Seelenfraß
Hongkong Storys
Band 3
s.B. Sasori
Copyright © 2022 S.B. SASORI
Erstveröffentlichung 2019
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Wie bei allen fiktiven Geschichten gilt auch bei dieser: Sämtliche Personen und Ereignisse sind frei erfunden.
Impressum:
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Bildmaterial: stock.adobe.com; © Nejron Photo, © seksan1
Lektorat/Korrektorat: Alexandra Balzer
»Ich bin dein Shiva.« Etwas in mir breitet die Flügel aus und schwingt sich in die Luft. »Also werde ich mich dir zur Verfügung stellen. Das ist mein Job.« Ich schwebe, ganz von allein.
Joseph nimmt meine Hand, legt sie auf seine Brust. Sein Herz pocht gegen meine Finger.
Mein Flug unter ihm war so hoch. Ich habe die Sonne gestreichelt.
Was sind schon ein paar versengte Federn?
Dean Fitzgerald, Shiva im Begging Monk, Kowloon 2038, Hongkong
1. Maskengesichter
– Joseph –
Vollmond. Er scheint durch die Fenster, taucht Liams Appartement in kaltes Licht.
Ein winziger Teil von mir hofft auf einen bitteren Scherz. Nim hätte ich ihn zugetraut. Hao Jun nicht. Er wagt es, meine Dienste in diesem Moment einzufordern.
»Hao Jun lässt dir ausrichten, er würde im Wagen vor dem Monk auf dich warten.« Dean stellt das Tablett auf den Nachtisch und setzt sich zu Liam. »Ich habe ihm gesagt, dass sein Timing mies ist, aber den Einwand hat er an seinem aalglatten Lächeln abrutschen lassen.« Sein Gesicht verzieht sich, doch das Glück in seinen Augen, das Liam aufgewacht ist, bleibt. »Ich hätschele Liam, bis du zurück bist, und füttere ihn im Stundentakt mit diesem Zeug hier.«
Akumas Brühe. Sie wird Liam stärken. Ebenso wie Deans Fürsorge und das dankbare Leuchten in den himmelblauen Augen.
Liam ist aufgewacht, wird genesen. Ich fülle mein ganzes Sein mit diesem Gedanken. Die Angst vor dem, was vor mir liegt, darf keinen Platz finden. Nicht vor dem Schmerz, nicht vor der Demütigung. Sie darf meine Seele nicht erreichen, sonst wird sie ersticken.
Vierundzwanzig Stunden werde ich nicht ich selbst sein.
Auf Liams Stirn bilden sich Falten. »Ist alles in Ordnung?«
Wie schwach seine Stimme klingt, wie blass und eingefallen seine Wangen sind.
Er war dem Tod so nah.
»Joseph?«
Ich nicke, zwinge mich zu einem Lächeln.
Ich sollte bei ihm bleiben, ihn in den Armen halten, seine Genesung bewachen. Dafür sorgen, dass er sich ausruht, nicht sofort aufsteht, genug isst. Stattdessen lasse ich mich von Hao Jun zum Shiva machen.
Es kostet mich unendlich viel Kraft, zu gehen.
Mein Herz bleibt bei Liam. Dort ist es in Sicherheit. Ich wünschte, ich könnte meine Seele ebenfalls seiner Obhut überlassen und Hao Jun bloß Fleisch und Blut vor die Füße werfen.
Er würde es bemerken und Liam müsste dafür büßen.
Das Gefühl, ins Leere zu treten. Es währt zwei Schritte, dann habe ich mich gefangen. Es sind nur ein paar Stunden. Ich werde sie über mich hinwegschwappen lassen wie brackiges Wasser. Den Atem anhalten, den Schmutz ertragen. Danach werde ich auftauchen, den Dreck von mir spülen und wieder Joseph Wakane sein.
Die Lüge rotiert in meinem Verstand. Immer schneller. Ich will mich daran festklammern, dabei weiß ich, dass sie zersplittern wird wie brüchiges Glas.
Vierzehn Jahre lang habe ich es geschafft, ein Mensch zu sein.
Hao Jun stößt mich zurück.
Ich weiß, für wen ich diesen Preis zahle. Liam ist es wert. Er ist alles wert.
Vierundzwanzig Stunden. Danach bin ich nicht einsatzfähig. Ein, eher zwei weitere Tage werden vergehen. In dieser Zeit muss sich Steve ums Monk kümmern.
Sein Zimmer ist verwaist. Es ist fast vier Uhr morgens. Steve bleibt nie so lange wach. Er gehört zu den wenigen im Monk, deren Anwesenheit nachts nicht erforderlich ist.
Wo bist du? Eine Audionachricht genügt.
Im Büro, antwortet er ebenso knapp.
Auf dem Weg dorthin wird mein Herz zwischen tiefer Dankbarkeit für Liams Genesung und kaltem Hass auf Hao Jun zerrissen. Seine Intrigen hätten Liam beinahe das Leben gekostet. Von Beginn an hat er mit mir gespielt. Er sah nie etwas anderes als den Shiva in mir und nun will er es mir beweisen.
Brackwasser. Nichts weiter. Liam ist mehr wert als jede Nacht meines Lebens. Dennoch krümmt sich alles in mir zusammen. Ich hätte niemals erwartet, dass Hao Jun mir so etwas antun würde. Ich hielt ihn für einen Freund.
Er hat mich verraten.
Steve sitzt am Schreibtisch, die Füße auf der Tischkante, eine Zigarette im Mund. Über die Media-Folie flirren die Nachrichten, um die Reste seines Nachtmahles schwirrt eine Fliege.
Ich stoße seine Füße vom Tisch.
»Sachte.« Er blinzelt mich durch den Rauch an. »Warum so griesgrämig? Ich dachte, der Doc ist wieder beieinander.«
»Das ist mein Schreibtisch.«
»Nicht in den vergangenen drei Tagen.« Er drückt die Zigarette in einem Soßenrest aus. »Was ist? Lässt du dich endlich unten blicken? Die Stammgäste fragen nach dir.«
»Nicht heute und nicht morgen.«
Seine Brauen treffen sich über der Nasenwurzel. »Und warum nicht?«
»Ich muss etwas erledigen.« Ich ziehe mir meinen Stuhl heran, wische den Teller zur Seite.
Steve zuckt zusammen, als er klirrend am Boden zerspringt.
»Das heißt, dass du dich um den Laden kümmern wirst, bis ich das nächste Mal dieses Büro betrete.« Mein Herz zuckt vor Angst. Ich rede mir ein, es wäre Wut.
Unter den halbgesenkten Lidern hervor trifft mich ein misstrauischer Blick. »Du hasst es, das Monk allein zu lassen.«
Ich nicke.
»Warum tust du es dann?«
»Etwas Geschäftliches.« Ich würge an den Worten.
»Gefährlich?«
»In Kowloon ist jede Art Geschäft gefährlich.« Auch ohne Drogen ist es leicht, einen Shiva totzuspielen. Mein Überleben hängt von Hao Juns Wort und Nims Securitys ab. »Wenn etwas schiefläuft, wirst du das Monk weiterführen.« Es muss bestehen bleiben, sonst verlieren die Verträge der Shivas ihre Bedeutung und sie damit ihre Sicherheit. »Versprich mir, dass du den Standard halten und über dieses Gespräch schweigen wirst.«
Er mustert mich, schnalzt. »Kein Ding.«
»Doch. Genau das ist es für dich.« Nicht das Schweigen, aber die Erhaltung des Status quo. »Ich habe nicht vergessen, in welch verkommenem Zustand ich den Laden übernehmen musste.«
Steve sieht gen Himmel.
»Das Monk bleibt die Nummer eins, verstanden?«
»Du redest, als wäre dein Tod eine beschlossene Sache. Was zur Hölle sind das für Geschäfte und mit wem schließt du sie ab?«
»Mit Hao Jun.« Ich muss Steve einen Brocken hinwerfen, damit er nicht weiterbohrt. Soll er annehmen, was immer er will. Die Mafia liefert eine Menge Raum für Spekulationen. Drogen, territoriale Streitigkeiten, Schmuggel. Für Steves Fantasie ist genug dabei.
