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Alle Rechte vorbehalten © Januar 2021
Oumarou Danladi
KAPITEL
TEIL I SCHÖNE TAGE IN NGAUNDERE
IM SCHATTEN DES MANGOBAUMS
LOKALES LEBEN
PALMATA SENIOR
GEHEIMTREFFEN IN BEELEL
TEIL II FERIEN IN DOUALA
DOUALA
LAWAL, DER ZERFALL INNERER WERTE
NEW-BELL
LANGER HEIMWEG
TEIL III IN DEN FÄNGEN DER GESICHTSWAHRUNG
RENDEZVOUS MIT EINEM SCHATTEN
ZEICHEN DER UNSCHULD
WECHSELBAD DER GEFÜHLE
WIEDERSEHEN AM SEKKO
HIT THE ROAD JACK
TEIL IV DURCH DEN TOD GEHEILT
NEBLIGES MORGENGRAUEN
DIE UNHEIMLICHEN BESUCHER
U-HAFT HOTEL, SUITE NR. 2
WARTERAUM DES TODES
BÂ-SAABANA, UNVERSTANDEN
TEIL V IYEENDE HELTI
RUFE NACH VERGELTUNG
RÜCKZUG NACH DANFI-GALDI.
DER HEILIGE BAOBAB
AUF DIDI MAIMUNAS FERSEN
JEDEM SEINEN REGEN
TEIL VI DIE SCHICKSALHAFTEN JAHRE
STUMMER ABSCHIED
YAOUNDÉ
DAS SCHWEIGEN DIDDI MAIMUNAS
PALMATA JUNIOR
Diddi-Maimuna Saabana - Zentralfigur der Geschichte. Tochter von Bâ Saabana und Dâ Kebbindo Saabana. Die große Liebe von Sanda Umaru. Sie wurde zunächst mit Habuba Killbu verheiratet.
Sanda Umaru - Meistens Sanda genannt. Gymnasiast in Abiturklasse. Zusammen mit Diddi Maimuna, Hauptperson des Romans. Er wohnt bei seinem Onkel, ein hoher Beamter der Schulverwaltung.
Bâ-Saabana - Vater von Diddi Maimuna. Ältester der Gebrüder Saabana. Sein Name: Yaadji Saabana. Er wird aber respektvoll Bâ Saabana genannt, aufgrund seines Ansehens.
Dâ-Kebbindo Saabana - Diddi Maimunas Mutter
Abbo Saabana - Onkel von Diddi Maimuna. Ehemann von Dâ-Dia. Ein linker Bazillus. Er heckte einen perfiden Plan aus, um die Verheiratung von Diddi Mamuna zu organisieren und daraus Kapital zu schlagen.
Habuba Killbu - Erster Sohn der Killbus. Taxiunternehmer, Besitzer mehrerer Mietwohnungen. Machthungrig. Er setzte alles dran, um Diddi Maimuna zu heiraten. Seine Hauptmotivation, die Rettung seines gesellschaftlichen Ansehens.
Geschwister Saabana - Der Altersreihe nach: Bâ, Djafaru, Hadjara (Schwester), Djulde,Abbo und Djingui-Pullo.
Bâ Saabanas Töchter - Daasso, Binta, Kaltuma,Roufino, Diddi Maimuna und Fanta.
Bakary - Vetter von Diddi Maimuna. Mitarbeiter von Habuba Killbu. Steht zur Erfüllung jeden Auftrages seines Chefs immer bereit. Sein Beruf, Taxifahrer.
Oumar-Garba - Bester Freund von Sanda. In guten, wie in schlechten Zeiten, immer da.
Astadicko - Freundin von Oumar-Garba und Nachbarin der Saabanas. Für Sanda, eine wertvolle Verbindung zu Diddi Maimuna.
Yelwa Kaigama - Diddi Maimunas Sandkastenfreundin
Ardo Saabana - Clanältester und Onkel der Geschwister Saabana. Schlichter in allen Streitfragen. Ihm gehört immer das letzte Wort in Ernstfälle.
Ende der achtziger Jahre. Um die steigenden Lebenshaltungskosten zu bestreiten oder ein aufgezwängtes Bedürfnis nach Modernem zu stillen, griff so mancher Bürger auf Korruption, Amts- und Machtmissbrauch und auf dunkle Geschäfte zurück. Eine Situation, welche für Zündstoff in dieser Geschichte sorgt. Doch das Hauptthema des Romans ist eine verbotene Liebe zweier Menschen, ständig begleitet von Generationskonflikten und von der großen Angst deren Familien vor der Meinung anderer.
Der Handlungsort dieser Geschichte ist hauptsächlich Ngaundere, die Hauptstadt der Provinz* Adamaua, Kamerun. Hier herrschen vermutlich die landesbesten klimatischen Verhältnisse. Während sich im Süden die Regenzeit mit einer Dauer von bis zu acht Monaten unendlich lange hinzieht, herrscht im hohen Norden des Landes eine ebenso lange Trockenzeit. Dank ihrer Lage in der Mitte Kameruns kennt die Provinz Adamaua dagegen solche Extreme nicht. Hier teilen sich die beiden Jahreszeiten das Jahr fast gerecht, mit einem leichten Vorteil für die feuchte Jahreshälfte. Das Besondere hier ereignet sich aber immer kurz nach der Rückkehr der Regenzeit. Zusammen mit dem milden Wind, den sie mitbringen, verdrängen die ersten Niederschläge die Trockenzeit und geben der Natur einen neuen Lebensimpuls. Eine dem Frühling ähnliche Atmosphäre rüttelt die Vegetation aus der Lethargie der vergangenen trostlosen Monate. Und genau in dieser angenehmen Zeit findet diese Geschichte ihren Anfang.
In diesem Savannenstädtchen, wo Gegensätze aufeinanderprallen, bescherte die Rückkehr der Regenzeit dem Leben geradezu die herrlichsten Wochen des Jahres. Noch herrlicher war es für Diddi Maimuna, ein blühendes, volljährig werdendes Mädchen, dessen Welt noch in Ordnung war, als es sich in einen Abiturienten verliebte. Viel herrlicher wäre es für die junge Frau, wenn sie mit ihrer Verliebtheit den Plan eines älteren machthungrigen Geschäftsmannes nicht durchkreuzt hätte. Dieser beabsichtigte, ihre Familie dazu zu bewegen, sie mit ihm zu verheiraten. Graue Wolken weit am Horizont.
IM SCHATTEN DES MANGOBAUMS
LOKALES LEBEN
PALMATA SENIOR
GEHEIMTREFFEN IN BEELEL
Abbo Saabana fasste gerade die Argumente zusammen, die er verwenden würde, um seinen älteren Bruder zu überzeugen, dass er seine Tochter dem Taxiunternehmer Habuba, und nur ihm, zur Heirat geben solle, als dieser ankam. Habuba Killbu, ein vierzigjähriger hagerer Mann, bog von der Hauptstraße ab, steuerte sein Motorrad langsam durch den sandigen Hofeingang und kam fast ohne Geräusche zum Stehen. Er stieg von der Geländemaschine ab, rollte diese mit Mühe und Not ein Stück weiter und stellte sie in eine Ecke, neben den Geländewagen seines Ex- Geschäftspartners ab. Mit seinem knappen Zentner hatte Habuba der schweren Maschine kaum genug Gewicht und Kraft entgegenzusetzen. Er sicherte den Lenker gegen Diebstahl, zog den Zündschlüssel aus dem Schloss und steckte ihn in die Seitentasche seines Saaros, eines langen Gewandes. Dann ging er langsamen Schrittes auf die Haustür zu.
Vor Abbos Haus breitete sich ein gepflegter Außenhof aus, der von der Straße durch ein weißes Mäuerchen getrennt war. Kinder der Nachbarschaft wagten es manchmal bei Abbos Abwesenheit, in seinem Hof Tile zu spielen, ein in Ngaundere beliebtes Kieselsteinspiel. Aber sobald sie seine Rückkehr witterten, ergriffen sie immer die Flucht, als sei er ein bissiger Hund. Deswegen nannten sie ihn Bissiger Hund. Rechts am Hof stand eine Zitronenbaumreihe, und links eine dicke Mauer, welche ein Zaunstreitmüder Nachbar errichten ließ, um die Grenze seines Grundbesitzes unverkennbar zu markieren und um endlich seine Ruhe zu haben. Abbos Haus, ein Bungalow mit Wellblechdach, weißen Außenwänden und breiten Fenstern stand tief im Grundstück. Zur Haustür gelangte man über eine vierstufige Treppe, die das ganze Anwesen elegant wirken ließ. Bevor er den Hof überquerte, drehte sich Abbos Besucher zweimal um und warf seinem Motorrad kurze Blicke zu. Der dritte und längere kam, als er bereits auf der oberen Treppenstufe vor der Haustür stand. Habuba musste seine Maschine sehr lieben. Dann klopfte er.
