Essen. Ich durfte ihn doch nicht vernachlässigen.“
“Natürlich nicht. Aber hatten Sie denn keine andere Freizeitbeschäftigung als abends immer nur fernzusehen?“
Ellen schüttelte den Kopf. “Hören Sie, meine Teuerste. Ich stand jeden Tag von neun Uhr morgens bis sechs Uhr abends auf den Beinen. Wenn ich dann nach Hause kam und die Hausarbeit erledigt hatte, wollte ich nichts mehr anderes als die Beine hochlegen. Ich besitze halt nur eine Dreizimmer-Wohnung. Das häusliche Leben spielt sich in unseren Kreisen normalerweise im Wohnzimmer ab. Und da stand der Fernseher. Was sollte ich denn tun? Max das fernsehen verbieten? Machen Sie sich doch nicht lächerlich.“
“Es gibt auch andere Beschäftigungen als fernsehen“, warf Sandra ein.
“Ja, klar“, meinte Ellen. “Tennis spielen oder ins Theater gehen. Dafür fehlte mir aber damals das Geld.“
“Verstehe“, antwortete die junge Strafverteidigerin zerknirscht. Sie konnte sich durchaus vorstellen, dass eine allein erziehende Mutter mit dem Gehalt einer Ladenverkäuferin keine großen Sprünge machen konnte.
“Na, sehen Sie.“ Ellen reckte sich. Sie war müde und ihr Mund fühlte sich wie ein Reibeisen an. “Können Sie etwas zu trinken besorgen?“
“Ich will sehen, was sich machen lässt“, erwiderte Sandra. “Aber mal was anderes. Sie sind eine attraktive Frau in den besten Jahren. Sind Sie nie auf die Idee gekommen, sich nach einem Partner für‘s Leben umzusehen?“
“Natürlich“, erwiderte Ellen. “Aber das ist schwer, wenn Sie ein Kind haben. Erst recht, wenn das Kind vom Aussehen her zudem nicht unbedingt den normalen Vorstellungen entspricht. Ich erinnere mich noch gut an einen Typen, den ich vor Jahren beim Bummeln durch die Stadt kennen lernte. Erst war er wahnsinnig nett. Las mir jeden Wunsch von den Lippen ab. Als ihm dann Max über den Weg lief, ließ er sich nicht mehr wieder blicken. Ich traf ihn dann Wochen später durch Zufall in der Stadt und stellte ihn zur Rede. Er meinte nur ganz lapidar, mit Kindern könne er nichts anfangen. Das war Unsinn. Es lag nur an Max‘ Aussehen.“
“Und was ist mit einer Freundin?“ ließ ihre Strafverteidigerin nicht locker. “Als Frau hat man doch wenigstens eine Freundin.“
Ellen dachte einen kurzen Moment nach.
“Bis vor etwa einem halben Jahr. Heike heißt sie. Wir kannten uns vom Ski laufen. Früher habe ich nämlich viel Sport getrieben. Unheimlich netter Typ. Mit ihr konnte man stundenlang klönen. Aber Heike ist gut fünf Jahre jünger als ich. Irgendwann lernte sie im Urlaub einen Mann kennen. Na ja, wie das Leben so spielt. Der Typ wohnt in Bayern. Besitzt eine Baumaschinenfabrik in Bad Tölz. Heike zog zu ihm, und sie haben dann auch bald geheiratet. Ich habe sie seitdem nicht mehr gesehen. Telefoniert haben wir bestimmt seit drei Monaten nicht mehr miteinander. Sie arbeitet wohl in seinem Betrieb mit.“
“Schade“, bedauerte Sandra.
“Was erwarten Sie?“, entgegnete Ellen. “Man kann doch einen Menschen nicht für die Ewigkeit an sich binden. Aber zumindest eines habe ich dadurch gelernt. Das Sprichwort ‘aus den Augen, aus dem Sinn‘ trifft zu. Bevor sie nach Bad Tölz zog, hat sie mir versprochen, jeden Tag mit mir zu telefonieren. Aus jedem Tag wurde anschließend ein Mal in vierzehn Tagen. Aus vierzehn Tagen schließlich vier Wochen. Von ihrer Einladung, sie doch mal in Bad Tölz zu besuchen, war dann auch nicht mehr die Rede. Ich habe schließlich die Lust verloren, den Kontakt aufrecht zu halten. Ich glaube, unsere Freundschaft war ihrem Mann von Anfang an nicht recht.“
Sandra blätterte in ihrem Schnellhefter.
“Was ist eigentlich mit Ihrer Familie? Aus meinen Unterlagen geht nichts hervor.“
“Meine Eltern starben bei einem Verkehrsunfall“, antwortete ihre Mandantin tonlos. “Da war ich noch in der Ausbildung. Mein Bruder lebt irgendwo im Ausland. Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Er lebt sein eigenes Leben und sucht auch gar keinen Kontakt zu mir. Wir haben uns auch nie richtig gut verstanden.“
“Oh, das tut mir leid“, meinte Sandra bedauernd, doch ihre Mandantin zuckte nur die Schultern.
Ellen schleppte sich die Treppen bis zum dritten Stock empor. In der rechten Hand hielt sie zwei Einkaufstragetaschen, mit der linken umklammerte sie einen Kasten mit Mineralwasser. Normalerweise war das Einkaufen Max‘ Job, aber an diesem Nachmittag hatte er bis fünf Uhr nachmittags Sport-Leistungskurs. Und im übrigen war das Mineralwasser im Angebot. Sie musste schließlich mit jedem Cent rechnen. Heftig atmend setzte sie die Sachen auf dem Treppenabsatz ab und öffnete die Haustür. Sie stutzte. Aus dem Zimmer des Jungen ertönte Hip-Hop-Musik und lautes Gelächter.
Ellen streifte ihren Mantel ab und hängte ihn an den Haken. Dann öffnete sie die Tür zu Max‘ Zimmer.
“Hallo, Männer“, brummte sie halblaut. “Hundert Dezibel weniger, bitte. Und wenn vielleicht ein paar der Herrschaften sich bequemen könnten, mir die Tüten und den Kasten Wasser in die Küche zu bringen. Wenn ihr schon meinen Kühlschrank plündert, dann dürft ihr auch ruhig etwas dafür tun.“
Ohne ein Wort des Widerspruch sprangen Max und seine beiden Freunde auf, drückten sich an ihr vorbei und taten, wie ihnen befohlen. Die Jungen hielten sich gerne bei Max auf. Bei ihm durfte es auch einmal ein bisschen lauter zugehen, ohne dass die Altvorderen gleich ausrasteten. Hinzu kam, dass Max‘ Mutter sehr tolerant gegenüber der gerade angesagten Musikrichtung war. Ein weiterer Vorteil war, dass Max und seine Mutter unter dem Dach wohnten und die Nachbarin im zweiten Stock schon seit Jahren mit einem nur schlecht funktionierenden Hörgerät lebte.
Als Ellen an der Garderobe ihre Schuhe abstreifte, stutzte sie. Im Badezimmer wurde die Spülung betätigt. Es dauerte ein paar Augenblicke, und ein etwa dreizehnjähriges Mädchen betrat den Korridor. Ellen überlegte. Ein hübsches Ding. Doch sie konnte sich nicht daran erinnern, die Kleine jemals gesehen zu haben.
“Hallo“, sagte das Mädchen.
“Hallo“, lächelte Ellen. “Und wer bist du, wenn ich mal fragen darf?“
“Susanne“, antwortete das fremde Mädchen.
Max steckte den Kopf durch den Rahmen.
“Susanne ist in der Parallelklasse“, erklärte er.
“Nett, Sie kennen zu lernen, Frau Graf“, murmelte das Mädchen.
“He, Ellen“, rief Max aus der Küche. “Wo sollen die Büchsen mit den Tomaten hin?“
Susanne zuckte merklich zusammen. Ellen wäre beinahe in schallendes Gelächter ausgebrochen. Typisch Max. Musste natürlich gleich vor seiner Schulkameradin damit angeben, dass er seine Erziehungsberechtigte beim Vornamen nennen durfte.
“Küchenschrank rechts. Erstes Regal von oben.“
Die drei Jungen erschienen und nahmen Susanne in ihre Mitte. Ellen fiel auf, dass Max versuchte, seinen Arm um das Mädchen zu legen. Sie streifte ihn heftig ab. Max‘ Feuermal färbte sich sofort dunkelrot. Krachend fiel die Tür ins Schloss. Kurz darauf ertönte wieder laute Hip-Hop-Musik.
“Dieser Bengel“, murmelte sie vor sich hin. “Keine Vierzehn und macht sich schon an Mädels heran. Na, das wird was werden.“
Ellen ging ins Wohnzimmer, nahm ein Taschenbuch zur Hand und versuchte sich in den Inhalt des Romans zu vertiefen. Es gelang ihr nicht. Immer wieder musste sie an das Mädchen Susanne denken. Max und Susanne? Blödsinn, versuchte sie sich zu beruhigen. Was soll ein Dreikäsehoch wie Max mit einem Mädchen? In dem Alter spielen die doch noch Fußball. Oder etwa nicht? Sie erinnerte sich an ihre eigene Jugend. Mit dreizehn Jahren hatte sie auch einen Freund gehabt. Der war Sechzehn und besaß ein Moped. Als er ihr das erste Mal an den Busen griff, haute sie ihm eine herunter. Den nächsten Freund hatte sie dann erst mit Siebzehn. Und der machte sie auch gleich zur Frau. Ellens Mund wurde bei diesem Gedanken trocken. Sie überlegte, wann sie das letzte Mal Sex hatte. Wann war das doch noch? Vor vier oder fünf Jahren? Damals in Norddeutschland. Sie hatte sich mit einem der Surflehrer angefreundet. Ein netter Kerl. Leider bekam Max während dieser zwei Wochen die Masern. Also blieb es bei dieser einen, wenn auch ziemlich heftigen Begegnung gleich zu Beginn des Urlaubs. Der Surflehrer fand dann schon recht bald neuen Anschluss. Sie blieb bei Max in der Pension, kühlte seinen fiebrigen Körper, las ihm Geschichten vor, und als sie nach Hause zurückkehrte, war sie genauso bleich wie bei der Anreise.
Ellen griff nach der Rotweinflasche, die neben der Couch in einem Regal stand, und goss sich großzügig ein. Sie war jetzt einundvierzig Jahre alt. Ihr Liebesleben existierte höchstens noch in ihrer Vorstellung. Wie auch? Sie hatte doch überhaupt keine Chance, jemanden kennen zu lernen. Tagein tagaus im Laden, abends zum Einkauf, einmal die Woche zur Volkshochschule und, sofern es der Geldbeutel zuließ, am Wochenende ins Kino. All ihr Geld hatte sie in Max investiert. Viel Geld. Ihre gesamten Ersparnisse waren für die Behandlung seines Feuermals drauf gegangen. Anfangs übernahm noch die Krankenkasse die Behandlungskosten, aber als sich die Arztrechnungen auf eine sechsstellige Summe angehäuft hatten, zeigte man ihr die rote Karte. Sie kämpfte indessen weiter. Als Vierjähriger sah Max wirklich zum Fürchten aus. Drei Operationen in Amerika, für die hier natürlich niemand aufkommen wollte, verschlangen das zurückgelegte Geld für eine Eigentumswohnung. Viel hatte es nicht gebracht, aber Max konnte wenigstens eingeschult werden, ohne dass sich seine Klassenkameraden und Lehrer mit Grauen von ihm abwendeten. Die langen Auslandsaufenthalte führten aber auch dazu, dass sie ihren lukrativen Job in der Bank verlor. Als Max acht Jahre alt war, sah sie sich nach einer neuen Verdienstmöglichkeit um. Im Arbeitsamt war sie zwischendurch mehr als daheim. Doch mit Sechsunddreißig wollte man sie nicht mehr umschulen. Also griff sie nach dem Strohhalm und nahm den Job in der Drogeriemarktfiliale an. Ohne Max wäre sie heute vermutlich Leiterin der Wertpapierabteilung. Trotzdem. Sie hatte ihre Entscheidung nie bereut.
“Jetzt muss ich aber mal nachhaken“, unterbrach Sandra Landshoff. “Wie kamen Sie als ledige Frau mit Spitzenjob in einem renommierten Bankhaus überhaupt dazu, Hals über Kopf alles stehen und liegen zu lassen, um sich einem wildfremden Kind zu widmen?“
Ellen Graf erhob sich und wanderte eine Zeit lang ziellos durch das Vernehmungszimmer. Die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand verglühte ungeraucht. Schließlich drehte sie sich zu der Jüngeren um.
“Als ich etwa so alt war wie Sie, endeten meine Beziehungen fast immer in Katastrophen“, räumte Ellen nach kurzer Überlegung ein. Es war ihr deutlich anzumerken, dass sie mit sich rang, wie viel sie von sich preisgeben sollte.
“Ich sah nicht schlecht aus und war auch ziemlich selbstbewusst. Meine Wirkung auf Männer verfehlte fast nie ihr Ziel. Doch dann passierte, was passieren musste. Durch einen blöden Zufall wurde ich schwanger. Der vermeintliche Vater in spe war zu allem Überfluss auch noch gut zwanzig Jahre älter als ich und verheiratet. Eine Ehe kam für ihn ebenso wenig in Frage wie eine feste Liaison. Also entschloss ich mich zu einer Abtreibung. Ich sah keine andere Möglichkeit.“
“Wieso?“ wollte Sandra wissen.
Ellen sah ihre Strafverteidigerin ein wenig schräg an.
“Denken Sie doch mal nach“, meinte die Frau in der Anstaltskleidung. “Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit einem Kerl ins Bett und stellen zu Beginn des nächsten Monats fest, dass Sie einen Volltreffer gelandet haben. Der Typ will nichts von Ihnen; Sie wollen im Prinzip auch nichts von ihm. Es war halt ein Spaß für eine Nacht. Hätten Sie Lust, ein ungewolltes Kind auszutragen und sich hinterher vielleicht noch um die Unterhaltszahlungen zu streiten?“
“Man kann doch Erziehungsurlaub einlegen“, begehrte Sandra auf. “Und wegen etwaiger Unterhaltszahlungen brauchen Sie sich heutzutage auch keine Sorgen mehr zu machen. Dafür gibt es das Vormundschaftsgericht.“
“Was denken Sie, wird Ihr persönliches Umfeld auf Dauer von Ihnen halten, wenn bekannt wird, dass Sie einen Ihrer Bekannten, der zudem auch noch verheiratet ist, ans Messer geliefert haben. Wollen Sie für das Scheitern einer Ehe verantwortlich sein, nur weil man sich in einer lauen Sommernacht nach ein paar Gläsern Rotwein vielleicht ein bisschen zu voreilig näher gekommen ist? Und dann erst die Weiber! Die sind noch viel schlimmer als die Kerle. Hinterher sind Sie nur noch das Flittchen, das zu dämlich war, aufzupassen. Nein, für mich war vom ersten Moment an klar, dass ich alleine mit dem Problem fertig werden musste.“
Sandra schwieg eine Weile. Für sie war die ganze Vorstellung, von einem Mann ein Kind zu bekommen, ohnehin absurd. Aber hier ging es nicht um sie sondern um ihre Mandantin. Gedankenversunken drehte sie das Diktiergerät, das immer noch unablässig lief, in ihren Händen hin und her.
“Und?“ fragte sie nach einer Weile. “Haben Sie abgetrieben?“
Ellen antwortete nicht direkt. Die junge Rechtsanwältin beobachtete das Mienenspiel ihrer Mandantin ganz genau. Als Frau spürte sie instinktiv, dass sie einen ganz wunden Punkt angesprochen hatte. Langsam wurde ihr klar, warum man sie und nicht einen ihrer Kollegen auf den Fall angesetzt hatte. Sie wusste allerdings nicht, ob sie darüber glücklich sein sollte.
“Ich befand mich bereits im Mutterschutz, als ich einen Ausflug an die belgische Nordseeküste unternahm“, antwortete Ellen mit leider Stimme. “Während eines Strandspaziergangs bekam ich plötzlich heftige Unterleibsschmerzen. Zum Glück waren Passanten in der Nähe, die sofort einen Krankenwagen alarmierten. Ich wurde in eine Privatklinik eingeliefert.“
Sandra Landshoff starrte die Frau in der dunkelblauen Anstaltskleidung wortlos an. Ellen räusperte sich.
“Ich hatte eine Fehlgeburt“, fuhr sie mit tonloser Stimme fort.
Instinktiv legte Sandra ihre Hand auf die ihrer Mandantin. Ellen ließ es widerspruchslos geschehen.
“Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet“, fuhr Sandra schließlich fort. “Wieso also Max?“
“Das will ich Ihnen gerne sagen“, lächelte Ellen schwach. “Ich hatte einen Termin in der Nähe von Aachen wahrzunehmen und suchte mir ein Hotelzimmer mitten auf dem Land, weil ich froh war, endlich mal etwas anderes als immer nur Stahlbeton zu sehen. Irgendwann stieß ich beim abendlichen Spaziergang auf eine ältere Frau mit zwei Buben an der Hand. Sie mochten zwischen drei und vier Jahren gewesen sein. Der eine sah völlig normal aus, bei dem anderen hingegen lief es einem schon beim bloßen Anblick eiskalt den Rücken herunter. Das war Max. Ich weiß nicht, ob Sie ihn schon kennen gelernt haben. Sein Feuermal sieht heute bei weitem nicht mehr so schlimm aus wie früher. Damals war er völlig entstellt. Kein Kind wollte mit ihm spielen. Er sprach kaum und war aggressiv. Beinahe schon verhaltensgestört.“
“Aber warum um alles in der Welt Max?“ beharrte die Rechtsanwältin. “Herrgott, Sie waren jung. Sie hätten doch selbst noch Kinder bekommen können. Wieso ein Kind, das Sie nicht kannten und das zudem auch noch abstoßend aussah?“
“Er wirkte so verlassen“, antwortete Ellen. “So hilflos. Schon als ich ihn das erste Mal sah, wusste ich, dass man ihm helfen musste. Dass ich ihm helfen musste.“
Nervös griff sie nach der nächsten Zigarette und inhalierte tief. Das, was sie der jungen Frau erzählte, entsprach nur der halben Wahrheit. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, mit der anderen Hälfte der Geschichte zu leben, ohne jede Nacht in Schweiß gebadet aufzuwachen. Schon viel zu lange trug sie diese Lüge mit sich herum. Eine Lüge, die einen Menschen das Leben kostete. Dieser Mistkerl, knurrte sie still vor sich hin.
“Eine barmherzige Samariterin“, spöttelte ihre Strafverteidigerin.
“Quatsch!“ widersprach Ellen. “Nach meiner Fehlgeburt offenbarte mir mein Frauenarzt, dass ich keine eigenen Kinder mehr würde bekommen können. Himmel, ich war Einunddreißig, und ich hörte meine biologische Uhr mit jedem Tag lauter ticken. Jedenfalls habe ich meine Entscheidung bis heute nicht bereut. Und was Max betrifft, der hat mich vom ersten Augenblick an vergöttert. Ich glaube, das Jugendamt war damals heilfroh, ihn an mich weiterreichen zu können.“
“Aber dass Sie Ihren Job für ihn aufgegeben und sich finanziell ruiniert haben“, wunderte sich Sandra, “das verstehe ich immer noch nicht.“
“Ihr Problem. Vielleicht habe ich später mal Lust, Ihnen mehr von mir und Max zu erzählen. Für mich war er jedenfalls vom ersten Augenblick an mein Sohn.“
Ein warmes Gefühl tiefer, ehrlicher Zuneigung durchströmte sie. Max. Lieber, lieber Max. Wo steckst du jetzt bloß? Ich habe solche Sehnsucht nach dir.
“Erzählen Sie weiter“, forderte die junge Frau, die immer noch mit dem eingeschalteten Diktiergerät am Tisch hockte, ihre Mandantin auf.
“Ich rede doch pausenlos“, beschwerte sich Ellen. “Himmel, mir wird schon ganz schwindelig. Jetzt hätte ich am liebsten einen Cognac.“
“Sonst haben Sie aber keine Sorgen, oder?“ Ihr Anwältin verdrehte die Augen. “Okay, das nächste Mal. Aber ich weiß nicht, ob man mich mit einer Flasche Schnaps überhaupt durch die Kontrolle lässt.“
“Zeigen Sie doch mal, wie gut Sie sind“, konterte Ellen unbeeindruckt.
Sandra Landshoff räusperte sich. “Können wir fortfahren?“
“Wenn es Sie nicht langweilt“, warf Ellen ein.
“Das sage ich Ihnen dann schon.“
Die Tür flog auf und drei Jungen und ein Mädchen stürmten ins Wohnzimmer. Ehe sich Ellen versah, machten es sich die Kids auch schon auf dem Teppich bequem. Max angelte die Fernbedienung vom Wohnzimmertisch und schaltete den Flimmerkasten an. Ellen tat so, als ginge sie das gar nichts an. In diesem Augenblick verstummte der Nachrichtensprecher, und die übliche Werbung folgte.
“Ein bisschen leiser“, meldete sich Ellen zu Wort. “Ich möchte gerne lesen.“
“Aber dann versteht man nichts“, beschwerte sich Max.
“Dann geht doch zu Paul“, entgegnete Ellen unbeeindruckt. “Der besitzt seinen eigenen Fernseher.“
“Wir wollen aber hier schauen“, konterte der Junge.
“Also gut“, seufzte Ellen und legte ihr Buch zur Seite. “Wenn‘s denn sein muss. Ich bin dann in der Küche.“
“Kommt nicht in Frage.“
“Was kommt nicht in Frage?“ fragte sie verblüfft.
“Dass du jetzt verschwindest. Du erinnerst dich an unsere Abmachung von gestern?“
“Welche Abmachung?“ Ellen schaute auf die Uhr. “Ach so, dieses Fernsehquiz. Wieso kommt das denn auf einmal so früh?“
“Das hier ist doch die Vorabendsendung“, mischte sich Paul, einer von Max‘ Freunden, ein. “Nicht ganz so interessant wie die von Bernd Gerber, aber immerhin gibt‘s dabei auch ein paar Hunderttausend zu gewinnen.“
“Was du nicht sagst“, meinte Ellen und schob sich an Max vorbei. “Ich koche Spaghetti. Wer will mitessen?“
“Ich!“ kam es aus vier Mündern gleichzeitig.
“Na, klasse!“ Ellen grinste. “Kaum eingekauft, schon wieder alles aufgegessen. Ich sollte eine Suppenküche aufmachen. Essen auf Rädern für Schüler.“
“Ich helfe Ihnen“, rief Susanne und sprang auf. Vermutlich war sie nur froh, von Max ein wenig abrücken zu können.
“Soweit kommt‘s noch.“ Ellen winkte ab. “Lass mal. Ob ich jetzt eine Portion oder fünf koche, das macht den Braten nicht fett. Aber wenn ich dir ein Zeichen gebe, Max, dann darfst du gerne den Tisch decken.“
Ellen begab sich in die Küche und setzte Wasser auf. Sofort wurde der Fernseher lauter gestellt. Die Quizsendung begann.
“Weiß ich!“ brüllte Max. “Planet der Affen. Mit Charlton Heston.“
Triumphgeschrei ertönte. Max schien richtig getippt zu haben. Die nächste Frage wurde genannt.
“Der hat doch keine Ahnung!“ rief Paul, Max‘ bester Freund. “Jetlag nennt man die physiologischen Störungen bei Fernreisen mit dem Flugzeug. Nicht Jet-Set. Das weiß doch jeder. So ein Idiot!“
Wieder hörte Ellen Triumphgeschrei. Diesmal aus der Kehle von Paul. Er hatte die Frage offenbar richtig beantwortet. Das Salzwasser begann zu brodeln. Ellen gab zwei Pfund Spaghetti in den Topf. Eigentlich ein bisschen viel, aber sicher war sicher.
“He, Ellen!“ rief Max. “Kannst du mal kommen?“
“Keine Zeit“, erwiderte seine Mutter. “Ich stehe am Herd. Oder wollt ihr Kohldampf schieben?“
Max‘ Kopf erschien im Türrahmen.
“Also, die Fragen werden immer bescheuerter. Gibt es Leute, die zwar mongoloid aussehen, aber nicht behindert sind?“
“Klar“, meinte Ellen und rührte dabei mit dem Schneebesen eine kräftige Tomatensoße durch.
“He, meine Mutter weiß das“, brüllte er ins Wohnzimmer hinein.
“Nicht so laut, Cowboy“, rügte sie ihren Sohn. Doch böse war sie ihm nicht. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er sie ‘Mutter‘ und nicht beim Vornamen genannt.
“Dann soll sie es sagen“, forderte eine helle Stimme. Das schien Susanne zu sein.
“Also?“ Max schaute seine Mutter erwartungsvoll an.
“Samen“, antwortete Ellen.
“Wie bitte?“ Max runzelte die Stirn.
“Die Samen“, wiederholte Ellen und fuhr fort, im Topf zu rühren, damit die Soße nicht anbrannte. “Volk in Lappland. Fischer und Jäger. Ernähren sich überwiegend von der Rentierjagd.“
Wie der Blitz war Max im Wohnzimmer verschwunden. Es dauerte ein paar Augenblicke, ehe die richtige Antwort genannt wurde. Ein Raunen ging durch die jungen Leute.
“Woher weiß die das bloß?“ hörte sie eine gedämpfte Stimme. Sie gehörte Max.
Keine zehn Sekunden vergingen, da tauchte der Kopf des Jungen erneut im Türrahmen auf. Und nicht nur seiner. Auch Susanne ließ sich blicken. Vermutlich wollte sich das Mädchen vergewissern, dass sie nicht schummelte.
“Wer schrieb um 300 vor Christus das Buch mit dem Titel ‘Daode-jing‘?“ wollte Max wissen.
“Konfuzius?“ antwortete Ellen. Sie schien sich nicht ganz sicher zu sein.
Wie der Blitz waren die beiden verschwunden. Ellen dachte einen kurzen Augenblick nach.
“Nein!“ rief sie in den Flur. “Nicht Konfuzius. Es muss, wenn ich mich recht erinnere, Lao-Tse gewesen sein.“
Pauls Gesicht erschien diesmal im Türrahmen.
“Lao-Tse oder Lao She?“ fragte er mit gespielter Unschuldsmiene. “Es stehen nämlich beide Namen zur Auswahl.“
“Lao She lebte über zweitausend Jahre später, mein Lieber“, antwortete Ellen nachsichtig. “Ich glaube, er starb in den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts. Lao She war zwar auch Schriftsteller, aber ich meine natürlich Lao-Tse. Der ist seit über zweitausend Jahren tot.“
“Stimmt!“ brüllte Max aus dem Wohnzimmer.
Zehn Sekunden später standen sie zu fünft in der kleinen Küche.
“Woher wissen Sie das bloß?“ fragte Susanne.
Ellen rührte währenddessen die Spaghetti durch.
“Keine Ahnung“, erwiderte sie schulterzuckend. “Habe ich irgendwo mal gelesen. Frag mich bitte nicht in welchem Zusammenhang.“
“Na, egal“, wischte Max alle Einwände beiseite. “Erst wird gegessen. Dann kommt die richtige Show.“
“Pech, Cowboy“, widersprach ihm seine Mutter. “Erst wird gegessen, dann spült ihr ab, und dann wird ferngesehen. Ich bin nicht euer Dienstmädchen.“
Ellen konnte sich nicht daran erinnern, wie schnell jemals ein Abendessen vorbei war. Sogar das Geschirr wurde in rekordverdächtiger Zeit gespült und abgetrocknet. Anschließend wusste sie auch wieso. Kaum, dass die Kids wieder im Wohnzimmer auftauchten, begann nämlich die Quizsendung, von der ihr Sohn schon seit gestern pausenlos sprach. Dieser Abend veränderte ihr Leben. Sie wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht wieso, aber sie hatte so ein unbestimmtes Gefühl. Ein Gefühl, das sie seit ihrer Ausbildung nicht mehr kannte. Es kam ihr vor, als stünde sie auf dem Prüfstand. Geprüft von ihrem Kind.
“Haben wir noch Chips?“ fragte Max, während die einzelnen Kandidaten vorgestellt wurden.
“Wenn du keine besorgt hast, wohl kaum“, lachte Ellen.
“Mist!“ schimpfte Max.
“Vorsicht!“ warnte ihn Ellen. “Du kennst die Regeln!“
Der erste Kandidat wurde auserkoren und durfte anschließend auf dem Sessel vor dem Moderator Platz nehmen. Bernd Gerber grinste den Kandidaten an. Ein hinterhältiges Grinsen.
“Schönen guten Tag, Herr, äh ..., ach ja richtig, Herr Müller. Welch ein origineller Name.“
“N‘Abend, Herr Gerber“, erwiderte der Kandidat artig.
“Sie wollen also zwei Millionen gewinnen?“ fragte Gerber und zog dabei die Stirn in Falten. “Mutig, mutig. Alle Achtung.“
Das Publikum johlte. Der Mann auf dem unbequemen Drehsessel drohte noch kleiner zu werden, als er ohnehin schon war.
“So ein Arsch...“ schimpfte Max.
“Hallo!“ rief Ellen dazwischen. “Keine solche Ausdrücke in meinem Beisein, kapiert?“
“Ist doch wahr!“ maulte er weiter. “Dem würde ich am liebsten das Mikrophon in sein ungewaschenes Maul schieben.“
“Max!“ erwiderte Ellen streng. “Benimm dich, oder die Kiste wird ausgeschaltet. Das gilt übrigens für alle Anwesenden.“
“Ay, Sir!“ Max schaute sie von der Seite her an.
Erneut versuchte er, Susanne den Arm um die Schulter zu legen, und zum wiederholten Mal befreite sich das Mädchen aus seiner sanften Umklammerung. Unwillkürlich musste Ellen schmunzeln. Es wurde wohl langsam Zeit für ein klärendes Mutter-Sohn-Gespräch, dachte sie bei sich.
“Was sind das denn heute für Fragen?“ beschwerte sich Norbert, der Vierte im Bunde. “Mann, das weiß ja sogar meine Oma.“
“Wie schön für deine Oma.“ Max winkte ab. “Warte nur, bis Level Zwei erreicht ist. Dann hat es auch deine Oma hinter sich.“
Es dauerte knapp dreißig Minuten, und der Kandidat erreichte die nächste Runde. Nun wurden die Fragen schon wesentlich schwieriger. Bisher wussten sogar die Kids einen Teil der Antworten.
“Ach, du Schei...!“ stöhnte Max und warf sofort einen entschuldigenden Blick zu seiner Mutter, die auf der Couch saß und Zeitschriften sortierte.
“Nein, jetzt sagt mal ehrlich“, wandte er sich an seine Freunde. “Wer soll denn so was wissen?“
“Was?“ fragte Ellen und schaute genauer hin. Gefragt wurde nach der Hauptstadt von Laos. Heute schienen offenbar nur die Fragen mit dem Buchstaben L zu kommen.
“Vientiane“, sagte sie halblaut.
“Das glaube ich niemals!“ rief Paul. Auch Max legte die Stirn in Falten.
‘Bing!‘ machte es, und die richtige Antwort erschien auf einem Balken am unteren Bildschirmrand. Vier Augenpaare drehten sich zu ihr um. Fassungslose Augenpaare.
“Wie machst du das?“ wollte Max noch einmal wissen. “Das gibt‘s doch nicht. Du kannst doch nicht einfach alles wissen.“
“Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich längst nicht alles weiß. Aber nach Hauptstädten zu fragen, ist doch nun wirklich einfach.“
“Ach, nee“, meinte Paul. “Von welchem Land ist denn Timbuktu Hauptstadt?“
“Von gar keinem“, antwortete Ellen.
“Ha!“ lachte Paul laut auf. “Falsch! Timbuktu ist die Hauptstadt von Mali.“
“Falsch“, lächelte Ellen zurück. “Die Hauptstadt von Mali heißt Bamako. Timbuktu liegt zwar auch in Mali, ist aber nur eine so genannte Oasenstadt.“
“Das glaube ich jetzt nicht!“ ereiferte sich Paul und stürmte an ihr vorbei in Max‘ Zimmer. Wenige Augenblicke kam er mit einem Lexikon zurück. Er wirkte ziemlich zerknirscht.
“Mist!“ fluchte er halblaut vor sich hin. “Jetzt habe ich im Erdkundetest schon wieder zehn Punkte weniger.“
“So kann‘s gehen“, erwiderte Ellen ungerührt.
Inzwischen hatte ein neuer Kandidat Platz genommen. Bernd Gerber begann wieder mit den leichteren Fragen für das erste Level.
“Das weißt du aber nicht!“ triumphierte Max. “Das weiß keiner. Und dieser Blässling erst recht nicht.“
“Was wird denn gefragt?“ murmelte Ellen ohne großen Enthusiasmus und vertiefte sich weiter in ihre Zeitschrift. Der Ablauf der Sendung war ihr zuwider. Alleine schon deshalb, weil sie den Moderator unsympathisch fand. Nie im Leben hätte sie sich als Kandidatin in dessen Sendung begeben. Sie ließ sich doch nicht vor laufender Kamera zum Hampelmann machen.
“Wer wurde 1948 erster kommunistischer Staatspräsident der ehemaligenTschechoslowakei?“ murmelte Paul. “Was, um alles in der Welt, ist überhaupt die Tschechoslowakei?“
“Was lernt ihr eigentlich im Geschichtsunterricht?“ wunderte sich Ellen. “So hieß die Vorgängerin der heutigen Tschechischen Republik. Tschechien und die Slowakei gehörten früher nämlich mal zusammen.“
“Und?“ meldete sich Susanne zu Wort. Sie drehte sich um und schaute Ellen unverblümt an.
“Wie hieß denn nun dieser Staatspräsident?“
“Keine Ahnung“, brummte Ellen. “Wen gibt‘s denn zur Auswahl?“
Susanne las die Antwortmöglichkeiten vor.
Ellen schüttelte den Kopf. “Slansky auf keinen Fall. Der wurde hingerichtet. Dubcek war später, Benes früher. Den letzten in der Reihe kenne ich überhaupt nicht. Der Name klingt auch überhaupt nicht slawisch. Es muss die Nummer drei sein. Dieser Gottwald.“
“Also, ich tippe auf Dubcek“, widersprach das Mädchen. “Den Namen habe ich schon mal gehört.“
“Das werden wir ja gleich sehen.“ Max warf Ellen einen triumphierenden Blick zu. “Ich tippe auch auf Gottwald.“
Ellen wurde mulmig zu Mute. So ging das nicht weiter. Max konnte sie doch nicht als Aushängeschild benutzen. Sie musste wirklich mal ein ernstes Wort mit ihm reden.
“Na?“ brüllte Max ein paar Augenblicke später. “Hab ich es nicht gesagt? Es war der Gottwald.“
“Das hat deine Mutter gesagt“, widersprach Paul.
Max‘ Feuermal glühte wieder einmal purpurrot.
4
Als Ellen einen leeren Karton vom Boden aufhob und sich anschließend aufrichtete, stieß sie mit einem Kunden zusammen. Sie entschuldigte sich und fragte, ob er sich unter Umständen wehgetan hätte.
Der Angesprochene, ein Mann von Mitte Vierzig, lachte breit.
“Ach was. Sie haben mich ja kaum berührt.“
Ellen schaute genauer hin. Der Typ sah gut aus. Nicht gerade wie Robert Redford, aber immerhin. Er maß etwa einen Meter achtzig und war damit nur wenig größer als sie. Seine dunkelblonden Haare trug er kurz geschnitten. Das war auch gut so, denn oberhalb der Stirn zeichneten sich bereits deutlich lichte Stellen ab. Er war elegant gekleidet. Anzug, Hemd und Krawatte stammten kaum aus dem Warenhaus an der Ecke, eher vom Herrenausstatter. Was ihr allerdings am meisten ins Auge stach, waren seine Augen. Hellblaue, geradezu ein wenig unnatürlich helle Augen. Fast so wie die von Paul Newman. Ob er Kontaktlinsen trug?
“Habe ich was im Gesicht?“ grinste der Mann.
Ellen schluckte. “Wie kommen Sie darauf?“
“Weil Sie mich so anstarren.“
“Tut mir leid“, murmelte Ellen. “Das wollte ich nicht. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“
“Ja“, bekam sie eine knappe Antwort.
“Und was?“
“Gehen Sie heute Abend mit mir essen“, antwortete der Mann. Es klang nicht wie eine Frage, eher wie eine Feststellung.
Ellen glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. Von Kunden war sie ja schon einiges gewöhnt. Meist Kritik, selten mal ein Wort des Lobes. Verkäuferschicksal. Aber dass ein Kunde sie mir nichts, dir nichts zum Abendessen einladen wollte, das war ihr in all den Jahren, während denen sie als Verkäuferin im Drogeriemarkt arbeitete, noch nicht passiert.
“Ich glaube, Sie spinnen wohl.“ Ellen wusste nicht, ob sie lachen oder wütend werden sollte.
“Überhaupt nicht“, meinte der Typ mit den hellblauen Augen. “Ich komme in letzter Zeit häufiger hier einkaufen. Sie sind mir sofort aufgefallen. Ich finde Sie ausgesprochen nett und attraktiv. Was ist gegen ein gemeinsames Abendessen einzuwenden?“
“Eine ganze Menge“, erwiderte sie kopfschüttelnd. “Erstens lasse ich mich doch nicht so einfach von einem Wildfremden einladen. Zweitens habe ich zu tun. Schönen Tag noch.“
Der Mann hielt sie am Ärmel zurück.
“Das mit dem Wildfremden können wir ganz rasch aus der Welt räumen. Mein Name ist Konrad Gutfried.“
“So wie der Geflügelhof aus der Werbung?“ Gleichzeitig wischte sie die Hand des Mannes beiseite. Sie atmete tief durch.
“Jetzt lassen Sie mich bitte meine Arbeit tun. Die erledigt sich nämlich nicht von alleine.“
“Was wollte denn Herr Gutfried von Ihnen?“ fragte die Filialleiterin. Sybille Weber hatte sich unbemerkt herangeschlichen, als der Mann den Laden verließ.
Ellen blickte erstaunt hoch. “Sie kennen diesen Kerl?“
“Natürlich.“ Die Filialleiterin nickte eifrig. “Konrad Gutfried. Vorstandssekretär unserer Filialkette. Wohnt hier ganz in der Nähe. Ich hoffe, Sie waren zuvorkommend zu dem Herrn.“
An diesem Nachmittag hatte sich Ellen zwei Stunden früher frei genommen. Sie wollte Überstunden abfeiern und zu diesem Zweck durch die Innenstadt bummeln. Max brauchte dringend einen neuen Pullover. Vielleicht fand sie bei C&A oder bei Strauss etwas Geeignetes. Sie schlenderte an den vielen namenlosen Boutiquen vorbei, riskierte hier und da einen neugierigen Blick, schrak dann aber immer wieder vor den horrenden Preisen zurück. Früher wäre sie einfach in einen der Läden hinein gegangen und hätte sich etwas Passendes ausgesucht. Und zwar ohne einen Blick auf das Preisschild zu werfen. Aber schon seit Jahren war es mit diesem Luxus vorbei. Nachdem ihr Vermögen aufgebraucht war, musste sie sich nach einem Broterwerb umsehen. Doch wer wollte schon eine ehemalige Bankangestellte beschäftigen, die gekündigt hatte und seit Jahren aus dem Job heraus war. Und das zu einer Zeit, als die Arbeitslosenzahlen in Deutschland immer dramatischer in die Höhe schossen. Ehe der Gang zum Sozialamt fällig wurde, griff sie dann nach dem sprichwörtlichen Strohhalm. In einer Filiale der Drogeriemarktkette war eine Verkäuferin unerwartet ausgefallen, und man suchte dringend Ersatz. Sie sprach bei der damaligen Filialleiterin vor und wurde von der Stelle weg eingestellt. Unwillkürlich zog sich ein Grinsen über Ellens Gesicht. Bei einem Ekelpaket wie Sybille Weber hätte sie auf eine solche Chance wohl lange warten müssen.
Mit einer Tüte bepackt verließ Ellen eines dieser Billigkaufhäuser. Max würde zwar schimpfen wie ein Rohrspatz angesichts des Labels im Kragenausschnitt, aber das konnte sie ja auch vorher noch rasch entfernen. Zum Glück war es an seiner Schule nicht üblich, dass man Mitschüler verprügelte, nur weil sie die falschen Klamotten trugen. Bei Max hätten sie es auch schwer gehabt. Er wusste sich seiner Haut schon zu wehren.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass ihr eine Frau in ihrem Alter folgte. Ellen tat so, als würde sie es nicht bemerken und ging weiter. An der nächsten Straßenecke wurde sie erneut eingeholt. Ellen drehte sich herum.
“Ist was?“ fragte sie knapp.
“Ellen?“ fragte die Frau.
Ellen Graf schaute genauer hin. Plötzlich erinnerte sie sich. Eine ehemalige Bekannte aus ihrer damaligen Sturm- und Drangzeit. Sie war damals nur kurz in ihrer Clique, deshalb konnte sich Ellen im ersten Moment nicht erinnern.
“Lydia?“ lächelte Ellen. “Bist du es?“
“Natürlich bin ich es“, erwiderte ihr Gegenüber. Sie musterte Ellen.
“He, gut siehst du aus“, lachte sie. “Und schlank bist du geworden. Was treibst du so?“
Ellen winkte ab. “Nichts Besonderes.“
Lydia Berg war ihr noch gut als Modepüppchen in Erinnerung. Kaum, dass sie zweimal hintereinander dieselben Sachen trug. Ellen suchte nach einem Weg, wie sie das Gespräch so rasch wie möglich beenden konnte. Sie gab vor, sie sei gerade auf dem Weg nach Hause.
“Blödsinn“, widersprach Lydia. “Jetzt sehen wir uns nach all den Jahren wieder, und du willst schon heim. Wartet dein Ehemann auf dich? Der kann doch auch sicher mal eine Stunde ohne dich auskommen.“
“Ich bin nicht verheiratet“, murmelte Ellen.
“Na, siehst du. Los, komm. Wir setzen uns in die Bar dort drüben. Und dann wird mal ausgiebig getratscht.“
Ellen schluckte rau. Das Lokal, das Lydia Berg anvisiert hatte, zählte zu den teuersten In-Treffs der Stadt. Sie überschlug im Geiste, wie viel Geld sie noch im Portemonnaie hatte. Na ja, für einen Espresso würde es wohl reichen. Fünf Minuten später saßen sich die beiden ungleichen Frauen gegenüber. Ellen musterte ihre ehemalige Bekannte. Sie sah toll aus. Wie aus einem Modekatalog. Ein teures Kostüm, Schuhe, die ein Vermögen gekostet haben mussten und eine todschicke Frisur. So wäre sie selbst gerne herumgelaufen. Aber was nicht ging, ging eben nicht. Alleine für die Frisur hätte sie sicherlich eine Woche hart arbeiten müssen.
“Tja, und dann wurde ich in die Personalabteilung versetzt“, beendete Lydia ihren Vortrag. “Heißer Job, kann ich dir sagen. Zumal jetzt, wo überall Personaleinsparungen vorgenommen werden. Aber nun genug von mir geredet. Wie ist es dir eigentlich seit damals ergangen? Plötzlich warst du sang- und klanglos verschwunden.“
“Das hatte nichts mit euch zu tun“, erklärte Ellen und warf einen Blick auf die Tasse. Leider war sie leer. Einen neuen Espresso wollte sie aber nicht bestellen.
“Ich mochte bloß gewisse Leute nicht mehr wieder sehen. Ein paar Jahre später habe ich den Job dran gegeben und ein Pflegekind angenommen.“
“Ein Pflegekind?“ fragte ihr Gegenüber erstaunt. “Einfach so?“
“Einfach so“, betätigte Ellen.
“Ja, aber ...“ stammelte die junge Frau. “Ja, aber wieso?“
“Warum man so was tut? Ganz einfach. Ich wollte meinem Leben einen neuen Sinn geben.“
“Aber dein Job ...“, stotterte Lydia weiter. Sie schien ehrlich verblüfft.
“Was ist mit dem Job? Okay, ich habe viel Geld verdient damals. Aber das ist nichts dagegen, sich um ein Kind zu kümmern.“
“Nun, ein Kind kann man auch auf anderem Wege bekommen“, meinte ihre ehemalige Bekannte. “Von einem Mann.“
“Du denkst an finanzielle Absicherung? Brauche ich nicht. Ich bin emanzipiert genug, um so was auch alleine auf die Reihe zu bekommen.“
“Hast du eigentlich noch Kontakt zu diesem Gregor?“ fragte die junge Frau beiläufig.
Ein eisiger Stich durchfuhr Ellen. Diesen Namen hatte sie aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Plötzlich war ihre Kehle wie zugeschnürt. Deshalb schüttelte sie nur den Kopf.
“Der war doch auch viel zu alt für dich“, meinte die andere. “Nach eurer Liaison stand seine Ehe ziemlich auf der Kippe. Seine Frau soll ihm ziemlich deutlich das Messer auf die Brust gesetzt haben. Inzwischen ... “
“Komm, wechseln wir bitte das Thema“, murmelte Ellen.
“Was machst du denn so im Augenblick?“ fragte Lydia nach einer Weile. “Ich meine beruflich.“
“Ich arbeite als Verkäuferin“, erwiderte Ellen fast schon ein bisschen trotzig. “In meinen alten Beruf konnte ich ja nicht wieder zurück. Schließlich hatte ich gekündigt. Leute, die aus eigenen Stücken gekündigt haben, sind out. Im wahrsten Sinne des Wortes.“
“Also, ich glaube es nicht“, stieß Lydia aus. “Du und Verkäuferin? Ja, wieso denn das?“
“Ich habe keinen anderen Job gefunden. Was sollte ich tun? Mich mit dem Hut an die Häuserecke stellen und dabei Mundharmonika spielen?“
Eine durchdringende Melodie ertönte. Lydia Berg verdrehte die Augen, kramte in ihrer Handtasche und zog ein Handy hervor.
“Sekunde“, meinte sie und drückte eine der Tasten. Kurz darauf war sie in ein Gespräch vertieft. Offenbar wollte sich jemand mit ihr verabreden. Sie erhob sich und verließ den Tisch, um ungestört reden zu können.
Als ihre Gesprächspartnerin auch nach zehn Minuten noch nicht zurückgekehrt war, erhob sich Ellen, legte das Geld für den Espresso neben ihre Tasche und verließ die Bar. Sie verspürte ohnehin keine Lust mehr auf Small Talk. Daheim wartete Max. Der brauchte etwas Vernünftiges zum Essen.
“Nun komm doch endlich!“ brüllte Max durch den Flur.
“Du hockst wohl nur noch vor der Glotze“, rief Ellen zurück. “Was ist eigentlich mit deinen Freunden? Spielt ihr keinen Fußball mehr miteinander?“
“Paul hat Stubenarrest“, brummte Max und steckte seinen Kopf durch den Türrahmen. “Wegen seiner Sechs in Mathe. Und mit den anderen allein macht es keinen Spaß.“
“Und was ist mit dieser Susanne?“ stocherte Ellen weiter.
Max lief puterrot an.
“Was soll mit ihr sein?“
“Na, ich denke sie ist deine neue Freundin, oder irre ich mich?“
“Quatsch!“ brauste der Junge auf. “Was du nur wieder denkst. Was soll ich denn mit so einer Göre?“
“Komm, komm, spuck hier mal keine großen Töne, Cowboy“, widersprach seine Mutter. “Du konntest bei ihr nicht landen, oder?“
“Lass mich doch zufrieden! Ihr könnt mich alle mal ...“
“Max!“ warnte ihn seine Mutter. “Obacht!“
“Ist doch wahr!“ fauchte er zurück und verschwand aus dem Türrahmen. Sekunden später krachte die Tür zu seinem Zimmer ins Schloss.
Kopfschüttelnd trocknete Ellen das Geschirr ab und begab sich schließlich ins Wohnzimmer. Ihr fiel auf, dass der Fernseher immer noch lief. Die abendliche Quizsendung hatte längst begonnen. Seufzend machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zurück auf den Flur. Aus dem Zimmer des Jungen dröhnte laute Rockmusik. Ellen öffnete die Tür. Max lag auf seinem Bett, das Gesicht in das Kopfkissen gedrückt.
“Mach die Musik einen Tick leiser, Cowboy. Und komm rüber. Deine Quizsendung hat angefangen.“
“Die kann mir gestohlen bleiben“, drang es undeutlich unter dem Kopfkissen hervor.
“Ach, wieso denn das?“ wunderte sich Ellen. “Die letzten beiden Wochen konntest du doch gar nicht genug davon bekommen.“
Sie hockte sich auf den Bettrand und strich dem Jungen über den Haarschopf. Max wischte ihre Hand beiseite.
“Was ist denn los?“ meinte sie schließlich. “Liebeskummer?“
Max wirbelte herum. Seine Augen waren rot gerändert. Er hatte geweint.
“Mann, ihr kotzt mich alle an!“
“Ich auch?“ Ellen blieb ganz ruhig. “Wieso ich? Ich habe dir doch nichts getan.“
“Dann erzähl hier auch nicht solch einen Scheiß!“
Ellen ergriff Max‘ Handgelenk. Ihr Griff war stahlhart. So hart hatte sie ihn noch nie angefasst. Max zuckte zusammen. Instinktiv öffnete sich ihre Hand.
“So redet niemand mit mir, verstanden? Niemand. Du auch nicht.“
Im nächsten Augenblick senkte sie wieder ihre Stimme.
“Willst du nicht darüber reden? Vielleicht kann ich dir ja helfen.“
“Du?“ fragte Max ungläubig.
“Warum nicht?“ lachte Ellen. “Schließlich bin ich eine Frau. Wer sollte ein Mädchen wie Susanne besser verstehen können als ich?“
Max schaute sie erstaunt an. Ellen wischte ihm eine Träne aus dem Augenwinkel. Max ließ es widerspruchslos geschehen.
“Max“, fuhr Ellen fort. “Wir kennen uns lange genug, um absolutes Vertrauen zueinander zu haben. Wir können über alles reden. Das weißt du auch. Wenn du nicht reden willst, okay. Das ist deine Sache. Ich habe es dir angeboten. Aber lass deine Wut nicht an mir aus. Niemals. Hörst du?“
Max nickte.
“Sie geht jetzt mit einem anderen“, gab er schließlich zu. “Mit so einem Typ aus der Mittelstufe.“
“War abzusehen. Weißt du, in eurem Alter sind die Mädels ein bisschen weiter als die Jungs. Wie alt ist der Typ? Fünfzehn?“
“Sechzehn“, brummte Max.
“Dann muss er aber höllisch aufpassen, dass er keinen Ärger mit dem Staatsanwalt bekommt. Aber das ist dessen Problem.“
“Am schlimmsten sind Paul und Norbert“, beklagte sich Max.
Ellen hätte ihn zu gerne in den Arm genommen. Aber was solche Lonesome-Rider in diesen Augenblicken bestimmt nicht gebrauchen konnten, das waren bedauernde Worte aus dem Mund der eigenen Mutter. Zum ersten Mal wünschte sie sich einen Vater für Max. Sie fuhr bei diesem Gedanken zusammen. Einen Vater? War sie ihm nicht Vaterersatz genug?
“Kann ich mir vorstellen.“ Ellen erhob sich. “Haben selber die Hosen gestrichen voll, wenn sie ein Mädchen zum Tanzen auffordern sollen, aber dir kluge Ratschläge erteilen, was?“
“Woher weißt du das?“ fragte Max verblüfft.
Ellen verzog keine Miene. “Meinst du, ich wäre nie in deinem Alter gewesen? Meinst du, zu meiner Zeit ging es anders zu? Glaub mir, manches ändert sich nie.“
“Scheiße!“ stieß Max hervor.
Ellen unterließ es, ihn für diesen Kraftausdruck zur Rede zu stellen. Sie ahnte, was jetzt in ihm vorging. Max kam wohl langsam aber sicher in die Pubertät. Die Hormone spielten verrückt. Bald schon würde er seine eigenen Wege gehen. Etwas in ihr tat höllisch weh.
“Komm ins Wohnzimmer“, meinte sie nur.
Eine starke Hand. Ein Vater. Ein Partner. Vielleicht sogar ein Ehemann. Die Begegnung vom Vormittag fiel ihr ein. Absurd.
Ein paar Minuten später hatten sie es sich gemeinsam vor dem Fernsehapparat bequem gemacht. Max lag bäuchlings auf dem Teppich, sie hockte mit übereinander geschlagenen Beinen im Sessel. Vor ihr stand das hochstielige Glas. Morgen musste sie eine neue Flasche kaufen. Hoffentlich gab es den Wein noch im Sonderangebot.
Bernd Gerber begrüßte eine neue Kandidatin. Die Frau war kaum dreißig Jahre alt, sehr sportlich gekleidet und wirkte überaus attraktiv. Geradezu lasziv strich sie sich immer wieder die blonden Haarsträhnen in den Nacken. Unwillkürlich griff sich Ellen in den eigenen Haarschopf. Tja, dachte sie bei sich, so eine Frisur müsste man haben. Gerber machte keinen Hehl daraus, dass ihm die junge Frau gefiel. Er scherzte, ließ ein paar Nettigkeiten fallen und spielte den Mann von Welt. Die junge Kandidatin fühlte sich zurecht geschmeichelt. Gerber konnte tatsächlich auch charmant sein. Wenn er denn wollte.
“Nun, meine Teuerste“, meinte der Moderator nach einer kurzen Atempause. “Dann wollen wir mal. Sie wissen ja: In der ersten Runde sind die Fragen noch einfach. Quasi zum Eingewöhnen. Sollten Sie Level zwei erreichen, wird es schon schwerer. Level drei ist dann nur noch etwas für Profis wie zum Beispiel Universitätsprofessoren. Na, wir werden ja sehen.“
Dabei grinste er breit in die Kamera.
“Bei dem müsste mal jemand in der Sendung auftauchen, der den so richtig alt aussehen lässt“, knurrte Max. “Dem müsste mal so richtig das Lachen im Halse stecken bleiben.“
“Dann melde du dich doch“, lächelte Ellen. “Soweit ich weiß, gibt es für diese Sendungen keine Altersbeschränkungen.“
“Nee“, brummte er und drehte sich wieder zur Mattscheibe herum.
“Wieso denn nicht?“ drang Ellen weiter in ihn. “Stell dir vor, du gewinnst da eine Million. Und alle deine Klassenkameraden würden dir dabei zuschauen. Ich möchte hinterher das dumme Gesicht von Susanne sehen.“
Max wirbelte herum. “Und was ist, wenn mich der Typ gleich nach der ersten Frage herauskegelt? Wie stehe ich denn dann da?“
“Nicht anders als vorher. Du hast wenigstens Mut bewiesen. Glaubst du, einer deiner Freunde hätte den Schneid, sich in Gerbers Show als Kandidat zu melden?“
“Und was wäre mit dir?“ fragte Max. Sein Gesicht erhellte sich schlagartig.
“Ich?“ lachte Ellen. “Was sollte ich bei diesem Gerber?“
“Zwei Millionen Euro gewinnen“, warf Max ein.
“Blödsinn. Du kommst vielleicht auf Ideen.“
“Also bist du genauso feige.“
“Gleich bekommst du ein paar hinter die Ohren“, erwiderte Ellen gut gelaunt. “Und zwar nicht als Erziehungsmaßnahme, sondern als Strafe für ungebührliches Verhalten. Was fällt dir ein, mich feige zu nennen? Niemand nennt mich feige.“
“Dann beweise es doch.“ Max sprang hoch. “Los, komm. Dort steht das Telefon. Wir rufen jetzt die Hotline an. Das wäre doch gelacht, wenn ...“
Er ließ die Konsequenz offen. Ellen überlegte, wie sie jetzt reagieren sollte. Ihm den Telefonhörer aus der Hand nehmen und zurück auf die Gabel legen, wäre wohl das Falscheste gewesen. Sie war im Prinzip selber Schuld. Wer hatte schließlich das Wort Feigheit in den Mund genommen?
“Mist!“ knurrte Max. “Besetzt!“
“Na, also“, erwiderte Ellen erleichtert. “Und nun gib Ruhe. Wenn wir schon vor der Glotze hocken, dann will ich auch etwas mitbekommen.“
Die nächste Frage wurde bereits gestellt. Die junge Kandidatin wand sich wie ein Dachs in seinem Bau. Es war ihr deutlich anzumerken, dass sie nicht den blassesten Schimmer hatte. Bernd Gerber bemerkte es und begann die junge Frau zu verunsichern. Sein Gegenüber tippte nach und nach auf jede Möglichkeit, stets in der Hoffung, irgendeine Regung in Gerbers Gesicht zu entdecken, die auf die richtige Antwort schließen ließ. Doch Gerber zeigte wie gewöhnlich sein Pokergesicht.
“Weißt du es?“ fragte Max.
Ehe sie antworten konnte, hatte die Kandidatin jedoch bereits ihre Antwort einloggen lassen. Das Antwortfeld färbte sich rot.
“Nein“, log Ellen. Natürlich hatte sie es gewusst, aber sie wollte mit aller Macht verhindern, dass Max noch einmal irgend so eine blöde Hotline anrief.
Bei den nächsten Fragen tippte sie ebenfalls daneben. Doch sie hatte die Rechnung ohne den Jungen gemacht. Er sprang hoch.
“Du lügst!“ fauchte er. “Warum sagst du so einen Quatsch?“
“Ich glaube, dir geht es wohl zu gut!“ fuhr ihn seine Mutter an. Böse war sie ihrem Sohn trotzdem nicht. Max war halt ein hochintelligenter und sensibler Junge, dem man nicht so einfach ein X für ein U vormachen konnte. Ellen fühlte sich zu Recht ertappt.
“Ich weiß genau, dass du das weißt“, ließ er nicht locker. “Also, wieso erzählst du diesen Blödsinn? Meinst du, ich merke das nicht?“
“Und woher willst du das wissen?“ erwiderte Ellen und zog dabei die Stirn in Falten. Sie bemühte sich, streng zu wirken, aber es gelang ihr nicht.
“Ganz einfach“, triumphierte Max. “Weil das Computerprogramm eine Antwortregistrierung besitzt, die automatisch auf der Festplatte abgespeichert wird. Da bist du platt, was? Ich habe sämtliche deiner letzten Ratesitzungen protokolliert. Du hast dich nicht einmal vertan. Die letzte Frage kam auch schon vor. Nur in etwas abgewandelter Form. Und die hattest du auch richtig beantwortet.“
“Es gibt gute Lexika“, gab Ellen zu bedenken. “Was macht dich so sicher, dass ich nicht geschummelt habe?“
Max Lächeln wurde spitzbübisch. “Bei jeder Antwortregistrierung wird auch die benötigte Zeit gespeichert. So schnell, wie du die Antwort eingetippt hast, könntest du niemals in einem Lexikon blättern.“
“Sorry, Cowboy“, entschuldigte sich Ellen. “Okay, der Punkt geht an dich. Tut mir leid.“
Dieser Schlingel! Legte einfach seine Mutter herein.
“Telefon für Frau Graf!“ kam es durch die Lautsprecheranlage.
Ellen legte den Karton mit Seifenstücken beiseite und begab sich in den Aufenthaltsraum. Sie erwartete eine Rüge seitens der Filialleiterin, aber Sybille Weber schaute sie nur erwartungsvoll an. Dabei hielt sie die Sprechmuschel des Hörers abgedeckt.
“Der Gutfried“, sagte sie halblaut und deutete auf den Telefonapparat.
“Wer?“ fragte Ellen und runzelte die Stirn.
“Der Mann, mit dem Sie letztens ins Gespräch kamen“, erwiderte die Filialleiterin. “Unser Vorstandssekretär.“
“Ach, der.“ Ellen machte Anstalten, den Raum zu verlassen. “Sagen Sie ihm, ich sei nicht da.“
Die Weber nahm den Hörer und drückte ihn ans Ohr.
“Ja, Herr Gutfried“, sagte sie laut. “Frau Graf ist gerade hereingekommen. Moment, ich gebe sie Ihnen.“
Kopfschüttelnd nahm ihr Ellen den Hörer aus der Hand.
“Graf“, meldete sie sich.
“Hallo, Ellen“, lachte die Stimme. “Ich darf Sie doch Ellen nennen? Im Betrieb nennen sich doch sowieso beinahe alle beim Vornamen. Ich warte immer noch auf eine Antwort. Nehmen Sie meine Einladung an?“
“Nein“, erwiderte Ellen. “Und nennen Sie mich bitte nicht Ellen, Herr Gutfried.“ Das Wort ‘Herr‘ sprach sie besonders akzentuiert aus. Sybille Weber schrak zusammen und fuchtelte abwehrend mit den Armen in der Luft herum.
“Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“ stöhnte sie. “So können Sie doch mit Herrn Gutfried nicht reden.“
“Ich kann noch was ganz anderes“, meinte Ellen und warf den Hörer zurück auf die Gabel. Die Weber sprach daraufhin den ganzen Tag kein Wort mehr mit ihr.
Am darauffolgenden Wochenende hatte sie ihre Wohnung endlich mal für sich allein. Max war von der Schule aus für eine Woche auf einem Plattbodenschiff in Holland unterwegs. Er hatte sich so darauf gefreut, und Ellen hatte schließlich zugestimmt, auch wenn ihr lang ersehnter Mantel damit in noch weitere Entfernung rückte. So kam der Junge am schnellsten auf andere Gedanken. Inzwischen brauchte sie seine Sportsachen höchstens noch einmal die Woche durchzuwaschen. Für Fußball schien er sich überhaupt nicht mehr zu interessieren. Abends hockte er ab achtzehn Uhr vor der Glotze und verfolgte jede gottverdammte Quizsendung, die im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Nachdem es zwei Kandidaten zuletzt tatsächlich gelungen war, einmal eine Million und einmal Fünfhunderttausend zu gewinnen, schienen die Sender, was die Fragen anging, eine noch härtere Gangart einzulegen. Auch ihr gelang es beileibe nicht mehr, jede Frage auf Anhieb richtig zu beantworten. Hoffentlich sah Max langsam ein, dass sie keineswegs allwissend war.
Ellen war gerade damit beschäftigt, die Küche zu putzen, als es an der Haustür klingelte.
“Nanu“, murmelte sie noch vor sich hin, während sie bereits öffnete.
Das erste, was sie sah, war ein riesiger Strauß Frühlingsblumen. Dann erkannte sie den Überbringer. Konrad Gutfried.
Sie wollte schon protestieren, aber Gutfried schnitt ihr mit einer energischen Handbewegung das Wort ab.
“Ich habe mich einfach blöd benommen“, meinte er zerknirscht. “Das wurde mir erst richtig klar, als Sie vorgestern den Hörer auf die Gabel geworfen haben. Himmel, ich habe das Scheppern jetzt noch im Ohr. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an.“
Ellen schaute erst ihm ins Gesicht und schließlich an sich herunter. Sie kam sich vor wie in einem schlechten Hollywood-Streifen. Da stand sie doch tatsächlich mit Wischlappen und Gummihandschuhen, verschwitzt und ungekämmt vor einem attraktiven Mann, der einen Strauß Blumen in der Hand hielt und sie unbedingt zum Essen ausführen wollte. Sie kam sich vor wie Aschenputtel. Wider Willen brach sie in schallendes Gelächter aus.
“Habe ich was Falsches gesagt?“ meinte Gutfried mit hochgezogenen Augenbrauen.
“Quatsch!“ Ellen streifte rasch die Gummihandschuhe ab. “Sie kommen ein wenig ungelegen. Ich bin beim Putzen.“
“Verstehe“, erwiderte Gutfried. “Nehmen Sie trotzdem die Blumen als Entschuldigung an. Vielleicht überlegen Sie es sich ja trotzdem noch einmal. Ich meine das mit dem Essen gehen.“
Max fiel ihr ein. Wenn überhaupt, dann ließ sich ein Rendezvous ohnehin nur an diesem Samstag einrichten.