»Verstehe.« Er verschränkt die Arme vor der Brust, mustert mich für meinen Geschmack zu lang und zu abschätzig. »Ist das eine einmalige Sache?«
»Nein.«
»Und was ist, wenn du eines Tages nicht zurückkommst? Gehört das Monk dann mir?«
»Ja.« Mein Magen schrumpft zu einem Stein, während mein Herz hart gegen die Rippen schlägt. Das Monk ist mein Leben.
Seine Lippen spitzen sich, langsam wandern seine Brauen in die Stirn. »Informiere Hao Jun darüber. Ich will im Ernstfall keinen Ärger mit den anderen Clubbesitzern bekommen. Er soll deine Worte ihnen gegenüber bestätigen.«
Hao Juns Namen zu hören, ihn zu denken, ihn auszusprechen.
Ich beiße die Zähne zusammen.
»Hast du ein Problem damit?«
»Nein, natürlich nicht«, bringe ich gelassen genug hervor, um sein Misstrauen zu täuschen. »Kein Konkurrent wird dich infrage stellen.«
Steve zuckt mit den Schultern. »Auch wenn die Vorstellung verlockend ist, dass mir kein Schlitzauge mehr Befehle erteilt, sieh zu, dass du mit heiler Haut von diesen dubiosen Geschäften zurückkommst.«
Das Lachen bleibt mir in der Kehle stecken. Was Hao Jun mit mir vorhat, hat nichts mit heiler Haut zu tun.
»Ich muss los.« Ich verlasse mein Büro, spüre Steves Blick im Nacken. Was immer er sich zusammenreimt, es ist meilenweit von der Wahrheit entfernt. Joseph Wakane ist in niemandes Augen ein Shiva. Auch nicht für vierundzwanzig Stunden. Mit meinem Namen verbinden die Leute das Monk und seinen tadellosen Ruf. Außerdem existieren keine Shivas in meinem Alter. Mit Anfang dreißig sind sie längst aus dem Geschäft oder tot.
Die Gäste in Sun Haidongs Club geben sich nicht mit Teenagern zufrieden. Sie begehren Besonderes, Exklusives, technische Spielereien, um ihre Lust am Leid anderer zu befriedigen. Nim sprach von holographischen Albträumen, virtuellen Welten und Bewusstseinsintegration.
Das ist lächerlich. Werden die Abgründe einer Seele bloßgelegt, gibt sie sich nicht mehr mit Scheinwelten zufrieden. Auch wenn Sun Haidong seine Gäste vor dem Blut und dem Gestank der aufsteigenden Panik bewahren will, sie werden beides binnen kürzester Zeit begehren.
Nims Worte in Georges Café, sein verzerrtes Lächeln. Die Angst vor Hao Jun stand ihm im künstlich erschaffenen Gesicht. Sein eigenes wurde ihm von Hao Jun abgerissen. Jetzt ist er der Diener zweier Herren.
Ein Mann dient nicht. Er beugt sich niemandem. Dass mich Hao Jun dazu zwingt, wird er mit dem Leben bezahlen.
Ich setze eine Maske aus höflicher Arroganz auf, während ich das Entree durchquere und den wenigen Stammgästen zunicke, die sich noch nicht mit ihren Shivas zurückgezogen haben. Meine vor Angst kalten Hände und mein vor Wut donnerndes Herz verberge ich vor ihnen.
Rodja diskutiert vor der Tür mit zwei Frauen. Teure Kleidung, makellose Haut, dezent geschminkt, eingeschüchterte Haltung. Vergnügungspendlerinnen von Hongkong Island. Zweifellos besuchen sie Kowloon zum ersten Mal.
Als er mich sieht, atmet er auf. »Sir, ich brauche Ihre Hilfe.«
Seine Augen verschwinden hinter einer monströsen Sonnenbrille. Sie soll die Spuren meiner Wut verbergen. Er und Viktor haben sich über Liams Anweisungen hinweggesetzt und Baos Spielerin gewähren lassen. Ob sie damit sein Todesurteil unterschrieben haben oder ob ihn die Droge ohnehin umgebracht hätte, weiß ich nicht, doch Bao ist tot und sein Verlust schmerzt mich.
»Nur einen Moment, Sir.«
Ich wünschte, ich könnte ihn zu vierundzwanzig Stunden ausdehnen, doch die Limousine am gegenüberliegenden Straßenrand parkt nicht zufällig dort. Hinter den blickdichten Scheiben wartet Hao Jun auf die Einhaltung unseres Deals.
»Die beiden Ladys wollen nicht begreifen, dass sie ihre Handtaschen abgeben müssen.« Er zieht der einen Frau die Tasche unter dem Arm weg und stoppt ihren Protest mit einem Fingerschnippen. Mit gerunzelter Stirn wühlt er im Inneren, fischt schließlich ein Tablettenröhrchen hervor. »Damit lasse ich Sie nicht rein.«
»Das ist gegen meine Kopfschmerzen«, erklärt sie, während sie mein weitgeöffnetes Hemd registriert und ihren Blick über meine Brust bis hinab zu meinem Unterleib gleiten lässt.
Ihr lautes Schlucken lässt Rodja grinsen. Er wendet sich näher zu mir. »Wollen wir wetten, dass sie nicht Ihre Drachengürtelschnalle bewundert?«
Die Frau wird rot.
Für derlei Kindereien habe ich keine Zeit.
Die Seitenscheibe der Limousine gleitet hinab. Hao Juns Gesicht taucht aus der Dunkelheit auf.
»Tut mir leid.« Ich gebe Rodja ein Zeichen, dass er auch die zweite Tasche an sich nehmen soll. »Sie bekommen Ihre Sachen wieder, wenn Sie den Club verlassen.«
Hao Jun hebt den Arm, zupft die Manschette seines Hemdes hinunter, bis der Kommunikator sichtbar wird. Hinter einem der Icons verbirgt sich der Impuls für Liams Schmerzauslöser.
Sein Tod ist nur einen Fingertipp entfernt.
»Ich bin kurz weg«, informiere ich Rodja über den Protest der beiden Frauen hinweg. Dass es länger sein wird, kann ihm Steve später erklären.
Rodja runzelt die Stirn, nickt jedoch.
Ich zwinge mich, ruhig zu atmen, während ich die Straße überquere.
Der Chauffeur steigt aus, hält mir die Tür zum Fond auf.
»Joseph.« Hao Juns Lächeln verbirgt seine Gedanken. »Wie geht es O’Farrell? Ich hörte, die letzten drei Tage kämpfte er mit dem Tod.«
»Er besiegte ihn.« Hao Jun hat keine Vorstellung von Liams Stärke.
»Weiß er von der Zusammenarbeit zwischen Gage und Sun Haidong?«
»Ja.«
»Details?«
»Er weiß, dass Gage in Sun Haidongs Namen Drogenexperimente in Kowloon durchführt. Also weiß er, dass sowohl Gage als auch Sun Haidong Mörder sind.« Zu viele Shivas sind deswegen gestorben.
»In diesem Fall werde ich mit O’Farrell reden müssen. Noch dürfen die Machenschaften dieses Politikers nicht bloßgestellt werden. Immerhin ist er Hongkongs präsidialer Verwalter.« Sein Lächeln ist schmal. »Zur gegebenen Zeit werde ich das ändern, doch erst, wenn die Zeichen günstiger für mich stehen.«
»Bis dahin fordern Sun Haidongs Spielereien zahllose Opfer.« Der Hass auf den Mann vor mir verbrennt mein Herz. Wie habe ich ihn jemals verehren, ihm vertrauen können?
»Das lässt sich nicht verhindern.« Er lehnt sich zurück, blickt aus dem Fenster, während sich der Wagen durch die engen Gassen schlängelt. »Wie sieht es mit Frederik Martin und Nimrod Gage aus? Hast du ihm gesagt, dass die beiden ein- und dieselbe Person sind?«
»Martin?« Der neue Name zu Nims neuem Gesicht? »Liam ist erst seit wenigen Minuten ansprechbar. Es gab für uns Wichtigeres, als über Nims Doppelidentität zu reden.«
»Gut. Je weniger O’Farrell involviert ist, umso leichter kann ich ihn aus der Schusslinie halten.«
»Er ist bereits involviert.« Er wäre beinahe gestorben deswegen! »Und du hast ihn in die Schusslinie gestoßen!« Für einen Moment sehe ich pulsierendes Rot.