Abbo schaute zuerst vorsichtig durch die Gardine. Erst dann öffnete er. Zu diesem Zeitpunkt hatte er zu viele Probleme, um jedem Menschen seine Tür zu öffnen. Schulden, Veruntreuungen und dunkle Geschäfte hatten aus ihm einen Mann ohne Freiheit gemacht. Abbo Saabana weigerte sich stets, seine Schulden zu begleichen, wenn die Gläubiger keine handfesten Beweise gegen ihn liefern konnten. Deshalb sorgte er von vorne herein dafür, dass er seine Schulden ohne Zeugen und ohne Vertrag machte. Es bedurfte immer eines großen Druckes, damit er seine Verbindlichkeiten beglich. In seiner Umgebung war er deshalb derjenige, der mit der Justiz am häufigsten in Konflikt kam. Aber bis heute war er glimpflich davongekommen. Abbo erschien immer sauber. Wenigstens äußerlich. Er gehörte zur Kategorie jener Menschen, die einen Spiegel besitzen, nur um den Glanz ihrer Anzüge zu sehen, nicht aber den ihres inneren Ichs. Bestechung, Nötigung und Täuschung waren für ihn die wichtigsten Werkzeuge. Abbo zögerte keine Sekunde, all jene zu betrügen, die ihm nur einen kleinen Anlass dazu gaben. Sein Gewissen war ausgeschaltet. Sein Mut zu kriminellen Machenschaften brachte Abbo dazu, jene Grenze zu überschreiten, die über seine eigenen Vorstellungen der Vernunft hinausging. Er war aufgrund von vier ähnlichen Vergehen gleichzeitig angeklagt. Ein und dasselbe Grundstück an mehreren Personen gleichzeitig zu verkaufen, gehörte zu seinem normalen Katalog. Der Richter verurteilte ihn, die Kläger zu entschädigen und die Prozesskosten innerhalb von einem Monat zu zahlen. Sonst müsste er direkt ins Gefängnis wandern. Nachdem er diesen teuren Prozess verloren hatte, wandten sich viele seiner Kunden von ihm ab. Selbst Polizeibeamte, denen er Geld geliehen hatte, um sie besser unter Kontrolle zu halten, zahlten ihm alles vor der Fälligkeit zurück, mit der Absicht sich von ihm zu befreien. Freunde hatte er kaum. Abbo war einfach ein übler Mensch. Das einzig Positive, was ihm zu diesem Zeitpunkt blieb, war, dass er Angehöriger der angesehenen Familie Saabana war. Und in diesem Zusammenhang heckte er einen perfiden Plan aus, den er selbst als genial betrachtete. Habuba Killbu ging hinein. Er wechselte mit seinem Gastgeber nur kurze Begrüßungsworte.
Nach kurzem Schweigen fragte Abbo seinen Besucher:
„Na, hast du mit deinem Alten gesprochen?“
„Ja“, antwortete Habuba Killbu. „Zuerst freute ihn meine Nachricht sehr. Mein Vater träumt immer noch von einem Enkelsohn, der von mir, seinem ersten Sohn, abstammen soll. Obwohl dieser Traum nach meiner misslungenen ersten Ehe einen herben Rückschlag erleiden musste, betrachtet er sich irgendwie immer noch als baldiger Großvater. Äußerlich wirkte er also sehr begeistert. Dann setzte er sofort eine ernste Miene auf und sagte vorsichtig: Sein Wunsch sei, dass ich mir meiner Entscheidung sehr sicher bin und dass ich die klare und freiwillige Zustimmung der jungen Frau einhole, ehe er sich bei ihrem Vater meldet. Er wolle nichts unternehmen, was seine ehrwürdige Freundschaft zu Bâ-Saabana gefährden könne. Damals in ihren Jugendtagen hatten sie zwei lange Jahre unter dem Einfluss eines strengen Lehrmeisters leiden müssen. Es war die Geburt einer Freundschaft, welche sie heute noch pflegen. Und gerade das wolle er nicht aufs Spiel setzen. Wenn also ich, sein Sohn, die Tochter seines Freundes heiraten möchte, dann müsse alles nach den strengsten Regeln der Vernunft ablaufen. Dies sei ihm sehr wichtig, denn es gäbe nichts Unehrenhafteres als eine gescheiterte Ehe zwischen Leuten, deren Familien sich gut kennen.“
„Anständig wie immer?“, lästerte Abbo.
„Ja, aber wir sprechen über meinen Vater. Also achte bitte auf deine Wortwahl“, erwiderte Habuba. „Anstatt dich über ihn lustig zu machen, erzähle mir lieber, wie wir das Einverständnis des Mädchens einholen können.“
„Meine Nichte wird schon mit der Entscheidung der Familie über einen Ehemann für sie einverstanden sein. Da ich zu den Leuten zähle, die darüber das Sagen haben, brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Nur: Damit ich mich zu deinen Gunsten äußere und meinen Bruder sowie unseren Clanältesten überzeuge, auch auf deiner Seite zu stehen, brauche ich deine Hilfe. Du weißt ja, es ist immer die eine Hand, die die andere wäscht.“
„Was kann ich für dich tun?“, fragte Habuba nach kurzer Überlegung.
„Also gut. Über die letzten Gerichtsurteile gegen mich weißt du sicher Bescheid. Um die gegnerischen Parteien zu entschädigen, muss ich also sehr schnell an viel Geld kommen. Mein Geschäft läuft aber momentan schlecht. Fast alle Einzelhändler für Wellblech erledigen ihren Großeinkauf nur noch bei der Konkurrenz, also bei Alhadji Bello. Ich muss die Leute irgendwie dazu bringen, die Ware bei mir zu beziehen und werde dafür folgendermaßen vorgehen: Mit Hilfe der Polizei werde ich sie überzeugen, bei mir groß einzukaufen. Und genau an dieser Stelle brauche ich deine Hilfe. Also, du hilfst mir, die Polizei für die Umstimmung der Einzelhändler zu gewinnen und ich helfe dir, meine Nichte zu heiraten.“
„Mach doch einfach eine gute Werbung und versuche mal, gut mit deinen Kunden umzugehen! Wieso willst du Polizisten in diese Sache hineinziehen, und wie können sie die Ladenbesitzer bewegen, bei dir einzukaufen?“
„Ganz einfach“, antwortete Abbo, „indem sie die Wiederverkäufer mit intensiven Preiskontrollen, ja sogar mit Lizenzentzug drohen, falls diese ihren Lieferanten nicht wechseln sollten.“
„Und warum soll gerade ich dir bei der Motivierung der Polizeibeamten behilflich sein?“
„Wir wissen, dass du größtes Ansehen bei vielen Ordnungshütern genießt, denn in dem Skandal der gefälschten Lizenzen für die neuen Stände des Markplatzes Petit-Marché hattest du vor Gericht zu ihrem Vorteil ausgesagt. Sie schulden dir deshalb Anerkennung und werden zweifellos bereit sein, dir jeden kleinen Gefallen zu tun. Zudem wirst du ihnen viel Geld zustecken. Und dafür werden die Beamten die Einzelhändler auf der Liste, die ich dir geben werde, überzeugen, ihre Ware nicht mehr von ihrem bisherigen Großhändler zu beziehen, sondern nur bei mir. So werde ich mein Geschäft wieder zum Laufen bringen.“
„Deine Nichte zu heiraten wird zweifellos etwas Großartiges für mich. Denn dadurch wird sich nicht nur mein gesellschaftlicher Status erholen, ich werde auch der ständigen Nörgelei meiner Familie ein jähes Ende bereiten. Seit der Geschichte mit meiner Ex-Frau verlangt jeder um mich herum, ich solle eine andere, bessere Frau heiraten, um mein Ansehen in den Augen der Gesellschaft zu retten. Und genau das werde ich tun. Bloß, was du von mir verlangst, grenzt an ein Wunder, das nur von jemandem vollbracht werden kann, der eine größere Machtstellung hat, wie zum Beispiel von einem Verwandten eines Ministers oder ähnlichem. Aber ich, wie kann ich denn so etwas zustande bringen? Für mich wird es schwer sein.“
„Bestimmt nicht! Du tust so, als wüsstest du nicht genau, wie die Dinge zu laufen haben. Nur Argumente und Geld sprechen für sich! Du bist im Besitz von beiden. Mach dir da keinen Kopf!“
„Im Prinzip hast du Recht. Aber das wird kein einfaches Unterfangen sein“, sagte Habuba.
„Willst du das Mädchen, ja oder nein? Dass ich mich im Familienrat zu deinen Gunsten äußere, hat seinen Preis! Meine Nichte ist momentan eines der begehrtesten Mädchen der Stadt. Das weißt du genau. Obwohl sie sich noch an keinem Mann interessiert zeigt, wissen wir, dass es viele inoffizielle Anwärter gibt. Dir ist auch klar, dass du jetzt, und genau jetzt, heiraten solltest, wenn du Wert auf die Rettung deines Rufs legst.“
„Natürlich will ich sie zu der Meinen machen. Erst dann wird mein Haus ein richtiges Haus. Ich werde deswegen das zu tun versuchen, was du von mir verlangst. Aber vieles in dieser Sache liegt nicht allein in unseren Händen. Dein Mitbewerber Alhadji Bello zum Beispiel genießt großen Respekt in der ganzen Stadt. Seine Kunden zu deinen Gunsten umzustimmen, ist deshalb fast aussichtslos. Außerdem müssen die Polizeibeamten zuerst zur Kooperation überredet werden. Und das Mädchen selbst kann viele Probleme machen!“
„Hör mal zu, mein Lieber“, sagte Abbo hochnäsig. „Mit versuchen kannst du die ganze Geschichte vergessen. Nur zu versuchen reicht nicht aus. Du musst die Sache erfolgreich durchziehen. Sieh mal: Das Mädchen ist nicht wichtig. Es wird jedenfalls die Welt erst unter deinem Dach wirklich entdecken. Was Alhadji Bello betrifft: Er wird vom ganzen Geschehen überrumpelt. Bevor er irgendetwas begreift, wird er bereits seine Kunden verloren haben. Und die Polizisten werden dir sicher aus der Hand fressen. Also, was willst du noch? Es wird schon klappen.“
„Ich hoffe“, sagte Habuba, „und du, du musst wissen, dass ich Tag und Nacht nur von einer Sache träume: Deine Nichte zu heiraten.“
„Ach...“, tobte Abbo, „träumen, träumen. Dieser Fehler wird gern und häufig gemacht. Du sollst deine Zeit nicht mit Träumen vergeuden! Stattdessen sollst du handeln, verstehst du? Handeln, um das zu realisieren, was in deinem Traum hätte stecken können. Sobald die Kunden von Alhadji Bello sich mir zuwenden, wird Diddi Maimuna dir gehören. Du wirst dann nicht mehr nur träumen, sondern deine Traumfrau in deinem eigenen Reich haben. Ich habe bereits Verhandlungen mit ihrem Vater aufgenommen.“
Habuba stellte sich noch einmal die ideale Perspektive vor, Ehemann von der jungen Frau, die er so begehrte, zu sein, und verscheuchte somit all seine Bedenken und Zweifel. Dann sagte er:
„Ich will es. Und ich werde alles daransetzen.“
Abbo reichte seinem Besucher die Liste der betreffenden Einzelhändler, die Liste jener unbescholtenen Menschen, deren Ruhe er mit seinem teuflischen Plan zu stören beabsichtigte. Habuba Killbu stand auf, nahm zögerlich seinen Schlüsselbund vom Tisch und ließ ihn unachtsam wieder fallen, da seine Hände leicht zitterten. Immer noch zögernd ging er in die Hocke, hob den Schlüsselbund wieder auf und steckte ihn in die Tasche. Er zog ihn dann wieder heraus und verabschiedete sich leicht verwirrt. Mit dieser Körpersprache signalisierte er unbewusst seine Unsicherheit. Bevor er hinausging, warnte ihn deshalb Abbo Saabana.