“Na, schön.“ Ellen nahm ihm den Blumenstrauß aus der Hand. “Holen Sie mich so gegen sieben Uhr ab.“
Anschließend starrte sie noch minutenlang auf die längst geschlossene Wohnungstür.
Beim Betreten des Restaurants sank ihre anfangs an den Tag gelegte Selbstsicherheit erst einmal gegen Null. Der Chef persönlich empfing Konrad Gutfried wie einen alten Freund, deutete bei ihr einen galanten Handkuss an und führte sie und ihren Begleiter zu einem freien Tisch unmittelbar am Fenster. Dann schnippte er zweimal, und sofort war ein schwarz befrackter Kellner zur Stelle. Verstohlen blickte sie sich um. Mit ihrem vor einigen Jahren bei C&A für seinerzeit zweihundert Mark erworbenen Blümchenkleid kam sie sich in diesem Speiselokal ziemlich deplatziert vor. Die anderen weiblichen Gäste trugen ausnahmslos Designerkleidung. Lydia hätte bestimmt in diesen Rahmen gepasst, aber doch nicht sie. Für einen kurzen Augenblick drängte sich ihr ein schlimmer Verdacht auf. Ob sich Gutfried für die Abfuhr im Laden und hinterher am Telefon dadurch rächen wollte, indem er sie vor allen Leuten bloßstellte? Doch Konrad Gutfried benahm sich wie ein perfekter Gentleman. Er nahm ihr die Auswahl des Tischweins ab und beriet sie bei der Wahl der Menüfolge. Einen solch aufmerksamen und zugleich amüsanten Gesprächspartner hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Kein Wunder. Zuletzt beschränkten sich ihre männlichen Gesprächspartner zumeist auf Max und seine Spießgesellen.
Es wurde ein wundervoller Abend. Nach dem Dinner besuchten sie die Cocktailbar am Theater, in dem sich, so die Kolumne in der Tageszeitung, an den Wochenenden stets die interessantesten Leute ein Stelldichein gaben. Anfangs fühlte sie sich noch ein bisschen unwohl wegen ihres Outfits, aber nach dem vierten oder fünften Glas Wein dachte sie überhaupt nicht mehr darüber nach. Erst recht nicht, als sich eine offensichtlich alte Bekannte von Gutfried an ihren Tisch begab und aufdringlich mit ihm zu flirten begann. Normalerweise wäre sie in einer solchen Situation aufgestanden und hätte das Lokal verlassen, aber der Abend war zu schön gewesen, und auch der viele Rotwein tat sein übriges, als dass sie sich die Stimmung verderben lassen wollte. Unbemerkt schob sie das Glas ihres Begleiters ganz dicht an seinen Ärmel heran. Als er sich rasch nach ihr umdrehte, weil sie in lautes Gelächter ausbrach, stieß er das Glas um, und die bordeauxfarbene Flüssigkeit breitete sich rasch auf dem Kostüm der Anderen aus. Leise schimpfend verschwand die Frau auf der Toilette.
“Das war nicht besonders fair“, meinte Gutfried. Ein nachsichtiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
“Was meinen Sie damit?“ gluckste Ellen. Sie liebte es, wenn ein Plan aufging. Und im Übrigen war sie schon ein ganz kleines bisschen beschwipst.
“Das mit dem Weinglas. Glauben Sie, ich hätte das nicht bemerkt?“
“Was bemerkt?“ konterte Ellen.
“Dass Sie das Glas ganz dicht an meinen Ärmel herangeschoben haben. Alle Achtung. Darauf muss man erst einmal kommen.“
“Was Sie bloß von mir denken“, murmelte Ellen. Das Sprechen fiel ihr jetzt doch schon sichtlich schwer.
Sie deutete auf sein leeres Glas. “Keinen Wein mehr?“
“Von mir aus.“ Gutfried nickte. “Sie auch noch einmal dasselbe?“
“Aber immer!“ lächelte Ellen.
Schon als sie Augen aufschlug, hatte sie das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Ihr Blick fiel auf den Radiowecker, der keinen Mucks von sich gab. Oh, Himmel, schon neun Uhr, stöhnte sie und wollte bereits aufspringen. Doch der plötzlich einsetzende Kopfschmerz zwang sie erst einmal zurück in die Waagerechte. Dann fiel es ihr wieder ein. Es war doch Sonntag und Max auf Klassenfahrt in Holland. Also streckte sie erst mal alle Viere genüsslich von sich. Die Erinnerung an den vergangenen Abend wurde wach. Eigentlich ein netter Kerl, dieser Konrad Gutfried, dachte sie bei sich. Charmant, gebildet, gut aussehend. Wieso der noch nicht in festen Händen war ... Na, vielleicht war er auch geschieden. Oder er hatte sie schlichtweg angelogen, als er vorgab, schon immer ein Singleleben geführt zu haben. Sie überlegte weiter. Nach dem Essen gingen sie in diese Bar. Dann waren sie ... Ellen stutzte. Verdammt, durchzuckte es sie. Was war eigentlich hinterher passiert? Sie konnte sich nur noch daran erinnern, dass sie irgendwann in eine große Limousine eingestiegen war. Gutfrieds Wagen. Jedenfalls derselbe, mit dem er sie daheim abgeholt hatte. Ja, aber jetzt hört sich doch alles auf, schimpfte sie in sich hinein. Das gibt‘s doch nicht. Ich kann doch keinen Filmriss gehabt haben.
Plötzlich stutzte sie. Da rumorte doch jemand auf dem Flur herum. Ob Max früher aus Holland zurückgekommen war? Sie sprang aus dem Bett. In diesem Augenblick öffnete sich wie von Geisterhand die Tür zu ihrem Zimmer. Verblüfft hielt sie inne. Erst erschien ein Frühstückstablett im Türrahmen und dann – Konrad Gutfried. Ellen schaute an sich herunter, stieß einen spitzen Schrei aus und schlüpfte mit einem Satz zurück unter die Bettdecke.
“Welch ein verführerischer Anblick“, lächelte ihr Begleiter vom vergangenen Abend. Doch weder Anzüglichkeit noch Überraschung schwangen in seiner Stimme mit. Es schien, als wäre er solche Situationen gewöhnt.
Jedenfalls nahm er wie selbstverständlich auf der Bettkante Platz und hielt Ellen das Frühstückstablett entgegen. Ellen starrte ihn an wie das sprichwörtliche Kaninchen die Schlange. Gutfried lächelte immer noch. Und er sah immer noch so umwerfend aus wie am vergangenen Abend. Jackett und Krawatte trug er nicht mehr, dafür hatte er sich eine Schürze umgebunden und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Ellen riss die Bettdecke bis zum Hals empor. Ihr kam ein schrecklicher Verdacht.
“Was ist gestern Nacht passiert?“ fragte sie mit stockender Stimme.
“Was soll schon passiert sein?“ erwiderte der Mann auf ihrer Bettkante, der immer noch das Tablett in seinen Händen hielt. “Wir waren essen, etwas trinken ...“
“Und dann?“
“Na ja, Sie haben wohl doch ein Glas zuviel getrunken“, räumte er nach kurzem Überlegen ein. “Ich habe Sie dann nach Hause gebracht. Zum Glück fand ich auf Anhieb ihren Hausschlüssel. Es ist nämlich sonst nicht meine Art, in fremder Leute Handtaschen herum zu stöbern“
“Haben wir..., haben wir etwa...?“ stotterte sie wie ein ertapptes Schulmädchen.
Gutfried legte die Stirn in Falten. Dann lachte er.
“Ob wir miteinander geschlafen haben, wollen Sie wissen? Natürlich nicht. Wo denken Sie hin. Im Übrigen, Sie müssen mir verzeihen, wären Sie dazu wohl auch kaum noch fähig gewesen. Ich habe mit Ihnen beinahe eine halbe Stunde auf der Toilette zugebracht.“
“Und wer hat mich ausgezogen?“ fragte sie mit belegter Stimme.
“Ich“, antwortete Gutfried. “Na ja, Ihr Kleid hatte leider einiges mitbekommen.“
“Oh, Gott, nein!“ Stöhnend schlug sich Ellen die Hände vor das Gesicht.
“Muss Ihnen nicht peinlich sein“, lachte der Mann auf ihrer Bettkante. “Was meinen Sie, wie oft mich meine Kumpels während meiner Studentenzeit auf meine Bude schleppen mussten, ohne dass ich hinterher wusste, in welcher Kneipe noch die Zeche offen stand.“
Er nahm das Tablett, das er ihr in die Hände hatte drücken wollen, wieder hoch und erhob sich.
“Vielleicht doch keine so gute Idee mit dem Frühstück ans Bett. Ich denke, Sie wollen sich bestimmt erst frisch machen. Ich warte auf Sie im Wohnzimmer.“
Eine knappe Viertelstunde später saß sie ihm wieder gegenüber. Der Kaffee wollte ihr an diesem Morgen überhaupt nicht schmecken. Sie bekam auch gar keinen Bissen herunter. Was hatte sie sich da bloß wieder geleistet?
“Es ist mir trotzdem peinlich“, erhob sie schließlich das Wort. “So etwas ist mir seit Jahren nicht mehr passiert. Sie müssen ja einen schönen Eindruck von mir haben.“
“Ist doch gar nichts passiert. Aber jetzt tun Sie mir und sich einen Gefallen und nennen Sie mich endlich Konrad. Meine Schulfreunde nennen mich übrigens Conny. Aber wir können es ja erst einmal bei Konrad belassen. Und dann sollten wir auch das unpersönliche ‘Sie‘ vergessen.“
“Nein“, widersprach Ellen. “Das halte ich für keine so gute Idee. Sie, der Vorstandssekretär, und ich, die kleine Angestellte. Das passt doch nicht zueinander. Im Übrigen habe ich einen Sohn, um den ich mich kümmern muss. “
Gutfried nickte nachdenklich. “Richtig, Ihr Sohn. Wo steckt der eigentlich?“
“In Holland“, murmelte Ellen. “Auf Klassenfahrt.“
“Heißt das etwa, Sie haben noch länger sturmfreie Bude? Das ist doch herrlich. Kommen Sie. Wir unternehmen was. Wie wär‘s mit einem Ausflug?“
Ellen schüttelte den Kopf. “Nein, ich denke, es wäre besser, wenn Sie jetzt gehen würden.“
Sie schaute ihn an und bemühte sich um einen festen Blick.
“Wie Sie meinen“, erwiderte Konrad und erhob sich. “Trotzdem schade. Es hätte ein schöner Tag werden können.“
“Tut mir auch Leid“, stammelte Ellen und begleitete den Mann zur Tür.
Sie reichten sich schweigend die Hände. Kurz darauf war Konrad Gutfried verschwunden. Ellen starrte noch minutenlang auf die längst ins Schloss gefallene Wohnungstür.
“Scheiße!“ brach es schließlich aus ihr heraus.
“Ach hören Sie doch auf!“ lachte Sandra Landshoff. “Das haben Sie sich doch ausgedacht. So was gibt‘s doch höchstens im Kino. In ganz schlechten Hollywood-Klamotten.“
“Glauben Sie es, oder lassen Sie es bleiben“, brummte Ellen und griff nach dem Wasserglas. Ihrer Strafverteidigerin war es tatsächlich gelungen, eine Flasche Cognac mit ins Untersuchungsgefängnis zu schmuggeln. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit wärmte nicht nur ihren Magen.
“Und was passierte danach?“ ließ die junge Frau nicht locker. Es war ihr deutlich anzumerken, dass sie die Geschichte nicht mehr losließ. Ellen fragte sich, ob sie geschmeichelt oder genervt sein sollte.
“Zunächst nichts“, antwortete die Frau in der Anstaltskleidung und goss sich von dem Cognac nach. Danach griff sie zu der Zigarettenpackung und zündete sich ein Stäbchen an.
“Ehrlich gesagt gingen wir uns beide bewusst aus dem Weg. Er spürte wohl auch instinktiv, dass wir uns in eine ziemlich blöde Situation hineinmanövriert hatten. Wir waren schließlich beide keine Achtzehn mehr. Als junges Volk hätten wir über jenen Samstagabend vermutlich herzhaft gelacht. Sie vermutlich auch.“
“Wohl kaum“, erwiderte Sandra schnippisch. “So was würde mir nicht passieren.“
“Sag niemals nie“, konterte Ellen und nahm einen kräftigen Schluck.
“Okay“, kam die junge Rechtsanwältin wieder zur Sache. “Wie ging es anschließend weiter?“
Dabei warf sie einen verstohlenen Blick auf die Armbanduhr. Die Zeit drängte.
“Als Max nach Hause kam, wirkte er irgendwie verändert“, fuhr Ellen fort. “Wie ich anschließend von ihm erfuhr, hatte er sich während der Klassenfahrt mit einem Mädchen auf einem Nachbarschiff angefreundet. Tja, und wie das halt so ist, am letzten Abend kam es dann zu einer folgenschweren Begegnung. Viel ist freilich nicht passiert; die beiden haben offenbar nur Händchen gehalten. Inzwischen kennt er vermutlich nicht einmal mehr ihren Namen. Aber mir versetzte die Angelegenheit einen Stich.“
Sandra hob die Augenbrauen. “Inwiefern?“
“Na, Sie sind gut. Mutter und Sohn sind nach über zehn Jahren das erste Mal so was wie Strohwitwer. Und wer hat beim anderen Geschlecht mehr Erfolg? Ausgerechnet dieser Bengel. Man glaubt es nicht.“
Sandra fiel in ihr anschließendes Lachen ein.
“Nein, ernsthaft“, fuhr Ellen schließlich fort. “Erst da kam mir so richtig zu Bewusstsein, dass ich auch ein eigenes Leben hatte. Max würde schon bald seine eigenen Wege gehen, und ich sah mich, zumindest in meiner Vorstellung, bereits als alte Oma im Schaukelstuhl hocken. Mir wurde schlagartig klar, dass sich in meinem Leben etwas ändern musste, wollte ich nicht tatsächlich versauern. Doch was sollte ich tun? Mir fehlte einfach Geld. Und auf so Typen wie Konrad Gutfried wollte ich nicht angewiesen sein.“
“Verstehe“, meinte die junge Rechtsanwältin. Das leuchtete ihr ein.
“Fahren Sie fort.“
5
Nach seiner Rückkehr von der Klassenfahrt zeigte sich Max seltsam einsilbig. Ellen führte diese Verstocktheit auf sein erstes Liebesabenteuer zurück, das er vermutlich erst noch richtig verarbeiten musste. Zuweilen sahen sie sich nur abends zu den Quizsendungen. Dann hockte er vor dem Fernseher und verfolgte die Sendungen geradezu akribisch. Ellen beteiligte sich nur noch widerwillig an dem Ratespiel. Es wurde ihr langsam lästig, sich jedes Mal förmlich ausquetschen lassen zu müssen. Seit sie ihm versprochen hatte, immer ehrlich zu antworten, führte er über richtige und falsche Antworten pedantisch Buch. Jeden Abend rechnete er ihr vor, wie viel sie gewonnen hätten, wäre sie in der jeweiligen Quizrunde Kandidat gewesen. Und dann passierte, woran Max eigentlich gar nicht mehr geglaubt hatte, wie er später eingestand. In einer der Vorabendsendungen durfte der jeweilige Teilnehmer auf einen so genannten Telefonkandidaten zurück greifen. Das war jemand, der sich über die Hotline qualifiziert hatte.
Ellen stand in der Küche, um das Abendessen zuzubereiten, als Max aufgeregt herein stürmte.
“Du musst jetzt sofort kommen“, forderte er.
“Wohin?“ fragte sie leichthin. “Du siehst doch, dass ich am Herd stehe.“
“Das hat jetzt Zeit“, meinte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. “Bitte, du musst jetzt kommen.“
“Du hast vielleicht Nerven“, stöhnte sie, band sich jedoch die Schürze ab und stellte die Herdplatte ab. “Was gibt es denn so Interessantes.“
“Oh, nein!“ rief sie schließlich kopfschüttelnd. “Doch nicht etwa wegen dieser blöden Quizsendung.“
Erst in diesem Moment fiel ihr auf, dass Max den Telefonhörer in der Hand hielt. Ellen dämmerte, um wen es sich bei dem Anrufer handelte.
“Wenn das stimmt, was ich im Augenblick vermute, dann kannst du aber was ...“
Sie nahm den Hörer und meldete sich.
“N‘Abend, Frau Graf“, meldete sich eine Stimme. “Hier ist Heike Lang von ‘Euroquiz‘. Haben Sie einen Augenblick Zeit?“
“Wenn ich ehrlich sein soll, nein“, murmelte Ellen. “Ich stehe nämlich gerade ...“
Heike Lang lachte schrill. “Na, Sie sind gut. Wir rufen Sie an, weil Sie als Telefonkandidat in Frage kommen. Ich denke, Sie sehen unsere Sendung regelmäßig. Bleiben Sie bitte am Apparat.“
Ellen deckte die Sprechmuschel ab und wandte sich an Max.
“Wenn ich hiermit fertig bin, mein Freund“, drohte sie ihm, “dann kannst du was erleben. Ich glaube, du spinnst wohl.“
“Ich stell mal lauter!“ Max drehte den Ton vom Fernsehgerät höher.
Der Kandidat hatte gerade die letzte Frage falsch beantwortet. Ellen sah genauer hin. Na, fein. Somit handelte es sich bei der nächsten Frage tatsächlich um das Zuschauerquiz. Sobald ein Kandidat eine Frage nicht richtig beantworten konnte, durfte er sich die nächste von einem Zuschauer beantworten lassen. Wurde sie falsch beantwortet, verlor der Kandidat all sein bisher gewonnenes Geld. Das Tückische dabei war, dass der Telefonkandidat keine Auswahlantworten geboten bekam. Und ihm blieben nur zehn Sekunden Zeit, damit er nicht schnell im Lexikon nachlesen konnte. Bisher hatten erst drei Zuschauer die ihnen gestellte Frage richtig beantwortet. Zuschauerfragen galten als die schwierigsten in dieser Vorabendshow.
Heike Lang meldete sich erneut.
“Sind Sie noch dran?“ fragte die Frau am anderen Ende der Leitung.
Ellen nickte. “Klar.“ Ihr Mund war mit einem Mal staubtrocken.
“Okay, aufpassen“, rief die Anruferin. “Sie sind sofort auf Sendung. Vier, drei, zwei ... Und Ton ab!“
“Guten Abend! Hier spricht Matthias Lutze. Mit wem spreche ich?“
“Mit Ellen Graf“, antwortete Ellen leise.
“Pardon, ich habe nicht verstanden.“
“Mit Ellen Graf“, erwiderte sie etwas lauter.
“Schön, Ellen“, lachte der Moderator. “Sie wissen, wie das Spiel läuft? Sie beantworten die nächste Frage. Liegen Sie richtig, winken Ihnen zehntausend Euro, und der Kandidat darf weiter spielen. Haben Sie falsch getippt, gehen Sie leer aus, und der Kandidat ist draußen. Alles klar? Dann viel Glück. Hier kommt die Frage.“
Ellens Handflächen wurden feucht. Ihr Puls begann zu rasen. Erst in diesem Augenblick wurde ihr klar, dass jetzt ungefähr fünf Millionen Bundesbürger ihrer Stimme lauschten. Und ihre Kolleginnen. Wenn Sie diese Frage nicht richtig beantwortete, dann war sie blamiert bis auf die Knochen.
“Wie lautet der Name der kleinsten bewohnten britischen Kanalinsel?“
Max riss unwillkürlich die Augen auf. Mit riesigen Augen starrte er seine Mutter an.
“Die Kleinste?“ fragte Ellen nach.
“Ja“, erwiderte der Moderator ungeduldig. “Machen Sie rasch. Sie haben nur noch wenige Sekunden.“
“Les Casquets“, murmelte Ellen.
“Wie bitte?“ hakte der Moderator nach. “Ich habe nicht verstanden.“
“Les Casquets“, wiederholte Ellen.
“Tja, das tut mir leid, Frau Graf“, grinste ihr Matthias Lutze über den Fernsehbildschirm entgegen. “Die richtige Antwort lautet: Herm.“
Max schlug die Hände vor das Gesicht und begann laut zu jammern. Ellen schüttelte den Kopf.
“Dann schauen Sie aber noch einmal nach“, unterbrach sie den Mann, der sich schon wortreich von ihr verabschieden wollte.
Schlagartig wurde es still. Sowohl im Zuschauerraum als auch in der Leitung.
“Wie bitte?“ fragte der Moderator.
“Das kleinste bewohnte Eiland im Archipel der britischen Kanalinseln heisst meines Wissens Les Casquets. Dort arbeiten Menschen in einer Küstenwachstation. Das habe ich erst unlängst in einer Dokumentation des französischen Fernsehens gehört.“
Erst in diesem Augenblick spürte sie, wie ihre Hände zitterten. Na toll, dachte sie noch bei sich. Und fünf Millionen hören dir jetzt auch noch zu.
“Einen Augenblick, Frau Graf“, meinte Matthias Lutze. “Bleiben Sie bitte in der Leitung. Kurze Werbeunterbrechung.“
Ellen nahm die Werbeeinblendung gar nicht wahr. Max kam aus dem Hintergrund. Die Augen immer noch weit aufgerissen, starrte er sie fassungslos an. Ellen zuckte die Schultern.
“Was ist?“ fragte Max.
“Was weiß ich?“ erwiderte Ellen. “Auf Les Casquets leben das Jahr über Menschen. Und zwar in fest errichteten Gebäuden. Also ist sie bewohnt.“
Schließlich erschien wieder Matthias Lutze auf der Mattscheibe. Er lachte, aber sein Lachen wirkte irgendwie gekünstelt.
“Gratulation! Les Casquets ist völlig richtig. Entschuldigen Sie bitte die Aufregung. Nochmals Glückwunsch zu den zehntausend Euro. Dank Ihrer Hilfe kann jetzt auch der Kandidat weiterspielen.“
Im Zuschauerraum wurde heftig applaudiert. Heike Lang meldete sich wieder am Telefon.
“Glückwunsch, Frau Graf. Geben Sie mir jetzt bitte zur Sicherheit noch einmal Ihre Adresse, damit der Scheck auch richtig ankommt.“
Als sie den Hörer auf die Gabel zurücklegte, fiel ihr Max bereits um den Hals. Das hatte er schon lange nicht mehr getan. Und dann brach der eigentliche Sturm los. Bis spät in den Abend blieb das Telefon nicht mehr ruhig. Sogar Heike meldete sich. Am meisten freute sie sich jedoch über den Anruf von Konrad Gutfried. Auch wenn sie es sich zunächst nicht eingestehen wollte.
Mathilde konnte es immer noch nicht glauben. Unablässig knetete sie ihre massigen Hände.
“Also ich fasse es nicht“, wiederholte sie bestimmt zum zehnten Mal. “Gewinnt mit einem Schlag zehntausend Euro. Wahnsinn!“
Auch Lucie, die jüngste der drei Verkäuferinnen, konnte sich kaum beruhigen. “Mensch, zehntausend Euro! Was machst du mit all dem Geld?“
Ellen lächelte milde. “Bis jetzt habe ich noch keinen roten Heller gesehen. Ich glaube das sowieso erst, wenn der Scheck da ist.“
“Soviel Geld“, schwärmte Mathilde. “Also, ich würde erst mal in Urlaub fahren. Aber nicht Mallorca. Kreuzfahrt. Ich sage nur: Kreuzfahrt.“
“Quatsch!“ Lucie schüttelte den Kopf. “Ein Auto. Ellen soll sich endlich ein Auto anschaffen.“
“Hört mit dem Unsinn auf!“ lachte Ellen. “Mit dem Geld werde ich erst mal Max ein paar neue Klamotten kaufen. Und mir den neuen Mantel, auf den ich schon seit letztem Jahr spare. Und der Rest wird angelegt.“
“Damit die Banken noch reicher werden, was?“ muffelte Mathilde, die keinen Hehl daraus machte, was sie von Bankern und Großkapitalisten hielt.
“Das ist mir, ehrlich gesagt, schnurzegal“, fiel ihr Ellen ins Wort. “Von den Zinsen kann ich Max jedes Jahr ein schönes Weihnachtsgeschenk kaufen.“
“Ich würde mir trotzdem ein Auto anschaffen“, beharrte Lucie auf ihrer Vorstellung von schnellem Konsum. “Damit kannst du in Urlaub fahren, bist schneller im Laden ...“
“... und werde von den Kosten aufgefressen“, beendete Ellen ihren begonnenen Satz. “Wovon soll ich denn anschließend Sprit, Steuer und Versicherung bezahlen? Ich komme ja so schon kaum über die Runden.“
“Nun denk doch nicht immer nur an die Kosten“, warf Mathilde in die Diskussion. “Denk doch auch mal an dich. Du wirst auch nicht jünger. Was hast du von zehntausend Euro auf der Bank, wenn draußen das Leben an dir vorbei geht?“
Ellen starrte ihre Kollegin schweigend an. Mathilde war eine einfache Frau. Weder besonders intelligent noch schlagfertig. Aber wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Vielleicht sollte ich mir das mit dem Auto oder einem längeren Urlaub tatsächlich mal durch den Kopf gehen lassen, dachte Ellen im Stillen. Doch im nächsten Moment verwarf sie diesen Gedanken auch schon wieder. Absurd.
“Was ist jetzt mit dem Mountainbike?“ löcherte Max seine Pflegemutter. Unruhig rutschte er von einer Pobacke auf die andere.
“Was soll damit sein?“ brummte Ellen. Solche Diskussionen beim Frühstück waren ihr fremd.
“Mensch, das Ding kostet nur Fünfhundert“, meinte er aufgeregt. Sein Feuermal glühte mal wieder purpurrot. “Damit wäre ich auch viel schneller in der Schule. Mein altes Damenfahrrad, das du mal vom Fundbüro besorgt hast, gehört doch wirklich langsam ins Museum. Und auf den blöden Bus könnte ich dann auch verzichten.“
“Hör schon auf, Cowboy. Du willst doch nur vor deinen Freunden angeben, stimmt’s?“
“Quatsch! Was du nur wieder denkst.“
“Ich denke wohl ziemlich richtig. Nein, tut mir leid. Fünfhundert Euro werden nicht so einfach für ein Fahrrad verplempert. Wir können ja mal schauen, ob wir irgendwo ein Gebrauchtes bekommen.“
Max‘ Stimmung schlug um. Er wurde richtig wütend.
“Wem hast du es denn zu verdanken, dass wir das viele Geld haben? Hätte ich nicht angerufen ...“
“Gut, dass du das ansprichst, mein Freund“, unterbrach ihn seine Mutter. “Darüber wollte ich ohnehin noch mit dir reden. Ich habe bisher darüber geschwiegen, um uns nicht die Stimmung zu verderben, aber jetzt lässt du mir offenbar keine andere Wahl.“
Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Der Kaffee war längst kalt. Sie hasste kalten Kaffee genauso wie solche Diskussionen. Früher wäre das nicht passiert. Verdammte Quizsendung.
“Ab heute sind sämtliche Telefonate mit irgendwelchen Hotlines für dich tabu“, fuhr sie fort. “Zumindest, solange sie mich betreffen. Ich lasse mich doch nicht von dir vorführen. Wer bin ich denn? Ich habe die Frage richtig beantwortet. Also habe in erster Linie ich Anspruch auf das Geld. Und ich entscheide, was damit passiert.“
“Ich, ich, ich“, äffte sie der Dreizehnjährige nach.
“Gleich verliere ich die Geduld“, knurrte Ellen. “So kannst du mit deinen Freunden reden, hörst du? Aber nicht mit mir.“
Max schaute seine Mutter wutentbrannt an. Doch als er ihr entschlossenes Gesicht sah, gab er schließlich klein bei. Betreten starrte er auf seinen Teller. Fast tat er ihr Leid. Natürlich konnten sie sich seit dem Eingang des Schecks ein solches Mountainbike leisten. Da blieben immer noch neuntausendfünfhundert Euro übrig. Aber Max musste lernen, dass man nicht so ohne weiteres über das Geld anderer Leute verfügen konnte. Auch dann nicht, wenn es das Geld der Mutter war. Andererseits hatte er ja Recht. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, diese Hotline anzurufen. Ohne Max‘ Initiative hätte sie eigentlich keinen Cent mehr auf dem Konto. Na ja, vielleicht ...
Als Ellen am darauf folgenden Wochenende durch die Fußgängerzone in der Innenstadt bummelte, fühlte sie sich zum ersten Mal sauwohl. Was zehntausend Euro auf dem Konto ausmachen konnten! Sie ertappte sich dabei, dass sie die Auslagen all der Boutiquen, an denen sie sonst achtlos vorüber gegangen wäre, unter die Lupe nahm. Und ehe sie sich versah, wurden die Einkaufstüten in ihren Händen immer zahlreicher. Gegen zwei Uhr mittags hatte sie bereits über tausend Euro ausgegeben. Dafür besaß sie jetzt aber auch den Mantel, den sie sich so sehr gewünscht hatte, zwei Paar neue Schuhe und ein Cocktailkleid. Für den Fall, dass ich noch mal eingeladen werde, schmunzelte sie vor sich hin. Dann aber plagte sie das schlechte Gewissen. Max würde zu recht sauer sein. Sie räumte die Boutiquen ab, und ihm gönnte sie nicht mal das Fahrrad. Kurz entschlossen packte sie die Einkaufstüten fester und betrat das Fahrradgeschäft. Zehn Minuten später war das Mountainbike gekauft. Irgendwie kam es ihr vor, als wäre an diesem Tag Heiligabend.
Ellen stand in der Küche und bügelte Max‘ Sporttrikot. Sie seufzte. Seit er das Mountainbike besaß, kam er überhaupt nicht mehr zum Fußball spielen. Erst riefen Paul und Norbert noch pausenlos an, aber Max war ständig auf Achse. Bald schon wurden die Nachfragen spärlicher. Seit er das Rad besaß, hatte er rasch Anschluss an eine Clique von Mountainbikern bekommen. Mit denen raste er seit neuem über das unbefestigte Gelände im Stadtpark. Da Paul und Norbert keine geländetauglichen Fahrräder besaßen, konnten sie bei diesen Exkursionen nicht mitmachen. Ellen hatte den Jungen deswegen schon einmal zur Rede gestellt, aber Max zuckte nur die Schultern. Ihr war so, als wäre seit dem unverhofften Geldsegen eine merkwürdige Veränderung in ihm vorgegangen.
Das Telefon klingelte.
“Langsam sollte ich mir einen Anrufbeantworter zulegen“, seufzte sie, legte das Bügeleisen beiseite und lief ins Wohnzimmer.
“Graf.“ Ellen erwartete, dass einer seiner Freunde nach Max fragte.
“Frau Graf?“ meldete sich eine weibliche Stimme. “Frau Ellen Graf?“
“Ja“, antwortete Ellen verblüfft. “Wer ist denn da?“
“Mein Name ist Heike Lang“, erwiderte die fremde Stimme. “Wir haben schon einmal miteinander telefoniert. Sie erinnern sich vielleicht. Ich gehöre zum Aufnahmeteam von der Rateshow ‘Euroquiz‘. Hätten Sie vielleicht eine Sekunde ...?“
“Dieser Lausebengel!“ stieß Ellen hervor. “Hat der doch schon wieder hinter meinem Rücken ...“
“Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen ins Wort falle“, unterbrach die Anruferin. “Ich verstehe nicht.“
“Mein Sohn, nicht wahr?“ schimpfte Ellen. “Der hat schon wieder die Hotline angerufen und mich als Telefonkandidaten gemeldet. Na, der soll was erleben, sobald der zu Hause ist.“
Es blieb einen kurzen Moment still in der Leitung. Ellen kam es so vor, als würde ihre Gesprächspartnerin mit jemandem im Hintergrund flüstern. Schließlich meldete sie sich wieder zu Wort.
“Tut mir leid, Frau Graf. Es handelt sich nicht um eine Hotline-Nominierung als Telefonkandidat. Nein, ich rufe vielmehr wegen einer Teilnahme bei unserem Fernsehquiz an. Live im Studio. Haben Sie am Dienstag Zeit?“
“Am Dienstag?“ fragte Ellen verblüfft. “Um wieviel Uhr?“
“Zehn Uhr morgens findet das Casting im Sender statt“, antwortete die Produktionsassistentin. “Die Sendung beginnt um achtzehn Uhr. Natürlich bekommen Sie ein warmes Mittagessen. Für An- und Abreise steht ein ...“
“An einem normalen Wochentag?“ fiel ihr Ellen ins Wort. “Keine Chance. Ich bin Hausfrau und Mutter. Im übrigen habe ich einen Job. Ich arbeite als Verkäuferin.“
“Na, aber Sie werden sich doch bestimmt einen Tag frei nehmen können.“
Unwillkürlich dachte Ellen an ihre Filialleiterin. Sibylle Weber würde bestimmt nicht begeistert ein, käme sie mit dem Wunsch nach einem Tag Urlaub.
“Ich glaube kaum“, bedauerte sie.
Ellens Handflächen wurden feucht. Sie spürte, wie ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinunterlief. Teilnahme bei ‘Euroquiz‘. Diese Show besaß zwar nicht die Klasse der Sendung von Bernd Gerber, aber immerhin. Schließlich betrug der Hauptgewinn eine Viertelmillion Euro. Das war auch eine schöne Summe Geld. Jetzt spinnst du aber komplett, schalt sie sich in Gedanken. Plötzlich wurde ihr schwindelig. Sie musste sich setzen. Vor ihren Augen tauchte ein imaginärer Berg von Geldscheinen auf. Ihre Kehle fühlte sich wie ein Reibeisen an.
“Sollen wir vielleicht mal mit Ihrem Arbeitgeber sprechen?“ räumte die Anruferin ein. “Wir haben Erfahrung in solchen Dingen.“
“Unterstehen Sie sich!“ rief Ellen. “Wenn überhaupt, dann nehme ich das schon selbst in die Hand. Bis wann muss ich Ihnen Bescheid geben?“
Die Mitarbeiterin des Aufnahmeteams überlegte ein paar Augenblicke.
“Tja, bis Montagmittag müssten wir es schon definitiv wissen. Schließlich haben wir auch Zeitvorgaben. Ich gebe Ihnen die Telefonnummer, unter der Sie mich erreichen können.“
Noch lange, nachdem ihre Gesprächspartnerin aufgelegt hatte, hockte sie mit dem Hörer in der Hand im Wohnzimmersessel und starrte den abgeschalteten Fernsehbildschirm an.
Am darauf folgenden Montag konnte Ellen nicht früh genug im Geschäft sein. Sie erreichte den Drogeriemarkt lange vor dem Eintreffen der Filialleiterin. Ellen stürmte als erstes in den Personalraum. Dann stockte ihr Herz. Am Schwarzen Brett hing ein Zettel mit einer Nachricht. Sibylle Weber teilte darauf ihren Mitarbeiterinnen mit, dass sie sich wegen eines Zahnarztbesuchs etwas verspäten würde. Was ist denn bloß mit dir los, fragte sie sich insgeheim. Vorgestern noch hättest du keinen Gedanken an eine Teilnahme bei einem Fernsehquiz verschwendet, und heute würdest du vermutlich deine Seele verkaufen, nur um einen freien Tag zu bekommen. Mit einer energischen Handbewegung griff sie nach einem Karton mit Hundefutter, um die Päckchen in das hierfür vorgesehene Regal zu stellen. Eigentlich war das Lucies Job, aber sie musste sich irgendwie auf andere Gedanken bringen. Und das klappte immer noch am besten bei der Arbeit. Doch es gelang ihr nicht. Etwas brachte sie dauernd aus dem Konzept. Als Mathilde sich anschließend wunderte, was denn Hundefutter bei den Leckereien für Katzen zu suchen habe, schüttelte sie nur noch den Kopf. So ging das nicht weiter, dachte sie bei sich. Himmel, was ist denn los? Dass dich ein einfacher Telefonanruf, bei dem es um nichts anderes ging als ein Casting für eine Ratesendung, so aus der Bahn wirft, schimpfte sie mit sich. Ein saublödes Quiz. Kinderkram. Doch sie wusste, dass sie sich selbst belog. Es ging nicht um ein saublödes Quiz. Es ging um die Chance, vielleicht wirklich das Leben verändern zu können, wie es der Moderator zu Beginn jeder Ratestunde immer wieder gebetsmühlenartig Zuschauern wie auch Kandidaten zu verstehen gab. Sie dachte an Max. Sie dachte an sich selber. Endlich könnte sie Max ein schönes Leben bieten. Sie könnten sich etwas leisten. In Urlaub fahren, ein Auto kaufen, tolle Klamotten tragen. Sie könnte endlich ausgehen, ohne sich für ihr Outfit schämen zu müssen. Ellen erschrak bei diesen Gedanken. War ihr beider bisheriges Leben wirklich so wenig wert?
“Träumen Sie?“ hörte sie von hinten eine Stimme. Ellen fuhr erneut zusammen. Es war die Stimme von Sibylle Weber, der Filialleiterin.
“Natürlich nicht“, begehrte Ellen auf. “Ich war nur ein bisschen in Gedanken.“
Ihre Filialleiterin wollte sich bereits abwenden, doch Ellen hielt sie am Ärmel zurück.
“Ich hätte da eine Frage, Frau Weber.“
“Ja, aber rasch“, brummte ihre Chefin. “Ich muss noch ein paar Telefonate führen.“
“Kann ich morgen frei haben?“
Sibylle Weber zog die Stirn in Falten.
“Wie bitte? Frei haben. Morgen? Wofür?“
Ellen überlegte fieberhaft. Eigentlich hätte sie mit dieser Frage rechnen müssen. Was sollte sie antworten? Dass sie an einer Quizsendung teilnehmen wollte? Die Weber würde sie schallend auslachen. Arztbesuch? Termin beim Jugendamt? Quatsch! Wenn sie morgen im Fernsehen auftrat, dann wusste davon tags darauf ohnehin die halbe Stadt. Sie konnte doch ihre Vorgesetzte nicht belügen. Die brachte es fertig und würde für ihre Entlassung sorgen. Und das auch noch zu Recht.
“Ich möchte an einem Quiz teilnehmen“, brach es aus ihr heraus.
“Sie wollen bitte was?“ Ihre Chefin schien offenbar ihren Ohren nicht zu trauen.
“Ich möchte gerne an einer Quizsendung teilnehmen“, wiederholte Ellen.
“Tut mir leid, aber das geht nicht“, erhielt sie zur Antwort.
“Und wieso nicht?“
“Morgen kommt die Babynahrung. Wer soll sich denn darum kümmern. Ich etwa?“
Sie drehte sich auf dem Absatz um und ließ ihre Untergebene einfach stehen.
“Das gibt‘s doch nicht“, entfuhr es Ellen.
“Sie sehen doch, dass es so was gibt“, rief ihr die Weber über die Schulter zurück. Sie hielt es nicht einmal für nötig, Ellen dabei anzusehen.
Ellens Anspannung wich und machte einem Gefühl ohnmächtiger Wut Platz.
“Das wollen wir doch mal sehen!“ zischte sie halblaut vor sich hin.
Enttäuscht und wütend zugleich stürmte sie in den Aufenthaltsraum für das Personal und warf sich auf einen der Plastikstühle. Noch vor ein paar Tagen hätte sie über diese Behandlung durch ihre Chefin nur gelacht, doch unbewusst war die Teilnahme an der Quizsendung für sie längst Realität geworden. Dabei ging es gar nicht um die Sendung an sich. Es ging um die Möglichkeit, vielleicht ihr Leben und das ihres Sohnes in eine andere Bahn zu lenken. Wenn sie einen Teil der Fragen richtig beantwortete und zur rechten Zeit ausstieg, konnte sie bestimmt eine fünfstellige Summe mit nach Hause nehmen. An den Hauptgewinn wagte sie ohnehin nicht zu denken. Mit dem erspielten Geld konnte sie eine andere, größere Wohnung mieten. Sogar ein eigenes Auto rückte dadurch in erreichbare Nähe. Erst jetzt merkte Ellen, dass ihr Puls raste und ihr das Herz bis zum Halse schlug. Sie wollte, nein, sie musste diese Chance einfach wahrnehmen. Es ging um zuviel. Es ging um die Zukunft ihres Sohnes. Und um ihre eigene. Und ausgerechnet diese Hexe wollte ihr einen Strich durch die Rechnung machen.
Unwillkürlich fiel ihr Blick auf den Telefonapparat, der neben der Tür an der Wand hing. Ihr kam ein verwegener Gedanke.
“Droma“, flötete die Stimme am anderen Ende der Leitung. “Geschäftsführung. Was kann ich für Sie tun?“
“Hier spricht Ellen Graf von der Filiale am Martinsplatz. Kann ich wohl mit Herrn Gutfried sprechen?“
“Herr Gutfried?“ fragte die Stimme gelangweilt. “Vom Vorstandssekretariat?“
“Korrekt.“ Ellen presste den Hörer noch fester ans Ohr.
“Der ist im Augenblick nicht in seinem Büro“, erwiderte die Telefonistin. “Was wollen Sie überhaupt von ihm?“
“Ich muss ihn dringend sprechen“, beharrte Ellen. “Können Sie mir sagen, wo ich ihn erreichen kann?“
“Wenn Sie mir nicht sagen wollen, worum es geht, dann tut es mir Leid. Und über den Aufenthalt unserer Führungskräfte geben wir grundsätzlich keine Auskunft. Schönen Tag noch.“
Es klickte, und die Leitung war tot. Wie paralysiert legte Ellen den Hörer zurück auf die Gabel. Es kostete sie ohnehin schon Überwindung genug, in der Zentrale anzurufen und Konrad Gutfried zu verlangen. Sie wusste auch eigentlich gar nicht, was sie ihm sagen sollte. Trotzdem war ihr so, als hätte ihr nur Konrad helfen können. Sie stutzte. Nun nannte sie den Kerl in Gedanken bereits beim Vornamen. Wo sollte das bloß hinführen?
Ellen überlegte weiter. Sollte sie jetzt schon beim Sender anrufen und sich abmelden? Ihre Hand schnellte vor, doch im nächsten Moment zuckte sie wieder zurück. Nein, durchfuhr es sie. Es war jetzt elf Uhr. Es blieb noch eine Stunde Galgenfrist. Vielleicht fiel ihr ja doch noch eine Lösung ein.
“Ich bin rasch zur Bank“ rief Sibylle Weber, während sie mit wehendem Mantel vorbei rauschte, ihre Mitarbeiterin dabei aber keines Blickes würdigte. Keine zwei Wimpernschläge später war sie aus ihren Augenwinkeln verschwunden.
“Na, fein“, knurrte Ellen leise vor sich hin. “Jetzt wollen wir doch mal sehen ...“
Ohne lange nachzudenken, durchquerte Ellen das Ladenlokal und betrat das Büro ihrer Chefin. Auf dem Schreibtisch türmten sich stapelweise Abrechnungen, Broschüren und anderer Schriftverkehr. Sie suchte einen Hinweis auf Konrad Gutfried. Vielleicht seine Privatanschrift oder seine direkte Durchwahlnummer. Unter Umständen gab es eine Rufumleitung, und sie konnte ihn auf diese Weise erreichen. Ellen hatte unverschämtes Glück. Als sie den Filofax ihrer Chefin zur Hand nahm, rutschten ein paar Visitenkarten aus einem Fach. Rasch hob sie die Kärtchen vom Boden auf, um sie zurück zu stecken. Dabei fiel ihr Blick auf die Karte von Konrad. Mit zitternden Händen notierte sich Ellen die darauf vermerkten Telefonnummern, legte das schwere Notizbuch wieder an ihren Platz zurück und verließ den Raum.
“Was machst du denn bei der Weber im Büro?“ fragte Lucie erstaunt. Mist! Ausgerechnet jetzt musste ihre jüngere Kollegin in unmittelbarer Nähe ein Regal auffüllen.
“Ach, nichts. Ich habe nur nach dem Schlüssel für den Lagerraum gesucht.“
“Aber der hängt doch bei uns im Aufenthaltsraum“, wunderte sich Lucie.
“Stimmt.“ Ellen spielte die Zerstreute. “Wo bin ich heute bloß mit meinen Gedanken?“
Kurze Zeit später nahm sie den Telefonhörer zur Hand und wählte die Handynummer, die auf der Visitenkarte vermerkt war.
“Gutfried“, meldete sich eine vertraute Stimme.
“Graf, hier“, erwiderte Ellen. “Entschuldigen Sie bitte die Störung.“
“Graf?“ fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung. “Steffi Graf?“
“Nein, Ellen natürlich“, antwortete sie.
Ihr Gesprächspartner lachte.
“Ellen! Nett, dass Sie sich einmal melden. Woher haben Sie eigentlich meine Handynummer?“
Ellen rutschte das Herz ein ganzes Stück tiefer. Volltreffer! Jetzt hatte man sie. Wie sollte sie ihm bloß erklären, auf welche Weise sie an seine Visitenkarte heran gekommen war? Das wäre ein echter Kündigungsgrund gewesen. Zumindest ein Grund für eine deftige Abmahnung.
“Können Sie etwas für mich tun?“ fragte sie statt dessen.
“Natürlich“, erwiderte Konrad Gutfried. “Allerdings geht es im Augenblick schlecht. Ich stecke mitten in einer Besprechung.“
“Oh!“ Das war‘s dann, dachte sie bei sich.
“Augenblick“, meldete er sich kurz darauf wieder zu Wort. “So, ich bin jetzt im Nachbarraum. Diese Diskussion war sowieso langweilig. Da unterhalte ich mich schon lieber mit Ihnen. Also, was kann ich für Sie tun?“
Ellen schluckte heftig. Sollte sie wirklich mit der Sprache herausrücken?
“Ich möchte gerne morgen einen Tag frei nehmen“, ließ sie die Katze aus dem Sack.
“Für Sonderurlaub ist aber die Filialleitung zuständig“, entgegnete Gutfried.
“Das weiß ich, aber Frau Weber lässt in dieser Beziehung nicht mit sich reden.“
“Was meint denn die Personalabteilung dazu?“
“Mit der habe ich noch gar nicht gesprochen“, gab sie kleinlaut zu.
“Tja“, kam es aus dem Hörer. “Dann weiß ich auch nicht.“
“Schade“, meinte Ellen. “Kann man nichts machen. War ja nur eine Frage. Tschüß, Herr Gutfried.“
“He, mal langsam“, meldete sich ihr Gesprächspartner wieder zu Wort. “Erzählen Sie mir erst mal, wozu Sie den Urlaubstag brauchen.“
Was soll’s, dachte Ellen. Ist ja eh zu spät. Kannst es ihm ruhig sagen.
“Ach, die Sendeleitung von dieser Quizsendung hat bei mir angerufen“, murmelte sie betreten. “Die von ‘Euroquiz‘. Sie wissen schon: Die Sendung, bei der ich letztens als Telefonkandidatin mitgespielt habe. Die wollen, dass ich morgen in die Sendung komme.“
“Als Zuschauerin?“
“Nein, als Kandidatin“, widersprach Ellen. “Das Problem ist nur: Die wollen bis Mittag eine Antwort von mir haben.“
“Verstehe“, erwiderte Gutfried. “Okay, passen Sie auf. Sie tun Folgendes ...“
“Konrad Gutfried hat Sie also im letzten Augenblick noch förmlich losgeeist?“ sagte die junge Rechtsanwältin. “Wie in Dreiteufelsnamen hat er das gemacht? Ihnen blieben doch höchstens noch fünfundvierzig Minuten.“
Ellen goss sich erneut das Glas voll. Langsam fiel ihr das Sprechen schwer. Kein Wunder. Der Inhalt der Flasche hatte schon beinahe zur Hälfte den Weg durch ihre Kehle gefunden. Es wärmte so schön. Nicht nur den Magen.
“Das erfuhr ich erst, als alles vorbei war“, gab Ellen schließlich zu. “Konrad rief einen Kollegen in der Personalabteilung an und schilderte ihm mein Problem. Na ja, und als er dabei vorgab, mich begleiten zu wollen, war alles nur noch Formsache. Wer schlägt schon den Wunsch des Vorstandssekretärs ab?“
“Die Weber war wohl stinksauer auf Sie, als sie das Fax der Personalabteilung auf ihrem Schreibtisch vorfand, stimmt’s?“
Ellen nickte. “Aber was sollte sie machen? Gegen Gutfrieds Stellung in der Firma kam sie nicht an. Und sich offiziell im Personalbüro beschweren, das traute sie sich auch nicht.“
“Tja, und damit hatten Sie wohl noch eine Freundin weniger auf der Welt, nicht wahr?“ fuhr Sandra fort.
“Das war mir piepegal. Was mich viel mehr störte, war die Tatsache, dass ich bei Konrad in der Schuld stand.“
“Inwiefern?“
“Sind Sie so naiv, oder tun Sie nur so?“ schnaubte Ellen. “ Eine Hand wäscht bekanntlich die andere. Ein triftiger Grund für ihn, mich ins Bett zu bekommen.“
“Und?“ stocherte Sandra weiter. “Ist es ihm gelungen?“
“Ihr Diktiergerät ist gerade stehen geblieben“, brummte Ellen und deutete auf die erloschene Kontrolllampe.
Sandra nahm den kleinen schwarzen Kasten zur Hand und schüttelte ihn.
“Mist!“ entfuhr es ihr.
Ellen lächelte breit. “Macht nichts. Ich habe Zeit. Besorgen Sie sich am besten neue Batterien. Ich warte solange.“
Ironie mischte sich in Sandras Stimme. “Was sollten Sie auch sonst tun.“
“Sehen Sie“, erwiderte die Frau in der Anstaltskleidung unbeeindruckt.
6
Mit fauchenden Luftdruckbremsen kam der schwere Reisebus zum Stehen. Im Innern des Busses hockten etwa sechzig Leute. Ein Teil davon war als Kandidat für das ‘Euroquiz‘ vorgesehen. Im Prinzip hatten die Leute von der Produktionsgesellschaft alles perfekt vorbereitet. Ein Kurier brachte ihr die Fahrkarte für die Bahn nach Hause, und am Zielbahnhof wartete bereits der Bus auf sie, die übrigen Kandidaten und die Gäste, die aus ihrer Richtung kamen. Es dauerte keine dreiviertel Stunde, bis der Trupp das Produktionsstudio erreichte. Zwischendurch wurden sie mit Snacks bewirtet und erhielten zudem auch noch eine kostenlose Stadtrundfahrt. Neben Ellen hockte ein bleichgesichtiger Grünschnabel von allenfalls achtzehn, neunzehn Jahren, der pausenlos irgendwelche Schokoriegel in sich hinein stopfte und dermaßen nach Schweiß stank wie jemand, der die Dusche nur vom Hörensagen kannte. Ellen dachte an den bevorstehenden Fernsehauftritt, zumal wirklich noch gar nicht sicher war, dass sie überhaupt zu den in Frage kommenden Auswahlkandidaten gehörte. Ihr Reisebegleiter hatte ihnen den Ablauf der Show bereits in groben Zügen erklärt. Erst brachte man sie in ein Casting-Center. Dort sollten sie zehn Fragen richtig beantworten, und dabei fielen angeblich ohnehin vierzig bis fünfzig Prozent der Teilnehmer durch. Anschliessend wurden zwei Gruppen von sieben Leuten gebildet. Die erste Gruppe hatte sich unter das Publikum zu mischen. Und von diesen sieben Kandidaten kamen etwa drei bis vier in der Sendung dran. Das zweite Team stand eigentlich nur zur Sicherheit zur Verfügung. Falls die anderen noch vor Beginn der Sendung der Schlag traf, meinte ihr Reisebegleiter und machte sich erst gar keine Mühe, den Spott in seiner Stimme zu verbergen.
Ellen bemühte sich, den Schokoriegel kauenden Burschen auf ihrem Nachbarsitz zu ignorieren. Dafür nervte sie ein Ehepaar, das in der Sitzreihe vor ihr hockte. Der Mann strich andauernd die hervorragende Allgemeinbildung seiner Frau heraus. Die hatte sich angeblich über die Hotline qualifiziert. Hunderte Euro wären für das Telefonieren drauf gegangen, wie er schmunzelnd anmerkte. Als er erfuhr, dass Ellen bereits als Telefonkandidatin erfolgreich und ohne ihr eigenes Zutun unmittelbar von der Sendeleitung eingeladen worden war, erstarb jedoch sein Enthusiasmus. Ellen maß dieser Tatsache jedoch nicht mehr allzu viel Gewicht bei. Selbst wenn sie tatsächlich hinterher zur ersten Gruppe gehörte, bedeutete das trotzdem noch lange nicht, dass sie auch an die Reihe kam. Denn für gewöhnlich folgte stets ein männlicher Kandidat auf einen weiblichen. Auch das schränkte die Chancen stark ein.
Zudem musste sie ständig an ihren Sohn denken. Max hatte gequengelt, gefleht und geschimpft, um sie begleiten zu dürfen. Doch sie war hart geblieben. Die Schule ging vor. Er konnte ihren Auftritt ja vor dem Fernsehapparat verfolgen. Max wollte natürlich überhaupt nicht in Betracht ziehen, dass seine Mutter unter Umständen nicht zum Kreis der Kandidaten gehören könnte. In diesem Moment war Ellen heilfroh, dass sie alleine gefahren war. Es lastete schon genug Druck auf ihr. Da musste nicht auch noch die ohnehin hohe Erwartungshaltung ihres Sohnes hinzukommen. Auch Konrad Gutfried geisterte unablässig durch ihre Gedanken. Ihr war längst klar, dass es ausschließlich seiner Intervention zu verdanken war, dass kurz vor zwölf Uhr mittags das ersehnte Okay der Personalabteilung per Fax bei ihnen im Geschäft einging. Nur, wie er es überhaupt und dann auch noch so schnell angestellt hatte, das war ihr schleierhaft.
Ellen verließ den schweren Reisebus und blickte sich um. Vor ihr erstreckte sich eine breite Allee. Zu beiden Seiten standen große und kleine Gebäudekomplexe. Das mussten die einzelnen Studios sein. Sie hatte wohl schon davon gehört, dass in der Nähe von Köln im Laufe der letzten Jahre ein Film- und Fernsehproduktionszentrum, ein richtiges Klein-Hollywood, entstanden sein sollte. Dass das Gelände allerdings so riesig war, hatte sie sich nicht vorgestellt. Zwischen all den Studios konnte man sich leicht verlaufen. Wer da rasch zu einem Sendetermin zu erscheinen hatte, der musste sich schon verdammt gut auskennen.
Kaum, dass sie den Bus verlassen hatten, stürzten bereits zwei Leute vom Casting-Team auf sie zu und trennten Kandidaten von Besuchern. Auch das Ehepaar wurde getrennt, was dem Mann überhaupt nicht passte. Er wollte seine Frau am liebsten noch bis vor die Kamera begleiten. Zehn Minuten später wurden sie in einen Konferenzraum geführt, wo sie abzuwarten hatten, bis sie einzeln aufgerufen wurden. Wenigstens standen genug Schnittchen und Getränke zur Verfügung. Ihr Sitzplatznachbar jedenfalls stürzte sich sofort auf die Snacks. Nach einer knappen halben Stunde waren die Servierplatten leer.
Was sich anschließend abspielte, erinnerte Ellen an die mündlichen Prüfungen während ihrer Ausbildungszeit. Allerdings ging es hier noch härter zu. Sie hatte noch nie soviel Tränen fließen sehen. Vermutlich war jeder der Kandidaten, die sich über die Hotline qualifiziert hatten, davon ausgegangen, dass er hinterher tatsächlich dem Moderator Auge in Auge gegenübersaß und auch mit der sechsstelligen Summe das Studio verließ. Doch das Auswahlverfahren war gnadenlos. Es dauerte kaum zwei Stunden, da war das Kandidatenteam, wie vorher gesagt, auf vierzehn Leute zusammen geschrumpft. Die Frau, die im Bus mit ihrem Mann vor ihr hockte, gehörte ebenso wenig zu den noch Verbliebenen wie der bleichgesichtige Vielfraß. Ellen hatte es geschafft. Allerdings war ihr die Beantwortung der zehn Fragen auch relativ leicht gefallen. Sie bemerkte aus den Augenwinkeln, dass sich einer der Leute vom Casting-Team pausenlos Notizen machte. Hinterher wurde sie in einen Nebenraum gebeten, wo man ihr Fragen über ihren beruflichen Werdegang, ihre Hobbys und ihr Familienleben stellte. Ellen bemühte sich, nur unverfängliche Antworten zu geben.
Dann begann das Warten. Als hinterher alles längst vorbei war, kam es ihr so vor, als würde diese stundenlange Warterei auf den Beginn der Sendung nur dazu dienen, die Kandidaten nervös zu machen und dadurch zu verunsichern. Wozu mussten sie um neun Uhr morgens am Bahnhof sein, wenn die Sendung erst um sechs Uhr abends live übertragen wurde? Für Ellen war das Schikane. Die anderen Kandidaten empfanden das ähnlich. Schließlich ertappte sie sich dabei, mit einer Zigarette im Mund auf und ab zu laufen. Ein anderer Kandidat hatte ihr sein Päckchen und sein Feuerzeug hinübergeschoben. Ohne lange nachzudenken griff sie zu. Geraucht hatte sie seit Jahren nicht mehr. Es war ihr schlichtweg zu kostspielig.
Zwei Stunden vor der Sendung wurden sie schließlich von einem anderen Team, es nannte sich Staff-Crew, abgeholt und in zwei große Kombis verfrachtet. Es dauerte etwa zehn Minuten, ehe sich erneut ein Tor hinter ihnen schloss. Ellen atmete tief durch. Nun befand sie sich mit dreizehn anderen erwartungsvollen Kandidaten im Aufnahmestudio. Als Erstes wurden sie über den weiteren Ablauf informiert, erfuhren, was sie sagen durften und was nicht, wie sie sich im Studio zu bewegen und wie sie sich zu verhalten hatten, falls sie tatsächlich an die Reihe kamen. Ellen ließ die Prozedur mit geradezu stoischer Ruhe über sich ergehen. Sie glaubte nicht mehr daran, dass sie es bis auf den berühmt-berüchtigten Drehsessel im Scheinwerferlicht schaffen würde. Erst einmal musste sie zu dem richtigen Team gehören, und dann auch noch ein Mann vor ihr als Kandidat scheitern, es sei denn, sie kam als Erste an die Reihe. Um fünf Uhr nachmittags kam das Schminkteam, sie erhielten tragbare Funksender für den Aufnahmeton, und dann wurden sie zu ihren Sitzplätzen geführt. Ellen hockte in der vorletzten Reihe ganz hinten. Von ihrem Sitzplatz aus vermochte sie die beiden gegenüberliegenden Stühle für Kandidat und Moderator kaum richtig zu erkennen. Die anderen Kandidaten nahmen zumeist in der ersten Reihe Platz. Nervös ließ sie ihren Blick durch das Publikum schweifen. Bestimmt zweihundert Leute saßen in Form eines eng gebogenen Hufeisens um die eigentliche Bühne. Noch war der Zuschauerraum hell erleuchtet. Sie stutzte und hätte beinahe die Hände vor das Gesicht geschlagen. Oh, nein! In der zweiten Reihe von vorne entdeckte sie einen Mann, den sie erst unlängst kennen gelernt hatte. Er winkte ihr zu, erhob sich und kletterte die Stufen empor bis zu ihrem Sitzplatz. Da neben ihr der Sessel noch frei war, ließ er sich kurzerhand nieder.
“Na, aufgeregt?“ meinte Konrad Gutfried und drückte ihre Hand.
“Ach wo“, log Ellen und bemühte sich um ein schneidiges Lächeln. Im Augenblick war sie gar nicht mehr sicher, ob sie den Kandidatenstuhl überhaupt lebend erreichte, sollte sie tatsächlich an die Reihe kommen. Ihr Puls hämmerte. Es war halt doch ein gewaltiger Unterschied, ob man die Sendung vom sicheren Wohnzimmer aus verfolgte, oder, von fünf Millionen Menschen beobachtet, vor laufenden Kameras und live die Fragen zu beantworten hatte.
“Schauen Sie sich doch um“, versuchte sie sich zu beruhigen. “Ich bin die Einzige, die sie ganz nach hinten verfrachtet haben.“
“Die Letzten werden die Ersten sein“, frotzelte Gutfried.
“Ach, hören Sie schon auf“, wischte Ellen seine Bemerkung beiseite. “Das ganze hier ist doch eine Farce. Und dafür riskiere ich Ärger im Geschäft. Ich bin eine Idiotin.“
“Na, na.“ Der Mann neben ihr lächelte. “Nun warten Sie doch erst mal ab.“
Die Show begann. Zunächst erschienen zwei junge Leute, die so genannten ‘Einpeitscher‘. Ihre Aufgabe war es, den Zuschauern Zeichen zu geben, wann sie zu lachen oder zu klatschen hatten. Ihre Aufgabe war es auch, dafür zu sorgen, dass niemand aus dem Publikum versuchte, dem Kandidaten in irgendeiner Weise Hilfestellung zu geben. Schließlich schaltete sich die Saalbeleuchtung ab, die Spots über der Bühne flammten auf und die bekannte monotone Erkennungsmelodie begann. Schließlich begann der Saal zu toben. Ellen schaute genauer hin. Matthias Lutze, der Moderator von ‘Euroquiz‘, erschien auf der Bühne und begrüßte gestenreich das Publikum. Kurz darauf erklärte er noch einmal die Spielregeln und ermahnte die Anwesenden, sich fair zu verhalten. Letztens war ein Kandidat ausgebuht worden, weil er ein bisschen zu selbstsicher auftrat. Er erreichte nur die fünfte Frage. Als er mit eingezogenem Kopf den Saal verließ, konnte sich das Publikum nicht mehr halten vor Schadenfreude. So was sollte sich möglichst nicht mehr wiederholen.
Der erste Kandidat wurde aufgerufen. Er nannte seinen Namen, erzählte kurz ein paar Belanglosigkeiten über Familie und Hobbys und durfte dann Platz nehmen. Moderator und Kandidat trennten nur zwei geneigte Flachbildschirme, auf denen die Fragen und die Antwortmöglichkeiten erschienen. Die erste Frage wurde gestellt. Sie war einfach. Der Kandidat beantwortete sie richtig. Das Publikum spendete artig Applaus.
“Wohl noch nicht das richtige Niveau für Sie, was?“ flüsterte ihr Sitzplatznachbar.
“Zu Beginn sind alle Fragen leicht“, widersprach Ellen. “Warten Sie ab, bis die vierte oder fünfte Frage gestellt wird. Dann ist Schluss mit lustig.“
Der Kandidat hielt sich zunächst prächtig. Die Hälfte der Sendezeit war bereits um, ehe er patzte. Dann kam es zu der obligatorischen Werbeunterbrechung. Lutze verschwand kurz in seiner Garderobe, um sich abpudern zu lassen. Währenddessen sorgten die ‘Einpeitscher‘ für Stimmung. Sie gaben kuriose Begebenheiten aus früheren Sendungen zum Besten. Drohte zum Beispiel etwas schief zu laufen, dann wurde ebenfalls rasch eine Werbeunterbrechung eingeblendet. Zu Beginn der ersten Staffel ging es angeblich einmal dermaßen drunter und drüber, dass sich Sender und Publikum hinterher beim Produzenten beschwerten, sie hätten mehr Windelwerbung als Quizkandidaten gesehen. Die Leute im Saal johlten vor Vergnügen.
Schließlich tauchte Matthias Lutze wieder auf, und die Show ging weiter. Wie zu erwarten, kam als nächstes eine Kandidatin an die Reihe. Ellen warf einen Blick auf die Uhr. Noch fünfundzwanzig Minuten. Selbst wenn die junge Frau sofort patzte, wäre vor ihr erst noch ein Mann dran gekommen. Ihre Zuversicht sank auf den Nullpunkt. Hat halt nicht sollen sein, dachte sie bei sich. Das wird nichts mehr. Wenigstens senkte sich wieder ihr Blutdruck.