»Mir missfällt, dass du mich seit Neuestem auf diese vertraute Weise ansprichst«, sagt er kalt. »Wie kommst du darauf, dass ich es tolerieren werde?«
»Früher gehörte dir mein Respekt.« Meine Verehrung. »Das ist vorbei.«
»Nach allem, was ich für dich getan habe?« Sein Gesicht wirkt wie aus Stein geschlagen. »Du batest mich, O’Farrell und deine Leute zu beschützen, gleichgültig zu welchen Bedingungen. Erinnerst du dich?«
Wie könnte ich es vergessen? Es geschah neben Baos Leiche.
»Die Bedingungen habe ich dir genannt. Nun ist es an dir, sie zu erfüllen. Sieh es als eine nachträgliche Schutzgeldzahlung inklusive Zinsen.«
Meine Gefühle zerreißen mich, während ich meiner Miene Gleichmut befehle. Dieser Mann, dem ich stets vertraute, schleudert mich zurück in eine Existenz, die ich nie wieder erleben wollte, und ich lasse es zu. Für die Sicherheit meiner Shivas, für Liam. Ich würde alles für ihn tun. In den vergangenen Tagen lebte ich nur für ihn. Jeder meiner Gedanken galt ihm, jeder seiner mühsamen Atemzüge war mir unendlich kostbar. Da waren Momente, in denen hätte ich vor Angst um ihn fast den Verstand verloren.
Er ist aufgewacht. Er wird überleben, sich Tag für Tag erholen.
Ich klammere mich an diesen Gedanken. Er ist mein Anker. Solange er mich ausfüllt, bleibe ich Joseph Wakane. Gleichgültig was heute Nacht geschehen wird.
Dennoch sind meine Hände eiskalt. Dennoch ist mein Magen ein Stein. Dennoch schlägt mein Herz vor Wut gegen die Rippen.
Liam darf niemals erfahren, zu was mich Hao Jun zwingt.
Wir erreichen den Hafen, tauschen die Limousine mit einem Boot. Der Mann am Steuer nickt Hao Jun zu, während ein Junge die Taue löst. Der leise flüsternde Motor startet. Das Hafenlicht reflektiert auf dem Solarmodul und blendet mich einen Moment. Neben den rostigen Motor- und Ruderbooten und den Algen überzogenen Kähnen der Händler wirkt dieses Stück Hochglanz-Hightech fehl am Platz.
Hao Jun lässt sich neben dem Energiespeicher nieder und richtet seinen Blick auf das vor uns liegende Meer. Das Boot nimmt schnell Fahrt auf, zerschneidet das Wasser zu phosphoreszierenden Wellen. Sie verlieren an Leuchtkraft, je weiter das Hafenbecken hinter uns liegt. Nach einer Weile zieht Lantau Island rechts an uns vorbei. Nur Lichtflecken in der Nacht. Vor uns wartet Dunkelheit.
Hao Jun erhebt sich, lehnt sich neben mich an die Reling. »Du scheinst mit den Gedanken woanders zu sein.«
Ich will ihm das amüsierte Lächeln aus dem Gesicht schneiden.
Eines Tages werde ich es. Ob er ahnt, wie hoch mein Preis ist? Für ein paar Nächte mit mir wird er mit allem bezahlen, was ihn zu einem Menschen macht.
»O’Farrell weiß nichts von dem elektronischen Schmerzauslöser in seinem Nacken«, plaudert er. »So sollte es bleiben. Es sei denn, du möchtest aus nächster Nähe die Wirkung dieses wirklich erstaunlich winzigen Empfängers miterleben.«
Mein Magen krampft sich zusammen. Ich habe mitangesehen, was dieses Ding mit Liam angerichtet hat. Ich will es nie wieder.
Nimrods Lüge, um Liam zum Handeln zu zwingen. Eine Giftkapsel in seinem Nacken, die sich öffnet und ihn im Schmerz sterben lässt. Daher die Überdosis und Liams Hoffnung, diesem qualvollen Tod zu entkommen. Er denkt, dass sein Plan funktioniert hat und die Gefahr ausgestanden ist. Er weiß nichts von Hao Juns Intrige. Für ihn ist der Triadenfürst nach wie vor der Mann, der seine Hand schützend übers Monk hält, weil ihm sein ehemaliger Lieblingsshiva am Herzen liegt.
»Joseph, ich erwähne es nur der Sicherheit halber, aber wenn du meinst, mich hintergehen zu können, irrst du. Sollte O’Farrell versuchen, es zu entfernen oder es entfernen zu lassen, von wem auch immer, ist die Gefahr, dass er damit sein qualvolles und langsames Sterben auslöst, immens.«
Ich ersticke an meinem Hass.
»Ich habe dein Wort, dass der Sender niemals betätigt wird.« Es fällt mir schwer, meine Stimme zu kontrollieren. Ich sehe Liam vor mir, wie er vom Schmerz gefressen wird. Höre seine Schreie, das Splittern des Stuhles unter ihm.
»Solange du meinen Anweisungen folgst, halte ich es.«
Ich gehöre dir. Dir allein. Liams Lächeln. Die Wärme seines Blickes, die mühelos das Eisblau seiner Augen durchdrang. Du hattest mich vom ersten Moment. Wusstest du das nicht? Seine Worte werden mich stützen. Stärker, als seine Arme es je könnten. Sie werden mich durch jede vor mir liegende Sekunde tragen.
Die Fahrt wird langsamer, die Konturen einer Insel zeichnen sich ab. Eine Handvoll Lichter. Das ist alles. Der Mann hinter dem Steuer schaltet den Motor ab. Ein wackliger Bootssteg, ein krummer Alter, der die Jacht vertäut.
Niemand würde hier mehr als ein Fischerdorf erwarten. Hao Juns Lächeln nach entspricht es sowohl seinem als auch Sun Haidongs Plan. Etwas Geheimes darf sich nicht mit Flutlichtern verraten.
Der Alte führt uns einen Fußpfad entlang. Seine Laterne schwankt bei jedem Schritt hin und her. Ihr Licht weckt Schattengespenster. Sie huschen über das aufleuchtende Grün der Blätter, verstecken sich in der Schwärze darunter.
»Wir sind da.« Er nickt zwischen Stämme und Büsche.
Ich suche vergeblich nach einer Mauer oder einem anderen Zeichen eines Gebäudes.
Inmitten von wucherndem Grün taucht eine Felswand auf. Als hätte jemand binnen Sekunden ein Loch hineingeschnitten. Ich muss zweimal hinsehen, um ein Stahltor zu erkennen.
»Eine technische Spielerei, um den Gästen ein Höchstmaß an Sicherheit vorzugaukeln«, erklärt mir Hao Jun Dinge, die mir gleichgültig sind.
Der Alte vor uns wischt flüchtig über eine Kontaktstelle, raunt etwas in ein für mich nicht erkennbares Mikro. Ein grüner Lichtstreifen gleitet über sein Gesicht. Lautlos öffnet sich einer der beiden Torflügel.
Ein breiter Gang führt in den Berg. Betonwände, nur hin und wieder von Glasscheiben durchbrochen, hinter denen sich holografische Shivas rekeln. Rechts und links Handläufe aus Edelstahl, angeraute Marmorfliesen auf dem Boden. Eine vor sich hinplätschernde Musik mit eingestreutem Stöhnen und Keuchen. Zu kalkuliert und emotionslos, um zu inspirieren. In Sichtweite das Schild eines Service- und Notausgangs.
Korrekt beleuchtete Sicherheit, steriles Stahl-Beton-Ambiente.
Wer Kowloon kennt, wird keinen Fuß hier reinsetzen.
Ich sehne mich nach Lärm und Dreck.