„Seit ein paar Monaten haben wir unseren alten Streit beigelegt und uns für den Frieden entschieden. Ich wünsche, dass es weiterhin so bleibt.“
„Wie, wir?“, fragte Habuba, obwohl er verwirrt war. „Ich, vor allem ich, hatte mich für den Frieden entschieden. Aber sprechen wir nicht mehr darüber.“
„Du hast Recht“, erwiderte Abbo übertrieben nett, nur um sein Ziel zu erreichen „und wie gesagt, ich wünsche, dass es weiter so bleibt. Es wäre ebenso wünschenswert, dass wir unsere Zusammenarbeit geheim halten. Von nun an werden wir in der Öffentlichkeit nicht mehr zusammen auftreten, denn die Art und Weise, wie wir unsere frühere Geschäftspartnerschaft lösten, war nicht... Na ja, du weißt es schon. Wenn man uns jetzt oft zusammen sieht, wird man sich schon wundern.“
„Auf meine Diskretion kannst du dich verlassen“, antwortete Habuba Killbu.
Hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Zweifeln verabschiedete sich Habuba mit einem Grinsen. Als er die Tür öffnete, fiel sein Blick sofort auf Halbwüchsige, die um sein Motorrad im Halbkreis standen. Sie gaben die wunderbarsten Kommentare über das japanische Prachtstück ab, das nun Objekt ihrer Begierde geworden war. Eine Geländemaschine mit Doppelauspuff zu besitzen gehörte zu den Träumen eines jeden Kindes aus Ngaundere. Habuba gewann deshalb sein Gefühl des Stolzes zurück. Er ließ die Haustür laut ins Schloss fallen und zog auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich. Die Reaktion, die er sich von ihnen erhoffte, blieb jedoch zunächst aus. Anstatt ihn zu bewundern, ergriffen die Kinder sofort die Flucht. Mit wilden Sprüngen über das weiße Mäuerchen retteten sie sich auf die Hauptstraße. Einer von ihnen, der gemerkt hatte, dass der Mann an der Haustür doch nicht Abbo war, hielt an und entwarnte lauthals seine Kumpane: „Es ist nicht Bissiger Hund!“ Die Kinder beendeten ihre Flucht und standen dann am Straßenrand, um den Glücklichen zu bewundern, der das begehrte Prachtstück starten würde.
Mit einem für seine Kräfteverhältnisse grandiosen Einsatz rückte Habuba sein Motorrad ein Stück weg vom Geländewagen. Als er endlich auf der Maschine saß und sein Gleichgewicht mit Hilfe beider Füße fest am Boden hielt, griff er das untere Ende seines langen Gewandes und faltete es bis zur Hüfte zusammen. Dann schob er das gefaltete Stück unter sein Gesäß, um zu verhindern, dass sich sein Gewand in der Kette oder in den Speichern des Hinterrades verfing. Das war hier eine der wenigen Sicherheitsmaßnahmen, die beim Motorradfahren beachtet wurden. Habuba trug weder einen Helm noch passende Kleidung. An den Füßen hatte er nur bequeme Ledersandalen. Der hagere Mann startete sein Geschoss unter den neidischen und zugleich bewundernden Blicken der Jugendlichen und dachte, wie schön es wäre, wenn ihn Abbos Nichte ebenso bewundern würde. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass sich bei Diddi Maimuna etwas anbahnte, was sein Vorhaben unmöglich machen könnte.
Sanda Umaru, für gewöhnlich Sanda genannt, setzte sich auf die Balustrade vor dem Haupteingang des Hauses seines Onkels, eines Schulverwaltungsbeamten. Er ließ seine Beine baumeln und schaute verträumt in den Himmel eines prächtigen Vormittags. Seine Aufmerksamkeit wurde auf Schwalben gezogen, die erst hoch in Richtung Wolken stiegen und sich dann, wie im Sturzflug der Erde wieder näherten. Es sah so aus, als wollten die Vögel ihre Freude über die Rückkehr der Regenzeit auf diese Weise zeigen. Die nahezu wundervollsten Tage des Jahres in der Adamaua - Hochplateau sind der Beginn der Regenzeit. Diese hatte sich vor knapp einem Monat zurückgemeldet und eine frische und leicht zu atmende Luft mitgebracht. Die Sonne, die vor wenigen Wochen heiß und brennend war, sandte jetzt lediglich milde Strahlen. Alles begann zu grünen und zu blühen. Zu dieser Jahreszeit trugen die Mangobäume bereits Früchte. Mitten im Hof vor dem Haus stand ein Mangobaum, dessen Früchte dieses Jahr zu früh reif wurden. Rund um den Baum verwandelte sich der Boden langsam in einen grünen Rasenteppich. In fast regelmäßigen Abständen sprossen eine Art Gänseblümchen durch das dünne Gras und machte den Eindruck bunter Motive auf einem Teppich. Von der fünfzig Meter entfernten Hauptstraße aus hatte man einen wunderbaren Blick auf das gesamte Anwesen des Schulinspektors: erst auf die kurze Steinplatteneinfahrt, dann auf den Hof selbst und an dessen Ende auf das Haus. Rechts am Ende des Hofs streichelte der leichte Wind die Wäsche an der Leine, und über das einstöckige Gebäude hinweg sah man die Baumreihen des Gouverneursviertels in die Ferne.
Sanda war vor drei Jahren aus Banyo gekommen, einem Städtchen gut vierhundert Kilometer entfernt fast am südlichen Ende des Adamaua - Hochlands. Er besuchte seitdem in Ngaundere das Gymnasium und wohnte im Hause seines Onkels. Die anderen Mitbewohner waren der Hausherr selbst, seine Ehefrau, die Kinder Bashiru Maalam und Bâpetel, sowie Amadu, ein Schwager des Familienvaters.
Der von den Vögeln faszinierte Sanda beobachtete, wie eine Schwalbe zuerst in einem rasanten Flug vom Himmel heruntersauste und dann sehr elegant auf einem Stromkabel landete, das über der Krone des Mangobaums verlief. Dabei verweilte sein Blick am Wipfel des Baumes. Der Anblick der reifen Mangos weckte sofort seinen Appetit. Der junge Mann beobachtete, wie die nächste Schwalbe auch vom Himmel heruntersauste und genau so elegant wie die erste auf dem Stromkabel über den Baum landete. Sein Blick blieb erneut an den reifen Mangos hängen und sein Appetit wuchs. Dann landete die nächste Schwalbe, und noch eine und noch eine. Mit jeder Schwalbe, deren Landung Sandas Augen auf reife Mangos lenkte, wuchs sein Appetit. Irgendwann war es ein gutes Dutzend Schwalben. Er sprang mühelos von der Balustrade herunter und suchte aus der Scheune eine Obstpflücker-Harke. Als er merkte, dass das Werkzeug zu kurz war, beschloss er, auf den Baum zu klettern. Sanda musste einen großen Appetit auf die Früchte haben. Er schnappte sich einen Beutel, eilte zum Hof und ging auf den dicken Stamm zu. Aber er kletterte nicht sofort hinauf. Zuerst vergewisserte er sich, dass kein Bienenschwarm hier Rast machte oder sich in einer Baumhöhle eingenistet hatte, denn beim Vernachlässigen dieses Details könnte sein Heißhunger auf Mangos einen Krankenhausbesuch zur Folge haben.
Inzwischen war Dâ-Dia, die beste Freundin von Sandas Tante, zu Besuch gekommen. Sie war in Begleitung ihrer Nichte, einer hübschen jungen Frau namens Diddi Maimuna. Diese Eigenschaft sah man ihr jedenfalls äußerlich sofort an. Doch je näher man die junge Frau kannte, desto unbedeutender wurde ihre äußere Schönheit, denn das Wichtigste an ihr war ein kaum zu übertreffender, natürlicher Charme. Jede Prinzessin auf der Suche nach Beliebtheit beim Volk würde sich wünschen, so wie Diddi Maimuna auf Leute zu wirken. Durch ihr Verhalten und besonders durch die positive Aura um sie herum wirkte sie immer angenehm auf die Menschen. Ob für eine Untersuchung im Krankenhaus, für eine Inderi oder für einen einfachen Besuch war Dâ-Dia deshalb gerne in Diddi Maimunas Begleitung, denn sie wollte immer ein positives Bild von sich zu hinterlassen. Aber heute war Dâ-Dia ganz gelassen, denn sie saß im Wohnzimmer mit nur ihrer Nichte und ihrer besten Freundin. Sie fühlte sich deshalb ungeniert und fing irgendwann an, über sehr persönliche Dinge hinsichtlich ihres Ehemannes zu reden, was ihrer Nichte unangenehm wurde.
Diddi Maimuna ließ die beiden Frauen allein zurück, flüchtete auf die Veranda und fing an, den vom Mangobaum beherrschten Hof zu bewundern. Sie blickte verträumt auf die Wiese, als ein Rascheln aus dem Wipfel des Baumes sie erschreckte. Als sie kurz nach oben blickte, sah sie zuerst nur einen Vogel, der eine Mango eifrig pickte. Der Anblick der reifen Früchte um den gelben Webervogel herum weckte ihren Appetit. Gerade dieser Baum genoss im ganzen Stadtviertel die Berühmtheit, Träger der köstlichsten Früchte zu sein. Ein zweites und heftigeres Rascheln zwang den Vogel, wegzufliegen. Neugierig begab sich die junge Frau unter den Baum und blickte auf. Erst da nahm sie Sanda wahr. In diesem Moment räusperte sie sich, woraufhin er auf sie heruntersah. Als Sanda den Eindruck gewann, dass Dâ-Dias Begleiterin erschrocken war, scherzte er:
„Keine Angst, Mairamdjo (junge Frau). Der Baumgeist schläft noch und wird erst bei Sonnenuntergang wieder wach!“
„Ich habe keine Angst, Derkedjo (junger Mann). Ich wollte nur sehen, wer den armen Webervogel verscheuchte“.