Zehn Minuten später setzte ihr Herz aus. Völlig unerwartet richtete sich der Deckenspot auf sie, und ein Mädchen von der Staff-Crew holte sie von ihrem Platz ab. Da Ellen ohnehin mit einem Mann als nächsten Kandidaten rechnete, hatte sie sich in Gedanken vertieft und der Quizrunde keine weitere Aufmerksamkeit mehr geschenkt. Völlig verblüfft erhob sie sich von ihrem Sessel und folgte der jungen Frau hinunter zur Bühne. Ihr fiel gar nicht auf, dass Konrad Gutfried von allen im Saal am heftigsten applaudierte.
“Ah, da ist ja die Telefonkandidatin, die mehr weiß als unser Computer“, wurde sie begrüßt.
Matthias Lutze ließ seine ebenmäßigen Jacketkronen im Scheinwerferlicht aufblitzen und reichte ihr die Hand. “Stellen Sie sich bitte kurz vor?“
Ellen räusperte sich.
“Guten Abend“, kam es ziemlich kratzig aus ihrem Mund. “Mein Name ist Graf.“
“Steffi Graf?“ grinste der Moderator.
“Ellen Graf“, entgegnete sie. “Der Witz ist so alt, dass ich darüber gar nicht mehr lachen kann.“
Matthias Lutzes Grinsen fror schlagartig ein. Ein Raunen ging durch den Saal. Du blödes Stück, schimpfte sie mit sich. Das hast du ja wieder toll hinbekommen. Fünf Millionen Zuschauer in ganz Deutschland schauen dir zu, und du maßregelst als Erstes den Moderator. Klasse!
“Nehmen Sie bitte Platz“, meinte er schließlich mit unterkühlter Stimme.
Sie konnte förmlich spüren, dass ihr Gesicht im Augenblick in Großformat über den Bildschirm ging. Sibylle Weber tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Die hockt jetzt vermutlich daheim und fletscht die Zähne. Wartet mit Sicherheit, dass ich mich bis auf die Knochen blamiere. Und morgen macht das Weibsstück dann bei der Personalabteilung das ganz große Fass auf.
“Sie kennen die Spielregeln?“ fragte Lutze. Sein Gesicht zeigte keine Regung. Sonst hatte er an dieser Stelle stets breit in die Kamera gelächelt. Er stellte auch keine Frage zu Familie oder Hobbys.
Ellen nickte stumm.
“Okay, dann fangen wir am besten gleich an.“
Die monotone Musik setzte ein und wurde lauter. Ellen fühlte sich unwohl. Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen. Aber das konnte sie nicht. Jetzt musste sie durchhalten, unter Umständen so lange, bis sich das imaginäre Damoklesschwert über sie senkte. Herrgott, hätte sie doch bloß die Finger von diesem Blödsinn gelassen!
“Erste Frage zum Eingewöhnen: Wer ernennt und entlässt gemäß unserer Verfassung die Bundesminister?“ Matthias Lutze holte tief Luft. “Der Bundeskanzler, der Bundespräsident, der Bundestagspräsident oder der Präsident des Bundesverfassungsgerichts?“
Ellen starrte auf das Display vor ihrem Platz. Unwillkürlich musste sie an Max denken, der jetzt allein daheim hockte. Himmel, hoffentlich stellte der bloß nichts an! Habe ich eigentlich den Herd abgestellt?
“Hallo, Frau Graf!“ rief der Moderator mit dröhnender Stimme. “Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?“
Der Saal tobte. Die ‘Einheizer‘ verstanden ihr Handwerk. Verblüfft blickte Ellen hoch.
“Entschuldigung“, erwiderte sie mit belegter Stimme. “Ich habe nicht zugehört. Was meinten Sie gerade?“
Lutze und die Leute im Saal brachen in schallendes Gelächter aus.
“Sind Sie eigentlich sicher, wo Sie sich im Augenblick befinden?“ fragte er mit vor Ironie triefender Stimme. “Das ist hier eine Quizsendung. Wir haben nicht ewig Zeit. Würden Sie bitte endlich die Frage beantworten?“
Mühsam riss sich Ellen zusammen. “Die Frage. Ja, natürlich. Antwort Zwei: Der Bundespräsident.“
Das Antwortfeld auf ihrem Bildschirm färbte sich grün. Trotzdem fiel der Applaus im Publikum nur spärlich aus.
“Okay, nächste Frage“, fuhr Lutze fort. “Wie nennt man das Weinanbaugebiet auf der Halbinsel oberhalb von Bordeaux? Ist es das Bordellaise, ...“
“Medoc“, rief Ellen.
Lutze schaute sie ungläubig an.
“Ich habe doch die Antwortmöglichkeiten noch gar nicht genannt.“
“Medoc“, beharrte Ellen auf ihrer Antwort.
Die vier Antwortmöglichkeiten erschienen. ‘Medoc‘ färbte sich grün. Der Applaus wurde ein bisschen stärker. Ellen hob den Kopf und schaute instinktiv ins Publikum. Sie war allerdings so von der Scheinwerfern geblendet, dass sie nicht einmal Schemen wahrnahm.
“Bitte nicht ins Publikum schauen“, rügte sie der Quizmaster. “So sind die Regeln.“
Es war ihm deutlich anzusehen, dass er diese unangenehme Kandidatin so schnell wie möglich wieder loswerden wollte. Und mit dem Aufnahmeleiter würde er auch demnächst ein ernstes Wörtchen reden. Wieso der auf einmal irgendwelche Telefonkandidaten bevorzugte, verstand er ohnehin nicht. Es gab ein klares Reglement für die Teilnahme. In die nähere Wahl kamen nur Leute, die sich entweder telefonisch oder im Internet qualifiziert hatten. Falls das herauskam, dann würde demnächst niemand mehr über die Hotline anrufen. Und die brachte mit beinahe zwei Euro pro Minute tagtäglich ein erkleckliches Sümmchen ein. Auf tausend Anrufer kam höchstens ein Anrufer in die engere Wahl. Und an diesen Einnahmen war er prozentual mitbeteiligt.
“Machen wir weiter“, brummte Lutze. “Frage Drei: Wie nennt man einen Zweimaster, dessen hinterer Mast höher ist als der vordere. Ist es eine Ketsch, ein ...“
“Schoner“, brach es aus Ellen hervor.
Lutze brach mitten im Satz ab. Das Antwortfeld färbte sich grün. Wieder richtig. Inzwischen schwoll der Applaus auf das übliche Level an.
“Warum lassen Sie mich eigentlich nicht ausreden?“ keuchte Lutze und verdrehte dabei die Augen.
Ellen warf einen Blick auf ihre Uhr.
“Mein Sohn wartet daheim“, murmelte sie. “Ich lasse ihn nicht gern so lange alleine zu Hause.“
Das Publikum konnte sich gar nicht mehr einkriegen vor Lachen. So etwas hatte es in Lutzes Show noch nicht gegeben. Ein Hausmütterchen, das den Moderator mit offensichtlich gespielter Einfältigkeit aus dem Konzept zu bringen drohte. Die ‘Einheizer‘ hatten nun alle Hände voll zu tun, eher beruhigend auf das Publikum einzuwirken, damit die Show weitergehen konnte.
“Na, schön“, meldete sich Lutze wieder zu Wort. Seine Kieferknochen mahlten deutlich.
“Mal sehen, ob Sie bei der Beantwortung der folgenden Frage wieder so schnell sind. Für welchen französischen König baute Sebastien Vauban die berühmten fünfeckigen Festungsanlagen? War es ...“
Weiter kam er nicht. Die Kameras richteten sich längst auf die Frau im Drehstuhl.
“Ludwig der Vierzehnte“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Dabei warf Ellen erneut einen Blick auf ihre Armbanduhr.
“Auch bekannt als der Sonnenkönig. Diese Frage wurde übrigens in Bernd Gerbers Sendung vor etwa zwei Wochen schon einmal gestellt. Nur umgekehrt.“
Der Saal tobte. Matthias Lutze gab der Regie das Zeichen für eine Werbeeinblendung.
“Wie schön für Herrn Gerber“, knurrte er mit gepresster Stimme in Richtung Kamera gewandt. “Ob jedoch die Antwort stimmt, das erfahren wir nach einer kurzen Verbraucherinformation.“
Der Spot über Ellen verdunkelte sich. Lutze sprang von seinem Stuhl hoch und verließ kommentarlos den Saal. Jemand vom Schminkteam kam zu Ellen, um sie noch einmal abzupudern.
“Was hat er denn?“ fragte sie verwirrt. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die letzten Minuten beinahe wie in Trance verbracht hatte.
Der Maskenbildner verzog keine Miene. “Tut mir leid. Ich darf nicht mit Ihnen sprechen, sonst verliere ich meinen Job. So sind die Regeln.“
Kurz darauf war sie wieder allein auf der Bühne. Ellen knetete ihre Fingerknöchel. Hoffentlich war diese peinliche Vorstellung bald vorüber. Auf der Straße brauchte sie sich ab morgen nicht mehr sehen zu lassen. Sie dachte schon mit Grausen an den kommenden Arbeitstag. Die Weber würde sich totlachen, und bei ihren Kolleginnen war sie auch blamiert. Von den Kunden ganz zu schweigen. Sie würde bestimmt einen Monat keinen Kassendienst mehr verrichten dürfen.
Ein akustisches Signal ertönte, und Matthias Lutze erschien wieder auf der Bühne. Lächelnd nahm er vor Ellen Platz. Vermutlich hatte man beruhigend auf ihn eingewirkt. Oder er hatte Valium eingenommen.
“Na, Frau Graf?“ meinte er. “Wie fühlen Sie sich?“
“Danke der Nachfrage“, antwortete sie verwundert. “Na ja, ich hoffe, dass es bald vorbei ist.“
“Warum? Finden Sie die Sendung so abscheulich?“
Das Publikum begann zu lachen. Ellen überlegte. Was sollte sie darauf antworten?
“Ist das eine Fangfrage?“ fragte sie leise.
Der Saal tobte. Lutze hatte schon viele Kandidaten erlebt. Leute, die sich für superschlau hielten, hypernervöse, vollkommen unintelligente oder Menschen, die zwar viel wussten, im entscheidenden Moment aber einen Blackout hatten. Doch diese allein erziehende Drogeriemarktverkäuferin aus einer Provinzstadt brachte ihn noch um den Verstand.
“Frage Fünf“, fuhr der Moderator fort. “Vielleicht geben Sie mir ja ausnahmsweise mal Gelegenheit, alle Antwortmöglichkeiten vorzulesen, ehe Sie antworten.“
“Gern“, erwiderte Ellen. Die ‘Einpeitscher‘ brauchten bestimmt zwanzig Sekunden, um das Publikum zu beruhigen.
“Beantworten Sie mir für zehntausend Euro bitte folgende Frage.“ Dabei grinste er verschlagen. “Wer schrieb das Buch “Good bye Jeanette?“
Er verstummte und schaute sie erwartungsvoll an. Ellen zuckte die Schultern.
“Ich dachte, Sie wollten erst die Antwortmöglichkeiten nennen.“
“Sie kennen wohl schon die Antwort, wie?“
“Ja“, murmelte Ellen. “Aber ich wollte Sie erst ausreden lassen. Der Autor heißt Harold Robbins. Das Buch stand in den achtziger Jahren zwischenzeitlich auf dem Index. Es wurde umgeschrieben und kam dann noch einmal in etwas entschärfter Fassung auf den Markt.“
Ellen machte eine kurze Pause. Sie probierte ein Lächeln, das aber gründlich misslang.
“Na ja“, fügte sie verlegen hinzu. “Die Originalversion war besser.“
Es gelang den ‘Einpeitschern‘ kaum noch, das Publikum zu beruhigen. Unverhohlen wurde bereits ‘Zugabe, Zugabe!‘ skandiert.
Dass sich zwischenzeitlich das Antwortfeld grün färbte, nahm man im Zuschauerraum nur noch am Rande zur Kenntnis. Lutze wusste nicht mehr, ob er lachen oder richtig sauer werden sollte. Er entschied sich schließlich sicherheitshalber, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Das Risiko, sich und die Produktionsgesellschaft, die ihn für seine Auftritte geradezu fürstlich entlohnte, tatsächlich noch zu blamieren, erschien ihm zu groß. Und im übrigen galt auch hier: The Show must go on!
“Sie machen mich langsam neugierig, Ellen“, lachte er schließlich, obgleich sein Lachen ziemlich unecht wirkte. “Ich darf Sie doch Ellen nennen? Ehrlich gesagt, Sie bringen mich zum Erstaunen. Woher haben Sie bloß dieses enorme Allgemeinwissen?“
“Ich lese viel“, meinte sie bescheiden. “Wissen Sie, Matthias, wie schon der Lateiner sagt: Semper aliquid haeret. Etwas bleibt immer hängen.“
Lutze musste bestimmt eine halbe Minute warten, ehe er die nächste Frage stellen konnte.
“Also schön. Die sechste Frage. Nur der Vollständigkeit halber: Sie spielen inzwischen um zwanzigtausend Euro. Nun, denn. Für zwanzigtausend Euro: Welcher tschechische Komponist schrieb die Opern Jenufa und Katja Kabanova? Darf ich die Antwortmöglichkeiten vorlesen, oder wollen Sie gleich antworten?“
“Wenn ich mich recht erinnere“, antwortete Ellen und legte dabei die Stirn in Falten, “war das Leos Janacek. 1854 bis 1928. Aber wegen der Jahreszahlen bin ich nicht hundertprozentig sicher.“
“Ich geb’s auf“, stöhnte Lutze und drehte sich in seinem Sessel herum. Das Antwortfeld färbte sich zum sechsten Mal grün.
Der befreiende Gong ertönte. Lutze atmete tief durch.
“Tja, tut mir leid, Frau Graf. Das war’s dann für heute. Ihr Kontostand beträgt bisher also zwanzigtausend Euro. Wir sehen uns morgen wieder?“
Die Abschlussmusik ertönte. Ellen schüttelte den Kopf und erhob abwehrend die Hände. Lutze erstarrte. Das Publikum verstummte schlagartig. Jeder wollte ihre Erklärung hören.
“Tut mir aufrichtig Leid, Herr Lutze, aber ich hatte schon große Mühe, für diesen Tag Sonderurlaub zu bekommen. Meine Firma sieht es nicht so gerne, wenn sich die Mitarbeiter so oft außer der Reihe frei nehmen.“
“Wie?“ erkundigte sich der Moderator ungläubig. “Sie geben auf?“
“Ich gebe nicht auf“, widersprach Ellen. “Ich kann nur nicht weitermachen.“
In diesem Moment erhob sich Konrad Gutfried aus dem Zuschauerraum und sprang die Stufen hinunter.
“Ja, bitte?“ fragte Lutze verblüfft.
“Ich bin von der Firmenleitung ermächtigt, Frau Graf auch für den morgigen Tag frei zu geben“, erklärte er vor laufender Kamera. “Ich werde sie gerne zur Sendung begleiten, falls sie das wünscht.“
Er stockte, als er in Ellens verblüfftes Gesicht schaute.
“Natürlich bleibt das einzig und allein Frau Grafs Entscheidung“, fügte er hastig hinzu.
Ellen drohte in ihrem Sessel zu versinken. Auch das noch! Jetzt wusste alle Welt, dass sie von Konrad Gutfried protegiert wurde. Was bildete sich der Kerl überhaupt ein? Sie wollte nur noch eines: nach Hause zu ihrem Sohn. Und morgen zur Arbeit gehen und wieder ein ganz normales Leben führen. Ohne fünf Millionen Zuschauer, die einen ständig beobachteten.
“Wissen Sie was?“ lachte der Quizmaster, obwohl ihm eigentlich gar nicht zum Lachen zu Mute war. “Schlafen Sie erst mal eine Nacht drüber. Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus.“
Dann drehte er sich um und machte sich auf den Weg in die Regie. Dort würde er mit dem Aufnahmeleiter und den Autoren erst einmal ein ernstes Wörtchen reden. Morgen war die Frau aus dem Rennen, so wahr er Matthias Lutze hieß. Schließlich kam keine Versicherung dafür auf, wenn jemand den Sender unter Umständen um eine Viertelmillion Euro erleichterte.
Ellen kam gar nicht mehr dazu, ihren Widerspruch zu wiederholen. Musik ertönte als Zeichen für den Abspann, und zehn Minuten später verließ sie zusammen mit Konrad Gutfried das Aufnahmestudio.
“Sie haben sich also einfach überfahren lassen?“ lachte Sandra Landshoff. “Ich hätte Ihnen mehr Durchsetzungskraft zugetraut.“
“Ich habe mich überhaupt nicht überfahren lassen“, widersprach Ellen. “Für mich stand beim Verlassen des Studios fest, dass ich mich dort niemals mehr blicken lassen würde. Ich kann jedem nur empfehlen, so was mal mitzumachen. Bungeejumping ist harmlos dagegen. Das ist Adrenalin pur. Ich weiß inzwischen auch wieso. Für einen Normalsterblichen, also jemanden, der es nicht gewöhnt ist, sich der Öffentlichkeit Preis zu geben, bedeutet es puren Stress, plötzlich die Kameras auf sich gerichtet zu sehen. Es sind ja nicht nur die zweihundert Leute im Publikum, die sie beobachten. Nein, es sind die fünf Millionen Menschen vor dem Bildschirm, die anonym bleiben. Plötzlich liegt ihr Gefühlsleben offen. Jede ihrer Regungen, jede ihrer Schwächen ist mit einem Mal jedermann zugänglich. Ihre Seele liegt praktisch auf dem Präsentierteller.“
Sandra schwieg. Um ehrlich zu sein, sie wäre auch nie auf die Idee gekommen, bei der Produktionsgesellschaft anzurufen. Hätte sie jemand hinter ihrem Rücken für eine Teilnahme angemeldet, wäre sie vermutlich ausgerastet.
“Hinzu kommt der psychologische Aspekt“, fuhr Ellen fort. “Die grellen Scheinwerfer, das überhebliche Getue des Moderators, die monotone Taktfolge der Begleitmelodie. Ich habe mal gelesen, die Taktfolge wäre genau einen Tick langsamer als der normale Herzschlag eines Menschen. Unbewusst richtet sich der Organismus darauf ein. Dadurch gerät die Physiologie vollkommen aus dem Takt.“
“Davon hat man bei Ihnen aber nicht viel gemerkt“, gab Sandra zu bedenken.
Ellen lächelte. “Mag sein. Ich war wie in Trance und habe meine Umgebung eigentlich gar nicht richtig wahrgenommen. Ich denke, daheim auf dem Sofa hätte ich bei manch einer Frage ziemlich lange überlegen müssen. Oder ich hätte sie überhaupt nicht beantworten können.“
“Und wie ging es weiter?“ Die junge Rechtsanwältin konnte sich der faszinierenden Geschichte kaum mehr entziehen. Ihr Termin im Fitnessstudio war längst vergessen.
7
Die schwere Limousine rollte an. Ellen griff nach dem Sicherheitsgurt und steckte den Metallverschluss in die hierfür am Sitz vorgesehene Aussparung. Langsam wich ihre Anspannung. Zwanzigtausend Euro. Eine für sie inzwischen schier unvorstellbar hohe Summe. Mit dem Rest aus dem Telefonkandidatenspiel kam sie in inzwischen auf rund achtundzwanzigtausend Euro. Je kleiner das Produktionsgelände im Rückspiegel wurde, desto euphorischer wurde sie. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Einen kleinen Gebrauchtwagen konnte sie sich jetzt tatsächlich anschaffen. Auch eine andere Wohnung käme womöglich in Betracht. Ellen überschlug grob, wie viel an Zinsen ihr die verbleibende Summe bei der Bank einbrachte. Ja, eine etwas größere Wohnung könnte sie inzwischen durchaus anmieten.
“Na, Ellen“, lächelte der Fahrer und drehte sich kurz zu ihr um. “Wie geht es Ihnen?“
Ellen holte tief Luft und stieß sie dann pfeifend wieder aus.
“Haben Sie eine Zigarette für mich?“ fragte sie den Mann auf dem Fahrersitz.
“Sie rauchen?“
“Seit heute.“
“Kann ich mir vorstellen.“ Gutfried deutete auf das Handschuhfach. “Bedienen Sie sich.“
Ellen zündete sich bereits die dritte oder vierte Zigarette an diesem Tag an und inhalierte tief. Auch das Nikotin trug sein Teil dazu bei, dass sich von Kilometer zu Kilometer ihre aufgestaute Anspannung löste.
“Darf ich Ihr Handy benutzen? Ich will daheim meinen Sohn anrufen.“
“Selbstverständlich“, antwortete Gutfried und deutete auf das Armaturenbrett. “Möchten Sie, dass die Freisprechanlage eingeschaltet bleibt, oder wollen Sie lieber ungestört mit dem Jungen sprechen? Wir können auch irgendwo anhalten.“
“Machen Sie sich nicht lächerlich“, grunzte Ellen gut gelaunt. “Vor wem sollte ich denn noch Geheimnisse haben? Seit heute Abend kennt mich doch ohnehin die halbe Republik.“
“Apropos, Handy“, schmunzelte Gutfried. “Irgendwann verraten Sie mir aber schon, wie Sie an meine Nummer herangekommen sind, nicht wahr? Die kennen nämlich nur ein paar ausgesuchte Leute.“
“Gehört die Weber auch dazu?“ platzte sie heraus und schlug sich im nächsten Augenblick die Hand vor den Mund. Du Esel, ärgerte sie sich im Stillen.
Gutfried tat so, als hätte er die letzte Bemerkung überhört. Ellen war ihm unendlich dankbar dafür. Bei Schnüffeleien in den Unterlagen der Filialleitung hörte nämlich für gewöhnlich der Spaß auf. Auch für jemanden, der gerade in einer Quizsendung erfolgreich war.
“Max?“ rief sie in Richtung Armaturenbrett.
“He!“ brüllte seine Stimme aus dem Lautsprecher. “Du warst klasse! Wann kommst du heim?“
Ellen lachte. “Bin schon unterwegs.“
“Mit welchem Zug kommst du an?“ rief er begeistert. “Ich hole dich natürlich am Bahnhof ab.“
“Du bleibst schön daheim“, widersprach seine Mutter. “Ich werde gebracht.“
“Ach so“, erwiderte der Junge, inzwischen mehrere Oktaven tiefer. Seine Enttäuschung war ihm deutlich anzuhören.
“Und von wem?“ stocherte er nach kurzer Pause weiter.
Ellen schaute Konrad Gutfried von der Seite an und lächelte warm.
“Von einem sehr netten Herrn.“
“Kenne ich den?“ brummte Max.
“Ich glaube kaum. Sind Paul und Norbert bei dir?“
“Nee. Die konnten angeblich nicht.“
“Macht nichts“, entgegnete Ellen. “Sei artig und stell um Himmels Willen nichts an. Ich bin in einer Stunde zu Hause.“
“Okay“, antwortete der Junge. Ellen konnte seine Enttäuschung förmlich spüren.
Die Autobahn war relativ frei. Sie kamen schneller durch als erwartet. Als Gutfried in die Abfahrt einbog, wandte er sich zum ersten Mal wieder an Ellen.
“Sie wollen sofort nach Hause?“
“Ja.“ Die Frau auf seinem Beifahrersitz nickte. “Ich lasse den Jungen nicht gerne so lange unbeaufsichtigt.“
“Schade. Ich hätte Sie gerne noch zu einem Glas Wein eingeladen.“
“Besser nicht. Sie wissen, wie das endet.“
Gutfried lachte schallend. “Ach, hören Sie schon auf. Sie tun ja gerade so, als hätte ich Sie damals absichtlich betrunken gemacht.“
“Das habe ich nie behauptet“, erwiderte Ellen. Ihre Empörung war nicht gespielt.
“Na schön“, meinte er schließlich. “Vielleicht ein andermal. Aber wie geht es jetzt weiter? Wann fahren Sie morgen los? Soll ich Sie nicht lieber bringen?“
Ellen holte tief Luft. “Morgen stehe ich wieder im Laden, Konrad. Mein Entschluss steht fest. Repetita non placent, wie schon Cäsar sagte. Wiederholungen bringen nichts.“
“Das war aber sehr frei übersetzt“, meinte ihr Fahrer.
“Brauchen Sie eine kostenlose Lateinstunde? Können wir gerne einrichten. Mein Sohn hat sowieso noch Nachhilfe nötig.“
“Nichts dagegen einzuwenden. Würde mich freuen, den Jungen mal näher kennen zu lernen.“
Der Wagen kam vor ihrer Wohnung zum Stehen. Demonstrativ stellte Gutfried den Motor ab.
Wenn er sich jetzt zu mir hinüberbeugt und mich küsst, dann geht er morgen mit einem Veilchen zur Arbeit, knurrte sie stumm in sich hinein. Instinktiv suchte sie bereits den Hebel zum Öffnen der Tür. Aber ihre Sorge schien völlig unberechtigt. Konrad Gutfried benahm sich wie ein perfekter Gentleman. Er bot ihr noch eine Zigarette an und nahm dann selbst eine zwischen die Lippen. Minutenlang starrten sie durch die Windschutzscheibe auf die nur spärlich erleuchtete Straße.
“Ich kann Sie wirklich nicht umstimmen?“ meldete er sich anschließend wieder zu Wort.
Ellen hatte mit dieser Frage insgeheim gerechnet und sich bereits eine Antwort zurecht gelegt.
“Hören Sie zu, Konrad. Es ehrt Sie, dass Sie sich so um mich kümmern. Ich weiß Ihr Angebot, mich erneut zum Aufnahmestudio zu begleiten, durchaus zu schätzen. Aber überlegen Sie doch mal. Zwanzigtausend Euro sind für eine einfache Verkäuferin eine Stange Geld. Wenn ich mich morgen noch einmal auf den Stuhl setze und patze, habe ich nichts mehr. Da ist mir der Spatz in der Hand doch lieber.“
“Warum sollten Sie denn patzen?“ fragte Konrad.
“Sie reden schon genauso wie mein Sohn“, lächelte sie. “Der glaubt auch, ich sei allwissend. Okay, ich besitze vielleicht ein gutes Allgemeinwissen, aber das schützt mich nicht vor Fragen, die so konstruiert sind, dass sie wirklich niemand beantworten kann. Von Sport zum Beispiel habe ich fast überhaupt keine Ahnung. Sportschau ist eben nicht mein Ding. Nun, wie dem auch sei. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass der Sender einen Kandidaten so ohne weiteres mit einer Viertelmillion nach Hause gehen lässt. Himmel, das ist deren Geld! Und dieser Matthias Lutze hat sowieso einen Rochus auf mich. Ich sage Ihnen, die von der Produktionsgesellschaft sitzen jetzt schon alle beisammen und hecken Fragen aus, die ich niemals beantworten könnte. Die niemand beantworten könnte.“
“Wenn die Frage stimmig ist“, gab Konrad zu bedenken, “dann gibt es auch eine Antwort darauf.“
“Es sei denn, es geht um Sport“, brummte sie.
“Sind Sie eigentlich von Geburt an so pessimistisch?“ fragte er kopfschüttelnd.
“Nein, nur realistisch“, erwiderte Ellen. “Danke fürs Herfahren, Konrad. Ich weiß das zu schätzen.“
“Wie Sie meinen“, entgegnete der Mann auf dem Fahrersitz. “Hoffentlich werden Sie Ihre Entscheidung nicht noch mal bereuen.“
“Inwiefern?“ fragte Ellen, während sie die Beifahrertür bereits öffnete. Sie schaute nach oben. Am Wohnzimmerfenster stand Max und blickte zu ihr hinunter. Ellen winkte ihm kurz zu.
“Was soll man an zwanzigtausend Euro bereuen?“
“Bis morgen“, lächelte Konrad und startete den Motor.
“Bis morgen?“ wunderte sich Ellen.
Doch sie hatte die Türe bereits ins Schloss fallen lassen, und Konrad brauste davon.
“Erzähl schon!“ rief Max, der anschließend alles haarklein erklärt haben wollte.
Eine geschlagene Stunde lang beantwortete Ellen geduldig alle seine Fragen. Sie wusste, dass sie den Jungen in diesem Augenblick unmöglich ins Bett schicken konnte, auch wenn es schon längst Schlafenszeit war. Er war viel zu aufgeregt.
“Wahnsinn!“ brach es aus ihm heraus, als sie ihren Vortrag beendete.
“Morgen komme ich mit! Irgendwie komme ich schon in den Zuschauerraum hinein.“
“Es gibt kein nächstes Mal“, widersprach Ellen. “Das heute hat mir vollkommen gereicht.“
Ungläubig riss Max die Augen auf. “Du willst tatsächlich nicht weiter machen?“
“Du kennst doch auch die Regeln, oder irre ich mich?“ gab Ellen zu bedenken. “Wenn ich morgen patze, ist der ganze schöne Gewinn dahin.“
“Warum solltest du denn patzen?“ fragte er erstaunt.
Wider Willen brach Ellen in schallendes Gelächter aus. “Das habe ich heute schon einmal gehört.“
“Du musst weitermachen!“ flehte Max. “Du musst einfach.“
“Und du spinnst!“ lachte Ellen immer noch und erhob sich aus dem Wohnzimmersessel.
“Jetzt ist Schluss. Ab in die Kiste, Cowboy. Morgen wird ein harter Tag.“
“Das glaube ich nicht!“ rief Max schier verzweifelt. “Nein, das glaube ich jetzt nicht!“
“Morgen abend wirst du Gewissheit haben. Wenn wir nämlich gemeinsam vor der Glotze hocken und dem nächsten Kandidaten den Daumen drücken.“
Schon als sie den Laden betrat, ahnte sie, dass dieser Tag ganz anders werden würde als die vorangegangenen. Kaum, dass sie den Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, kamen bereits Mathilde und Lucie auf sie zu.
Lucie trug einen dicken Blumenstrauß in der Hand.
“Nanu“, wunderte sich Ellen. “Habe ich Geburtstag?“
“Herzlichen Glückwunsch!“ brüllte Lucie und drückte ihr den Blumenstrauß in die Hand.
“Herzlichen Glückwunsch auch von mir“, fügte Mathilde etwas betreten hinzu.
Ellen stutzte. Was war denn mit Mathilde los? Wieso war die denn so einsilbig?
“Lasst mich erst mal zu Atem kommen.“ Anstandshalber drückte sie ihre Nase an die Blüten. “Hm! Die duften aber gut. Herrje, habt ihr euch in Unkosten gestürzt.“
“Los, erzähl!“ verlangte Lucie, als sie gemeinsam im Personalraum hockten. “Wie war‘s?“
Während Mathilde kleinlaut auf dem Plastikstuhl hockte und wie geistesabwesend wirkte, musste Ellen auf Geheiß der Jüngeren haarklein berichten, was sich vor und hinter der Bühne zugetragen hatte. Lucie sog jedes ihrer Worte geradezu gierig auf.
“Morgen melde ich mich dort an!“ rief sie schließlich begeistert. “Mann, die zwanzigtausend Piepen könnte ich auch gut gebrauchen.“
“Dafür musst du erst mal soviel wissen wie sie, mein Schatz“, brummte Mathilde.
“He, was ist los mit dir?“ fragte Ellen.
Mathilde erhob sich, schlüpfte in ihren Kittel und verließ den Raum.
Lucie grinste. “Ach, die ist bloß neidisch. Weil sie ein bisschen dumm im Kopf ist.“
Mit einer anzüglichen Handbewegung ließ sie den Zeigefinger vor der Stirn kreisen.
“Aber sonst bist du gesund, oder?“ wies Ellen sie zurecht. “Ich glaube, du spinnst wohl. Wie kommst du Grünschnabel dazu, Mathilde dumm zu nennen?“
“Ach, die hat doch keine Ahnung.“ Die Jüngere winkte ab. “Die kennt doch nicht mal den Unterschied zwischen Gustav und Gasthof.“
Ellen erhob sich, griff nach ihrem eigenen Kittel und suchte Mathilde. Ihre ältere Kollegin kniete vor einem Regal und sortierte mit verbissenem Gesicht Seifenstücke. Ellen trat an sie heran und legte ihr die Hand auf die Schulter.
“He, was ist los?“
Mathilde wischte ihre Hand brüsk beiseite.
“Nichts ist los. Ich arbeite. Das siehst du doch.“
Ellen wich zurück. So hatte sich Mathilde ihr gegenüber noch nie benommen. Was war denn in die gefahren? Da Mathilde jedoch keine Anzeichen machte, das Gespräch fortzusetzen, begab sich Ellen kopfschüttelnd zum Eingang. Sie hockte sich hinter die Registrierkasse und wartete auf die ersten Kunden. Sibylle Weber schloss die Eingangstür auf und ging wortlos an ihrer Untergebenen vorbei.
“Dann eben nicht“, brummte Ellen.
“Nehmen Sie sich nur ja zusammen!“ zischte ihre Chefin über die Schulter hinweg. “Sie glauben wohl auch, Sie können sich alles leisten, nur weil Sie mit diesem Gutfried ins Bett steigen, oder?“
Ellen brauchte einen Augenblick, um diese Bemerkung zu verdauen. Dann sprang sie von ihrem Drehstuhl hoch, folgte ihrer Vorgesetzten und stellte sie zur Rede, noch ehe sie ihr Büro erreicht hatte.
“Sagen Sie das noch einmal!“ fauchte sie die Filialleiterin an.
Sibylle Weber schwieg betroffen. In ihrem Zorn waren die Pferde mit ihr durchgegangen. Doch Ellen ließ nicht locker.
“Los, sagen Sie das nochmal. Falls Sie den Mut dazu haben.“
“Warum sonst würde der sich so für eine billige Arbeitskraft einsetzen.“ Sibylle Webers Blick wurde starr. “Ich arbeite jetzt schon fünfzehn Jahre für die Firma. Glauben Sie, ich hätte mit denen jemals ein persönliches Wort gewechselt?“
Nach diesen Worten voll Bitterkeit drehte sie sich um und verschwand in ihr Büro. Ellen ging wieder zurück zum Eingang. Die erste Kundin wartete bereits an der Kasse. Sie legte nur einen Deo-Stift auf das Band.
“Macht Dreiachtundneunzig“, sagte Ellen geschäftsmäßig.
“Ach, ich bin nur vorbei gekommen, um Sie zu sehen“, lachte die Kundin. “Sie sind doch die Frau, die gestern bei ‘Euroquiz‘ mitgemacht hat, nicht wahr? Klasse! Mein Mann war genauso begeistert wie ich. Toll, was Sie so alles wissen. Das hätten wir einer Verkäuferin gar nicht zugetraut.“
Ellen war so überrascht, dass sie im ersten Moment gar keine Worte fand. Sie murmelte nur ein Dankeschön und packte der Kundin die Ware in eine Plastiktüte.
“Na, wenn Sie heute abend die Zweihundertfünfzigtausend abräumen“, meinte die Frau beim Hinausgehen, “dann haben Sie diesen Job hier wohl nicht mehr nötig. Na ja, mit so viel Geld in der Tasche würden sich mein Mann und ich eine Finca auf Mallorca kaufen.“
Sprachlos schaute ihr Ellen hinterher. Sie war überhaupt nicht dazu gekommen, der Frau zu widersprechen. Kurz darauf erschienen weitere Kunden. Ein paar von ihnen zögerten, sie auf den gestrigen Abend anzusprechen, andere hingegen zeigten sich nicht so schüchtern. Einen Mann musste sie regelrecht aus dem Geschäft komplimentieren, weil der überhaupt keine Ruhe mehr gab. Ellen verstand die Welt nicht mehr. Vorgestern noch war sie eine namenlose Drogeriemarktverkäuferin, und heute schon wollte sie die halbe Stadt kennen.
Gegen zehn Uhr ertönte ein Aufruf über die Lautsprecheranlage.
“Frau Graf! Frau Graf, bitte! Telefon!“
Lucie stürmte bereits herbei, um sie an der Kasse abzulösen.
“Wer ist denn dran?“ fragte sie die Jüngere.
“Lass dich überraschen.“ Lucie grinste verschwörerisch. “Du wirst schon sehen.“
Ellen eilte in den Personalraum und hob ab.
“Morgen, Frau Graf“, meldete sich eine ihr gänzlich unbekannte Stimme. “Lutterbach hier. Ah, Sie werden mich nicht kennen. Ich bin der Personalchef der Droma.“
Ellen rutschte das Herz in die Hose. Was wollte der denn von ihr? Ich dachte, Konrad hätte gestern alles klar gemacht? Die Weber? Na, der war inzwischen alles zuzutrauen.
“Angenehm“, murmelte Ellen. “Was kann ich für Sie tun, Herr Lutterbach?“
Ihr Personalchef lachte dröhnend.
“Sie sind ja noch schlagfertiger als in der Sendung“, kam es aus der Hörmuschel. “Herrlich! Wissen Sie, meine Frau und ich verfolgen auch jeden Abend diese Quizsendungen. Wir kommen kaum noch dazu, die Nachrichten zu sehen. Also, wie Sie das gestern gemacht haben: Alle Achtung! Ich hätte nicht mal die Hälfte der Fragen beantworten können.“
Er legte eine kurze Pause ein. Ellen überlegte fieberhaft. Sie fand es ja nett, dass sich jemand von der Personalabteilung nach ihr erkundigte. Und dann auch noch gleich der Chef persönlich. Aber irgendwas führte der doch im Schilde.
“Machen Sie sich mal keine Sorgen wegen heute Abend, Frau Graf“, fuhr Lutterbach fort. “Oder darf ich Sie Ellen nennen? Toi, toi, toi! Und was die heutige Sendung betrifft: Nehmen Sie sich ruhig rechtzeitig frei. Aber wie ich höre, will Sie Herr Gutfried ja ohnehin begleiten. Also, nochmals: Viel Glück!“
Ehe sie etwas einwenden konnte, hatte Lutterbach bereits aufgelegt. Ellen starrte auf den Hörer. Das gibt’s doch nicht! Es konnte doch nicht sein, dass Konrad inzwischen ihr Leben in die Hand nahm. Na, der würde von ihr noch was zu hören bekommen! So ging das nicht! Es war ja nett, dass er sich letztens so rührend um sie gekümmert und ihr auch die Teilnahme an dem Fernsehquiz ermöglicht hatte, aber was sie tat und was nicht, das bestimmte sie immer noch selbst. Und kein Personalchef und erst recht kein Vorstandssekretär. Wutentbrannt wählte sie seinen Telefonanschluss im Büro.
“Vorstandssekretariat“, meldete sich eine Stimme. “Schönen guten Morgen, Frau Graf. Sie möchten Herrn Gutfried sprechen? Oh, das tut mir leid, aber er ist in einer wichtigen Besprechung. Soll er Sie zurückrufen?“
Was war denn mit der los, wunderte sich Ellen. Gestern hatte man sie noch eiskalt abgewürgt.
“Ja, das wäre nett“, murmelte sie in die Sprechmuschel.
“Richte ich aus, Frau Graf“, lachte die Frau am anderen Ende der Leitung. “Und wenn ich mir noch eine Bemerkung erlauben darf: Viel Glück für heute. Ich drücke Ihnen ganz fest die Daumen.“
Ehe Ellen etwas erwidern konnte, war die Verbindung bereits unterbrochen. Verblüfft legte sie den Hörer zurück auf die Gabel. Hörten die eigentlich alle schlecht? Ich mache da nicht mit, brummte sie in sich hinein. Und wenn ihr euch alle auf den Kopf stellt.
Kopfschüttelnd verließ Ellen den Personalraum und stolperte draußen auf dem Gang über Sibylle Weber. Ihre Vorgesetzte schaute sie ziemlich verdrießlich an.
“Sie denken, Sie haben es wohl nicht mehr nötig, mich um Arbeitsbefreiung zu bitten, was?“
“Jetzt ist aber Schluss!“ fauchte Ellen zurück. “Ich glaube, ihr spinnt wohl alle, wie? Wer kommt eigentlich auf diese saublöde Idee, dass ich heute schon wieder an dieser gottverdammten Quizsendung teilnehme?“
“Ach, hören Sie schon auf“, winkte die Ältere ab. “Das war doch alles Theater gestern Abend! Von wegen nicht weiterspielen. Niemand lässt sich eine Viertelmillion Euro durch die Lappen gehen. Erst recht nicht, wenn man so clever ist wie Sie.“
Es musste ihre Chefin riesige Überwindung kosten, diese Bemerkung fallen zu lassen. Da war sich Ellen sicher.
“Dann irren Sie sich aber gewaltig“, widersprach Ellen. “Setzen Sie sich doch selbst mal auf den Präsentierteller. Wenn Sie das hinter sich haben, was ich gestern erlebt habe, dann werden Sie verstehen, dass ich im Augenblick nicht die geringste Lust verspüre, mich noch einmal in Matthias Lutzes Sendung blicken zu lassen.“
“Ach, erzählen Sie doch keine Schmonzetten“, meinte die Weber. “Ich gehe jede Wette ein: Heute Abend räumen Sie diese Zweihundertfünfzigtausend ab.“
Ellen starrte die Filialleiterin fassungslos an.
“Um wieviel wetten wir?“ Ihre Chefin reckte bereits die Hand vor.
Ellen lachte hell auf. “Um fünf Monatsgehälter, okay?“
Sibylle Weber zog blitzschnell ihre Hand zurück. “Wir wollen mal nicht übertreiben.“
Der Vormittag verstrich. Ellen hockte gerade im Personalraum, als Lucie atemlos hereinstürmte.
“Ellen!“ rief sie. “Du musst sofort nach draußen kommen. Da sind Leute vom Regionalfernsehen.“
“Langsam verliere ich noch den Verstand“, stieß Ellen aus, folgte ihr aber trotzdem.
Draußen auf dem Gang standen zwei Männer. Einer trug eine Videokamera, der andere hielt ein Mikrophon in der Hand.
“Sie sind Frau Graf?“ begrüßte sie der Mikrophonträger. “Nett, Sie kennen zu lernen. Schmitz von Kabel Regional. Dürfen wir ein Interview machen?“
“Nee“, erwiderte Ellen gedehnt. “Ich glaube, meine Chefin hätte was dagegen.“
“Mit der haben wir schon gesprochen“, meinte der Typ mit dem Mikro. “Okay, Hannes.“
“Kamera läuft!“ murmelte der Kerl, der Hannes gerufen wurde.
“Ich bin hier in der Filiale der Droma am Martinsplatz. Vor mir steht Frau Ellen Graf, die gestern beim ‘Euroquiz‘ sämtliche der ihr gestellten Fragen quasi im Eildurchgang beantworten konnte. Sagen Sie unseren Zuschauern erst einmal: Wie fühlt man sich, wenn man soviel Geld auf dem Konto hat und die Viertelmillion nur noch ein paar Fragen entfernt zu sein scheint?“
“Erst einmal habe ich noch überhaupt kein Geld auf dem Konto“, widersprach Ellen. “Sagen Sie mal, werde ich etwa gefilmt?“
“Schnitt!“ rief der Mann mit dem Mikrophon. Dann wandte er sich wieder an Ellen.
“Natürlich werden Sie gefilmt. Was haben Sie denn gedacht?“
“Oh!“ entfuhr es ihr, und sie strich sich verlegen durch die Haare. Zum Glück war sie vor ein paar Tagen endlich einmal wieder beim Frisör gewesen.
“Können wir weitermachen?“ fragte ihr Gegenüber und gab dem Kameramann ein Zeichen. “Also, wie geht es Ihnen? Mit welchem Gefühl gehen Sie heute in die Sendung?“
Ellen fühlte sich total überrumpelt. Was sollte sie antworten? Sie konnte doch nicht vor laufender Kamera sagen, dass sie eigentlich vor hatte zu kneifen.
“Keine Antwort?“ meinte der Mikrophonträger. “Nervös? Na, das wäre ich auch, wenn ich mich der Zweihundertfünfzigtausend-Euro-Frage stellen müsste. Trotzdem, Frau Graf. Wie fühlen Sie sich? Lampenfieber?“
“Ich weiß nicht“, stotterte Ellen.
Ihr Gesprächspartner grinste breit. “Sie machen das schon. Alles Gute und viel Glück. Sie werden es brauchen. Kamera aus!“
Der Kameraträger ließ die schwere Videofilmkamera sinken.
“Was meinten Sie mit Ihrer letzten Bemerkung?“ fragte Ellen.
Der Mann, der sie interviewt hatte, machte ein nachdenkliches Gesicht.
“Passen Sie gut auf sich auf. Die werden Sie bis ganz dicht an den Hauptgewinn heranbringen. Und dann bekommen Sie eine Frage, auf die nicht mal Deep Blue, das Superelektronenhirn von IBM, eine Antwort wüsste. Ich sage nur: Fußball oder Atomphysik. Aber von mir wissen Sie das nicht, kapiert?“
Wenige Augenblicke später waren die beiden Männer verschwunden. Die Weber stürzte auf sie zu.
“Na?“ erkundigte sie sich mit betont unschuldigem Gesichtsausdruck. “Was ist nun? Nehmen Sie nun an der Sendung teil oder nicht?“
“Ihr könnt mir alle mal den Buckel herunterrutschen!“ rief Ellen. “Ihr geht mir alle auf die Nerven! Bewerbt euch doch selbst! Ihr werdet schon sehen.“
Wutentbrannt schwang sie sich wieder in den Drehstuhl hinter der Kasse. Dann jedoch ging eine merkwürdige Veränderung in ihr vor. Wieso eigentlich nicht, dachte sie bei sich. Jeder will offensichtlich, dass ich an dieser blöden Quizsendung teilnehme. Okay, dann mache ich halt mit. Was soll’s? Ich habe doch nichts zu verlieren. Achttausend Euro sind immer noch vom Kandidatenspiel übrig. Die Zwanzigtausend von gestern würden sowieso nur Probleme bereiten. Schon beim Frühstück hatte ihr Max eine DIN-A-4-Seite mit einem persönlichen Wunschkatalog neben die Kaffeetasse gelegt. Wenn sie heute Abend versagte, dann würde der Junge sie hoffentlich endlich in Ruhe lassen. Ja, so machen wir es. Nur an die Pfiffe im Publikum und das feixende Gesicht des Moderators mochte sie gar nicht denken.
Es war früher Vormittag, als Sandra Landshoff auf die A 555 in Richtung Köln einbog. Besuchstermin war erst am Nachmittag. Da hatte sie noch reichlich Zeit für eigene Recherchen. Die Geschichte der Frau, die sie vor dem Schwurgericht verteidigen sollte, ließ sie nicht mehr los. Was trieb eine Mutter und inzwischen wohlhabende Frau bloß dazu, einen Mann auf offener Strasse kaltblütig umzubringen? Ellen Graf bemühte sich zwar inzwischen zu kooperieren, aber Sandra war sich nicht hundertprozentig sicher, ob sie stets die Wahrheit sagte. Da wollte sie lieber selbst recherchieren. Der erste Weg führte sie zum Studio der Firma, die das ‘Euroquiz‘ produzierte. Heike Lang, die ehemalige Assistentin von Matthias Lutze, hatte sich sofort bereit erklärt, ihr Rede und Antwort zu stehen.
Eine gute halbe Stunde später bog Sandras Sportflitzer auf das Gelände der Produktionsfirma ein. Sie hatte schon kurz vorher ihr Eintreffen per Handy mitgeteilt. So verloren weder sie noch ihre Gesprächspartnerin wertvolle Zeit. Business as usual. Das galt erst recht im Film- und Fernsehgeschäft. Sandra stieg aus und suchte den Eingang, doch Heike Lang kam ihr bereits entgegen. Die beiden jungen Frauen begrüßten sich kurz, und Heike forderte die junge Rechtsanwältin auf, ihr zu folgen. Kurze Zeit später saßen sie in einem Besprechungsraum.
“Was wollen Sie wissen?“ erkundigte sich die Produktionsassistentin.
“Wie ich Ihnen bereits am Telefon erläuterte“, begann Sandra, “verteidige ich Frau Graf in einer Strafsache. Ich denke, Sie haben von dieser unglückseligen Geschichte gehört.“
“Na, hören Sie mal“, seufzte Heike. “Das ging ja auch quer durch die Presse. Tragisch. Was hat diese nette, attraktive Frau nur dazu veranlasst, eine solche Tat zu begehen?“
“Das will ich ja gerade herausfinden“, erwiderte Sandra. “Wissen Sie, Heike, ich darf Sie doch Heike nennen, alles was ich bisher erfahren habe, stammt ausschließlich aus dem Munde meiner Mandantin. Ich möchte mir aber gerne ein abschließendes Bild machen. Dazu brauche ich auch neutrale Statements. Also, was können Sie mir zu Ellen Graf sagen?“
Heike Lang öffnete den Ring-Pull-Verschluss einer Cola-Light-Dose und goss sich die dunkelbraune Flüssigkeit in einen Plastikbecher ein. Sie deutete auf die Flaschenbatterie, die vor Sandra stand. Die junge Rechtsanwältin bedankte sich, winkte jedoch ab.
“Tja, was soll ich sagen“, murmelte Heike nachdenklich. Plötzlich schaute sie Sandra scharf an.
“Das Gespräch bleibt doch unter uns, nicht wahr?“
Erst als Sandra nickte, fuhr die junge Produktionsassistentin fort.
“Haben Sie die Sendung damals im Fernsehen verfolgt? Nein? Also, in den Werbeunterbrechungen kam Matthias in die Regie. Er tobte. Harry, unser Regisseur, hatte jedes Mal Mühe, ihn zu beruhigen. Was uns Idioten einfiele, brüllte Matthias. Wir wären offensichtlich zu blöde, um ...“
Heike unterbrach sich.
“Sorry, aber den Satz sollte ich besser nicht wiederholen.“
“Ich verstehe auch so“, meinte Sandra. “Fahren Sie bitte fort.“
“Auf jeden Fall war Matthias stocksauer. Die säge ich ab, brüllte er herum. Die mach ich fertig. Na ja, Sie kennen ja die Männer. Kaum taucht eine Frau auf, die sich nicht ins Bockshorn jagen oder sonst irgendwie verunsichern lässt, ist bei denen doch sowieso Ende der Fahnenstange. Ellen Graf brachte Matthias mit ihrer an den Tag gelegten Einfältigkeit völlig aus dem Konzept. Und das Schlimmste dabei war, sie schien sich dessen offensichtlich nicht einmal bewusst. Und das brachte Matthias erst recht zum Rasen.“
“Das kann ich in etwa nachempfinden“ bestätigte Sandra. “Doch welchen Grund gab es für ihn, Frau Graf übel mitzuspielen? Es war doch nicht sein Geld.“
“Das zwar nicht, aber es packte ihn an der Ehre, dass ihm da jemand die Show stahl. Und im übrigen war er sauer, dass ihm die Regie ohne Absprache einfach eine Kandidatin vor die Nase setzte.“
“Was meinen Sie damit?“
Heike Lang senkte ihre Stimme. Sie nahm einen geradezu verschwörerischen Klang an.
“Die Sendung litt ohnehin seit Monaten unter nachlassenden Einschaltquoten. Kein Wunder, wenn die meisten Kandidaten so dämlich sind, dass sie kaum mal über die vierte Frage hinaus kommen. Und Lutze stand ohnehin auf der Abschussliste. Seine Geldforderungen wurden immer höher. Unser Regisseur musste sich etwas einfallen lassen, um die Show attraktiver zu gestalten. Als Frau Graf die Telefonfrage, die zur schwierigsten Kategorie gezählt wird, auf Anhieb richtig beantwortete und uns auch noch vor laufender Kamera in die Bredouille brachte, weil einer unserer Autoren offenbar nicht richtig recherchiert hatte, da stand für ihn fest, dass er diese Frau in der nächsten Sendung dabei haben wollte. Dabei haben reichte natürlich nicht. Sie musste natürlich auch drankommen.“
“Ich denke, das entscheidet der Zufallsgenerator?“ wunderte sich Sandra.
Heike lachte hell auf. “Glauben Sie etwa auch noch an den Weihnachtsmann?“
“Nein“, fuhr sie schließlich fort. “Das wird den Zuschauern bloß vorgegaukelt. Quizsendungen sind ein knallhartes Geschäft, meine Liebe. Bei den Privatsendern geht es schließlich um Werbeeinnahmen in Millionenhöhe. Aber das Aufnahmeteam muss auch den schwierigen Spagat zwischen Einschaltquoten und Gewinnsumme bewältigen. Räumt nämlich eine Kandidatin wie Frau Graf so richtig voll ab, dann bekommen Aufnahmeleitung und speziell die Autoren, die für die Fragen verantwortlich sind, gehörig was auf die Mütze. Schließlich muss der Sender für den angerichteten Schaden aufkommen. Einen Versicherungsschutz gibt‘s nicht. Zu Beginn der Shows, das war 1999, meinten die Versicherungen, hierbei richtig absahnen zu können, weil die Prämien enorm hoch waren. Seit aber in der Sendung von Bernd Gerber ein ganz pfiffiger Kandidat sogar mal mit einer vollen Million nach Hause ging, zog man diese Offerte rasch zurück.“
“Wieder eine Illusion verloren“, seufzte Sandra und zündete sich eine Zigarette an. Heike schob ihr wortlos einen Aschenbecher zu.
“Arbeiten Sie mal ein paar Jahre für einen Sender oder eine Produktionsgesellschaft. Danach werden Sie froh sein, nicht den letzten Rest vom Glauben an die Menschheit verloren zu haben.“
“Wieso?“ fragte Sandra arglos.
“Nehmen Sie doch nur mal die Fragen“, erwiderte Heike mit müder Stimme. “Dem Zuschauer wird zum Beispiel vorgegaukelt, die würden vom Computer ausgewählt. Alles Quatsch! Aber um Himmelswillen, von mir wissen Sie das nicht!“
Sandra nickte. “Sie machen mich neugierig. Erzählen Sie noch ein bisschen mehr. Und keine Sorge. Ich bin an die Schweigepflicht gebunden.“
“In der Regie sitzen meist zwei Psychologen“, fuhr die junge Frau nach einigem Zögern fort, “die das Verhalten des jeweiligen Kandidaten ganz genau durchleuchten. Gewöhnlich haben die ganz rasch heraus, wo deren eigentliche Stärken und Schwächen liegen. Erst wirft man den Kandidaten die Fragen noch wie Bälle zu, damit es für die Zuschauer interessant bleibt. Dann jedoch, wenn ein bestimmter Gewinnbetrag erreicht wird, schlägt die Wissenschaft zu. Der- oder diejenige wird dann eiskalt abgewürgt. Ein Senior bekommt zum Beispiel eine Frage zum Thema Rock und Pop, ein Jugendlicher eine Frage zur Politik aus der Weimarer Zeit, Frauen für gewöhnlich die berühmt-berüchtigte Fußballfrage. Und Tschüss!“
“Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ begehrte Sandra auf.
“Ich könnte Ihnen da noch ganz andere Storys erzählen.“ Heike winkte ab. “Aber wenn das herauskäme, dann bin ich das letzte Mal beim Fernsehen gewesen.“
“Verstehe“, murmelte Sibylle. “Und wie war das bei Ellen Graf?“
Heike Lang schüttelte traurig den Kopf.
“Tja, mit Frau Graf hatten wir ein echtes Problem.“
“Also, abgemacht, Ellen?“ lachte Konrad Gutfried. “Ich hole Sie gegen vier Uhr nachmittags im Geschäft ab. Das schaffen wir locker bis zum Beginn der Sendung.“
Er machte eine bedeutungsvolle Pause. “Und sollten wir wider Erwarten zu spät kommen, dann müssen die eben noch eine Werbeunterbrechung mehr einlegen.“
“Ich weiß bloß noch nicht, was ich Max sagen soll“, murmelte Ellen.
“Nehmen Sie ihn doch mit“, schlug Konrad vor. “Im Wagen ist Platz genug. So, wie ich Sie einschätze, wird Max ein wohlerzogener Junge sein.“
“Haben Sie eine Ahnung“, fiel Ellen in sein Lachen ein. “Nein, besser nicht. Der soll sich die Sendung lieber daheim anschauen. Wenn ich nämlich patze, dann möchte ich nicht erleben, was der im Zuschauerraum anstellt.“
“Also, gut. Dann bis kurz vor vier Uhr. Seien Sie pünktlich. Bei Lutterbach haben Sie jedenfalls einen dicken Stein im Brett. Jeder andere Mitarbeiter hätte mit Sicherheit einen weiteren vollen Tag Arbeitsbefreiung herausgeschlagen. Dass Sie hingegen ganz normal Ihrer Arbeit nachkommen, hat die Leute im Personalbüro schon ziemlich beeindruckt.“
“Ach, so leicht sind die also zu beeindrucken?“
“Hören Sie auf!“ prustete Konrad vor Vergnügen. “Bewahren Sie sich diese Wortspielereien lieber für heute Abend auf. Der Lutze tut mir jetzt schon leid.“
“Warten wir‘s ab“, gab Ellen zu bedenken und legte schließlich auf. Na schön, dachte sie bei sich. Schicksal nimm deinen Lauf! Es konnte eigentlich nur besser werden. Patzte sie in Lutzes Sendung, dann war dieser Zauber endlich vorbei.
“Schönen guten Abend, Frau Graf!“ wurde sie bereits auf der Treppe von Matthias Lutze begrüsst. “Wie geht es Ihnen?“
Galant geleitete er sie zu seinem berühmt-berüchtigten Kandidatensessel.
“Genauso wie gestern“, erwiderte Ellen verblüfft. “Und Ihnen?“
Der Saal begann schon wieder zu toben. Normalerweise hatte der Sender einige Mühe, die zweihundert Zuschauerplätze pro Sendung zusammen zu bekommen, doch an diesem Nachmittag standen die Leute vor dem Eingang Schlange, um eine der sonst wenig begehrten Eintrittskarten zu erhalten. Die Regie schwärmte bereits von Einschaltquoten in ungeahnter Höhe.
“Danke der Nachfrage“, lächelte der Quizmaster.
Er hatte sich vorgenommen, sich zusammenzureißen und keine Schwäche zu zeigen. Okay, einen Querschläger, wie unbequeme Kandidaten im Jargon genannt wurden, gab es immer mal. Diesmal war es eben diese Ellen Graf. Na, die sollte nur zusehen. Mit den Autoren hatte er ein ernstes Wort gewechselt. Heute hieß der Sieger ‘Euroquiz‘ und damit Matthias Lutze.
Der Quizmaster schaute seine Kandidatin bedeutungsvoll an. “Spielregeln sind bekannt? Wir sind bei der Vierzigtausend-Euro-Frage. Ihren Telefon-Joker haben Sie noch.“
“Welchen Joker?“ fragte Ellen. Sie war noch nicht ganz bei der Sache.
Die Leute, die gewöhnlich das Publikum in Stimmung bringen sollten, konnten sich an diesem Tag erneut zurückhalten. Das Publikum tobte auch so.
“Den Telefonkandidaten, den Sie anrufen dürfen, wenn Sie nicht weiter wissen“, erklärte Lutze. “Alles klar?“
“Alles klar“, murmelte Ellen. Diesmal störte sie sich überhaupt nicht an den Scheinwerfern, den Kameras und dem überheblichen Getue des Moderators. Es ging ja um nichts mehr. Falls sie verlor, gewann sie wenigstens ihr Seelenheil wieder. Das war ja auch schon was.
“Ist das schon die Frage dort auf meinem Bildschirm?“ fragte sie einen Augenblick später. “Soll ich gleich antworten? Die richtige Antwort lautet: E gleich m mal c im Quadrat. So lautet die Formel der Relativitätstheorie.“
“Aus!“ quietschte Matthias Lutze auf. “Werbepause!“
“Was ist denn bei euch los dort unten?“ meldete sich die Regie über Lautsprecher.
“Ihr könnt mich mal am ...“. Lutze verstummte schlagartig. Er war kreidebleich geworden, sprang von seinem Moderatorensessel und stürmte von der Bühne. Im Zuschauerraum war es totenstill.
Musik setzte ein. Normale Unterhaltungsmusik. Zur Abwechslung erschien der Maskenbildner, um sie erneut abzupudern.
“Was ist denn nun schon wieder los?“ wollte Ellen wissen.
“Sie sind einsame Spitze, Lady“, flüsterte der junge Mann mit verschwörerischer Stimme. “Herrje, wenn ich das daheim im Klub erzähle. Das glaubt mir kein Mensch. Machen Sie weiter so, Schätzchen. Auch wenn ich diesen verdammten Job verliere, machen Sie weiter so.“
Wenige Augenblicke später war er verschwunden. Kurz darauf setzte wieder die monotone Erkennungsmelodie ein, und Matthias Lutze erschien erneut auf der Bühne.
“Kleines Versehen, meine Damen und Herren“, wandte er sich an das Publikum. “Durch einen bedauerlichen Irrtum in der Regie hatte die Kandidatin die Frage eher auf dem Bildschirm als ich. Ich bitte meine verständliche Verblüffung und meinen verbalen Ausrutscher zu entschuldigen. Fahren wir also fort.“
Er hockte sich wieder hinter seinen Flachbildschirm.
“Was ist mit der mir gestellten Frage?“ wollte Ellen wissen. “Wird die nicht gewertet?“
“Nein, tut mir leid“, bedauerte Lutze.
Unmut breitete sich im Zuschauerraum aus.
“Regie?“ rief Lutze und breitete ergeben die Arme aus.
“Wird gewertet“, kam es aus dem Lautsprecher.
“Sie machen mich noch wahnsinnig“, zischte der Quizmaster. Er deckte das Brustmikrophon mit der Handfläche ab, damit der Ton nicht übertragen wurde.
“Wie bitte?“ fuhr Ellen hoch. “Was haben Sie gerade gesagt? Ich mache Sie wahnsinnig? Das nehmen Sie sofort zurück.“
Vereinzelt wurden Pfiffe laut. Lutze zuckte zusammen. Ihm war klar, dass er zu weit gegangen war. Und noch etwas anderes stand in diesem Augenblick unwiderruflich fest: Diese Kandidatin war mit Sicherheit nur deshalb ausgewählt worden, um ihn vorzuführen. Diese Banditen! Nur weil er neuerdings Fünfzigtausend pro Jahr mehr an Gage verlangte. Aber jetzt war es eh zu spät. Er hatte sich längst schon selbst blamiert.
Lutze winkte ab. “Sie müssen mich falsch verstanden haben. Können wir weitermachen? Es geht jetzt bereits um die Achtzigtausend-Euro-Frage.“
“Machen Sie nur“, erwiderte Ellen.
“Na, schön“, knurrte Lutze. “Hier die Frage: Wie nennt man eine Stromquelle, bei der chemische Energie auf direktem Wege in elektrische Energie umgewandelt wird?“
Ellen schwieg. Lutze schaute sie triumphierend an.
“Keine Antwort?“ höhnte er.
“Ich denke, ich soll Sie immer erst ausreden lassen“, konterte Ellen. “Sie sollten sich langsam entscheiden, was Sie wollen. Erst soll ich warten, bis Sie die Antworten vorgelesen haben, dann wiederum geht es Ihnen nicht schnell genug.“
Ellen warf einen Blick in Richtung Publikum. Doch die Scheinwerfer blendeten sie immer noch. Sie zuckte instinktiv zurück und blinzelte mehrmals.
“Brennstoffzelle“, murmelte sie.
“Die Antwort lassen wir nicht gelten!“ schimpfte Lutze. “Sie haben schon wieder in den Zuschauerraum geblickt. Das ist gegen die Regeln.“
“Yes, Sir!“ erwiderte Ellen zackig. Das Publikum konnte kaum noch beruhigt werden. “Also, dann mal die nächste Frage. Kommen Sie, Herr Lutze. Halten Sie den Betrieb nicht auf. Mein Junge wartet daheim auf sein Abendessen.“
“Werbeeinblendung!“ brüllte Lutze. “Werbeunterbrechung!“
Erneut schalteten sich die Kameras ab. Inzwischen wurde es Ellen zu bunt. Demonstrativ hielt sie ihre Armbanduhr nach oben, da sie annahm, dass man sie von oben beobachtete.