»Ich ahne deine Gedanken und teile sie.« Sein Seitenblick streift mich. »Sun Haidong bildet sich ein, mit diesem Firlefanz die dunklen Begierden seiner Gäste stillen zu können. Da sie Kowloon nicht kennen, mag es ihm eine Weile gelingen, doch wir beide werden ihnen die Augen öffnen.«
Will er sie mit mir auf den Geschmack bringen?
Das Licht dimmt sich. Der Alte führt uns in einen Seitengang. Er endet an einer weiteren Tür. Sie schwingt auf, während wir auf sie zugehen.
Dämmerlicht, aus dessen Schatten sich ein Mann in Livree löst. Er hält uns zwei latexartige, goldfarbene Masken hin.
»Diskretion.« Hao Jun nimmt seine entgegen, legt sie sich auf sein Gesicht. Die Maske schmiegt sich an, als wäre sie eine zweite Haut. »Keiner der Gäste möchte von einem anderen erkannt und bloßgestellt werden.«
»Was ist mit den Shivas?« Das Ding fühlt sich eigenartig an, als würde es sich am Gesicht festsaugen.
»Sie werden diesen Ort niemals wieder verlassen«, sagt er leichthin. »Früher oder später endet hier ihr Leben.«
Etwas in mir zuckt zusammen.
Der Mann schlägt die Schals eines roten Samtvorhangs zurück.
Unter uns liegt ein Raum. Kreisrund. Eine breite Treppe führt hinab. Arena schwirrt durch meinen Kopf doch ich irre. Es ist eine Bar. Nicht zu vergleichen mit dem Entree des Monk. Zu groß, um eine Atmosphäre von Intimität entstehen zu lassen. Der Tresen ist gläsern und in kaltes Licht getaucht. Das Lächeln der Barkeeper eintrainiert wie die überflüssigen Bewegungen, mit denen sie die Drinks der Gäste mixen. Es soll über etwas hinwegtäuschen, wie jede Show. Eine Lüge. Sie breitet sich wie ein Geschwür im Raum aus, zieht sich als Containerattrappen über die Wände, an denen angekettete Shivas die Blicke ihrer Interessenten über sich ergehen lassen. Von der Mitte der Decke hängt ein Käfig. Er schwingt einen Schritt weit über dem Boden. Ein Mädchen sitzt darin. Es klammert sich an die Gitterstäbe.
»Dekoration.« Hao Jun weist zu den Wänden, bevor seine Geste an dem Käfig verharrt. »Sun Haidong ahmt etwas nach, was er nie gesehen, geschweige denn erlebt hat.« Er verzieht den Mund. Die Maske passt sich der Bewegung an.
Einen Moment starre ich auf die Lippen, die mich viele Male liebkost haben. Der Goldschimmer der Maske lässt sie seltsam dunkel erscheinen. Es gab eine Zeit, da habe ich mich nach ihren Küssen gesehnt.
Über meinen Rücken gleitet ein Schauder.
Hao Jun versteift die Schultern. Nur eine winzige Bewegung. Sie verrät mir viel. Er hat meinen Blick bemerkt und ist mit meiner Reaktion alles andere als zufrieden. Sie kränkt ihn, erschreckt ihn vielleicht sogar, dennoch zwingt er eben jenen Lippen ein schmales Lächeln auf. »Sieh dich um.«
Wozu?
Jeder der Gäste versteckt sich hinter demselben goldenen Gesicht. Seine Gier, seine Ängste, seine Scham, zu den abgründigen Gefühlen zu stehen, die ihm das Blut in das Stück seines Körpers treiben, das er zu Hause nicht einmal von seiner Frau lecken lässt.
Ich will die Maske abstreifen und sie Hao Jun vor die Füße werfen.
Seine Augen werden schmal, während seine Geste den Raum ergreift.
Auf was will er meine Aufmerksamkeit lenken?
Die Tische sind zu neu, der Lack zu glänzend. Das diffuse Licht ändert nichts daran. Auch nicht der Spot, der auf eines der Rondelle gerichtet ist. Ein mit Brokat bezogener Diwan und ein schlichtes Andreaskreuz. Das Arrangement ist das einzige, was mich an diesem Ort überzeugt.
»Erinnerst du dich, wie du ermattet vom Spiel in meine Arme gesunken bist?« Hao Jun schreitet neben mir die Marmorstufen hinab. Sein Blick haftet auf dem Rondell. »Deine Gelenke glitten aus den Fesseln, während dir die Lider vor Erschöpfung sanken.«
Sein bevorzugtes Zimmer im Heaven. Ein Kreuz, ein Diwan, breite Samtbänder statt Ketten. Den Rest brachte er mit.
»Ich bettete dich auf das Lager, genoss dein dankbares Seufzen, wenn ich deine Wunden versorgte.« Er bleibt stehen, fasst mich am Handgelenk. »Ich will es wieder.«
Ich winde mich aus seinem Griff.
Wie habe ich mich jemals nach der Berührung dieser Hand sehnen können? Wie konnte ich den Schmerz genießen, den sie mir zufügte?
Wie oft will ich mir noch diese Fragen stellen?
Hao Jun hebt die Brauen. »O’Farrells Wohl scheint dir weniger zu bedeuten als angenommen.«
»O’Farrells Wohl ist mir heilig.« Sonst wäre ich nicht hier.
»Das höre ich gern.« Er zieht einen Sprayer aus der Manteltasche, reicht ihn mir. »Ein Sprühstoß in den Mund und all das fällt dir leichter.«
»Drogen?« Das ist nicht sein Ernst.
»PA 95. Der offizielle Name der Substanz, die Dr. Kusmin in den vergangenen Wochen aus einem Massenvernichtungsmittel kreiert hat. Es verwandelt das Unerträgliche in Ersehntes.« Er leckt sich über die Lippen. »Du gehörst zu den Ersten, die in seinen Genuss kommen. Ich hoffe, es bereitet dir Freude.«
Ich habe ihm niemals etwas bedeutet. Ein Spielzeug, das verlockender schimmert als die anderen. Mehr bin ich nie für ihn gewesen.
»Vertraue mir, du brauchst es.« Er lächelt mich an wie damals, wenn er unser Spielzimmer betrat. »Weil du sonst weder diese noch alle anderen Vollmondnächte durchstehen wirst.«
»Du weißt, wozu ich fähig bin.« Ich brauchte niemals Drogen.
»Es ist nicht der Schmerz. Es ist dein Stolz, der dir im Weg stehen wird.« Er weist zu dem Rondell. »Diese Bühne wartet nur auf dich.«
»Du willst mich zur Schau stellen?« Was hindert mich daran, ihn zu töten?
»Begehe eine Dummheit und nicht nur du wirst mit deinem Leben bezahlen.« Wie zufällig blickt er auf den Kommunikator. »In deinem Metier ist Liebe ein unverzeihlicher Fehler, wie du gerade am eigenen Leib erfährst. Deshalb sorgte ich dafür, dass O’Farrells Wohl und Wehe mit mehr Auslösern verbunden ist als nur mit dem an meinem Handgelenk.«
»Gage.« Er wird mich nicht aufhalten können. Ein Genick ist schnell gebrochen.
Hao Jun lacht. »Auch.«
Mein Herz setzt aus. »Wie viele?«
»Genug, um sicherzustellen, dass O’Farrell den Tag nicht überleben wird, sollte ich dieses Etablissement nicht frohen Mutes und gesund an Leib und Seele verlassen.« Er nimmt mich am Ellbogen, führt mich die restlichen Stufen hinab. »Es ist unüblich, dass ein Gast einen anderen bespielt.« Er zieht mir die Maske vom Gesicht. »Sie steht dir als meinem Shiva nicht zu, was der Gentleman am Eingang nicht wissen konnte.«
Das Gemurmel verstummt. Fremde Blicke heften sich auf mich. Da ist kein Ort, an den ich flüchten kann. Nicht in mir, nicht außen. Zwischen meinen Schulterblättern rinnt Kälte.
»Vertraue darauf«, flüstert er durch das Donnern in meiner Brust »dass niemand in diesem Raum jemals einen Fuß nach Kowloon gesetzt hat, denn wenn, würde keiner von ihnen seine Zeit an diesem künstlichen Ort verschwenden.«
Sein leises Lachen stellt mir die Haare zu Berge.