„Ach so, ich bin der Schuldige und bitte die Schützerin aller Webervögel um Vergebung.“
Amüsiert sah sie ihn mit einem Lächeln noch einmal an, und ihr Blick fiel erneut auf die reifen Früchte. Dann gedachte sie, Sanda um eine Mango zu bitten. Aber sie schwieg. Zwei Hindernisse standen ihr im Wege: Zum einen kannte sie den Menschen auf den Zweigen nicht, zum anderen stand sie unter dem Einfluss ihrer angeborenen Zurückhaltung. Der Anblick der prallen Früchte ließ ihr aber keine Chance. Sie überwand ihre Reserviertheit und traute sich die für ihr Verhältnis peinliche Frage. Dabei sprach sie in einer etwas verhaltenen Art. Zum selben Zeitpunkt als Diddi Maimuna wieder nach oben blickte, schob Sanda einige Zweige auseinander, um besser nach unten zu sehen. Er entdeckte wunderschöne Augen in einem hübschen Gesicht, die ihm entgegen schauten. Über ihre Schönheit hinaus sah man ihr etwas Fröhliches, Natürliches und Naives an. Große Kreolen an ihren Ohren, ein kleiner funkelnder Stein an der Nase und ein auf die Stirn gezeichneter Punkt im Stil indischer Frauen gaben ihrem Gesicht einen einmaligen Ausdruck und verzauberten Sanda. Er schaute ihr intensiv in die Augen und lächelte. Diddi Maimuna antwortete mit einem Lächeln und brachte dadurch ihre Grübchen zum Vorschein. In Zusammenwirken mit dem Stein an ihrer Nase betonten diese die Schönheit der jungen Frau noch mehr. Genau in diesem Augenblick vergaß Sanda zum ersten Mal seit zwei Wochen die Sorgen, die ihm seine völlig misslungene Klassenarbeit in Philosophie bereitete. Er suchte eine Mango aus dem Beutel, der an seiner Schulter hing, um diese der jungen Frau zuzuwerfen und schaute wieder nach unten. Sie, im Schatten des Mangobaums und er, auf einem hohen Ast, tauschten gefesselte Blicke, wie eingefroren. Sanda musste sich an einen richtig festhalten, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Schließlich steckte er die Mango wieder ein. Dieser Bezaubernden etwas zuzuwerfen wäre ein Unding. Er stieg deshalb den Baum hinunter, um ihr die Frucht persönlich zu überreichen.
Als Sanda sich direkt vor der jungen Frau befand, stellte er fest, dass sie in Wirklichkeit viel hübscher war. Das besondere an ihr war – ja, was war an Diddi Maimuna nicht besonders? In Sandas Augen war alles an ihr etwas Besonderes. Ihre Augen und ihr Lächeln strahlten deutlich, dass sie das äußere Abbild ihrer inneren Schönheit waren. Jetzt konnte er nicht nur ihr Gesicht sehen, sondern auch ihre ganze Statur. Eine junge Schönheit in ihrem blühendsten Alter. Sie war barfuß. Man konnte noch die Abdrücke deutlich erkennen, welche ihre Schuhe auf die gepflegten Füße hinterlassen hatten. Ihre Zehen und die Ränder ihrer Füße waren mit Henna bemalt und sahen wunderschön aus. Sanda und Diddi Maimuna schauten sich noch eine Zeit an, deren Dauer sie nicht hätten genau benennen können. Während dieser Zeit sagte keiner etwas. Wenigstens nicht mit Hilfe des gesprochenen Wortes. Sie unterhielten sich nur in jener Sprache, die jeder Mensch sprechen kann, dessen Alphabet jedoch niemand zu definieren weiß: in der Sprache der Gefühle. Zu diesem Zeitpunkt hörte alles auf zu existieren, was sich um die beiden herum befand. Sie hörten weder das Gezwitscher der Vögel, noch das Rascheln der durch den leichten Wind geschüttelten Blätter des Mangobaumes. Sie hörten weder das entfernte Brummen der Autos, die auf der benachbarten Hauptstraße fuhren, noch die Schreie des Babys einer Nachbarin. Sie hörten weder das Lachen der zwei Frauen, die im Wohnzimmer saßen, noch den Klang der Musik, die im Haus spielte. Unter dem Schatten des Mangobaums vergaßen sie den Rest der Welt. Sanda erwachte als erster aus dieser Art Starre und bat Diddi Maimuna, sich mit ihm auf die Veranda zu setzen. Und erneut sagten sie nichts, außer das, was ihre Blicke gegenseitig ausdrückten. Sanda suchte die prallste Mango aus dem immer noch an seinen Schultern hängenden Beutel heraus und legte sie in die rechte Hand der jungen Frau. Er bekam eine Art Gänsehaut, als seine Hand, die ihre berührte und las in ihrem Gesichtsausdruck, dass es ihr genauso gehen musste. Langsam ließ der verzauberte junge Mann die Mango und die Hand der jungen Schönheit los und sagte:
„Dâ-Dia muss eine glückliche Person sein, einen Engel wie dich als Begleiterin zu haben. Ich frage mich nur, warum du sie früher nie hierhin begleitet hast!“
„Ich bin doch kein Engel!“, erwiderte Diddi Maimuna.
„In meinen Augen schon!“
„Danke für das Kompliment“, erwiderte die junge Frau, „ich war aber schon ein paar Mal mit meiner Tante hier!“
„Hätte ich das nur gewusst, so hätte ich mir keinen Besuch von ihr entgehen lassen. Übrigens, Dâ-Dias Begleitengel hat bestimmt einen Namen. Darf ich wissen, wie er lautet?“
„Mein Name ist Diddi.“
„Diddi wer?“ (Denn der Vorname Diddi gilt nur als Teil eines Doppelvornamens.)
„Diddi Maimuna, von der Familie Saabana. Man nennt mich auch die Haarflechterin“
„Du hast einen sehr schönen Namen. Und dieser passt genau zu dir“, machte ihr Sanda weitere Komplimente.
„Und wie heißt der Webervogelscheucher?“, fragte Diddi Maimuna ironisch.
„Sanda, eigentlich Sanda Umaru. Aber man nennt mich meistens Sanda.”
Just in diesem Augenblick kam Dâ-Dia aus dem Wohnzimmer heraus. Sie rückte ihr seidenes Kopftuch und Modjare aus Mekka – worauf sie sehr stolz war – zurecht und sprach ihre Nichte an.
„Ach, hier bist du! Wir müssen gleich los, denn die von meinem Mann genehmigte Zeit für diesen Besuch ist schon abgelaufen. Kannst du bitte das nächste Taxi anhalten?“
Diddi Maimuna und Sanda wirkten unsicher, wie Kleindiebe, die bei ihrem Tun überrascht wurden. Als Dâ-Dia dies offensichtlich nicht zur Kenntnis nahm, sahen sich die zwei jungen Leute an und zwinkerten wie alte Komplizen: Ihre erste Verschwörungstat. Diddi Maimuna stand langsam auf, ging ins Wohnzimmer hinein und verabschiedete sich von Sandas Tante. Sie nahm ihre Schuhe und kam heraus, ohne diese anzuziehen. Sanda gab ihr eine Plastiktüte, die er rasch mit Mangos gefüllt hatte und sagte:
„Hier, Mangos. Vielleicht möchte deine Tante oder jemand anderes auch etwas davon haben.“
Sie nahm das Geschenk an und bedankte sich mit einem Gesichtsausdruck, der verriet, diese Mangos bedeuteten für sie mehr als nur Mangos. Und sie ging weg.
Mit den Schuhen in einer Hand und der Tüte Mangos in der anderen überquerte Diddi Maimuna langsam den Hof. Sie hielt am Rande der Straße an, etwa fünfzig Meter von der Veranda entfernt, wo Sanda nun stand und sie intensiv anschaute. Dieser prägte sich das gesamte Bild der Hübschen fest ein. Ihre Silhouette, ihre Bewegungen, sowie die Farben und Motive ihres Wickeltuchs, das gerade vom Wind aufgebauscht wurde. Mit einem Handzeichen brachte Diddi Maimuna ein gelbes Sammeltaxi zum Anhalten. Als sie den Fahrer erkannte, freute sie sich sehr und grüßte ihn mit einem breiten Lächeln. Dann stützte sie sich mit Ellbogen auf das Taxifenster und unterhielt sich interessiert mit dem Mann am Steuer. Sanda, der die junge Frau nur von hinten sah, fragte sich, ob diese mit jedem Taxifahrer in Ngaundere so vertraut umging. Aber schon bald kam die Antwort. Diddi Maimuna drehte sich in Richtung der Veranda um, als ob sie Sandas an sich selbst gerichtete Frage gehört hätte, und rief laut:
„Tante Dâ-Dia, das Taxi ist schon da und der Fahrer ist mein Vetter Bakary.“
Bevor sie den Ort endlich verließ, wechselte Dâ-Dia noch lange Abschiedsworte mit ihrer Freundin. Hierzulande verlieren Frauen oft viel mehr Zeit damit, sich zu verabschieden als für den Besuch selbst. Der Fahrer wartete geduldig. Dâ-Dia ging die Steinplattenauffahrt zur Straße im Schneckentempo und stieg in den Wagen ein, ohne den Eindruck zu vermitteln, dass sie unter Zeitdruck stand. Diddi Maimuna setzte sich neben ihre Tante auf den Rücksitz, winkte mit einem Schuh in Sandas Richtung und verschwand mitsamt ihrer Schönheit in blauem Rauch, den das Taxi hinter sich ließ. Sanda blieb mit dem Gefühl zurück, so glücklich wie noch nie zu sein. Zu diesem Zeitpunkt fühlte er sich wie der glücklichste Mensch auf der Welt. Nicht nur der derzeitigen Welt, sondern auch von jener aller Zeiten.