“Wenn das noch länger so weitergeht, dann fahre ich heim. Das ist ja unerträglich.“
“Maske!“ brüllte eine Stimme aus dem Lautsprecher. Der nette junge Mann von vorhin erschien und puderte sie zum dritten Mal an diesem Tag ab.
“Schätzchen, Sie sind köstlich!“ flüsterte er. Danach sah er schleunigst zu, dass er wieder verschwand.
Kurz darauf erschien eine junge Frau.
“N‘Abend, Frau Graf“, wurde sie wie eine alte Bekannte begrüßt. “Mein Name ist Heike Lang. Wir haben schon mehrfach miteinander telefoniert. Ich bin die Produktionsassistentin. Nett, Sie einmal persönlich kennen zu lernen.“
Heike Lang reichte ihr die Hand. Ellen ergriff sie nur zögernd. Währenddessen versuchten die ‘Einheizer‘ das Publikum bei Laune zu halten.
“Was ist denn mit diesem Lutze heute los?“ fragte Ellen. “Spinnt der ein bisschen, oder was? Ich bin nicht zum Vergnügen hier. Entweder, wir machen jetzt weiter, oder ich fahre heim. Das ist ja nicht auszuhalten.“
“Wir bitten um Verständnis“, versuchte Heike Lang zu beschwichtigen. “Herr Lutze leidet immer noch an seiner Grippeinfektion. Er ist auch nur ein Mensch. Aber beruhigen Sie sich. Noch einen kurzen Augenblick, dann geht es gleich weiter.“
“Sie haben mich eingeladen“, gab Ellen zu bedenken. “Ich wollte eigentlich gar nicht kommen. Ich bitte das zu berücksichtigen.“
“Sie haben ja Recht“, seufzte die junge Frau, drückte ihr nochmals die Hand und verschwand im Scheinwerferlicht.
Ellen brauchte tatsächlich nicht mehr lange zu warten. Bereits nach zwei Minuten setzte erneut die monotone Erkennungsmelodie ein. Matthias Lutze erschien und nahm vor ihr Platz. Er wirkte blass, obwohl auch er bestimmt nochmals abgepudert worden war.
“Machen wir weiter, Frau Graf“, bemühte sich Lutze um einen verbindlichen Gesprächston.
“Und was ist mit der vorherigen Frage?“ wollte Ellen wissen.
“Die Regie meint, dass die Antwort gilt“, rief Lutze in Richtung Zuschauerraum. Ein zustimmendes Raunen ging durch das Publikum.
“Wir kommen jetzt zur vorletzten Frage“, erläuterte Lutze. “Es geht um hundertfünfzigtausend Euro. Sind Sie bereit?“
“Wenn Sie es sind“, erwiderte Ellen leichthin.
Diesmal hatten die ‘Einpeitscher‘ das Publikum im Griff. Man hörte nur hier und da ein wenig Gelächter.
“Wie groß ist in etwa die Oberfläche von Griechenland? Sind es A: 100.000 qkm, B: 130.000 qkm, C: 150.000 qkm oder D: über 150.000 qkm ?“
“Ziemlich genau 131.950 Quadratkilometer“, antwortete Ellen. “Mein Sohn Max musste diese Frage letztens in einer Klassenarbeit beantworten.“
“Und, hat er’s gewusst?“ fragte Lutze ergeben.
“Nein.“ Ellen schüttelte den Kopf. “Leider. War nur eine Vier minus.“
Der Zuschauerraum spendete beinahe stehend Ovationen.
Eine andere Melodie ertönte. Sie kündigte die letzte, die entscheidende Frage an. Es ging um eine Viertelmillion Euro. Das Gespräch mit dem Fernsehteam fiel ihr wieder ein. Die bringen dich bis an die alles entscheidende Frage heran. Und dann hauen sie dich in die Pfanne. Fußball oder Atomphysik. Ellen überlegte ganz kurz. Dann stand ihr Entschluss fest.
“Bereit für die letzte Frage?“ grinste Matthias Lutze.
“Bedaure“, antwortete Ellen und erhob sich aus dem Drehsessel. “Ich höre auf.“
“Ja, aber wieso denn?“ spielte der Moderator den Fassungslosen. Das Publikum skandierte lauthals, sie solle gefälligst weitermachen.
“Keine Lust mehr“, erwiderte Ellen beinahe schon mit beiläufigem Tonfall.
“Ach, sind Ihnen unsere Fragen nicht schwer genug?“ frotzelte Lutze.
Ellen schaute ihn an und versuchte eine Regung in seinem Gesicht zu erkennen. Es gelang ihr nicht. Ein absolutes Pokerface. Schon das bekräftigte sie in ihrer Entscheidung. Würde sie mit nichts nach Hause geschickt, war sie blamiert bis auf die Knochen. Und hundertfünfzigtausend Euro, das war mehr, als sie jemals zuvor besessen hatte. Damit hatte der Sender sämtliche Operationen an Max‘ Gesicht an einem Abend bezahlt. Wieso also etwas riskieren?
“Nun enttäuschen Sie mich aber“, versuchte sie Lutze zu umschmeicheln. “Herrje, Sie haben bisher jede Frage aus dem Effeff beantwortet. Nun seien Sie doch kein Spielverderber und bleiben Sie sitzen.“
“Ich glaube, Sie haben nicht richtig zugehört“, fiel ihm Ellen ins Wort. “Wenn ich Nein sage, dann meine ich auch Nein. Also, nochmals vielen Dank. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir hat es Spaß gemacht.“
“Frau Graf!“ versuchte Lutze einen letzten Vorstoß. “Nun seien Sie doch kein Frosch.“
“Ich bin kein Frosch. Ich bin halt vorsichtig. Das alles erinnert mich stark an die Wertpapierbörse. Man soll halt nicht gierig sein. Hundertfünfzigtausend reichen einer einfachen Verkäuferin vollkommen.“
Ellen blieb eisern. Zähneknirschend gratulierte Lutze seiner Kandidatin zu ihren erspielten Gewinnsumme, ohne dabei unerwähnt zu lassen, dass sie bisher die erfolgreichste Teilnehmerin in seiner Quizsendung war. Zugleich ertönte der Schlussgong. Die reguläre Sendezeit war vorüber. Die vielen Werbeunterbrechungen hatten ihren Tribut gefordert. Als die Regie ein Zeichen gab, ging Lutze auf sie zu, entschuldigte sich und nahm ihr das Mikro ab.
“Nun mal unter uns Klosterschwestern“, knurrte er wenig versöhnlich. “Okay, Sie haben das Geld. Glückwunsch. Aber jetzt beantworten Sie mir doch mal eine Frage ganz ehrlich: Wer hat Sie instruiert, und warum wollten Sie wirklich nicht weiterspielen?“
Ellen zuckte die Schultern. “Erstens hat mich niemand instruiert. Das ist eine ganz üble Unterstellung, und die lasse ich mir nicht gefallen. Und was Ihre zweite Frage anbelangt: Mit Sicherheit wäre jetzt die berühmte Fußballfrage gekommen, stimmt‘s? Oder Sie hätten mir eine Frage aus dem Bereich Quantenphysik gestellt, die nicht einmal ein Nobelpreisträger hätte beantworten können. Warum also sollte ich ein Risiko eingehen? Bei Ihnen hat doch noch nie jemand die volle Summe gewonnen. Freuen Sie sich doch. So haben wir dem Sender eine Menge Geld gespart.“
Noch an diesem Abend feuerte der Produktionschef den Autor, der für die Fragenzusammenstellung an diesem Abend verantwortlich war. Die letzte, ungestellte Frage betraf tatsächlich das Thema Fußball. Gefragt wurde danach, wie oft Brasilien zwischen 1938 und 1998 Fußballweltmeister wurde.
“Wo kommst du denn her?“ rief Ellen schon von weitem, als sie ihren Sohn in der wartenden Menge vor dem Studioausgang erkannte. Die Frage erübrigte sich, denn neben ihm stand niemand anderes als Konrad Gutfried.
“Herr Gutfried hat mich mit einem Firmenwagen abholen lassen!“ sagte Max nicht ohne eine gehörige Portion Stolz. “Ein Mercedes. E-Klasse.“
“Na, fein“, brummte sie wenig begeistert und wandte sich an Konrad. “Hat er sich wenigstens anständig benommen?“
“Wir sind fast schon so etwas wie gute Kumpels“, lächelte Konrad und strich dem Jungen über den Haarschopf.
Ellen antwortete nicht. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass sich neuerdings immer mehr Leute in ihr Leben einmischten. Was fiel Konrad ein, ihren Sohn ohne ihr Wissen hierher bringen zu lassen? Wer hätte die Verantwortung übernommen, falls ihm unterwegs etwas zugestoßen wäre? Doch viel Zeit zum Grübeln blieb ihr ohnehin nicht. Wildfremde Leute kamen auf sie zu und drückten ihr die Hand. Irgendwelche Pressefritzen fragten nach Terminen für ein Interview. Währenddessen sprang Max aufgeregt um sie herum. Konrad rettete die Situation souverän. Wortlos schob er Ellen und Max bis zu seinem Auto und drückte sie auf Beifahrersitz und Rücksitzbank. Wenige Augenblicke später verschwand das Produktionszentrum im Rückspiegel der großen Limousine.
“Na, hat doch Spaß gemacht, oder?“ erkundigte sich Konrad, während er auf den Autobahnzubringer einbog.
“Wie man’s nimmt“, erwiderte Ellen beiläufig. Sie wollte nur noch eines: nach Hause, unter die Dusche und ins Bett.
“Warum wollten Sie eigentlich die letzte Frage nicht mehr spielen?“ fragte er weiter.
“Ich bin halt nicht so mutig, wie Sie vielleicht annehmen. Vielleicht war es auch so etwas wie weibliche Intuition. Warum sollte ich ein Risiko eingehen? Hätte ich die letzte Frage nicht richtig beantwortet, wäre der ganze schöne Gewinn dahin gewesen.“
“Ach, die hättest du auch noch gepackt“, mischte sich Max von der Rücksitzbank her ein. “So super, wie du heute warst.“
Normalerweise wäre ihr diese Bemerkung wie warmes Öl hinunter gelaufen, an diesem Abend machte sie Ellen jedoch eher nachdenklich. Max stellte zu hohe Ansprüche an andere Menschen. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, wenn er selbst einmal an solchen Quizveranstaltungen teilnahm. Konrad hieb mit in diese Kerbe.
“Natürlich hätte es deine Mutter bis zum Schluss geschafft“, meinte er.
Ellen warf ihm einen warnenden Blick zu. Konrad blinzelte mit dem rechten Auge. Dann wandte er sich wieder an den Jungen.
“Aber heute wäre das mit der Frage ohnehin nichts mehr geworden. Deine Mutter hätte morgen noch einmal kommen müssen. Na ja, und da hätte es dann in ihrem Geschäft wirklich ein Problem gegeben. Weißt du, wenn man einen Job hat, dann kann man nicht ständig frei nehmen, nur weil einem etwas Privates dazwischen kommt.“
“Ah“, nickte Max. “Verstehe.“
Ellen war Konrad unendlich dankbar für diese Erklärung. Instinktiv legte sie ihre Hand auf die seine und drückte sie fest. Konrads Hand umfasste schließlich ihre Finger. Sie fühlten sich warm und weich an. Ellen ließ es widerspruchslos geschehen. Erst als sie den nächsten Autobahnzubringer erreichten und er beide Hände zum Lenken und Schalten brauchte, ließ er ihre Hand los.
“Sehe ich Sie irgendwann mal wieder?“ fragte er, als der Wagen vor ihrer Wohnungstür zum Stehen kam.
“Sie wissen doch, wo ich arbeite“, antwortete Ellen. “Oder sollte Ihnen das in all der Aufregung entfallen sein?“
“Am Wochenende schon was vor?“ fragte Konrad.
“Ja, super!“ rief Max. “Etwas unternehmen. Eine Spritztour machen.“
“Halt die Klappe, Cowboy“, brummte Ellen.
“Also gut“, meinte Konrad. “Samstag hole ich Sie ab. Zehn Uhr. Seien Sie pünktlich.“
“Und ich?“ fragte Max ungeduldig.
“Na, du kommst natürlich mit“, lächelte Konrad.
Sandra Landshoff wartete schon zehn Minuten in dem Vernehmungszimmer. Normalerweise richtete es die Anstaltsleitung so ein, dass die Mandanten bereits anwesend waren, ehe der Rechtsbeistand eintraf. Heute schien ein besonderer Tag zu sein. Sandra war gespannt, was der Grund dafür sein mochte.
Als Ellen in den Raum geführt wurde und sie sich sofort ächzend auf einen der Besucherstühle fallen ließ, stutzte Sandra. Um Himmelswillen, wie sah denn ihre Mandantin aus?
“Was ist passiert?“ fragte die junge Strafverteidigerin die Frau vom Wachpersonal.
“Keine Ahnung“, erhielt sie schulterzuckend Antwort. “Frau Graf redet ja nicht.“
Kurz darauf waren sie allein. Ellen ergriff als erste das Wort.
“Haben Sie Cognac dabei?“ fragte sie mit heiserer Stimme. Sandra beschlich das Gefühl, ihrem Gegenüber fiele das Reden schwer.
Sie nickte, zog die Flasche aus ihrem Lederkoffer und goss ihrer Mandantin ein Glas beinahe randvoll.
“Danke“, murmelte Ellen und stürzte den Inhalt mit einem Schluck hinunter. Langsam nahmen ihre Wangen wieder Farbe an.
“Was ist passiert?“ wiederholte Sandra ihre Frage.
“Bin ausgerutscht“, antwortete ihr Gegenüber lakonisch.
“Erzählen Sie keinen Unfug“, begehrte die junge Rechtsanwältin auf. “Sind Sie geschlagen worden?“
“Und wenn’s so wäre?“ Ellen griff nach der Flasche und wollte das Glas erneut bis zum Rand füllen. Sandra fiel ihr in den Arm.
“He! Wenn Sie betrunken sind, ist Ihre Aussage wertlos.“
“Ist doch sch...egal.“
“Jetzt will ich endlich wissen, was passiert ist“, fuhr Sandra ihre Mandantin an. “Man hat Sie geschlagen, nicht wahr. Ich lasse jetzt sofort einen Arzt kommen. Der soll erst mal Ihr Auge untersuchen. Das sieht ja schlimm aus. Und dann werden Sie Anzeige erstatten.“
“Den Teufel werde ich tun“, entgegnete Ellen tonlos. “Habe schon Schwierigkeiten genug. Da müssen nicht noch mehr hinzu kommen. Im Knast geht es ein bisschen anders zu als in Ihren Kreisen, Lady. Hier steckt man so was weg, oder man wird am folgenden Tag unter Umständen mit den Füßen voran aus der Zelle getragen.“
“Ja, aber ...“ stotterte Sandra. Sie musste andauernd auf das blutunterlaufene Auge ihrer Gesprächspartnerin starren.
“Knastschicksal. Ein paar der Damen haben inzwischen heraus gefunden, weshalb ich inhaftiert bin. Dass ich jemanden umgebracht haben soll, das kratzt die natürlich weniger. Aber dass ich ein paar Euro mehr als andere auf dem Konto habe, das erweckt dann doch gewisse Begehrlichkeiten.“
“Die wollen Geld von Ihnen?“ stammelte Sandra und schluckte heftig.
“Was sonst? Möchte nur wissen, wie sich das in so kurzer Zeit herumsprechen konnte.“
“Da wundern Sie sich?“ antwortete die junge Rechtsanwältin. “Schließlich ging Ihr Name durch Funk, Fernsehen und Presse.“
“Ja, leider“, brummte die Frau in der dunkelblauen Anstaltskleidung. “Wünschte, es wäre nie geschehen.“
“Sie können es aber nicht mehr ungeschehen machen.“ Sandra legte intuitiv die Hand auf die ihre. “Möchten Sie weitererzählen?“
“Na, deswegen sind wir doch wohl hier, oder?“
Unmissverständlich zog Ellen ihre Hand zurück. Sandra schaute verblüfft hoch. Doch schließlich gab sie sich einen Ruck und straffte sich. Sie zog das kleine Diktiergerät aus dem ledernen Aktenkoffer und platzierte es im richtigen Winkel auf dem Tisch.
“Wie kommen Sie eigentlich voran?“ meinte ihre Mandantin plötzlich. “Ich rede und rede, aber Sie sagen nie etwas darüber, wie es weiter gehen soll.“
Sandra war überrascht. Bisher hatte sich ihre Mandantin mit noch keinem Wort über den Fortgang des Verfahrens erkundigt.
“Ich muss mir erst ein abschließendes Bild machen“, wich sie vorsichtig aus. “Vorher kann ich da noch gar nichts sagen.“
“Sie hängen noch völlig in der Luft, nicht wahr?“ Ellen grinste und griff nach dem Zigarettenpäckchen, das Sandra vorsorglich neben die Flasche mit dem Cognac gelegt hatte.
Sandra ärgerte sich. Das hatte man nun davon, wenn man hilfsbereit war. Doch eigentlich hatte ihr Gegenüber Recht. Sehr weit war sie wirklich noch nicht. Und der erste Verhandlungstermin rückte auch immer näher. Sie hatte aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen erfahren, dass der Staatsanwalt bereits an seinem Plädoyer herumfeilte. Na toll, dachte sie bei sich. Der ist schon beim Plädoyer, und ich weiß noch nicht einmal, wie ich meine Mandantin richtig einschätzen soll.
“Wenn Sie mir endlich etwas über die wahren Hintergründe Ihrer Tat sagen würden, dann wäre ich schon weiter“, warf Sandra in die Diskussion. “Oder nennen Sie mir wenigstens ein plausibles Motiv.“
“Welches Motiv? Ich habe kein Motiv. Ich habe den Mistkerl einfach ein Messer in die Brust gerammt.“
“Ja, aber warum?“ stocherte Sandra nach. “Man ersticht doch nicht so einfach einen Menschen. Hat er Sie bedrängt? Fühlten Sie sich bedroht?“
“Dieser kleine schmierige Fettsack?“ schnaubte Ellen verächtlich. “Mit dem wäre ich schon fertig geworden.“
“Ja, aber wieso denn nun?“ blieb Sandra hartnäckig.
Ellen dachte einen Augenblick nach und betrachtete dabei ihre Hände von allen Seiten. Schließlich blickte sie hoch.
“Kommen Sie. Schalten Sie Ihr Diktiergerät an. Sonst hocken wir hier in hundert Tagen noch herum und haben nichts fertig gebracht.“
8
Das sanfte Plätschern des Meeres weckte sie. Ellen drehte sich genüsslich zur Seite und warf einen Blick auf das Leuchtzifferblatt des Radioweckers. Neun Uhr. Sie hatte nicht verschlafen. Sie musste auch nicht in den Laden am Martinsplatz, um Seife oder Babynahrung zu verkaufen. Sie hatte Urlaub. Wenige Tage nach der Quizsendung im Fernsehen war man auf sie zu gekommen und hatte ihr einen Bürojob in der Zentrale der Drogeriemarktkette angeboten. Zu Anfang wurde ihre Tätigkeit zwar nicht sonderlich üppig bezahlt, aber immer noch besser als ihre Tätigkeit in einer gewöhnlichen Filiale. Mit noch über hunderttausend Euro auf dem Konto und in der neu gemieteten, großzügigen Dreizimmerwohnung mit großem Südbalkon vor den Toren der Stadt lebte es sich auch nicht schlecht. Schon deshalb nicht, weil unten auf dem eigens für sie reservierten Parkplatz ein nagelneues Cabrio stand.
Ellen überlegte, ob sie bereits aufstehen sollte. Eigentlich konnte sie ruhig noch etwas im Bett liegen bleiben. Max war bestimmt schon am Hafen. Da war er meistens in aller Herrgottsfrühe. Dort schaute der den Fischern zu, wenn sie mit ihren kleinen Booten vom nächtlichen Fang zurück kamen. Ja, Südfrankreich im Frühsommer hatte schon was. Nicht zu vergleichen mit dem letzten Urlaub seinerzeit in Norddeutschland, wo man schon im Hochsommer frohlockt, wenn zwischen den Regenschauern mehr als zwei Stunden liegen. Im übrigen konnte sie hier erstmals ihre an der Volkshochschule erlernten Sprachkenntnisse erweitern. Allerdings sprachen die Südfranzosen immer ein bisschen schnell, und auch der Dialekt war häufig nur schlecht zu verstehen, aber sie kam schon irgendwie klar. Ellen hatte in Théoule-sur-Mer ein Appartement unmittelbar am Strand in einer Privatresidenz gemietet. Mit direktem Blick auf Cannes und die noch schneebedeckten Seealpen. Wenn sie auf der Terrasse am Frühstückstisch saß und sich die Croissants schmecken ließ, glaubte sie zuweilen, das wäre alles nur ein schöner Traum.
Während sie sich noch einmal genüsslich unter ihrer Bettdecke ausstreckte, überlegte Ellen weiter. Nach der Fernsehsendung stand sie zunächst einmal mitten im Rampenlicht. Die Weber bekam beinahe einen Schlaganfall angesichts der Zeitungsreporter und der Leute vom Rundfunk, die sich in den ersten Tagen bei ihnen im Laden ein Stelldichein gaben. Als dann auch noch die Filialen mit Werbeplakaten für Sonderangebote ausgestattet wurden, auf denen Ellens Konterfei abgedruckt war, wurde sie noch unausstehlicher. Mathilde sprach kaum noch ein Wort mit ihr; dafür löcherte sie Lucie beinahe stündlich mit der Frage, wie man wohl am ehesten Kandidatin in Lutzes Rateshow werden könnte. Erneut war es Konrad, der die Situation rettete. Ohne ihr Wissen schlug er der Geschäftsleitung vor, sie in die Zentrale zu versetzen. Lutterbach stimmte sofort zu, da er einsah, dass Ellens Popularität den Betriebsfrieden in einer einfachen Filiale nur störte. Darüber hinaus wollte er verhindern, dass sie unter Umständen von der Konkurrenz abgeworben wurde. Die Spezialisten vom Einkauf verzeichneten bereits deutliche Umsatzanstiege, seit das Plakat mit Ellens Gesicht in den Filialschaufenstern hing.
Kurze Zeit später erhob sich Ellen, sprang unter die Dusche und bereitete das Frühstück vor. Die erste Woche in Théoule-sur-Mer war beinahe um. Am Nachmittag erwartete sie Konrad am Flughafen von Nizza. Er wollte ebenfalls ein paar Tage zusammen mit ihr und dem Jungen in Südfrankreich verbringen. Überhaupt war es seinen Kontakten zu verdanken, dass sie so kurzfristig ein Appartement unmittelbar am Strand von Théoule-sur-Mer buchen konnte. Es war noch nicht einmal besonders teuer. Kein Wunder, denn zur Zeit herrschte noch nicht viel Betrieb an der Côte d’Azur. Die Wohnung faszinierte sie. Im Alter wollte sie sich genau hier niederlassen, sofern bis dahin der Geldbeutel genügend gefüllt war. Konrad hatte ihr seinen Wertpapierberater empfohlen, der ihr Geld vielversprechend anlegte. Früher hätte man sie wegen der Abwicklung von Geldgeschäften allenfalls an den Schalter verwiesen. Ging es hingegen um die Anlage einer sechsstelligen Summe, dann bekam man natürlich einen Termin bei einem Spezialisten. Und man nahm dabei nicht am Tresen Aufstellung, sondern auf einer bequemen Ledercouch Platz. Bei Kaffee oder einem Glas Sekt. Wie sich die Zeiten doch änderten! Auch der neue Job machte ihr Spaß. Allerdings spürte sie eine deutliche Erwartungshaltung. Es hatte sich wohl herumgesprochen, auf welche Weise sie an die begehrte Stelle in der Firmenzentrale herangekommen war.
“Meinst du, Konrad ist pünktlich?“ fragte Max.
Ellen lächelte und blinzelte auf die flimmernde Wasseroberfläche, die sich nur einen Steinwurf weit vor ihr erstreckte. Leise plätscherten die Wellen gegen den eigens für Badetouristen aufgeschütteten Sandstrand.
“Ich denke schon. Seine Maschine soll gegen zwei Uhr mittags landen.“
“Falls sie nicht unterwegs abstürzt“, meinte Max und warf einem vorbeilaufenden Hund eine Wurstscheibe zu.
“So was denkt man nicht einmal“, gab Ellen zu bedenken.
“Du hast Konrad gern, nicht wahr?“ murmelte Max.
Ellen strich dem Jungen über den Haarschopf. “Wie kommst du denn darauf?“
“Na, Konrad ist doch ein Klassetyp“, antwortete Max mit ernstem Gesicht. “Ich könnte mir nicht vorstellen, dass du dich mit jemandem abgibst, der kein Klassetyp ist.“
Ellen wusste nicht, ob sie sich geschmeichelt fühlen sollte. Über dieses Thema hatte sie mit Max noch nie geredet. Kein Wunder. Konrad war seit vielen Jahren der erste Mann, der sich ernsthaft für sie interessierte. Doch tat er das wirklich? Sie wusste doch überhaupt nichts von ihm. Er arbeitete als Vorstandssekretär, war Single und bewohnte ein Appartement in der Innenstadt. Angeblich hatte er nie Gelegenheit gehabt, sich nach einer geeigneten Partnerin umzusehen. Und das, obwohl er bereits auf die Fünfzig zuging. Wieso er seinerzeit ausgerechnet auf sie aufmerksam wurde, war ihr bis heute noch ein Rätsel. Ihr Geld konnte nicht der Grund dafür sein. Bei ihrem ersten Zusammentreffen konnte er schließlich noch nicht ahnen, dass sie mal einen dicken Gewinn mit nach Hause brachte.
“Du magst ihn sehr, stimmt’s?“ wich sie seiner Frage aus.
“Konrad ist okay.“ Max nickte und schob sich ein halbes Croissant in den Mund. “Jedenfalls netter als die Väter der meisten meiner Freunde.“
Diese Bemerkung versetzte Ellen einen heftigen Stich.
“Konrad hätte ich gern als Vater“, fügte Max nachdenklich hinzu.
Und dann geschah, was Ellen lieber vermieden hätte.
“Weißt du eigentlich wirklich nicht, wer meine Eltern sind?“ fragte er seit langer Zeit einmal wieder.
Ellen schüttelte den Kopf.
“Wie sollte ich“, antwortete sie mit belegter Stimme. “Ich habe dich damals in Pflege genommen. Die Leute, bei denen du bis dahin wohntest, waren auch nicht deine richtigen Eltern. Woher also sollte ich wissen, wer deine Eltern sind? Das Jugendamt weiß es übrigens auch nicht. Ich habe mich erkundigt.“
“Wenn ich groß bin“, erklärte er voller Inbrunst, “werde ich sie suchen. Ich werde meinen Vater und meine Mutter fragen, warum sie mich nicht wollten.“
Etwas zog sich in Ellens Magen zusammen. Plötzlich schmeckte ihr das Frühstück nicht mehr.
“Komm, reden wir von was anderem“, versuchte Ellen das Thema zu wechseln. “Schau mal dort drüben. Da läuft gerade eine Segeljacht in die Bucht ein. Siehst du die Flagge am Heck? Ein Australier. Der hat aber eine weite Reise hinter sich.“
Max vergaß das vorherige Gespräch und schaute stattdessen in die Richtung, in die Ellen deutete.
“Das ist doch die englische Flagge“, meinte er und schaute seine Pflegemutter entrüstet an.
“Nein, Junge“, widersprach Ellen. “Die englische Schifffahrtsflagge hat zwar auch den Union Jack in der linken oberen Ecke, sie ist aber rot. Bei der australischen kommen im Übrigen noch die sechs Sterne im Mittelfeld hinzu.“
Max starrte in die Ferne. “Wenn überhaupt, dann kann ich nur fünf Sterne erkennen.“
“Der sechste ist ganz klein“, murmelte Ellen.
Max wirbelte herum. “He, du bist ja wieder voll drauf! Wann meldest du dich endlich zu Bernd Gerbers Show an?“
Ellen atmete tief durch und griff nach ihren Zigaretten. Sie wollte zwar nicht im Beisein des Jungen rauchen, aber ihre neue Sucht brüllte förmlich nach dem ersten morgendlichen Nikotinschub.
“Worüber haben wir daheim gesprochen?“ fragte sie mit strenger Stimme.
“Weiß nicht“, antwortete Max und versuchte sich eine Zigarette aus dem Päckchen zu angeln. Ellen nahm es rasch an sich.
“Ich glaube, du spinnst wohl. Rauchen kannst du, wenn du erwachsen bist. Am besten aber lässt du es ganz bleiben.“
“Und warum tust du es?“
“Ich höre nach dem Urlaub wieder auf.“
Max grinste breit. “Wer‘s glaubt, wird selig.“
Hinter der nächsten Kurve verschwand Théoule-sur-Mer im Rückspiegel. Ellen gab Gas, um die Anhöhe bei La Rague mit Schwung zu nehmen. Max hockte auf dem Beifahrersitz und genoss sichtlich den Fahrtwind, der ihm um die Nase wehte. Hier unten an der Küste fuhren sie natürlich offen. Auch Ellen genoss die Fahrt mit dem Cabrio. Konrad hatte Recht gehabt. Ein Sportwagen, auch wenn es eigentlich ein Viersitzer war, passte tatsächlich am besten zu ihr.
“Was willst du mit einer Familienkutsche?“ hatte er gefrotzelt. “So was fahren alte Männer mit Hut. Oder Leute mit einem Stall voll Kindern.“
Gleichzeitig legte er ein farbenfrohes Prospekt auf den Wohnzimmertisch.
“Hier, so ein Cabrio passt doch viel besser zu dir.“
Max war danach vor lauter Begeisterung kaum noch zu bändigen.
Unwillkürlich ließ Ellen ihren Gedanken freien Lauf. Wenn ich ihn nicht kennen gelernt hätte, überlegte sie, dann würde ich heute wahrscheinlich immer noch in der Filiale am Martinsplatz hocken und Seifenstücke sortieren. Überhaupt hatte er in kürzester Zeit ihr Leben völlig umgekrempelt. An den Wochenenden fuhren sie aufs Land; abends gingen sie häufig ins Kino. Hinzu kam, dass Konrad in Max regelrecht vernarrt schien. Allenfalls, wenn ein abendlicher Theaterbesuch anstand, gingen sie zu zweit aus. In alle anderen Aktivitäten schloss er den Jungen wie selbstverständlich mit ein. Auch sein Feuermal störte ihn nicht im geringsten. Konrad schien der ideale Lebenspartner für sie zu sein. Und dennoch. Etwas störte sie. Ellen hatte so lange alleine gelebt. Sie wollte sich einfach nicht noch einmal fest binden. Zumindest nicht so schnell. Eine Enttäuschung hätte sie emotional nicht so schnell weggesteckt. Dessen war sie sich sicher.
Sie erreichten Cannes. Vor dem Kongresszentrum mussten sie vor einer Ampel anhalten. Die Plakatwände deuteten immer noch auf die jüngst vergangenen Filmfestspiele hin.
“He, ist das nicht Brad Pitt?“ brüllte Max und deutete auf einen Passanten. Der Mann schaute verblüfft in ihre Richtung.
“Quatsch!“ lachte Ellen. “Du spinnst. Schau genauer hin.“
“Aber der sah genauso aus wie Brad Pitt“, murmelte Max, als Ellen weiterfuhr.
“Na, und wenn schon“, meinte Ellen und lächelte ihn dabei warmherzig an. “Tu mir bitte den Gefallen, und halte dich demnächst ein bisschen mehr zurück. Leute vom Schlage eines Michael Schumacher oder Boris Becker haben es überhaupt nicht so gerne, wenn man mit dem nackten Finger auf sie zeigt.“
“Meinst du, die könnten uns tatsächlich irgendwo über den Weg laufen?“ Max‘ Stimme wurde heiser vor Aufregung.
“Möglich ist alles.“ Ellen zuckte die Schulter und umrundete mit ihrem Cabrio die Croissette-Halbinsel. “Wir sind hier schließlich an der Côte d’Azur. Hier wohnt eine Menge Prominenz. Zumeist auf Cap Ferrat oder in Monte-Carlo. Im Übrigen findet morgen der große Preis von Monaco statt.“
“Michaels Bruder würde ich sowieso lieber treffen“, meinte Max selbstsicher und legte dabei seine Füße auf das Armaturenbrett, so wie das im Süden neuerdings Sitte war. “Ralf ist irgendwie netter.“
“Wieso?“ fragte Ellen mit schelmischem Gesichtsausdruck. “Hast du ihn schon einmal kennen gelernt?“
“Natürlich nicht“, brummte der Junge.
Der Flieger landete pünktlich. Max wäre vor lauter Ungeduld am liebsten unmittelbar auf das Flugfeld gelaufen, um Konrad abzuholen. So musste er sich gedulden, bis die normale Abfertigungsprozedur erledigt war. Konrad winkte schon von weitem. Er zeigte dem Zollbeamten seinen Pass, und nach wenigen Augenblicken stand er vor Ellen.
“Hallo“, begrüßte er die Frau, wegen der er die Reise nach Südfrankreich angetreten hatte. “Toll siehst du aus. Und braun bist du geworden.“
Er drehte sich zu Max um.
“Na, Großer? Was ist mit den Mädels? Noch keine der zahlreichen Bikinischönheiten in deinem Gefolge? He, wir sind hier an der Côte d’Azur!“
Max‘ Feuermal begann zu glühen. Verlegen schaute er zur Seite.
Ellen hakte sich bei Konrad unter, und sie verließen das Abfertigungsgebäude. Konrad verstaute seine Reisetasche im Kofferraum und nahm wie selbstverständlich auf dem Rücksitz Platz. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu.
“Ist schon okay“, meinte er mit einem Blick auf den Jungen.
Max fühlte sich sichtlich geschmeichelt. Dass sich wegen ihm ein Erwachsener auf den ohnehin schmalen Rücksitz quetschte, war ihm neu. Von seinen Freunden wusste er, dass Kinder und Jugendliche auf den Rücksitz gehörten, wenn Erwachsene mitfuhren. Konrad war wirklich ein feiner Kerl. So einen Vater hatte er sich immer gewünscht.
“Wohin?“ fragte Ellen.
“Lass uns erst mal einen Kaffee trinken gehen“, meinte Konrad und schob sich eine dunkle Sonnenbrille vor die Augen. “Am besten auf dem Kap. Dort gibt es ein Superrestaurant. Und dann erst die Aussicht. Ihr werdet begeistert sein.“
Und das waren sie auch. Max konnte sich gar nicht mehr einkriegen, angesichts der Aussicht auf das Meer und des livrierten Kellners, der sogar ihm den Sessel zurechtrückte. So etwas hatte er bisher noch nie erlebt.
“He, Großer“, flüsterte Konrad nach einer Weile. “Schau mal nach unten. Dort am Pool.“
“Und?“ fragte Max. “Was soll da sein?“
“Siehst du nicht die Frau in dem hellen Badeanzug?“ Er grinste verschwörerisch. “Wenn ich mich nicht irre, ist das die Hauptdarstellerin aus dem neuen James-Bond-Streifen, der im Herbst in die Kinos kommt.“
“Nein, sag ehrlich!“ stieß Max aus.
“Nicht so laut!“ warnte Ellen und beugte sich ebenfalls vor, um besser sehen zu können.
“Tatsächlich!“ rief Max. “Oh, Mann! Wenn ich das in der Klasse erzähle. Die Jungs werden platzen vor Neid.“
“Geh doch runter und bitte sie um ein Autogramm“, schlug Konrad vor.
“Nee“, murmelte der Junge und drehte sich wieder herum.
“Wieso eigentlich nicht“, meinte Konrad und erhob sich von seinem Stuhl. “Los, komm mit. Wir fragen sie einfach.“
“Soll ich?“ stotterte der Junge und suchte bei seiner Mutter um Rat.
“Na, beißen wird sie dich schon nicht.“
Sie beobachtete, wie Konrad mit dem Jungen die Treppe hinunterstieg und die junge Frau ansprach. Die Filmschauspielerin blickte von ihrer Illustrierten auf, nickte und rief lächelnd nach einem Kellner. Der erschien mit einer Ledermappe und einem vorsorglich bereitgelegten Stift. Im Hotel du Cap schien man auf solche Ansinnen vorbereitet zu sein. Es kam ja schließlich nicht selten vor, dass Filmschauspieler hier abstiegen, um sich von der stressigen Dreharbeit zu erholen. Ellen sah, wie die junge Frau ihrem Sohn die Hand reichte und er und Konrad wieder nach oben stiegen.
“Na, zufrieden?“ lächelte sie, als der Junge wieder am Tisch saß.
“Wahnsinn!“ stammelte Max. “Ja, Wahnsinn.“
“Du solltest dem Jungen keine Flausen in den Kopf setzen“, warnte sie ihren Tischnachbarn, als sie abends auf der Terrasse ihres Ferienappartements beieinander saßen.
Ellen hatte Konrad auf ein Glas Rotwein eingeladen. Er selbst wohnte nur ein paar Schritte entfernt im Hotel direkt am Hafen.
“Wieso Flausen?“ fragte er scheinheilig.
“Von wegen James Bond, und so.“ Dabei versuchte sie, einen strengen Unterton in ihre Stimme zu legen. Es gelang ihr nicht. Wer konnte Konrad Gutfried schon böse sein?
“Der Junge hat so schon Probleme genug, sich in einer Umgebung wie dieser zurechtzufinden. Was meinst du, was der zu Hause anstellt. Wenn der demnächst Prominente auf der Straße sieht, klopft der denen noch auf die Schulter. Ich höre ihn schon palavern: Na, altes Haus? Auch an der Riviera gewesen?“
Konrad brach in schallendes Gelächter aus. Er hob das Glas und prostete ihr zu.
“Cheers! Na, das wird was werden.“
“Komm, lenk nicht vom Thema ab. Himmel, Konrad. Bis vor ein paar Wochen haben wir ein völlig zurückgezogenes Leben geführt. Auf einmal fährt seine Mutter einen Sportwagen, und er findet sich unter Filmstars wieder.“
“Er ist halt in der Pubertät. Sei doch froh, dass er uns überhaupt ernst nimmt. Ich kenne Leute, die haben Kinder, mit denen sie überhaupt nichts mehr anfangen können. Freu dich doch.“
“Ich freu mich ja auch“, erwiderte Ellen. “Trotzdem.“
“Was, trotzdem? Nun lass ihn doch ruhig mal den großen Mann von Welt spielen. Das täte dir übrigens auch ganz gut. Ein bisschen aus sich herausgehen ist ganz gut für das Selbstbewusstsein.“
“Mein Selbstbewusstsein ist groß genug“, widersprach Ellen.
“Weiß ich doch“, murmelte der Mann an ihrer Seite. “Dennoch. Du bist immer noch viel zu sehr in deinem Denken als einfache Drogeriemarktverkäuferin verwurzelt. Genieße doch das Leben. Wir werden alle nicht jünger.“
“Was hast du gegen Drogeriemarktverkäuferinnen?“ begehrte Ellen auf. “Denkst du, nur weil ich ein paar tausend Euro mehr auf dem Konto habe, werde ich plötzlich ein anderer Mensch? Da irrst du dich aber gewaltig. Bevor ich Max zu mir nahm, hatte ich beinahe genauso viel Geld wie heute. Und trotzdem bin ich nicht irgendwelchen Filmstars hinterhergelaufen.“
“So war das auch nicht gemeint“, beschwichtigte Konrad. Er wollte keinen Streit an diesem wunderschönen Abend.
“Wo steckt eigentlich Max?“ versuchte er das Thema zu wechseln.
“Der ist auf der Mole und schaut den Anglern zu“, antwortete Ellen. “Falls er nicht irgend einen Blödsinn anstellt.“
“Was meinst du damit?“
“Ach, weißt du“, seufzte sie. “Er wird bald vierzehn. Max beginnt sich langsam für Mädchen zu interessieren. Erst habe ich das ja nicht wahrhaben wollen, aber seit einigen Wochen merke ich immer deutlicher, dass er dem anderen Geschlecht nicht mehr abgeneigt zu sein scheint.“
“Sollte er deines Erachtens eher dem eigenen Geschlecht zugeneigt sein?“ frotzelte der Mann neben ihr.
“Blöder Kerl“, lachte Ellen. “Natürlich nicht. Obwohl ich glaube, es wäre mir egal. Hauptsache, Max wäre glücklich. Egal, ob mit einem Freund oder einer Freundin.“
“Du bist verdammt souverän“, meinte Konrad nachdenklich.
“Nicht wahr“, meinte Ellen nach einer Weile und goss die Gläser erneut voll.
“Seit zwei Tagen hat er eine kleine Freundin“, fuhr sie nach kurzem Nachdenken fort. “Ich tue natürlich so, als würde ich davon nichts merken. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich mit der kleinen Französin angefreundet hat, deren Mutter oben im Ort den Gemüseladen unterhält. Max spricht ziemlich gut französisch. Bald schon besser als ich. Er hat die Fremdsprache seit der fünften Klasse. Könnte mir vorstellen, dass ich mir demnächst wenigstens wegen diesem Fach keine Sorgen mehr machen muss.“
“Dein Sohn und ein Mädchen.“ Konrad lächelte. “Sie mal einer an.“
“Ja, sieh mal einer an“, äffte ihn Ellen nach.
Konrad neigte sich ihr zu. “Neidisch?“
“Ich und neidisch?“ lachte sie hell auf. “Ich glaube, jetzt spinnst du aber.“
“Wirklich?“ Seine Stimme klang ernst. Fast schon ein bisschen zu ernst.
“Nun hör schon auf“, erwiderte Ellen.
“Ja“, murmelte Konrad nachdenklich. “Das sollte ich wirklich. Ich fürchte beinahe, du hast Recht.“
In dieser Nacht lag Ellen lange wach und grübelte darüber nach, was Konrad mit der letzten Bemerkung gemeint haben könnte.
Am darauf folgenden Morgen klopfte es in aller Herrgottsfrühe an der Terrassenscheibe. Verschlafen blickte Ellen auf die Digitaluhr. Es war gerade mal acht Uhr.
“Was ist denn?“ fragte sie erstaunt, als sie Konrad auf der Terrasse stehen sah.
“Steht auf, Leute“, rief er, als auch Max hinter seiner Mutter auftauchte. “Wir fahren nach Monaco.“
“So früh?“ wunderte sich Ellen. “Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“
“Natürlich. Aber das Formel-1-Rennen wartet nicht.“
“Hast du etwa Karten?“ rief Max begeistert und sprang dabei von einem Bein auf das andere.
“Sogar ziemlich dicht bei der Ferraribox. Also, mach hin. Ich will was sehen für mein Geld.“
“Du bist verrückt“, meinte Ellen kopfschüttelnd, als sie sich neben Konrad auf den freien Tribünenplatz quetschte. Für den Wagen hatten sie nur noch mit Mühe einen Parkplatz in einem der Parkhäuser von La Condamine gefunden.
“So viel Geld. Die Tribünenplätze müssen doch ein Vermögen gekostet haben.“
“Stimmt. Aber was soll’s? Wir leben nur einmal. Und wer weiß, wann ich mit euch noch mal in Monte-Carlo sein kann.“
“Was meinst du damit?“ fragte Ellen verwundert.
“Na, erinnere dich an unser Gespräch von gestern Abend“, entgegnete Konrad mit gespielt strafendem Unterton. “Ich lasse mir nicht gern zweimal sagen, dass ich aufhören soll.“
Ellen schwieg und blickte starr über die Tribüne hinweg.
“Sorry“, brummte Konrad. “Ich weiß, ich bin ein Idiot. Nun verderbe ich dir auch noch ein schönes Urlaubserlebnis.“
Ellen sprang von ihrem Sitz hoch. Max schaute sie verwirrt an. Sie beachtete den Jungen nicht.
“Dieses Urlaubserlebnis kann mir gestohlen bleiben!“ fauchte sie. “Ich lasse mich doch nicht kaufen! Was willst du? Max? Mich? Da kannst du lange warten!“
Wutentbrannt bahnte sie sich einen Weg durch die Sitzplatzreihe und war nach wenigen Augenblicken aus ihrem Blickwinkel verschwunden.
“Was hat denn Ellen auf einmal?“ fragte Max, der nicht so genau wusste, ob er ihr folgen oder doch lieber den Start des Rennens abwarten sollte.
“Sie ist im Augenblick ein bisschen durcheinander“, entgegnete Konrad und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. “Halte du nur die Stellung. Ich gehe deine Mutter suchen. Weit kann sie in dem Gewimmel ja noch nicht sein.“
Er entdeckte sie, als sie gerade in den Aufzug hinauf zum Fürstenpalast stieg. Konrad nahm die Beine in die Hand und hastete die Zufahrtstraße in geradezu rekordverdächtigem Tempo empor. Als er auf dem Exzerzierplatz ankam, schlenderte sie gerade den rot asphaltierten Weg zur Aussichtsplattform hinunter, von wo aus man einen grandiosen Blick bis zum Cap Ferrat genießen konnte. Er trat hinter sie und legte seine Hände auf ihre Schultern. Ellen wirbelte herum. Doch Konrad verschloss ihre Lippen mit seinem Zeigefinger.
“Nicht schimpfen, Ellen. Verdirb uns nicht diesen Augenblick. Schau hinüber auf das Meer. Ist das nicht wunderschön?“
Ellen wusste nicht mehr, was sie denken, geschweige denn sagen sollte. Sie war verwirrt. Sie fühlte sich nicht mehr Herr der Lage. Was wollte dieser Mann an ihrer Seite? Zugegeben, er war ungemein attraktiv, verständnisvoll, geradezu liebevoll zu ihrem Kind. Aber worauf war er wirklich aus? Auf ein schnelles Abenteuer? Eine feste Bindung? Bisher hatte er sich dazu noch nie geäußert. Sie konnte ihn doch wohl kaum nach seinen Absichten fragen. Wie hätte sie denn dagestanden?
Konrad legte seinen Arm um ihre Schultern. Ellen ließ es widerspruchslos geschehen. Sie war ihm unendlich dankbar dafür, dass er diese Situation nicht durch einen plumpen Annäherungsversuch verdarb. So lehnten sie sich nur gegen das Geländer und genossen den Blick auf Cap Ferrat, das sich einige Kilometer entfernt im Dunst der Küste vor ihnen erstreckte.
“Schön, nicht?“ meinte er schließlich, als sich Ellen aus seiner Umarmung befreite.
“Ja, sehr“, antwortete sie. “Hier möchte ich sterben.“
“Soweit sind wir noch lange nicht“, lächelte Konrad.
“Stimmt“, pflichtete ihm Ellen bei. “Aber diese Landzunge dort drüben wäre wirklich ein herrliches Fleckchen, um den Rest seines Lebens zu verbringen.“
“Nicht schlecht gewählt“, erwiderte Konrad und schnalzte die Zunge. “Eine der teuersten Ecken Frankreichs. Na ja, wenn du in Bernd Gerbers neuer Rateshow den Volltreffer landen würdest, dann könnte man schon ein kleines Häuschen auf dem Kap bezahlen. Angeblich soll man bei ihm demnächst fünf Millionen gewinnen können.“
“Jetzt träumst du aber.“
“Von dem Haus?“
“Nein, von einer Quizteilnahme. Schlag dir das aus dem Kopf.“
Am darauf folgenden Tag fuhren sie mit dem Wagen nach Èze, einem kleinen, romantischen Flecken mitten im Gebirge oberhalb von Nizza. Max schwärmte immer noch von dem Sonntag in Monte-Carlo. Es war ihm sogar gelungen, ein Autogramm von Ralf Schumacher zu ergattern. Zu Hause würden seine Schulfreunde Bauklötze staunen. Konrad ging mit Ellen und Max nach oben zum botanischen Garten, zeigte ihnen die tropischen Gewächse, die trotz der Höhe prächtig gediehen und führte sie dann zum Terrassenrestaurant hoch über dem Meer. Max war begeistert. Ellen hatte ihm eine kleine Kamera gekauft, mit der er pausenlos herumknipste. Auch sie genoss die Aussicht über das Kap und das Meer.
“Morgen müssen wir schon die Sachen packen“, meinte Ellen nach einer Weile. “Länger als zehn Tage konnte ich den Jungen beim besten Willen nicht aus der Schule nehmen. Ich bin ohnehin froh, dass der Direktor einsah, dass sich ein Sprachurlaub in Frankreich positiv auf seine Schulnote auswirken würde.“
“Verstehe“, sagte Konrad. Dann schaute er Ellen ganz fest in die Augen.
“Und was ist mit uns?“
“Was soll mit uns sein?“
“Ich bin in dich verliebt, Ellen“, raunte ihr Konrad ins Ohr. “Himmel, merkst du das denn nicht?“
Ellen wurde schwindelig. Sie griff nach ihrem Glas und stürzte den Inhalt mit einem Schluck hinunter.
“Du weißt ja nicht, was du sagst“, hörte sie eine Stimme flüstern. Es war ihre eigene.
“Oh, das weiß ich sehr genau“, entgegnete der Mann an ihrer Seite. “Ich habe mich hoffnungslos in dich verliebt, Ellen Graf.“
“Sag das noch mal“, flüsterte die Stimme. Sie klang heiser.
Konrad wiederholte seine Beteuerung.
Ellen beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund.
“Kein Witz?“
“Bei so was pflege ich nicht zu scherzen“, murmelte Konrad. “Und du?“
“Was soll mit mir sein?“
“Mach es mir doch nicht so schwer.“
Ellen schluckte. Doch dann küsste sie ihn noch einmal. Diesmal
leidenschaftlicher. Nur eine Bestätigung seines Liebesschwurs wollte nicht über Ellens Lippen. Dies schien ihr zu endgültig, und so weit war sie einfach noch nicht.
Als Ellen mitten in der Nacht aufwachte, wusste sie im ersten Augenblick überhaupt nicht, wo sie sich befand. Langsam erinnerte sie sich. Neben ihr hörte sie ein tiefes Atmen. Konrad schlief zusammengerollt unter dem Laken, den rechten Arm immer noch unter ihrer Schulter. Als sie sich bewegte, brummte er nur kurz und schlief dann tief und fest weiter. Ellen dachte an Max. Es war ihr eigentlich gar nicht recht gewesen, den Jungen allein zu lassen, aber als sie auf der Terrasse des Hotelrestaurants saßen und einen letzten Rotwein tranken, war ihr klar, dass sie in dieser Nacht seit langer Zeit nur einmal an sich selbst denken wollte. So folgte sie Konrad auf sein Zimmer. Er nahm sie zärtlich in die Arme, und anschließend liebten sie sich leidenschaftlich. In diesem Augenblick wurde Ellen klar, dass das Leben wirklich an ihr vorbei zu ziehen drohte. Wo waren die prickelnden Momente geblieben? Wo das Abenteuer? Nun, Max war mit knapp vierzehn Jahren wahrlich alt genug, selbst auf sich aufzupassen. Niemand konnte ihr einen Vorwurf machen, wenn sie ihn für eine Nacht alleine ließ. Er würde ja wohl nicht gleich das Appartement abfackeln. Nein, in dieser Nacht wollte sie nach langen Jahren der Entbehrung und Aufopferung endlich wieder einen Mann in den Armen halten.
Unbewusst tauchten die Umrisse von Cap Ferrat und die schönen Villen hoch über dem Meer vor ihrem geistigen Auge auf. Ellen überschlug ihr monatliches Einkommen und rechnete einen fiktiven Sparbetrag ihrem derzeitigen Vermögen zu. Lächerlich, grinste sie vor sich hin. Ich müsste zweihundert Jahre alt werden, um mir ein Haus in dieser Gegend leisten zu können. Und wenn ich erst mal so alt bin, brummte sie in sich hinein, dann brauche ich auch keine Villa mehr auf Cap Ferrat. Aber toll wäre es schon, meldete sich ihr Unterbewusstsein wieder zu Wort. Stell dir vor: Die tolle Aussicht, ein Garten voller Palmen, die Terrasse über dem Meer, Sonne vom Morgengrauen bis zur Dämmerung. Millionärin müsste man sein. Unwillkürlich dachte sie an Bernd Gerber. Absurd, brummte sie halblaut. Ausgerechnet dessen Show. Was willst du dort? Bis jetzt hast du nur gewonnen. Stell dir vor, du stellst dich seinen Fragen und patzt. Dann wäre die ganze wunderschöne Illusion dahin. Noch betrachtet man dich als unfehlbar. Zumal du bei Lutze bis zur vorletzten Frage gekommen bist. Na ja, ohne dieses Risiko einzugehen, hättest du Südfrankreich so schnell nicht gesehen. Von dem Cabrio und der neuen, großen Wohnung ganz zu schweigen. Aber wieso noch einmal eine solche Strapaze auf sich nehmen? Sei doch um Himmels Willen zufrieden mit dem, was du erreicht hast. Konrad wird dich nicht mehr mögen als jetzt. Ebenso Max. Wozu also? Bei diesem Gedanken schlief sie schließlich ein.
“Also stand in Théoule-sur-Mer bereits für Sie fest, dass Sie weitermachen würden?“ fragte Sandra Landshoff und wechselte erneut die Kassette in ihrem Recorder.
“Natürlich nicht“, winkte Ellen ab. “In jener Nacht konnte ich bloß nicht einschlafen. Himmel, ich hatte gerade die Nacht der Nächte hinter mir. Da kommt man halt schon einmal auf dumme Gedanken.“
“War es denn ein dummer Gedanke?“ stocherte Sandra nach.
“Im ersten Moment schon“. Ellen griff erneut nach der Flasche mit dem Cognac. Doch während sie den Verschluss aufdrehte und in das Gesicht ihrer Strafverteidigerin blickte, hielt sie mitten in der Bewegung inne.
“Ich sollte wohl nicht soviel trinken, nicht wahr?“ Sie schraubte den Verschluss wieder zu.
“Besser wäre es. Aber jetzt weiter. Ich möchte als nächstes ...“
“Was Neues von Max gehört?“ unterbrach Ellen ihre Strafverteidigerin.
Sandra schüttelte den Kopf. “Woher auch. Ich weiß ja gar nicht, wo er sich genau aufhält. Das hiesige Jugendamt ist in dieser Hinsicht knallhart. Die halten dicht. Da müssten wir schon einen Detektiv beauftragen.“
“Machen Sie das doch“, schlug Ellen vor.
“Ich werde sehen, ob ich eine vertrauensvolle Person ausfindig machen kann“, erwiderte Sandra. “Man muss da sehr vorsichtig vorgehen. Das Wohl des Jungen geht erst einmal vor.“
“Kommen Sie“, entgegnete Ellen und deutete auf das Diktiergerät. “Machen wir weiter. Wir haben nicht ewig Zeit.“
9
Max stürmte in die Wohnung und riss als Erstes den Kühlschrank auf. Er nahm eine Flasche mit Diätcola aus dem Getränkefach und setzte sie an den Mund.
“Was ist denn los?“ fragte Ellen, die in diesem Augenblick die Wäsche aus dem neuen Waschvollautomaten nahm, um sie anschließend im Trockenkeller aufzuhängen.
“Hatte gerade einen affengeilen Ausritt mit dem Mountainbike“, keuchte er zwischen zwei Schlucken.
“He, was ist das für eine Ausdrucksweise? Redet man inzwischen so bei euch in der Schule?“
“Sorry“, lachte Max und setzte die Flasche ab. “War trotzdem superstark.“
“Was machen eigentlich Paul und Norbert?“ wollte Ellen nach einer Weile wissen. “Von denen hört man ja gar nichts mehr.“
Max winkte ab. “Ach, die. Langweiler.“
“Wieso denn Langweiler?“
“Die mit ihren Hollandrädern. Deren Klapperdinger brechen denen ja schon unter dem Hintern auseinander, wenn sie nur den befestigten Weg verlassen.“
“Früher warst du aber froh, wenn du mit ihnen unterwegs warst, nicht wahr?“ rügte ihn seine Mutter.
“Ja, früher.“ Max schlüpfte aus seinen verschwitzten Sachen. “Früher hatte ich ja auch das schlechteste Fahrrad. Das, bei dem ständig die Luft aus dem Vorderreifen ging. Aber jetzt habe ich mal das Superbike.“
“Ach, und da sind dir deine Freunde nicht mehr gut genug?“ wunderte sich Ellen.
“Ich habe jetzt neue Freunde.“
Währenddessen flogen ihr Sweatshirt, T-Shirt, Radlerhose, Socken, Arm- und Knieschoner entgegen. Ellen schaute ihn teils verwundert, teils belustigt an.
“Und was soll ich mit dem Zeug?“
“Na, waschen“, grinste er und schlüpfte hinaus auf den Flur. “Ich muss dringend unter die Dusche.“
Nachdenklich warf Ellen die Sportsachen ihres Jungen in die Maschine und schaltete sie an. Früher wäre er nicht so bestimmend gewesen. Aber seit sie den Vollautomaten besaß, ging die Wäsche nun wirklich rasch von der Hand. Sie machte sich langsam Sorgen um ihn. Mit Paul und Norbert hatte er fast überhaupt keinen Kontakt mehr. Kein Wunder. Früher hatten Sie ihn nicht selten unbewusst spüren lassen, dass er bei vielen Aktivitäten eben nicht mitmachen konnte. Jetzt besaß er ein teures Mountainbike, hatte den modernsten Computer mit Internetanschluss auf dem Schreibtisch stehen und trug seit einigen Wochen nur noch Designerklamotten. Ellen überlegte, wo das noch hinführen sollte. Früher war Max ganz anders gewesen. Doch was hatte sie erwartet? Dass sich Max weiter mit einem Fahrrad vom Sperrmüll zufrieden gab, ständig seinen altersschwachen Computer reparieren musste und in Dritte-Welt-Klamotten herumlief? Er wollte verständlicherweise auch von dem unerwarteten Reichtum profitieren. Hätte sie den Jungen außen vor lassen sollen, während sie alle zwei Wochen zum Friseur und in den Boutiquen der Innenstadt ein und aus ging und ein sündhaft teures Cabrio fuhr? Überraschenderweise waren seine Schulnoten deutlich besser geworden. Das lag wohl daran, dass bei seinen neu gewonnenen Freunden offenbar nur Leistung zählte. Einer seiner Kumpels stammte aus einer Arztfamilie, der Vater eines anderen unterhielt eine gut gehende Rechtsanwaltspraxis. Nun versuchte er mit aller Macht, den Anschluss zu den Klassenbesten zu erreichen. Nur deshalb ließ sie ihm einiges durchgehen, wenn er vor lauter Übermut einmal wieder über die Stränge schlug.
Seufzend blickte Ellen auf die Uhr. Zeit für das Abendessen. Doch an diesem Abend verspürte sie überhaupt keine Lust zu kochen. Der Tag im Büro war anstrengend gewesen. Es machte schon einen Unterschied, ob man lediglich auf Anweisung der Vorgesetzten die Regale auffüllte oder eigenverantwortlich in einem Team mitarbeitete. Doch der Job machte ihr Spaß. Auch wenn einige ihrer Kollegen manchmal schon etwas neidisch auf ihr Cabrio starrten.
“He, Max!“ rief sie durch die geschlossene Tür. Seit einiger Zeit hatte er es gar nicht mehr gerne, wenn sie herein kam, während er unter der Dusche stand. Typisches pubertäres Gehabe. Wovor hatte der Bengel Angst? Dass ihm die eigene Mutter etwas wegguckte?
“Was denn?“ kam es ungeduldig zurück.
Seine Stimme klang gehetzt. Na, sie wollte jetzt lieber gar nicht wissen, was der unter der Dusche trieb.
“Gehen wir essen?“ fragte sie. “Ich habe keine Lust, mich an den Herd zu stellen.“
“Nee!“ kam es zurück. “Bestell doch was beim Pizzadienst. Ich nehme die Pugliese.“
“Wie du meinst.“
Sie bedauerte, dass Konrad ihr keine Gesellschaft leisten konnte. Doch momentan hatte er viel zu tun. Die Hauptversammlung, die er vorzubereiten hatte, stand unmittelbar bevor. Da die Sitzung in Frankfurt stattfand, hatte er sich dort ein Hotelzimmer genommen.
Der Lieferservice brachte die beiden Pizzen; Ellen und Max hockten sich auf den Balkon und langten tüchtig zu. Die zusätzliche Flasche Rotwein war bei denen zwar sündhaft teuer. Aber man gönnt sich ja sonst nichts, schmunzelte sie vor sich hin.
“Schon gehört?“ meldete sich Max zu Wort, während er seinen Teller von sich schob.
“Was?“ fragte Ellen und zündete sich eine Zigarette an. Vom Balkon aus konnte sie bis hinaus in die Voreifel sehen. Das war zwar nicht Cannes und die Bucht von La Napoule, aber immerhin.
“Der Gerber hat eine neue Show“, antwortete Max mit gewissem Lauern in der Stimme. “Es geht um fünf Millionen.“
“Wie schön für ihn“. Ellen schloss desinteressiert die Augen. Ah, der Rotwein und die Zigarette taten gut. Jetzt noch einen Mann. Ellen verschluckte sich beinahe bei diesem Gedanken. Was sollte bloß Max von ihr denken? Der bekam in letzter Zeit sowieso mehr mit, als für einen pubertierenden Dreizehnjährigen eigentlich gut war.
“Heute Abend beginnt die erste Staffel.“
“Und? Was geht mich das an?“
“He, was ist auf einmal los mit dir?“ beschwerte sich Max. “Sonst hast du dich doch für Quizsendungen interessiert.“
“Ich glaube, jetzt muss ich mal deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Du hast mit dem Blödsinn angefangen. Ich bin da bloß hineingeschlittert.“
“Und mit hundertfünfzigtausend Mäusen herausgekommen“, frotzelte der Junge und kniff anzüglich eine Auge zu. “Nicht schlecht für den Anfang, wie?“
“Was willst du damit andeuten?“ horchte sie auf. “Was meinst du mit ‘für den Anfang‘?“
“Na ja.“ Er grinste verschlagen. “Man könnte ja ...“ Den Rest des Satzes ließ er bedeutungsvoll im Raume stehen.
“Hör mal zu, Cowboy! Du weißt, worüber wir mal gesprochen haben, nicht wahr? Kein Fernsehquiz mehr. Und keine heimlichen Anrufe bei irgendwelchen ominösen Hotlines. Die Sache von damals hat mich genug Nerven gekostet. Das reicht für ein ganzes Leben.“
“Was macht der Job?“ konterte Max blitzschnell.
“Komm, mein Freund“, fuhr sie ihm über den Mund. “Lenk nicht vom Thema ab. Wir haben uns verstanden, klar?“
“Ist klar“, brummte er einsilbig.
Schweigend hockten sie eine Weile zusammen auf dem Balkon und genossen den milden Frühlingsabend. Die Zigarette verglühte ungeraucht im Aschenbecher. Dafür jedoch neigte sich der Pegel in der Rotweinflasche rasch dem Boden zu. Unbewusst schweiften ihre Gedanken ab. Südfrankreich tauchte erneut vor ihrem geistigen Auge auf. Die Hügel von Cap Ferrat, Èze, Monte-Carlo. Unsinn, schalt sie sich. Das sind doch Hirngespinste. Du hast einen neuen, gut bezahlten Job, eine schöne Wohnung und einen nagelneuen Wagen. Der Junge hat auch alles, was er braucht. Was soll der Unsinn mit Südfrankreich? Bist du nicht mehr zufrieden mit deinem Leben?