»Ich würde dir gern sagen: Fürchte dich nicht. Doch wir wissen beide, dass Furcht zum Spiel gehört.«
Furcht, Schmerz, Erlösung.
Etwas tief in mir Verborgenes zuckt zusammen, drängt dennoch hinauf. Es sehnt sich nach dem hilflosen Flirren der Nerven, wenn der Schmerz nach dem Verstand greift und alles andere unwichtig wird. Wenn sich der Wunsch, das Leben loszulassen, durch den erzwungenen Rausch zuckt und die Angst zu etwas Totem, Kaltem erstarren lässt.
Ich hasse mich für diese Empfindungen. Dennoch lauern sie unter der Oberfläche meiner gleichgültigen Fassade.
Hao Jun betrachtet mich versonnen. Seine Pupillen dehnen sich, bis seine Augen tiefschwarz erscheinen. Er führt mich auf das leere Rondell. Im selben Moment beginnt es, sich langsam zu drehen.
»Nimm Platz.« Er weist zum Diwan statt zum Kreuz. »Denke dir, wir säßen in unserem Spielzimmer im Heaven, fernab fremder Blicke und Ohren.« Seine Hand legt sich auf mein Knie. Ihre Wärme dringt durch den Stoff meiner Jeans. »Ich werde dafür sorgen, dass ich der Einzige bin, den du in den nächsten Stunden wahrnehmen wirst.« Sie wandert höher, legt sich in meinen Schritt. »Und ich werde auch der Einzige sein, der dich in diesen Nächten voll und ganz besitzt.«
Ich verstehe nicht.
»Ich habe mir erlaubt, eine Tabuliste für dich zu erstellen. Keiner deiner Spieler wird es gestattet sein, dich mit Finger, Schwanz oder etwas anderem zu penetrieren. Die Gäste dürfen ihre Lust allein mit deinem Schmerz befriedigen.« Sein Blick verklärt sich, während er die Umrisse meines Gliedes ertastet. »Der große, stolze Joseph Wakane wird nur von einer einzigen Person gefickt, und das bin ich. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erregend dieser Gedanke für mich ist.«
Er ahnt nichts davon, dass ich mich Liam anvertraue. Dass ich mich ihm von Beginn an geschenkt habe. Er ist sich sicher, ich würde meinen Stolz über meine Liebe und über meine Bedürfnisse stellen.
»Jenseits der Morgenröte.« Mit dem Daumennagel fährt er über den eng sitzenden Stoff. »Welch betörender Name für einen Club. Es wird Zeit, dass er ihm gerecht wird.« Er lässt von mir ab, zieht ein schmales Etui aus der Innentasche seines Sakkos. »Du weißt, dass ich nur wenig von Sun Haidong halte, aber er besitzt einen bewundernswerten Sinn für Interaktionen. Gleichgültig ob im physischen oder imaginären Raum. Ich war wiederholt Zeuge von Situationen, in denen sämtliche Beteiligte ihre Menschlichkeit zugunsten ihrer Triebe bereitwillig opferten.« Eine filigrane Klinge kommt zum Vorschein.
Ich sah sie unzählige Male über mir aufblitzen, bevor sie in mein Fleisch schnitt.
»Doch nichts geht über das Unmittelbare, das jeden Sinn herausfordert und uns unsere dunkelsten Bedürfnisse offenbart.«
Sein hartes Schlucken ist alles, was ich höre.
»Zeigen wir den Feiglingen, wie dieses Spiel gespielt wird.« Er zieht die Spitze über meinen Oberschenkel.
Schmerz. So vertraut, ebenso oft ersehnt wie gefürchtet.
Der Stoff klafft, färbt sich dunkel.
Ein erschrockenes Raunen. Es dringt von außerhalb des Lichtkegels zu mir.
Hao Jun nimmt meine Hand. Sie hält immer noch den Sprayer.
»Ich will den willigen Jungen zurück, der sich in den Spielen verlor.« Er führt sie zu meinem Mund.
»Er existiert nicht mehr.« Ich bin Joseph Wakane. Inhaber des Begging Monk, verantwortlich für einundfünfzig Menschen, Partner von Liam O’Farrell, Besitzer und Geliebter von Dean Fitzgerald, dem Helden Kowloons. Der Junge von damals, der sich zwischen Lust und Schmerz verloren hat, ist tot.
Hao Jun schüttelt die Manschette seines Hemdes höher. »Hole ihn für mich zurück, oder O’Farrell bezahlt für deinen Stolz vielleicht nicht mit dem Leben, doch mit Leid. Sehr viel Leid.«
»Ich werde keine Drogen nehmen, das war nicht Teil des Deals.« Mein Herz pocht in jeder meiner Zellen.
»Du wirst tun, was ich dir sage, Joseph.« Seine Finger bohren sich in meine Wangen, drücken mir die Kiefer auseinander.
Das Raunen um mich schwillt an, beginnt, gierig zu klingen.
»Zukünftig wirst du dich vorbereiten, bevor du deinen Dienst antrittst. Mit dieser kleinen Stimulanz, mit gefüllten Hoden und hartem Schwanz. Deine Spieler wollen erleben, wie du sie in maßloser Geilheit um mehr anflehst.«
Ein Zischen, ein Brennen tief in meinen Rachen hinab.
Hao Jun fasst mir ins Haar, reißt mir den Kopf in den Nacken.
Keine Luft. Alles in mir brennt.
Er leckt mir über den Mund, bevor sich seine Lippen darauf pressen. Seine Faust zwischen meinen Beinen, sie drückt gegen die pulsierende Hitze in mir.
»Fühlst du es?«
Ich verbrenne.
»Fühlst du, wie sich der Junge aus dir hervorschlängelt, der nie genug bekommen konnte?«
Ich kann nicht mehr denken. Kälte rinnt in Bächen an mir hinab.
Hao Jun greift in mein Hemd, reißt es auf. »Ich höre dein Herz pochen.« Er setzt die Klinge des Messers an meiner Brustwarze an.
Ich sehe sie hindurchgleiten, höre mich schreien.
Seine Zungenspitze lässt die Haut klaffen.
Wieder der feste Griff in meinen Schritt.
»Du bist hart.« Von seinen Lippen tropft mein Blut. »Willkommen zurück, Joseph.« Er schneidet mir die Jeans von den Beinen.
Licht huscht über die Klinge. Mein Blut folgt ihm. Er leckt über jeden Schnitt, taucht seine Zunge in mein Fleisch. Das Messer gleitet die Innenseite meiner Schenkel hinauf.
»Dein Keuchen.« Er reißt die Stofffetzen von mir, legt meine Wunden bloß. »Das Zucken deiner Lust.«
Die Klinge streicht über meine Spitze.
Ich kralle mich in seine Schultern, während sich der Schmerz durch meinen Körper frisst.
»Hilf mir!« Ich verbrenne! Die Glut sickert durch die Schnitte in meiner Haut, lässt mich wimmern.
»Genau das liegt mir am Herzen.« Er beugt sich über mich, streift mit dem Kinn über meine blutende Spitze. »Ich werde dir die Hitze aus dem Leib saugen. Dein Blut wird sich mit deinem Saft in meinem Mund zu etwas Köstlichem mischen und du wirst dich erinnern, dass du nie aufgehört hast, mein Shiva zu sein.«
Seine Lippen schließen sich um explodierenden Schmerz.
Fremde Schreie, lauter als meine. Vor Lust? Vor Entsetzen?
Mein Körper verrät mich, will mehr, presst sich zwischen unersättliche Lippen.
Augen starren durch Löcher in Gold, glasig vor Gier nach meinem Schmerz. Hände strecken sich nach mir aus, greifen mir ins Haar, an die Kehle. Sie ziehen mich nach hinten. Mein Kopf fällt in den Nacken.
Ich schnappe nach Luft. Hartes Fleisch schiebt sich in meinen Mund, erstickt mich. Kann mich nicht konzentrieren, nicht auf meine Atmung, nicht auf meinen Rachen. Finger krallen sich in mich, Körper reiben sich an mir, während mir parfümierte Hoden ins Gesicht klatschen. Jemand fickt meinen Hals, stöhnt immer lauter. Keine Gegenwehr. Ich lasse es geschehen, will mehr, sauge, bis heisere Schreie in meinen Ohren klingen.