Sanda fing wieder an, alles zu hören, was die Begegnung mit der jungen Frau seinem Gehör entzogen hatte. Er hörte wieder das Weinen des Nachbarbabys, das Zwitschern der Vögel und konnte die Welt um ihn herum wieder wahrnehmen. Er verbrachte den Rest des Nachmittags damit, Musik zu hören. Wenn es ihm gut ging, hörte Sanda immer gern Musik. Heute ging es ihm besonders gut und er schaffte es deswegen sogar, Schlager aus Frankreich zu hören, die nun wirklich nicht unter seinen Lieblingsrhythmen standen. Später kam sein Freund Oumar-Garba zu Besuch. Sehr schnell merkte dieser aber, sein Gastgeber war nicht wirklich geistig anwesend. Sanda, der um sich herum nur Diddi Maimunas Gesicht in funkelnden Sternen sah, wirkte sehr verträumt. Er kam nur für kurze Augenblicke in die Wirklichkeit zurück, um dann um so tiefer in seine Traumwelt einzutauchen. Oumar-Garba, der diesen Besuch für langweilig empfand, ging schnell wieder weg. Sanda nahm diese Art zu protestieren nicht einmal wahr. Als der Verträumte mit der Familie zum Abendessen am Tisch saß, rührte er kaum seinen Teller an. Auch das Geplauder, das üblicherweise nach dieser Mahlzeit stattfand, konnte heute sein Interesse nicht wecken. Er zog sich auf die Veranda zurück.
An diesem Abend bot die Natur ein wunderbares Schauspiel. Der klare Mond leuchtete aus einem von Sternen übersäten Himmel, dessen Blau von tagsüber sich in ein tiefes Schwarz verwandelt hatte. Das Mondlicht war so hell, dass man fast mühelos Zeitungsschriften lesen könnte. Klare Schatten fielen auf den Boden. Sanda, verträumt, glaubte eine Silhouette Diddi Maimunas in fast jedem von Mangobaumzweigen geworfenen Schatten zu sehen. Er beschäftigte sich damit, diese Schatten, den Mond, die Sterne und das Tiefschwarze des Himmels zu bewundern, bis er müde wurde. Sanda taumelte in sein Zimmer und schlief sofort ein. Nach nur wenigen Stunden wurde er jedoch wieder hellwach. Er fing an, die Ereignisse des vergangenen Tages auf einer imaginären Tafel chronologisch laufen zu sehen. Dabei fragte er sich, was Diddi Maimuna zu diesem Zeitpunkt wohl machen würde. Schlief sie gerade? Dachte sie auch gerade an die gestrige Begegnung mit ihm? Hatte sie vielleicht nicht gemerkt, was sich ereignet hatte? Seine letzte Frage schien ihm so absurd, dass er sie gleich verdrängte. Normalerweise hasste Sanda Schlaflosigkeit. Aber in jener Nacht genoss er sie förmlich. Mit Diddi Maimunas Bild vor Augen fühlte er nicht, wie die Zeit verflog. Irgendwann zerriss die Stimme des Muezzins die Nachtstille und kündigte aus dem Minarett der Hauptmoschee das erste Gebet des keimenden Tages. Nach einer kurzen Weile schlief er doch wieder ein.
Als er an diesem Morgen wach wurde, hatte Sanda die gleichen Gedanken wie ein paar Stunden zuvor beim Einschlafen: die Gedanken an Diddi Maimuna. Die Stärke der durch die Vorhänge eindringenden Sonnenstrahlen verriet ihm, dass es spät sein musste. Mit einem kurzen Blick auf seine Uhr stellte er fest, dass es schon neun Uhr war. Sein Literaturkurs musste schon vor einer Stunde begonnen haben. Er wusch sich rasch und machte sein Morgengebet, selbst wenn es später als üblich war. Dann eilte er zum Wohnzimmer, aß eine Tasse Frühstücksbrei und stürmte hinaus in Richtung des Gymnasiums. Sanda kam um zehn Uhr an. Schüler sämtlicher Klassen befanden sich auf den Schulhöfen, denn es war schon Frühstückspause. Man stand Schlange vor Fâdys Verkaufstand. Kaum ein Gymnasiast ließ sich die von der jungen Frau angebotenen Köstlichkeiten entgehen. Innerhalb der dreißigminütigen Pause verkaufte Fâdys so viel Beignet (Doughnut-ähnliche Teigware aus Weizen- od. Maismehl) wie manch einer in einer ganzen Woche nicht zu verkaufen schaffte. Aber heute hatte Sanda kein Interesse an Fâdys Spezialitäten. Er ging direkt zum Büro des Surveillant-general, also des Ordnungszuständigen, gab eine erfundene, aber plausible Erklärung ab und bekam seine Verspätung als entschuldigt bescheinigt. Erst dann durfte er ins Klassenzimmer. Der zweistündige Geografieunterricht nach der Pause kam ihm vor wie eine halbe Ewigkeit. Funkelnde Sterne mit Diddi Maimunas Gesicht drehten sich immer noch um ihn herum. Diese waren zwar langsamer geworden, dennoch kräftig genug, um die Schmetterlinge in seinem Bauch so richtig in Schwung zu bringen und ihn in Richtung Damari zu treiben, den Stadtteil, wo die junge Frau wohnte. Völlig unkonzentriert merkte Sanda nicht, dass die Fragen des Lehrers der Reihe nach beantwortet werden mussten. Als er drankam, wusste er nicht einmal, welche Frage gestellt war. Er erfand heftige Kopfschmerzen als Entschuldigung und war selber überrascht, dass der Lehrer ihm das abgekaufte.
Am Ende des Unterrichts ging Sanda als erster hinaus. Er begab sich in Erwartung seines Freundes Oumar-Garba zum gegenüberliegenden Klassenzimmer, um ihm von seiner Begegnung zu erzählen. Doch Oumar-Garba befand sich nicht unter den Schülern, die aus dieser Klasse herausstürmten. Die Schülerin, die den Raum als letzte verließ, vertraute ihm an, sein Freund habe sich vor zwei Stunden entschuldigt, um jemanden im Krankenhaus zu besuchen. Sie wisse aber nicht, ob im Hospital Norvegien oder im Zentralenkrankenhaus. Sanda bedankte sich und schlug gleich den Weg zum näheren der beiden Krankenhäuser ein. Über Schleichwege hinter der Post, der Sous-Prefecture und den hohen und verdrahten Gefängnismauern kam er schnell beim Zentralenkrankenhaus an. Mit Lächeln und schönen Worten bestach er eine Krankenschwester und fand heraus, dass er hier goldrichtig war. Diese führte ihn zum Krankenzimmer des heute Morgen eingelieferten Patienten. Als er das Zimmer betrat, sah er, wie besorgt Oumar-Garba vor dem Krankenbett saß und mit dem Patienten redete. Da die Lage ernst zu sein schien, verkniff sich Sanda, auf die Einzelheiten seiner eigenen Situation einzugehen. Er beschränkte sich darauf, den Kranken zu begrüßen und ihm eine gute Genesung zu wünschen.
Die Sonne hatte den Zenit erreicht und man lief quasi auf dem eigenen Schatten, der zu dieser Uhrzeit und bei diesem Breitengrad immer nur ein Fleckchen unter den Füssen war. Es war genau Mittag. Bis zum Beginn des Nachmittagsunterrichts waren noch gut zwei Stunden. Aber weder das Mittagsessen noch das Mittagsschläfchen bewegten Sanda heute, den Heimweg zu suchen. Selbst sein Mittagsgebet sollte er heute unterwegs in einer der zahlreichen kleinen Moscheen Ngaunderes machen. Sanda begab sich direkt zum Stadtteil Damari, in der Hoffnung, Diddi Maimuna Saabana dort zu begegnen. Und wie der Zufall es wollte, fand er die junge Frau am Eingang ihres Elternhauses vor. Ihre Silhouette, die er seit gestern in sein Gedächtnis eingeprägt hatte, war die gleiche. Nur die Kleidung war eine andere. Dieses Mal trug sie eine Kombination aus einem Wickeltuch, einer Bluse und einem Sallabi, dass sie elegant hochgesteckt hatte, wie es Frauen aus Westafrika zu tun pflegten. Das untere Ende ihrer glatten, tiefschwarzen und geflochtenen Haare hing ein Stück unterhalb des gebundenen Sallabi. Der Stoff ihrer Kombination stammte unverkennbar aus inländischer Textilherstellung. Für jede kamerunische Angeberin ein minderwertiges Produkt. Für Diddi Maimuna aber ein Stoff wie jeder andere. Sie war wieder barfuß. Diddi Maimuna war offensichtlich nicht gerade die weltgrößte Schuhfetischistin. Diese Natürlichkeit machte sie in den Augen ihres Besuchers noch reizvoller. Wie könnte es auch anders sein? Aufgrund seiner Weltanschauung fand Sanda Diddi Maimunas Erscheinung als die genaue Entsprechung von dem, was er unter dem Begriff Traumfrau verstand.
Sanda hatte nie für eine Aufschneiderin geschwärmt, deren Natürlichkeit aufgrund materieller Gier verloren gegangen ist. Eine solche, deren Minderwertigkeitskomplex sie zu glauben drängt, sie müsse immer Markenkleidung tragen, um ihre innere Leere auszugleichen. Nein, von solch einer hätte er nie geschwärmt. Er schwärmte nur von einem schlichten Mädchen, das auch im Inland hergestellte Stoffe tragen konnte, ohne sich deshalb reduziert zu fühlen. Eine junge Frau, für die barfuß zu laufen nichts Abwertendes bedeutet und die ihre Schuhe immer auszog, wenn es ihr danach war. Nun war sie da. Genau So eine. Diddi Maimuna.
Sanda hatte keinen Respekt vor einer Wichtigtuerin, die sich so verhielt, als stammte sie von einer Gattung ab, die nie schwitzt, nie uriniert und nie Stuhlgang hat. Eine, die den französischen Akzent imitierte und sich dabei einbildete, dass sie allein deswegen, die französische Sprache perfekt beherrschte. Eine Angeberin, die befürchtete, ihr Gesicht bekäme mit jedem Lächeln den Ansatz von Falten und die aus diesem Grunde nie lächelte. Nein, für so eine hatte er keinen Respekt. Sanda respektierte nur eine junge Frau, die gerne lächelt, genau wie diejenige, die ihn mit ihrem Lächeln verzaubert hatte. Eine, wie Diddi Maimuna.