Sie dachte an Konrad. Konrad war ein lieber Kerl. Sehr verständnisvoll, amüsant und ein zärtlicher Liebhaber. Mit ihm konnte sie stundenlang über Gott und die Welt diskutieren. Nur wenn sie seine Bekannten trafen, da fiel er ihr manchmal schon ein bisschen auf die Nerven. Es verging kaum ein Abend, an dem er nicht ihre Fähigkeiten herausstrich. Beinahe kam es ihr so vor, als wollte er sich mit ihr vor den anderen brüsten. Seht her, was ich für eine tolle, intelligente Frau habe. Frau? Sie fühlte sich mitnichten als seine Frau. Nicht einmal als seine Lebensgefährtin. Allenfalls als seine Freundin. Nicht mehr und nicht weniger. Und dabei sollte es auch erst einmal bleiben.
Max erhob sich von seinem Stuhl, räumte wortlos die Teller zusammen und trug sie in die Küche. Ein paar Augenblicke später hörte sie bereits das Rauschen der Spülmaschine. Nanu, dachte Ellen noch bei sich. Was ist denn in den gefahren? Sonst hilft er doch nicht ungebeten im Haushalt. Als sie jedoch kurz darauf den Nachrichtensprecher im Fernsehen vernahm und der Junge im Rahmen der Balkontür auftauchte, ahnte sie, was die Stunde schlug. Max lehnte lässig gegen den Rahmen und musterte sie unverwandt.
“Ist was?“ fragte sie gereizt.
“He, nun komm schon“, forderte er sie auf. “Die neue Show fängt gleich an.“
Ellen überlegte, was sie tun sollte. Blieb sie schmollend sitzen, erweckte sie den Eindruck, vor etwas Angst zu haben. Ging sie mit hinüber, machte sie sich unglaubwürdig. Seufzend erhob sie sich von ihrem Stuhl. Lieber unglaubwürdig als feige. Man konnte sich den Quatsch ja mal ansehen.
“Guten Abend, meine Damen und Herren.“
Bernd Gerber stand auf der hell erleuchteten Bühne eines riesigen Studios und lächelte dabei breit in die Kamera. Das Publikum klatschte, pfiff und trampelte mit den Füßen auf den Boden. Mehrmals versuchte sich Gerber mit einer Handbewegung Gehör zu verschaffen, doch jedes Mal schwoll der Applaus nur noch mehr an. Es war Gerber deutlich anzumerken, dass er seinen Auftritt voll und ganz auskostete. Er war halt Vollprofi. Seine Karriere begann vor etwa zehn Jahren als Sportschau-Moderator. Bald jedoch wechselte er in die Talkshow-Branche und moderierte spät abends eine Gesprächsrunde, in der sich hochkarätige Leute aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Showbiz einfanden. Es galt fast schon als gesellschaftliches Manko, nicht von Gerber eingeladen worden zu sein. Die Yellopress-Gazetten wollten erfahren haben, dass man ihm eine siebenstellige Summe für die Moderation der Quizsendung geboten hatte. Bernd Gerber machte seinen Job gut. Jedenfalls sprachen die Einschaltquoten bisher für sich. Es gelang ihm, das Publikum und die Zuschauer daheim am Fernseher zu begeistern. Angeblich zahlte die Werbebranche inzwischen fast genauso hohe Summen für die Aussendung eines Spots während der Werbeunterbrechung wie bei einer Formel-1-Übertragung. Gerber besaß ein Penthouse-Appartement in der Nähe seiner eigenen Produktionsfirma und eine Villa bei Antibes.
“Ich begrüße Sie daheim an den Fernsehbildschirmen und hier im Publikum ganz herzlich zu meiner neuen Show ‘Volles Risiko‘, meine Damen und Herren“.
Sein Gesicht erschien in Großformat auf dem Bildschirm. Gerbers Lächeln wirkte wie immer ein bisschen spitzbübisch. Doch seine aufgesetzte Freundlichkeit täuschte. Bernd Gerber konnte knallhart sein. Besonders dann, wenn ein Kandidat probierte, den Moderator vorzuführen. Dann ließ er die Maske fallen. Ellen erinnerte sich an eine Sendung, in der ein offensichtlich verkrachter Schriftsteller und selbsternannter Kunstliebhaber versuchte, die Show an sich zu reißen und ihn nach jeder richtig beantworteten Frage seinerseits mit Gegenfragen aus dem Konzept zu bringen. Erst spielte Gerber dessen vermeintliches Spiel mit, als der Kandidat jedoch im entscheidenden Moment patzte und mit leeren Taschen nach Hause gehen musste, schüttete er über ihn beim Verlassen der Bühne einen ganzen Kübel von Sarkasmus und Spott aus. Max hätte damals am liebsten den Fernseher aus dem Fenster geworfen. Sie hingegen hatte ihn belehrt, dass man nur dann eine dicke Lippe riskieren durfte, wenn man auch wirklich gut war. Patzte man nämlich, dann fiel man wesentlich tiefer, als wenn man vorher kleine Brötchen gebacken hatte. Trotzdem maulte Max damals den ganzen Abend weiter.
“Vielen Dank“, lächelte Gerber und verschränkte dabei die Arme hinter dem Rücken.
Mit dieser Körperhaltung erweckte er wieder einmal den Eindruck eines Abiturienten bei der mündlichen Prüfung. In der Rolle des Gutmenschen, der kein Wässerchen trüben konnte, schien er sich ohnehin am besten zu gefallen. Überhaupt galt Bernd Gerber als Schwarm aller Schwiegermütter. Das schon alleine deshalb, weil er noch nicht verheiratet war. Böse Zungen behaupteten zwischenzeitlich, er wäre homosexuell. Doch Gerber strafte die Yellopress Lügen, indem er beim Bundespresseball sehr aufdringlich mit einer recht offenherzig gekleideten Filmschauspielerin flirtete. Ob es allerdings zutraf, dass die beiden hinterher tatsächlich einen einwöchigen Urlaub in seiner Ferienresidenz verbrachten, blieb jedoch unbewiesen. Gerber verfügte über ein perfektes Team, das seine Sendungen vorbereitete, ihn jedoch bis zum entscheidenden Augenblick vollkommen abschirmte. Die Sache machte durchaus Sinn. Matthias Lutze und andere Showmaster sollten in jüngster Zeit angeblich schon häufig von Fans belästigt worden sein.
“Ich darf Ihnen daheim am Bildschirm und hier im Zuschauerraum rasch die neuen Regeln für meine Show erläutern“, meinte er mit fester Stimme. Gerber schien enorm wandlungsfähig. Auf einmal wirkte er wie ein Berufsschullehrer.
“Noch immer gibt es die drei bekannten Schwierigkeitsstufen für die Fragen. Im ersten Level beginnen wir mit 250 Euro und steigern uns erst einmal bis zehntausend Euro. Zu jeder gestellten Frage gibt es fünf Antwortmöglichkeiten. Eine falsche Antwortmöglichkeit darf der Kandidat löschen lassen, natürlich um den Preis, dass sich der erspielte Gewinn für die Frage halbiert. Soweit wie gehabt. Nun aber kommt die Änderung. Schließlich geht es um sage und schreibe fünf Millionen Euro.“
Unwillkürlich hielt Max die Luft an. “Mensch, dafür muss eine alte Oma aber lange stricken.“
“Dann hol schon mal mein Strickzeug“, konterte Ellen trocken.
“Ab dem zweiten Level“, fuhr Gerber fort, “gibt es zwar auch noch jeweils fünf Antwortvorgaben. Als einzigen Joker darf der Kandidat jedoch allenfalls einen willkürlich aus dem Publikum ausgewählten Zuschauer zu Rate ziehen. Mit dem allerdings muss er sich hinterher den gesamten Gewinn aus der zweiten Spielrunde teilen. Also lieber rechtzeitig die Flagge streichen, falls man nicht mehr weiter weiß. Im zweiten Level wird um hunderttausend Euro gespielt.“
Zustimmendes Gemurmel aus den Zuschauerreihen folgte. Gerber lächelte.
“Dann folgt die Runde im dritten Level“, fuhr er fort. “Sie ist die schwierigste. Es werden fünf Fragen gestellt, zu deren Beantwortung dem Kandidaten lediglich fünf Minuten, respektive dreihundert Sekunden Zeit bleibt. Sobald die Frage gestellt ist, beginnt die Stoppuhr zu laufen. Eine Hilfestellung in Form von Jokern gibt es hierbei nicht.“
Wieder folgte zustimmendes Gemurmel aus dem Zuschauerraum.
“Doch die Kandidaten sollten sich nicht zu früh freuen“, erklärte Gerber weiter und verzog sein Gesicht zu jenem hämischen Grinsen, das inzwischen fast schon als sein Markenzeichen galt.
“Während man bis zum Ende der zweiten Runde seinen jeweils erspielten Gewinn behält, muss man für Level Nummer Drei schon ein bisschen mehr Mut mitbringen. Halt auf volles Risiko spielen. Wer in Runde Drei patzt, verliert auch den gesamten bisher in den Vorrunden erspielten Gewinn.“
Ein Raunen ging durch das Publikum. Gerber hob beschwichtigend die Arme.
“Meine Damen und Herren! Umsonst ist der Tod und der kostet bekanntlich das Leben. ‘Volles Risiko‘ will sich ganz bewusst von den Rateshows unterscheiden, bei denen, wie unlängst geschehen, eine einfache Hausfrau mit Kreuzworträtselerfahrung bis zur vorletzten Frage kam.“
“Dieser Spinner!“ quietschte Max auf. “Wenn der mir zwischen die Finger kommt, dann kriegt er was auf die Hörner.“
Auch Ellens Puls schoss in die Höhe. Auf wen Gerbers Bemerkung abzielte, war sonnenklar. Es konnte sich nur um ihre Teilnahme bei ‘Euroquiz‘ handeln.“
“Was regst du dich so auf?“ brummte sie tonlos. “Du bist doch nicht gemeint.“
“Aber du!“ brüllte der Junge. “So ein blödes Arsch...“
“Max! Benimm dich!“
“Ist doch wahr“, schimpfte Max weiter. “Was bildet der sich überhaupt ein? Den möchte ich selbst mal auf diesem Schleudersitz sehen. Und dann stellst du die Fragen.“
“Wie kommst du denn auf dieses schmale Brett?“ wollte Ellen wissen.
“Na, du gäbst mit deinem Wissen doch eine tolle Quizmasterin ab“, erwiderte der Junge. “So einen Teleprompter für die Antwortvorgaben hättest du gar nicht nötig.“
“Zuviel der Ehre“, stöhnte Ellen und deutete auf den Bildschirm. “Lass uns jetzt zuschauen. Da kommt schon der erste Kandidat.“
Eine junge Frau von knapp dreißig Jahren erklomm die beiden Stufen bis zur Bühne. Gerber begrüßte sie überschwänglich und geleitete sie zu ihrem Sessel. Dann nahm er hinter seinem Flachbildschirm Platz und schaute die junge Frau mit seinem Spitzbubengesicht an.
“Sie sind Sabine Lang aus Detmold?“ sagte er mit einem eigentümlichen Singsang in der Stimme. Die junge Frau nickte.
“Und Sie arbeiten bei einer Unternehmensberatung?“ Wieder nickte die Frau.
“Und Sie sind verheiratet?“
“Ja“, antwortete die Kandidatin.
“Und Sie haben Kinder? Wie alt?“
“War das etwa die erste Frage?“ versuchte die junge Frau einen Witz zu machen. “Geht es schon los?“
“Hat das Ihr Mann in der Hochzeitsnacht auch gesagt?“ konterte Gerber knapp.
Das Publikum stieß schrille Pfiffe aus und applaudierte. Die Kandidatin wurde knallrot. Ihr Gesicht erschien in Großformat auf dem Bildschirm.
“Denken Sie immer daran“, fügte er mit gespielter Ernsthaftigkeit hinzu, “die Fragen stelle ich.“
“Ja, Herr Gerber“, nickte die junge Frau.
“Na, also.“ Er grinste breit. “Geht doch. Frauen sind also doch lernfähig.“
“Ich schalt gleich ab! Ich schalt gleich ab!“ brüllte Max voller Zorn. “Der ist wohl total bescheuert.“
“Dann schalte um“, erwiderte Ellen schulterzuckend. “Ich würde mir sowieso lieber Pretty Woman anschauen.“
“Wiederholung“, schnaubte Max verächtlich.
“Immer noch besser, als mir deine Brüllerei anzuhören“, entgegnete seine Mutter.
Max schaltete den Fernsehapparat natürlich nicht ab. Er wollte unbedingt sehen, wie es weiterging. Und wenn sie ehrlich zu sich war, sie selbst auch.
“Dann fangen wir mal ganz harmlos an“, fuhr Gerber fort. “Frage Nummer Eins für gerade mal zweihundertfünfzig Euro. Die sollte eigentlich auch eine Blondine beantworten können. Obwohl man da nie so sicher sein kann.“
Das Publikum johlte vor Vergnügen.
“Wie heißt der Fluss, der durch Köln fließt?“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause und schaute seine Kandidatin erwartungsvoll an. “Können Sie mir soweit noch folgen?“
Die junge Frau nickte verdaddert. Sie wusste anscheinend nicht, ob sie sauer sein oder gute Miene zum bösen Spiel machen sollte. Doch was blieb ihr übrig? Sollte sie vor laufender Kamera schmollend das Studio verlassen? Am kommenden Morgen brauchte sie sich dann im Büro nicht mehr blicken lassen.
“Hier die Antwortmöglichkeiten: Main, Leine, Rhein, Seine oder Peine?“
“Rhein“, kam es wie aus der Pistole geschossen.
“Hm“, brummte Gerber und nickte dabei übertrieben heftig. “Da hat aber jemand brav auswendig gelernt. Zweite Frage. Jetzt geht es bereits um fünfhundert Euro. Wer wird ‘Kanzler der Einheit‘ genannt?“ Ist es Helmut Kohl, Konrad Adenauer, Helmut Schmidt, Kurt Georg Kiesinger oder Boris Becker?“
“Boris Becker?“ wunderte sich die Kandidatin.
Gerber nickte, ohne eine Miene zu verziehen. “Na ja, wir wollten die Fragen zu Beginn nicht ganz so schwer machen. Schließlich sollen Sie nicht gleich nach zwei Minuten schon nach Hause gehen müssen.“
“Es ist Helmut Kohl“, antwortete die junge Frau. “Antwort Nummer Eins.“
“Was macht Sie da so sicher?“ Gerber griff nach seinem Wasserglas und nahm einen kleinen Schluck, ohne die Kandidatin auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Gleichzeitig spreizte er den kleinen Finger steil nach oben ab. Ellen schüttelte sich vor Widerwillen. Sah das affig aus!
“Na, das weiß man doch“, erwiderte die Kandidatin.
“Ach, so was weiß man.“ Er spielte den Verblüfften und setzte das Wasserglas wieder ab. “Ich dachte immer, Frauen in ihrem Alter würden sich eher dafür interessieren, welchen Brustumfang Brad Pitt oder Sylvester Stallone haben.“
“Wie kommen Sie denn darauf?“ entrüstete sich die Frau in dem Kandidatenstuhl.
“Habe ich mir sagen lassen“, brummte Gerber. “Also schön. Antwort Eins. Helmut Kohl. Stimmt.“
Das Publikum applaudierte. Gerber lächelte wieder.
“Frage Drei. Jetzt geht es um tausend Euro. Sie wissen schon. Das ist eine Eins mit drei Nullen.“
Die junge Frau schwieg betreten. Es war ihr deutlich anzumerken, dass sie sich sichtlich unwohl fühlte.
“Wer war Präsident in den Vereinigten Staaten vor Bill Clinton? Ronald Reagan, Gerald Ford, Henry Miller, George Bush oder Jimmy Carter?“
“Henry Miller war Schriftsteller, soweit ich mich erinnere“, murmelte die junge Frau. “Ich schwanke zwischen Gerald Ford und Ronald Reagan.“
“Ah, sie schwankt“, frotzelte Gerber und wiegte seinen Oberkörper hin und her. “Eine schwankende Frau. Diese Show ist wirklich voller Überraschungen.“
“Ich glaube, jetzt übertreibt er wirklich ein bisschen“, knurrte Ellen und entkorkte den Cognac, den sie für besondere Anlässe im Barschrank aufhob. “Was hat ihm die Frau denn getan?“
“Er ist und bleibt ein ...“, begann Max, verschluckte jedoch die Bemerkung vorsichtshalber.
“Na, haben wir’s bald?“ Gerber verdrehte die Augen. “Denken Sie an Ihren Joker. Wollen Sie vielleicht eine Möglichkeit löschen lassen?“
“Ja, okay“, bekam er ergeben zur Antwort.
“Schön. Also eine Antwort löschen.“ Gerald Ford verschwand.
“Dann ist es Ronald Reagan“, frohlockte die Frau.
“Sind Sie sicher?“ erkundigte sich Gerber mit betont gelangweilter Stimme.
“Ganz sicher.“
“Dann sind Sie ganz sicher draußen“, sagte Gerber, als sich das Antwortfeld rot färbte. “Präsident vor Bill Clinton war natürlich George Bush, der Vater des heutigen Präsidenten George W. Bush.“
“Schlage vor, Sie lesen beim Friseur demnächst den Spiegel, und nicht immer nur die Klatschblätter“, fügte er wenig charmant hinzu und erhob sich.
Mit verkniffenem Gesicht verabschiedete sich die junge Frau und verließ mit gesenktem Kopf die Bühne.
“Tja, man kann nicht immer gewinnen“, lachte Gerber in die Kamera und deutete auf das Publikum. “Wen habe ich nun, der ‘Volles Risiko‘ spielen möchte? Ah, diesmal ein Mann. Vielleicht kommen wir ja diesmal bis zu den anspruchsvolleren Fragen.“
“Ich stopf dem gleich sein Mikro ins Maul!“ schimpfte Max.
“Komm, schalte den Kasten aus“, seufzte Ellen. “Der Typ ist ja wirklich sowas von ätzend. Das kann man ja nicht mit ansehen.“
“Bei dem sollte mal jemand auftauchen, der den so richtig alt ausschauen lässt“, knurrte Max. “Der dem so richtig die Show stiehlt.“
“Ach, so Leute gibt‘s bestimmt“, wiegelte Ellen ab.
“So Leute wie du“, fügte er mit unheilschwangerem Unterton in der Stimme hinzu.
“Ich glaube, du verstehst mich immer noch nicht richtig, mein Freund“, fuhr sie ihm über den Mund. “Ich warne dich! Einmal Hotline anrufen, und du kannst dich von Mountainbike und Internetanschluss verabschieden. Haben wir uns verstanden?“
“Yes, Sir!“ murmelte Max.
“Und keine Tricks“, fügte sie hinzu. “Wir bekommen von der Telekom einen Einzelverbindungsnachweis. Ich merke sofort, mit wem du von hier aus telefonierst.“
“Schon klar“, erwiderte Max.
Als er eine Stunde später ins Bett ging, fiel sein Blick auf den Computer. Max grinste breit und legte sich dann schlafen.
“Nun sagen Sie bloß, der hat Sie schon wieder hereingelegt“, lachte Sandra und nahm jetzt selbst einen Schluck Cognac. Sie trank aus Ellens Glas. Es störte sie nicht.
“Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht“, erwiderte die Frau in der blauen Anstaltskleidung. “Er behauptet zwar immer noch steif und fest, nichts mit der Sache zu tun zu haben. Aber von der Produktionsassistentin erfuhr ich hinterher, dass beim Sender seinerzeit Hunderte von E-Mails eingingen, in denen sich die Verfasser darüber beschwerten, dass das Niveau der Kandidaten schwer zu wünschen übrig ließ. Eine ganze Reihe dieser Nachrichten besaß den gleichen Wortlaut. Wie bei einer Postwurfsendung. In diesem Zusammenhang wurde erstmals mein Name ins Gespräch gebracht.“
Ellen machte einen kurze Pause. “Zwischenzeitlich hatte ich sogar Konrad im Verdacht, weil der sich zu dieser Zeit auf Geschäftsreise befand. Konrad meinte jedoch nur lapidar, er hätte anderes zu tun, als so einen Unfug anzustellen. Das glaube ich ihm sogar. Nur, wie es Max angestellt haben könnte, die Mails anonym zu versenden, ist mir immer noch ein Rätsel. Normalerweise wird bei jeder Botschaft die E-Mail-Adresse automatisch mitgeteilt. Das hätte man doch merken müssen.“
Sandra winkte ab. “Es gibt Programme, die das unterbinden. Ich weiß das von einem Mandanten, den ich in einem Strafverfahren verteidigen musste. Der Kerl machte sich einen Spaß daraus, Nachrichten mit unsittlichem Inhalt an allein stehende Frauen zu versenden. Die Polizei ist ihm nur durch einen Zufall auf die Schliche gekommen.“
“Kurz bevor der anschließende Presserummel losging“, fuhr Ellen fort, “rief jemand von der Produktionsfirma bei mir an und fragte, ob ich Interesse hätte, an der Show teilzunehmen. Ich war im ersten Augenblick völlig verblüfft. Für solche Sendungen galt normalerweise, dass man sich zunächst über eine Hotline qualifizierte. Das war allgemein so üblich.“
“Und wie haben Sie reagiert?“ fragte die junge Strafverteidigerin.
“Heute ist mir klar, dass die nur abklopfen wollten, ob ich vielleicht hinter der Affäre stecke. Jedenfalls habe ich dem Kerl klipp und klar geantwortet, dass ich in Bernd Gerbers frauenfeindlicher Show niemals aufträte. Dafür wäre ich mir zu schade. Kein Geld dieser Welt würde ausreichen, dass ich mich von ihm vor Millionen Menschen vorführen ließe. Und das war offensichtlich der größte Fehler.“
“Kann mir gut vorstellen, dass jemand wie Gerber so etwas nicht auf sich sitzen lassen wollte“, meinte Sandra nachdenklich.
“Fahren Sie bitte fort.“
10
Eines Morgens lag ein bundesweit bekanntes Boulevardblatt auf Ellens Büroschreibtisch. Die Schlagzeile auf der Titelseite sprang ihr förmlich ins Auge.
“Gerber unter Beschuss. Neue Millionenshow angeblich nicht anspruchsvoll genug.“
Neugierig nahm Ellen die Zeitung in die Hand und überflog den Artikel.
“Wie aus gut unterrichteten Kreisen zu hören ist, sollen nach der ersten Sendung der neuen Staffel bei Gerbers Produktionsgesellschaft Hunderte von Beschwerden eingegangen sein, wonach die Show ‘Volles Risiko‘ wohl doch nicht das hält, was sie verspricht. Die Kandidaten seien offenbar danach ausgewählt worden, dass sie die dritte Runde möglichst gar nicht erreichen, um allem Anschein nach das finanzielle Risiko für den Sender in Grenzen zu halten. Tatsächlich sanken die Einschaltquoten bereits während der dritten Sendung auf einen bis dahin noch nie erreichten Tiefstand. Aus eben jenen Kreisen ist ferner zu erfahren, dass man ein völlig neues Auswahlverfahren in Erwägung zieht. Besonders intensiv werde angeblich darüber nachgedacht, Kandidaten einzuladen, die sich bereits mit besonderem Allgemeinwissen einen Namen gemacht haben. Immer wieder taucht in diesem Zusammenhang der Name Ellen Graf auf, die vor einigen Wochen bei ‘Euroquiz‘ so fulminant bis zur vorletzten Frage vorgeprescht war.“
Sprachlos ließ Ellen die Zeitung sinken. Was fiel denen denn ein? Wie kamen die dazu, sie namentlich mit dieser Sendung in Verbindung zu bringen? Inzwischen verstand sie auch, wieso die Kollegen sie so merkwürdig anstarrten. Wütend griff sie zum Telefonhörer und wählte die Nummer des zuständigen Redakteurs.
“Jetzt hören Sie mir mal genau zu!“ fauchte sie und fletschte dabei unbewusst die Zähne. “Diesen Quatsch lassen wir in Zukunft mal schön bleiben! Ich verspüre wenig Lust, meinen Namen in diesem Zusammenhang in Ihrer Zeitung zu lesen.“
“Wieso?“ fragte ihr Gesprächspartner scheinheilig. “Was ist denn ehrenrührig daran, wenn man laut darüber nachdenkt, Sie zu Bernd Gerbers Quizsendung einzuladen?“
“Das will ich Ihnen gerne sagen“, schnauzte Ellen den Mann an. “Ich habe schon Probleme genug daheim. Es vergeht kaum ein Tag, an dem mich mein Pflegesohn nicht dazu drängt, an dieser dämlichen Rateshow teilzunehmen. Noch mal langsam zum Mitschreiben: Ich habe keine Lust dazu. Ich werde bei Bernd Gerber nicht, ich wiederhole: nicht als Kandidatin erscheinen. Nicht mal als Zuschauerin. Dieser blöde Kerl mit seinen frauenfeindlichen Witzchen ist mir so was von zuwider. Der soll mit seinen fünfunddreißig Jahren doch erst mal trocken hinter den Ohren werden.“
“Okay, Frau Graf“, brummte ihr Gesprächspartner. “Habe ich so notiert. Ich werde es an den Chefredakteur weitergeben.“
Wütend warf Ellen den Hörer auf die Gabel. Die hatten doch wohl wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank! Ihre Hand reckte sich erneut zum Hörer vor. Doch dann zuckte sie zurück. Nein, dachte sie bei sich. Beim Sender rufe ich besser nicht an. Das war eine Auseinandersetzung zwischen ihr, Bernd Gerber und ‘Aktuell‘. Es dauerte an diesem Morgen eine ganze Weile, ehe sie sich soweit im Griff hatte, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können.
“Hast du schon gelesen?“ rief ihr Max schon beim Betreten der Wohnung zu.
Ellen tat so, als wüsste sie von nichts. “Was soll ich gelesen haben?“
Aufreizend langsam hängte sie ihren Mantel an den Garderobenhaken und wollte sich schon an dem Jungen vorbeischieben.
“Den Zeitungsartikel“, ließ der Junge nicht locker und wedelte mit dem Boulevardblatt vor ihr herum.
“Ach, den Blödsinn.“ Es schien ihr in diesem Augenblick ratsamer zu sein, die Souveräne zu spielen. Was hätte es gebracht, würde sie sich auch noch vor dem Jungen entrüsten?
“Seit wann liest du denn solche Groschenblätter?“
“Hier!“ Er strahlte. “Die ganze Klasse spricht davon.“
“Wie schön für deine Klasse.“ Ellen legte ihre Beine hoch. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Wesentlich anstrengender als in einer Drogeriemarktfiliale. Wenn sie manches Mal über den Abrechnungen hockte, wünschte sie sich den Job an der Registrierkasse zurück. Ach, man sollte eigentlich überhaupt nicht mehr arbeiten müssen. Ellen erschrak. Was war bloß in sie gefahren?
“Du interessierst dich aber für gar nichts“, maulte der Junge und ließ den Zeitungsartikel sinken.
Auf dem Parkplatz quietschten Bremsen. Max sprang zum Fenster und riss die Gardinen zur Seite.
“Da steht ein großer Kombi!“ brüllte er.
“Was du nicht sagst“, entgegnete Ellen unbeeindruckt. “Davon soll es angeblich Tausende geben.“
“Er trägt das Label dieser Zeitung“, keuchte Max. “Du weißt schon: ‘Aktuell‘. Die wollen bestimmt zu uns.“
“He! Moment mal!“ begehrte Ellen auf und schoss gleichzeitig in die Höhe.
Doch Max war schon an ihr vorbei und öffnete die Haustür. Wenige Augenblicke später vernahm sie Stimmengewirr im Treppenhaus. Stimmen fremder Leute.
“Was wollen Sie?“ begrüßte Ellen die beiden Reporter noch auf dem Treppenabsatz.
“Haben Sie einen Augenblick Zeit für ein Interview?“ fragte der Wortführer der beiden Männer und zückte ein Diktiergerät. Sein Partner hielt eine Spiegelreflexkamera in die Höhe.
“Nein!“ fauchte Ellen und zog Max zurück in die Wohnung. “Und jetzt gehen Sie bitte. Ich möchte meine Ruhe haben.“
“Aber, Frau Graf“, widersprach der Zeitungsreporter und versperrte dabei mit seinem Fuß vorsorglich die Tür. Er schien auf solche Situationen gedrillt zu sein.
“Wir wollen uns mit Ihnen nur ganz kurz unterhalten.“
“Ich wüsste nicht, was es da zu bereden gäbe“, fuhr ihn Ellen an. “Wenn Sie wegen dieses dämlichen Zeitungsartikels gekommen sind, dann wenden Sie sich bitte an Ihren Redakteur. Dem habe ich heute Morgen schon ein paar passende Worte gesagt.“
“Hören Sie, Frau Graf“, ließ der Typ mit dem Diktiergerät nicht locker. Währenddessen schoss der andere ein paar Bilder von ihr. Ellen hob abwehrend die Hand vor das Gesicht. Max strampelte und wollte unbedingt wieder nach draußen. Doch Ellen hielt ihn mit eisernem Griff zurück.
“Sie sind seit Ihrer Teilnahme bei ‘Euroquiz‘ praktisch eine Person des öffentlichen Lebens. Man sieht Ihr Gesicht ja inzwischen schon auf Werbeplakaten Ihrer Firma. Unsere Leser haben geradezu ein Recht darauf ...“
“Ich sage Ihnen mal was!“ unterbrach Ellen seinen Wortschwall und trat dem Mann mit voller Wucht gegen das Schienbein.
“Ich habe auch Rechte. Ich habe das Recht, dass Sie mich gefälligst in Ruhe lassen! Merken Sie sich das!“
Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog der Reporter seinen Fuß zurück, und Ellen konnte endlich die Tür ins Schloss drücken.
“Was hast du denn bloß?“ wunderte sich Max.
“Und du machst fremden Leuten gefälligst nicht mehr ungefragt die Tür auf, verstanden!“ brüllte sie den Jungen an.
Max schaute sie entgeistert an. Mit hängenden Schultern schlich er anschließend in sein Zimmer zurück. Unwillkürlich biss sich Ellen auf die Unterlippe. So hatte sie den Jungen noch nie angefahren. Selbst damals nicht, als er mit sieben Jahren den Wagen eines Nachbarn mit Ölkreide beschmierte und dieser Blödmann von ihr eine Komplettlackierung bezahlt haben wollte. Du kannst doch einem fast vierzehnjährigen Jungen nicht verbieten, die Türe aufzumachen, schalt sie sich in Gedanken. Max ist doch kein Kleinkind mehr.
Tief durchatmend drückte sie die Klinke zu seiner Zimmertür hinunter. Max hockte auf dem Bett und starrte die gegenüberliegende Wand an. Ellen zog seinen Schreibtischstuhl herbei und setzte sich neben ihm.
“Tut mir leid“, murmelte sie. “Ich wollte dich nicht anschreien. Aber die machen mich noch wahnsinnig.“
Max fuhr herum.
“Wieso denn? Was haben dir die Leute denn getan? Die tun nur ihren Job. Du hast dich benommen wie eine Furie.“
Ellen überlegte eine Weile. Dann fasste sie sich ein Herz.
“Ich glaube“, versuchte sie ihm zu erklären, “ich bin schlicht überfordert, mein Junge. Hör mal, ich bin auch nur ein Mensch. Ich tauge einfach nicht zum Fernsehstar, auch wenn du es dir vielleicht noch so wünschst. Ich bin eine ganz normale Frau, die ein ganz normales Leben führen möchte.“
“Und die mehr weiß als alle anderen“, warf Max dazwischen.
Ellen lächelte milde. “Na ja. Aber das ist auch schon alles. Okay, ich war in Matthias Lutzes Show und habe vielleicht gar keine so schlechte Figur gemacht. Aber ich sage dir: Einmal und nicht wieder! So was ist nichts für mich. Himmel, Max, das musst du selbst mal erlebt haben. Die Leute, die normalerweise solche Quizsendungen bloß vom Wohnzimmersessel aus verfolgen, haben doch keine Ahnung. Schon wenn du von deinem Platz im Zuschauerraum aufgerufen wirst, klopft dir das Herz bis zum Hals. Dann gehst du auf die Bühne und spürst bei jedem Schritt die Blicke auf dir. Stechende Blicke, belustigte Blicke, abschätzende Blicke. Und es sind nicht nur die zweihundert Leute im Zuschauerraum. Nein, das Schlimmste ist der Gedanke an die Millionen vor den Bildschirmen, die dich auf Schritt und Tritt beobachten. Und dann hockst du auf diesem Drehsessel. Ein unbequemer Sessel mit kleiner Auflagefläche und viel zu kurzer Lehne. Du musst ständig darauf achten, dass du nicht herunterplumpst. Das ist alles Kalkül. Die wollen dich schon verunsichern, ehe du die erste Frage gestellt bekommst. Ich habe dir das nicht gesagt, aber als ich vor diesem Lutze hockte, bekam ich kaum noch einen vernünftigen Satz heraus.“
“Dafür warst du aber hinterher umso schlagfertiger“, brummte Max.
“Wahrscheinlich, weil ich vor lauter Aufregung gar nicht mehr richtig denken konnte.“
“Also, meine Freunde würden alles dafür geben“, fuhr er fort und schaute dabei wieder starr auf die Wand, “wenn deren Eltern so toll wären wie du. Die beneiden mich richtig.“
“Genau das ist das Problem, mein Junge“, meinte Ellen nachdenklich. “Es geht dir nur um dich. An mich und wie ich mich fühle, denkst du dabei überhaupt nicht. Also noch mal in aller Freundschaft: Hör auf, mich in eine dieser verdammten Quizsendungen drängen zu wollen. Lass mich mein Leben führen, so wie ich es für richtig halte. Wenn du so scharf auf eine Teilnahme bei Bernd Gerber bist, dann melde dich doch selber an. Aber lass mich um Himmels Willen aus dem Spiel.“
“Ich hätte doch gar keine Chance gegen diesen Blödmann!“ maulte er halblaut.
“Aber darum geht es doch gar nicht“, erwiderte Ellen und atmete dabei tief durch. Wie sollte sie das dem Jungen bloß verständlich machen?
“He, das ist eine Quizsendung und kein Gladiatorenkampf. Man tritt doch nicht gegen Bernd Gerber an, um ihn zu besiegen. Die Fragen bestimmt ein Autorenteam. Sie werden hinterher willkürlich ausgewählt. Gerber bekommt die Fragen und die Antworten auf den Bildschirm, du hast zu antworten, und das war es dann auch schon. Meine Güte, Max, dieses Quiz ist keine Kriegserklärung. Hierbei geht es um Wissen und sonst nichts. Wissen, das man haben muss. Entweder, man weiß die Antwort auf die Frage, oder man weiß sie nicht. Falls nicht, hat man Pech gehabt. Man verliert doch nichts in dieser Sendung.“
“Aber wenn das alles so einleuchtend ist“, brummte Max, “warum machst du denn dann nicht noch einmal mit? Du weißt doch alles. Und fünf Millionen Euro sind schließlich ein ganz schönes Sümmchen.“
Ellen erhob sich von dem Stuhl. “Ich glaube, du willst mich einfach nicht verstehen. Jetzt kann ich dir auch nicht mehr weiterhelfen. Eines steht jedoch fest: Ich nehme an der Sendung nicht teil. Niemals.“
“Sag niemals nie“, kam es wie aus der Pistole geschossen. “James Bond, 007.“
“Die Welt ist nie genug“, gab sie zurück. “Auch James Bond. Meine Welt allerdings reicht mir vollkommen aus. Selbst ohne fünf Millionen Euro.“
Hinterher lag sie stundenlang wach und starrte die dunkle Schlafzimmerdecke an. Ein Häuschen hoch oben auf Cap Ferrat. Absurd.
11
Ellen wunderte sich bereits beim Betreten des Bürogebäudes, dass sie der Pförtner unverhohlen anstarrte. Hatte sie etwas falsch gemacht? Konrad hatte ihr doch erlaubt, den Wagen auf seinen Parkplatz zu stellen, solange er auf Geschäftsreise war. Ellen zuckte die Schultern und betrat den Aufzug. Sie war nicht allein. Mit ihr fuhren noch drei weitere Kollegen mit nach oben. Niemand sprach ein Wort. Die drei Männer starrten nur betreten zu Boden.
“He!“ brummte Ellen. “Was ist los? Ist heute Weltschweigetag?“
“Haben Sie die ‘Aktuell‘ noch nicht gelesen?“
“Nein, wieso?“ wunderte sie sich.
“Na, da haben Sie aber was verpasst“, erwiderte das Trio beinahe unisono.
“Was ist denn nun schon wieder los?“ stöhnte Ellen, doch sie erhielt keine Antwort mehr. Der Aufzug hielt an und die drei Männer sahen zu, dass sie in ihre Büros kamen.
Als sie einen Blick auf den Schreibtisch warf, fand sie eine kurze handschriftliche Notiz vor. Sie wurde zu ihrem Abteilungsleiter gerufen. Verwundert legte sie ab und machte sich gleich auf in dessen Büro.
“Nett, dass Sie so rasch bei mir vorbeischauen“, meinte er und bot ihr seinen Besuchersessel an. “Sagen Sie mal, was war denn eigentlich bei Ihnen daheim los?“
“Bei mir daheim?“ fragte Ellen überrascht. “Wieso? Hat Max etwas angestellt?“
“Wer ist Max?“ wollte ihr Abteilungsleiter wissen.
“Mein Pflegesohn“, murmelte sie.
“Ach, der junge Mann auf dem Photo.“ Er lächelte. “Hätte ich mir auch denken können.“
“Auf welchem Photo?“ wollte Ellen wissen.
“Nun sagen Sie bloß, Sie haben die heutige Ausgabe der ‘Aktuell‘ noch nicht gelesen.“
“Nein.“ Ellen schüttelte den Kopf. “Ich habe eine vernünftige Tageszeitung abonniert. Solche Schmierenblätter lese ich nicht.“
“Interessant“, erwiderte ihr Chef, nun schon etwas weniger zugänglich. “Jedenfalls sollen Sie den zuständigen Redakteur auf einen Artikel angesprochen und dabei ziemlich zur Schnecke gemacht haben.“
“Stimmt. Die haben mich in Zusammenhang mit diesem blöden Fernsehquiz gebracht. Und gestern Abend standen plötzlich zwei wildfremde Kerle vor meiner Haustür und gaben sich als Reporter aus. Na, denen habe ich Feuer unter dem Hintern gemacht.“
“Sehen Sie, und genau das ist das Problem, um das es hier geht.“ Die anfängliche Freundlichkeit ihres Chefs schien wie weggeblasen.
“Die ‘Aktuell‘ ist das Blatt, in dem wir den Großteil der Anzeigen für unsere Drogeriemarktfilialen schalten. Wir von der Geschäftsleitung sehen es gar nicht so gerne, wenn unsere Mitarbeiter dermaßen schroff mit unseren Vertragspartnern umgehen.“
“Moment mal!“ begehrte Ellen auf. “Hier geht es um mein Privatleben. Das hat mit der Firma überhaupt nichts zu tun.“
“Doch“, widersprach ihr Gegenüber. “In gewisser Weise schon. Schließlich werben wir mit Ihrer Person für den Sonderangebotsverkauf. Nicht nur auf Plakaten, auch in Zeitungsanzeigen. Inzwischen wurde uns bereits nahe gelegt, die Werbebanner zu ändern. Haben Sie eine Vorstellung, was eine Neugestaltung der Druckfahnen kostet?“
“Heißt das etwa“, keuchte Ellen, “dass die ‘Aktuell‘ sich weigert, Sie mit meinem Konterfei werben zu lassen, nur weil ich mit irgend so einem Schreiberling über Kreuz liege?“
“So deutlich wurde das bisher noch nicht angesprochen“, räumte ihr Abteilungsleiter ein, “aber jede Zeitschrift hat das Recht selbst zu entscheiden, wen sie darin werben lässt und wen nicht. Die ‘Aktuell‘ ist für uns als Werbemedium sehr wichtig. Mit diesem Blatt erreichen wir die meisten Kunden. Seien Sie also in Zukunft bitte etwas diplomatischer.“
“Das ist ja Erpressung!“ stieß Ellen aus.
Das Gesicht ihres Gesprächspartners wurde eisig. “So wollen wir doch bitte nicht miteinander reden, Frau Graf. Sie sind noch neu hier, also sehe ich über diesen Ausrutscher erst einmal hinweg. Sollten Sie sich jedoch weiter so unkooperativ zeigen, müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, ob wir uns nach Ablauf der Probezeit nicht wieder voneinander trennen.“
Ellen schluckte und verließ wortlos das Büro ihres Abteilungsleiters. Diese Schmierfinken, knurrte sie in sich hinein. Kaum hatte man mal ein bisschen Glück, ein bisschen Geld und einen etwas besseren Job, kamen sofort irgendwelche Lumpen und machten alles zunichte. Sie dachte zurück an ihren Job in der Filiale am Martinsplatz. Als einfache Verkäuferin wäre ihr so was sicherlich nicht passiert. Eine einfache Arbeitskraft repräsentierte halt keine Firma. Selbst wenn man deren Konterfei abdruckte. Sie stutzte. Hatte sie hierzu eigentlich jemals ihre schriftliche Erlaubnis erteilt?
Zurück im Büro rief sie Konrad an. Sie wählte seine Handyverbindung.
“Kann ich kurz mal mit dir reden?“
Konrads Stimme klang gehetzt. “Du, das ist im Augenblick ganz schlecht. Ich stecke mitten in einer Besprechung. Kann ich dich später zurückrufen?“
“Ja, natürlich“, stotterte sie. Kurz darauf war das Gespräch schon wieder unterbrochen.
Ellen lehnte sich weit nach hinten zurück und schloss die Augen. Was, um alles in der Welt, war heute eigentlich los? Vor Wochen, als sie sich noch gar nicht richtig kannten, und sie den freien Tag für das ‘Euroquiz‘ brauchte, hatte er im Büro alles stehen und liegen lassen, nur um sich mit ihr zu unterhalten. Auf einmal würgte er ein Gespräch mit ihr einfach ab. So kannte sie ihn gar nicht. Sie verstand auch nicht, dass sich seine Geschäftsreise inzwischen dermaßen in die Länge zog. Anfangs hatte er noch von allenfalls einer Woche gesprochen, inzwischen wurden daraus fast zwei. Na ja, versuchte sie sich zu beruhigen, vielleicht hat er ja wirklich viel um die Ohren. Der Job eines Vorstandssekretärs galt nun wirklich als stressig.
Ellen überlegte, was sie nun tun sollte. In ihrem Korb stapelten sich zwar die Eingänge, aber sie war im Augenblick nicht fähig, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Den Zeitungsredakteur anrufen und sich über die unverschämten Reporter beklagen? Riskant. Oder sich gar für ihr unprofessionelles Handeln entschuldigen? Niemals! Nein, erst einmal musste sie wissen, was überhaupt in dem Artikel stand. Sie ging in ein Nachbarbüro und bat um die neueste Ausgabe der ‘Aktuell‘. Der Kollege grinste breit und schob ihr das Blatt hinüber. Wortlos nahm sie die Zeitung entgegen und begab sich wieder in ihr Büro. Die Titelseite war zwar diesmal für ein politisches Thema reserviert, dafür jedoch hatte man sie ausgerechnet in der Klatschkolumne und dort gleich mit Farbfoto abgelichtet. Sie musste rau schlucken. Kein Wunder, dass die Kollegen und ihr Abteilungsleiter so reserviert reagierten. Sie sah sich im Türrahmen stehen. Mit wutverzerrtem Gesicht und weit aufgerissenem Mund. Darüber stand die Überschrift:
“Sieht so ein Quizchampion aus?“
Ellen überflog den Artikel. Sie wurde als exaltierte, ziemlich überdrehte Person dargestellt, die offenbar hinter jedem kleinen Scherz in den Medien einen frauenfeindlichen Angriff vermutete. Natürlich stand groß und breit zu lesen, welche Meinung sie von Bernd Gerber habe und dass er gefälligst erst noch trocken hinter den Ohren werden solle. Und auch Ellens wortwörtlicher Hinweis, Artikel von ‘Aktuell‘ seien ihres Erachtens dämlich, wurde in Fettdruck wiedergegeben. Die Zeitung brachte schließlich in einer Schlussbemerkung zur Sprache, dass man sich über das Verhalten einer Mitarbeiterin in der Zentrale eines der größten Anzeigenkunden doch sehr verwundert zeige.
Diese Schmierfinken, knurrte sie vor sich hin. Ellen war außer sich vor Wut. Was hatte sie diesen Idioten getan, dass sie so auf ihr herumhackten? Warum ließ man sie nicht endlich in Ruhe? Ob etwa die Produktionsfirma von Bernd Gerber dahinter steckte, um sie weich zu klopfen? Wollte man sie soweit in die Enge treiben, dass ihr gar nichts anderes mehr übrig blieb, als sich dieser öffentlicher Hinrichtung vor laufender Kamera zu stellen? Ihr war vollkommen klar, dass man die Fragen so auswählen würde, dass nicht einmal ein Hochschulprofessor eine reelle Chance hätte, auch nur annähernd das dritte Level zu erreichen. Der Augenblick schien jedenfalls günstig gewählt. Ellen begriff, dass es Bernd Gerber nicht riskieren konnte, sich einen Korb zu holen. Und zu diesem Zweck sollte vor allem die ‘Aktuell‘ Vorarbeit leisten. Ellen erinnerte sich. Hin und wieder tauchten auch Spots für dieses Boulevardblatt in den Werbeeinschaltungen seiner Sendung auf. Vielleicht hatte man dem Zeitungsverlag einen Freundschaftspreis gemacht, im Gegenzug für eine Kampagne gegen sie. Bei ihrem Chef hatte diese Strategie offenbar erste Wirkung gezeigt. Dass er ihre Probezeit unter Umständen nicht verlängern würde, war offene Drohung genug.
Diese Lumpen! Denen sollte man es wirklich mal richtig zeigen. Sie steigerte sich dermaßen in ihre Wut hinein, dass sie unwillkürlich begann, heikle Was-wäre-wenn-Spielchen zu konstruieren. Doch mit einem Mal wurde ihr genauso bewusst, dass sie sich auf diese Weise langsam aber sicher in eine gefährliche Situation hineinmanövrierte. Lehnte sie eine Einladung zu Gerbers Show ab, galt sie als Drückeberger, ging sie in die Sendung und patzte, war sie blamiert. Erst recht, nachdem sie sich so despektierlich über Bernd Gerber geäußert hatte. Am besten schien ihr, jetzt einen längeren Urlaub anzutreten, bis sich die gröbsten Wogen geglättet hatten. Doch das kam wohl kaum in Frage. So schnell hintereinander würde man ihr niemals frei geben. Bei der Genehmigung der Urlaubs für die Reise nach Südfrankreich noch während ihrer Probezeit hatte Konrad seinerzeit bestimmt seine Finger im Spiel gehabt.
Ellen schleppte sich durch den Tag, schaffte nur den Bruchteil der Arbeit, weil ihre Gedanken ständig abschweiften und kam nach einem hastigen Einkauf im Supermarkt gegen kurz vor sechs Uhr abends nach Hause. Müde und erschöpft stellte sie die Tragetaschen auf den Küchentisch und ließ sich auf einen der Stühle sinken. Dann streifte sie die Schuhe ab und schob sie weit von sich. Früher im Laden hatten ihr abends die Füße nie wehgetan. Aber da trug sie auch bequeme Sportslipper und keine hochhackigen Pumps. Jede Medaille besaß halt ihre zwei Seiten.
Die Haustüre flog auf, und sie vernahm laute Stimmen. Oh, nein, stöhnte Ellen. Max hatte seine neuen Freunde mitgebracht. Ehe sie sich versah, starrten ihr vier Augenpaare entgegen. Eines der Augenpaare gehörte einem Mädchen. Sie mochte etwa so alt sein wie Max und sah richtig süß aus. Ellen seufzte und richtete sich auf. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie immer noch ihren Mantel trug.
“Na, Ellen“, frotzelte Max. “Kleines Nickerchen gemacht?“
“Werd nicht frech, Cowboy“, brummte sie und suchte unter dem Tisch nach ihren Schuhen. “Wer ist denn die junge Dame?“
“Das ist Caroline“, antwortete Max nicht ohne Stolz. Demonstrativ legte er dem Mädchen den Arm um die Schulter. Sie nahm es widerspruchslos hin. Wie sich die Zeiten doch änderten.
“N‘Abend, Frau Graf“, murmelte die Kleine.
“Hallo, Caroline“, entgegnete Ellen und nickte auch den beiden anderen Jungen zu. “Was liegt an?“
“Na, was wohl?“ Max deutete auf das Wohnzimmer.
“Oh, nein!“ stöhnte Ellen. “Nicht schon wieder Quizsendungen.“
“Was hast du denn auf einmal?“ beschwerte sich der Junge.
“Ach, macht doch was ihr wollt.“ Seine Mutter begann, immer noch im Mantel, die Einkäufe in die Regale zu räumen.
Schulterzuckend trollten sich Max, Caroline und die beiden anderen Buben in Richtung Wohnzimmer. Wenige Augenblicke später dröhnte bereits die Stimme des Moderators aus dem Lautsprecher.
“Und bei der Sendung hat deine Mutter hundertfünfzigtausend Euro gewonnen?“ hörte sie eine helle Stimme. Caroline.
“Na, klar“, rief eine andere. Max.
“Da hättest du dabei sein müssen. Die hat den Lutze dermaßen blöd aussehen lassen, dass es die reine Freude war. Ich saß damals selbst im Publikum. Dem Lutze standen regelrecht die Schweißperlen auf der Stirn. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ein Quizmaster froh war, als seine eigene Sendung endlich vorbei war.“
Ellen überlegte, ob sie ins Wohnzimmer gehen sollte, um den Jungen zurechtzuweisen. Das ging nicht an, dass er vor seinen Klassenkameraden mit ihr angab. Was fiel dem Bengel eigentlich ein? Was fiel der ganzen verdammten Welt eigentlich ein? Ihre Augen füllten sich mit salziger Flüssigkeit. Auf einmal fühlte sie sich viel zu müde und erschöpft, um ihn zur Rede zu stellen. Also hockte sie sich wieder auf einen der Küchenstühle und verbarg das Gesicht in den Handflächen.
Das Stimmengewirr im Wohnzimmer wurde lauter. Plötzlich stürmte Max in die Küche und stieß sie an.
“He, Ellen!“ rief er. “Wie heißt die Hauptstadt von Kambodscha?“
Ellen blickte hoch und starrte an ihm vorbei, ohne zu antworten. Hätte sie in diesem Moment reden wollen, sie hätte keinen Ton heraus gebracht.
“Was ist los?“ fragte der Junge erschrocken. So niedergeschlagen hatte er seine Pflegemutter noch nie erlebt.
Ellen hob nur die Schultern und senkte dann den Kopf. Unaufhörlich fielen Tränen auf die Tischdecke.
“Ellen!“ jammerte der Dreizehnjährige. “Ellen, was ist los? Sag sofort, was los ist. Hab ich was verkehrt gemacht?“
Sie hob den Kopf, wischte sich rasch die Tränen aus dem Gesicht und schüttelte nur stumm den Kopf.
“Aber du weinst ja“, ließ er nicht locker. “Was hast du? Wer hat dir etwas getan?“
“Niemand“, stammelte sie heiser. “Ich bin selbst Schuld.“
“Woran bist du Schuld?“ wollte der Junge wissen. Max strich seiner Pflegemutter zärtlich durch die Haare.
Ellen beugte sich vor, barg ihren Kopf an Max‘ Brust und begann jämmerlich zu heulen.
“Wo bleibst du denn, ...?“ Caroline lugte um die Ecke. Sie zuckte zurück, als sie erkannte, in welcher Verfassung sich die beiden befanden.
“Schaut ruhig weiter“, entgegnete Max und deutete in Richtung Wohnzimmer. “Ich komme gleich.“
“Geh nur“, murmelte Ellen und richtete sich von dem Stuhl auf. Sie drehte sich zum Fenster um, suchte ein Papiertaschentuch und schnäuzte heftig.
“Ich komme schon klar.“
“Sicher?“ fragte Max zweifelnd.
“Sicher“, erwiderte Ellen und versuchte ein Lächeln. Es misslang gründlich.
Ellen bereitete gerade ein paar Snacks für ihre jungen Gäste vor, als Max ganz aufgeregt ins Zimmer stürmte.
“Komm sofort rüber!“ keuchte er atemlos.
“Wieso?“ wollte sie wissen und legte, ganz in Gedanken versunken, bereits die doppelte Lage Schinken auf die Brötchen.
“Telefon!“
“Habe ich gar nicht gehört“, wunderte sich Ellen.
Sie folgte ihm ins Wohnzimmer. Unbeabsichtigt fiel ihr Blick auf den eingeschalteten Bildschirm. Bernd Gerber hockte auf seinem Moderatorenstuhl und blickte erwartungsvoll in die Kamera. Ellen wurde beinahe übel bei seinem Anblick.
“Wer ist denn dran?“ fragte sie und nahm dem Jungen den Hörer aus der Hand.
“Ellen Graf“, murmelte sie.
Als sich der Anrufer am anderen Ende der Leitung meldete, begann sich schlagartig das Wohnzimmer um sie zu drehen.
“Guten Abend, Frau Graf. Hier spricht Bernd Gerber von ‘Volles Risiko‘.“
Ellen war nicht fähig zu antworten.Gerber legte eine kurze Pause ein. Dabei verzog sich sein Gesicht zu einem ironischen Schmunzeln.
“Hallo, Frau Graf“, wiederholte er. “Sind Sie noch dran? Oder hat es Ihnen die Sprache verschlagen?“
Vier Augenpaare und der süffisante Blick des Quizmasters richteten sich auf sie.
“Nein, Herr Gerber“, stammelte sie. Verdammt! Was ging hier vor?
“Schön, Frau Graf. Ich weiß nicht, ob Sie meine Sendung bisher verfolgt haben, aber wir sitzen hier gerade bei der Vierzigtausend-Euro-Frage im zweiten Level. Herr Krüger möchte gerne seinen Publikumsjoker nutzen, aber weil heute die hundertste Sendung ist, haben wir uns etwas Besonderes einfallen lassen. Wie wäre es, wenn Sie ihm ausnahmsweise helfen würden? Als Belohnung winkt Ihnen die Hälfte seines im zweiten Level erspielten Gewinns. Einverstanden?“
“Tja, ich weiß nicht ...“, stotterte Ellen und versuchte verzweifelt einen klaren Gedanken zu fassen. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit, ausgerechnet bei Gerber als Telefonkandidatin im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen.
“Frau Graf ist die Dame, die letztens mit ihrem Allgemeinwissen bei einem Konkurrenzsender für einiges Aufsehen gesorgt hat“, erklärte Gerber in die Kamera gerichtet. “Mal sehen, ob sie es auch mit anspruchsvolleren Fragen aufnehmen kann.
Die Fragen bei ‘Euroquiz‘ waren anspruchsvoll genug, du Idiot, schoss es ihr durch den Kopf. Was fällt dir eigentlich ein? Laut sagte sie:
“Dann mal los. Wie war doch gleich die Frage? Ich stand leider bis eben in der Küche.“
“Oh, wie bedauerlich.“ Gerber verzog sein Gesicht. “Langweilt Sie meine Sendung so sehr?“
“Herr Gerber, ich habe nicht viel Zeit.“ Ellen versuchte trotzig zu klingen. Trotzdem schlug ihr in diesem Augenblick das Herz bis zum Halse. Max klatschte vor Begeisterung in die Hände.
“Schießen Sie schon los.“
“Na, schön, Frau Graf“, entgegnete Gerber indigniert. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich zurückzuhalten. Vermutlich hätte er sich mit ihr vor laufender Kamera am liebsten noch ein bisschen gekabbelt.
“Hier ist Ihre Frage: In welcher pakistanischen Stadt befindet sich der Sitz des katholischen Erzbischofs? Sie haben genau zehn Sekunden Zeit.“
Eine Digitaluhr wurde eingeblendet. Die Ziffern zählten rückwärts. Zehn, neun ... Mit einem Mal konnte sie wieder klar denken. Das war ihre Chance! Wenn sie hier und jetzt patzte, dann würde man sie auf ewig in Ruhe lassen. Und auch Max würde sich in Zukunft vor seinen Freunden zurück halten. Schon alleine deshalb, weil er anschließend alle Hände voll zu tun hatte, seinen Freunden zu erklären, dass seine Mutter halt doch nicht so allwissend war, wie er ihnen ständig Glauben machen wollte.
“Ellen!“ heulte Max auf. “Nun sag schon!“
“Und wenn ich es nicht weiß?“ sagte sie und ließ den Telefonhörer demonstrativ sinken. Keinen Ton, ermahnte sie sich innerlich. Keinen Mucks. Noch sechs Sekunden, und der Spuk ist ein für allemal vorbei.
Der Junge wurde mit einem Schlag kalkweiß. Gerber hatte das Gespräch zwischen ihr und Max mit bekommen. Sein Grinsen wurde noch einen Tick hämischer.
Sechs, fünf, vier ...
“Rasch, Frau Graf!“ warnte der Moderator. “Ihre Zeit läuft ab.“
Das sehe ich selbst, du Idiot, dachte sie bei sich.
Drei, zwei ...
Wenn bloß nicht dieses verdammte hämische Grinsen wäre!
“Karatschi“, sagte Ellen mit ruhiger Stimme. Du Idiot, brüllte eine immaginäre Stimme in ihr. Zu spät, höhnte eine andere.
Im nächsten Augenblick sprang die Digitaluhr auf Null und ein Hupsignal ertönte. Das Publikum applaudierte. Max wälzte sich auf dem Boden herum. Seiner neuen Freundin schien es egal zu sein, dass er sie dabei mitriss. Ellen hatte eigentlich damit gerechnet, dass Gerber anschließend sein Lächeln im Halse stecken blieb, doch er war halt ein Vollprofi, wie Ellen zähneknirschend eingestehen musste. The show must go on! Vor laufender Kamera gab sich der erfolgreichste deutsche Quizmaster jedenfalls keine Blöße. Und erst recht nicht vor einer ehemaligen Drogeriemarktverkäuferin.
“Glückwunsch, Frau Graf!“ lachte er in die Kamera. “Sie erhalten für diese richtige Antwort die Hälfte des Gewinns, die Herr Krüger bis zum Ende dieser Spielrunde gewinnt.“
“Danke, ich verzichte“, knurrte Ellen.
Ein Raunen ging durch das Publikum. Oh, prima, schalt sie sich. Morgen kannst du dir dann wirklich einen neuen Job suchen.
“Ich verstehe nicht“, erwiderte Gerber und legte die Stirn in Falten.
“Spreche ich so undeutlich?“ konterte Ellen. “Ich sagte: Ich verzichte! Von mir aus kann Herr Krüger den vollen Gewinn aus der Runde mit nach Hause nehmen.“
“Oh, zu gnädig“, erwiderte Gerber. Das Lächeln in seinem Gesicht fror mit einem Schlag ein.
“Aber wo ich Sie gerade in der Leitung habe, Frau Graf“, fuhr er anschließend fort. “Darf ich Sie unter Umständen zu meiner Sendung einladen?“
“Als Zuschauerin?“ schnaubte Ellen.
“Natürlich als Kandidatin“, entgegnete der Quizmaster mit einem Kopfschütteln.
Was jetzt, brüllte eine Stimme in ihrem Innersten. Was jetzt, du Idiot! Jetzt hat er dich genau da, wo er dich haben wollte. Komm, leg auf! Leg um Himmels Willen auf!
“Okay, am Samstag“, meinte eine Stimme. Sie hatte sie schon oft gehört. Es war ihre eigene.
“Wochentags muss ich mich leider um wichtigere Dinge kümmern. Ich habe nämlich einen Sohn und einen Job.“
“Also, abgemacht.“ Gerbers Mundwinkel verzogen sich wieder zu einem breiten Grinsen. “Samstagabend. Ich freue mich darauf.“
Ellen legte grußlos auf. Als Max sie endlich wieder in die Küche gehen ließ, merkte sie, wie ihr der Schweiß in Bächen über Brust und Rücken lief.
Noch an demselben Abend klingelte gegen neun Uhr das Telefon. Es war Konrad.
“Hallo, Liebling“, begrüßte er sie. “Tut mir leid, dass ich erst jetzt anrufe. Die Sitzung war grauenvoll. Was wolltest du mir heute morgen sagen?“
“Ach, nichts“, murmelte Ellen.
“He, was ist los mit dir?“
“Nichts ist los.“
“Bist du erkältet?“ fragte er. “Du klingst so heiser.“
“Nein, alles okay. Wann kommst du zurück?“
“Wenn ich Glück habe morgen. Vermutlich aber erst übermorgen. Hier stehen noch ein paar wichtige Termine an.“
Die nächsten Sekunden verstrichen, ohne dass einer von ihnen etwas sagte. Ein geradezu lauerndes Schweigen schien in der Luft zu liegen.
“Konrad“, meldete sie sich schließlich wieder zu Wort.
“Ja, Ellen?“
“Konrad, ich habe ein Problem“, brach es schließlich aus ihr heraus. “Bernd Gerber hat mich in seine Sendung eingeladen.“
“Na, prima“, lachte er. “Was hast du ihm geantwortet?“
“Dass ich kommen werde.“
“Oh, das ist fein. Das wird den Chef freuen.“
“Wieso den Chef?“ fragte Ellen verblüfft.
Es blieb einen kurzen Augenblick still am Telefon. Offenbar war ihm die letzte Bemerkung versehentlich herausgerutscht.
“Nun“, meinte er schließlich. “Die Personalabteilung ist nicht sehr glücklich über dein Verhalten gegenüber der Presse. Schließlich sitzt du jetzt in der Zentrale und repräsentierst damit quasi auch die Firma. Man deutete mir gegenüber an, deine Probezeit eventuell nicht zu verlängern. Du weißt, was das bedeutet, nicht wahr? Na ja, wenn du bei Gerber erfolgreich bist, dann schlägt sich das natürlich irgendwie auch auf die Firma nieder. Mit dir als Zugpferd können wir uns dann nämlich die Werbeplattformen aussuchen.“
Ellen wollte ihren Ohren nicht trauen.
“Was sagst du da?“ keuchte sie. “Die wollen mich nur weiterbeschäftigen, wenn ich bei Gerber als Kandidatin antrete? Ja, sag mal, haben die sie nicht mehr alle? Wer bin ich denn?“
“Komm, lass uns morgen oder übermorgen darüber reden“, unterbrach er sie. “Wenn du dich wieder beruhigt hast. Dann können wir ...“
“Du wusstest also von diesem Damoklesschwert, das ständig über mir hing, und hast mir nichts davon gesagt?“ fiel sie ihm ins Wort.
“Na ja ...“ stotterte er.
“Hör zu, Konrad“, entgegnete sie, und ihre Stimme klang mit einem Mal hart wie Granit. “Ich muss das erst mal verdauen. Wir telefonieren, okay?“
Ein weiteres Mal an diesem Abend unterbrach sie ein Gespräch grußlos. Den Rest der Nacht lag sie hellwach in ihrem Bett und starrte die Decke an. Sic transit gloria mundi. So vergeht die Herrlichkeit der Welt.
“Haben Sie Konrad Gutfried danach noch einmal wieder gesehen?“ wollte Sandra wissen. Sie spürte, wie ihr Mund trocken geworden war. Inzwischen trank sie schon mehr Cognac als ihre Mandantin.
“Natürlich“, antwortete die Frau in der blauen Anstaltskleidung. “Schließlich arbeitete er im gleichen Haus. Allerdings war unsere Beziehung nach diesem Gespräch vorbei. Ich muss mich auf meinen Partner verlassen können. Ich fühlte mich hintergangen.“
“Konrad Gutfried konnte doch nichts dafür, dass man Ihre Probezeit unter Umständen nicht verlängern wollte“, gab die junge Rechtsanwältin zu bedenken.
“Er hat es aber gewusst“, erwiderte Ellen nachdenklich. “Und mir nichts davon gesagt.“
“Wie reagierte Max?“ fragte Sandra.