Schlucke zähe Bitterkeit.
Gezischte Befehle. Der Druck aus meinem Rachen verschwindet, die Schreie werden schrill, panisch, verstummen.
Hao Jun ertränkt mich in seiner Grausamkeit, füllt mich bis zum Bersten mit schneidender Lust.
Jemand zerrt an mir, schleudert mich auf den Bauch. Die Lehne lässt meine Wunden klaffen. Ich nehme es wahr, mehr nicht. Wieder der Griff in mein Haar. Hao Jun zieht meinen Kopf zurück, drängt sich in mich, brüllt auf vor Gier.
Die Maskengesichter verschwimmen. Unmenschliche Laute, sie zerreißen mich, vergiften, was ich bin.
~*~
2. Nur Geschäftliches
– Liam –
Nasse Wände. Ich sehe sie nicht, aber rieche sie. Da sitzt ein Mann vor mir. Ich erkenne ihn nicht, sein Gesicht versteckt sich hinter grellem Licht.
Mein Puls rast. Kalter Schweiß zwischen meinen Schultern.
Ich muss hier raus. Kann mich nicht bewegen.
Gott, die Angst bringt mich um.
Stuhlbeine scharren.
Pack noch eine Schippe drauf.
»Nein!«
»Ist ja gut.«
Oh Gott, hilf mir!
»Es ist nur ein Traum. Du bist im Monk.«
Gage. Hinter dem Licht.
»Liam?«
Dean?
»Du bist in Sicherheit.«
Das Tappen nackter Füße, Wasserrauschen, während sich mein Herz in Stücke schlägt. Kälte auf meiner Brust. Sie tut so gut.
Dean kniet neben mir, reibt mich mit einem Handtuch ab.
Wie ernst er mich ansieht. Sogar sein Sommersprossenlächeln kommt nicht dagegen an.
»Schlaf wieder ein.«
»Kann ich nicht.« Nicht, solange Gage hinter dieser Lampe sitzt.
»Ich passe auf dich auf.« Er kuschelt sich in meinen Arm, legt seine Hand auf meine Brust. »Alles ist gut.«
Ich bin im Monk. Oh mein Gott, ich bin im Monk!
Liege im Bett und nicht in meiner Pisse. Ich muss mir nicht den Tod wünschen, muss nicht vom Dach springen. Keine Schmerzen, die mich zu etwas machen, das nichts mit einem Menschen zu tun hat. Dean hat es gesagt, ich bin in Sicherheit. Seine weichen Locken an meinem Kinn, seine Hand auf dem hämmernden Ding in mir.
»Bekommst du genug Luft?«
Nein, doch das ist mein kleinstes Problem.
»Du atmest so komisch.«
»Asthma.« Stress macht es schlimmer. Dean hat es selbst gesagt. Ist noch nicht lange her, fühlt sich aber nach Ewigkeit an. »Dean?«
»Ja?«
»Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.« Er soll keine Angst um mich haben. »Bleib trotzdem bei mir.«
»Mach ich.«
Danke.
– Joseph –
Meine Kehle ist trocken, brennt. Ich kann nicht schlucken. Das Gefühl zu ersticken lässt nicht nach.
»Warte, gleich wird es besser.«
Etwas Feuchtes streicht über meinen Mund. Der Duft von Jasmin, der Geschmack grünen Tees. Ich lecke ihn mir von den Lippen.
»Hao Jun hat den Kerl, der deinen Rachen gefickt hat, umbringen lassen. Nicht vor aller Augen, schon klar, aber in einem der Serviceräume. Der Putzfrau hat er ein fettes Bündel Scheine in die Hand gedrückt und ihr auf seine charmante Art erklärt, was ihr passiert, wenn sie darüber ein Wort verlieren würde.«
Diese heisere Stimme. Ich kenne sie.
»Immerhin war er der Direktor einer Privatbank. Sein Verschwinden wurde sogar in den News kommentiert. Wenn Sun Haidong davon Wind bekommt, wird er ein Fass aufmachen.« Das Lachen klingt nach zerrütteten Stimmbändern. »Nicht, dass ihm das was helfen, oder auch nur ein Zucken in Hao Juns Miene auslösen würde. Ein Tabu wäre ein Tabu. Dabei hat er deine nicht einmal bekannt gegeben. Ehrlich, wie hätte der arme Mann das wissen sollen?«
Diese Stimme. Sie gehört zu einem falschen Gesicht.
Es neigt sich über mich. Nim versteckt sich dahinter wie die Spieler hinter den Goldmasken.
»Hao Jun hat sich mächtig an dir ausgetobt.« Er taucht ein Tuch in eine Schale, fährt damit erneut über meine Lippen. »Hat wohl zu lange auf dich verzichtet und jetzt holt er alles nach.« Sein Mund verzieht sich zu einem bitteren Lächeln. »Du hast zwei Tage durchgeschlafen, was gut ist. Der Hautregenerator kann Wunder vollbringen, doch die brauchen ihre Zeit. Dafür hast du keine einzige Narbe zurückbehalten.«
Mein Körper fühlt sich roh an, als wäre mir die Haut abgezogen worden.
»Er lässt dir Grüße ausrichten und freut sich auf nächstes Mal.«
Rote Pfützen. Sie wachsen, rinnen über die Kante des Rondells.
Mein verzerrtes Gesicht spiegelt sich darin.
»Halte dich O’Farrell gegenüber für ein, zwei Tage fern. Er bemerkt sonst die frische Haut.« Er nimmt mich am Handgelenk, hebt meinen Arm an. »Siehst du die rosa Streifen?«
Nein, aber ich fühle seine Berührung wie Nadelstiche. Ich beiße mir auf die Lippen, um ein Stöhnen zu unterdrücken.
»Deine Schmerztoleranz ist im Keller«, erklärt er das, was ich weiß. »Kein Wunder nach dem, was dir Hao Jun zugemutet hat. Nach deinem ausgedehnten Schlaf sollte es allerdings in wenigen Stunden besser sein.« Er fährt fort, meinen Mund mit Tee zu benetzen. »Er hat mit eurem Spiel die Hölle beschworen. Sie ist über den Club hereingebrochen und hat einige Shivas das Leben gekostet, weil ihre Spieler im Blutrausch versunken sind.«
Wenn sie daraus erwachen, werden sie entsetzt davor fliehen und vor sich selbst leugnen, jemals auf diese Weise empfunden zu haben. Doch mit der vergehenden Zeit wird ihre Unruhe in den sterilen Büros aus Glas und Metall steigen und sie werden sich erneut nach dem Stöhnen und Schreien der Shivas sehnen. Nach dem Geruch von Blut und Schweiß, nach dem hirnzersetzenden Irrsinn, der der verbotenen Lust vorangeht.
»Ein paar Gäste sind panisch auf und davon, ein paar haben sich bis auf den letzten Brocken leergekotzt. Diese lächerlichen Hampelmänner, die Sun Haidong als Securitys eingestellt hat, waren komplett überfordert und die Computer-Nerds aus der Simulationsabteilung wurden ohnmächtig, nur weil ich ihnen von der Scheiße erzählt habe.« Er schnaubt verächtlich. »Willkommen in der Realität, hab ich denen gesagt. Die lässt sich nicht planen oder kontrollieren und unterbrechen schon gar nicht. Ich versuchte es ihnen klarzumachen, aber die Hälfte wollte kündigen. Ich erinnerte sie an ihre Verträge und ließ durchscheinen, dass eine Kündigung mit einem plötzlichen Tod Hand in Hand geht.« Er greift mir in den Nacken, hilft mir, mich hinzusetzen.
Ein dumpfer Schmerz hämmert sich durch meinen Kopf.
»Komm, trink etwas.«
Eine Schale Tee. Ich muss mich konzentrieren, um sie an die Lippen zu führen.
Nim seufzt genervt und nimmt sie mir ab. »So wird das nichts. Lass mich das machen.« Er hält mir das Ding an den Mund, wartet, bis ich es geleert habe. »Siehst du? Geht doch.«
Ich hasse es, von ihm gehätschelt zu werden.