Sandas Interesse galt nie einer Blenderin, die nach dem Motto lebt, „je heller der Teint, desto wertvoller der Mensch“, und die sich deswegen mit Hilfe chemischer Erzeugnisse die Pigmente buchstäblich aus der Haut brennen ließ. Eine, die sich Kunsthaare anhängen ließ und sich selbst einredete, sie habe eine unwiderstehliche Haarpracht. Solch eine, die Sanda leere Hülle zu nennen pflegte und auf die er keinen Wert legte. Eine, die ihre Eltern schamlos verleugnete und allen Leuten vorgaukelte, sie sei Tochter eines Botschafters oder Ministers. Nein, Sanda interessierte sich nie für solch eine. Sein Interesse galt nur einer jungen Frau, die stolz war, sie selbst zu sein. Er interessierte sich nur für Diddi Maimuna.
Sandas Sympathie ging nie an einer Entgleisten, die die lokalen Essgewohnheiten als primitiv herabgewürdigte; einer Verwirrten, die unter Einfluss des Fernen, nur Pizza, Burger oder Chicken-nuggets als Nahrung des Fortschritts sah; einer, die weder Nunudjé, noch Dukudjéladdé noch andere Früchte ihrer Umgebung zu schätzen wusste; einer, die nicht einmal wusste, wann Mangos reifen. Nein, für solch eine hatte Sanda keine Sympathie. Seine Sympathie galt nur einer jungen Frau, deren Appetit an Mangos auf seinen Weg geführt hatte. Diddi Maimuna.
Sanda empfing von allen Signalen, die Diddi Maimuna aussandte, dass sie keine leere Hülle war. Sie war sie selbst. Sie war also eine Liebenswerte par Excellence. Er hatte zuerst das Gefühl, sie sei schlechter Laune, denn der Glanz ihres Lächelns glich nicht dem vom Tag zuvor. Nach einer beiderseitig schüchternen Begrüßung, fragte er, ob irgendetwas mit ihr nicht in Ordnung wäre. Zögernd kamen die Grübchen der jungen Frau zum Vorschein. Und je tiefer diese, desto hübscher ihr Lächeln. Und das Steinchen an ihrer Nase, also das I-Tüpfelchen in ihrem Gesicht, betonte ihre Schönheit noch mehr.
„Mir geht es prächtig! Bei uns zu Hause behauptet aber jeder das Gegenteil. Seit gestern werde ich regelrecht mit Fragen und komischen Äußerungen gelöchert. Die einen wollen wissen, was mit mir los sei, die anderen wundern sich, wo ich meine Gedanken habe. Und alle sagen, ich wirke gleichzeitig unkonzentriert und glücklich. Gestern hieß es, ich habe die Soße zu Abendessen versalzen“, klagte Diddi Maimuna, dennoch lächelnd und charmant. Sie klang so, als würde sie die ihr gemachten Vorwürfe genießen.
Sie war offensichtlich seit der Begegnung mit Sanda im gleichen Zustand wie er. Im Zustand eines Verliebten. Als er es merkte, lachte er zufrieden. Eine Frage, die ihn letzte Nacht gequält hatte, fand nun eine Antwort. Für ihn eine positive, denn die Begegnung mit ihm hatte die junge Frau doch nicht kalt gelassen. Diddi Maimuna, die den Sinn seines Lachens nicht begriff, wurde unsicher und strafte ihn mit tödlichen Blicken. Zumindest versuchte sie es. Aber in ihrem Zustand des Verliebtsein, schaffte ihr Gesichtsausdruck keinen bösen Blick zu machen.
„Ich mag dich, auch wenn du verärgert bist“, versuchte Sanda die Lage zu entschärfen.
„Ich dich auch“, antwortete Diddi Maimuna, ein wenig schüchtern.
„Ich bin aber nicht verärgert.“
„Ich auch nicht“, erwiderte die junge Frau.
„Seitdem wir uns begegnet sind, fühle ich mich ganz anders. Ich denke sehr oft an dich und fühle mich glücklich dabei. Eigentlich denke ich nur noch an dich.“
„Ich auch“, sagte sie, wieder im gleichen Tonfall.
„Aber ich war mir nicht sicher, dass du das Gleiche, wie ich...“
„Ich schon!“, fiel ihm die junge Frau ins Wort. „Es war nicht zu übersehen, in welche Lage du geraten warst. Ich hatte dein Empfinden zwar nur mit Augen erwidert, dennoch vieles ausgedrückt! Wie heißt das noch? Blicke sagen mehr als tausend Worte.“
Diddi Maimuna sprach den letzten Satz in aller Hast und ging schnell ins Elternhaus, ohne sich zu verabschieden. Sanda wartete. Er rechnete damit, dass die junge Frau den einen oder den anderen Grund finden würde, um wieder herauszukommen. Sie hatte sich ja noch nicht verabschiedet! Und tatsächlich kam sie schon nach ein paar Minuten erneut heraus. Dieses Mal hatte sie Schuhe an. Sie trug eine kleine blaue Wanne Maiskörner, die sie zum Mahlen in die benachbarte Mühle liefern wollte. Wie eine Artistin marschierte die junge Frau, ohne die Wanne auf ihrem Kopf mit den Händen festzuhalten. Sanda bot ihr an, den Maisbehälter für sie zu tragen. Sie lehnte es zwar dankend ab, fühlte sich dennoch durch seine Geste verblüfft und irgendwie geehrt. Als er mit ihr sprach, wirkte er weder schmeichelhaft noch aufdringlich, noch angeberisch. Überhaupt war Sanda nie ein Angeber. Eine Eigenschaft, die wahrscheinlich bei Diddi Maimuna perfekt ankam, denn sie hielt kurz an, schaute ihn ins Gesicht und sagte: „Ich mag deine Art."
Während sie langsamen Schrittes entlang Damaris Hauptstraße gingen, unterhielten sich Diddi Maimuna und Sanda zaghaft. Sie erzählten einander mehr über sich und bevor sie sich verabschiedeten, lud Sanda sie ins Kino ein. Diddi Maimuna willigte ein und schlug sofort vor:
„In drei Tagen, nachmittags.“
„Möchtest du einen indischen oder einen chinesischen Film sehen?“, fragte Sanda. (Hier waren in den Achtzigern indische und chinesische Filme der Renner. An manchen Tagen waren nur solche im Kino zu sehen.)
„Gerne einen indischen Film“, antwortete Diddi Maimuna.
„Gut, dann treffen wir uns vor Cinema-Provincial in drei Tagen um halb vier. Die spielen ja jeden Nachmittag Bollywood-Filme.“
LOKALES LEBEN
Yaadji Saabana wurde für gewöhnlich Bâ-Saabana genannt, aufgrund seines Ansehens als gestandener Familienvater und Ältester seiner Brüder. Zusammen mit seiner Frau Kebbindo und zwei jüngsten seiner Töchter wohnte er in einem Saare, einem Anwesen ähnlich wie die meisten in Ngaundere: ein ummauertes Grundstück, auf dem verschiedene Einzelhäuschen dicht aneinander standen. Vor Bâ-Saabanas Saare befand sich ein Außenhof, der an einem Djauleru endete. Das Djauleru, eine Art Durchgangsraum, dient traditionell als Haupteingang, als Empfangsraum und manchmal als Essraum für den männlichen Teil der Familie. Mit Ausnahme der Wellblechdächer hatte Bâ-Saabanas Saare seinen traditionellen Charakter beibehalten. Wenn man durch das Djauleru ins Innere des Anwesens gelangte, sah man sofort den Wohnbereich des Hausherrn auf der rechten Seite. Es war eine breite Veranda mit einer Gebetsecke und dahinter sein Schlafzimmer. Man musste also quasi an seiner Nase vorbeigehen, um ins Innere des Gehöfts zu gelangen. Auf der anderen Seite des kleinen Innenhofes befand sich das Reich seiner Ehefrau, dem seinen gegenüber. Sowohl ihr Wohn- als auch ihr Schlafzimmer waren großzügiger gebaut, weil die Mädchen hierzulande immer die Räume der Mutter mitbewohnen. Ihre Veranda war mit einem Lowndé an einem Ende und einem langen Rattansofa am anderen ausgestattet. Links von ihrem Wohnbereich stand die Küche und rechts eine Scheune, wo Brennholz und Werkzeuge lagerten. Weit hinter der Scheune befanden sich die Toilette und die Duschecke. In der Mitte des Innenhofes stand ein Tamarindebaum dessen kleine Blätter aufgrund der zurückgekehrten Regenzeit tiefgrün waren. An diesem Baum hing Bâ-Saabanas ganzes Herz und er pflegte ihn mit der Sorgfalt der fürsorglichsten Mutter. Grund dafür war, dass dieser Baum vor etlichen Jahren von Modibbo Saabana eigenhändig gepflanzt worden war, vom Vater seines Vaters.