“Der hat das anfangs natürlich überhaupt nicht verstanden. Er war ziemlich sauer auf mich. Vermutlich hatte er sich mehr mit dem Gedanken angefreundet, demnächst vielleicht einen Vater zu besitzen als ich einen Partner. Doch kurze Zeit später legte sich seine Wut. Als er nämlich Konrad zusammen mit einer jungen Frau beim Bummeln in der Innenstadt entdeckte.“
“Glauben Sie, er hat Sie damals schon betrogen?“ wollte Sandra wissen.
Ellen zuckte die Schultern. “Was weiß ich? Es hat mich aber auch nicht mehr sonderlich interessiert.“
“Kann es sein, dass Sie seitdem eine undefinierbare Wut gegenüber Männern verspüren?“ hakte ihre Strafverteidigerin nach.
“Wegen Konrad?“ lachte Ellen. “Nein. Da machen Sie sich mal keine Gedanken.“
“Ich mache mir aber Gedanken“, fuhr ihr die junge Strafverteidigerin ins Wort. “Himmel, es geht hier um Ihren Kopf. Vielleicht könnte ich ein psychologisches Gutachten ...“
“Hören wir mit den Spielchen auf“, schnitt ihr Ellen das Wort ab. “Ich bin nicht verrückt, wenn Sie das meinen. Ich bin völlig klar im Kopf.“
“Ja, aber wieso haben Sie dann einen Menschen getötet?“
“Weil der Kerl mein Leben ruinieren wollte.“
“Aber solche Probleme kann man doch auch anders lösen.“
Ellen erhob sich und ging an das vergitterte Fenster, um einen Blick in den Gefängnishof zu werfen. Deine neue Heimat, seufzte sie leise vor sich hin. Unten kehrte diese Margret den vom letzten Hofgang liegen gebliebenen Müll zusammen. Ihr lief ein Schauer über den Rücken.
“Dieses Problem konnte man nicht anders lösen“, sagte sie laut. “Jedenfalls fiel mir im entscheidenden Moment keine bessere Möglichkeit ein.“
“Nur, weil er glaubte, Sie wegen irgendwas in der Hand zu haben?“
Ellen nickte stumm. Ja, der Kerl hatte sie in der Hand gehabt. Und was er preisgeben wollte, hätte niemals ans Licht der Öffentlichkeit gelangen dürfen. Niemals. Das war sogar einen Mord wert.
“Sagen Sie mir jetzt endlich, worum es wirklich bei dieser Erpressung ging?“ fragte Sandra. Ihre Stimme klang beinahe schon flehentlich.
“Nein“, antworte Ellen. “Machen wir Schluss für heute.“
Der Fernseher lief mit abgeschaltetem Ton. Sandra hockte im Schneidersitz auf der bequemen Ledercouch, ihr handliches Notebook auf dem Schoß. Das Diktiergerät lag auf der neuesten Ausgabe eines dicken Strafrechtkommentars. Von Zeit zu Zeit betätigte sie die Wiedergabetaste und übertrug die auf Band aufgezeichneten Gesprächsfetzen in den tragbaren Computer. Je mehr sich die Seiten auf dem Bildschirm füllten, desto weniger konnte sie sich ein Bild von dem Fall machen, den sie vor Gericht zu vertreten hatte.
Als sie am späten Nachmittag nochmals in der Kanzlei vorbeischaute, nahm Dr. Lichtenfeld sie gleich beiseite und zog sie in sein Büro.
“Nun, wie kommen Sie voran?“ wollte er wissen.
“Wenn ich ehrlich sein soll, nicht so gut“, erwiderte Sandra. “Frau Graf ist zwar kooperativ. Inzwischen erzählt sie mir so detailliert wie möglich die gesamte Vorgeschichte. Aber wenn ich auf die Hintergründe der Tat zu sprechen komme, dann blockt sie einfach ab. Ich werde den Verdacht nicht los, dass Ellen Graf eine Leiche im Keller liegen hat. Und zwar eine, für die es sich lohnte, einen wirklichen Mord zu begehen.“
“War es denn Mord?“ fragte der Alte mit lauerndem Unterton in der Stimme.
“Nach den polizeilichen Vernehmungsprotokollen deutet alles darauf hin“, antwortete die junge Frau mit nachdenklichem Gesicht. “Sie selbst lässt sich lediglich dahingehend ein, dem Mann ein Messer in die Brust gerammt zu haben. Nicht mehr und nicht weniger. Ein psychologisches Gutachten lehnt sie kategorisch ab. Tja, wenn ich nicht irgendetwas Konkretes herausfinde, dann weiß ich wirklich nicht, wie ich auf Totschlag plädieren soll.“
“Das wäre ganz schlecht, meine Liebe“, widersprach ihr Chef. “Frau Graf gilt als Person des öffentlichen Interesses. Denken Sie nur an das Medienspektakel, wenn es zum Prozess kommt. Man spricht jetzt schon davon, dass wir uns da einen aussichtslosen Fall haben aufbürden lassen. Aber Sie kennen in dieser Hinsicht ja meine Einstellung. Jetzt erst recht! Also, junge Frau. Lassen Sie nicht locker! Totschlag im Affekt oder schwere Körperverletzung mit Todesfolge muss wenigstens herauszuholen sein, obgleich mir Freispruch mangels Beweisen logischerweise lieber wäre. Ich habe schon allein im Interesse der Kanzlei keine Lust, dass Frau Graf hinterher fünfundzwanzig Jahre in irgendeinem Gefängnis versauert.“
“Warum übernehmen Sie denn nicht Frau Grafs Verteidigung?“ brach es aus ihr heraus. Im nächsten Moment biss sie sich auf die Lippen. Das war unprofessionell.
Erstaunlicherweise ging Dr. Lichtenfeld auf diese Bemerkung gar nicht ein. Im Gegenteil. Er wirkte eher in sich gekehrt.
“Mag sein, dass ich bei den Verhandlungen anwesend bin. Aber nur als Zuschauer. Ich möchte aus bestimmten Gründen nicht in Erscheinung treten. Sollte ich unterstützend die Initiative ergreifen, dann werde ich das höchstens kurz vor den Schlussplädoyers tun.“
Er legte eine kurze Gedankenpause ein.
“Deshalb bitte ich Sie, mich vorerst völlig außen vor zu lassen.“
Sandra nickte. Sie kannte den Alten. Mit Sicherheit hatte der noch irgendein Ass im Ärmel. Da der Fall ihres Erachtens sowieso aussichtslos war, konnte sie im entscheidenden Augenblick Unterstützung gut gebrauchen. Schließlich kam es hinterher nur darauf an, wer die Verteidigung maßgeblich geführt hatte. Und das war sie. Der Seniorpartner der Kanzlei stand nicht im Ruf, jüngeren Mitarbeitern die Schau zu stehlen. Er agierte lieber im Verborgenen.
So hockte Sandra immer noch auf der Couch und brachte fein säuberlich das Wortprotokoll in eine halbwegs lesbare Form. Lichtenfeld hatte sich ausbedungen, den bisher verfassten Text noch an diesem Abend per E-Mail zugesandt zu bekommen. Was ihn zu dieser plötzliche Eile antrieb, war ihr schleierhaft. Andererseits rückte der Tag des ersten Verhandlungstermins unaufhörlich näher.
Der Schlüssel im Türschloss wurde umgedreht. Sandra blickte nur kurz hoch, als Karin den Raum betrat. Die Vierzigjährige warf einen abschätzenden Blick in ihre Richtung und verzog das Gesicht.
“Du arbeitest noch?“
“Siehst du doch.“
“Das sind doch alles Ausbeuter bei dir in der Kanzlei“, brummte Karin und schlüpfte aus ihrer ledernen Motorradjacke.
Karin Sommer betrieb einen Buchladen für Frauenliteratur mitten in der Innenstadt. Der Laden lief zwar nicht so, wie sie sich das anfangs vorgestellt hatte, aber für etwas mehr Geld im Monat einen Bürojob anzunehmen, das wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Karin war Nonkonformistin. Geradezu militant antiautoritär. Ihre Bekannten schüttelten immer nur den Kopf bei der Vorstellung, wie ausgerechnet zwei so unterschiedliche Charaktere miteinander befreundet sein konnten. Zudem maß sie einen guten Kopf mehr als Sandra. Mit ihren breiten Schultern, dem etwas kantigen Gesicht und den raspelkurz geschnittenen, hellblond gefärbten Haaren konnte man sie von weitem durchaus mit einem Mann verwechseln. Erst recht, wenn sie mit ihrem Motorrad unterwegs war. Sandra wirkte gegen sie geradezu mädchenhaft. Auch ihre Umgangsformen und ihre gewählte Ausdrucksweise standen in krassem Gegensatz zu der der Älteren. Gegensätze ziehen sich halt an, pflegte Karin mit einem Blick auf Sandra stets zu spötteln.
“Komm, nicht wieder dieses Thema.“ Sandra vertiefte sich erneut in den Text.
“Diesem Lichtenfeld sollte man mal gehörig den Buckel versohlen“, ließ Karin nicht locker. “Aber mit dir kann man es ja machen. Wehr dich doch endlich mal.“
“Es ist mein Job“, erwiderte Sandra, ohne von ihrem Bildschirm hochzublicken.
“Schöner Job“, schnaubte die Ältere und verschwand anschließend im Bad. Kurz darauf hörte Sandra Wasser aus der Dusche laufen.
Nach einer Viertelstunde war sie soweit. Das Wortprotokoll konnte abgesandt werden. Sie stöpselte das Verbindungskabel in ihr Notebook, loggte sich bei ihrem Internetprovider ein und schickte den Bericht als elektronische Post zum Privatanschluss ihres Chefs. Nachdenklich klappte sie den tragbaren Computer zu und legte ihn beiseite. Unbeabsichtigt fiel ihr Blick auf den Bildschirm. Gerbers Sendung hatte gerade begonnen. Sandra hatte sie bisher erst einmal gesehen. Quasi als Anschauungsmaterial für den aktuellen Fall. Sie machte sich nichts aus Rateshows, erst recht nicht, wenn ein Mann die Moderation führte. Sandra stellte mit der Fernbedienung den Ton lauter.
“Was schaust du dir denn da für einen Quatsch an?“ brummte von hinten eine Stimme. Karin stand im Türrahmen und rubbelte sich mit einem Handtuch die feuchten Haare trocken.
“Bei dem Fall, den ich im Augenblick bearbeite, spielt genau diese Fernsehsendung offenbar eine maßgebliche Rolle“, antwortete Sandra, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.
“Geht es immer noch um die Frau, die diesen Kerl auf offener Straße umgebracht haben soll?“ erkundigte sich Karin.
“Sie hat“, erwiderte die jüngere der beiden Frauen. “Soviel steht fest, sofern die Kriminalpolizei nicht völlig daneben liegt. Nur wieso, das bekomme ich einfach nicht heraus.“
“Dann lass es doch bleiben“, brummte die Ältere. “Ist doch sowieso egal. Tot ist tot. Und was macht das schon aus. Einer weniger.“
“Du sollst so nicht reden“, beschwerte sich Sandra. “Und nun lass mich in Ruhe zusehen.“
“Na, schön. Dann kümmere ich mich um das Abendessen. Man verhungert ja in diesem Haushalt.“
Sandra hörte gar nicht mehr hin, sondern fuhr fort, Bernd Gerbers Sendung zu verfolgen. Von Minute zu Minute konnte sie sich besser in ihre Mandantin hineinversetzen. Der Kerl war wirklich ein Ekelpaket. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, in dessen Kandidatensessel Platz zu nehmen.
“Herrje!“ brummte Karin, als sie mit zwei Tellern Spaghetti im Wohnzimmer erschien. “Immer noch dieser Idiot! Was sagtest du? Deine Mandantin war auch mal in dessen Show? Wieso hat sie den denn nicht um die Ecke gebracht? Das wäre wenigstens ein Segen für die Menschheit gewesen.“
“Was weiß denn ich?“ murmelte Sandra und versuchte sich trotz der Spaghetti, die ihr immer wieder von der Gabel rutschten, auf die Sendung zu konzentrieren. Karin sollte endlich mal einen Blick auf die Küchenuhr werfen und die Nudeln nicht immer nur nach Gefühl zubereiten. Al dente war ja schön und gut, aber nicht so bissfest, dass man die einzelnen Spaghetti noch senkrecht aufrichten konnte.
“Passt dir was nicht?“ brummte Karin mit vollem Mund.
“Wie kommst du denn darauf?“
“Weil du im Essen herumstocherst.“
Sandra schob den Teller von sich. “Tut mir leid. Ich habe heute abend einfach keinen Appetit.“
Karin erhob sich, legte ihr die Hände auf die Schultern und begann ihren Nacken zu massieren.
“He“, meinte sie plötzlich mit ungewohnt sanfter Stimme. “Was hast du denn?“
Die Jüngere überlegte kurz, was sie antworten sollte.
“Ach, dieser Fall lässt mir einfach keine Ruhe. Aber du weißt ja, dass ich darüber nicht reden darf.“
“Verstehe“, meinte die ältere der beiden Frauen. “Aber schalte um Himmels Willen diese idiotische Sendung endlich ab. Der Kerl ist ja nicht auszuhalten. Und noch was: Sobald der Fall abgeschlossen ist, besorge mir doch mal die Protokolle. Ich kenne eine Autorin, die schreibt Kriminalromane. Vielleicht wäre das was für sie.“
Sandra blieb noch lange in dem dunklen Wohnzimmer hocken. Sie hatte wenigstens jemanden, der ihr zuhören wollte. Langsam begann Sandra ihre Mandantin zu bedauern. Ellen hatte wohl niemanden in ihrem Leben gehabt, mit dem sie sich einmal richtig hatte austauschen können. Vermutlich wäre es sonst nie zu dieser Tat gekommen.
Irgendwann steckte Karin ihren Kopf durch die Tür.
“Komm endlich ins Bett. Morgen ist auch noch ein Tag.“
12
Gedankenversunken stöberte Ellen durch die Damenkonfektionsabteilung des großen Berliner Kaufhauses. Das KaDeWe bot schon eine ganz andere Auswahl als die Boutiquen in ihrer Heimatstadt. Hier und da nahm sie einen Rock oder eine Bluse zur Hand, um sie jedoch im nächsten Augenblick wieder zurückzuhängen. Ellen war nicht bei der Sache. Sie fühlte sich wie damals als siebzehnjährige Abiturientin, als sie mit ziemlich gemischten Gefühlen darauf wartete, von der Kommission zur mündlichen Prüfung gerufen zu werden. Und Ellens Emotionen schwankten momentan im Minutenrhythmus zwischen Euphorie und Niedergeschlagenheit. Euphorie deshalb, weil sich die Begeisterung, die ihr Sohn an den Tag legte, zuweilen auch auf sie übertrug, niedergeschlagen, da sie sich überhaupt nicht mehr sicher war, ob sie überhaupt das Richtige tat. Verlor sie in der Quizrunde bereits nach der ersten Frage, so hatte sie mit Max wenigstens ein schönes Wochenende im Berliner Kempinski verbracht, zumal die Übernachtungskosten ohnehin von Bernd Gerbers Produktionsgesellschaft getragen wurden. Allerdings wäre in diesem Fall ihre vielversprechende Karriere bei der Droma mit einem Schlag im Sande verlaufen. Wer wollte schon ein ehemaliges Werbezugpferd weiter beschäftigen, über das die Presse einen Kübel voll ätzendem Hohn ausschüttete? Denn damit war im Falle ihres Scheiterns zu rechnen, zumal sie sich gerade gegenüber einem Boulevardblatt wie der ‘Aktuell‘ so undiplomatisch und unkooperativ verhalten hatte. Ihr Abteilungsleiter wünschte ihr zwar noch viel Glück, aber sein Tonfall ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass bei einem Scheitern das Damoklesschwert der Kündigung endgültig auf sie niederfiel.
In diesem Moment hätte sie gerne einen neutralen, verständnisvollen Menschen an ihrer Seite gehabt. Max war weder neutral noch verständnisvoll. Er schien der Einzige, für den der Millionengewinn eine abgemachte Sache schien. Sie wollte ihn auch nicht damit belasten, dass sie unter Umständen in wenigen Tagen arbeitslos sein könnte. Konrad mochte sie in diesem Augenblick ebenfalls nicht ansprechen, denn sie wurde sich ihrer Gefühle ihm gegenüber von Stunde zu Stunde unsicherer. Eine enge Freundin besaß sie seit Heikes Umzug nach Bayern auch nicht. Hier in Berlin kam ihr zum ersten Mal so richtig zu Bewusstsein, dass sie im Leben ziemlich allein dastand und mit all ihren Sorgen, Unsicherheiten und Ängsten selbst klarkommen musste. Gefangen in diesem Gefühlschaos schlich Ellen durch das KaDeWe und hoffte nur eines: Dass sich nach dem Ende der Quizsendung nicht der Boden unter ihr auftat.
“Ellen!“ rief Max schon von weitem. Er schien sehr aufgeregt.
“Kommst du mal mit in die Computerabteilung?“
Seufzend hängte Ellen eine Bluse zurück auf den Ständer und folgte ihrem Sohn. Eigentlich stand ihr im Moment überhaupt nicht der Sinn nach Druckern, Scannern und Bildschirmen, aber vielleicht lenkte sie die nüchterne Umgebung der Technikabteilung des Kaufhauses ein wenig ab. Max hatte das obere Ende der Rolltreppe bereits erreicht, als sie die untere Plattform betrat. Unwillkürlich zog sich ein Lächeln über Ellens Mundwinkel. Er ist noch so frei und unbekümmert, dachte sie im Stillen. Er kann noch träumen. Das hast du doch längst verlernt. Wirklich? Was ist denn mit Südfrankreich? Streng dich an und gewinn das Quiz. Dann pack die Koffer und verschwinde an die Côte d‘Azur. Was hast du daheim noch zu verlieren? Deinen Job? Der ist sowieso nichts wert, solange man deine Arbeit im Büro nur dann schätzt, wenn man sich brav und angepasst verhält. Konrad? Wer ist schon Konrad? In Cannes, Nizza und Monte-Carlo gibt es nette Typen genug. Max? Sie war sich sicher, dass eine Departementhauptstadt wie Nizza bestimmt über eine englische, wenn nicht sogar über eine deutsche Schule verfügte. Und im Übrigen gab es ja auch noch Internate. Sie erschrak vor ihren eigenen Gedanken. Max in ein Internat stecken? Niemals.
“He, was ist los mit dir?“ lachte Max, als sie das obere Stockwerk erreichte. “Du machst ein Gesicht, als wäre dir ein Gespenst begegnet.“
“So ähnlich“, murmelte Ellen. “Ich musste gerade an etwas völlig Absurdes denken.“
“Denk nicht zuviel. Schone deine grauen Gehirnzellen lieber für heute Abend.“
“Komm, zeig mir mal, weshalb ich hier heraufkommen sollte“, fuhr sie ihm über den Mund. Doch Ellen war Max nicht böse. Sie wollte nur nicht schon wieder an den kommenden Abend erinnert werden.
Anschließend bummelten sie noch über den Kurfürstendamm und warfen einen Blick auf das Wahrzeichen der Stadt, das Brandenburger Tor. Ellen hätte sich stattdessen lieber auf ihr Hotelzimmer begeben und ins Bett verkrochen. Doch ihr war klar, dass sie in der Einsamkeit ihrer vier Wände zwangsläufig noch viel mehr ins Grübeln kam. Da schien es tatsächlich besser, sich unter Menschen zu begeben. Doch mit jeder Minute, die verstrich, wurde sie nervöser. Als Max mit ihr in eine Eisdiele gehen wollte, musste er sie dreimal auffordern, so sehr war sie mit ihren Gedanken beschäftigt.
“He, was ist los mit dir?“ fragte der Junge bestimmt schon zum hundertsten Mal an diesem Tag.
Ellen blickte hoch. Ihre Augen wirkten unendlich müde.
“Tut mir leid, Cowboy“, murmelte sie niedergeschlagen. “Mir geht‘s im Augenblick nicht so gut.“
“Bammel wegen heute Abend?“ fragte er zwischen zwei Löffeln Eis.
Ellen atmete tief durch. “Das kannst du laut sagen.“
“Aber wieso denn?“ Sein Gesicht wirkte verständnislos. “Mach dich doch nicht verrückt. Du weißt doch alles. Die Show ist für dich doch ein Kinderspiel.“
“Das träumst du.“ Seine Mutter winkte ab. “Ich bin mir im Augenblick noch nicht einmal sicher, ob ich überhaupt den Weg bis zum Kandidatensessel schaffe.“
“Stell dir den Gerber in Unterhosen vor“, antwortete der Junge. “Sowas wirkt immer.“
Unwillkürlich fiel Ellen in sein befreiendes Lachen ein. Doch im nächsten Moment schlug ihre Stimmung wieder um. Was, wenn ich versage? Was, wenn die mir im Büro tatsächlich kündigen und mich auf die Straße setzen? Ewig reichen hunderttausend Euro auf dem Konto auch nicht. Allein die Miete für die neue Wohnung verschlang ein Drittel ihres momentanen Gehalts. Also wieder ausziehen. Und einen neuen Job suchen. Wo? Als Drogeriemarktverkäuferin bestimmt nicht mehr.
Zäh wie Honig verstrich die Zeit. Im Studio sollte sie etwa zwei Stunden vor dem Sendetermin eintreffen, da man ihr noch Instruktionen erteilen und sie abpudern und frisieren wollte. Gegen vier Uhr nachmittags stand Ellen im Bad und betrachtete ihr Spiegelbild. Sie fühlte sich lausig. Noch nie hatte soviel Erwartungsdruck auf ihr gelastet. Damals bei der ersten Telefonfrage ging es ja um nichts. Da war sie zudem auch noch völlig unbekannt. Auch die Show von Matthias Lutze hätte sie im Prinzip völlig entspannt angehen können. Doch schon damals fühlte sie sich in dem Fernsehstudio geradezu wie paralysiert. Und als sie Bernd Gerber vor einer knappen Woche während seiner Sendung anrief und ihr vor laufender Kamera die Jokerfrage stellte, lief ihr der kalte Schweiß in Bächen Brust und Rücken hinunter. Himmel, schoss es Ellen durch den Kopf. Wie willst bloß diesen Abend durchstehen? Die vielen Menschen im Publikum, die Millionen Zuschauer vor den Bildschirmen.
Sie spürte wie ihr schwarz vor Augen wurde. Es gelang ihr gerade noch, den Sturz abzufangen. Würgend kroch sie zur Toilette und erbrach sich schließlich minutenlang in die Schüssel.
Du musst völlig verrückt sein, schimpfte sie anschließend, während der Wasserstrahl aus der Spülung die Exkremente in die Kanalisation beförderte und sie sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn wischte. Du bist völlig verrückt! Warum hast du letztens bloß die richtige Antwort gegeben? Karatschi. Warum hast du nicht Neu-Delhi oder Caracas gesagt? Du wusstest doch, was damit auf dich zu kommt. Gerber hatte dir diesen Ball nur aus einem einzigen Grund zugeworfen. Um dich in seine verdammte Fernsehshow zu bekommen und vor laufender Kamera fertig zu machen.
Im nächsten Moment schlug ihre Stimmung wieder um. Ihr Kreislauf und ihre Magennerven beruhigten sich, und sie erhob sich ächzend vom Fußboden. Vielleicht bildest du dir das alles ja nur ein, versuchte sie sich Mut zuzusprechen. Für den Gerber bist du im Grunde genommen doch nur eine Kandidatin unter Tausenden. Vermutlich verschwendet der im Augenblick keinen einzigen Gedanken an dich. Seufzend betrachtete sich Ellen im Spiegel. Sie sah schrecklich aus. Der mühsam aufgetragene Eyeliner lief ihr über Wangen und Kinn; von ihrem Make-up war auch kaum noch etwas zu erkennen. Ellen drehte den Wasserhahn auf und hielt ihren Kopf minutenlang unter kaltes Wasser.
“Bist du endlich soweit?“ rief Max und hüpfte dabei von einem Bein auf das andere. Für ihn schien der Auftritt bei Bernd Gerber ein einziges prickelndes Abenteuer zu sein.
Ellen trat aus dem Bad und zeigte sich ihrem Sohn.
Max riss die Augen auf. “He, da werden ja die Fische verrückt!“
“Nicht zu gewagt?“ fragte Ellen zögernd.
“Ich wusste überhaupt nicht, dass du eine so tolle Figur hast“, fügte er verblüfft hinzu.
Ellen hatte zunächst in einem ganz normalen geblümten Kleid erscheinen wollen. Doch im letzten Moment entschied sie sich anders. Nein, dachte sie bei sich, wenn der Kapitän schon mit der Titanic untergeht, dann wenigstens mit Stil. So legte sie das Kleid wieder beiseite und schlüpfte statt dessen in einen enganliegenden Body und wählte einen relativ kurzen Rock, ein hierzu passendes Bolerojäckchen und hochhackige Schuhe. Die Sachen hatte sie eigentlich nur für den Fall mitgenommen, dass sie vielleicht ins Theater oder in eine Bar eingeladen wurde. Bar und Theater fielen angesichts ihres derzeitigen Gemütszustands sowieso flach. Warum jedoch die Klamotten ungetragen zurück nach Hause schleppen?
“Danke für die Blumen, Cowboy.“
Was verstand dieser dreizehnjährige Bengel eigentlich von Frauenfiguren? Der sollte gefälligst Fußball spielen und an seine Schularbeiten denken. Sie beugte sich vor und richtete ihm die Hemdkragen über seinem Pullover.
“Nun komm. Es ist kurz vor Fünf. Das Taxi wartet sicher schon.“
Doch vor der Tür wartete kein Taxi. Gerbers Produktionsgesellschaft ließ Ellen und ihren Sohn in einer großen Limousine mit Chauffeur abholen. Soll ich mich etwa geschmeichelt fühlen, brummte Ellen in sich hinein. Oder gehörte der Wagen mit zu dem Plan, sie bereits vorher gehörig zu verunsichern? Max genoss die kurze Strecke bis zum Studio. Jedenfalls stopfte er den halben Vorrat an Erdnüssen aus der Bordbar in sich hinein.
“Frau Graf!“ hörte sie eine Stimme.
Bernd Gerber kam ihr beim Betreten der Produktionshalle mit ausgebreiteten Armen entgegen. Er lachte und umfasste dann mit beiden Händen ihre rechte. Als er den Jungen in ihrer Begleitung bemerkte, stutzte er. Verblüfft musterte er dessen auffällig rote Gesichtshälfte. Doch Gerber war Profi genug, um über das ungewöhnliche Aussehen des Jungen kommentarlos hinwegzusehen. Max hatte schießlich nicht den Aussatz.
“Das ist ja schön, dass Sie pünktlich sind“, meinte er gut gelaunt. “Da bleibt uns noch etwas Zeit zum Plaudern, während wir auf den Regisseur warten.“
Ellen war in diesem Moment wohl genauso platt wie Max. Sie rechnete insgeheim mit einem eher nüchternen und zurückhaltenden Empfang. Dass sie Bernd Gerber persönlich am Studioeingang begrüßte, das hatte sie nicht erwartet. Ein Produktionsassistent kam auf sie zu und nahm Max mit, um ihm Kameraanlagen und Regiepulte zu zeigen. Der Junge war noch immer so verblüfft, dass er wortlos nickend zustimmte.
“Sie sind bei sich daheim ja richtig berühmt, habe ich mir sagen lassen“, begann Gerber den Small Talk.
“Nun übertreiben Sie aber“, erwiderte Ellen, deren Anspannung langsam wich. Sie verspürte schon beinahe so etwas wie Sympathie Gerber gegenüber. Nach all dem, was vorgefallen war, hätte man auch ganz anders mit ihr umspringen können.
“Überhaupt nicht“, sagte er kopfschüttelnd. “Mit Ihnen wird ja ein richtiger Werbefeldzug veranstaltet.“
“Werbefeldzug“, grunzte Ellen. “Jetzt bitte ich Sie aber, Herr Gerber. Ja, mein Gesicht schmückt ein paar Plakate.“
“Sind Sie immer so bescheiden?“ meinte er und schaute sich dabei suchend nach dem Regisseur um.
“Wann kommt Jochen endlich?“ rief er ungeduldig in den Raum. Ihre Antwort auf seine Bemerkung blieb ungehört im Raume hängen. Na ja, dachte sie bei sich. Business as usual! Die Show muss halt weitergehen.
“Hatten Sie was gesagt?“ fragte er ein paar Augenblicke später.
“Nein“, antwortete sie mit einem leicht verkniffenen Lächeln. “Hätte ich etwas sagen sollen?“
“Wo waren wir stehen geblieben?“ murmelte Gerber und tat so, als würde er krampfhaft über etwas nachdenken.
“Bei Ihnen.“
“Ach, was?“ Dabei warf er einen Blick auf seine Armbanduhr.
Im nächsten Moment sprang er wie von einer Tarantel gestochen in die Höhe.
“Wo bleibt denn Jochen?“ rief er in Richtung der Kameraleute. “Der soll endlich kommen, damit wir noch die Details besprechen können. Wenn der im Augenblick keine Zeit hat, dann bringt Frau Graf doch wenigstens schon in die Maske.“
“Ist doch wahr!“ brummte er missgelaunt und warf sich wieder in seinen Sessel.
“Erzählen Sie mir etwas über sich“, meinte er anschließend und goß sich ein Glas Mineralwasser ein.
“Was soll ich Ihnen erzählen?“ entgegnete Ellen. “Ich bin Hausfrau und Mutter, arbeite daheim in ...“
Ein Regieassistent erschien und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Gerber nickte heftig und deutete auf seine Uhr. Der Mann begriff und entfernte sich dann kommentarlos.
“Jedesmal dasselbe“, knurrte Gerber. “Bereits über hundert Sendungen, aber hier geht es immer noch zu wie zu Beginn der allerersten Staffel. Wo waren wir stehen geblieben?“
Ellen schwieg. So führte man keine Unterhaltung. Entweder war Gerber genau so nervös wie sie, oder er war schlichtweg ungehobelt. Sie tippte auf Letzteres. Ihre anfängliche gute Laune schwand.
“Ah, da kommst du ja endlich“, rief Gerber und erhob sich. Ein Mann von Mitte dreißig kam auf sie zu. Er trug eine verkehrt herum aufgesetzte Baseballkappe, drückte Gerber die Hand und nickte ihr nur flüchtig zu.
“Können wir?“ fragte er knapp.
Ellen erhob sich zögernd. Gerber verschwand im Gewühl seiner Mitarbeiter.
“Du hast ja schon ein bisschen Erfahrung“, meinte der Mann übergangslos, während er sie in den kleinen Besprechungsraum führte. “Das erleichtert die Sache.“
Ellen schaute ihn ein wenig konsterniert an.
“Wir duzen uns hier alle“, meinte er bloß und schob sie weiter.
Schließlich fand sie sich im Kreise der übrigen Kandidaten wieder. Der Regisseur erläuterte noch einmal kurz den Spielablauf und gab Anweisungen, wie man sich auf dem Weg zur Bühne und hinterher beim Ratespiel zu verhalten hatte. An Samstagabenden fand für gewöhnlich eine Doppelfolge der Quizsendung statt, unterbrochen von den Acht-Uhr-Nachrichten und zwei längeren Werbeblöcken.
“Keinen langen Sermon bitte“, ermahnte er die Anwesenden. “Sowas überlassen wir den Konkurrenzsendern. Kommt also bitte erst gar nicht auf die Idee, uns Geschichten aus eurem Leben zu erzählen, falls ihr bei einer Frage unsicher seid. Auch keine langatmigen Erläuterungen zu den Antwortmöglichkeiten. Entweder ihr wisst die Antwort oder eben nicht. Bei uns zählt jede Minute. Schließlich wollen die anderen auch noch dran kommen.“
Ellens Magen begann erneut verrückt zu spielen. Bei der herzlichen Begrüßung durch Gerber hatte sie noch geglaubt, langsam ihre Ruhe zurückzugewinnen, aber inzwischen breiteten sich erneut Unsicherheit und Zweifel in ihr aus. Anscheinend ging es jedoch nur ihr so. Aber das verwunderte sie nicht. Die anderen Kandidaten hatten daheim Job, Familie und vermutlich einen angenehmen Bekanntenkreis, und wenn sie patzten, dann reihten sie sich halt in die Reihe der anderen Namenlosen ein, die tagtäglich in diesen Rateshows ihr Glück versuchten und scheiterten. Von ihrem Wissen hing jedoch vermutlich ihre Karriere ab. Und ihre Zukunft und die von Max. Denn ohne festes Einkommen würde demnächst wieder der Gürtel enger geschnallt werden müssen.
“Also, habt ihr es kapiert, okay?“ brummte der Regisseur genervt. “Dann ab in die Maske. Da werdet ihr ein bisschen gepudert, frisiert und bekommt anschließend die tragbaren Sender für den Aufnahmeton.“
“Wo steckt eigentlich mein Junge?“ fragte sie den Mann mit der Baseballkappe, während sie zusammen mit den anderen Kandidaten und einer Assistentin den Raum verließ.
“Ihr Junge?“ antwortete der Mann verständnislos. Im nächsten Moment wurde er bereits in die Regiekabine gerufen und verschwand kommentarlos.
Beunruhigt blickte sich Ellen um. Die junge Frau vom Aufnahmeteam schob sie weiter. Was geschah mit Max? Der wusste doch gar nicht, wo sein Platz war. Hoffentlich kümmerte sich jemand um ihn.
Unendlich träge verstrichen die Minuten. Ellen verschwand anschließend noch zweimal auf der Toilette. Ihr war auf einmal wieder todschlecht. Das stehst du niemals durch, haderte sie mit sich. Die machen dich hier fertig. Die wollen deinen Kopf rollen sehen. Ach, das bildest du dir nur ein. Die haben im Augenblick ganz andere Sorgen. Schau nur, wie die hier herumwieseln. Zuversicht und Niedergeschlagenheit wechselten sich inzwischen wieder im Minutenrhythmus ab.
Kurz vor sieben Uhr wurden Ellen und die übrigen Kandidaten von der Staff-Mannschaft zu ihren Plätzen geführt. Ruhelos blickte sie sich nach dem Jungen um. Plötzlich entdeckte sie ihn. Er hockte keine zehn Meter entfernt mitten im Zuschauerraum und winkte ihr euphorisch zu. Beide Daumen deuteten steil nach oben. Ellen atmete tief durch. Es schien ihm gut zu gehen. Die Leute um ihn herum machten auch einen netten Eindruck. Häufig ertappte sie sich dabei, einfach zu verdrängen, dass Max halt eben doch etwas anders aussah als andere Kinder. In ihrer Heimatstadt erregte er mit seinem Aussehen kaum noch Aufsehen. In Berlin jedoch fiel ihr auf, dass hin und wieder Leute mitten auf der Strasse stehen blieben und dem Jungen mitleidsvolle Blicke zu warfen. Sogar Bernd Gerber war es im ersten Moment nicht anders ergangen.
Die Erkennungsmelodie setzte ein. Bernd Gerber trat auf die Bühne. Die ‘Einpeitscher‘ hoben die Arme und forderten das Publikum zu lang anhaltendem Applaus auf. Gerber nickte freundlich, grinste breit in die Kamera und deutete mehrmals eine Verbeugung an. Er trug einen modischen, jedoch nicht zu auffälligen Anzug und einen dazu passenden dünnen Rolli mit Zipverschluss. Seine dichten, dunklen Haare umrahmten ein schmales, beinahe kantiges Lausbubengesicht. Alles in allem erweckte er den Eindruck eines spät berufenen Studenten, der gerade auf dem Weg zur ersten Verabredung mit einer Industriellentochter war. Er hätte ein prächtiges Bild als Schüler Pfeiffer in einer Neuverfilmung von Heinrich Spoerls ‘Feuerzangenbowle‘ abgegeben.
Gerber erklärte wie üblich kurz den Spielablauf und rief dann den Kandidaten auf, der in der vergangenen Sendung bis zum Ende des zweiten Levels gekommen war. Ellen überlegte, wann sie wohl an die Reihe käme. So wie sie Gerber einschätzte, würde der sie wohl noch ein bisschen schmoren lassen. Ellens Handflächen fühlten sich feucht an. Hoffentlich musste sie Gerber nicht noch einmal die Hand geben.
Der Moderator der Quizsendung riss sie aus ihren Gedanken.
“Glückwunsch!“ rief er. “Sie haben jetzt hunterttausend Euro auf Ihrem Gewinnkonto. Und das, obwohl Sie ihren Joker verquizzt haben. Na ja, Ihre Telefonkandidatin war ja so großzügig, auf ihren Gewinnanteil zu verzichten.“
Der Spot schwenkte in ihre Richtung. Die Deckenkamera folgte und zeigte ihr Gesicht in Großaufnahme.
“Begrüßen Sie bitte mit mir Frau Ellen Graf, meine Damen und Herren!“
Applaus brandete ihr entgegen. Ellen wäre am liebsten im Boden versunken. Der Kandidat wurde befragt, ob er in die alles entscheidende Runde eintreten wollte, aber er lehnte ab. Gerber schien das recht zu sein. Er bemühte sich nur halbherzig den Mann von seiner Entscheidung abzubringen.
Wieder ertönte die Erkennungsmelodie, und der Spot wanderte durch den Zuschauerraum auf der Suche nach dem nächsten Mitspieler. Diesmal traf es eine ältere Dame, die sich als Geschäftsfrau und Kunstliebhaberin ausgab. Die neue Kandidatin hielt sich gut. Relativ problemlos erreichte sie das Ende der ersten Fragerunde und stimmte natürlich sofort zu, weiterzumachen. Ellen blickte bestimmt zum fünfzigsten Mal auf ihre Armbanduhr. Mehr als die Hälfte der Zeit im ersten Block war abgelaufen. Hielt die Frau bis zum dritten Level durch, dann konnte es unter Umständen sogar passieren, dass die Aufnahmezeit am kommenden Tag für sie gar nicht ausreichte und sie in der darauf folgenden Woche noch einmal nach Berlin fahren musste. Das wollte sie in jedem Fall vermeiden. Noch einmal würde sie sich diesen Stress nicht antun. Ellen ertappte sich dabei, dass sie bereits insgeheim in Erwägung zog, es überhaupt so weit zu schaffen. Das machte ihr wieder etwas Mut. Doch ihre Handflächen blieben feucht.
“Und nun, meine Damen und Herren, möchte ich Ihnen eine ganz besondere Kandidatin vorstellen.“ Dabei grinste Gerber breit in die Kamera. “Frau Ellen Graf.“
Der Spot richtete sich auf sie, Applaus setzte ein und eine junge Frau von der Staff-Mannschaft erschien an ihrem Sitzplatz. Ellen war so in Gedanken versunken gewesen, dass ihr die falsche Antwort und damit das Ausscheiden ihrer Vorgängerin entgangen war. Verblüfft ließ sie sich nach unten führen. Da die Ränder der Plattform mit winzigen Lampen versehen waren, übersah sie den niedrigen Absatz. Sie strauchelte und wäre beinahe gestürzt. Gerber trat mit gespielter Sorge auf sie zu.
“Hoppla, nicht so hastig. Sie kommen schon schnell genug auf den Sessel.“
Ellen spürte, wie sie puterrot anlief.
Fast schon jovial legte er ihr den linken Arm um die Schulter und geleitete sie zur Mitte der Bühne, wo die beiden Drehsessel mit den abgewinkelten Flachbildschirmen standen. Ellen erklomm ihren Sitzplatz. Dabei rutschte unbemerkt ihr Rock hoch und entblößte für eine normale Abendshow ein bisschen sehr viel Bein. Gerber bemerkte es als Erster.
“Soll ich ihnen eine Decke bringen lassen?“ fragte er mit einem gezieltem Blick auf ihre Oberschenkel.
“Nein, wieso?“ Ellen verstand in ihrer ersten Überraschung überhaupt nicht, was er meinte.
“Unter Umständen wird Ihnen etwas kühl“, erwiderte er in seiner bekannt trockenen Art, wenn er Kandidaten vorführen wollte. Gelächter ging durchs Publikum.
“Unserem Kameramann hingegen wird es schon ziemlich heiß, wie ich gerade höre.“
Ellen schwieg. Sie machte sich Sorgen um Max. Hoffentlich sprang der im Laufe der Sendung nicht noch wutentbrannt auf die Bühne, um Gerber zu maßregeln. Vielleicht hätte sie doch alleine nach Berlin fahren sollen. Aber Max hatte so gebettelt.
Ellen fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Hastig richtete sie ihren Rock. Das überlebst du nicht, schrie eine Stimme in ihr. Bei der ersten Frage bist du raus! Alle werden sich ausschütten vor Lachen.
“Sie sind also“, fuhr Gerber fort und machte ein nachdenkliches Gesicht, “diese erstaunliche Dame, die meinen Kollegen Matthias, na, drücken wir es charmant aus, zwischenzeitlich etwas in Verlegenheit gebracht hat.“
“Überhaupt nicht“, versuchte sie sich zu verteidigen. “Ich wusste halt bloß auf alle seine Fragen eine Antwort.“
Gerbers Gesicht wechselte von ungläubigem Staunen in ein kaltes Grinsen. Das Publikum stieß vereinzelt Pfiffe aus. Na, phantastisch, jammerte die Stimme in ihrem Innern. Ja, nur weiter so! Blamier dich ruhig! Das war ja mal wieder ein toller Einstand!
“Gut, gut. So viel also zum Niveau der Konkurrenz. Na, fein. Sind Sie bereit?“
“Bereit, wenn Sie es sind“, murmelte Ellen.
“Hannibal Lecter, bevor er in Zwangsjacke abgeführt wird, stimmt‘s?“ meinte Gerber mit einer Anspielung auf ihr Filmzitat aus ‘Das Schweigen der Lämmer‘.
“Wenn Sie es sagen“, erwiderte Ellen.
“Na, dann wollen wir mal sehen, wann hier die Lämmer schweigen.“ Er wandte sich von ihr ab und schaute auf seinen Bildschirm.
“Beginnen wir ganz einfach. Für gerade einmal zweihundertfünfzig Euro möchte ich Folgendes von Ihnen wissen: Wie schwer ist ein Fußball? 249 bis 320 Gramm, 320 bis 396 Gramm, 396 bis 453 Gramm, 453 bis 479 Gramm oder 479 bis 512 Gramm?“
Ellen riss die Augen auf. Gerber hingegen verzog keine Miene. Das Publikum hielt den Atem an. Es schien, dass selbst eingefleischte Sportschaugucker auf diese Frage keine Antwort wussten. Ellens Herz rutschte in die Tiefe. Und tschüss! Erste Frage, und er hat dich. Klasse! Super! Du bist blamiert bis auf die Knochen.
“Das soll eine Zweihundertfünfzig-Euro-Frage sein?“ entfuhr es ihr.
“Wenn ich sie Ihnen an dieser Stelle nenne, dann wird es wohl so sein“, konterte Gerber ungerührt.
Ellen überlegte fieberhaft. Max spielte doch seit Jahren Fußball. Wie schwer ist denn bloß solch eine blöde Lederkugel?
“Keine Antwort?“ Gerber legte seinen Kopf schief. “Jetzt enttäuschen Sie mich aber. Die junge Dame, die in der ersten Sendung der neuen Staffel auftrat, kam ja wenigstens im ersten Anlauf bis zur dritten Frage. Tja, da wird wohl der erste Joker fällig, nicht wahr?“
“396 bis 453 Gramm.“ Es hatte keinen Zweck. Sie wusste es nicht. Sie musste blind raten.
“Wie meinen?“
“Wie ich schon sagte: 396 bis 453 Gramm.“
“Wieso nicht 320 bis 396 Gramm oder 453 bis 479 Gramm?“ fragte Gerber.
Ellen schwieg.
“Oh, das fängt ja gut an“, sagte Gerber und deutete sein Markenzeichen an. Dieses überhebliche, hämische Grinsen, mit dem er schon so viele Kandidaten zur Verzweiflung getrieben hatte. Und sie auch. Aber bloß vor dem Fernseher.
“Ich bleibe dabei“, ließ sich Ellen nicht beirren.
Gerber legte seine Stirn in Falten.
“Aber wissen tun Sie es nicht, stimmt‘s?“
Im Publikum war es inzwischen totenstill. Sie vernahm nur ein unterdrücktes Stöhnen.
Gerber drehte sich zu den Zuschauerrängen. “Der junge Mann mit dem markanten Gesicht möge bitte still sein.“
Ellen konnte förmlich spüren, wie sich die Deckenkameras auf den Jungen richteten. Ihr Puls schoss in die Höhe, und sie musste an sich halten, Gerber für diese Bemerkung nicht ins Gesicht zu springen. Wen er da gemeint hatte, war klar. Was konnte der arme Junge dafür? Er war dreizehn. Und er musste erst noch lernen, sich in solchen Situationen zu beherrschen.
“Mein Sohn hat sich sein Gesicht bei der Geburt nicht ausgesucht, Herr Gerber“, erwiderte Ellen mit eisiger Stimme. Sie betonte deutlich jedes ihrer Worte. “Danken Sie Gott dafür, dass Sie nicht mit einem Feuermal das Licht der Welt erblicken mussten.“
Vereinzelt klatschten einige Leute im Publikum. Doch alle warteten nur auf Gerbers Reaktion.
“Danke für den Hinweis, Frau Graf“, entgegnete er kühl. “Ich werde bei Gelegenheit darüber nachdenken. Also, was machen wir jetzt. Antwort Nummer drei oder den Joker?“
“Sagen Sie, hören Sie schlecht?“ fauchte Ellen.
Sie wusste, dass sie in diesem Moment alles auf eine Karte setzte. Aber mit dem Malus eines eingesetzten Jokers wollte sie diese Show nicht verlassen. Entweder die Titanic kam in New York wie vorgesehen in Rekordzeit an, oder sie zerschellte halt an diesem verdammten Eisberg.
“Ich sagte: 396 bis 453 Gramm. Antwort Nummer drei.“
“Gut, wenn Sie unbedingt wollen“, meinte Gerber betont gelangweilt. “Es ist ja Ihre Chance, die Sie vertun. Kommen Sie mir nur ja nicht hinterher und sagen, ich hätte Sie nicht rechtzeitig gewarnt.“
Dabei griff er nach seinem Wasserglas und nahm einen Schluck. Wie üblich spreizte er dabei seinen kleinen Finger ab.
Ellen wurde nervös. Wollte sie Gerber nur verunsichern oder ihr vielleicht etwa doch helfen? Schließlich hatte man sie eingeladen, um die Show ein wenig aufzupeppen. Was wog mehr? Höhere Einschaltquoten oder die Genugtuung, eine von den Medien hochgepuschte Quizkönigin gleich schon zu Beginn der Sendung deklassieren zu können? War Gerber ein Lump oder ein kühler Rechner? Stimmte ihre Antwort und Gerber lag tatsächlich nur ihr Scheitern am Herzen, dann schien es nur zu logisch, dass er sie verunsichern wollte. Lag ihm eher daran, sie und damit den Verlauf der heutigen Sendung zu retten, dann schien es wiederum einleuchtend, wenn er sie von einer falschen Antwort abbrachte. Denn wenn sie scheiterte, würden eine Menge Zuschauer vor den Fernsehbildschirmen auf ein anderes Programm umschalten. Doch worauf hätte sie sonst tippen sollen? Jede Antwort konnte zutreffen. Sie wusste es einfach nicht.
“Antwort Nummer drei“, wiederholte Ellen nach einem Blick auf sein Gesicht.
“Sie bleiben dabei?“ stocherte er noch einmal nach. “Ich meine, wir sind ja erst am Anfang der Runde. Da sollten wir vielleicht doch den Joker ...“
“Antwort Nummer drei“, blieb Ellen hartnäckig.
Gerber stöhnte theatralisch auf. Ihr Antwortfeld färbte sich gelb.
“Ob die Antwort stimmt, erfahren wir nach einer kurzen Werbeunterbrechung.“
“Okay, Kamera aus!“ rief jemand aus der Regie.
Gerber erhob sich, warf ihr ein süffisantes Grinsen zu und verschwand wortlos von der Bühne. Die folgenden vier Minuten wurden für Ellen zu den längsten ihres Lebens. Als die bekannte, nervenzermürbende Taktfolge der Erkennungsmelodie erneut einsetzte, krampfte sich Ellens Magen schmerzhaft zusamen. Sie war sich in diesem Augenblick absolut sicher, dass sich eines der anderen Antwortfelder grün färbte und ihres rot. Das Gelächter im Publikum würde noch jahrelang in Ihren Ohren klingen.
“Die richtige Antwort ist ...“
Gerber legte noch einmal eine Pause ein, um die Spannung zu steigern.
“... 396 bis 435 Gramm!“
In dem Moment, als das gelbe Feld in ein grünes umschlug, kochte im Zuschauerraum der Applaus hoch. Gerber nickte und lächelte mit einem Mal wieder wie ein Schuljunge, der gerade ein Lob von seinem Lehrer einstreichen durfte. Ellen brauchte ein paar Augenblicke, ehe sie überhaupt begriff, dass sie richtig getippt hatte. Pfeifend entwich die angestaute Luft ihren Lungen. Er war also doch ein Lump!
“Na, also, Frau Graf. Ein bisschen mühsam zwar, aber es geht doch. Gut geraten.“
Ellen fühlte sich zu Recht ertappt. Aber wieso zu Recht? Hatte man in einem Fernsehquiz nicht das Recht auch mal blind zu raten? Musste man im Leben eigentlich auf jede Frage immer die richtige Antwort wissen?
“Kommen wir zu Frage Nummer zwei. Wir spielen um fünfhundert Euro. Wie heißt ...“
13
Als Max seine Mutter in die Arme schloss, ließ auch ihre Anspannung endlich nach. Sie hatte sich bis zum Ende der ersten beiden Runden ganz gut gehalten. Einige Fragen wusste sie auf Anhieb, bei anderen musste sie auch hier und dort mal einen Augenblick nachdenken. Wenigstens war das blöde Fußballthema abgehakt. Jetzt konnte höchstens noch die Frage aus dem Bereich Kernphysik kommen, um sie herauszukegeln, gestand sie sich halb knurrend, halb amüsiert ein.
“Nicht schlecht“, meinte Gerber, als sie die letzte Frage in der zweiten Schwierigkeitskategorie beantwortet hatte. Ein lautes Hupen ertönte. Das Zeichen, dass die Sendezeit abgelaufen war.
“Und, spielen Sie weiter?“ Es sollte beiläufig klingen. In Wirklichkeit lag unverhohlenes Lauern in seiner Stimme.
“Ich mache Sie aber vorsorglich auf die Folgen aufmerksam“, fügte er hinzu. “In Level Drei spielen Sie auf volles Risiko. Es gibt keine Antwortvorgaben mehr, keine Joker, und Ihnen bleiben zur Beantwortung aller fünf Fragen insgesamt nur dreihundert Sekunden Zeit. Sie verlieren, wenn Sie eine Frage nicht wissen, zudem auch noch die bereits erspielten hunderttausend Euro.“
Ellen hatte lange überlegt. Hunderttausend Euro plus das bereits angelegte Geld konnte ihr erst einmal gut über den Winter helfen. Doch was war mit Südfrankreich? Absurd, hatte sie vor sich hingebrummt. Doch als sie Gerbers Gesicht sah, stand ihre Entscheidung mit einem Schlag fest.
“Du bist und bleibst der Champion!“ jubilierte Max lauthals.
“Nicht so laut!“ ermahnte sie ihn kopfschüttelnd und warf den Leuten, die mit ihr in der Vorhalle des großen Studios standen, einen um Nachsicht bittenden Blick zu.
Ein jüngeres Paar kam auf sie zu. Er mochte dreißig sein, sie keine fünfundzwanzig.
“Glückwunsch, Frau Graf!“ meinte der Mann. “Kann ich ein Autogramm haben?“
Ellen hob abwehrend die Hände. “Besser nicht. Morgen vielleicht. Falls Sie mich dann nicht eher bedauern.“
“Ach was“, lachte die junge Frau, “Sie machen das schon.“
Die umstehenden Leute stimmten murmelnd zu.
Anschließend gingen Ellen und Max in einem der besseren Restaurants von Berlin zu Abend essen. Inzwischen verspürte sie sogar wieder etwas Appetit. Noch vor zwei Stunden wäre ihr alleine bei dem Gedanken an Kamillentee übel geworden. Der Kellner wollte sie an einen Tisch im hinteren Restaurantbereich schicken, doch der Chef des Hauses fing sie auf dem Weg dorthin ab.
“Meine Verehrung, gnädige Frau“, begrüßte er Ellen und deutete dabei einen Handkuss an. “Den freien Tisch am Fenster, Giorgio. Darf ich Ihnen schon einmal einen Champagner als Aperitif bringen lassen?“
“Was ist denn in den gefahren?“ fragte Max, nachdem man auch ihm den Sessel zurechtgerückt hatte und das Bedienpersonal mit der ersten Bestellung verschwunden war.
“Er ist halt höflich. Was dagegen?“
“Der behandelte dich ja, als wärst du ein Filmstar.“
“Unsinn!“ Ellen vertiefte sich wieder in die Speisekarte.
Die Vorspeise wurde gerade abgeräumt, als zwei Männer durch das Lokal eilten, sich suchend umblickten und dann auf ihren Tisch zustürmten.
“N‘Abend, Frau Graf“, rief einer der beiden Männer. “Kowalski vom Abendblatt. Können wir kurz mit Ihnen reden? Und ein Foto von Ihnen machen?“
Die Gäste an den Nachbartischen blickten neugierig hoch. Max wollte schon protestierend aufspringen, weil er die Reaktion seiner Mutter ahnte, doch Ellen hielt ihn am Ärmel seines Pullovers zurück. Aus dem Hintergrund tauchte der Restaurantchef auf. Schützend stellte er sich vor Ellen.
“Tut mir Leid, Frau Graf“, bedauerte er und warf den beiden Reportern einen missbilligenden Blick zu. “Ich konnte nichts machen. Die waren einfach zu schnell. Normalerweise kommt sowas bei uns ...“
Ellen winkte ab und lächelte. “Lassen Sie nur. Wir warten ja ohnehin auf den Hauptgang.“
Sie wandte sich an den Reporter, der sie angesprochen hatte.
“Meinen Sie nicht, lieber Herr Kowalski, dass es noch ein bisschen früh ist für ein Interview? Mein heutiger Gewinn steht bisher nur auf dem Papier. In der dritten Runde kann ich alles wieder verlieren.“
Kowalski lachte. “Sie doch nicht. Also, wie Sie sich durch die erste Frage retten konnten, das hatte schon was. Ein Kollege vom Sportteil, der mit mir zusammen die Sendung verfolgt hat, wusste es auch nicht.“
Er stutzte, als er Ellens gelassenen Gesichtsausdruck bemerkte. Sein Lachen verwandelte sich in ein breites Grinsen.
“Sie haben geblufft, stimmt‘s? Sie wollten diesen Gerber selbst ein bisschen zappeln lassen.“
“Die Gedanken sind frei“, entgegnete Ellen. “Sie verstehen, dass ich mich dazu nicht äußere.“
“Aber klar“, meinte der Mann. “Was ist nun mit einem kurzen Statement?“
“Morgen vielleicht. Sollte ich Erfolg haben. Jetzt jedoch lassen Sie mich bitte in Ruhe zu Abend essen.“
“Dürfen wir wenigstens ein Foto machen?“ meldete sich der Bildreporter zu Wort und zückte seine Kamera.
Ellen überlegte und dachte dabei unwillkürlich an ihren Abteilungsleiter.
“Was soll‘s“, seufzte sie. “Aber nur gemeinsam mit meinem Sohn. Und machen Sie bitte schnell.“
Während sein Kollege den Kameraverschluss klicken ließ, hakte Kowalski noch einmal nach.
“Ihr Sohn?“ fragte der Mann. “Ich dachte, der Junge wäre ihr Pflegesohn.“
“Das ist für mich dasselbe“, zischte Ellen. “Und nun reicht‘s, okay?“
“Der hat vielleicht Nerven“, brummte sie kopfschüttelnd. “Was geht es denn den an, ob du mein leiblicher Sohn bist oder nicht?“
“Alles klar, Ellen?“ hörte sie die Stimme der Regieassistentin aus dem kleinen Lautsprecher neben der Tür.
“Natürlich“, antwortete sie. “Wann werde ich abgeholt?“
“Sobald Bernd fertig ist“, erhielt sie zur Antwort. “Das machen wir deshalb, damit wir euch beide nicht so oft nachpudern müssen. Es ist ganz schön mollig im Studio. Heute Morgen ist die Klimaanlage ausgefallen. Die Techniker haben den Schaden erst vor einer Stunde beheben können.“
“Und toi, toi, toi“, fügte die Stimme nach kurzem Zögern hinzu.
Ellen blickte sich um. Sie hockte in der Garderobe, während sie von gelernter Hand die Haare gemacht bekam und ordentlich geschminkt wurde. Der Platz neben ihr war frei. Doch Bernd Gerber schien diesmal vor der Sendung offensichtlich keine gesteigerte Lust auf Small Talk zu verspüren. Sie begegneten sich erst auf dem Gang. Gerber hob zur Begrüßung nur ganz kurz die Hand. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich noch leidlich sicher gefühlt, doch mit jedem Schritt, den sie der Bühne näher kam, schwand ihr Selbstbewusstsein. Als sie den schmalen Gang zwischen den Zuschauerplätzen hinunterstieg, setzte unwillkürlich Applaus ein. Ellen blickte sich suchend um. Erst nach einigen Augenblicken entdeckte sie Max. Er saß in der vordersten Reihe.
“Oh, fangen Sie schon ohne mich an?“ rief Gerber und kam freundlich lächelnd auf sie zu. Jovial hakte er sich bei ihr unter und führte sie zu dem berühmt-berüchtigten Sessel im Zentrum der Scheinwerferkegel.
Die ‘Einheizer‘ bekamen ein Zeichen; Sekunden später setzte johlender Applaus und wüstes Fußgetrappel ein. Ellen hatte bereits Platz genommen, während Gerber noch ein paar erklärende Worte an das Publikum richtete.
“Vielleicht geht diese Sendung in die Fernsehgeschichte ein“, kam er schließlich zum Ende. “Fünf Millionen Euro, das sind nach alter Rechnung beinahe zehn Millionen Deutsche Mark - sofern sich überhaupt noch jemand an Deutsche Mark erinnern kann.“
Er machte eine Pause. Gelächter folgte.
Ellen erinnerte sich an das Gespräch mit dem Taxifahrer, der sie und Max durch Berlin kutschierte, weil sie bei dem Verkehr ihr nagelneues Cabrio nicht riskieren wollte. Er wollte erfahren haben, dass der Sender bereits bei einer großen Bank wegen einer Krediterhöhung nachgefragt habe. Rein pro forma natürlich, fügte der Taxifahrer breit grinsend hinzu.
Kurz darauf hockte sich Gerber in den Moderatorensessel. Sein Blick wirkte starr. Ellen widerstand seinen stechenden Augen. Wenn das zutraf, was der Taxifahrer angeblich erfahren haben wollte, dann konnte sich Gerber warm anziehen. Fünf Millionen Euro waren schließlich kein Pappenstiel. Für den Sender erst recht nicht, zumal dessen Aufsichtsrat in jüngster Vergangenheit Pläne für eine Kapitalerhöhung abgelehnt hatte. Und im Aufsichtsrat saßen Vertreter von zwei Banken. Also würden Gerber und seine Crew für die letzten fünf Fragen bestimmt noch ein paar üble Überraschungen auf Lager haben.
“Regeln sind bekannt?“ erkundigte sich der Quizmaster. “Keine Joker, keine Antwortvorgaben, dreihundert Sekunden Zeit. Fünf Fragen, die vielleicht Ihr Leben verändern werden.“
Ellen nickte und schluckte heftig. Komm, quassel nicht so viel, mein Junge! Mir ist jetzt schon ganz schlecht! Himmel, wie konnte ich mich nur auf diesen Blödsinn einlassen! Wäre ich doch bloß gestern Abend mit hunderttausend Euro in der Tasche nach Hause gefahren! Die Häuser auf Cap Ferrat tauchten vor ihrem geistigen Auge auf.
“... bekannt gewordene französische Dichter?“
Ellen schrak zusammen. Sie hatte überhaupt nicht zugehört.
“Die Zeit läuft!“
Unbarmherzig begann die Digitaluhr rückwärts zu zählen. Ellen warf einen Blick auf ihren Bildschirm, doch der blieb schwarz. Das gibt‘s doch nicht, schoss es ihr durch den Kopf.
“Die Zeit läuft!“ wiederholte Gerber, als er Ellens verzweifeltes Gesicht sah.
“Mein Bildschirm ist schwarz!“ beklagte sie sich.
“Im dritten Level gibt es auch keinen Text auf dem Bildschirm“, grinste Gerber.
“Das haben Sie mir aber nicht gesagt!“
Gerber machte ein bedauerndes Gesicht und deutete nur auf die Digitalanzeige.
“Bitte wiederholen Sie die Frage“, forderte Ellen.
“Was soll ich tun?“ erkundigte sich Gerber betont begriffsstutzig.
“Sie sollen die Frage wiederholen!“ fauchte Ellen. “Ich habe sie nicht verstanden.“
“Wieso?“ fragte er scheinheilig. “Spreche ich so undeutlich?“
“Ich stehe gleich auf und gehe!“ bellte sie ungehalten zurück.
Das Publikum wurde unruhig. Auch die Zuschauer hatten längst begriffen, dass sie Zeuge eines alles entscheidenden Showdowns wurden. Graf gegen Gerber. Das schien noch viel spannender als das Endspiel in Wimbledon oder das Warten auf die erste Hochrechnung nach der Bundestagswahl zu werden.
“Wie Sie meinen. Also, ich wiederhole. Wie heißt der durch seine in Versform formulierten Fabeln bekannt gewordene französische Dichter?“
Er sprach bewusst langsam. Ellen verstand. Gerber wollte, nein, er musste Zeit schinden. Vermutlich stimmte das wirklich, was der Taxifahrer behauptete. Taxifahrer wussten häufig mehr als andere in einer großen Stadt.
“Zwei Minuten sind schon um“, bemerkte Gerber tonlos.
“Jean de La Fontaine!“ rief Elllen. “1621 bis 1695.“
“Nach den Jahreszahlen wurde nicht gefragt.“ Erst nach dieser Bemerkung drückte Gerber die Stoppuhr. Die Digitalanzeigte stand auf Hundertfünfundsiebzig. Mist, durchfuhr es Ellen. Keine drei Minuten mehr. Du musst dich konzentrieren!
“Stimmt!“ kam die erlösende Antwort. Das Publikum tobte. Gerbers Gesicht blieb ausdruckslos.
“Wenn Sie weiter so langsam antworten, erreichen Sie die Fünf-Millionen-Frage nie.“
“Warten wir es ab“, konterte Ellen. Der Saal tobte.
“Okay“, brummte der Moderator. “Für eine halbe Million Euro will ich Folgendes von Ihnen wissen: Wie lautet das Nationalitätskennzeichen für Kraftfahrzeuge auf der Isle of Man? Zeit läuft!“
Unbarmherzig begann die Uhr erneut rückwärts zu laufen. Ellen ging die Möglichkeiten rasch durch.
“Die Antwort lautet: GBM!“
Eine weitere Sekunde verstrich, ehe die Uhr zum Stehen kam.
Gerber legte die Stirn in Falten. “Ehrlich?“
“So ehrlich, wie der Tag lang ist.“
Das Publikum klatschte Beifall.
“Moment, Moment, meine Damen und Herren. Nicht so schnell! Wir wissen ja noch gar nicht ...“
“Machen Sie es nicht so spannend“, rutschte es Ellen heraus. “Alle britischen Inseln mit eigenem Kennzeichen führen das GB vor dem eigentlichen Kürzel. Alderney hat zum Beispiel GBA und Jersey folglich GBJ.“
Gerber warf einen Blick auf seinen Bildschirm.