»Besser?«
»Fick dich!«
»Später.« Er stellt die Schale zurück, greift nach einem Lappen. »Du hast dich bekleckert.«
Will er mir den Mund abtupfen?
»Okay.« Er hebt die Hände, weicht ein Stück zurück. »Mach es selbst.« Er wirft ihn aufs Bett. »Mit der Sache hat Hao Jun Sun Haidong kräftig vors Schienbein getreten. Mit einem Spiel, das in Kowloon alltäglich ist, hat er die goldene, ach so sichere und hygienische Maske von der Fratze dieses Möchtegern-Clubs gerissen. Keiner, der das miterlebt hat, wird es jemals vergessen. Die haben Blut geleckt. Im wahrsten Sinne des Wortes, und der alte Fuchs wollte genau das. Es ist lediglich eine Frage der Zeit, dann gehört nicht nur der Club ihm, sondern auch Sun Haidong.«
Wenn er doch endlich den Mund halten würde.
»Warum auch nicht? Ich gehöre ihm, du hast nie aufgehört, ihm zu gehören und dein O’Farrell und das Monk, das ganze versiffte Kowloon, gehören ihm ebenfalls.«
»Du hast ihm O’Farrell in die Hand gespielt.« Ich klinge heiser wie er. »Wenn du dich jemals schuldig gemacht hast, dann damit.« Ich muss zurück ins Monk. Drei Tage. Zu lange. Das war nicht abgesprochen.
Ich ziehe die Infusionsnadel aus meinem Arm, setze mich auf.
Mir wird übel, während Nim hinter bunten Lichtblitzen verschwindet.
»Ich habe mehr Hass erwartet. Eventuell auch einen Mordversuch.« Er stützt mich. »Aber ich schätze, dir fehlt im Moment die Energie dazu.«
Ich bin kurz davor, mich zu übergeben. Mit etwas Glück gelingt es mir, ihm das Zeug ins Gesicht zu spucken.
»Für den Fall, dass du dich irgendwann in O’Farrells Namen an mir rächen willst, nimm mein Gesicht als Anzahlung.«
Sicherlich nicht.
»Du weißt, dass ich keine Wahl hatte.« Sein Grinsen strotzt vor Angst. »Die hat niemand, dem Hao Jun im Genick sitzt.«
»Liam opfert sein Leben für die Gesichtslosen. Ihm gebühren Schutz und Hilfe bei jedem seiner Schritte auf dieser verfluchten Halbinsel! Du hättest dich in die erstbeste Klinge stürzen müssen, statt ihm auch nur ein Haar zu krümmen!«
»Du denkst, er ist ein Heiliger.« Er zieht sich einen Stuhl heran, setzt sich rücklings darauf. »Aber das ist er nicht, sonst hätte es ihn nicht nach Kowloon verschlagen.«
»Ich soll dein Gesicht als Anzahlung nehmen?«
Nim starrt mich an, schluckt.
»Sobald Liam in Sicherheit ist, komme ich darauf zurück.« Ich werde es ihm ein zweites Mal abreißen.
»Das wird er niemals sein, Joseph. Er nicht, du nicht, ich nicht.«
Nichts währt ewig. Auch nicht Hao Juns Spiel.
»Ich sorge jetzt dafür, dass du halbwegs aufrecht ins Monk zurückgehen kannst.« Während er aufsteht und den Injektor holt, lässt er mich keine Sekunde aus den Augen. »Das Zeug hat O’Farrell wieder auf die Beine gebracht, also mach dich auf was gefasst.« Er injiziert mir etwas in die Armbeuge. »Eines muss ich deinem Heiligen lassen, er hält verdammt viel aus.«
Meine Finger an Nims Kehle.
Ich kann nicht zudrücken. Da ist keine Kraft.
»Warte ein paar Augenblicke, dann steht zwischen dir und meinem Tod nur noch dein Gewissen.« Nims resigniertes Lächeln widert mich an.
Meine Hand sinkt hinab.
»Schade.« Er wirft den Injektor auf den Tisch neben sich, fährt sich durch die Haare. »Okay. Es läuft wie folgt ab. Ich setze dich in eine Drohne und die bringt dich zurück. So früh, wie es ist, hast du gute Chancen, unbemerkt ins Monk zu kommen. Schließ dich in dein Zimmer ein und bleib dort, bis die Wirkung des Mittels nachlässt. Auf keinen Fall solltest du deinen Leuten über den Weg laufen, und zwar zu ihrer Sicherheit, verstanden?«
Druck unter meiner Schädeldecke.
»Ich habe schon seltsame Kurzschlussreaktionen erlebt. Je nachdem, wie der Betreffende tickt und was er hinter sich hat. Ist immerhin eine Menge Adrenalin, was dir durch die Adern rauscht.«
Mein Herz pocht schneller, härter.
»Hao Jun war so frei, dich neu einzukleiden, da er von deinen Sachen nur Fetzen übrig gelassen hat.« Er zeigt zu einem Stuhl. Eine Tuchhose und ein weißes Hemd hängen über der Lehne. »Und dann verschwinde und genieße die Zeit bis zum nächsten Mal.«
Sein Grinsen stellt mir die Nackenhaare auf.
– Liam –
Ich muss pinkeln. Schon seit Stunden, doch statt mich aufzuraffen, schlummere ich immer wieder ein. Taste das Laken ab. Keine Nässe, keine Handtücher. Beides gute Zeichen.
Noch ein Versuch, meine Augen zu öffnen und sie offen zu halten. Ich will wach sein. Das hilft gegen die verdammten Träume.
Na bitte.
Die Anzeige auf dem Kommunikator ist verschwommen. Die Ziffern tanzen. Wollen die mich verarschen?
Konzentrier dich! Du musst aus diesem Scheißkrankenmodus raus!
Augen schließen, Lider reiben, nächster Versuch.
Besser. Nach Minuten erkenne ich eine Acht, eine Drei, eine Null. Halb neun morgens. Sogar das Datum kann ich entziffern. Tag sieben nach meinem zweiten Geburtstag. Von der ersten Hälfte der Woche weiß ich nicht viel. Von der zweiten nur, dass mich Dean regelmäßig zum Essen und Trinken geweckt und mich danach aufs Klo gesetzt hat.
Schwinge die Beine aus dem Bett. Es gelingt mir wesentlich geschmeidiger als die Male davor. Sicherheitshalber bleibe ich trotzdem einen Moment auf der Kante sitzen.
Ein paar Tage Zwangsruhe wirken Wunder. Ich hätte Dean und Joseph die Umstände dazu gern erspart.
Mir ebenfalls.
Schon wird mir flau.
Die Momente auf dem Dach würde ich mir gern aus dem Hirn schneiden. Auch die davor. Ich hatte nie so viel Angst um mein jämmerliches Leben. Am liebsten hätte ich Rotz und Wasser geheult und dazwischen Kowloon zusammengeschrien.
Das Opium hat es verhindert.
Nicht mehr daran denken. Mein irrsinniger Plan hat funktioniert. Gage und sein chemisches Höllenspielzeug haben versagt. Ich sollte Hao Jun bitten, einen seiner Männer auf dieses Arschloch anzusetzen. Eine gute Idee und so, wie ich den Alten einschätze, hat er kein Problem damit, mir die kleine Gefälligkeit zu erweisen.
Da sitzen Püppchen auf meinem Sofa. Oder sind das Trolle?
Ich halluziniere. Scheiß Drogen.
Nein, die sind echt. Sehen aus wie selbst gemacht.
Stoffreste, Wattebärte und -haare, eine alte Zahnbürste ragt aus dem Rumpf eines besonders exzentrischen Exemplars. Offenbar als Arm.
Niedlich ist das falsche Wort.
Auf dem Tisch stehen Blumen in einem meiner Whiskeygläser. Eine Schüssel mit Süßigkeiten daneben und im Aschenbecher befindet sich ein winziges Mandala aus bunten Perlchen, Sand und Glitzerpailletten. Eine neue Flasche Tullamore, eine Handvoll Glückskekse und haufenweise flatternde Stofffetzen, die in der Luft zu schweben scheinen.