Diddi Maimuna stand gegen sechs auf. So wie sie es jeden Morgen tat, bereitete sie sich auch heute zum Gebet vor und erledigte als Muslimin ihre erste religiöse Aufgabe des Tages. Dann weckte sie ihre jüngere Schwester Fanta mit Mühe und Not auf. Morgens war Fanta immer sehr schwer vom Bett zu trennen. Anschließend begab sich Diddi Maimuna in die Küche, um den Holzfeuerherd anzuzünden. An diesem Tag war die Qualität des Holzes so miserabel, dass es der jungen Frau nur mit großer Anstrengung gelang, dieses anzuzünden. Bevor es richtig brannte, ging sie zu ihrer kleinen Schwester Fanta, um sich zu vergewissern, dass diese mit ihren ersten Tagesaufgaben begonnen hatte; nämlich dem Morgengebet und dem Lesen des Alluhals (eine Schiefertafel aus Holz, worauf ein Koranlernender, die Sure aufschreibt, die er auswendig lernen soll.) Bevor sie zur Schule ging, musste Fanta jeden Morgen zuerst die Sure aus ihrem Alluhal lesen. Und Diddi Maimuna hatte die Aufgabe, den erfolgreichen Ablauf dieser Lernphase zu überwachen. Sie stellte fest, dass ihre Schwester guter Dinge war und kam zur Küche zurück. Inzwischen hatte das Holz endlich angefangen zu glühen. Diddi Maimuna bereitete das Frühstück vor, und entschied sich ihre morgendliche Begrüßung zu absolvieren. Jeden Morgen haben die jüngeren Familienmitglieder die Pflicht, die älteren zu begrüßen. Dabei erkundigen sie sich, ob diese gesund aufgestanden sind. Und wenn die Situation es erlaubt, beendet man die Begrüßung mit einem Small Talk. Diddi Maimuna ging also zuerst zu ihrem Vater und stellte fest, dass dieser nicht da war. Bâ-Saabana, der jeden Tag um fünf Uhr früh zur Moschee ging, war immer noch nicht zurückgekehrt. Vielleicht hatte er sich nach der Moschee zu einer Zeremonie von Inderi oder von Habbodé begeben, die normalerweise frühmorgens stattfinden. Die junge Frau überquerte wieder den Innenhof und ging ins Zimmer zu ihrer Mutter Dâ, deren vollständiger Name Dâ-Kebbindo Saabana lautete, saß auf der Gebetmatte und zog langsam an den einzelnen Gliedern der Gebetkette. Ihr Schwager Djuldé Saabana hatte sie ihr vor ein paar Jahren aus Mekka mitgebracht. Sie behandelte die aus speziellen Perlen angefertigte Kette mit besonderer Sorgfalt. Beim Ziehen eines jeden Steins der Kette flüsterte Dâ-Kebbindo ein Gebetsatz. Sie hörte vorerst mit dieser Beschäftigung auf, antwortete auf die morgendliche Begrüßung ihrer Tochter, ehe sie fortfuhr. Nachdem sie dieses Ritual beendet hatte, rief sie ihre Tochter wieder zu sich und bat diese, sich ihr gegenüber zu setzen.
„Wie du weißt“, fing Diddi Maimunas Mutter an, „haben wir uns oft über die Pflichten einer Frau, sowohl in ihrem Elternhaus als auch bei ihrem zukünftigen Ehemann unterhalten. Wir sind sehr stolz, dass du deine Pflichten im elterlichen Hause stets ohne Fehler erfüllt hast. Wir werden noch stolzer sein, wenn du deine Pflichten als Ehefrau mit genauso viel Aufrichtigkeit erfüllen wirst. Möge Allah dir eines Tages die Möglichkeit schenken, in eine glückliche Ehe zu gehen. Heutzutage rast die Zeit. Ereignisse wie Hochzeiten und Geburten überschlagen sich. Du brauchst nur bei deinen Cousinen oder sogar bei unseren Nachbarn zu nachzusehen! Bevor man mit den Augen blinzelt, steht man schon vor der nächsten Hochzeitszeremonie. Irgendwann wird es bei dir auch soweit sein“
„Soweit?“, fragte Diddi Maimuna. „Was meint Ihr denn Dâ?“
„In der Vergangenheit hast du mir alles über dich erzählt. Auch persönliche Dinge. Wie z.B. über deine erste Monatsblutung. Aber wahrscheinlich verheimlichst du mir jetzt irgendetwas. In den letzten Tagen habe ich – und all die anderen haben es auch – gemerkt, dass du verliebt wirkst. Ein bisschen wissen wir schon, was läuft, und ich kann dich beruhigen: Nach Meinungen verschiedener Familienmitglieder wäre er durch seinen familiären und gesellschaftlichen Status wirklich jemand für dich. Mir wurde gesagt, es handele sich um jemanden der Familie Killbu, stimmt das?“
„Hmm. Dâ. Ich...Äh...“, zögerte die plötzlich wie vom Blitz getroffene Diddi Maimuna. Und sie schwieg letztendlich.
„Du brauchst dich nicht dessen zu genieren!“, sagte Dâ-Kebbindo weiter. Sie verstand das Zögern ihrer Tochter nur als Ausdruck deren Zurückhaltung und setzte fort. „Dies ist noch keine offizielle Anfrage nach deiner Zustimmung. Bloß nur eine Unterhaltung unter uns! Jedenfalls denken wir, dass er ein guter Ehemann für dich sein könnte. Oder, gibt es jemand anderen, der für dich in Frage kommt?“
Während Dâ Kebbindo auf diesen jemand der Familie Killbu als passenden Ehemann für ihre Tochter zu schwören schien, hatte die junge Verliebte aber nur ihre neue Flamme Sanda im Kopf. Diddi Maimuna lächelte, schwieg aber instinktiv, denn es handelte sich hier offensichtlich um ein heikles Thema. Es handelte sich um Heirat. Und die junge Frau konnte Sanda momentan auf keinen Fall als Antwort auf die Frage ihrer Mutter nennen. Sie hatte ihn gerade kennengelernt. Große Zukunftspläne hatten sie noch nicht gemacht und zu heiraten waren sie noch nicht bereit. Außerdem war Sanda noch ein Abiturient. Als sie sich in ihn verliebte, hatte ihr Herz keine Vorkehrungen getroffen, einen noch-Gymnasiasten auszuschließen. Es hatte sich bei der Begegnung mit Sanda einfach geöffnet und ihr in den Bauch Schmetterlinge geschickt. Ihre Lippen zeigten erneut den Ansatz eines verlegenen Lächelns. Ähnlich wie viele Mädchen aus der traditionellen Gesellschaft wirkte auch sie ihren Eltern gegenüber manchmal schüchtern und verklemmt. Als ihre Tochter schüchtern lächelte, dachte Dâ-Kebbindo, dass diese nicht ganz abgeneigt war, diesen jemand der Familie Killbu zu heiraten. Jedenfalls wünschte sich die Mutter, es wäre so. Dass es in Diddi Maimunas Herz ganz anders aussehen könnte, ahnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nichts, und sie setzte die Unterhaltung fort.
„Deine ältere Schwester Rufino würde gern mit dir darüber reden. Wenn ich mich richtig erinnere, bist du heute mit ihr zum Haarflechten verabredet, nicht wahr?“
„Ja, Dâ“, antwortete Diddi Maimuna. „Ich werde ihr heute die Haare flechten. Aber nur die Haare flechten und nicht über Heirat und ähnliches reden.“
„Gut“, sagte Dâ-Kebbindo, die dem letzten Teil der Antwort ihrer Tochter keine besondere Bedeutung beimaß. „Wir können gleich frühstücken. Und sobald es Balte ist, kannst du los. Da du heute nicht im Geschäft deines Vaters arbeiten wirst, kannst du den ganzen Tag bei Rufino bleiben. Sie wird dir gewiss einige Ratschläge in Sachen Ehe geben. Seit sie verheiratet ist, hat nie jemand in dieser Hinsicht etwas Negatives über sie erfahren. Hör also gut zu, was sie dir erzählen wird.“
„Dâ“, erwiderte die nun endgültig genervte Diddi Maimuna. „Ich sagte bereits, dass ich nur zu Adda Rufino gehe, um ihr die Haare zu flechten. Nicht mehr, nicht weniger. Vor allem werde ich nicht über irgendeine Hochzeit reden. Habt Ihr verstanden?“
Diddi Maimuna sprach zu ihrer Mutter in einem deutlich unfreundlichen Tonfall, um ihr Desinteresse zum Thema Hochzeit zu verdeutlichen. Da ihre Tochter niemals in solch einer Art zu ihr gesprochen hatte, musste es wie eine Glocke in Dâ-Kebbindos Ohren läuten:
ETWAS STIMMT NICHT!
Aber es kam nicht so überzeugt, dass Habuba Killbu ein passender Mann für ihre Tochter sein müsste. Deshalb nahm sie deren Reaktion nicht wirklich wahr, was sich später als großer Fehler erweisen würde. Die junge Frau ihrerseits unternahm nichts weiter, was ihrer Mutter klarer machen könnte, dass sie kein Interesse an diesem Mann hatte. Die Mutter-Tochter Unterhaltung ging auf einer oberflächlichen Ebene zu Ende.
In ihrer Umgebung genoss Diddi Maimuna den Ruf einer hervorragenden Spezialistin der Haarflechtkunst. Ihr Talent beschränkte sich nicht nur auf die Beherrschung aller örtlich bekannten Haarflechtarten. Sie übte diese auch mit einer Leichtigkeit und einer Flexibilität aus, die nur ihr zu eigen waren.
Bestimmte Haarflechtarten verursachen nach ihrer Fertigstellung Schmerzen auf der Kopfhaut. Aber wenn die Haare durch Diddi Maimunas Fingerfertigkeit geflochten wurden, dann blieben die Schmerzen aus. Es war so, als hätte sie magische Hände. Als Folge davon wurden ihre Haarflechtdienste von Familienmitgliedern, von Nachbarinnen, von Freundinnen, von Bekannten sowie von Bekannten ihrer Bekannten gewünscht. Jeder war überzeugt, dass sie eine spezielle Gabe des Himmels für diese Tätigkeit besaß. Sie bekam manchmal eine ordentliche Bezahlung für ihre Arbeit. Die junge Frau träumte deshalb davon, in Zukunft ein professionelles Haarflechtstudio zu eröffnen. Vorerst übte sie aber diese Tätigkeit meistens als Hobby und oft ohne Bezahlung aus. So würde es auch heute bei ihrer Schwester Rufino sein.
Die Sonne stand genau auf halbem Kurs zwischen Horizont und Zenit. Es war jene Zeit, die hier für gewöhnlich, Balté genannt wird. Diddi Maimuna nahm Abschied von ihrer Mutter. Als sie zum Djauleru wollte, warf sie einen Blick auf die Veranda ihres Vaters und sah, wie dieser in einem Schaukelstuhl saß, tief in Gedanken versunken. Er war vor einer Stunde zurückgekommen und hatte mit zwei von seinen Brüdern, Djulde und Djafaru, gefrühstückt. Danach hatten sich die beiden verabschiedet und er sich auf seine Veranda zurückgezogen. Die junge Frau sprach ihren Vater zögerlich an, holte ihre morgendliche Begrüßung bei ihm nach und verabschiedete sich. Dann passierte sie langsamen Schrittes das Djauleru und ging aus ihrem Elternhaus hinaus. Sie stellte sich in Erwartung eines Taxis an den Straßenrand.