“Stimmt!“ gab er zu. Die Zuschauer begannen Ellen lautstark anzufeuern.
In diesem Moment bemerkte sie, dass Gerber einen Blick hinauf zur Regie warf. Für den Bruchteil einer Sekunde verzogen sich seine Mundwinkel zu einem breiten Lächeln. Sofort danach wirkte sein Blick wieder so undurchdringlich wie das der Sphinx.
“Die berühmte Frage aus der Kernforschung?“ Ellens Stimme klang heiser vor Erregung.
Gerber stutzte. Mit dieser Bemerkung hatte er nicht gerechnet. Er wirkte ehrlich überrascht.
“Woher ...?“ entfuhr es ihm. Dann hatte er sich wieder im Griff.
“Können wir?“ fragte Ellen. Erneut hatte sie die Lacher auf ihrer Seite.
“Ich kann immer“, schnaubte Gerber.
“Wie schön für Ihren Freund“, grinste Ellen.
Gerbers Gesicht verfärbte sich aschfahl. Seine Stimme klang schneidend.
“Haben Sie sich da nicht etwas im Ton vergriffen?“
Auf den Zuschauerrängen blieb es totenstill. Jeder wartete darauf, wie sich Ellen aus der Affäre zog.
“Inwiefern?“ fragte sie mit Unschuldsmiene. “Haben Sie etwa keinen Freund? Ich habe einen. Übrigens ein sehr netter Kerl.“
“Sie wissen genau, was ich meine“, knurrte Gerber zurück.
“Kann schon sein“, lächelte Ellen. “Das kommt davon, wenn man vor einer Frau mit seiner Potenz angibt.“
Die ‘Einpeitscher‘ hatten einige Mühe, wieder Ruhe im Publikum herzustellen.
“Na, schön, Frau Graf“, fauchte Gerber.
“Jetzt ist wohl Schluss mit lustig, wie?“ erwiderte Ellen ungerührt. “Na, kommen Sie, Bernd. Zeigen Sie‘s mir. Wo ist die Kernkraftfrage? Damit wir es endlich hinter uns haben.“
“Für eine Million Euro: Wie nennt man den Vorgang, bei dem Deuterium und Tritium zu Helium verschmolzen werden? Uhr läuft!“
“Und stopp!“ kam es wie aus der Pistole geschossen. “Die richtige Antwort lautet: Kernfusion.“
Ellen bemühte sich, ein besonders nachsichtiges Lächeln an den Tag zu legen.
“Stimmt!“ meinte Gerber und ließ sich in seinem Sessel weit nach hinten sinken. Dröhnender Applaus setzte ein.
“Na, sehen Sie“, brummte Ellen.
“Freuen Sie sich nicht zu früh“, zischte Gerber und deckte dabei sein Kragenmikrophon ab, damit diese Bemerkung nicht aufgezeichnet werden konnte. Er warf einen Blick hoch zur Regie und gab das Zeichen für die übliche Werbeunterbrechung.
“Was kommt jetzt, Bernd?“ frotzelte Ellen. Ihre Nervosität und all ihre Angst waren mit einem Mal verflogen. “Was lassen Sie sich nun noch einfallen? Kommt jetzt die Biotechnologie dran?“
“Das werden Sie gleich sehen, meine Liebe“, fauchte er zurück. “Und noch etwas: Ich lege Wert darauf, mit dem Nachnamen angesprochen zu werden.“
“Aber klar, Bernd“, grunzte sie leise.
Fünf Minuten später ging es in die letzten beiden Runden. Sie ahnte, dass die dort oben in der Regie irgendetwas ausgebrütet hatten.
“Schön, Frau Graf“, meinte Gerber selbstgefällig, als er wieder vor ihr Platz nahm. “Dann kommen wir langsam zum Finale. Es geht jetzt um sage und schreibe zweieinhalb Millionen. Falls Ihnen die Sache zu heiß wird, können Sie jederzeit aussteigen.“
“Ich habe keine Angst vor der eigenen Courage“, entgegnete Ellen kühl.
“Nun gut“, fuhr Gerber fort. “Die vorletzte Frage lautet wie folgt: Wer gewann den Nobelpreis für Physik im Jahr 1938? Uhr läuft.“
Ellen überlegte. 1938, das war ein Jahr, bevor der 2. Weltkrieg begann. Wer, um alles in der Welt, war in diesem Jahr Nobelpreisträger in dieser Kategorie? Ein Deutscher wohl kaum. Dabei hätten die Schweden nicht mitgemacht. Ein Engländer? Nein, soweit ich mich erinnere, war es ein Italiener. Das stand doch in diesem Wissenschaftsmagazin, das sich Max für eine Klassenarbeit besorgt hatte.
“Denken Sie an die Uhr“, warnte Gerber eindringlich.
Die Zeit verstrich. Längst brach die letzte Minute an. Ein unterdrücktes Stöhnen ging durch das Publikum. Ellen verbarg das Gesicht in den Händen, um besser nachdenken zu können.
Denk nach! Konzentrier dich. Physiknobelpreis 1938. Ein Italiener. Wer?
Plötzlich schrak Ellen hoch. “Fermi. Enrico Fermi. Geboren 1901, gestorben 1954. Baute nach dem Krieg mit an dem ersten Kernreaktor in den USA.“
Die Digitaluhr verharrte. Oh, Himmel, schoss es Ellen durch den Kopf. Die Anzeige war einstellig. Nur noch neun Sekunden.
“Stimmt tatsächlich!“ entgegnete Gerber trocken.
Inzwischen wusste er nicht mehr, ob er diese Frau auf den Mond wünschen oder bewundern sollte. Eine ehemalige Drogeriemarktverkäuferin. Ohne Universitätsabschluss. Mischte seit Wochen die einschlägigen Fernsehsender auf. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde man ihr eine eigene Show im Fernsehen anbieten. Etwas nagte ganz entsetzlich in ihm. Aber es gab ja noch eine Frage.
Als der Applaus endlich verebbt war, setzte Fanfarenmusik ein. Gerber beugte sich vor.
“Nur der Form halber, Frau Graf“, meinte er mit kühler Stimme. “Wenn Sie jetzt aufhören, gehen Sie mit sage und schreibe zweieinhalb Millionen Euro heim. Ihnen bleiben nur noch neun Sekunden zur Beantwortung der nächsten Frage. Überlegen Sie es sich gut.“
Gerber lehnte sich zurück und beobachtete sie scharf. Ellen räusperte sich.
“Darf ich meinen Sohn fragen, wie er an meiner Stelle entscheiden würde?“
“Nur zu“, entgegnete er gönnerhaft. Er gab einer der Regieassistenten ein Zeichen. “Ein Mikro für den jungen Mann!“
Max riss der jungen Frau das Mikrophon förmlich aus der Hand.
“Zeig‘s ihm, Ellen!“ brüllte er voller Begeisterung. “Zeig ihm, dass ich die cleverste Mutter auf der Welt habe!“
Ellen wurde heiß und kalt. Max hatte sie in aller Öffentlichkeit ‘Mutter‘ genannt. Das war für sie schöner als jede Liebeserklärung. Doch wie, um alles in der Welt, sollte sie sich entscheiden? Die stehen gebliebene Digitaluhr grinste sie förmlich an. Neun Sekunden. Neun Sekunden zwischen Alles oder Nichts! Was tun? Das Geld nehmen und sich mit der vorletzten Frage zufrieden geben, oder alles auf eine Karte setzen? Du bist verrückt. Du riskierst Kopf und Kragen. Wenn du versagst, dann hast du nichts. Nicht einmal mehr die Hunderttausend, um die du gestern kurz vor Ende der Sendung zumindest theoretisch reicher gewesen wärst. Du bist eine Idiotin!
“Gehen wir‘s an!“ hörte sie eine heisere Stimme sagen. Ihre.
Es wurde totenstill im Zuschauerraum. Man hätte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können.
“Letzte Frage“, murmelte Gerber. “Es geht um die sagenhafte Summe von fünf Millionen Euro. Sie haben neun Sekunden Zeit. Ich habe Sie gewarnt. Okay, volles Risiko! Also, hören Sie genau zu. Sobald ich ‘Uhr läuft!‘ sage, beginnt die Uhr zu laufen. Unwiderruflich. Und sie läuft nur neun Sekunden.“
Ellen nickte stumm. Sie musste wirklich verrückt sein.
“Und hier nun die Frage: In welchem Jahr erfand der Italiener Evangelista Torricelli das Quecksilberthermometer? Und los geht‘s! Uhr läuft!“
Ellen nickte stumm. Diese Frage sollte also ihr Leben verändern. Und zwar vollkommen. Diese Frage entschied über Leben in Luxus oder vermutlich demnächst den Gang zum Arbeitsamt. Sie schaute auf die Uhr. Noch vier Sekunden, drei ...
“Im Jahre 1643“, antwortete sie. Ein Hoch auf Max‘ Geschichtslehrbuch!
Ehe Bernd Gerber überhaupt antworten konnte, explodierte bereits um sie herum das Feuerwerk.
14
Gnadenlos brannte die Sonne auf die Küste hinab und lähmte alles Leben. Nur die sonnenhungrigen Touristen bevölkerten den Strand. Währenddessen hockten die Einheimschen in den überdachten Restaurants oder hielten in ihren Wohnungen Siesta. Sogar der Bouleplatz unterhalb der Burg war verwaist. Zwischen kurz nach zwölf Uhr und drei Uhr nachmittags erstarb auch der hektische Straßenverkehr. Ein dreizehnjähriger Junge mit eigentümlich verfärbter Gesichtshälfte hastete über die Croissette und strebte dem schneeweißen Komplex des Carlton-Hotels auf der gegenüberliegenden Seite zu. Der livrierte Hotelportier nickte ihm schon von weitem zu und öffnete ihm die Tür.
“Merci beaucoup, Monsieur Jean!“ lachte der Junge.
“À votre service“, lächelte der Mann. So ein gut erzogener Junge. Und dann auch noch Ausländer. Aber diese Verfärbung in seinem Gesicht! Wie tragisch!
Max stürmte durch die Hotelhalle, bat an der Rezeption um seinen Zimmerschlüssel und sprang in den Aufzug. In seinem Zimmer angekommen, schlüpfte er in ein frisches T-Shirt und zog eine lange helle Hose an. Kurz darauf betrat er das Nachbarzimmer.
“Was gibt es denn so Dringendes?“ rief er in Richung Badezimmer.
“Wir fahren nach Saint-Jean“, kam es gedämpft zurück.
Die Tür öffnete sich, und Ellen trat in ihr abgedunkeltes Hotelzimmer. Sie sah hinreißend aus. Von der Mittelmeersonne braun gebrannt, kam ihr schneeweißer Minirock und die ebenso weiße Bluse im Stewardessenstil erst richtig zur Geltung. Rasch schlüpfte sie in ihre Slipper. Der Porsche ließ sich mit hochhackigen Schuhen nicht so optimal fahren.
“Ist wohl ziemlich heiß draußen, nicht wahr?“ Sie stülpte sich die Designersonnenbrille vor die Augen.
Max zuckte die Schultern. “Mir egal. Wenn man offen fährt, merkt man das sowieso nicht.“
“Hast Recht. Bist du bereit?“
“Bereit, wenn du es bist.“
“Nun komm“, forderte sie ihn auf und schob ihn durch den Türrahmen. “Ich habe gerade das Röhren des Auspuffs gehört. Der Wagen wird vorgefahren sein.“
Max sprang, ohne die Türe zu öffnen, auf den Beifahrersitz, während sich Ellen hinter das Lenkrad quetschte. Dann gab sie Gas. Wenige Minuten später befanden sie sich bereits auf der Ostseite von Cap Croissette.
Ihr Makler schien ein geeignetes Domizil gefunden zu haben. Halbwegs bezahlbar und in unmittelbarer Nähe des Ortes. Sogar einen eigenen Strandzugang besaß das Grundstück. Endlich konnte sie diesem riesigen Hotelkasten den Rücken kehren, in dem sich anscheinend nur exaltierte Filmstars und Cocktails schlürfende britische Ladies ein Stelldichein gaben. Sie fühlte sich weder zu der einen noch zu der anderen Kategorie Menschen hingezogen. Sie wollte endlich ein eigenes Haus. Für sich und Max. Und das auch noch in wunderschöner Umgebung. Wir werden sehen, brummte sie vergnügt in sich hinein.
Nach dem Millionengewinn hatte sich ihr gesamtes Leben schlagartig geändert. In der ersten Woche kam sie kaum bis in den Supermarkt, um einzukaufen. Andauernd stolperte sie über Reporter, Kameras und Autogrammjäger. Den Job kündigte sie an dem Tag, als der Scheck auf ihrem Konto gutgeschrieben wurde. Die Geschäftsführung sah notgedrungen ein, dass eine Drogeriemarkt-Kette keine Berufsalternative für eine Mitarbeiterin bot, die mit Leichtigkeit selbst ein paar Filialen hätte kaufen können. Selbst den Job als Marketing-Vorstand lehnte sie ab.
Zur Bürorbeit wäre sie ohnehin kaum noch gekommen. Kaum aus Berlin zurückgekehrt, wurde sie mit Angeboten zu Talkshow-Auftritten förmlich überschüttet. Anscheinend gab sie eine gute Figur ab, denn kurz darauf fragte die Produktionsgesellschaft von ‘Euroquiz‘ an, ob sie nicht an Stelle von Matthias Lutze die Sendung in Zukunft moderieren wolle. Ellen überlegte gar nicht lange, sondern sagte sofort zu. Da sich das Studio nur eine Stunde entfernt von ihrem Wohnort befand, konnte Max weiter in seiner gewohnten Umgebung aufwachsen. Das schien ihr wichtig. Ihm sollte das Schicksal zahlreicher Kinder von Prominenten erspart bleiben, die jahrelang nur von einem Ort zum anderen geschoben wurden. Er sollte nicht wegen ihrer neuen Karriere Schule, Freunde und sein gewohntes Lebensumfeld aufgeben müssen. Ellen zog mit dem Jungen in ein großzügiges Penthouse hoch über der Stadt mit allen Annehmlichkeiten, die eine moderne Appartementanlage bot. Zum ersten Mal konnte Max seine neu gewonnenen Freunde zum Staunen bringen, wenn er mit ihnen auf der Terrasse Basketball übte oder sie ins private Schwimmbad im Kellergeschoss einlud. Ihre ehemalige Freundin Heike rief seit neuem pausenlos an. Ellen sollte sie unbedingt einmal in Bad Tölz besuchen. Doch sie ahnte, was hinter diesem plötzlichen Sinneswandel steckte. Heike wollte nur in ihre Sendung eingeladen werden und mit ihr vor den eigenen Bekannten angeben. Auch Konrad machte hin und wieder halbherzige Annäherungsversuche, die Beziehung wieder aufleben zu lassen. Er beschwor sie, dass seine Liaison mit der Kollegin ein einmaliger Ausrutscher gewesen sei. Ellen ließ sich nicht beirren. Sie gab ihm kompromisslos den Laufpass. An eindeutigen Angeboten in dieser Hinsicht fehlte es ihr ohnehin nicht. Es verging kaum ein Wochenende, an dem sie nicht zu Partys in die Kölner Schickeria eingeladen wurde. Produzenten, Regisseure und andere Prominenz aus der Medienszene buhlten um ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung. Doch Ellen konnte sich nicht entscheiden. Zwar ging sie hin und wieder mit einem der Männer aus und blieb auch über Nacht weg, aber einer festen Bindung ging sie instinktiv aus dem Weg. Sie wollte nicht noch einmal eine Enttäuschung erleben.
Beruflich ging es steil bergauf. Unter ihrer Moderation entwickelte sich ‘Euroquiz‘ zu einem Kassenschlager. Den Spielablauf kempelte sie vollkommen um. Zwar blieben die Fragen nach wie vor anspruchsvoll, aber ein Vorführen von Kandidaten vor laufender Kamera kam für sie nicht in Frage. Die Einschaltquoten schossen in die Höhe und erreichten zwischenzeitlich sogar höhere Werte als die Sendung mit Bernd Gerber. Der hatte es mit seinem neuen Konzept ohnehin schwer, denn kein Kandidat erreichte auch nur annähernd die letzten beiden Fragen. Jeder, der bei Gerber antrat, musste sich unwillkürlich an Ellen Grafs Erfolg messen lassen. Im Gegensatz hierzu mehrten sich in ihrem Aufnahmestudio die Anfragen von Prominenten, vielleicht auch einmal bei ‘Euroquiz‘ ihr Wissen testen zu dürfen. Ellen plante bereits eine eigene Staffel für Leute aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Showbiz.
“Was macht eigentlich deine kleine Freundin?“ fragte sie, während sie den Wagen durch den Stop-and-Go-Verkehr von Juan-les-Pins quälte. “Diese Catherine.“
“Was soll schon mit ihr sein?“ brummte Max und versuchte ihrem Blick auszuweichen.
“Mal wieder Liebeskummer?“ Ihre Frage hatte gelassen klingen sollen. Trotzdem konnte sie eine gewisse Neugier in der Stimme nicht verbergen.
“Blödsinn!“ begehrte der Junge auf. “Wir waren ein paar Mal beim Surfen, na und?“
“Nichts Festes?“ stocherte sie nach.
“Nein, zum Henker!“ brauste Max auf.
“Ist ja schon gut.“
Die Ausfallstraße in Richtung Nizza war frei. Ellen gab dem Porsche die Sporen. Als sie den Flughafen hinter sich gelassen hatten, zupfte Max sie am Ärmel.
“Sehe ich eigentlich wirklich so schlimm aus?“ fragte er mit belegter Stimme.
Ellen hätte beinahe das Steuer ihres Sportwagens verrissen. Seit Max bei ihr lebte, hatte er sie das noch nie so direkt gefragt.
“Wie kommst du denn darauf?“ fragte sie und versuchte Empörung in ihre Stimme zu legen. Es kam aber offenbar nicht besonders überzeugend herüber.
“Nun spuck es schon aus, was du auf dem Herzen hast“, meinte sie, weil sich Max in Schweigen hüllte.
“Ich wollte Catherine einen Kuss geben“, gab er schließlich zögernd zu. “Auf die Wange. Einfach so. Aber sie hat den Kopf weggedreht.“
“Vielleicht hat sie einen Freund daheim“, gab Ellen zu bedenken. “Das würde ich nicht überbewerten.“
“Und wahrscheinlich sieht der auch viel besser aus als ich“, erwiderte Max. “Der hat bestimmt kein beschissenes Feuermal im Gesicht.“
Ellen überlegte, was sie darauf antworten sollte. Max steckte inzwischen mitten in der Pubertät. Er begann jetzt mit Nachdruck, seinen eigenen Weg im Leben zu suchen. Und der konnte verdammt steinig sein, wie sie aus eigener Erfahrung wusste. Als sie damals schwanger wurde ...
Unwillkürlich musste sie heftig schlucken. Verdammt!
“Dein Feuermal ist in keiner Weise beschissen“, meinte sie schließlich. “Im Übrigen möchte ich nicht, dass du solche Ausdrücke in den Mund nimmst. Sieh mal, es können nicht alle auf der Welt aussehen wie Hollywood-Schauspieler. Du hast eine Menge schöner Seiten, um die dich viele Menschen beneiden.“
Ellen machte eine kurze Pause. Sie musste sich konzentrieren. Gerade war die Mittagszeit vorbei, und der Verkehr in Nizza nahm wieder deutlich zu.
“Wenn wir daheim sind“, fuhr sie anschließend fort, “spreche ich mit einem Spezialisten. Die Lasertechnik ist heutzutage viel fortgeschrittener als damals. Vielleicht kann man da inzwischen etwas machen.“
“Ich will aber nicht, dass irgend jemand an mir herumschnippelt!“ begehrte der Junge auf. “Ich will, dass man mich so akzeptiert, wie ich bin.“
“Aber ...“, wollte Ellen widersprechen, doch Max fiel ihr ins Wort.
“Kein Aber. So wie ich bin. Basta!“
“Nun mach dir mal keine Gedanken nur wegen einer roten Stelle im Gesicht.“
Max beugte sich vor und betrachtete sich im Rückspiegel.
“Rote Stelle im Gesicht“, schnaubte er. “Dass ich nicht lache.“
Ellen schwieg. Der Junge war verunsichert, keine Frage. Er würde in Zukunft bestimmt noch häufiger an Leute geraten, die sich an seinem Aussehen störten. Ignoranten, Idioten oder einfach nur Menschen, die ihm seine Persönlichkeit neideten. Als sie Max zu sich nahm, hätte er in jedem drittklassigen Horrorfilm auf der Stelle die Hauptrolle bekommen. Bilder aus der Zeit vor seinen Gesichtsoperationen hatte sie ihm nie gezeigt. Sie besaß auch nur noch zwei oder drei Photos, und die waren gut versteckt. Plötzlich wirbelte der Junge in seinem Sitz herum. Sein Gesicht wirkte mit einem Mal wie versteinert.
“Irgendwann werde ich diese beschissenen Leute finden, die mich damals einfach weggegeben haben. Verlass dich drauf. Und dann gnade denen Gott.“
“Was macht dich eigentlich so sicher, dass dein Aussehen der Grund dafür war?“
Max hüllte sich in Schweigen. Ellen umklammerte das Lenkrad fester. Etwas in ihr tat höllisch weh.
“Nun, wie gefällt Ihnen das Anwesen?“ fragte der Makler, während er Ellen und Max die Treppe hinunter zum Wasser folgte. Zufriedenheit spiegelte sich in seinen Augen wieder. Endlich mal ein Kunde, der wirklich Geld auf dem Konto besaß. Und nicht nur so tat als ob. Er hasste diese dämlichen Touristen, die tagtäglich bei ihm anriefen und sich schicke Villen zeigen ließen, nur um wenigstens für ein paar Minuten den Duft der großen, weiten Welt zu schnuppern. Letztens hatte er eigens bis Roquebrune fahren müssen. Hinterher stellte sich heraus, dass der vermeindliche Interessent nur ein Foto von Cap Martin machen wollte.
“Was meinst du?“ fragte Ellen und tippte Max auf die Schulter.
“Nicht übel. Haben wir denn überhaupt so viel Geld? Der Schuppen wird ein Vermögen kosten.“
“Wir werden sehen“, lächelte sie. Dann wandte sie sich an den Makler.
“Wann steht das Haus zur Verfügung?“
“Im Prinzip sofort. Wegen der Außenanlage kann ich Ihnen weiterhelfen. Ich kenne da eine Firma, die arbeitet sehr zuverlässig.“
Er überlegte einen kurzen Moment.
“Sagen Sie“, fuhr er schließlich fort. “Sind Sie nicht die Frau, die den Millionengewinn in dieser bekannten deutschen Fernsehshow einstreichen konnte?“
“Hat sich das bereits bis Frankreich herumgesprochen?“ wunderte sich Ellen.
Der Makler nickte.
“Vielleicht bietet man dir ja beim französischen Fernsehen einen Job an“, meinte Max und warf einen Stein in die Wellen, die träge gegen die Felsen schlugen.
“Glaubst du, ich ziehe hierher, um zu arbeiten?“ lachte sie hell auf. “Das soll mein Feriendomizil und später mal mein Altersruhesitz werden.“
“Heißt das, wir nehmen die Hütte?“ Max fuhr hoch und wies auf das Haus.
“Die ‘Hütte‘, wie du dich auszudrücken pflegst“, unterbrach seine Mutter, “kostet immerhin zwei Millionen, mein Freund. Aber ich denke, wir nehmen das Haus.“
“Glückwunsch, Madame“, rief der Makler und reichte ihr die Hand. Ellen schlug nach kurzem Zögern ein.
“Aber erzählen Sie nicht überall herum, wer hier einzieht“, ermahnte sie den Mann. “Mein Sohn und ich möchten in Ruhe gelassen werden.“
Ein metallisches Klicken deutete an, dass die nächste Diktatkassette abgespult war. Sandra Landshoff beugte sich vor und wechselte sie seufzend gegen eine neue. Das würde wieder eine lange Nacht werden und den Speichervorrat ihrer Festplatte im Notebook einige zigtausend Kilobyte kosten. Dabei hatte sie Karin versprochen, sie an diesem Abend auf eine Vernissage zu begleiten. Ihre Freundin würde zu recht sauer auf sie sein. Doch der Job ging vor. Dr. Lichtenfeld erwartete Ergebnisse.
Zu Anfang hatte sie überhaupt keine rechte Lust verspürt, sich für diese verstockte und mitunter unnahbare Frau zu engagieren, doch inzwischen zog Ellen Graf sie immer mehr in ihren Bann. Vielleicht lag es auch daran, dass es sie schlichtweg faszinierte, wie es einer einfachen Ladenverkäuferin in so kurzer Zeit gelungen war, vom Aschenputtel zum viel beachteten Medienstar zu avancieren. Doch noch mehr interessierte es sie, endlich herauszufinden, wieso diese Märchenkarriere ausgerechnet mit einem Mord endete. Sie musste vorsichtig vorgehen. Ihr war aufgefallen, daß sich Ellen Graf inzwischen jeden Satz, den sie von sich gab, sehr genau überlegte. Es schien Sandra, dass die Geschichte langsam an den wirklich wunden Punkt im Leben ihrer Mandantin stieß. Und dennoch. Der Teufel sollte sie holen, wenn sie jetzt versagte!
“Wie ging es danach weiter? Was war eigentlich mit Max? Musste der nicht in die Schule?“
“Zum Glück waren Sommerferien.“ Ellen zündete sich eine Zigarette an.
Sie wirkte erschöpft. Ihre ehemals von erfahrener Hand gestylten Haare hatten ihren Glanz verloren. Von ihrer Frisur, mit der sie bis vor kurzem als Quizmasterin im Fernsehen aufgetreten war, ließ sich kaum noch etwas erahnen. Man alterte schnell im Untersuchungsgefängnis. Besonders dann, wenn Frauen wie Margret Zimmermann, die angeblich ihren Freund erschlagen haben sollte, zu den unmittelbaren Zellennachbarinnen gehörten.
Sandra überlegte einen kurzen Augenblick. Sie durfte keineswegs mit der Tür ins Haus fallen. Doch viel Zeit für Nachsicht mit dem Gefühlsleben ihrer Mandantin blieb nicht. Der erste Verhandlungstag rückte immer näher.
“Lassen Sie mich rekapitulieren“, meinte sie nach einer Weile. “Zu dieser Zeit besitzen Sie ein Penthouseappartement in Ihrer Heimatstadt und dieses Anwesen in der Nähe von Saint-Jean-Cap-Ferrat. Sie sind gesund, erfolgreich in ihrem neuen Beruf und verfügen zudem über ein siebenstelliges Vermögen. Starallüren sind Ihnen fremd. Auch dem Jungen geht es gut. Eigentlich hätten Sie mit Ihrem Leben doch sehr zufrieden sein müssen.“
Sandra schaute ihre Mandantin nachdenklich an. Tiefe, dunkle Ränder hatten sich unter deren müden Augen gebildet. Sie führte diese Tatsache auf den wenigen Schlaf und den Genuss des Alkohols zurück, den sie für Ellen ins Gefängnis schmuggelte.
“Natürlich. Aber wie‘s scheint, gibt es eben Zeitgenossen, denen der Erfolg und der Reichtum anderer ein Dorn im Auge ist.“
“Sie wurden erpresst“, warf Sandra dazwischen. Diese drei Worte sollten wie eine Behauptung klingen, weniger wie eine Frage.
Ellen nickte. “Das habe ich doch schon gesagt.“
“Wegen des vielen Geldes?“ hakte die junge Rechtsanwältin nach.
“Weswegen sonst?“ schnaubte ihre Mandantin und sog den Rauch der Zigarette tief in die Lungen.
“So weit kann ich durchaus folgen“, meinte Sandra, die ganz vergessen hatte, das Diktiergerät wieder anzuschalten. Sie holte es eilig nach. Ellen verfolgte ihre hastigen Handbewegungen mit scheinbar stoischer Gelassenheit.
“Was ich jedoch nicht verstehe, ist die Tatsache, dass Sie Ihren Erpresser deshalb umbringen. Himmel, Frau Graf! Für solche Idioten verfügt die Kripo über Spezialisten. Die hätten den schon festgenagelt. Spätestens bei der Geldübergabe.“
“Aber darum ging es doch gar nicht.“
Sandra kam es so vor, als wäre ihr dieser Satz versehentlich herausgerutscht, denn Ellen Graf biss sich anschließend ziemlich deutlich auf die Unterlippe.
“Worum ging es dann?“
Ellen winkte ab. “Machen wir Schluss für heute. Ich bin müde. Im Übrigen gibt es gleich den üblichen Schlangenfraß.“
Sie wollte sich bereits von ihrem Stuhl erheben, doch Sandra hielt ihre Mandantin am Ärmel zurück.
“Bleiben Sie noch“. Sie bemühte sich, die Ungeduld in ihrer Stimme nicht zu offensichtlich werden zu lassen. “Wir haben nicht mehr allzu viel Zeit, Frau Graf. Wenn ich wirklich vor Gericht etwas für Sie erreichen soll, dann dürfen wir nicht mehr trödeln. Der erste Verhandlungstermin ist für den kommenden Montag angesetzt. Ich kann doch nicht vor dem Richter erscheinen und ihm erklären, dass die Verteidigung mit ihrer Strategie noch vollkommen in der Luft hängt.“
“Das ist Ihr Problem.“ Mit einem Mal wirkte ihre Mandantin wieder genauso verschlossen und unnahbar wie zu Beginn ihrer Befragung. “Ich habe Sie schließlich nicht engagiert.“
Sandra konnte kaum glauben, was sie da hörte.
“Was meinen Sie damit, Sie hätten mich nicht engagiert?“
“So, wie ich es sage, meine Liebe“, entgegnete Ellen ungerührt. “Ich habe Sie nicht mit meiner Verteidigung beauftragt. Fragen Sie am besten in der Kanzlei nach. Vielleicht war es mein Produzent, vielleicht der Sender. Das glaube ich aber kaum, denn seit ich in Untersuchungshaft bin, hat sich von dieser sauberen Gesellschaft bisher noch niemand blicken lassen.“
Sandra machte sich hastig ein paar Notizen. Das gab es doch nicht! Ihr Chef setzte sie auf diesen Fall an, ohne sie zu informieren, dass seine Kanzlei von der Betroffenen gar nicht beauftragt worden war. Das wurde ja immer mysteriöser. Was ging hier vor? Die junge Rechtsanwältin überdachte rasch ihr weiteres Vorgehen. Heute war Freitag. An den Wochenenden fanden gewöhnlich keine Besuchstermine statt. Sie musste heute die entscheidenden Informationen erhalten, um dem Staatsanwalt bei der Beweisaufnahme wenigstens halbwegs Paroli bieten zu können.
“Erzählen Sie mir wenigstens, was es konkret mit der Erpressung auf sich hatte“, forderte Sandra ihr Gegenüber auf. “Wie kam es zu dem Kontakt? Was wollte der Kerl genau von Ihnen?“
Ellen starrte zunächst auf die halb geleerte Cognacflasche und zündete sich ganz in Gedanken versunken eine Zigarette an. Schließlich hob sie den Kopf.
“Ich habe Hunger. Können Sie nicht etwas Ordentliches zu essen bestellen?“
Sandra nickte erleichtert. Ein gemeinsames Essen würde bestimmt die Stimmung heben. Rasch griff sie zu ihrem Handy und rief die Anstaltsleitung an.
“Ein Menü aus dem Restaurant oder etwas vom Pizzadienst?“ fragte sie, während sie sich das Handy ans Ohr hielt.
“Pizza ist okay“, brummte Ellen. “Ich bin nicht verwöhnt.“
Sandra schauderte zwar bei dem Gedanken, sich eine dieser gewöhnlich nur halbgar angelieferten Teigfladen einverleiben zu müssen, aber der Fall ging vor. Sie gab entsprechende Weisung an das Gefängnispersonal. Eine halbe Stunde später standen zwei flache Kartons auf dem Tisch. Während Sandra in dem Belag nur herumstocherte, langte Ellen ungeniert zu.
“Wissen Sie was? Das war die beste Pizza, die ich in all den vergangenen Jahren gegessen habe. Sie haben bei mir was gut. Und vergessen Sie die ‘Frau Graf‘, Sandra. Nennen Sie mich ruhig Ellen.“
Kurz danach fuhr Ellen Graf mit ihrem Bericht fort.
Die Tür flog förmlich auf, und eine der Produktionsassistentinnen stürmte aufgeregt in ihr Büro.
“Haben Sie schon gelesen?“ keuchte sie und hielt geradezu triumphierend mehrere Blätter mit Statistiken in die Höhe. “Zehn Prozent Zuschauerbeteiligung anlässlich der letzten Ausstrahlung. Coca-Cola fragt bereits an, ob wir anstatt zwei gleich drei Werbeeinblendungen ermöglichen können.
“Darum soll sich Bergmann vom Sender kümmern“, erwiderte Ellen und nahm die Schriftstücke in die Hand. Sie überflog die mit einem neonfarbenen Marker hervorgehobenen Stellen nur flüchtig. “Das ist nicht unser Job.“
Die junge Frau nickte. Als Ellen wieder allein in ihrem Büro saß, nahm sie den Hörer zur Hand und wählte den Anschluss des Senders. Kurz darauf meldete sich Peter Bergmann, der Verantwortliche für die Werbeplatzierungen.
“Hi, Peter“, begrüßte sie ihn. “Was höre ich? Es gibt much problems mit einem unserer größten Kunden?“
“Die Werbepausen reichen einfach nicht aus“, beklagte sich Bergmann. “Wenn wir die üblichen fünf Minuten überziehen, dann zappen die Leute weg. Das haben unsere Klienten nicht so gerne.“
“Okay. Dann schmeißt diesen blöden Spot von ‘Aktuell‘ raus!“
Bergmann lachte. “Immer noch sauer wegen der damaligen Hetzkampagne?“
“Ich bin nicht sauer“, antwortete Ellen mit gleichgültiger Stimme. “Jeder erledigt seinen Job, so gut er kann. Denen war damals halt eine Schlagzeile wichtiger. Aber wir müssen jetzt an uns denken, Peter. Wenn du mich fragst, schmeiß den verdammten Werbespot von ‘Aktuell‘ raus! Und falls die dich nach dem Grund fragen: Wegen mir brauchst du nicht zu lügen.“
Bereits an diesem Abend gab es für den großen amerikanischen Softdrinkhersteller mehr Sendezeit. Und bei ‘Aktuell‘ wurde ein gewisser Klatschseiten-Redakteur gefeuert.
Die Erkennungsmelodie wurde einen Tick leiser.
“Guten Abend, meine Damen und Herren!“ ertönte es aus den zahllosen Deckenlautsprechern. “Willkommen bei ‘Euroquiz‘. Und hier ist Ihre Gastgeberin und Moderatorin: Ellen Graf!“
Der Beifall hunderter klatschender Hände und ebenso viel auf den Studioboden trommelnder Füße schwoll an. Der Tontechniker musste nicht für einen Moment den Applausverstärker einschalten.
“Guten Abend“, lächelte Ellen und verbeugte sich leicht. Erneut schwoll das Fußgetrappel an. “Danke, meine Damen und Herren. Vielen Dank.“
Ellen kam nicht dazu, ihre Ansage zu beenden. Gleichzeitig warf sie einen hilfesuchenden Blick zu den beiden Bühnenseiten, wo Ihre ‘Einpeitscher‘ offenbar einige Mühe hatten, beruhigend auf das Publikum einzuwirken. Kopfschüttelnd lachte sie in den Zuschauerraum.
“Ich bitte Sie, meine Damen und ...“
Weiter kam sie nicht. Der Applaus schwoll erneut an.
Ellen hob die Arme.
“Bitte, meine Damen und Herren!“ verschaffte sie sich mit deutlich erhobener Stimme Gehör. “Denken Sie an unsere Kandidaten. Die wollen auch noch dran kommen.“
Ein lautes Lachen folgte; danach wurde es schlagartig still. Ellen begab sich an ihr Moderatorenpult. Das erste, was sie bei ‘Euroquiz‘ abgeschafft hatte, waren die unbequemen Sessel, in denen sich Moderator und Kandidat Auge in Auge gegenüberhockten. Bei ihr nahm der jeweilige Mitspieler auf einem Drehpodest Platz, das sich bei Spielbeginn langsam in Bewegung setzte, damit er für jeden Zuschauer im Studio zumindest hin und wieder auch von vorne zu sehen war. Die Kameras waren so montiert, dass sie den Kandidaten aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufnehmen konnten. Sie hingegen blieb an ihrem Pult stehen und beschränkte sich auf das Verlesen der Fragen und das Kommentieren der Antworten. Für Ellen war der Kandidat die Hauptperson in ihrer Sendung.
Sie sah hinreißend aus in dem streng geschnittenen Kostüm mit dem relativ kurzen Rock und der Jacke im Kapitänsstil. Die hochhackigen Schuhe ließen sie größer erscheinen, das rotblonde Haar umrahmte leicht gewellt und perfekt gestylt ihr Gesicht. Der Ausschnitt ihrer Bluse ließ gerade nur soviel Brustansatz erkennen, dass sich kein Vertreter konservativer Religionsgemeinschaften beschweren konnte. Dafür jedoch wirkten ihre hellrot geschminkten Lippen umso verführerischer auf den Betrachter. Kein Wunder, denn es war längst kein Geheimnis mehr, dass sie erst unlängst einen gut dotierten Werbevertrag mit einem französischen Kosmetikunternehmen abgeschlossen hatte.
“Heute freue ich mich besonders auf das Quiz“, fuhr sie schließlich fort. “Zum einen, weil es sich um die fünfzigste Sendung handelt, ...“
Für kurze Zeit brandete erneut Applaus auf.
“... zum anderen, weil sich wieder einmal ein prominenter Mitspieler gemeldet hat. Meine Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir ...“
Der Großbildschirm, der den Beginn der Aufzeichnung ihrer Galapremiere zu Ehren der fünfzigsten Show gezeigt hatte, verlosch. Ellen nippte an ihrem Wasserglas.
“Wie fühlt man sich“, erkundigte sich Heinz Steller, Moderator einer bekannten deutschen Freitagnacht-Talkshow, “wenn man den Gipfel des Erfolgs erreicht hat?“
Ellen schmunzelte. “Habe ich den denn schon?“
Ein unterdrücktes Lachen ging durch das Publikum.
“So war das nicht gemeint.“ Steller nickte ihr auffordernd zu. “Dann jedoch erlauben Sie mir die Frage: Was wollen Sie noch alles erreichen? Sie sind einundvierzig Jahre alt, haben in kürzester Zeit geradezu eine Bilderbuchkarriere hingelegt und moderieren inzwischen eine der Einschaltquoten-stärksten Sendungen im deutschen Fernsehen. Nur Thomas Gottschalk und Bernd Gerber können sich momentan noch über höhere Zuschauerbeteiligungen freuen.“
“Sehen Sie“, lächelte Ellen. “Der Gipfel ist also noch längst nicht erreicht.“
Erneut hatte sie die Publikumslacher auf ihrer Seite. Ellen musste aufpassen, was sie sagte. Erstens war Heinz Steller ein knallharter Bursche, wenn es darum ging, Leute während seiner Talkshow auszuquetschen. Zweitens gehörte seine Talkshow zum Programmpaket ausgerechnet des Senders, der auch Gerbers Sendung ausstrahlte. Trotzdem hatte sie nicht widerstehen können, dessen Einladung anzunehmen. Schon alleine deshalb nicht, weil Steller im Ruf stand, ein enger Freund von Gerber zu sein.
“Haben Sie vor, Bernd Gerber den Erfolg streitig zu machen?“ fuhr er fort. “Das wird er aber gar nicht gerne hören.“
“Was er gerne hört und was nicht, steht für mich nicht zur Debatte“, konterte Ellen. “Er hat seine Show, ich die meine. Immer nur die Einschaltquoten im Auge zu haben, lähmt jede Sendung. Man muss auch mal andere Wege gehen.“
“Interessant“, entgegnete ihr Gesprächspartner mit leisem, aber unüberhörbarem Spott in der Stimme. “Wenn man bedenkt, daß Bernd Gerber mehr als doppelt soviel Sendungen wie Sie moderiert hat und seine Show zu den europäischen Top Ten zählt.“
“Davon werden die aber auch nicht besser“, entfuhr es Ellen.
Das Publikum klatschte beipflichtend. Steller verzog keine Miene. Dafür war er viel zu sehr Profi.
“Okay“, meinte er anschließend. “Sprechen wir lieber von Ihnen. Ich habe Sie schließlich nicht eingeladen, um mit Ihnen über Bernd Gerbers Erfolg zu diskutieren. Erzählen Sie mir mehr von sich. Ich hörte, Sie waren vor Ihrem ersten Auftritt bei Matthias Lutze Drogeriemarktverkäuferin? Kann man sich in diesem Job überhaupt soviel Wissen aneignen? Das dürfte die Handelskammer und die Gewerkschaften aber freuen, zumal in diesem Bereich momentan ein Stellenüberangebot herrscht.“
“Ich bin nicht als Verkäuferin zur Welt gekommen“, lächelte Ellen und nippte erneut an ihrem Wasserglas. Ein doppelstöckiger Cognac wäre ihr lieber gewesen, aber die Zeiten, da man vor laufender Kamera ungeniert Alkohol trinken durfte, waren längst Geschichte. Ich sollte ohnehin nicht soviel trinken, schalt sie sich insgeheim. Früher gab es höchstens mal ein Glas Rotwein, und inzwischen stapelten sich bereits die leeren Flaschen daheim im Abfallcontainer.
“Ich besuchte gute Schulen und erhielt überdies eine vorzügliche Berufsausbildung“, fuhr sie fort. “Auch mein zunächst ausgeübter Job war anspruchsvoll. Na ja, und wenn man sich ein bisschen um das eigene Kind und dessen Schulausbildung kümmert, dann bleibt halt einiges hängen. Nehmen Sie nur die denkwürdige Sendung bei Bernd Gerber. Einen Teil seiner Fragen konnte ich nur deshalb beantworten, weil ich die Schulbücher meines Sohnes durchgelesen habe.“
“Als einfache Verkäuferin hat man hierfür natürlich Zeit“, meinte Steller mit wohldosiertem Spott in der Stimme.
“Was heißt hier ‘einfache Verkäuferin‘?“ erwiderte Ellen, ohne jedoch ihre Stimme auch nur eine halbe Oktave zu heben. “Glauben Sie, dass ich seinerzeit im Laden Gelegenheit hatte, Bücher zu lesen? Nein, das habe ich während meiner Freizeit gemacht. Anderen Alleinerziehenden empfehle ich das auch. Es erleichtert den Umgang mit Jugendlichen ungemein, wenn man ihnen ein Vorbild sein kann. Und sei es nur, dass sie einen um Rat fragen können.“
Ein zustimmendes Raunen ging durch das Publikum. Steller nickte beipflichtend.
“Kommen wir ruhig einmal auf Ihren Sohn zu sprechen. War er es nicht, der mit seinem Anruf bei einer Telefon-Hotline den eigentlichen Stein ins Rollen brachte?“
Ellen lächelte warm. “Ja, das stimmt. Dieser Schlingel. Ich hatte es ihm streng verboten. Und heute muss ich ihm für seinen Ungehorsam sogar dankbar sein.“
“Erzählen Sie uns doch noch etwas mehr über den Jungen“, hakte Steller nach. “Es ist ja ein etwas ungewöhnlich aussehender junger Mann.“
“Mein Sohn sieht keineswegs ungewöhnlich aus.“ Unwillkürlich nahm ihre Stimme einen harten Klang an. “Max ist groß, muskulös und sehr sportlich. Er besitzt auch keine zwei Köpfe oder drei Arme. Zugegeben, er trägt seit Geburt ein so genanntes Feuermal im Gesicht. Ich sehe diese Hautverfärbung schon gar nicht mehr. Sie gehört zu ihm so wie zu Ihnen das schon deutlich schütter werdende Haar.“
Steller packte sich unwillkürlich an die Stirn; das Publikum lachte.
“Ich werde nur, wie in jüngster Zeit leider geschehen, ziemlich ungeduldig“, fügte sie unnachgiebig hinzu, “wenn ihm Pressefotografen nachstellen, um ihre Klatschblätter mit Fotos von seinem Gesicht zu füllen. Wenn man einen Menschen allein auf ein bestimmtes Körperteil reduziert und es marktschreierisch dem Publikum präsentiert, ohne dass sich derjenige dagegen wehren kann, dann ist das menschenverachtend.“
Erneut zustimmendes Raunen im Publikum.
“Es ist nicht ihr leiblicher Sohn, nicht wahr?“ bemerkte ihr Gegenüber. “Ich hoffe, Sie betrachten es nicht als vermessen, wenn ich Sie danach frage, was Sie seinerzeit dazu veranlasst hat, Ihren damaligen Job aufzugeben und sich einem wildfremden Kind zu widmen.“
Ellen ließ ihren Blick durch das Publikum schweifen. Das kleine Studio war bis zum letzten Platz besetzt. Bei Heinz Stellers Freitagnacht-Talkshow brauchten sich die Ticketverkäufer nicht an die Strassenecke zu stellen. Die Eintrittskarten gingen auch so weg wie warme Semeln. In der zweiten Reihe von vorne entdeckte sie ein Gesicht. Ein breites, glatt rasiertes Gesicht, aus dem zwei listige Schweinsäuglein hervorstachen. Diese beiden Augen hafteten regungslos auf ihr. Ellen bemühte sich, den Zuschauer nicht mehr weiter zu beachten.
“Da gibt es wenig zu sagen“, fuhr sie schließlich fort. “Sehen Sie, ich war jung und ungebunden. Ich trug bis dahin nur Verantwortung für mich selber. Als ich Max das erste Mal sah, wusste ich sofort, dass er mein Leben verändern würde. Und das hat er auch. Mehr als diese fünf Millionen Euro.“
“Ich fürchte, Sie haben diese Frage schon häufig gestellt bekommen. Wieso ausgerechnet ein Pflegekind? Ich meine, Sie sehen gut aus, sind redegewandt und intelligent. Warum haben Sie nie an Heirat gedacht, um eigene Kinder zu bekommen?“
“Vielleicht habe ich nicht den Richtigen gefunden?“ antwortete sie trocken. “Das soll vorkommen. Denken Sie nur an die Single-Show, die jeden Nachmittag über ihren Sender geht. Jeden Monat melden sich dort Hunderte von Menschen an, um einen Partner zu finden. Und die sind auch gut aussehend, redegewandt und intelligent.“
Unwillkürlich schweifte ihr Blick erneut ins Publikum ab. Immer noch starrte sie der Unbekannte an. Es schien so, als würde er jedes ihrer Worte geradezu gierig in sich aufsaugen.
“Selbstverständlich“, pflichtete ihr Steller hastig bei. “Und was ist heute? Gibt es momentan einen Mann an Ihrer Seite?“
“Natürlich.“
Die Augen des Moderators erhellten sich.
“Wer?“ fragte er knapp.
“Max, mein Sohn“, kam es ebenso knapp zurück.
Instinktiv suchte sie erneut Blickkontakt zu diesem merkwürdigen Zuschauer. Der Mann war ihr auf den ersten Blick unsympathisch. Wer mochte das sein? Ellen überlegte. Das Gesicht hatte sie noch nie zuvor gesehen. Oder doch? Erinnere dich. Wer kann das sein? Ein ehemaliger Kunde aus dem Drogeriemarkt? Sie erinnerte sich nicht. Vielleicht täusche ich mich auch, versuchte sie sich zu beruhigen. Das ist ein ganz gewöhnlicher Zuschauer, der seine fünfzig Euro Eintritt bezahlt hat und jetzt auch etwas sehen will für sein Geld. Aber dennoch. Wieso mustert mich der Kerl wie ein Staatsanwalt einen landesweit bekannten Straftäter?
“Verstehe“, meinte der Moderator und suchte nach einem neuen Gesprächsfaden. “Sie leben ziemlich zurückgezogen, nicht wahr? Ihr Penthouse-Appartement an der Oper besitzt angeblich gar kein Klingelschild, und Ihr Haus in Saint-Jean-Cap-Ferrat soll ja auch recht abgeschieden liegen.“
“Nicht abgeschiedener als andere auch“, brummte sie.
Es ärgerte Ellen, dass ihr Gastgeber vor bestimmt fünf Millionen Fernsehzuschauern herausposaunte, wo sie überall wohnte. Da konnte sie ja gleich eine Annonce im ‘Aktuell‘ aufgeben. Erneut fiel ihr Blick auf den Zuschauer mit den stechenden Augen. Für einen kurzen Augenblick huschte ein fast unmerkliches Grinsen über sein Gesicht. Sie erstarrte. Zum ersten Mal, seit sie im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand, ersehnte Ellen das Ende einer Talkshow herbei.
“War das der Mann?“ fragte Sandra. “War er das spätere Opfer?“
Ellen nickte. Sie sah müde aus. Inzwischen war es ziemlich spät. Auch die Anstaltsleitung hatte bereits mehrmals nachgefragt, wann die Unterredung endlich zu Ende sei.
“Was trieb den Mann ausgerechnet in diese Talkshow?“ wunderte sich ihre Strafverteidigerin. “Den polizeilichen Ermittlungsergebnissen zu Folge war er Ausländer, stimmt‘s?“
“Belgier, um es genau zu sagen“, entgegnete Ellen. “Ich nehme an, er interessierte sich bereits seit geraumer Zeit für mich.“
“Wann haben Sie ihn das erste Mal getroffen?“
“Eine Woche später in Saint-Jean. Die Firma, die für die Außenanlagen zuständig ist, rief eines Tages bei mir an. Angeblich hatte jemand versucht, sich Zutritt zu dem Gelände zu verschaffen. Das Tor sei aufgebrochen, und auch an der Haustür seien Einbruchsschäden zu verzeichnen. Ich flog also sofort nach Südfrankreich, um mich nach einem geeigneten Security-Dienst umzuschauen.“
“Und da tauchte dieser Kerl auf.“ Sandras Stimme wurde ganz heiser vor Erregung.
“Stimmt. Ich wollte im Ort ein paar Sachen einkaufen, als ich in Höhe der Kirche dicht beim Hafen angesprochen wurde. Der Kerl sprach zwar deutsch, aber mit einem deutlichen Akzent. Und der wechselte hin und wieder zwischen flämisch und französisch. Nicht ungewöhnlich für einen Belgier.“
“Was wollte er von Ihnen? Ich meine, er wird Sie doch wohl nicht auf offener Straße auf das Geld angesprochen haben.“
Ellen hüllte sich für einen Moment in Schweigen. Du musst jetzt sehr, sehr vorsichtig sein, ermahnte sich Sandra im Stillen. Wenn du sie jetzt drängst, dann schaltet sie bestimmt auf stur. Sie ist müde und ausgelaugt. Wenn Ellen in dieser Verfassung das Gefühl bekommt, überrumpelt zu werden, dann blockt sie ab. Und du kannst sehen, wie du am Montag mit dem Staatsanwalt fertig wirst.
“Er meinte, er müsste geschäftlich mit mir reden“, fuhr ihre Mandantin zögernd fort. “Ich winkte ab und machte ihm klar, dass ich Geschäftliches nur daheim in Deutschland bereden würde, wo mir Anwälte und Medienberater zur Verfügung stünden. Doch der Mann bedeutete mir, dass es bei dem Geschäft, das er mir vorzuschlagen gedachte, keinesfalls um meine Sendung ginge. Er schlug mir eine ganz besondere Unfallversicherung für meinen Sohn vor.“
Sandra fiel auf, dass Ellens Vortrag mit jedem Wort bitterer wurde.
“Eine Unfallversicherung? Der Mann war Versicherungsvertreter?“
“So könnte man es auch nennen“, lachte Ellen, doch ihr Lachen klang hohl. “Wir setzten uns in eine Bar unmittelbar über dem Hafen, und ich hörte mir seinen Vorschlag an. Der Kerl war mir zwar unsympathisch. Andererseits ging es jedoch um den Jungen. In dessen Alter schien mir eine Unfallversicherung gar keine so schlechte Idee.“
“Wie hoch sollte die Prämie sein?“ fragte Sandra und hielt unwillkürlich die Luft an.
“Zwei Millionen Euro“, antwortete Ellen knapp.
Sandra begriff schlagartig. “Er benutzte also Max als Druckmittel für seine Erpressung?“
“Perfide, nicht wahr?“ bestätigte Ellen. “Der Kerl blieb übrigens völlig cool. Sogar als ich ihn zwischendurch anbrüllte und ganz übel beleidigte. Er schien mit einer solchen Reaktion gerechnet zu haben.“
“Mafia?“ Sandra spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden.
“Dachte ich zunächst auch“, entgegnete ihre Mandantin. “Erpressung von Prominenten ist schließlich genau deren Handschrift. Deshalb beschloss ich auch, zunächst nichts gegen den Mann zu unternehmen. Das hätte Max, der sich daheim aufhielt, nur in Gefahr gebracht. Ich rief anschließend das Produktionsteam an und bat eine Mitarbeiterin, bei dem Jungen daheim auf mich zu warten. Ich selbst setzte mich in den nächsten Flieger. Zum Glück hatte ich das Auto nicht dabei.“
“Wie reagierte der Typ?“ wollte Sandra wissen.
“Sie werden es nicht glauben“, meinte Ellen nach kurzem Nachdenken. “Der nickte bloß und meinte, er würde sich wieder melden.“
“Was er dann wohl auch getan hat, nicht wahr?“
“Was er dann auch getan hat“, bestätigte Ellen.
“Aber wieso, um alles in der Welt, haben Sie ihn umgebracht? Und was bedeutet Ihr Hinweis von vorhin, um das Geld alleine ging es doch angeblich gar nicht?“
Ellen schwieg. Sandra warf einen verstohlenen Blick auf ihre Armbanduhr. Gleich lief die Frist ab, die ihr die Anstaltsleitung zur Befragung ihrer Mandantin gesetzt hatte. Draußen war es inzwischen stockfinster. Sie musste sich etwas einfallen lassen. Rasch.
“Selbst wenn Sie ihm die zwei Millionen ausgehändigt hätten, wäre das für Sie immer noch keine Katastrophe gewesen. Sie besaßen einen Spitzenjob als Moderatorin einer äußerst erfolgreichen Quizsendung.“
“Wer sagt Ihnen eigentlich, dass ich ihm das Geld nicht gegeben habe?“
“Oh, Himmel!“ stöhnte Sandra. “Sie sind seinen Forderungen nachgekommen?“
“Ja.“
“Und was passierte dann? Wollte er mehr?“
“Natürlich. Kurz nachdem ich ihm das Geld ausgehändigt hatte, erhielt ich einen Brief, demzufolge sich die Prämie für Max‘ Unfallversicherung leider erhöht habe. Der Kerl forderte weitere zwei Millionen. Anscheinend wusste er genau, wieviel das Anwesen in Saint-Jean wert war. Ich reagierte nicht. Kurz darauf hatte Max einen Verkehrsunfall.“
“Was ist passiert?“ platzte es aus Sandra heraus. Ihr Mund war inzwischen staubtrocken. Hastig goss sie sich ein Glas mit Cognac voll.
“Nichts Tragisches.“ Ellen winkte ab. “Ein Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Ein Auto touchierte Max auf seinem Fahrrad. Zum Glück blieb es bei ein paar Schrammen.“
“Sind Sie zur Polizei gegangen?“
“Wollte ich. Doch als ich mit dem Jungen vom Arzt zurückkehrte, lag bereits das nächste Schreiben dieses ‘Versicherungsunternehmens‘ im Briefkasten. Der Absender stellte ostentativ fest, dass der Versicherungsschutz unverzüglich erlosch, falls ich mit meiner Prämienzahlung nicht fristgerecht nachkäme oder mich in sonstiger Weise nicht vertragsgemäß verhielte. Man verlor übrigens kein Wort über den Unfall. Aber ich wusste auch so, wer dahinter steckte.“
“Was meinte Max zu allem?“
“Max war lediglich sauer, dass sein neues Mountainbike kaputt war“, entgegnete Ellen.
“Was taten Sie?“
“Ich habe einen Kredit aufgenommen und ganz zum Missfallen meines Sohnes das Haus in Südfrankreich zum Verkauf gestellt und zudem auch noch mein Penthouse-Appartement in einen regelrechten Hochsicherheitstrakt verwandelt. Ich denke, er versteht bis heute nicht, warum seine Mutter plötzlich so verändert reagierte. Schließlich war ich nur Quizmasterin und nicht der Außenminister.“
“Besitzen Sie eigentlich noch die beiden Liegenschaften?“ fragte Sandra.
“Nein“, erwiderte Ellen. “Haus und Wohnung hat die Bank gleich als Sicherheit für den Kredit einbehalten. Schließlich habe ich, seit ich in Untersuchungshaft bin, kein festes Einkommen mehr.“
“Das heißt also“, rekapitulierte Sandra, “dass Sie im Augenblick praktisch an genau derselben Stelle angelangt sind wie vor Ihrem Karrieresprung.“
“Nicht ganz“, verneinte Ellen. “Vorher hatte ich wenigstens einen Job. Als Drogeriemarktverkäuferin.“
Sandra dachte für einen kurzen Moment nach. Ihr war ein Verdacht gekommen.
“Könnte es sein, dass Gerber, Lutze oder jemand von ‘Aktuell‘ dahinter steckt?“
“Wer weiß?“ Ellens Lächeln wirkte unecht.
Aufstöhnend sank die junge Rechtsanwältin zurück auf ihren Stuhl. Sie schloss die Augen, um besser nachdenken zu können. Das gab es doch nicht! Da lässt sich eine erfolgreiche und hochintelligente Frau erpressen und mir nichts, dir nichts um ihren gesamten Besitz bringen, und sie tut nichts anderes, als den gestellten Forderungen nachzukommen. Da stimmt doch was nicht!
“Sie sind folglich noch einmal mit diesem Typen aus der Talkshow zusammengekommen“, resümierte Sandra weiter. “Welchen Grund gab es dafür?“
“Noch mehr Geld“, erwiderte Ellen mit tonloser Stimme.
“Das glaube ich nicht!“ Sandra sprang auf. “Nein, tut mir Leid, Ellen, das glaube ich Ihnen nicht! Jeder halbwegs vernünftige Erpresser weiß, dass er sein Opfer nur unberechenbar macht, wenn man es so in die Enge treibt. Und so, wie der Kerl vorging, ist davon auszugehen, dass es sich kaum um einen Menschen handelte, der seinen Namen nicht richtig schreiben konnte. Wozu also Forderungen ins Unermessliche steigern? Er brachte sich doch nur selbst in Gefahr. Irgendwann musste er damit rechnen, dass Sie sich professionelle Hilfe suchen. Sei es bei einem Privatdetektiv oder bei der Kriminalpolizei.“
Ellen Graf blickte starr an ihr vorbei. Sandra hörte bereits die Schritte des Wachpersonals auf dem Gang. Mist! Ihr blieb kaum noch Zeit.
“Also doch jemand, der es in erster Linie gar nicht auf Ihr Geld abgesehen hatte, sondern Sie eher vernichten wollte? Steckt vielleicht dieser Konrad Gutfried dahinter?“
Ihre Mandantin antwortete nicht. Als sie von der Schließerin abgeholt wurde, packte Sandra ihre Mandantin am Ärmel ihrer Anstaltsbekleidung.
“Ich bekomme es schon noch heraus, Ellen!“ zischte sie halblaut. “Ob Sie mir nun helfen oder nicht.“
15
“Ich glaube, du spinnst!“ schimpfte eine Stimme aus dem Hintergrund. “Kannst du eigentlich noch etwas anderes, als immer nur arbeiten?“
Sandra hob nicht einmal den Kopf. Seit den frühen Morgenstunden saß sie im Wohnzimmer, das Notebook auf dem Schoß, und studierte ihre gespeicherten Aufzeichnungen. Sie war früh aufgewacht und hatte einfach keinen Schlaf mehr finden können. Ellen Grafs Geschichte verfolgte sie inzwischen schon in ihren Träumen.
“Was nun?“ brummte Karin und stellte sich mit in die Hüften gestemmten Fäusten in den Türrahmen. “Machen wir nun den Ausflug, oder willst du bei dem tollen Wetter schon wieder auf der Bude hocken?“
Sandra drehte sich zu ihr um. Sie war erschöpft, müde, aber sie fand einfach keine Ruhe. Tabletten wollte die junge Frau keine nehmen. So etwas war ihr zuwider.
“Ich weiß noch nicht“, murmelte sie und widmete sich erneut ihren Aufzeichnungen.
“Dann mach doch was du willst!“ schimpfte Karin und stürmte zurück in den Flur. “Ich schnappe mir jedenfalls meine Maschine und fahre ins Grüne. Ein paar von den Mädels kommen auch mit.“
“Okay“, antwortete Sandra mit leiser Stimme. Es hatte keinen Zweck, dass sie mitfuhr. Sie hätte die Fahrt nicht genießen können und ihrer Freundin nur den Spaß verdorben.
Krachend fiel die Haustür ins Schloss. Sandra erhob sich seufzend und schlich in die Küche, um sich einen Orangensaft zu holen. Dabei fiel ihr Blick auf die aktuelle Tageszeitung. Die Schlagzeile auf der ersten Seite sprang ihr förmlich ins Auge.
“Mordprozess wird verschoben!“
Mit zitternden Händen nahm Sandra die Zeitung in die Hand und überflog die wenigen Zeilen.
“Wie noch kurz vor Redaktionsschluss bekannt wurde, hat die unter Mordverdacht stehende Ellen Graf, die beschuldigt wird, einen Mann kaltblütig erstochen zu haben, einen Selbstmordversuch verübt. Die ehemalige Fernsehmoderatorin, die seinerzeit als einfache Drogeriemarktverkäuferin durch enormes Wissen in verschiedenen Quizsendungen Furore machte, soll sich dem Vernehmen nach mit Glasscherben die Pulsadern aufgeschnitten haben. Näheres gab die Staatsanwaltschaft aus ermittlungstaktischen Gründen nicht bekannt. Frau Graf wurde in die Unfallklinik eingeliefert. Ob sie durchkommen wird, darüber wollte sich der behandelnde Chirurg nicht äußern.“
Sandra riss ihr Handy aus der Ladestation und versuchte ihren Chef zu erreichen, doch seine Frau teilte ihr mit, er sei mit wichtigen Mandanten zur Jagd gegangen. Die junge Frau stürmte ins Schlafzimmer, schlüpfte in Jeans und Sweatshirt, schnappte sich Papiere und Wagenschlüssel und sah zu, dass sie nach unten kam. Sie musste jetzt unbedingt mit ihrer Mandantin reden. Als hätte ich es geahnt, durchfuhr es sie, während sie die Stufen hinunterhastete. Bei dem Mord geht es um viel mehr als nur um Erpressung. Da steckte etwas ganz anderes dahinter. Nur was? Das war hier die Preisfrage. Aber sie musste es herausbekommen. Der Grund für Ellen Grafs Suizidversuch war gleichzeitig der Schlüssel zu diesem Fall, an dem sie gerade arbeitete. Als sie die Haustür aufriss, stolperte sie förmlich über ihre Freundin. Karin lehnte gegen die Türeinfassung, eine halb aufgerauchte Zigarette in der Hand. Ihre Freundin schaute sie verblüfft an.
“Ach, nee. Kaum bin ich aus dem Haus, kommst du in die Puschen.“
“Rede keinen Unsinn“, murmelte Sandra und schob die Frau in der Motorradjacke beiseite. “Ich muss weg.“
“Wohin?“ erkundigte sich Karin, und hielt die Jüngere am Ärmel ihres Sweatshirts zurück. “Gibt es da etwa eine andere ...?