Ich tippe an die gedachte Linie zwischen zwei Läppchen, lausche dem kaum hörbaren Plong.
Camouflagezwirn. Netter Effekt.
Die Fähnchen ziehen sich von der Stuhllehne bis hinauf zur Deckenleuchte und wieder hinab zum zweituntersten Regalbrett. Schräg darüber winken mir jede Menge Teenager aus einer Holofolie zu, während am unteren Rand Gute Besserung in einem holperigen Takt aufleuchtet.
Die Shivas.
Ihre lächelnden Gesichter verschwimmen, dafür fühlt es sich in meiner Brust immer wärmer und wattiger an. Ich muss mir die Augen wischen, um zu erkennen, was auf dem Brief steht, der am Ende der Flickengirlande liegt. Kann ihn kaum lesen. Es tropft mir in einer Tour vom Kinn.
Irgendetwas von Gebetsfähnchen und Segenswünschen und dass ich die Strippe nicht durchschneiden und keinen der Wünsche abnehmen darf. Sie müssen vom Wind davongetragen werden oder verrotten.
Aufgrund der schlichten Architektur herrscht in meinem Appartement kaum Durchzug. Die Sache mit dem Wind scheidet also aus. Die meisten der Fähnchen bestehen aus Kunststofffasern. Mit dem Verrotten wird es ebenfalls nichts werden.
Scheint so, als hätten die Shivas mein Zimmer für die nächsten Jahrzehnte umdekoriert.
Kein Problem. Mein Zuhause sah noch nie so freundlich aus.
Trotzdem muss ich pinkeln. Dringend.
Seit Tagen mein erster Gang aufs Klo ohne Deans Hilfe. Ich bringe die paar Schritte zum Badezimmer spielend hinter mich. Der Schweißfilm, der sich auf der Stirn bildet, zählt nicht. Mein Kreislauf war schon besser, was angesichts der Umstände tolerabel ist, dennoch wäre ich mit Dean an meiner Seite stabiler unterwegs gewesen. Wo steckt er überhaupt?
Fantastisch, endlich wieder im Stehen zu pinkeln, ohne Lichtblitze vor den Augen. Ich sollte öfter eine Auszeit nehmen und sie mit schlafen verbringen. Vorzugsweise in Josephs Armen. Ich habe ihn seit Tagen nicht mehr gesehen. Ob mein Geständnis zu viel für ihn war? Wohl eher das Versprechen, das ich ihm auf dem Dach abgerungen habe.
Ich schüttele mein Grinsen zusammen mit den letzten Tropfen ab.
Was für eine gottverdammte Scheiße ist mir da passiert? Es hätte niemals so weit kommen dürfen. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich freiwillig von Dächern stoßen lassen. Ich bin auch nicht das klassische Entführungsopfer und schon gar kein Pflegefall. Die Angst, die mir Gage in den Nacken gespritzt hat, hat von mir einen Haufen Schrott zurückgelassen.
Der Klodeckel fällt klappernd aufs Becken, ich sinke darauf, weil meine Beine nun doch weich werden.
Joseph braucht mich. Das Monk braucht mich. Jeder verdammte Shiva braucht mich, meine Patienten brauchen mich. Und zwar nicht krank und elend und vollgedröhnt und ins Bett scheißend, sondern stark und kompetent.
Auf meinen Wangen kitzelt es. Ich wische darüber, starre auf das nasse Glitzern meiner Finger.
Ich heule.
Gage ist ein Profi darin, Menschen zu zerschlagen.
»Man sieht sich immer zweimal«, murmele ich den gerissenen Bodenfliesen zu. Es dauert, bis ich merke, dass die beiden Male bereits hinter mir liegen. »Gut, dann dreimal.« Danach werde ich nichts von diesem Arschloch übrig lassen, was sich treffen lässt.
Mein Kinn kratzt und fühlt sich klebrig an. Stoppeln und Schweiß. Eine geniale Mischung beim Sex, leider das trifft bei mir nicht zu.
Es wird Zeit, dass ich wieder der Alte werde.
Das Aufraffen gelingt passabel, der Blick in den Spiegel erschüttert. Irgendetwas zwischen frisch aus dem Grab gekrochen und gerade noch lebendig blickt mir entgegen. Ob das Ding rasiert besser aussieht, steht in den Sternen. Ein Versuch ist es wert.
Ich greife spaßeshalber zur Rasierklinge.
Schlechte Idee. Sie zittert im Takt meiner Finger vor sich hin. Ich werde Joseph um diesen Liebesdienst bitten. Dann liefere ich ihm einen Grund, mich mit seinem Anblick zu erfreuen. Mein Anblick wird ihn weniger begeistern. Mein angeschlagenes Ego flüstert mir zu, dass ich ihn noch ein paar Tage von mir fernhalten sollte. Mein Herz zeigt mir einen Vogel. Es will seine Nähe, dringend.
Duschen. Danach geht es mir besser.
Das warme Wasser tut gut. Ich lasse mir Zeit, seife mich zweimal ein. Mein Schweiß klebt und stinkt widerlich hartnäckig. Erst als es lediglich lau aus dem Brausekopf tröpfelt, steige ich aus der Kabine. Dieses Mal erschüttert mich der Blick in den Spiegel weniger. Zwar strotze ich nicht vor Unternehmungsdrang und mein Gesicht ist nach wie vor weit von jeglicher Rosigkeit entfernt, aber das Leichenhafte ist verschwunden. Ein Anfang.
»Liam?«, schallt Deans Stimme zu mir.
»Im Badezimmer!« Ich wickele mir ein Handtuch um die Hüfte.
»Weiß ich, ich habe das Wasser gehört.« Sein Wuschelkopf erscheint im Türspalt. »Und dein Summen.« Er grinst mich an. »Der Werbejingle meiner Lieblingsfrühstücksflocken.« Er summt ihn mir vor.
Mir ist nicht aufgefallen, dass ich gesummt habe.
»Warum hast du nicht gewartet? Ich hätte dir beim Duschen geholfen.«
Ich wünschte, er würde vielversprechend zwinkern oder sich lasziv die Lippen lecken, doch ich erkenne in seiner Miene und Stimme lediglich Sorge und Mitleid.
»Ich habe das Bett abgezogen«, erklärt er das Stoffknäuel unter seinem Arm. Er legt es beiseite, mustert mich von Kopf bis Fuß. »Geht es dir gut?«
»Wie oft hast du mir diese Frage gestellt?« Ich kann sie nicht mehr hören. Sie katapultiert mich moralisch ins Siechtum zurück.
Deans Stirn verwandelt sich in eine Kraterlandschaft. »Oft«, faucht er mich an. »Und ich hatte meine Gründe, du Arsch!« Er ballt die Fäuste, geht auf mich los, doch statt auf mich einzuprügeln, was ich verstanden hätte, schlingt er die Arme um mich und schmiegt sein Gesicht an meinen Hals. »Mach so was nie, nie wieder!«
»Werde ich nicht.« Gott, ist das schön, die Nase in seine Locken zu stecken. »Glaub mir, ich wäre für Alternativpläne offen gewesen.« Mir sind bloß keine eingefallen.
»Dazu hättest du mit uns reden müssen. Bevor du Joseph bittest, dich vom Dach zu schmeißen.«
Er klingt verdächtig gepresst.
»Kloß im Hals?«
Dean nickt.
»Ich auch.« Sobald ich meine alte Form zurückerobert habe, werde ich mich abwechselnd in Arbeit und in Joseph versenken. Keine freie Minute, in der mich die Erinnerungen überfallen könnten.
Ein guter Plan. Ich werde ihn bis zu meinem Lebensende durchziehen. Durchbrochen lediglich mit ein paar Schmuserunden mit Deans hübschem Jungmännerschwanz.
»Du riechst gut.« Er schnuppert sich meinen Hals hinauf bis zu den Lippen. »Nicht mehr nach Krankheit oder Angst.«
»Können wir das verdrängen?« Als Arzt lassen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
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Cover: S.B. Sasori
Lektorat: Alexandra Balzer
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2022
ISBN: 978-3-7554-0527-6
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