Diddi Maimuna trug zwei Gefühle in sich: ein Gefühl der Liebe, das aus ihrer jungen Begegnung mit Sanda entstand und ein Gefühl der Beunruhigung, verursacht von Habuba Killbu. Dass dieser schon in der Familie als ihr Verehrer bekannt war, machte ihr Sorgen. Außerdem kam er öfter ins Geschäft ihres Vaters vorbei und versuchte sich jedes Mal mit ihr zu unterhalten und ihr Schmuck oder Bargeld zu schenken. Manchmal sogar beides gleichzeitig. Sie aber hatte ihn weder beachtet, noch seine Präsente akzeptiert. Penetranterweise ließ er manchmal die Geschenke im Geschäft liegen. Sie ließ dann auch diese fast immer unberührt bis zu seinem nächsten Besuch liegen. Auf diese Weise drückte sie ihr mangelndes Interesse aus. Manchmal wurde Habuba Killbu sehr aufdringlich. In diesem Fall akzeptierte sie seine Geschenke, nur um zu vermeiden, dass er vor Kunden noch auffälliger wurde. Diese Präsente hatte sie jedoch sofort nach Geschäftsschluss weiterverschenkt. Sie wollte Habuba nicht und auch kein Geschenk von ihm in ihrer Umgebung haben.
Allein die Vorstellung, Habubas Ehefrau zu werden, rief in Diddi Maumna ein Gefühl der Übelkeit hervor. Einerseits erzählte man von ihm, er sei in viele dunkle Geschäften verwickelt, andererseits machte er von seiner Absicht polygam zu werden, kein Geheimnis. Zudem kursierte eine hässliche Geschichte über ihn: Habuba Killbu war schon einmal verheiratet gewesen. Als seine Frau ihn verließ, weigerte er sich monatelang, die Scheidung zuzustimmen und schwor, dass sie ihre Freiheit nie wiedergewinnen würde. Wenn er sie nicht haben konnte, so durfte das niemand anderes. Am Ende eines langen Scheidungsprozesses sprach das traditionelle Gericht des Königshofs die Scheidung an seiner Stelle aus. Aber das war nicht alles, was gegen Habuba sprach. Zu diesem Zeitpunkt waren sowohl Diddi Maimunas Herz als auch ihr Kopf von Sanda voll besetzt. Es gab keinen Platz mehr für jemand anderen. Sie hielt es zuerst für notwendig, ihrem lästigen Verehrer Habuba klar und deutlich zu sagen, dass sie sich auf keinen Fall für ihn interessierte. Aber sie entschied, zu schweigen. Ähnlich wie ein nasses Lamm, das nach einem Sprung in den Teich sein Fell vom Wasser befreite, schüttelte sie gedanklich das verhasste Gefühl ab, Habubas Angebetete zu sein, und bildete sich ein, alles sei damit gut. Ein entscheidender Fehler, denn Habuba Killbu gehörte zu den Leuten, die das Schweigen nur als Zustimmung verstanden. Zur Wiederherstellung ihres inneren Friedens dachte die junge Frau an ihre frische Freundschaft mit Sanda. Sie fühlte dann, wie die Schmetterlinge in ihrem Bauch langsam wieder zu flatterten anfingen.
Ein Taxi kam endlich vorbei und hielt auf Diddi Maimunas Handzeichen an. Sie nannte ihr Fahrziel: Sabongari. Mit einem Kopfnicken äußerte der Fahrer sein Einverständnis und forderte sie somit auf, einzusteigen. Diddi Maimuna nahm auf dem Rücksitz Platz. Das Fahrzeug rollte erst auf einer Sandstraße. Dann bog der Fahrer rechts in eine Asphaltstraße in Richtung des Stadtzentrums und ließ den Palast des Lamido, sowie die große Moschee hinter sich. Das Taxi hielt vor dem Grand-marché kurz an, gegenüber dem jahrhundertealten Baum, der über den ganzen Platz vor dem Nordeingang des Marktes ragt. Unter dem Riesen waren junge Mofaverleiher damit beschäftigt, Reifenschläuche zu flicken. Ein Stück weiter standen bunt gekleidete Mädchen, die Back- und Frittierware zum Verkauf anboten. Der Fahrgast vom Vordersitz stieg aus und der Taxifahrer setzte die Fahrt fort. Kurz danach bog er wieder nach rechts in eine neugeteerte Straße in Richtung Stadion ein. Nun befand man sich im Herzen Ngaunderes. Auf beiden Seiten der Straße sausten Bäume vorbei, deren Stämme weißgestrichen waren. Es sausten ebenso lange Mauern und Eingänge von Saares vorbei, in denen die Spitzen der Wellblechdächer zu sehen waren. Selten sah man noch Häuser mit Strohdächern. Auch Ngaundere war nicht von der Blechlawine verschont. Der leichte Wind des Balte ließ die Blätter der zahlreichen Bäume tänzeln. Die Mischung aus dem Grünen, dem Sandboden, der neu geteerten Straßen und dem, was noch an traditioneller Architektur geblieben war, gab der Stadt ihre schöne Allüre. Ngaundere galt für viele als die schönste Stadt des Landes. Ein junger Mann in Militäruniform, der am Straßenrand stand, brachte das Taxi mit einem Haltezeichen zum Stehen und gab sein Fahrziel an: Cifan. Der Fahrer nickte und der neue Gast nahm Platz auf dem Vordersitz. Das Taxi fuhr am Stadion vorbei und bog nach einem Kilometer rechts in Stadtteil Sabongari ab. Auf der ganzen Strecke träumte Diddi Maimuna von ihrem Rendezvous mit Sanda Umaru, dass für den nächsten Tag im Cinema-Provincial vorgesehen war.
Als Rufino ihre kleine Schwester vor ein paar Tagen um diesen Termin zum Haarflechten bat, wünschte sie sich gleich die sehr zeitaufwändige Haarflechtversion Tseoudi. Der ganze Tag musste dafür reserviert werden. Mit der Auswahl die Haare auf diese Art zu flechten, verfolgte Rufino in Wirklichkeit ein bestimmtes Ziel. Sie wollte ihre jüngere Schwester quasi zwingen, so lange wie möglich bei ihr zu bleiben. Denn hinsichtlich der Heiratsgerüchte von Diddi Maimuna mit jemandem der Familie Killbu, hatte Rufino viele Ratschläge für ihre jüngere Schwester. Sie stellte einen langen Spiegel, einen Stuhl und einen Hocker in die Mitte des Innenhofs. Rufino hatte vor ein paar Monaten geheiratet und war sehr stolz darauf, mit ihrem Ehemann, dieses großräumige Saare zu bewohnen. Den großen Innenhof hatte sie so gut gefegt, dass man die Spuren des Besens im groben Sand noch deutlich erkennen konnte. Als sie ins Zimmer ging, um die übrigen Haarflechtaccessoires zu suchen, verfolgte ein Hahn im Hof eine Henne. Der stolze Gockel sah sein eigenes Bild im Spiegel und hielt es für einen Konkurrenten. Genau in dem Moment, als Rufino aus dem Zimmer herauskam und Diddi Maimuna den Innenhof betrat, griff der Hahn sein eigenes Spiegelbild an. Durch seine heftige Attacke fiel der Spiegel zu Boden und zerbrach in kleine Scherben. Von diesem Ereignis sehr amüsiert, schauten sich die beiden Schwestern zuerst an, bis sie lauthals zu lachen anfingen. Trotz Scheppern des Spiegels und lauten Lachens der Schwestern floh das Federvieh nicht. Mit ausgebreiteten Flügeln und in Angriffsposition suchte er seinen plötzlich unsichtbar gewordenen vermeintlichen Konkurrenten weiter an die Stelle, wo der Spiegel einst stand, bis die beiden ihn verjagten. Immer noch lachend sammelten die Schwestern die Spiegelscherben ein und warfen diese in das Müllfass. Erst dann fanden sie Zeit, sich zu begrüßen. Anschließend zog Diddi Maimuna ihre Schuhe aus. Da sie sich bei ihrer Schwester immer wie zu Hause fühlte, entledigte sie sich auch ihres Modjaré, sowie ihres Sallabi. Rufino bot ihr ein Glas Orangensaft an, was sie ablehnte und fragte, ob ihre Schwester frische Kuhmilch hätte. Ansonsten würde frisches Wasser aus dem Lowndé genügen. Weil Diddi Maimuna während der Haarflechtesitzung Musik hören wollte, holte ihre große Schwester aus dem Zimmer ein großes Kassettengerät, das einem Ghettoblaster ähnelte. Wie vorsichtig sie mit dem Gerät umging, war nicht zu übersehen, denn es war das Geschenk, das Rufino am Morgen nach ihrer Hochzeitsnacht von ihrem Ehemann bekam. Deswegen behandelte sie dieses Gerät mit der Sorgfalt eines Eierverkäufers. Es war, als wollte sie dieses Geschenk so gut beschützen, wie einst ihre Unschuld. Vorsichtig stellte sie es im Hof neben dem Stuhl ab und bedeckte es mit einem Seidentuch, um es vor Staub zu schützen. Dann drückte sie ihrer Schwester drei Verlängerungskabel in die Hand und sagte:
„Du kannst das Gerät anschließen. Aber bitte vorsichtig. Inzwischen gehe ich zu unserer Nachbarin Hajja Kullu, um einen Spiegel zu borgen.“
„Einverstanden“, sagte Diddi Maimuna. „Es wird sich lohnen, denn ich habe heute gute Musik mitgebracht.“
„Die Kassette, die du immer mit dir herumschleppst?!“
„Welche Kassette meinst du denn?“
„Na die mit indischer Musik!“
„Nein, falsch, Adda Rufino“, antwortete Diddi Maimuna. „Heute habe ich Neuheiten aus Mali mit: Oumou Sangaré
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 11.01.2021
ISBN: 978-3-7487-7112-8
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