“Jetzt spinnst du aber wirklich!“ fauchte Sandra ganz gegen ihr sonst eher ruhiges Naturell und wischte die Hand, die sie festhielt, beiseite. “Ich muss in die Unfallklinik.“
“Herrje! Was ist passiert? Hast du dich verletzt? Warum rufst du keinen Arzt?“
“Eine meiner Mandantinnen hat versucht, sich das Leben zu nehmen“, erklärte sie ihrer Freundin, während sie bereits zum Wagen lief. Karin folgte ihr.
“Diese ehemalige Quizmasterin, die irgend so einen Kerl auf dem Gewissen hat?“
“Ja, doch“, keuchte Sandra und schwang sich bereits hinter das Lenkrad ihres Sportwagens.
“Nun mach schon die Tür auf!“ meinte die Frau mit den kurz geschnittenen Haaren ungeduldig. “Glaubst du, ich lasse dich jetzt alleine in der Gegend herumfahren? Du bist ja vollkommen aus dem Häuschen.“
Sandra war ihrer Freundin unendlich dankbar für die zumindest moralische Unterstützung. Sie hasste Krankenhäuser wie die Pest.
“Lassen Sie mich jetzt endlich mit meiner Mandantin sprechen!“ verlangte Sandra. Doch zum wiederholten Mal schüttelte die Stationsschwester nur den Kopf.
“Und wenn Sie der Papst persönlich wären. Ich sage nein! Die Patientin liegt ohnehin noch in Narkose. Sie müssen schon auf den Oberarzt warten.“
“Wird Frau Graf durchkommen?“ fragte Sandra weiter.
Die Frau in dem weißen Kittel wurde ungeduldig. “Weiß ich nicht. Das wird Ihnen alles der Oberarzt sagen.“
“Blöde Ziege!“ schimpfte Karin und ließ sich schwer atmend auf einen der Besucherstühle im Wartezimmer fallen. “Immer dasselbe mit den Heteros.“
Sandra winkte ab. “Glaubst du, wenn die eine von uns wäre, hätte die anders reagiert? Keine Spur! Wenn ich bloß wüsste, warum Ellen das gemacht hat.“
“Nennst du sie jetzt schon beim Vornamen?“ wurde die Ältere misstrauisch.
“Hör endlich mit deiner dämlichen Eifersucht auf!“ fuhr Sandra ihre Freundin an. “Das ist ja nicht zum Aushalten. Ja, natürlich! Ich habe den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als fremdzugehen. Auch im Untersuchungsgefängnis. Da ist es ja so schön lauschig.“
“Die Versuchung lauert überrall“, erwiderte Karin eingeschnappt. “Gerade im Knast. Alles geile ...“
“Nun ist es aber genug!“ fuhr ihr Sandra über den Mund. “Wenn du nur mitgekommen bist, um mich zu nerven, dann fahr lieber mit den Mädels ins Grüne. Mir macht das jedenfalls nichts aus.“
Karin schwieg betreten. Zwar spielte sie nach außen hin gerne die knallharte Macho-Braut, aber im tiefsten Grunde ihres Herzens war sie unsicher und verletzlich. Karin hatte schon eine Menge gescheiterter Beziehungen hinter sich. Sie war unendlich froh, endlich eine so einfühlsame und tolerante Lebensgefährtin gefunden zu haben. Gerade die offensichtlichen Gegensätze, die sich zwischen ihr und Sandra auftaten, machten ein Zusammenleben mit ihr jeden Tag aufs neue so prickelnd und spannend. Karin hatte lange nach einem solchen Mädchen suchen müssen. Kein Wunder, dass sie jedem Kontakt ihrer Freundin mit Frauen, die sie selbst nicht kannte, skeptisch und mitunter sogar eifersüchtig gegenüber stand.
So verharrten die beiden ungleichen Freundinnen Schulter an Schulter nebeneinander und starrten, jede in ihre eigenen Gedanken vertieft, die weiß getünchten Wände des Wartezimmers an. Es dauerte beinahe eine Stunde, ehe der erlösende Aufruf erfolgte. Karin erhob sich ebenfalls, doch Sandra bat sie zu warten.
“Wir können schon froh sein, wenn man mich zu meiner Mandantin vorlässt.“
Kurz darauf saß sie dem Oberarzt der Unfallchirurgie gegenüber. Erst nachdem er ihren Ausweis gründlich geprüft hatte, schickte er sich an, Auskunft zu geben.
“Die Patientin wurde nach erfolgreich durchgeführtem Durchtrennen der beiden Pulsadern und damit verbundenem erheblichem Blutverlußt eingeliefert“, dozierte er. “Sie wurde unverzüglich operiert. Ihr Zustand ist jedoch noch nicht stabil. Im Augenblick liegt sie zur Sicherheit auf der Intensivstation.“
“Wie konnte es überhaupt dazu kommen?“ fragte Sandra.
Der Mann in dem weißen Kittel rückte seine Brille zurecht. “Ich bin Chirurg, junge Frau, kein Psychiater. Ein Kollege vom Fach wird sich um Ihre Mandantin kümmern, sobald sie wieder ansprechbar ist.“
“Darf ich bei dem Gespräch zugegen sein?“ erkundigte sich Sandra.
“Normalerweise ist das nicht üblich“, meinte der Arzt. “Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass der Kollege von der Psychatrie in diesem speziellen Fall eine Ausnahme macht. Es kommt in der Tat nicht sehr häufig vor, dass eine Frau, die unter Mordverdacht steht, hier mit durchtrennten Pulsadern eingeliefert wird.“
“Was sagt eigentlich die Gefängnisleitung dazu?“ wollte sie nach kurzem Überlegen wissen.
Der Oberarzt machte ein bedeutungsvolles Gesicht. “Die suchen im Augenblick nach dem Verantwortlichen, der Frau Graf die Cognacflasche besorgt hat, mit deren Scherben sie sich verletzte.“
Sandra fuhr zusammen. Auch das noch!
“Kann ich Frau Graf sehen?“ versuchte sie rasch das Thema zu wechseln.
Der Mann in dem Kittel erhob sich. “Mal schauen, ob Sie schon aus ihrer Narkose aufgewacht ist. Sie hat viel Blut verloren. Dass man sie noch rechtzeitig gefunden hat, grenzt ohnehin an ein Wunder. Jemand in ihrer Nachbarzelle hatte randaliert. Zum Glück warf die Schließerin auch einen Blick in Frau Grafs Zelle.“
Sandra folgte dem Oberarzt auf die Intensivstation. Ellen Graf lag unter einem grünen Laken auf einem fahrbaren Bettgestell. Rechts von ihr und über ihrem Kopf befanden sich medizinische Geräte, die ihre Lebensfunktionen kontrollierten und aufzeichneten. Ihre beiden Unterarme waren dick bandagiert. Eine Menge Sensoren klebten mit Pflastern an ihrem Körper. Ellen Grafs Augen waren geschlossen. Fast schien es so, als würde sie schlafen. Doch Sandra fiel auf, dass die Augenlider ihrer Mandantin zuckten.
“Hallo, Ellen“, murmelte Sandra mit leiser, einfühlsamer Stimme.
Der Arzt trat neben das Bett und kontrollierte ein paar der Geräte. Dann beugte er sich hinunter und rüttelte die Verletzte an der Schulter.
“Frau Graf!“ sagte er laut und deutlich. “Sind Sie wach?“
Mühsam schlug die Frau mit den bandagierten Armen die Augen auf. Sandra zuckte zurück. So glanzlose Pupillen hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen.
“Na, also“, lächelte der Oberarzt. “Sie weilt also doch noch unter uns. Na, wie geht‘s uns, Frau Graf?“
Ellen Graf antwortete nicht. Sie drehte den Kopf zur Seite und schloss erneut die Augen.
“Kommen Sie jetzt“, forderte der Mann die Besucherin auf. “Das wird heute nichts mehr. Die Patientin braucht Ruhe.“
“Aber ich muss unbedingt mit ihr sprechen“, begehrte Sandra auf. “Es ist wichtig.“
“Die Gesundheit der Patientin geht vor“, widersprach der Oberarzt und schob sie dabei aus dem Zimmer. “Sie sehen doch, dass Frau Graf nicht reden will.“
Karin lehnte sich gegen den Wagen ihrer Freundin. “Und was hast du jetzt vor?“
“Ehrlich gesagt, keine Ahnung“, murmelte Sandra. “Am Montag spreche ich als Erstes mit dem Staatsanwalt. Ich will sehen, wie lange er sich hinhalten lässt. Ellens Selbstmordversuch führt zwar automatisch dazu, dass der Prozessauftakt verschoben wird, aber allzu lange wird es wohl nicht dauern, bis sie wieder auf den Beinen ist.“
“Was sagt eigentlich dein Chef dazu?“
Ihre Freundin winkte traurig ab. “Der unternimmt im Augenblick einen Jagdausflug. Und sein Revier gilt, wie mir seine Frau am Telefon sagte, als Handy-freie Zone. Vermutlich ahnt der noch gar nichts von den neuesten Entwicklungen.“
“Tja“, meinte Karin, “ich würde dir ja gerne helfen, aber ich weiß, dass du an die Schweigepflicht gebunden bist.“
“Eben.“
“Interessieren würde es mich trotzdem“, ließ Karin nicht locker.
“Es geht aber doch nun mal nicht.“
Die Augen ihrer Freundin Augen blitzten auf. “Und wenn du einen Privatdetektiv einschalten würdest?“
“Wer sollte das denn sein?“
“Ich, zum Beispiel“, lächelte Karin verschmitzt. “Ich könnte dir doch bei deinen Recherchen helfen. Und wenn es Probleme gibt, würde ich dir die schon aus der Welt räumen. Wozu habe ich den schwarzen Gürtel?“
“Jetzt spinnst du aber“, lachte Sandra. Doch im nächsten Moment erinnerte sie sich an die Unterhaltung mit ihrer Mandantin. Hatte nicht Ellen diese Möglichkeit selbst schon in Erwägung gezogen?
“Okay“, meinte sie nur. “Fahren wir hinunter zum Rhein. Ich kenne da ein Gartenlokal. Die dürften schon aufhaben. Vielleicht kannst du mir ja wirklich helfen.“
Karin nickte zufrieden.
“Das mit der Erpressung leuchtet mir ein“, brummte sie schließlich, als sie und Sandra den vorbeiziehenden Rheinschiffen zusahen. “Nicht schlecht ausgewählt, das Opfer. Alleinerziehende Mutter in guter Position mit genügend Knete auf dem Konto. Das hat was.“ Genüsslich schnalzte sie mit der Zunge.
“Aber der Grund“, fiel ihr Sandra kopfschüttelnd ins Wort. “Meine Güte, einzig und allein wegen Geld bringt man doch niemanden um. Jedenfalls dann nicht, wenn es auch noch einen anderen Ausweg gibt. Wieso ging sie denn nicht zur Polizei? Und wieso konnte es sich dieser Kerl überhaupt leisten, sie so dreist zu erpressen? Der musste doch damit rechnen, dass ihn Ellen unter Umständen hochgehen lässt. Nein, mein Schatz, um Geld allein geht es hierbei nicht. Der Typ hatte sie in der Hand. Der Kerl besaß ein Druckmittel, das es Ellen verbot, sich an die Ermittlungsbehörden zu wenden.“
“Und woran denkst du? Meinst du, die hat selbst früher mal krumme Dinger gedreht?“
“Ich glaube“, räumte die Jüngere ein, “das wäre längst ans Tageslicht gekommen. Im Leben eines Menschen, der so plötzlich und so spektakulär berühmt und wohlhabend wird, stochert die Journaille schon aus eigenem Antrieb gerne und akribisch herum. Das kennt man doch von anderen Prominenten. Wenn Ellen wirklich Dreck am Stecken hätte, wäre das mit Sicherheit längst bekannt.“
“Könnte es sein, dass sich diese Ellen ihre Erpressungsgeschichte lediglich aus den Fingern gesogen hat?“
“Das glaube ich kaum“, widersprach die Jüngere. “Bei dem Opfer handelt es sich um einen Privatier aus Belgien. Lebte bislang angeblich von seinem angesammelten Vermögen. Soll in letzter Zeit allerdings mit riskanten Optionsscheingeschäften Pech gehabt haben. Das unterstützt natürlich die Erpressungstheorie. Wenn ich ehrlich bin, habe ich diese Einlassung auch bisher nie in Frage gestellt.“
“Womit hat der Kerl eigentlich sein Vermögen gemacht, wenn er schon an der Börse nicht besonders erfolgreich war?“ hakte Karin nach.
“Den Ermittlungsakten zufolge unterhielt er ganz zu Anfang eine kleine Vertriebsfirma für medizinische Produkte und bis er sich zur Ruhe setzte ein Eheanbahnungsinstitut. Wusste gar nicht, dass man mit Heiratsvermittlung so viel Geld machen kann.“
“Verrückte gibt es immer“, meinte Karin und zog mit dem Zeigefinger vielsagend ein Augenlid herunter. “Verrückte Heteros noch häufiger.“
“Tja, ich weiß im Augenblick einfach nicht mehr weitert“, murmelte Sandra. Ihre Niedergeschlagenheit war ihr deutlich anzumerken.
Plötzlich wirbelte Karin herum. Ihre Augen blitzten unternehmungslustig.
“Was hältst du von einem Ausflug nach Belgien?“
“Was willst du denn dort?“
“Hören wir uns doch mal ein bisschen um. Ich denke, du hast mich als Privatdetektiv engagiert? Dann sollte ich auch etwas tun für mein Geld.“
“Welches Geld?“
“Eben“, lachte Karin.
“Himmel, diese Straßennamen!“ brummte die Frau auf dem Beifahrersitz. “Diese vielen ‘e‘ und ‘a‘. Wer kann denn sowas überhaupt aussprechen?“
“Die Belgier können‘s wohl“, antwortete Sandra und bog in eine Seitenstraße ab. Dort in Strandnähe fand sie zum Glück sofort einen Parkplatz. An einem Wochenende während der Saison war es voll in Oostduinkerke, dem bekannten Touristenort an der belgischen Nordseeküste.
Karin quälte sich aus dem Beifahrersitz und streckte sich, während sie einen abfälligen Blick auf den Sportwagen ihrer Freundin warf. Viel lieber wäre sie mit ihrem Motorrad hierher gefahren, aber Sandra hatte auf den Wagen bestanden.
“Und? Wo hat der Kerl denn nun gewohnt?“
“In einem der Hochhäuser in Strandnähe“, erwiderte Sandra und wies auf ein bestimmt zwanzigstöckiges Gebäude, das mitten in den Dünen stand.
“Höher ging es wohl nicht mehr, oder?“ brummte Karin und zog vernehmlich die Luft ein.
Das ungleiche Paar umrundete den Komplex und befand sich wenige Minuten später in der Eingangshalle. Karin deutete auf das riesige Klingelbrett.
“Menschen in Wabenhaltung“, schnaubte sie.
Ein Hausbewohner verließ das Gebäude, und die beiden Frauen schlüpften unbemerkt ins Innere des Wohnblocks. Der Aufzug brachte sie bis in den zehnten Stock. Dort stiegen sie aus und standen anschließend vor der Appartementtür, an der noch immer der Name des Verstorbenen klebte.
“So weit, so gut“, brummte Karin und betätigte den Türsummer.
“Wer soll dir aufmachen?“ fragte ihre Freundin. “Sein Gespenst?“
“Wer weiß?“ erwiderte Karin und betätigte erneut den Summer.
Ein Stück gangabwärts öffnete sich eine Tür. Eine ältere Dame lugte um die Ecke. Nachdem sie die beiden Besucherinnen erst einmal vom Türrahmen aus misstrauisch in Augenschein genommen hatte, trat sie auf den Gang.
“Mijnheer van de Loo is niet aanwezig“, meinte sie mit strengem Unterton in der Stimme.
“Wann kommt er zurück?“ wandte sich Sandra an die Unbekannte.
“Na, wann wohl?“ gluckste Karin vergnügt vor sich hin.
“Oh, Sie sind Deutsche?“ brummte die Belgierin wenig zugänglich. “Wenn Sie zu Mijnheer van de Loo wollen, müssen Sie sich schon nach Maaseik bemühen. Hier wohnt er nur gelegentlich.“
Sandra überlegte. Merkwürdig. In seinen Papieren war Oostduinkerke als Wohnort angegeben.
“Wo finden wir dieses Maaseik?“ fragte sie laut.
“Im Dreiländereck in der Nähe von Aachen“, erhielt sie zur Antwort. “Schauen Sie in ihre Autokarte.“
“Und wo wohnt er dort?“ wollte Sandra noch wissen, doch die Frau aus der Nachbarwohnung hatte die Türe bereits hinter sich zugezogen.
“Freundliches Völkchen, diese Belgier“, knurrte Karin.
“Da solltest du erst mal Holländer kennenlernen“, winkte ihre Freundin ab.
Die Suche nach Pieter van de Loo erwies sich wesentlich schwieriger als zunächst angenommen. In Oostduinkerke hatten sie noch einen klaren Anhaltspunkt gehabt; in der Stadt an der Maas wussten die beiden Frauen jedoch überhaupt nicht, wo sie mit der Suche nach Pieter van de Loo hätten anfangen sollen. Zwar sprachen die Leute in der Provinz Limburg durchweg fließend deutsch, was die Kommunikation erheblich vereinfachte. Allerdings war Wochenende, und die Behörden hatten geschlossen. An die Polizei wollten sie sich nicht unbedingt wenden. Die Strafverteidigerin einer unter Mordanklage stehenden Deutschen und eine selbst ernannte Privatdetektivin, die zudem nicht viel seriöser aussah als eine Rockerbraut, hätten nur zu lästigen Spekulationen Anlass gegeben. Erkundigungen bei den örtlichen Geschäftsleuten brachten auch nichts. Entweder wollte man van de Loo nicht kennen, oder der Mann hatte sehr zurückgezogen gelebt. Schließlich gab ihnen jemand den Tipp, ein Stück weit in Richtung niederländische Grenze zu fahren. Da gab es ein paar Ortsteile, die zumindest verwaltungstechnisch auch noch zu Maaseik gehörten. Unter Umständen wohnte er ja da.
“Fragen wir mal in dieser Kneipe dort“, brummte Karin und deutete auf ein Fenster mit der Aufschrift ‘Stella Artois‘.
Kurz darauf betraten die beiden Frauen eine verräucherte Billard-Spelunke. Karin fühlte sich sofort in ihrem Element. Sie flegelte sich auf einen der Barhocker, stützte sich am Tresen ab und schaute den Besitzer der Kneipe erwartungsvoll an. Sandra zuckte zusammen, als ein paar der umstehenden Männer Pfiffe ausstießen und unflätige Bemerkungen fallen ließen.
“Keine Panik!“ lachte die Ältere und schob ihr einen Hocker hin. “Wenn die Dreibeine frech werden, bekommen sie halt was aufs Maul.“
“Dass du dich in solch einer Umgebung wohl fühlen kannst“, wunderte sich die jüngere der beiden Frauen.
“Alles Gewohnheitssache.“ Karin gab bei dem Wirt ihre Bestellung auf.
Als der Mann mit einem Bier und einer Tasse Kaffee zurückkam, hielt ihn Karin am Ärmel fest.
“He, du“, murmelte sie. “Wir suchen einen gewissen Pieter van de Loo. Weißt du, wo wir den finden können?“
“Das wüsste ich auch gern“, antwortete der Mann mit verschlagenem Blick. “Der hat bei mir nämlich noch eine Rechnung vom vergangenen Monat offen. Abgesetzt hat sich der Kerl. Wahrscheinlich steckt er in seinem Appartement am Meer. Geld hat er ja neuerdings wie Heu, der Sack. Aber bei mir die Zeche prellen. Das habe ich gern.“
“Wo wohnt der Typ?“
Die Augen des Wirts verzogen sich zu schmalen Schlitzen.
“Wer will das wissen?“ fragte der Mann und wich einen Schritt zurück.
“Ich“, entgegnete Karin und erhob sich von ihrem Barhocker, damit ihre stolzen Einmeterfünfundachtzig richtig zur Geltung kamen.
“Wie hoch ist denn die Rechnung, die noch offen steht?“ mischte sich Sandra ein. Sie wollte nur noch eines: auf dem schnellsten Wege weg von hier. Vielleicht wurde der Kerl ja zugänglicher, wenn man ihm finanziell entgegenkam.
“Zweihundert Euro“, kam es wie aus der Pistole geschossen.
Seufzend legte Sandra die Geldscheine auf den Tisch. Der Mann wollte schon danach greifen, doch Karin hielt seine Hand fest.
“Haben wir nicht etwas vergessen? Also, wo wohnt der Typ?“
Der Wirt nannte die Adresse. Angeblich befand sich das Haus an der Durchgangsstraße in Richtung niederländische Grenze.
“Aber macht um das Nachbargebäude lieber einen Bogen“, grinste der Wirt anzüglich. “Ist ein Bordell. Die Besitzer sehen es nicht so gerne, wenn sich fremde Weiber dort herumtreiben.“
Zehn Minuten später hielt Sandras Sportwagen vor der genannten Adresse. Im Haus war es still. Also stimmte es, was in den Akten stand. Van de Loo lebte alleine. Während sich die junge Rechtsanwältin ratlos umsah, schlich ihre Freundin um das Haus herum.
“Was machst du da?“ flüsterte Sandra, als Karin von ihrem Rundgang wieder zurückkehrte.
“Na, was wohl? Ich will herausfinden, wie man in diese Hütte dort hineinkommt.“
“Ich glaube, du spinnst wohl“, begehrte Sandra auf. “Willst du eingesperrt werden? Mit Einbrechern geht man in Belgien nicht besonders zimperlich um. Hauseigentum wird hierzulande sehr großgeschrieben.“
“Ich weiß. Genauso wie Kinderschändung.“
“Nehmen wir uns ein Hotelzimmer“, schlug Sandra vor. “Es wird schon dunkel. Daheim komme ich auch nicht weiter. Vielleicht finden wir ja morgen noch etwas heraus.“
In der Nacht wurde Sandra wach. Ein böser Albtraum hatte sie hochfahren lassen. Die andere Hälfte des Doppelbettes war leer. Sandra schrak zusammen. Sie ahnte Schlimmes. Doch was sollte sie tun? Karin folgen und vielleicht selbst erwischt werden? Wenn sie sowas riskierte, dann war das ihr Problem.
Am darauf folgenden Morgen traf sie ihre Freundin am Frühstückstisch. Karin schmunzelte vergnügt vor sich hin.
“Du bist wahnsinnig!“ stöhnte Sandra. “Was, wenn man dich erwischt hätte?“
“Ich würde noch lauter brüllen!“ beschwerte sich die Ältere und schob seelenruhig die nächste Scheibe Weißbrot in den Mund.
Karin warf einen Blick auf die über den Beistelltisch verteilten Papiere. “Kannst du mit dem Kram etwas anfangen?“
Sandra nickte stumm. Seit sie die ersten Schriftstücke studiert hatte, kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ihre Freundin hatte bei ihrer nächtlichen Suche genau ins Schwarze getroffen. Pieter van de Loo unterhielt seinerzeit nicht nur ein florierendes Eheanbahnungsinstitut, sondern vermittelte offenbar auch illegal Säuglinge und Kleinkinder an zahlungswillige Kundschaft. Leider gingen die Unterlagen nicht sehr weit zurück. Aber das, was sie da las, ließ den Toten in einem völlig anderen Licht erscheinen. Van de Loo hatte sich demnach jahrelang als Kinderhändler betätigt. Und zwar als einer der üblen Sorte. Bei ihm konnte man die Kinder praktisch nach Katalog bestellen. Es wunderte sie, dass der Kerl nicht schon längst aufgeflogen war. Doch gleichzeitig fiel ihr Marc Dutroux ein, der jahrelang und zum Teil sogar von den Behörden gedeckt einen regelrechten Kinderschänderring unterhielt. Andererseits hörten die Unterlagen im Jahre 1998 schlagartig auf. Vermutlich war van de Loo dann doch der Boden irgendwann unter den Füßen zu heiß geworden. Offenbar hatte er bis dahin jedoch mit seinen illegalen Geschäften eine Menge Geld gemacht.
“Ich glaube, du kannst ganz von vorne anfangen“, brummte Karin, während sie anschließend selbst einen Blick auf die Papiere warf. “Deine Mandantin führt dich doch bewusst hinters Licht. Ich könnte mir vorstellen, dass sie den Jungen keineswegs auf der Straße gefunden hat, wie sie aller Welt Glauben machen will, sondern dass sie ihn sich hat vermitteln lassen.“
“Das werde ich über das Jugendamt herausbekommen“, blieb die Jüngere skeptisch. “Niemand kann ein Kind in Pflege nehmen, das vorher nicht bereits irgendwo registriert war. Nein, insofern glaube ich Ellen. Aber die relative Nähe zwischen Maaseik und dem Ort, an dem Ellen ihren Jungen das erste Mal traf, macht mich schon stutzig.“
“Meinst du, die früheren Pflegeeltern haben sich den Jungen über diesen van de Loo vermitteln lassen?“ räumte Karin ein.
“Das glaube ich nicht“, verneinte Sandra. “Anhand der Unterlagen sieht man doch die Preise, die van de Loo für seine Vermittlungstätigkeit verlangte. Wer nimmt schon einen Jungen in Pflege, der so schrecklich aussieht wie Max damals und muss dafür auch noch kräftig in die Tasche langen, wenn er andere Kinder vermittelt bekommen kann?“
“Leuchtet ein“, stimmte ihre Freundin zu. “Und was nun?“
“Jetzt sollten wir den früheren Pflegeeltern des Jungen einen Besuch abstatten. Möchte wissen, auf welchem Weg die damals an Max herangekommen sind.“
Dort erwies es sich als gar nicht besonders schwierig, die ehemalige Pflegefamilie ausfindig zu machen. Jeder im Dorf schien sich an den kleinen Buben mit dem entstellten Gesicht erinnern zu können. Erst recht, seitdem durch die Medien bekannt war, welch prominente Pflegemutter er inzwischen besaß. Die ehemaligen Pflegeeltern luden sie sogleich in ihre Wohnung ein und gaben bereitwillig Auskunft. Der Neugeborene hätte seinerzeit, in warme Decken eingehüllt, vor dem Kirchenportal gelegen. Nichts deutete darauf hin, wer die Eltern des kleinen Jungen waren. Die Kriminalpolizei ermittelte zwar, aber mehr als die Hersteller des Tragebettchens und der Decken des Findelkindes fand sie nicht heraus. Schließlich wurde die Angelegenheit zu den Akten gelegt. Das Ehepaar nahm sich des Jungen an, offenbar, um sich mit dem Pflegegeld das monatliche Salär ein wenig aufzubessern. Aber der Junge entwickelte sich zu einem schwierigen Kind, so dass sie froh waren, dass sich diese junge Dame beim Jugendamt meldete, um ihn in ihre Obhut zu nehmen. Sandra suchte anschließend noch den Pfarrer auf, der jedoch jedes Wort des Ehepaars bestätigte.
“Das wird ja immer mysteriöser“, knurrte Karin, als sie sich längst auf dem Weg zurück nach Hause befanden.
“Das kannst du wohl laut sagen“, seufzte Sandra. “Sobald wir wieder daheim sind, spreche ich als Erstes mit dem Alten. Vielleicht hat der ja eine Idee.“
16
Sofort nach ihrer Rückkehr suchte Sandra den Seniorpartner der Rechtsanwaltskanzlei in seinem Haus auf. Dr. Gregor Lichtenfeld sagte umgehend alle seine Termine ab, um genügend Zeit für den Bericht seiner Mitarbeiterin zu haben. Der Selbstmordversuch von Ellen Graf schien ihn sehr nachdenklich gemacht zu haben.
“Sie machen mich neugierig. Und so, wie ich ihre prall gefüllte Mappe richtig deute, scheinen Sie ja nicht gerade die Hände in den Schoß gelegt zu haben.“
Sandra breitete die Unterlagen vor sich aus und begann von dem letzten Gespräch mit Ellen Graf zu berichten, dessen Protokoll er noch nicht kannte. Lichtenfeld wollte erst seinen Ohren nicht trauen, als er erfuhr, auf welch unkonventionelle Weise sie an die fraglichen Papiere in Belgien herangekommen war.
“Und diese Dame ist ihre Freundin?“
Sandra nickte nur kurz.
“So, Herr Doktor“, beendete sie schließlich ihren Vortrag. “Und nun sind Sie gefragt. Sie hatten mir ja jegliche Unterstützung in dem Fall zugesagt. Ich bin, wenn ich ehrlich sein soll, mit meinem Latein ziemlich am Ende.“
“Warum denn gleich so pessimistisch?“ meinte er und goss sich und seiner Mitarbeiterin einen Cognac in großbauchige Schwenker. Schließlich erhob er sich und wanderte ein paar Mal durch den Raum. Das tat er meistens, wenn er überlegte.
“Ja, ich stimme Ihnen zu“, hob er mit einem Mal an, “wenn es Ihnen bedeutsam vorkommt, dass der Zweitwohnsitz dieses sauberen Mijnheer van de Loo und das Dorf, in dem das Findelkind Max auftauchte, so relativ dicht beieinander liegen. Aber kann das nicht bloß Zufall sein? So groß ist das Grenzgebiet ja nun auch wieder nicht.“
Er schaute seine Mitarbeiterin lange und ernst an.
“Wenn wir schon Mutmaßungen anstellen, dann möchte ich Ihre Aufmerksamkeit an dieser Stelle auf einen anderen Umstand richten, der genauso bedeutsam sein könnte. Erinnern Sie sich an eines der ersten Gespräche mit Ellen Graf? Ihrem Protokoll zufolge hielt sich Ellen Graf seinerzeit an der belgischen Küste auf, als sie die Fehlgeburt erlitt. Wo war das doch noch gleich? Blankenberge? Blankenberge ist höchstens eine Stunde von Oostduinkerke entfernt.“
“Sie haben Recht!“ stöhnte Sandra auf. “Wieso ist mir das nicht aufgefallen?“
“Macht nichts“, lächelte Lichtenfeld. “Manchmal ist es ganz gut, einen besonders kniffligen Fall durchaus mit jemandem zu besprechen, der nicht so hautnah eingebunden ist wie Sie, meine Liebe. Man übersieht in der Fülle der Informationen leicht die Details. Denken Sie, mir ergeht das anders?“
Sandra schwieg. Kein Wunder, dass es Gregor Lichtenfeld bis zum Seniorpartner einer bekannten Rechtsanwaltskanzlei gebracht hatte. Er stand im Ruf, trotz seiner sechzig Jahre über ein gutes Gedächtnis und noch bessere Kombinationsfähigkeit zu verfügen. Ihr war nur schleierhaft, warum er ausgerechnet sie protegierte. In der Kanzlei gab es noch andere, wesentlich erfahrenere Leute.
“Für die Aufklärung des Falles relevant“, fuhr der Alte schließlich fort, “wäre eine solche Duplizität der Ereignisse nur dann, wenn sich Ellen Graf und dieser Mijnheer van de Loo bereits früher gekannt hätten. Frau Graf gibt diesbezüglich nichts zu Protokoll.“
“Das hat nichts zu sagen“, winkte Sandra ab. “Sie erzählt ohnehin nur das, was ihr passt. Sobald man an den wunden Punkt stößt, hüllt sie sich in Schweigen.“
“Oder versucht sich umzubringen“, fügte der Seniorchef hinzu.
Unwillkürlich fuhr Sandra zusammen. “Was wollen Sie damit andeuten?“
“Denken Sie genau nach“, erwiderte er scharf. “Sie haben Frau Graf am Freitagabend ziemlich in die Mangel genommen, wenn ich Ihrem Bericht richtig folge. Dabei müssen Sie an unbewusst an einen bestimmten wunden Punkt gestoßen sein. Überlegen Sie. Worüber könnten Sie sich unterhalten haben, was Ellen Graf anschließend in den Selbstmord trieb? Ich bin mir beinahe sicher, dass genau hier der Schlüssel für die Klärung des Falles liegt. Sie haben völlig Recht, meine Liebe. Ellen Graf hat tatsächlich eine Leiche im Keller, wie man so schön sagt. Unsere Aufgabe besteht nun darin herausfinden, unter welchem Betonsockel sie vergraben ist.“
Sandra überlegte. Etwas quälte sie, aber sie war sich nicht sicher, ob sie ihren Chef ausgerechnet in diesem Augenblick damit konfrontieren sollte. Er könnte es zu recht als Affront betrachten. Doch Gregor Lichtenfeld schien in den Gedankengängen seiner jungen Mitarbeiterin wie in einem offenen Buch lesen zu können.
“Was bedrückt sie? Sprechen Sie frei heraus.“
“Na, schön“, meinte sie nach einer Weile. “Mir brennt wirklich etwas auf der Seele. Wer hat die Kanzlei eigentlich mit ihrer Verteidigung beauftragt? Frau Graf jedenfalls streitet eine Mandatsvergabe aus eigenen Stücken ab.“
“Gut, dass Sie das ansprechen.“ Ihr Chef erhob sich erneut, um rastlos durch sein Arbeitszimmer zu laufen. “Kurz nach Bekanntwerden der Tat ging in der Kanzlei ein gedeckter Scheck ein. Anonym natürlich. Das Bankinstitut befindet sich auf den britischen Kanalinseln. Die geben grundsätzlich keine Informationen über ihre Kunden. Merkwürdig, nicht wahr?“
“Das wird ja in der Tat immer mysteriöser“, pflichtete Sandra dem Alten bei. “Eine Mordtat, über deren wahre Hintergründe die Angeklagte beharrlich schweigt, ein heimlicher Freund, der die Betroffene finanziell unterstützt und ein seltsamer Zusammenhang verschiedener, Jahre auseinander liegender Begleitumstände.“
“Wollen Sie mit dem Staatsanwalt reden“, wechselte Lichtenfeld das Thema, “oder soll ich mich mit unserem ehrenwerten Ankläger besprechen?“
“Das möchte ich schon gerne selbst tun“, beharrte Sandra. “Schließlich ist es immer noch mein Fall, wenn ich Sie richtig verstehe.“
Nachdem Sandra gegangen war, lief Dr. Gregor Lichtenfeld noch stundenlang in seinem Arbeitszimmer rastlos auf und ab. Immer wieder nahm er die Gesprächsprotokolle zur Hand und verglich verschiedene Details. Als die Uhr zur Mitternachtszeit schlug, sank er aufstöhnend in seinen Sessel. Schon während des Gesprächs mit Sandra Landshoff war ihm ein schrecklicher Verdacht gekommen. Und je mehr er die Einzelteile dieses anfangs noch wild verstreuten Puzzles auf seine Weise zusammenfügte, desto mehr nahm das Bild, das er sich von dem Fall machte, Formen an. Der Morgen dämmerte bereits, als er sicher zu sein glaubte, das Dilemma erkannt zu haben, warum Ellen Graf wegen der Erpressung durch Pieter van de Loo nicht zur Polizei hatte gehen können.
Bereits zwei Tage später schien Ellen Graf über den Berg. Ihr Körper war mit dem enormen Blutverlußt überraschend gut fertig geworden, und sie konnte sogar schon aufstehen. Sandra machte sich sofort zu ihr auf den Weg. Ellen schien wie verwandelt. Sie hockte nur apathisch in ihrem Sessel und folgte kaum den Worten ihrer Strafverteidigerin. Schließlich suchte Sandra den behandelnden Psychiater auf, doch der gab lediglich vor, in der Angelegenheit noch nicht so weit voran gekommen zu sein, als dass er eine fundierte Meinung zu seiner Patientin hätte vortragen können. Sandra fühlte sich mies. Solange Ellen nicht mit ihr sprach, kam sie in dem ihr übertragenen Fall nicht weiter. Die Aktenlage, die Besprechungsprotokolle und die bisher auf eigene Faust ermittelten Fakten ließen allenfalls wilde Spekulationen zu. Und selbst die schienen nicht besonders einleuchtend. So konnte sie doch nicht vor Gericht erscheinen.
Als sie abends nach Hause kam und sich aufstöhnend auf die Couch fallen ließ, war Karin sofort zur Stelle, um ihr den Nacken zu massieren. Das tat gut. Mit Bedauern dachte sie an ihre Mandantin. Ellen hatte außer dem Jungen keinen Menschen in ihrem Leben gehabt, der sich so aufopferungsvoll um sie kümmerte. Als Karins Massage allerdings verlangender wurde, umfasste sie ihre Handgelenke und schob sie von sich. Nach Zärtlichkeiten stand ihr im Augenblick nicht der Sinn. Karin tat ihr zwar Leid, aber Sandra war einfach nicht in der Lage, über ihren Schatten springen zu können. Wenn sie mit ihrer Freundin schon intim war, dann wollte sie die Stunden auch genießen und nicht pausenlos an den Fall denken.
Karin richtete sich auf und nickte ernst.
“Ich denke, so geht es nicht weiter, mein Engel“, meinte sie und schlüpfte in ihre Motorradjacke.
Sandra schaute erstaunt und nervös zugleich hoch. Was wollte sie damit andeuten?
“Komm“, forderte Karin ihre jüngere Freundin auf. “Wir gehen was trinken.“
Sandra schüttelte den Kopf. “Ich glaube kaum, dass ich für dich im Moment eine angenehme Begleiterin wäre.“
“Es geht auch weniger um mich. Es geht um dich. Wir müssen dir helfen. Also, nun mach schon.“
“Wir?“ fragte Sandra verblüfft.
“Lass dich überraschen“, erwiderte Karin.
Eine halbe Stunde später folgte sie ihrer Freundin nur sehr widerstrebend in eine Cocktailbar. Karin lief zielsicher auf einen kleinen Tisch zu, an dem eine Frau von etwa fünfzig Jahren bei einer Pina Colada hockte. Die beiden Frauen begrüßten sich, und anschließend stellte Karin der anderen ihre Lebensgefährtin vor.
“Das ist also diese Sandra“, murmelte die Frau, die sich als Renate Tomschak vorgestellt hatte. “Respekt.“
“Nicht wahr“, grinste Karin und beugte sich zu Sandra hinüber. “Renate und ich waren mal ein paar Monate zusammen.“
“Aber das ist lange her“, ergänzte Renate.
“Und was geht mich das an?“ brummte Sandra, der im Augenblick überhaupt nicht der Sinn danach stand, Karins alte Liebschaften kennenzulernen.
“Nichts“, meinte Renate gleichmütig. “Du hast ein Problem mit einer deiner Mandantinnen?“
“Woher weißt du das denn?“ fuhr Sandra hoch und warf ihrer Freundin einen wütenden Blick zu.
“Von ihr natürlich, du Dummchen“, sagte Renate. “Nein, ernsthaft. Wo drückt der Schuh?“
“Ich wüsste wirklich nicht, was dich das angeht“, fauchte die junge Strafverteidigerin zurück.
“Nun hab dich mal nicht so, Schätzchen“, beruhigte sie die Ältere. “Übrigens, ich bin auch vom Fach. Ich verfasse Kriminalromane.“
Sandra erinnerte sich. Das war wohl die Bekannte, der sie anschließend die Protokolle überlassen sollte.
“Und was habe ich davon?“ zischte Sandra ihre Freundin an. “Findet hier jetzt eine Autorenlesung statt?“
“Wenn ich schon aus meinen Büchern lese, dann gewiss nicht nur vor zwei Leuten“, konterte Renate ungerührt. “So, und jetzt ist Schluss mit dem Theater. Karten auf den Tisch. Ich will dir helfen, wenn ich kann. Und stell dich bloß nicht weiter so bockig an. Das konnte ich schon an deiner Freundin nicht leiden.“
Es wurde weit nach elf Uhr, ehe Sandra ihren Vortrag zu Ende brachte. Renate hatte wortlos zugehört, sie nur hier und da einmal kurz unterbrochen und nachgefragt, wenn sie bestimmte Details nicht auf Anhieb verstand.
“So, Schätzchen“, meinte die Bekannte ihrer Freundin. “Jetzt sage ich dir mal, was ich in Anbetracht deiner Darstellung von den einzelnen Beteiligten halte. Der Schlüssel für Ellen Grafs seltsames Verhalten ist einzig und allein ihr Sohn Max. Alles in ihrem Leben dreht sich nur um Max. Er ist ihr ein und alles. Für ihn würde sie sich in Stücke reißen lassen. Und für ihn nimmt sie sogar eine Mordanklage auf sich, auf die Gefahr hin, vielleicht erst zum Rentenbeginn wieder ungesiebte Luft atmen zu können. Stimmt euch das nicht nachdenklich?“
“Natürlich stimmt mich das nachdenklich“, brummte Sandra.
“Lass sie doch ausreden“, mischte sich Karin ein. “Renate schätzt es überhaupt nicht, wenn man sie unterbricht.“
“Also, ich höre“, seufzte Sandra ergeben. Sie sehnte sich nach einer warmen Dusche und ihrem Bett.
“Wieso ist eigentlich noch keiner auf die Idee gekommen, sich mal mit dem Jungen zu befassen?“ fuhr die Schriftstellerin fort. “Wo steckt dieser Max überhaupt? In einem Heim, wie? Na, toll! Nun denkt mal nach, Mädels! Ellen Graf gab doch selbst mehrfach zu, dass es sie jedesmal geradezu niederschlägt, wenn der Junge anfängt, von seinen leiblichen Eltern zu sprechen. Max hat inzwischen ein regelrechtes Hassszenario in Gedanken aufgebaut. Seinen Erzeugern will er, wenn er ihrer habhaft wird, angeblich gehörig die Meinung sagen, wenn nicht noch Schlimmeres. Soll ich euch was sagen? Ellen Graf kennt die leiblichen Eltern von Max. Sie hat eine Höllenangst davor, dass er sie jemals zu Gesicht bekommt. Und jetzt die Fünf-Millionen-Euro-Frage: Wer sind die Eltern des Jungen? Wo könnten sie leben? Es kann nicht besonders weit weg sein, denn sonst hätte Ellen keine solche Angst davor, dass sie ihm vielleicht doch mal über den Weg laufen. Vielleicht erkennen sie ihn sogar und sprechen ihn an. Ein Junge mit einem großflächigen Feuermal, das, so wie ihr es schildert, sein halbes Gesicht bedeckt, kommt so oft ja nun auch nicht vor.“
“Dieser Belgier?“ fuhr Sandra hoch.
“Glaube ich nicht“, wischte Renate ihren Einwand beiseite. “Zumindest gibt das für einen Erpressungsgrund keinen Sinn. Aber dein Verdacht könnte in anderer Hinsicht zutreffen. Dieser saubere Herr van de Loo kannte ebenfalls die Eltern des Jungen. Irgendwie gibt es eine Beziehung zwischen ihm und Ellen Graf. Und er hatte sie mit irgendetwas in der Hand, das den Jungen und seine Herkunft betrifft. Dessen bin ich mir sicher.“
“Das sind doch alles wilde Vermutungen“, blieb Sandra skeptisch.
“Ach ja?“ erwiderte die Schriftstellerin und legte dabei ihren Kopf schräg. “Denk mal genau über deine letzten Worte beim Treffen mit deiner Mandantin vor ihrem Selbstmordversuch nach. Du sagtest, du würdest die wahren Hintergründe der Tat schon noch aufdecken. Ich bin sicher, dass Ellen inzwischen befürchten musste, dass dir das tatsächlich gelingt. Ihr wurde in diesem Augenblick klar, dass sie sich zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Ellen Graf wollte, nein, sie musste unter allen Umständen verhindern, dass du herausfindest, was sie tatsächlich zu dem Mord an Pieter van de Loo veranlasst hat. Deshalb auch ihr Selbstmordversuch. Und immer spielen die leiblichen Eltern des Jungen die entscheidende Rolle. Das erpresste Geld ist bei der Tat wirklich nur Nebensache.“
“Das wird ja immer kurioser.“ Sandra wandte sich an ihre Freundin. “Komm, lass uns gehen. Ich bin müde. Morgen habe ich einen harten Tag vor mir.“
Sandra machte Anstalten, sich zum Gehen zu wenden, doch Karin hielt sie an der Schulter zurück. Ihr Griff fühlte sich unnachgiebig an.
“Hör dir erst mal an, was sie sonst noch zu sagen hat“, zischte ihre Freundin. “Gehen können wir danach immer noch.“
“Es tut mir Leid“, bedauerte Renate, “dass es wegen deiner Ungeduld ein bisschen durcheinander geht. Ich komme jetzt zu den auslösenden Faktoren. Ellen Grafs Geheimnis um Max‘ Herkunft war so lange perfekt aufgehoben, wie sie als einfache Drogeriemarktverkäuferin ein zurückgezogenes Leben führte. Doch plötzlich gerät sie ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Auf einmal taucht ihr Gesicht in jedem Boulevardblatt und anschließend sogar beinahe täglich im Fernsehen auf. Schließlich besitzt Ellen Graf eine eigene Show. Und sie ist vermögend. Das spricht sich inzwischen in halb Europa herum. Und da plötzlich erinnert sich Pieter van de Loo an deine Mandantin und schmiedet einen perfiden Plan. Er erpresst sie, und als Druckmittel setzt er das ein, was ihr am meisten am Herzen liegt: ihren Pflegesohn.“
Renate spülte ihre beginnende Heiserkeit mit dem Rest Pina Colada hinunter.
“Lass mich mal resümieren“, fuhr sie schließlich fort. “Ob du mich ernst nimmst, das kannst du hinterher immer noch entscheiden. Also, Ellens Pflegesohn Max wird von seinen leiblichen Eltern sofort nach der Geburt ausgesetzt. Ellen, die heutige Pflegemutter, scheint die Eltern zu kennen. Es muss eine enge Beziehung zwischen diesen Leuten, Max und ihr geben, sonst würde sie deren Existenz nicht so vehement verleugnen. Auch ein anderer scheint hinter das Geheimnis gekommen zu sein: Pieter van de Loo. Er erpresst Ellen Graf mit seinem Wissen um die Herkunft des Jungen. Ellen wird in der Folge dermaßen in die Enge getrieben, dass sie weder vor einem Mord noch anschließend vor einem Selbstmord zurückschreckt. Wenn ihr mich fragt: Der Fall wird zu einer Mathematikaufgabe. Wir müssen die Quersumme aller Beteiligten bilden. Wer dieser Leute, nämlich Ellen, Max, Pieter van de Loo sowie die leiblichen Eltern des Jungen, stehen beziehungsweise standen irgendwann einmal in einer unmittelbaren Verbindung zueinander.“
Renate schaute Sandra fest in die Augen. “Geh zu deiner Mandantin und frage sie frei heraus, warum sie sich nicht traut, Max den Namen seiner Eltern zu nennen. Wenn sie erneut vorgibt, diese nicht zu kennen, dann konfrontiere sie mit meinen Überlegungen.“
Als Karin an die Theke ging, um die Zeche zu bezahlen, wandte sich Renate noch einmal an die junge Rechtsanwältin.
“Und überprüfe mal, wann und über welches Bankinstitut der Zahlungsverkehr abgewickelt wurde“, meinte sie mit eindringlicher Stimme. “Stelle fest, ob vielleicht dein Chef ein Konto auf den Kanalinseln besitzt. Zwar finde ich es auch seltsam, dass eine seriöse Kanzlei wie die eure auf eine anonyme Zahlung hin die Verteidigung einer, wenn auch prominenten, Inhaftierten übernimmt. Noch merkwürdiger finde ich allerdings, dass dein Chef über sämtliche Details dieses geradezu aussichtslosen Falles ständig haarklein informiert werden will. Ich kenne diesen Lichtenfeld von vergangenen Prozessen. Der hasst nichts mehr als verlorene Prozesse. Normalerweise hätte der schon mit Rücksicht auf die Kanzlei einen solch aussichtslosen Fall abgelehnt. Da passt also einiges nicht zusammen. So, und nun hau ab, Mädel! Karin wartet schon. Übrigens: Sie ist ein ganz, ganz liebes Mädchen.“
Ihre Freundin war längst eingeschlafen und schnarchte leise vor sich hin, als Sandra immer noch hellwach im Bett lag und dabei die Zimmerdecke anstarrte. Vielleicht hatte Renate wirklich Recht. Wieso weigerte sich Ellen, den Namen der Eltern bekannt zu geben? Und wieso das plötzliche Interesse Lichtenfelds an diesem Fall? Sandra kam ein geradezu absurder Gedanke.
Am darauf folgenden Morgen setzte sich Sandra in ihren Sportwagen und brauste über die Autobahn nach Süddeutschland. Wegen der Besonderheit des Falles hatte ihr das Jugendamt ausnahmsweise den Aufenthaltsort von Max genannt. Sandra hatte argumentiert, dass es wohl kaum im Interesse des Jungen läge, wenn seine Mutter unter Umständen für die nächsten fünfundzwanzig Jahre ins Gefängnis kam. So lernte Sandra den inzwischen vierzehnjährigen Pflegesohn ihrer Mandantin endlich kennen. Max hatte vor ein paar Tagen Geburtstag gefeiert. Die Geschenke, die sie ihm mitbrachte, beachtete er jedoch kaum.
“Wie geht es Ellen?“ fragte Max.
Sandra überlegte, ob sie ihm von ihrem Selbstmordversuch erzählen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Das hätte den Jungen höchstens verunsichert und geängstigt.
“Den Umständen entsprechend gut“, antwortete sie ausweichend.
“Wann kommt sie raus?“ wollte er wissen.
Wenn sie Pech hat, mit Fünfundsechzig, dachte Sandra still bei sich.
“Das hängt vom Staatsanwalt und dem Richter ab“, versuchte sie ihn zu beruhigen. “Bisher fand noch kein einziger Verhandlungstag statt.“
“Warum hat sie das nur getan?“ grübelte der Junge.
“Das würde ich auch gerne wissen. Deshalb bin ich hergekommen. Ich dachte, du könntest mir vielleicht helfen.“
“Wie?“ Sein Gesicht erhellte sich wieder.
“Erzähl mir doch mal was über deine Mutter.“
Max begann zu berichten. Er erzählte von seiner frühen Kindheit, seiner Jugend und der herrlichen Zeit, als es ihnen finanziell besser ging.
“Warst du eigentlich dabei, als es geschah?“ fragte Sandra, als er auf die Verhaftung seiner Mutter und seine Einweisung in das Heim zu sprechen kam.
“Es ist draußen auf dem Parkplatz passiert“, erinnerte sich der Junge. “Ich war daheim und surfte gerade im Internet, da bekam ich unten auf der Straße eine heftige Auseinandersetzung mit. Na ja, nichts Ungewöhnliches. Mitten in der Stadt ist eigentlich immer etwas los. Als ich aber sah, dass sich meine Mutter mit einem Fremden heftig stritt, bin ich sofort nach unten gelaufen. Ich weiß nur, dass meine Mutter noch brüllte: Das gelingt dir nie, du Lump! Und dann lag plötzlich ein Messer in ihrer Hand. Mit dem hat sie dann auf ihn eingestochen.“
“Und was hast du anschließend getan?“
“Ich stand nur da, und konnte überhaupt nicht begreifen, was geschehen war“, antwortete der Junge stockend. “Irgendjemand alarmierte anschließend die Polizei. Ellen führte man in Handschellen ab. Sie wehrte sich überhaupt nicht. Mich brachte man zum Sozialdienst des Jugendamtes und kurze Zeit später hierher.“
Sandra legte den Arm um die Schulter des Jungen und schlenderte mit ihm nach draußen in den Park. Dort waren sie ungestört.
“Warum hast du eigentlich einen solchen Hass auf deine leiblichen Eltern?“ fragte sie nach einer Weile.
Max blieb stehen und schaute sie verblüfft an. “Wieso? Ich kenne sie doch überhaupt nicht.“
“Deine Mutter sagte mir während eines Gespräches, du wolltest sie angeblich zur Rede stellen, sofern du ihnen mal begegnest. Oder noch Schlimmeres tun.“
“Sollte ich das etwa nicht, nach all dem, was sie mir angetan haben?“ wunderte sich der Junge. “Ich würde ihnen geradewegs ins Gesicht brüllen, was für elende Schweine sie sind. Setzen einfach ein Baby aus, nur weil es etwas anders aussieht als die anderen.“
Sein Feuermal verfärbte sich dunkelrot.
“Was ich dir jetzt sage, wird dich vielleicht verwirren, Max“, fuhr Sandra fort. “Ich glaube, nein, ich bin mir seit einigen Stunden beinahe sicher, dass deine Pflegemutter genau davor die meiste Angst hatte. Diese Angst beherrschte zum Schluss ihr gesamtes Leben. Und sie führte zu dieser Kurzschlussreaktion.“
“Zu dem Mord?“ erwiderte Max verblüfft.
“Ob es wirklich Mord war“, fuhr Sandra fort, “das wird der Richter entscheiden. Ich bin die Strafverteidigerin deiner Pflegemutter. Ich werde auf Totschlag in einem minder schweren Fall oder auch nur schwere Körperverletzung mit Todesfolge plädieren.“
“Und was macht da den Unterschied?“
“Das Strafmaß. Es macht schon einen Unterschied, ob man als Mörderin verurteilt wird. Nicht nur im Gefängnis, auch hinterher in Freiheit. Sofern man überhaupt noch einmal herauskommt.“
“Sie meinen, Ellen kommt nie mehr frei?“ keuchte der Junge.
“Wenn sich der Mordvorwurf der Staatsanwaltschaft nicht entkräften lässt, dann sind deiner Pflegemutter erst einmal fünfundzwanzig Jahre sicher.“
“Und bei Totschlag oder schwerer Körperverletzung?“ fragte der Junge kleinlaut.
“Das kommt auf den Richter an“, versuchte ihm Sandra zu erklären. “Tja, straffrei wird sie nicht aus der Affäre herauskommen, aber wenigstens könnt ihr euch dann häufiger sehen. In minder schweren Fällen wird nach einer Übergangszeit häufig sogar offener Strafvollzug angeordnet.“
“Kann ich irgendetwas tun?“
Sandra nickte. “Gib mir ein paar von deinen Haaren.“
“Von meinen Haaren?“ fragte der Junge verblüfft.
“Das habe ich mir doch gedacht“, murmelte Sandra, als ihr der Laborbefund ausgehändigt wurde.
“Kein Zweifel?“ wandte sie sich noch einmal an die Laborantin.
Die Frau in dem weißen Kittel schüttelte den Kopf. “Die DNA-Analyse der einen Haarprobe lässt mit achtundneunzigprozentiger Sicherheit den Schluss zu, dass die Person mit den Personen verwandt ist, von denen die beiden Referenzproben stammen.“
Sandra stopfte den Bericht in ihren Aktenkoffer und sprang in ihren Wagen. Für den morgigen Tag war der erste Prozesstermin angesetzt. Ihre Mandantin schien wieder so weit hergestellt, dass sie vor Gericht erscheinen konnte. Nur etwas bereitete Sandra Sorge. Ellen sprach kaum noch ein Wort. Seit ihrem Suizidversuch wirkte sie wie paralysiert.
In der Kanzlei angekommen, stürmte sie sofort in das Büro ihres Chefs. Gregor Lichtenfeld übte wie gewöhnlich am späten Morgen das Einlochen eines Golfballs mit seinem Putter. Er nahm kaum von ihr Notiz.
“Komme ich ungelegen?“ fragte Sandra.
“Wie kommen Sie darauf?“ entgegnete der Alte.
“Sie machen den Eindruck, als hätten Sie keine Zeit für mich.“
“Unsinn, mein Kind“, erwiderte ihr Chef, ohne von seiner Abschlagstelle aufzublicken. “Was gibt es denn Neues?“
“Ich denke, es ist jetzt langsam an der Zeit, dass Sie aktiv in das laufende Verfahren eingreifen. Sie hatten mir doch alle erdenkliche Hilfestellung versprochen, erinnern Sie sich?“
“Was soll ich tun?“
“Ich denke“, fuhr Sandra mit unnachgiebiger Stimme fort, “dass es langsam Zeit wird, die Karten auf den Tisch zu legen, wenn wir bei dem Prozess noch etwas herausholen wollen.“
“Was schlagen Sie also vor?“
“Sie sollten selbst einmal mit der Mandantin sprechen“, meinte die junge Rechtsanwältin.
Wortlos schnappte er sich seine Jacke vom Haken und folgte ihr zu ihrem Wagen. Sandra verblüffte seine Reaktion. Sie hatte eigentlich fest damit gerechnet, dass er ihren Vorschlag ablehnen würde. Als sie eine halbe Stunde später an der Tür zu Ellens Klinikzimmer klopften, wirkte der Alte sonderbar gefasst.
Schließlich traten sie ein. Am Fenster stand eine einundvierzigjährige Frau mit unfrisierten, rotblonden Haaren und starrte hinunter in den Klinikgarten. Ihre Handgelenke waren immer noch bandagiert. Als Sandra sich räusperte, drehte sie sich um. Ellens Augen wirkten immer noch so glanzlos wie kurz nach ihrer Operation.
“Hallo“, murmelte der Alte.
“Grüß dich, Gregor“, erwiderte Ellen und drehte sich wieder zum Fenster hin. “Nett, dass du mal vorbeischaust.“
“Wie geht‘s dir?“ fragte Lichtenfeld
“Geht so. Und wie war dein Leben?“
“Frag nicht“, winkte der Alte ab. “Es war ein Riesenfehler damals.“
“Wir haben alle Fehler gemacht“, entgegnete Ellen.
“Wenn ich das geahnt hätte ...“ Lichtenfelds Stimme versagte. Er räusperte sich heftig.
“Was dann?“ erwiderte Ellen milde. “Hätte das irgendetwas geändert? Du hattest doch nur deine Karriere im Kopf.“
“Du doch auch“, verteidigte sich Lichtenfeld.
“Hast ja Recht“, seufzte die Frau am Fenster.
“Er darf es nie erfahren, hörst du?“ fügte sie hinzu. “Nie. Das musst du mir versprechen.“
“Ich verspreche es dir“, antwortete der Alte. Dann deutete er auf Sandra, die sich bis dahin im Hintergrund gehalten hatte.
“Sie hat es herausbekommen“, meinte er und versuchte ein Lächeln.
“Dann gilt diese Abmachung auch für Sie“, bestimmte Ellen.
Sandra schüttelte energisch den Kopf. “Max hat ein Recht darauf zu erfahren ...“
“Unsinn“, widersprach Ellen. “Es würde ihm das Herz brechen. Hören Sie zu, ich erzähle Ihnen auch noch den Rest der Geschichte.“
Ellen hockte sich auf den Bettrand und nahm einen Schluck Mineralwasser.
“Gregor und ich hatten eine kurze und noch nicht einmal besonders heftige Affäre. Als ich schwanger wurde, wollte ich das zunächst gar nicht wahrhaben. Ich ignorierte einfach das werdende Leben in mir. Was nicht sein durfte, das konnte auch nicht sein. Als ich mich schließlich zur Abtreibung entschied, war es bereits zu spät. Gregor machte mir Vorwürfe, als ich wegen Unterstützung bei ihm anfragte. Die Abtreibung hätte er mir gerne bezahlt, aber mit der Vaterschaft und ihren Folgen wollte er nichts zu tun haben. Nun, Gregor war verheiratet. Ich wollte seine Ehe nicht zerstören. Durch einen Zufall erfuhr ich von einem privaten Adoptionsbüro in Maaseik. Dort rieb man sich natürlich freudig die Hände. Ein praktisch Neugeborenes brachte denen einen dicken Batzen Geld ein. Für mich sprangen auch noch fünfzigtausend Mark heraus. Ach, noch etwas am Rande: Diesen van de Loo habe ich während dieser Talkshow bei Heinz Steller natürlich im Publikum wieder erkannt. Von diesem Zeitpunkt an konnte ich kaum noch eine Nacht ruhig schlafen. Ich ahnte, was er vorhatte, und ich wusste, ich konnte mich nicht wehren.“
Ellen warf ihrer Strafverteidigerin einen bedauernden Blick zu. “Nicht böse sein, Sandra. Das war wirklich das einzige Mal, dass ich Ihnen die Unwahrheit erzählt habe. Mir blieb keine andere Wahl.“
Dann fuhr sie fort.
“So trug ich also das Kind aus, täuschte in Blankenberge eine Fehlgeburt vor und ließ mich von einer eigens hierfür beauftragten Hebamme entbinden. Das Kind kam allerdings entstellt zur Welt. Van de Loo fühlte sich auf einmal aus verständlichen Gründen an sämtliche Abmachungen nicht mehr gebunden. Was sollte ich jetzt tun? Meine ganze Schwangerschaft war doch nur darauf ausgelegt gewesen, das Kind unmittelbar nach der Geburt in andere Hände zu geben. Und jetzt stand ich da einsam und verlassen in Belgien mit einem Baby im Arm, das so aussah, wie wäre es einem Horrorfilm entsprungen. Ich war völlig geschockt und geriet in Panik. Also packte ich mir den Säugling unter den Arm, fuhr bis kurz hinter die Grenze und legte das Bündel im nächstbesten Ort einfach vor einer Kirche ab. Dann verschwand ich und versuchte diese Tat durch harte Arbeit im Büro und ein ausschweifendes Leben zu vergessen. Aber es gelang mir nicht.“
“Irgendwann zog es Sie zurück in dieses Dorf nahe der Grenze, stimmt‘s?“ unterbrach Sandra den Monolog ihrer Mandantin. “Sie stellten fest, dass Ihre Muttergefühle doch stärker waren als alles andere auf der Welt. Und plötzlich war Ihnen auch das Aussehen ihres Kindes vollkommen egal. Sie gaben sogar Ihren gut bezahlten Job auf, um ständig für Max da zu sein und ruinierten sich wegen der vielen Gesichtsoperationen finanziell.“
“Und dennoch darf es Max niemals erfahren“, murmelte Ellen. “Er würde mich bis an sein Lebensende hassen. Und das könnte ich nicht ertragen.“
“Lieber wollen Sie den Rest Ihres Lebens hinter Gitter verbringen?“ schnaubte Sandra.
“Erinnern Sie sich an unser erstes Gespräch im Vernehmungszimmer?“ lächelte Ellen. “Was sagte ich damals? Am schlimmsten ist es, keine Perspektive mehr im Leben zu haben. Und die habe ich vertan. Ich bin selbst Schuld.“
Als sie die Klinik wieder verließen, blieb Sandra ratlos vor ihrem Sportwagen stehen. Gregor Lichtenfeld schaute seine Mitarbeiterin lange an.
“Sie sind richtig gut, meine Liebe. Das freie Zimmer neben meinem Büro ist Ihnen jedenfalls sicher. Das war es doch, worum es Ihnen bei dem Fall in erster Linie ging, oder?“
“Was werden Sie jetzt unternehmen?“ wechselte sie das Thema.
“Ich fahre heute noch nach Süddeutschland. Ich möchte endlich meinen Sohn kennenlernen.“
“Werden Sie sich ihm offenbaren?“
Ihr Chef machte ein nachdenkliches Gesicht. “Ich bin mir nicht sicher. Wenn ich ihm sage, dass ich sein Vater bin, wird er natürlich auch wissen wollen, wer seine Mutter ist. Der Junge wurde von Ellen schon viel zu lange belogen. Da muss nicht noch eine weitere Lüge hinzukommen. Aber vielleicht gelingt es mir ja, Ellen im Laufe des Verfahrens doch noch umzustimmen. Dann erkenne ich natürlich auch die Vaterschaft an. Selbst auf die Gefahr hin, dass meine Ehe in die Brüche geht.“
Er machte eine kurze Pause.
“Seien Sie mir deshalb nicht böse, wenn ich Sie von dem Fall abziehe und mich ab sofort selbst um Ellens Verteidigung kümmere. Ich möchte Sie nicht in Gewissenskonflikte bringen.“
Sandra schüttelte nur stumm dem Kopf. Dann stieg sie in ihren Wagen. Noch während der Fahrt rief sie Karin an. Was sie jetzt brauchte, waren starke Arme, in die sie sich fallen lassen konnte.
Texte: Trautmannstorff
Cover: Trautmannstorff
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2021
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